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Das Beta-Guard Projekt

Die Vorgeschichte der Alphas
von

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Der Anfang

Washington State University, Juli 2009
 

„Will!“, ruft Evelyn während sie über die Wiese des Campus direkt auf mich und meinen besten Freund Fynn zusteuert. Sie trägt wieder dieses lange, geblümte Sommerkleid, wegen dem ich sie schon so oft aufgezogen habe. Der Schnitt des Kleides ist eigentlich sehr schön, feminin, allerdings sieht das Muster aus wie der Sofabezug meiner Großtante Tess.

Fynn steht auf und wirft sich seine Tasche lässig über die Schulter. Er grinst nur als er Evelyn sieht. „Verabschiede dich nur richtig von ihr“, sagt er bevor sie uns erreicht und hören kann, „nicht das du nachher wenn wir das Serum bekommen etwas bereust“, mit einem zwinkern verschwindet er. Vermutlich um sich von seiner Verlobten, Sam, zu verabschieden. Sam hatte sich auch für das Guardian-Programm beworben, allerdings waren zu diesem Zeitpunkt bereits alle Plätze vergeben.

„Bye Fynn!“, verabschiedet Eve ihn, als er in die Richtung verschwindet aus der sie eben kam. Als sie sich auf meinen Schoß setzt, drücke ihr einen Kuss auf die Wange. „Hey Großtante Tessie“, begrüße ich meine Freundin grinsend. Lachend schlägt sie mir auf die Schulter „Halt die Klappe!“, sagt sie lächelnd. „Ich liebe dieses Kleid, okay?“. Sie legt ihre Arme um mich und erzählt mir von ihrer letzten Vorlesung. Evelyn studiert im dritten Semester Kunst. In ihrem Wohnheimzimmer hat sie jede Menge selbstgemalte Portraits aufgehängt. Eines davon ist von Sam und Fynn, in dem Moment in dem Fynn ihr vor etwas mehr als einem Jahr den Antrag gemacht hat. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Eve nur vom sehen. Sie saß oft auf der Wiese mit einer Decke und ihrer Leinwand und malte die Studenten um sich herum. Richtig kennengelernt haben wir uns erst als Sam Fynn dazu überredet hatte für sie Modell zu stehen. Ich begleitete die Beiden eigentlich nur, um dem dämlichen Familienessen mit meiner Mutter und meinem Vater zu entgehen. Seit mein Bruder Aiden vor einigen Jahren in den Flammen des World Trade Centers gestorben war, war jedes Zusammentreffen der Familie Wellington alles andere als leicht und angenehm verlaufen. Mein Vater, Peter Wellington, war schon immer ein brillanter Wissenschaftler im Bereich Genetik und noch einiger anderer Fachbereiche, aber seit er seinen Lieblingssohn verloren hatte, war er eigenbrötlerisch und verschlossen. Er würde wohl nie darüber hinwegkommen. Meine Mutter, Moira Grey-Wellington, tat ihr bestes dabei ihn zu unterstützen und ihn aus seiner Trauer zu holen, doch alles was sie erreichen konnte war, dass er der Leiter des Guardian-Projektes wurde. Manchmal frage ich mich, wie lange diese Ehe noch halten würde, wann hätte meine Mutter genug davon immer hintenan zu stehen, während mein Vater sein Ding durchzog. Sollten sie mir bald von ihrer Scheidung erzählen, wäre ich nicht überrascht.

„Also ich habe mir gedacht, dass wir heute ins Kino und etwas essen gehen?“, reißt mich Eve aus meinen Gedanken. „bevor du mit Fynn zu deiner Arbeitsgruppe bei deinem Vater musst“, fügt sie noch schnell hinzu, bevor ich antworten kann. Sie hat wieder diese großen Augen, die sie immer macht wenn sie etwas unbedingt möchte, also gebe ich mich geschlagen und stimme zu. Wir stehen auf und laufen Hand in Hand zu Djangos Pub. In diesem Pub hatten wir unser zweites oder drittes Date, vielleicht auch beide. Genau erinnere ich mich nicht mehr, aber das sollte ich Eve gegenüber besser nicht zugeben. Hier gibt es immer die besten Tacos im ganzen Umkreis. Eve bestellt ihren üblichen Mais-Taco mit Kokos-Limettenreis und Hackfleisch und ich einen Gewürz-Hack-Taco mit Melonensalsa, als wir in dem Pub ankommen. Normalerweise würde ich mir ein Bier oder so dazu bestellen, doch diesmal bleibe ich bei stillem Wasser. Ich muss nüchtern bleiben für später.

„Das war soooo lahm“, beschwere ich mich, als wir aus dem Film kommen. Eve wirft ihre leere Popcornpackung in den Mülleimer an dem wir vorbeilaufen und wirft mir ein Augenrollen zu. Natürlich hat sie sich einen Liebesfilm ausgesucht. Er steht einfach nicht auf dich, hätte ich mir sonst ganz sicher nicht angesehen. Von all den Schnulzen, in die sie mich im Laufe des letzten Jahres reingeschleppt hat war das bestimmt die schlechteste. Trotzdem, ihr zu Liebe würde ich ihn mir bestimmt nochmal auf DVD reinziehen. „Ich fand ihn toll“, schwärmt Eve, während ich meinen Arm um sie lege als wir auf dem Weg zurück zu ihrem Wohnheim sind. Mittlerweile ist es halb acht. Um acht muss ich mit Fynn im Institut für Genforschung sein. Nicht mehr viel Zeit, aber die letzte halbe Stunde mit Evelyn werde ich sicher nicht damit verschwenden ihr genau zu erklären warum es vielleicht der letzte Nachmittag war, den wir zusammen verbracht haben. Diese letzte halbe Stunde will ich so normal wie möglich mit ihr verbringen. „Am Ende hatte sie recht und er war wirklich in sie verliebt“, fährt sie fort. Ich grüble nach, welche der vielen Frauen aus dem Film sie wohl meint. Gefühlt kamen zehn verschiedene mit je eigenen Geschichten vor, die am Ende alle zusammenliefen. Genau kann ich es aber nicht mehr sagen. Ich war während des Films zu sehr damit beschäftigt immer wieder Eve anzusehen und zu beobachten, wie sie im Film mitfieberte. Eigentlich blieb mir nur eine Frau im Kopf „Ich fand diese Yoga-Lehrerin heiß“, sage ich und fange mir dafür einen erneuten Schlag auf meine Schulter ein. „War ja klar!“, beschwert sie sich grinsend. Ich lache.

Als die halbe Stunde um ist, stehe ich mit Eve vor ihrer Wohnheimzimmertür. Das ist er also. Der Moment, in dem ich sie vielleicht das letzte Mal sehe. „Sehen wir uns morgen Abend nach meiner Vorlesung?“, fragt Eve. Ich würde sie morgen gerne sehen, aber ich weiß, dass das nicht gehen wird. Ich schlinge meine Hände um sie und umarme sie. Ich will später nicht bereuen es nicht getan zu haben. „Ich bin um ehrlich zu sein eine Woche mit der Arbeitsgruppe unterwegs“, gestehe ich ihr. Sie schweigt einen Moment. Ist sie jetzt wütend? Bestimmt. Ich küsse sie auf die Stirn und lächle sie besänftigend an. „Aber ich rufe dich an. Versprochen“, sie sieht mich einen Augenblick lang ernst an, dann nickt sie und lächelt zögernd. „Ich liebe dich“, sage ich ihr. Auch das möchte ich später nicht bereuen nicht gesagt zu haben. Ihr lächeln wird breiter „Ich liebe dich auch“, antwortet sie und küsst mich. Als ich mich von ihr löse lächelt sie immer noch. Ich gehe den Flur zurück um zur Treppe zu kommen, die wir vor wenigen Minuten zusammen hochgegangen sind. Auf dem Treppenabsatz drehe ich mich nochmal zu ihr um. Sie steht in ihrer Zimmertür und sieht mich an. Ich winke ihr und hoffe, dass wir uns nächste Woche wirklich wieder sehen werden. Wenn es so ist, werde ich ihr alles erzählen, was ich ihr jetzt nicht erzählen konnte. Die Treppe habe ich schnell hinter mich gebracht. Bevor ich das Gebäude verlasse, greife ich noch in meine Jeanstasche und ziehe die kleine Schachtel heraus. Wenn ich ihr alles erzählt habe und es noch ein „wir“ und „uns“ gibt, werde ich sie fragen, ob sie mich heiraten will. Ich stecke die Schachtel mit dem Ring zurück in meine Tasche und steige in Fynns Auto, in dem er schon auf mich wartet.

Die Ankunft

Ungeduldig trommle ich mit meinen Fingern am Lenkrad, als ich vor dem Wohnheim in meinem Auto auf Will warte. Dass er nicht pünktlich sein würde war mir klar. Obwohl ich mir heute auch nicht sicher gewesen bin, ob ich es pünktlich schaffen würde. Mein Nachmittag mit Sam war gut. Nicht perfekt, aber auch kein völliges Desaster. Wir sind im Park ganz in der Nähe spazieren gegangen und haben geredet. Zwar ist es uns verboten über das Projekt, an dem wir seit etwas mehr als einem Jahr arbeiten, mit Außenstehenden zu sprechen, aber ich könnte Sam nie etwas verschweigen. Ich vertraue ihr und sie mir. Sie hätte auch Teil des Projektes sein sollen, wir hatten uns gemeinsam beworben. Allerdings wurde nur ich angenommen. Es hätte anders laufen sollen. Seit der High School haben Sam und ich alles gemeinsam gemacht. Sollten wir mit dem Projekt erfolgreich sein, werde ich mir etwas überlegen. Ich will nicht, dass sie von dem Teil meines Lebens ausgeschlossen wird.

Als Will endlich aus dem Wohnheim gelaufen kommt starte ich den Motor meines Wagens. „Du bist spät dran“, kritisiere ich ihn. Will wirft mir einen ernsten Blick zu, sagt aber nichts. Ob er seine Entscheidung mitzumachen inzwischen bereut? Bereue ich sie? Ich kann es nicht sagen. Sicher, ich bereue, dass Sam nicht dabei sein wird, aber ich kann nicht bereuen an dem Erfolg mitgewirkt zu haben. Wenn wir Erfolg haben… Die Tests an den Ratten waren erfolgreich.

Ich fahre los.

Das Institut ist nicht weit entfernt. Zum Glück, also ist Wills Verspätung vielleicht nicht so schlimm. Während der zehn Minuten schweigen wir. Jeder von uns hängt seinen eigenen Gedanken nach. An Wills Gesichtsausdruck kann ich sehen, wie es in seinem Hirn arbeitet. Kurz befürchte ich, er könnte plötzlich aus dem Wagen springen und sich entschließen doch noch einen Rückzieher zu machen. Ich könnte es in gewisser Weise verstehen. Zumal ich glaube, dass er nur teilnimmt, weil sein Vater alles leitet. Das Projekt ist Wills Versuch wieder eine Beziehung zu seinem alten Herrn aufzubauen. Ich kenne ihn gut genug, um das zu wissen, auch wenn er es mir gegenüber nie angedeutet hat.

Als das Gebäude des Instituts in mein Blickfeld kommt und ich um die letzte Ecke zum Parkplatz biege, werfe ich einen weiteren Blick zu Will. Er sieht entschlossen aus. Das beruhigt mich. Irgendwie. Ich schätze, hätte er sich dazu entschieden in letzter Minute noch auszusteigen, hätte ich es ihm gleichgetan. Wir fahren an der Schranke vorbei, bis zu meinem üblichen Parkplatz.

Neben meinem Parkplatz stehen bereits weitere Autos. Direkt links neben mir ist das Auto der beiden Newman-Schwestern, Nicole und Nathalie, in dem mit ziemlicher Sicherheit auch Nicoles Ehemann Jonathan Reed mitgefahren ist. Soweit ich weiß haben die beiden vor einem halben Jahr geheiratet. Vielleicht hätten Sam und ich das auch tun sollen. Nur zur Sicherheit. Andererseits, wenn alles gut geht dauert es nur noch drei Monate bis zu unserem Termin. Innerlich bete ich kurz dafür, dass wirklich alles gut geht.

Auf der rechten Seite steht das Auto von Alaric. Er ist das Sammeltaxi für diejenigen von uns, die ohne Auto auskommen müssen. Ich kann auf der Rückbank eine leere Tüte M&M’s erkennen, was nur eine Person dort hinterlassen haben kann: Allen. Allen ist der Jüngste von uns. Er ist erst 19 Jahre alt, wir anderen sind alle zwischen 24 und 27 Jahre, Alaric 29 Jahre alt. Damit ist er, abgesehen von den Doktoren, der Älteste von uns. Will steigt aus und das zuschlagen der Autotür reißt mich aus meinen Gedanken. Es wird Zeit sich zu konzentrieren. Wenn wir gleich dort hinein gehen, wird sich alles ändern. Dann gibt es kein Zurück und am besten auch keine Zweifel mehr.

„Hey ihr Freaks“, ruft jemand hinter uns. Es ist die Frau, die immer in schwarz rumläuft: Darcy. Auf ihrer High School war sie mal sowas wie ein Grufti, oder wie auch immer sich diese Art von Menschen nennen mag. Sie schließt mit wenigen Schritten zu uns auf und so gehen wir zu dritt durch die große Eingangstür.

„Ich hoffe ihr habt heute nochmal so richtig auf die Kacke gehauen“, unterbricht Darcy die Stille. Diese Frau hat eine Ausdrucksweise, von der ich hoffe, dass sie sie nicht bei ihrer Großmutter verwendet. Selbiges gilt für ihren fragwürdigen Kleidungsstil. Sie trägt Netzstumpfhosen und einen Rock der wohl darauf ausgelegt worden ist so wenig wie möglich zu verdecken. „Und du?“, will Will wissen. Vermutlich um sie davon abzuhalten nachzustochern was wir so gemacht haben. Ich bin ihm dankbar dafür. Darcy gehört nicht gerade zu den Personen, denen ich von meinen Nachmittagen erzählen würde. Am liebsten meide ich den Kontakt zu ihr soweit es geht komplett. Da wir uns nur hier begegnen und sie meistens mit den anderen Projektteilnehmern rumhängt, hat das erstaunlich gut funktioniert. „Ich war bei meinem Freund, wenn ihr versteht was ich meine“, antwortet sie mit einem vielsagenden Unterton. So genau wollte ich es gar nicht wissen. Will sieht mich von der Seite an. Er scheinbar auch nicht. Zumindest spricht sein Blick Bände und bevor Darcy weiter ausführen kann was sie mit ihrem Freund angestellt hat oder er mit ihr, kommt Jonathan auf uns zu. Mit einem Blick zu Darcy scheint er unser momentanes Dilemma sofort zu begreifen. Er grinst breit und kommt weiter auf uns zu. „Wellington und White!“, begrüßt er uns und klatscht uns ab. „Wusste doch, dass ihr zwei nicht zu denjenigen gehört die gekniffen haben“, beendet er seine Begrüßung. „Hi Darcy“, sagt er kurz zu ihr, mit deutlich weniger Interesse an ihrer Gegenwart. Er geht zwischen Will und mir her, sodass Darcy hinter uns laufen muss und legt uns seine Arme auf die Schultern. „Kyle und Shirin sind nicht aufgetaucht. Die haben es wohl doch noch mit der Angst zu tun bekommen“, er grinst breit. Will sieht zu ihm: „Und du? Hast du gar keine Zweifel daran gehabt herzukommen?“. Jonathan denkt kurz nach. „Nur für einen kurzen Moment“, gibt er schließlich zu. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er schien der Einzige hier zu sein, der zu 100 Prozent davon überzeugt ist.

„Bitte lächeln“, heißt es vor uns und sofort blitzt es grell. Kurz geblendet, versuchen wir zu erkennen von wem dieser Fotoangriff kam. „Hey Ana“, höre ich Will sagen. Ana ist eine der Laborantinnen des Instituts. Ihre Aufgabe ist es alles zu dokumentieren. Sie ist eine sehr freundliche und liebenswerte Person. Will, Jonathan und ich haben uns zwischendurch öfters mal mit ihr privat getroffen, natürlich im Beisein unserer Freundinnen. Wir waren zusammen beim Bowling oder haben die Clubs in der Nähe des Campus unsicher gemacht.

„Entschuldigt“, sagt Ana und nestelt an ihrer Kamera herum. „Die ist neu und irgendwie kann man den Blitz ausschalten. Ich weiß nur noch nicht so genau wo“, gibt sie hastig zu. Jonathan nimmt ihr die Kamera ab um ihr zu helfen. Er schießt ein Foto von ihr und der Blitz ist nicht mehr ganz so grell wie zuvor bei uns. „Ich wette du hast von jedem schon eins gemacht außer von dir selbst“, sagt er grinsend, als er ihr die Kamera wieder zurückgibt. Ziemlich aufmerksam, wie ich finde. So ist Jonathan Reed. Eine sehr positive Eigenschaft, wie ich finde. Ana lächelt ihn peinlich berührt an und steckt ihre Kamera zurück in die Tasche, die ihr um den Hals hängt. Hinter uns hören wir ein entnervtes Schnauben von Darcy, dass wir jedoch alle ignorieren.

„Wie schön, dass Sie sich nun endlich alle eingefunden haben“, sagt Dr. Augustine wenige Minuten später, als wir mit allen anderen im großen Saal stehen. „Jeder von Ihnen hat sich dazu entschieden heute Geschichte schreiben zu wollen. Jeder von Ihnen hat ab Morgen ein neues Leben, eine neue Fähigkeit, die die Welt verändern wird“.

„Die Augustine scheint einen gewissen Hang zur Dramatik zu haben“, tuschelt Allen in der Reihe vor mir mit Laura. Laura nickt nur eifrig und ich frage mich, ob sie nur zustimmt damit Allen sie endlich bemerkt. Dass sie auf ihn steht, haben wir schon ganz am Anfang bemerkt, allerdings scheint Allen der Einzige zu sein, der nicht den geringsten Schimmer hat. Neben mir höre ich ein belustigtes Schnaufen, das eindeutig von Galen kommt. Ich drehe meinen Kopf halb zu ihm hin und stelle fest, dass ihm wohl der gleiche Gedanke wie mir durch den Kopf gegangen sein muss. Als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, wirft er mir ein verschmitztes Grinsen zu und sieht nochmal demonstrativ zu Allen und seinem größten Fan Laura. Aus einer anderen Ecke höre ich nur ein missbilligendes Räuspern. Palila ist wieder ganz in ihrem Element: Leute zurechtweisen. Sie steht da, mit verschränkten Armen und strengem Blick zu Galen und schüttelt warnend den Kopf. Ich wende mich wieder den Doktoren vor uns zu, bevor mich auch noch Palilas strenger Blick trifft. Manchmal kommt sie mir vor wie ein Adler und es läuft mir kalt den Rücken runter.

„… wird jeder bis heute Nacht um 23 Uhr in einem der Labore eingeteilt“, erklärt Dr. Peter Wellington, Wills Dad, gerade. Der kleine Zwischenfall mit Allen hat dafür gesorgt, dass ich den Anfang seiner Erklärungen verpasst habe. Ich sehe mich um, ob es wohl noch jemandem so geht. Alles was ich sehe sind interessierte und gebannte Gesichter von den 99 Leuten um mich herum. Ich werde einfach Nathalie fragen, ob ich etwas verpasst habe. Sie passt immer gut auf, wenn Dr. Wellington spricht und wird freundlich genug sein um mich ins Bild zu setzen. „Ab morgen, im Laufe des Tages, sollten sich dann die ersten Anzeichen bei jedem zeigen. Stellen Sie Anzeichen von Veränderungen an sich fest, melden Sie sich umgehend bei einem der Doktoren oder der Laboranten“, schließt Peter seine Ausführungen. Bedeutend sieht er in die Runde. Es herrscht Stille im Raum. Ich glaube ich habe mich noch nie mit so vielen Menschen in einem Raum befunden, in dem es so leise war, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. „Hat noch jemand Fragen oder möchte diese als letzte Möglichkeit nutzen zurückzutreten?“, fragt Dr. Augustine und wirft ihr schwarzes, gelocktes Haar nach hinten.

Warten

Wir stehen eine gefühlte Ewigkeit in dem Saal, während wir warten das die Doktoren mit ihren Ansprachen fertig werden damit es endlich losgeht. Seit Tagen spüre ich diese Vorfreude auf die Veränderung die mit uns allen geschehen soll. In der Menge suche ich nach meiner Frau und meiner Cousine. Siobhan entdecke ich ziemlich schnell, sie steht nicht allzu weit von mir, Fynn und William entfernt, bei ihren Freundinnen. Sie tuscheln miteinander und Siobhans Gesicht wechselt von überrascht zu schockiert und zeigt dann ein herzliches Lächeln. Ich wüsste gerne, was ihr gerade erzählt worden ist, aber fürs Erste reicht es mir, wenn sie einfach nur lächelt. Ich beschließe, mich weiter nach meiner Frau umzusehen. Nicky steht bestimmt mit Nathalie zusammen. Sie sind generell ständig zusammen anzutreffen. Ich sehe nach rechts und entdecke ihr langes, braunes Haar hinter Galen und Quardir. Gerade als ich sie entdecke, sieht sie mich an und lächelt mir zu, sodass mir warm ums Herz wird. Für diese Frau, meine Frau, würde ich durchs Höllenfeuer gehen. Das mag vielleicht kitschig klingen, aber ich meine es todernst. Nicky formt eine lautloses: „Ich liebe dich“, welches ich mit einem kurzen Klopfen auf meine Brust erwidere. Das ist unser Ding, seit wir es uns das erste Mal gesagt haben.

Ich merke, wie ich anfange ungeduldig zu werden. Die Reden sollen aufhören, damit ich zu ihr rübergehen und mit ihr zusammen warten kann. Eigentlich bin ich eher ungeduldig und warten ist für mich das Schlimmste überhaupt, aber mit ihr und meinen drei besten Freunden Will, Fynn und Steve, der hier auch irgendwo in der Menge stehen müsste, wird es erträglicher sein. Als Dr. Augustine in die Runde fragt, ob jemand Fragen hätte sehe ich mich erneut nach möglichen Fragenstellern um. Galens Stimme ertönt und viele drehen sich zu ihm um. „Wann kann es endlich losgehen?“, fragt er über die Köpfe der anderen hinweg. Einige kichern und es geht ein pfeifen und klatschen durch die Menge. Er schafft es immer den Klassenclown zu spielen. Ein johlen, ganz in meiner Nähe verrät mir, wo sich Steve aufhält. Er steht direkt hinter Will, der hochkonzentriert zur Treppe sieht, auf der sein Vater steht und ernst in die Runde blickt. Normalerweise verstehe ich mich recht gut mit Peter, aber ich kann einfach nicht verstehen, warum er es Will so verdammt schwer machen muss. Egal, wie sehr sich Will anstrengt und bemüht, es scheint einfach niemals genug für seinen Dad zu sein. Manchmal habe ich den Eindruckt, es würde sogar alles nur noch schlimmer machen. Ich erwische mich dabei, wie ich mein Handy aus der Hosentasche zücke, um meinem eigenen Vater zu schreiben. Allerdings lasse ich diesen absurden Gedanken sofort wieder fallen. Mein Vater und ich haben bereits seit Beginn der High School keinen Kontakt mehr. Damals hatte er meine Mutter mit seiner Sekretärin betrogen, unser Haushaltsgeld gestohlen und ist mit ihr durchgebrannt. Ich half meiner Mutter so gut es ging mit Ferienjobs das Haus zu halten, aber wir schafften es gerade mal ein knappes halbes Jahr, bis uns die Bank das Haus wegnahm und uns zwang am anderen Ende der Stadt in eine enge Wohnung zu ziehen. Zum Glück war ich auf meiner Schule im Schwimmteam gewesen und konnte mir damit ein Stipendium verdienen. Sonst hätte ich vermutlich nie an diesem Projekt teilnehmen können und somit diese einmalige Gelegenheit verpasst. Die Reden finden endlich ein Ende und ich fange an, mir den Weg zu Nicky zu bahnen. Steve folgt mir, gefolgt von seiner Rapmusik. Er trägt sie immer mit sich herum und egal wo er auftaucht, kann man Tupac hören. Spion oder sowas kann er so ganz sicher nicht werden. „Hab dich vorhin gar nicht gesehen“, sage ich ihm, als er in Hörweite ist. Steve zuckt mit den Schultern und nestelt an seinem tragbaren Radio rum. Irgendwann, wenn er nicht darauf achtet, werde ich das blöde Ding aus dem Fenster werfen, oder Tupac durch irgendwas anderes ersetzen. Zum Beispiel kann ich mich erinnern, wie Nathalie neulich ihre alten Kinderhörspiele gefunden hat. Die stehen noch immer in meinem und Nickys Keller rum und warten darauf aussortiert oder wieder von Nathalie mitgenommen zu werden.

Ich komme auf dem Weg zu Nicky an Laura und Allen vorbei. Während Laura irgendwie versucht seine komplette Aufmerksamkeit zu bekommen, ist Allen in seine größte Obsession vertieft: Die perfekte M&M Sorte zu finden. Er trägt immer und überall, wo ich ihn gesehen oder zufällig getroffen habe eine andere Sorte mit sich herum. Dem Geruch nach zu urteilen ist es heute Erdnussbutter.

„Hey Jonathan!“, höre ich Lauren rufen. Am Anfang hat es echt eine Weile gedauert, bis ich Laura und Lauren unterscheiden konnte. Sie beide haben langes, blondes Haar und sehen relativ hübsch aus. Nicht so hübsch wie meine Ehefrau natürlich, aber auf ihre Weise eben hübsch. Sie unterscheiden sich nur in ihrer Größe und ihrem Umgang mit anderen Menschen. Lauren zum Beispiel ist sehr viel freizügiger als Laura, die ich eher schüchtern und zurückhaltend erlebe. Ich drehe mich zu Lauren um.

„Hast du später Lust schwimmen zu gehen?“, Lauren mag vielleicht ganz hübsch sein, aber ich schätze genau das ist das Problem, das Nicky mit ihr hat. Ich weiß, dass Nicky mir vertraut, aber laut ihrer eigenen Aussage traut sie Lauren kein Stück über den Weg. Die zwei können sich einfach nicht ausstehen und Lauren lässt keine Gelegenheit aus, um Nicky zur Weißglut zu bringen. Ich schüttle freundlich den Kopf und lächle sie entschuldigend an. „Sorry, hab schon was vor. Frag doch Darcy, ich bin sicher sie hat Zeit“, schlage ich ihr vor. Sollen doch die beiden versuchen miteinander auszukommen. Ich gehe mit Steve weiter, der endlich seine Kopfhörer von den Ohren gezogen hat. Jetzt kann man mit ihm reden, ohne auf einsilbige Antworten gefasst sein zu müssen. „Die legt es immer wieder drauf an von Nicky eine runtergehauen zu bekommen, oder?“, ich kann Steve nicht widersprechen also nicke ich nur und werfe ihm ein verschmitztes grinsen zu.

„Liebling“, höre ich den Singsang meiner Frau. Sie ist genauso aufgeregt wie ich. Ich lege ihr meine Arme um die Taille und ziehe sie an mich. Als Fynn und Will zu uns stoßen, höre ich wie die ersten Namen aufgerufen werden und die dazugehörigen Leute die Treppe hinaufsteigen um ihre Injektion, des Alpha-Serums zu bekommen. Der Name klingt völlig bescheuert in meinen Ohren und ich hoffe, dass Peter diesen Namen noch ändert.

Es dauert nur wenige Minuten und Nicky und Nathalie werden aufgerufen. Als sie die Treppe gemeinsam raufsteigen, halten sie sich an den Händen. Ich sehe Nicky nach, bis sie durch die Tür verschwindet. Kurz bevor sie hindurchgeht, sieht sie sich nochmal nach mir um und ich werfe ihr eine Kusshand zu, die sie sofort erwidert. Will und Fynn sehen beide betrübt aus. Ich kann mir denken woran das liegt. Während ich das große Glück hatte neben meiner Cousine auch noch meine Frau und meine Schwägerin mit in diesem Projekt zu haben, sind die beiden ziemlich leer ausgegangen. Evelyn hatte mit diesem Projekt von Anfang an nichts am Hut und die Verlobte von Fynn wurde nicht angenommen. „Hey… es wird alles gut gehen und nächste Woche seid ihr wieder bei euren Mädchen“, versuche ich die zwei aufzubauen. Ich habe nicht wirklich das Gefühl es zu schaffen. Allerdings zeigen mir ihre Gesichtszüge, dass sie es dennoch zu schätzen wissen. Während wir uns über unverfängliche Nichtigkeiten unterhalten, wird der Saal immer leerer. Ziemlich zum Ende hin wird mein Name aufgerufen. Ich gehe, wie die anderen vor mir, die Treppe rauf und anschließend durch die Tür. Dort begegnet mit Ana erneut mit ihrer Kamera und sie lächelt schüchtern. Ich lächle zurück und sie schießt ein, vorläufig, letztes Foto von mir.

Jetzt bin ich doch etwas nervös. Ich betrete das Behandlungszimmer und setze mich auf die Liege in der Mitte des Zimmers. Es riecht stark nach Arztpraxis.

Dr. Sasson betritt den Raum, ich habe sie einige Male getroffen. Sie war es, die einigen Studenten dazu geraten hat an diesem Projekt teilzunehmen, unter anderem auch Galen und mir. „Reed, Jonathan“, liest sie meinen Namen aus ihrer Akte vor. „Standen Sie heute unter Einfluss von Alkohol oder anderen gesundheitsschädlichen Substanzen?“, fragt sie, während sie die Akte über mich zur Seite legt und eine gelbliche Flüssigkeit in einer Spritze aufzieht. Meine Nervosität steigt und ein vorfreudiges, besorgtes Zittern fährt durch meine Arme und Beine. Kurz kommen mir die Risiken in den Sinn, aber Nicky verlässt sich auf mich und darauf, dass wir das hier gemeinsam machen. „Nein, nur viel Gemüse und Wasser. Seit einer Woche“, beantworte ich Dr. Sassons Frage. Sie desinfiziert meine Armbeuge und piekst dann mit der Spritze hinein. Ich halte still und sehe zu, wie sie diese gelbe Flüssigkeit in meinen Arm drückt. Sie entfernt die Spritze wieder und gibt mir etwas zum draufdrücken. Die ersten Minuten lang, passiert gar nichts.

Hat es überhaupt funktioniert? Ich weiß nicht, ob ich erwartet hatte sofort eine Veränderung zu spüren, aber gar nichts zu spüren beunruhigt mich dann doch etwas. Dr. Sasson schickt mich raus und Ana nimmt mich in Empfang. Sie führt mich zu einem weiteren Raum, wo ich auf weitere Doktoren treffe, die mich von Kopf bis Fuß genau untersuchen und mir immer wieder die Frage stellen, ob es mir gut ginge und ich schon etwas spürte. Ich muss einen inneren Impuls zurückhalten, um ihnen nicht die Köpfe einzuschlagen. Ein merkwürdiger Gedanke, ich verabscheue jegliche Art der Gewalt. Sicherlich liegt es nur an der Nervosität und der innerlichen Aufregung. Man lässt sich schließlich nicht täglich ein Serum spritzen, das entweder den Tod, eine neue Fähigkeit oder das große Nichts für einen bedeuten könnte.

Plötzlich wird mir schwarz vor Augen und ich höre nichts mehr. Ein komisches Gefühl legt sich auf meinen Rücken und ich habe den Eindruck, als würde jemand versuchen mich in Stücke zu reißen. Ich kämpfe mich aus der Dunkelheit wieder hoch und reiße die Augen wieder auf. Jemand hat mich auf ein Bett gelegt und durchs Fenster scheint hellstes Tageslicht. Ich bin verwirrt und versuche aufzustehen, aber etwas hält mich zurück.

In meinem Finger, meinen Armen und in meiner Nase stecken Schläuche. Wie viel Zeit ist vergangen, seitdem ich in dieser Schwärze steckte? Auf jeden Fall mehrere Stunden, denn das Serum bekam ich verabreicht, als es Nacht war. Ein lautes Pfeifen reißt mich aus meinen Gedanken und ein Ärzteteam und Doktor Wellington stürmen in mein Zimmer. „Jonathan? Wie fühlen Sie sich?“, fragt Wellington. „Sie waren fast drei Tage lang bewusstlos“, fährt er fort als ich ihn verwirrt ansehe.

Drei Tage

Drei Tage sind seit unseren Injektionen vergangen. Von 100 Testpersonen sind bisher 40 gestorben, 30 liegen auf der Intensivstation des Instituts und bei den anderen haben sich bisher kaum neue Fähigkeiten gezeigt, aber das kann noch kommen. Meine Schwester und mein Ehemann liegen beide in Krankenbetten, während mit mir nichts passiert zu sein scheint.

Nach den ersten beiden Tagen ist meine Schwester wieder zu sich gekommen. Ich hatte die Hoffnung, dass Jonathan auch wieder aufwacht, doch sein Zustand hat sich nicht verändert. Dr. Augustine und Dr. Wellington verbringen die meiste Zeit damit, alle zu beruhigen. Sie tun ihr Möglichstes um denen zu helfen, die durch das Serum ans Bett gefesselt sind. Täglich habe ich von neuen Testpersonen gehört, die verstorben oder kurz davor sind. Laura, eine Freundin von Nathalie ist heute gestorben. Von Ana weiß ich, dass sich bei ihr eine Genmutation gebildet hat, die dafür sorgte dass ihre Lunge ihre Funktion einstellte. Es muss ein furchtbarer Tod gewesen sein. Ich gehe zu Allens Zimmer. Er liegt im Koma, wie die meisten hier, und ich hoffe, dass er Lauras Verlust verkraften kann. Die zwei haben sich seit Beginn des Experiments angefreundet und ich befürchte, dass Allen nicht viele andere Freunde hat.

Alaric kommt um die Ecke, er ist nach einem Tag wieder zu sich gekommen und es geht ihm inzwischen wieder soweit gut, dass er aus der Intensivstation entlassen werden konnte. Ich entdecke die M&M-Tüte in seiner Hand, die er unbeholfen vor mir zu verstecken versucht. „Ist Jonathan…?“, ich schüttle als Antwort den Kopf. „Keine Veränderung bisher. Ich hoffe er schafft es“, füge ich hinzu, als ich sein besorgtes Gesicht sehe. Ich sehe fragend zur Tüte und dann in Alarics Gesicht. Soweit mir bekannt ist, isst er keine Süßigkeiten und Allens Tick immer eine Tüte davon mit sich rumzutragen ging ihm bisher immer auf die Nerven. Was wohl daran liegen könnte, dass Allen seine leeren Tüten grundsätzlich bei Alaric im Auto vergessen hat. „Ich hatte gehofft, dass Allen vielleicht wieder wach ist“, gibt Alaric zu als er meinen fragenden Blick sieht. „Ich muss ihm noch sagen, dass er sich das abgewöhnen muss. So viel Süßkram ist ungesund“.

Bianca kommt auf uns zu. Sie ist, ebenso wie ich, nicht ins Koma gefallen oder hat sonst eine Veränderung gespürt. Bianca bleibt vor uns stehen und entnimmt unseren betrübten Gesichtern, dass sich nichts verändert hat. „Ich glaube mit mir ist etwas passiert“, sagt sie plötzlich. Sofort blicken Alaric und ich in ihr Gesicht. Meint sie etwas das, was wir vermuten? Hat es funktioniert? Ich merke erst, dass ich die Luft angehalten habe, als ich ausatme. Bianca hebt ihre Hand und ihre Haut beginnt langsam zu leuchten. Erst sieht es so aus, als würde die Sonne auf ihre Haut strahlen, aber sie steht zu weit von einem Fenster entfernt. Das Leuchten auf ihrer Haut wird immer heller. „Ich habe es in Cassies Krankenzimmer bemerkt. Es war dunkel und ich wollte das Licht anschalten“, erzählt sie uns aufgeregt. Ich habe tausend Fragen und weiß nicht, welche davon ich zuerst stellen soll. „Tut es weh?“, fragt Cole, der zu uns gestoßen ist. Wie gebannt sieht er auf Biancas Arm. Das Leuchten breitet sich auf ihrer ganzen Haut aus und schon bald sieht es so aus, als wäre die Sonne in Menschengestalt zu uns gekommen. Biancas Leuchten fängt an mich zu blenden und ich muss woanders hinsehen. Ich blinzle einige Male und sehe wieder zu ihr, als sie flucht. Das Leuchten ist verschwunden. „Was ist passiert?“, will ich wissen. Biancas Haut ist gerötet, wie bei einem starken Sonnenbrand. Meiner Einschätzung nach, dürfte es sich für sie auch wie einer anfühlen. Als Dr. Augustine um die Ecke kommt, sieht sie sehr wachsam aus. Sofort steuert sie auf Bianca zu. „Bianca, Sie müssen sofort mitkommen“, befiehlt sie ihr. Cole, Alaric und ich bleiben im Flur zurück. Den Rest des zweiten Tages haben wir sie nicht mehr gesehen.

Am dritten Tag werden immer mehr wieder wach. Die Hälfte der Teilnehmer ist bereits in der Nacht verstorben. Immer wieder höre ich Getuschel darüber, dass unvorhergesehene Genmutationen Schuld daran waren. War das alles hier vielleicht doch ein Fehler? Würden Jonathan und ich oder Nathalie auch innerhalb der nächsten Stunden sterben? Ich habe Angst und das Gefühl mit niemandem richtig darüber reden zu können. Haben die anderen hier auch diese Gedanken? An jeder Ecke, an der ich heute vorbeigelaufen bin konnte ich den Kummer meiner Leidensgenossen wahrnehmen. Im großen Saal, sind überall kleine Stellen mit weißen Kerzen errichtet worden. Jede Kerze steht für einen Verstorbenen. Die Stimmung im Institut ist ganz merkwürdig. Trauer, Angst und Aufregung wechseln sich ab. Am Nachmittag bekomme ich ein schlechtes Gefühl in der Magengegend und ich muss mich mehrere Male übergeben. Auf dem Weg zu Dr. Sasson bekomme ich bei jedem Teilnehmer, der an mir vorbeigeht, ein kribbelndes Gefühl. Es ist merkwürdig, aber vielleicht ist das auch nur Einbildung. Ich bin nur noch wenige Schritte von Dr. Sassons Behandlungszimmer entfernt, als plötzlich der schrille Feueralarm losgeht. Irgendwo muss es brennen. Die Sprinkleranlagen gehen an und schon bald ist der Teppich in den Fluren durchweicht und gibt schmatzende Geräusche von sich, sobald man es wagt drüber zu gehen.

Ich laufe wieder zurück nach unten und sehe gerade noch wie ein brennender Mensch im Saal steht und nach Hilfe ruft. An der Stimme erkenne ich, dass es Cole ist. Dr. Wellington versucht ihn mit dem Feuerlöscher vor den Flammen zu retten. Ich kann nur auf der obersten Stufe stehen und bin entsetzt. Jeder, der sich dieses grausame Spektakel mit ansieht scheint zu glauben, dass Cole irgendwie durch die Kerzen Feuer gefangen hat, aber aus irgendeinem Grund weiß ich, dass es nicht an den Kerzen liegt.

Cole selbst ist das Feuer.

Ich weiß es ganz genau. Mein merkwürdiges Wissen wird bestätigt, als ich sehe das Coles Haut kein bisschen verbrannt ist. Er steht da, mit panischem Blick und bedeckt sich, als er nackt vor uns steht. Jeder im Saal starrt ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugierde an. Mir tut er in diesem Augenblick einfach nur leid. Das muss für ihn wie ein Albtraum aus der Schule sein, in dem man träumt nackt vor der ganzen Klasse zu stehen. Ich bin erleichtert, als Dr. Wellington ihm seinen weißen Kittel überlässt, damit er sich vor uns bedecken kann. Als ich mich abwende, kommt Ana Mitchell auf mich zu. „Nicky? Jonathan ist aufgewacht“, verkündet sie mir. Ich bin so erleichtert das ich sie erstmal umarme, weil ich das Gefühl habe sonst umzukippen. Mein Jonathan lebt und ist endlich aufgewacht! „Er hat nach dir gefragt, nachdem Dr. Augustine ihn untersucht hat“, beendet Ana ihre Information an mich. Ich lächle sie an. „Danke Ana“, rufe ich ihr zu, als ich schon durch die Tür eile um schneller bei ihm zu sein. Als ich vor seiner Tür ankomme, platze ich einfach hinein ohne anzuklopfen. „Jonathan!“, ich bin so erleichtert, als er mich anblinzelt und dann lächelnd einen Arm hebt um mich mit der Hand zu sich zu winken. Ich gehe zu ihm und umarme ihn etwas unbeholfen, da zu viele Schläuche und Nadeln im Weg sind. Seine Stirn fühlt sich sehr heiß an, als ich ihn küsse. „Hi Baby“, begrüßt er mich und zieht sich die Maske von Mund und Nase. „Nicht Jonathan“, warne ich. Ich fände es besser, wenn einer der Ärzte ihm dieses Ding aus dem Gesicht ziehen würde. Wie üblich, wenn ich mir wieder zu viele Sorgen mache, grinst er nur. Ein gutes Zeichen für mich, wenn er wieder grinsen kann, muss er auf dem Weg der Besserung sein.

Von Teleportern und Atombomben

Inzwischen sind seit der Injektion ganze sechs Tage vergangen. Anfangs waren wir 100 Teilnehmer, innerhalb der letzten Tage ist unsere Zahl immer weiter geschrumpft. Jetzt sind wir nur noch 50. In den vergangenen zwei Tagen ist allerdings niemand mehr von uns gegangen. Wellington sprach von einem guten Zeichen. Diejenigen, die vor zwei Tagen noch beinahe gestorben sind, darunter William, Cole, Karen, Antony, Galen und Allen, sind inzwischen wieder aus ihrem Koma erwacht. „Mitchell!“, ich drehe mich zu Beth um, sie kommt lächelnd auf mich zu. „Ich habe es eben gehört! Du hast eine Fähigkeit bekommen?“, fragt sie mich begeistert. Ich lächle zurück. Beth hat diese Wirkung auf die Leute. Wenn sie dich anlächelt fühlst du dich gleich wohler und kannst negative Gedanken sofort vergessen. Statt ihr zu antworten, beschließe ich, ihr meine neue Fähigkeit zu zeigen und gehe geradewegs auf die massive Wand zu, ohne vor ihr stehen zu bleiben. Ich gehe hindurch, als wäre es nichts weiter als ein Hologramm, unfähig mir Schaden zuzufügen. Durch die Wand höre ich ihren überraschten und zugleich aufgeregten Aufschrei. Erneut muss ich lächeln und gehe auf demselben Wege wieder zurück. „Der Nachteil ist, dass ich hin und wieder meine Kleidung oder meine Uhr auf der anderen Wandseite verliere“, sage ich und erinnere mich an ein paar ziemlich peinliche Situationen, die ich gestern Nachmittag vor Dr. Augustine und Dr. Sasson hatte.

Als ich wieder bei Beth im Flur stehe, habe ich glücklicherweise alle meine Kleidungsstücke anbehalten. „Gehen wir etwas essen?“, frage ich Beth. Sie nickt freundlich und hakt sich bei mir unter und zusammen gehen wir nach unten. Wir kommen zusammen mit Steve und Alexander im Speisesaal an. Es ist ziemlich voll, fast alle sind hier versammelt um zusammen zu Mittag zu essen. Wir setzen uns an den üblichen Tisch zu Allen und Katherine. „Hi Leute“, begrüßt sie uns, während Allen uns nur niedergeschlagen zunickt. Es ist das erste Mal, dass ich ihn seit der Injektion außerhalb eines Krankenzimmers sitzen sehe. Seine Augen sind noch immer gerötet, Katherine und Nathalie haben ihm erst heute Morgen von Lauras Tot berichtet. Nach allem, was ich gehört habe, waren sie dabei sehr behutsam mit ihm. Nur wenige wussten, dass Allen und Laura gerade dabei waren sich ineinander zu verlieben, wobei es bei Laura schon von Anfang an gefunkt hat. Ich habe öfters beobachtet, wie sich andere über Laura lustig gemacht haben. Sollen sie alle in der Hölle schmoren. Ich hoffe, sie fühlen sich spätestens jetzt, nach Lauras Ableben, richtig mies.

Veronica betritt den Speisesaal und setzt sich zu ihrer Truppe. Wie ich studiert auch sie Agrarwissenschaft und die meisten Kurse haben wir zusammen. Trotzdem hatten wir nie wirklich miteinander zu tun. Mehr als das Studienfach und unsere Namen kennen wir voneinander nicht. „Hey Leute… wo steckt Hank eigentlich?“, höre ich Darcy aus irgendeiner Ecke rufen. Ich mache mir nicht die Mühe, um mich nach ihr umzudrehen. Von allen Anwesenden nervt mich ihre Persönlichkeit am meisten. Sie hat einen dunklen Charakter und ich bin besorgt darum, welch teuflische Fähigkeit sie wohl entwickeln mag. Ich bete darum, dass es etwas Harmloses ist. „Der ist bei einer Untersuchung“, antwortet Galen gelangweilt. Hat Darcy überhaupt irgendwelche Freunde? Ich bezweifle es stark. Steve, kommt zu uns und setzt sich mit einem überladenen Tablet zu uns an den Tisch. „Gibt’s schon was Neues?“, fragt er. „Scheint hier mittlerweile eine typische Frage geworden zu sein“, antworte ich ihm. Steve Brock, sieht mich kurz an und schweigt. Manchmal bin ich mir nicht sicher, aber in seinem Kopf scheint es zu arbeiten. Ich kann es praktisch rauchen sehen und ertappe mich kurz dabei mir vorzustellen, ob Cole wohl, kurz bevor er in Flammen aufgeht, aus den Ohren zu dampfen beginnt. Der Gedanke erheitert mich genauso kurz, wie er gedauert hat. „Tja… was sollen wir auch sonst fragen? Wir sitzen hier, während Wellington und die anderen darüber beraten und analysieren wie es unseren Freunden geht“, die Fritte, die er dabei in die Hand genommen hat, wirft er frustriert zurück auf seinen überfüllten Teller. Veronica entschließt sich dazu, sich zu uns umzusetzen. „Steve… das wird schon wieder.“, redet sie gut auf ihn ein. „Jeden Tag werden mehr von uns wieder gesund und entwickeln Fähigkeiten. Erin zum Beispiel“, sie deutet auf die gelockte Frau am anderen Ende des Raumes. „Sie kann die Gestalt von jedem Menschen hier annehmen, ich meine okay, manchmal dauert es eine Weile bis sie wieder sie selbst werden kann, aber ich finde das wahnsinnig aufregend“, plappert sie drauflos. Plappert sie immer so viel? Ich beschließe im Stillen und nur für mich, das mal zu beobachten. „Redest du immer so viel?“, Steve sieht Veronica fragend an. Normalerweise ist er der höflichere von uns. Das war schon so, als wir noch Kinder waren, mein Zwilling, der höfliche, hilfsbereite Schwarze von nebenan.

Die Tür schlägt erneut auf und Dr. Wellington betritt den Speisesaal. Er sieht in die nun nicht mehr ganz so große Runde und postiert sich so, als wolle er eine Rede halten und sichergehen, dass er auch wirklich von allen gesehen wird. Hank betritt kurz nach ihm den Raum und setzt sich auf einen der freien Plätze. „Sicherlich habt ihr alle mittlerweile bemerkt, dass wir in den letzten Tagen hohe Verluste verbuchen mussten“, er macht eine dramatische Pause und die Schafsherde, zu der er spricht nickt und schweigt betroffen. Kein schlechtes Gewissen der Welt, könnte unsere verlorenen 50 Freunde wieder auferstehen lassen. So viel steht fest. „Das sind tragische Verluste, aber umso größer ist die Freude darüber euch berichten zu können, das alle anderen auf dem Weg der Besserung sind und bisher 20 von euch eine beeindruckende Fähigkeit entwickeln konnten“, Wellington macht einen euphorischen Eindruck auf mich. Seine Begeisterung ist im Angesicht dessen, wie viele durch sein Serum dahingerafft wurden, nicht besonders ansteckend. „Ich hoffe auf viele weitere Fähigkeiten, die sich nach und nach auch bei den anderen beobachten lass---„, er wird durch ein lautes Husten in der Ecke unterbrochen. Hinten in der Ecke, an Hanks Tisch beginnen die anderen, die bei ihm sitzen, zu husten. Blut läuft ihnen aus Augen und Nase und ihre Haut beginnt Blasen zu schlagen. „Sofort alle raus hier!“, kreischt Dr. Augstine. „Er ist radioaktiv“, fügt sie hinzu, nachdem sich zuerst niemand rührt. Sofort bricht Panik aus und alle springen von ihren Stühlen auf, mich und meinen Bruder eingeschlossen. Wir rennen zu den Schwingtüren, genau wie alle anderen, und hoffen das wir es noch rechtzeitig schaffen werden, bevor Hanks Radioaktivität uns genauso dahinrafft, wie das Serum die Hälfte unserer Leute.

Als ich es endlich nach draußen schaffe und mich nach meinem Bruder umsehe, erscheinen wie aus dem nichts plötzlich William, Jonathan, Fynn und Nicky mit ihrer Schwester im Arm direkt vor mir. „Was zum?!“, flucht es neben mir. Es ist Steve, der soeben das Gleiche wie ich gesehen hat. „Ich glaub mir wird schlecht“, bringt Fynn gerade noch hervor, bevor er sich direkt vor meine und Steves Füße übergibt. „Was war das denn?!“, fragt Nicky und sieht ihre Freunde erschrocken an. Ihre Gesichtsfarbe wirkt nicht gerade gesund auf mich. Nathalie sieht zu William, der sich direkt vor uns in Luft aufzulösen scheint. Wenige Millisekunden später ist er nicht mehr zu sehen. Die Stelle, an der er soeben noch stand ist leer. „Der Mistkerl ist ein Teleporter“, sagt eine viel zu begeisterte Stimme neben mir. Darcy. Sie sieht wie gebannt auf die leere Stelle zwischen Fynn, der sich immernoch übergibt, und Jonathan, der Fynn von hinten an der Schulter packt. Vermutlich würde er ihm auch das lange Haar zurückhalten, wenn Fynn nicht einen Kurzhaarschnitt trüge. „Alter, geht es wieder“, will er von Fynn wissen, als dieser endlich aufhört zu kotzen. Ich weiche noch etwas weiter als zuvor zurück. Fynn hält sich die Hand vor den Mund und ist noch immer vorn übergebeugt. Er nickt kurz und hält die Augen geschlossen. Tja Kumpel, ich will mir auch nicht deinen See aus Erbrochenem ansehen. Steve zieht mich am Kragen von diesem Schauspiel weg. „Hast du das gesehen?“, fragt er und sieht mich eindringlich an. Ich wüsste gerne was genau er meint. Meint er Hank, der zu einer wandelnden Atombombe geworden ist oder meint er William, der vor unseren Augen wer weiß wohin verschwunden ist? Ich bin verwirrt…

Alle für Einen

„Hast du das gesehen?“, frage ich meinen Zwilling. Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er nicht weiß worauf ich hinaus will. Ich ziehe ihn am Arm mit mir nach draußen, auf den kleinen Innenhof, während alle anderen weiter kreischend und schreiend die Flur langrennen. „Alter“, protestiert mein Bruder. „Hast du das gesehen?!“, frage ich energischer. „Was denn?!“, Mitchell ist aufgebracht. „Wie Hank plötzlich anfängt seine Freunde zu verstrahlen oder wie William auf einmal verschwindet?“, fügt er ebenso aufgebracht hinzu. Sicher, beides sind unglaubliche Fälle. Beides ist verstörend. „Ich meine das, was Hank eben getan hat“, stelle ich klar. „Hank wurde vermutlich zum gefährlichsten von uns“, füge ich hinzu. Wie ich Mitchell kenne, wird er später beten. Das hat er schon immer getan. Mitchell mit seinem Gottkomplex. Manchmal frage ich mich, wofür er betet oder für wen. Nach außen zeigt er es nicht, aber sein Glaube an Gott ist unerschütterlich.

Mir wird wieder bewusst, dass Hank in der Nähe und radioaktive Wellen verstrahlt. Sollten wir wie die anderen planlos durch die Gänge rennen, oder uns in dem Chaos aus dem Staub machen? Ich denke darüber nach, als Mitchell wieder zu sprechen beginnt: „Denkst du er wird es kontrollieren können?“, seine Stimme klingt merkwürdig. Als wäre er wie gelähmt, genauso ergeht es mir in diesem Moment, als ich über die Antwort nachdenke. „Ich weiß es nicht…“, gebe ich zu, „.. aber ich hoffe es. Wenn nicht, werden wir alle draufgehen und für was haben wir das alles hier dann getan?“, ich brauche keine Antwort auf diese Frage und mein Bruder weiß das auch. Wir verstehen uns oft ohne Worte.

Ich sehe, wie ein Mann, mit leicht ergrautem Haar, an uns vorbeieilt. Direkt auf den Raum zu, aus dem alle anderen geflohen sind. Er trägt einen Ganzkörperanzug mit kastenförmiger Kopfbedeckung. Das wichtigste Detail an ihm ist jedoch die längliche Waffe in seiner Hand. Ich bin erneut wie erstarrt und frage mich, was wir hier eigentlich tun und was hier alles gleichzeitig passiert. Ich fühle mich wie betäubt, als wäre jemand anderes dabei meinen Körper zu steuern, als ich plötzlich losrenne und mich zwischen Hank und dem grauhaarigen Mann aufbaue. Wenn er ihn jetzt wegen seiner Fähigkeit erschießen will, wird er mich auch erschießen müssen. Hier wird kein weiteres, unschuldiges Blut vergossen. In den letzten Tagen mussten schon zu viele von uns sterben. Wie in Trance registriere ich, wie der Mann in seinem lächerlichen Anzug das Gewähr anlegt und auf Hank zielt, der zusammengekauert in einer Ecke sitzt. Sein Gesicht ist angsterfüllt, als ich es den Hauch einer Sekunde sehe.

Der Mann zielt noch immer auf Hank und sein Finger schwebt über dem Abzug. Ich springe zwischen Hank und dieses todbringende Gewehr, als er den Abzug betätigt und es laut knallt. Irgendwo schreit eine Frau auf, aber ich kann nicht erkennen welche, oder woher der Schrei kommt. Ich schlage am Boden auf und verspüre einen Druck an meiner Schulter. Neben mir fällt etwas klirrend zu Boden und als ich mich nach diesem Geräusch umsehe, entdecke ich sie. Die Patrone, die für Hank bestimmt war. Ich richte mich halb auf und hebe sie hoch, um sie mir besser anzusehen. Ich erwarte, dass mich jeden Augenblick der Schmerz an meiner Schulter treffen müsste, doch er kommt nicht. Ich spüre gar nichts an meiner Schulter. Noch immer halte ich die Kugel in meiner Hand und sehe sie nun genauer an. An der oberen Seite, die zuerst aus dem Gewehrlauf geflogen kommt, sehe ich das sie statt spitz-abgerundet, platt ist. Verwirrt sehe ich zu meiner Schulter. Nichts. Kein Loch, keine blutende Wunde und kein Anzeichen dafür von etwas getroffen worden zu sein. Ich bin fasziniert.

Jemand kommt zu mir gerannt und rüttelt an mir. Immer noch fühlt es sich an, als würde alles in Zeitlupe passieren. Ich sehe mich nach dem Rüttler um, um ihm sagen zu können, er solle sich verziehen. In letzter Sekunde kann ich mich dann aber doch noch beherrschen und entdecke Ana. Ihr Gesicht ist wie versteinert und doch redet sie. Leider scheine ich unter Schock zu stehen und kann ihre Stimme nicht hören. Ich registriere nur ihren Mund, der Wörter formt. Ihre Augen sind vor Schreck weit aufgerissen und untersuchen meine Schulter. Der Schütze zielt ein weiteres Mal auf Hank und auf einmal bin ich wieder bei mir. „Stopp!“, brülle ich. „Hör auf! Hank braucht Hilfe und nicht den Gnadenstoß“, meine Stimme klingt in meinen Ohren bestimmter als ich mich in Wirklichkeit fühle. „Er gehört zu uns und wir helfen einander“, ich bin froh, dass er seine Fähigkeit wenigstens für diesen Moment unter Kontrolle hält, denn ich fühle mich weder verstrahlt, noch habe ich das Gefühl mir würden die Augäpfel schmelzen oder so. Ich fühle mich gesund und munter. Etwas gestresst vielleicht noch, durch diese konfuse Situation.

Hinter mir rührt sich etwas und ich sehe mich danach um. Jonathan und Fynn stehen dort. Ich bin überrascht sie hier zu sehen. Die beiden lassen je eine der Schwingtüren aufschwingen und die restlichen von uns kommen dahinter zum Vorschein. Ihre Gesichter sind genauso entschlossen wie, das meines Bruders, der neben Ana steht. In diesem Moment weiß ich, wir sind füreinander da. Wir lassen niemanden zurück und wir lassen nicht zu, dass Hank erschossen wird. Vielleicht probiere ich das mit dem beten nochmal aus. Womöglich hat der Herr da oben einen Plan für uns und hat uns deswegen alle zusammengebracht. Immer mehr Leute stellen sich neben mich. William steht als Letzter vor mir und ergreift das Wort: „Wenn Sie Hank haben wollen, müssen Sie erst uns alle erschießen. Wir geben unseren Freund nicht auf“.

Ein Statement eines Anführers würdig.

Immer noch kann ich nicht realisieren, dass unser gemeinsames Auftreten vor dem Schützen dafür gesorgt hat, dass Hanks Leben verschont geblieben ist. William und die anderen sind Stundenlang so vor Hank und mir stehen geblieben, bis schließlich Peter Wellington persönlich zu uns gekommen ist. Er versuchte uns etwas darüber zu erklären, dass Hank eine wandelnde Zeitbombe sei, den Rest seines Lebens und das er fähig sei uns alle über Nacht sterben zu lassen. Unser wichtigstes Argument ist, dass Hank das alles nicht beabsichtigt hat und sich seither mehr als nur schlecht fühlt. Seine Fähigkeit hat seine ganzen Freunde umgebracht. Sicherlich gibt er sich dafür die Schuld und ich hoffe, sie wird ihn nicht erdrücken. Mittlerweile sind weitere zwei Tage vergangen und Hank wurde aus dem Land gebracht. Wellington und Dr. Sasson haben entschieden, dass es auf der Welt nur einen Ort geben kann, an dem Hank nicht gefunden werden, oder jemanden verstrahlen, kann. Im Kernkraftgebäude in Tschernobyl. Sie haben ihm einen Laptop gegeben und wir skypen täglich mit ihm. Gestern habe ich Mitchell im Videochat mit Hank erwischt, wie sie beide miteinander gebetet haben. Sie riefen Gott um Beistand und Vergebung an und ich frage mich, ob Gott einem von ihnen wirklich jemals antworten wird. Weitere Überlegungen überlasse ich meinem Bruder selbst. Er hat den besseren Draht zu dem da oben und wird sicherlich bessere Antworten finden als ich.

Risiken

Eben stand ich noch im Speisesaal des Instituts und im nächsten Augenblick mit all meinen Freunden vor dem Lauf eines Gewehres. Die beiden Tage danach waren geprägt von entsetzen und Fassungslosigkeit. Mein Vater und seine Doktoren versuchten uns davon zu überzeugen, dass der Schütze nur im äußersten Notfall geschossen hätte, aber ich glaube ihm kein Wort. Nicht nach dem, was ich selbst gesehen und was mir einer der Brock-Zwillinge gesagt hat. Steve hatte mir die Kugel gezeigt, von der er getroffen worden ist. Mittlerweile trägt er sie als Anhänger an einer Kette.

„Jeder, der überlebt hat, hat inzwischen eine Fähigkeit entwickelt… abgesehen von mir“, sagt Nicky gerade zu Jonathan. Wir sitzen in der Lobby des Instituts. Fynn schweigt seit einiger Zeit und scheint in seinen eigenen Gedanken im Kreis zu fahren. Das geht seit Sams Anruf so, von dem er nur mir erzählt hat. Was genau sie besprochen haben, wollte er mir nicht sagen, aber ich schätze so wie er sich seither benimmt, war es alles andere als ein gutes Gespräch. Ob sie sich von ihm trennen will? Jonathan sieht erst Fynn und dann mich an. Er scheint zu ahnen, dass ich mehr weiß als er. Wie üblich wartet er allerdings bis einer von uns selbst etwas sagt.

Die Stimmung im Institut ist wieder einmal merkwürdig. Einerseits scheinen alle zu glauben es wäre alles gut, aber dann gibt es auch dieses beklommene Geflüster darüber, wie schnell Dr. Peter Wellington, mein Vater, bereit ist einen von uns zu erschießen. „Baby, mach dir keine Sorgen, wahrscheinlich bist du nur ein Spätzünder“, versucht Jonathan Nicky zu beruhigen. Ich höre sie seufzen. Nachdem, was wir bei Hank gesehen haben sollte sie froh sein nicht auch eine solche Fähigkeit zu entwickeln. Erneut sehe ich zu Fynn. Nicky liegt mit ihrer Behauptung nicht ganz richtig als einzige keine Fähigkeit entwickelt zu haben, denn wir haben auch noch nichts von Fynns Fähigkeit erfahren. Jonathan hat festgestellt, dass er in der Lage ist Leute zu beeinflussen. Zumindest behauptet er das. Selbst gesehen hat es nur Nathalie, die auch bei uns sitzt und Nebelschwaden aus ihren Händen absondert. Ich setzte mich frustriert neben Jonathan und Nicky. „Erzähl es mir noch einmal“, bitte ich ihn. Jonathan dreht sich halb zu mir um und grinst kurz verschmitzt. „Ich bin in den Speisesaal gegangen und wollte einen Extrapudding von der Alten grimmigen haben. Sie hat sich geweigert und ist ausgerutscht. Zum Glück konnte ich sie noch am Arm erwischen und auffangen“, erzählt er mir, mittlerweile zum tausendsten Mal, von der Entdeckung seiner Fähigkeit. „Und voila, ich hatte meinen Extrapudding“, beendet er seine Erzählung. Allen schüttelt den Kopf. „Das kann auch nur Dankbarkeit von ihr gewesen sein, weil du sie vor dem Aufprall bewahrt hast… das heißt nicht gleich, dass du sie durch eine Fähigkeit dazu gebracht hast“, widerspricht er Jonathan. Daraufhin erntet er einen grimmigen Blick von Jonathan. Zugegeben, sollte das wirklich seine Fähigkeit gewesen sein, wäre sie ziemlich cool. Er könnte Leute dazu bringen Kriege zu beenden bevor sie entstehen und Verbrecher dazu bringen gesetzestreu zu leben. Ich male mir kurz eine Welt aus, in der es nichts als Frieden gibt. Kein Krieg mehr, keine Brüder die bei Feuerwehreinsätzen elendig ums Leben kommen, nur weil ein paar Terroristen entschieden haben ein Flugzeug in ein Gebäude krachen zu lassen. Der Gedanke an meinen großen Bruder macht mich traurig und wütend zugleich. Ich vermisse ihn und seine Grübchen, die er beim Lächeln hatte. Aus meiner Tasche ziehe ich mein Handy und klappe es auf. Nach kurzer Suche in der Fotogalerie finde ich das Foto von meinem Bruder, als er seinen Sohn A.J das erste Mal im Arm hält. Mittlerweile ist er neun Jahre alt. A.J und Aiden hatten nur ein Jahr gemeinsame Zeit miteinander und A.J würde seinen Dad nie kennenlernen. Nicht wirklich zumindest. Ich sehe das nächste Foto an, es zeigt A.J in seinem jetzigen Alter und Evelyn, die ihren Arm um ihn gelegt hat. Beide lächeln auf dem Bild und das gibt mir ein Gefühl der Hoffnung. Ich mache es mir zur Aufgabe dafür zu sorgen, dass dieser kleine neunjährige Junge so viele Geschichten wie möglich über seinen Dad erfährt.

„William?!“, ich schrecke hoch. Ich hatte nicht bemerkt, dass Jonathan mich angesprochen hat. „Sorry, was hast du gesagt?“, frage ich, während ich mein Klapptelefon wieder in die Jeanstasche stopfe. „Wo warst du gerade?“, fragt er und hat die Stirn in Falten gelegt. „Ist doch egal, wir waren gerade dabei das auszudiskutieren“, antwortet Allen ungehalten und sieht mich auffordernd an. „Worum geht’s hier gerade?“, ich bin verwirrt. Allen seufzt ungehalten und setzt sich endlich neben mich, was ihn davon abhält weiterhin vor meiner Nase auf und ab zu gehen. „Ich sagte ich versuche zurück in die Vergangenheit zu kommen und dann könnte ich versuchen Hanks Freunde dazu zu bringen sich nicht an seinen Tisch zu setzen. Oder ich warne Dr. Sasson oder so vor das sowas passieren wird“. Ich denke darüber nach. Allen konnte bisher nur wenige Minuten durch die Zeit reisen, was total abgefahren ist, aber ich habe genug Zeitreisefilme gesehen um zu erahnen, was alles schief gehen könnte, oder vielleicht sogar komplett gefährlich ist. „Kleiner…“, fängt Jonathan erneut an. „Viel zu gefährlich… du hast diese Fähigkeit noch nicht einmal unter Kontrolle und wenn wir Pech haben machst du es nur noch schlimmer und es sterben noch mehr, wenn du etwas veränderst. Wenn ich könnte, würde ich sie auch retten, aber das ist zu riskant. Für dich und für uns alle“, ich finde Jonathans Argument ziemlich gut und sehe es genauso. Nicky und Fynn nicken beipflichtend, nur Nathalie sitzt beunruhigend still auf ihrem Platz. Ich sehe zu ihr und sie meidet meinen Blick. Was ist hier los? Sie würde sich nicht so verhalten, wenn sie nicht ein Geheimnis hätte, das sie vor uns allen verbergen will. „Nat? Was ist los? Dein Schweigen ist ja ohrenbetäubend“, spricht Bianca meine Gedanken aus. Wenn ich nicht wüsste, das sie bereits eine Fähigkeit hat, hätte ich vermutet das sie Gedanken lesen kann. Ist es möglich, dass jemand zwei unterschiedliche Fähigkeiten entwickelt? Ich denke kurz darüber nach. „Nichts… ich meine nur… vielleicht sollte er es einfach versuchen?“, ungläubig starre ich Nathalie an. „Ist das dein ernst?“, rutscht Fynn heraus. Mit hilfesuchendem Blick sieht er zu Nicky. Sie wird ihre Schwester hoffentlich zur Vernunft bringen können.

„Ich meine nur, dass er ja nur darauf aufpassen muss, dass er selbst nicht durch Hanks Fähigkeit stirbt. Er könnte beliebig oft zurückreisen, bis er das bestmögliche Ergebnis erzielt hat“, erklärt Nathalie. Ich schüttle entschieden den Kopf. „Viel zu gefährlich. Das Risiko ist viel zu hoch. Wir sollten lieber aufpassen, dass kein weiterer von uns durch eine Fähigkeit eines anderen stirbt oder verletzt wird“, ich bin mir sicher, dass dies die beste Lösung ist. In der Zeit zurückreisen und Menschen retten, die einem wichtig sind. Wie oft habe ich mir das nach Aidens Tod gewünscht? Theoretisch wäre es jetzt möglich, sofern Allen diese Fähigkeit unter Kontrolle bekommt und gezielt steuern kann. Bis auf weiteres bleibt es ein Traum. Aber wie lange wird es wohl dauern, bis mein Vater auf die gleiche Idee kommt? Nicht lange, schätze ich. Man mag über ihn sagen was man will, aber mein Vater ist ein schlauer Mann. Vielleicht sogar schlauer als ihm guttut. Niemand sonst hätte es schaffen können, ein Serum zu entwickeln, das Menschen Kräfte und Fähigkeiten verleiht.

Mein Handy klingelt in meiner Hosentasche und ich zucke zusammen. Wie es aussieht, haben wir in der Gruppe gemeinsam entschieden, dass Allen diese Zeitreise besser nicht wagen sollte, oder zumindest noch nicht. Ich ziehe das klingelnde Handy aus meiner Tasche und sehe auf dem Display, dass es Eve ist. Mist… seit unserem letzten Treffen habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen, dabei hatte ich mir doch fest vorgenommen ihr eine SMS zu schreiben. Um nicht alle hier an meinem Privatleben teilhaben zu lassen stehe ich auf und gehe einige Schritte weit weg. „Hey Eve“, ich habe ein schlechtes Gewissen. „Hey William…“, antwortet sie zögernd. „Ist… ist bei uns noch alles okay?“, fragt sie leise und zurückhaltend. Klar, an ihrer Stelle würde ich mir die gleiche Frage stellen. Wie konnte ich nur vergessen mich bei ihr zu melden? Ich ärgere mich über mich selbst. „Natürlich. Bitte entschuldige, ich hatte hier so viel zu tun und es vergessen“, versuche ich zu erklären, ohne wirklich zu verraten was in der letzten Woche hier los war. „Ich… okay“, antwortet sie. Sie ist distanziert, was mir sagt, dass sie mir nicht glaubt oder zumindest an meinen Worten zweifelt. Verdammt… entweder ich denke mir irgendeine Ausrede aus und verliere sie damit womöglich, oder ich erzähle ihr alles und verliere sie, weil sie mir nicht glaubt. Ich versuche meine Möglichkeiten abzuwägen, doch es kommt immer auf dasselbe heraus. Es sei denn, ich zeige es ihr ganz einfach. Ich werfe einen Blick zu Nathalie und ihrem Nebel. Würde sie mir helfen? Oder sollte ich Eve einfach zeigen, wozu ich selbst in der Lage bin? Momentan weiß ich nur eines, ich will jetzt unbedingt bei ihr sein und als ich das nächste Mal blinzle, stehe ich vor Eve und sehe wie sich ihre Augen vor Schreck weiten. Das Telefon fällt ihr aus der Hand und ich lege auf, während ich sie selbst erschrocken ansehe. Meine Fähigkeit hat mir soeben die Entscheidung abgenommen. Eve schlägt die Hände vor dem Mund zusammen und taumelt ein paar Schritte zurück, bis sie gegen ihren Schreibtisch stößt. „Eve…. Ich muss dir da was erzählen“, fange ich an.

Schluss

Eve und ich sitzen auf ihrem Bett im Wohnheimzimmer. Vor wenigen Minuten habe ich ihr alles erzählt. Würde mein eigener Vater mich wegen Vertragsbruch verklagen, wenn er das herausfinden würde? Ist mir im Moment eigentlich egal. Und vermutlich würde er. Ich sehe Evelyn an. Ihre Mine ist undurchdringlich. Schwer abzuschätzen was gerade in ihrem Kopf passiert. Inzwischen sind zehn Minuten vergangen, seit ich aufgehört habe zu sprechen. „Also…“, ihre Stimme klingt merkwürdig heiser. „… wozu das alles William?“, sie sieht mich endlich wieder an! Ich seufze und sehe zur Decke, als würde sie mir auf magische Weise plötzlich die perfekte Antwort darauf geben können. Diese Verräterin bleibt allerdings weiß und hilft mir dabei keineswegs. Wieder sehe ich zu Evelyn. In ihren Augen sehe ich wie verwirrt sie von allem ist. „Ich schätze… ich hatte gehofft Aiden irgendwie damit zu ehren, wenn ich eine Fähigkeit hätte die Menschen helfen kann“, antworte ich schließlich. Sie sieht mich eine Weile schweigend an und nickt dann langsam. Ich weiß wieder nicht, was ich sagen soll. Soll ich überhaupt etwas sagen? Vielleicht will sie jetzt lieber reden, immerhin hat sie eben lange zuhören müssen. Ich greife nach ihrer Hand, irgendwie will ich unsere Nähe wieder herstellen, aber kaum berühren meine Finger ihre, zieht sie ihre Hand weg. Autsch. Ich hatte befürchtet, dass sowas passieren würde und wie es scheint sind meine Befürchtungen wahr geworden. „Und… wie passe ich da rein?“, fragt sie nach weiteren Minuten des Schweigens. „Ich meine… wer ist noch alles betroffen? Darf ich mit jemandem darüber reden oder muss ich schweigen oder…“, sie redet ziemlich hastig, was mir zeigt wie verzweifelt und hilflos sie mit meinen Informationen ist. Verdammt, das hatte ich nicht gewollt. Ich kann ihr selbst nicht wirklich sagen, wie sie damit umgehen darf oder sollte. Fakt ist, dass es ein Geheimnis bleiben muss. Allerdings verstehe ich auch, dass sie mit jemandem reden wollen wird, der nicht betroffen ist.

Mir fällt als einzige Person Sam, Fynns Verlobte, ein. Das Sam über alles Bescheid weiß, weiß ich mit ziemlicher Sicherheit. Immerhin hat Fynn recht offen über das Institut vor ihr gesprochen. „Also… du könntest mit Sam darüber sprechen…“, biete ich ihr an. Sam ist sanftmütig genug um Eve aufzufangen. Ich habe vor dem Serum nie darüber nachgedacht, dass Evelyn das so sehr abschrecken könnte, dass unsere Beziehung darunter leidet oder gar zerbricht. Warum habe ich darüber nicht mehr nachgedacht? Klar, irgendwo wusste ich bestimmt, dass diese Möglichkeit besteht, aber ich habe diesen Gedanken stets beiseitegeschoben und gehofft, dass es nie dazu kommen möge.

„Sam? Sie weiß es?“, Evelyns Ton ist vorwurfsvoll. Ich sehe sie entschuldigend an. „Ja… Fynn und sie wollten es gemeinsam tun, aber sie wurde abgelehnt“, erkläre ich ihr. Eves Gesichtsausdruck wird wieder etwas weicher. Sie scheint zu verstehen, dass Sam nicht deswegen Bescheid weiß, weil Fynn sie vielleicht mehr liebt als ich Evelyn, sondern weil sie von Anfang an alles wusste. „Verstehe… also wussten es alle außer ich?“, fragt meine Freundin mit trauriger Stimme. Energisch schüttele ich den Kopf „Was? Nein! Sicher nicht“, versuche ich sie zu trösten, bevor ihr die Tränen kommen. „Nur wenige… kaum jemand“, versuche ich zu erklären. Nach weiteren Minuten sieht sie mich erneut an. „Vielleicht ist es besser wenn du jetzt gehst William“, diese Worte waren genau die, vor denen ich seit ich mit ihr telefoniert habe, Angst hatte. „Bitte… schick mich nicht weg Evelyn“, bitte ich sie, aber ihr Blick bleibt unnachgiebig und ich erhebe mich schließlich von ihrem Bett.

Wenige Minuten später, laufe ich über den dunklen Campus. Aus einiger Entfernung höre ich dröhnende Musik und kann Stimmen erahnen, die zu einer der vielen Verbindungspartys passen. Am liebsten würde ich hingehen. Etwas Normales tun und so vergessen, dass ich nicht mehr normal bin. Allerdings sollte ich es vielleicht doch lieber aufschieben. Ich versuche das erste Mal bewusst meine neue Fähigkeit einzusetzen. Es ist dunkel und die meisten sind hier eh total betrunken, also wem würde der Kerl auffallen, der sich mal eben wegteleportiert?

Es dauert etwas und ist schwieriger als ich gehofft hatte. Bisher konnte ich mich nur teleportieren, wenn ich irgendwelchem Stress ausgesetzt war. Zum Beispiel, als Hank plötzlich alle radioaktiv verstrahlt hat oder es zumindest fast hätte. Bei meinem Telefonat mit Evelyn stand ich unter emotionalem Stress. Ist Stress der gemeinsame Nenner?

Möglicherweise ist er es und ich muss nur versuchen mich selbst zu triggern. Ich probiere es einige Male aus, bis ich an diese eine Person denke, auf die ich die meiste Wut habe. Diesmal ist es anders, als ich meine Fähigkeit nutze. Ich habe das erste Mal die Augen weit geöffnet um möglichst viel wahrnehmen zu können.

Hoffe ich vielleicht, mich dadurch, dass ich vielleicht verrückt werde, von meinem Gespräch mit Evelyn ablenken zu können? Ziemlich sicher, trifft das zu…

Natürlich will ich mich davon ablenken. Es fühlt sich an, als habe Evelyn eben mit mir Schluss gemacht. Vermutlich ist das auch so. Erneut bin ich ziemlich down und zücke mein Handy. Wieder dieses Foto mit A.J und Evelyn. Ich beschließe sie anzurufen und wähle ihre Nummer, aber sie drückt meinen Anruf nur weg.
 

So ging es in den vergangenen drei Monaten weiter.

Jedes Mal, wenn ich versucht habe sie zu erreichen, hat Evelyn mich weggedrückt und jeden meiner Briefe ignoriert. Ich gebe mich schon längst nicht mehr der Illusion hin, dass sie vielleicht einfach nur Zeit braucht. Alaric und Fynn sitzen zusammen und trainieren miteinander. Alaric hat vor einigen Wochen gezeigt, dass er den Gravitationsgesetzten widerspricht oder sie zumindest zu seinem Vorteil nutzen kann und kurz zuvor haben wir festgestellt, dass in Fynns Gegenwart kaum eine unserer Fähigkeiten funktioniert. Er ist wie eine Art Schmerztablette für Fähigkeiten und dadurch ziemlich beliebt bei denjenigen von uns geworden, die durch ihre Fähigkeiten selbst verletzt werden, wie zum Beispiel Bianca. Sie ist mittlerweile dauernd in Fynns Nähe. Die Fähigkeit von Jonathan ist tatsächlich die, von der er gesprochen hat. Kaum hatten wir die Erlaubnis wieder an unseren College-Kursen teilzunehmen, schon taten wir genau das. Ich hoffe unterwegs von einem Kurs zum anderen Evelyn über den Weg zu laufen, allerdings konnte ich keine zufälligen treffen provozieren. „Lass sie mich finden und ich bringe sie einfach dazu, dir zu verzeihen“, schlägt mir Jonathan vor, als wir gerade zusammen zu unserem Wohnheim laufen, in dem Fynn sicher schon auf uns wartet. Ich weiß sein Angebot zu schätzen, aber würde sie mir unter seinem Einfluss verzeihen, wäre es nicht echt. Es wäre nicht das, was ich brauche, also hoffe ich insgeheim weiter.

Jonathans Schweigen

Ich gehe mit William zu unserem Wohnheimzimmer, das wir uns zusammen mit Fynn teilen, seit wir das Semester begonnen haben. Meine beiden besten Freunde haben seit dem Serum das Problem, dass ihre Freundinnen auf Abstand gegangen sind. Zu meinem Glück ist Nicky mit mir ausgewählt worden und mir bleibt dieses Problem erspart. Fynn und William hingegen tun mir leid und ich versuche so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen um sie abzulenken oder es ihnen irgendwie einfacher zu machen. Nicky ist toll, als ich ihr vom Problem der beiden erzählte, hat sie sofort verstanden, dass wir ihnen unsere Ehe nicht mehr so offen vor die Nase halten sollten. Sie verbringt mehr Zeit mit Nathalie und Bianca, soweit ich weiß trainieren sie zusammen ihre Fähigkeiten. Nathalie macht die meisten Fortschritte und Bianca gibt sich bereits mit kleinen Erfolgen zufrieden.

Meine eigene Fähigkeit allerdings…. Sie ist komplizierter geworden. Je öfter ich sie einsetze um sie zu trainieren, umso mehr habe ich das Gefühl als würde mich etwas von innen aushöhlen. Ich kann es nicht beschreiben, aber diese Fähigkeit, sie macht mir beinahe Angst. Das kann ich meinen Freunden und meiner Frau jedoch nicht sagen.

Sie würden mir nicht helfen können und wir alle haben gesehen wozu Dr. Wellington fähig wäre. Auch wenn William zurzeit eher schlechten Kontakt zu seinem Vater hat, sie könnten sich auch wieder miteinander versöhnen und wenn ich Pech habe, werden sie über mein Problem reden. Fynn könnte im Notfall meine Fähigkeit unterdrücken, so wie er es eine zeitlang bei Bianca und Cole gemacht hat, bis sie gelernt haben es an und aus zu schalten, aber er hat momentan mit der Trennung von Sam zu tun. Bevor ich ihn in mein Problem oder besser meine Befürchtungen einbeziehe, werde ich also noch warten bis er darüber hinweg ist. Nathalie würde es sofort Nicole erzählen und Nicky würde wiederum zu Fynn und William, oder noch schlimmer direkt zu einem der Doktoren gehen um mir irgendwie zu helfen. Möglicherweise bekäme sie allerdings auch Angst vor mir und dieser Fähigkeit und würde mich verlassen. Das könnte ich nicht ertragen, sie ist mein Anker und ich kann sie einfach nicht verlieren. Also entscheide ich mich für die Option, mein Können nicht einzusetzen, wenn es nicht absolut nötig werden sollte oder es von mir durch einen der Doktoren des Institutes verlangt wird. Ich fühle mich einsam damit, niemanden davon zu berichten, aber ich denke, dass es ihnen mit ihren Fähigkeiten genauso ergehen könnte. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen und dieses ist das meine.

Ich werde alleine damit klar kommen müssen und versuchen den anderen ihre Situationen leichter zu machen.

„Jonathan… ich glaube ich hab da was im Vorlesungsraum vergessen“, unterbricht William meine Gedankengänge. Ich sehe zu ihm und bemerke, dass er mich gar nicht ansieht, sondern zu einem bestimmten Punkt in der Menschentraube zu unserer rechten Seite starrt. Als er losgehen will, entdecke ich wen er da entdeckt hat. Es ist Evelyn, sie sitzt auf einem Holzschemel und bemalt eine Leinwand auf der Wiese, als würde ihr Leben davon abhängen. „Hey warte!“, ich erwische William an seinem Arm. Er sieht mich empört an, aber das ist mir egal. Ich schüttele nur den Kopf während ich noch einen Blick zu Evelyn werfe. „Sie ist umringt von einem Haufen Menschen Will..“, weise ich ihn darauf hin, denn offensichtlich ist ihm da etwas entscheidendes entfallen. „… willst du etwa riskieren, dass alle sehen das du anders geworden bist? Das wir anders sind?“, William denkt darüber nach. Er selbst weiß genau, dass er seine Fähigkeit der Teleportation noch längst nicht im Griff hat. Schon gar nicht, wenn es dabei um Evelyn geht. Erst vorletzte Nacht mussten Fynn und ich ihn aus Evelyns Wohnheim abholen, als er sich im Schlaf in ihr Bett teleportiert hat. Zum Glück war sie an dem Abend nicht da und so kam es nicht zu einem hysterischen Aufstand. Allerdings denkt Will seitdem krampfhaft darüber nach, wo sie die ganze Nacht über gesteckt haben könnte. Fynn und ich saßen die restliche Nacht mit William auf der Rückbank in Fynns Auto und warteten ab, wann Evelyn auftauchte. Sie kam bis zum nächsten Morgen nicht zu ihrem Wohnheim und als sie dann endlich auftauchte, versteckten wir uns in dem Auto vor ihr, um nicht entdeckt zu werden. Es war eine der peinlichsten Aktionen, die ich je für meine Freunde mitgemacht habe.

Ich sehe erneut zu Evelyn, diesmal sieht sie direkt zu William und mir rüber. Sie sieht auf Williams Arm, den ich noch immer festhalte, denn er hat bisher keine Anstalten gemacht sein Vorhaben, zu ihr herüber zu gehen, abzubrechen. Als William ihren Blick auch bemerkt, scheint er sich aber doch wieder zu besinnen. Er wendet seinen Blick von ihr ab und wendet sich wieder unserem Weg zu. Keine Ahnung, ob es diese Sache besser machen wird, aber ich schätze nachdem sie ihn seit etwas mehr als drei Monaten meidet, wäre sie nicht begeistert gewesen, wenn er jetzt wieder zu ihr gegangen wäre.

Als William und ich endlich das Wohnheim erreichen und es gerade betreten wollen, stoßen wir mit Sam zusammen. Überrascht bleiben wir stehen und sehen sie an. „Oh..“, sie scheint nicht weniger überrascht zu sein. „Hey… ich war nur eben…“, sie stammelt kurz. „… ich musste nur was zurückbringen“, erklärt sie schließlich und zeigt auf die Tür, hinter der unser Dreierzimmer verborgen ist. William nickt kurz geistesabwesend. Was ich davon halte, weiß ich jetzt noch nicht. Ich werde erst meinen Freund sehen müssen um ein Urteil darüber zu fällen. Sam eilt ohne ein weiteres Wort an uns vorbei und ich sehe ihr kurz nach. Sie ist recht schnell um eine Ecke verschwunden, von der ich mir ziemlich sicher bin das sie sie zu keinem ihrer üblichen Ziele bringen wird. Vermutlich wollte sie nur schnell aus unserem Blickfeld verschwinden. Diese Situation war auf mehreren Ebenen unangenehm. „Was hat sie ihm gebracht, was denkst du?“, frage ich mich. William hebt den Kopf und antwortet: „Den Verlobungsring vermutlich“.

Fynn sitzt mit einem Buch über Genetik auf seinem Bett, die Beine übereinander geschlagen. Er sieht nicht mal auf, als William und ich vorsichtig ins Zimmer eintreten. Ich räuspere mich kurz, um so seine Aufmerksamkeit für mich zu gewinnen. William wirft seine Tasche neben sein eigenes Bett und sieht mich ratlos an, nachdem Fynn noch immer nicht auf unser Eintreten reagiert hat. „Hey man…“, sage ich in möglichst lockerem Tonfall. „Wir… sind eben Sam begegnet…“, ich hoffe, dass Fynn nun von selbst zu sprechen beginnt, doch er blättert nur eine Seite weiter und schweigt ohne uns anzusehen. Ich bin es nicht gewohnt, dass Fynn oder irgendjemand sonst mich auf diese Weise ignoriert. Kurz muss ich an Darcy denken, die so oft von vielen ignoriert wird. Ich schiebe jeglichen Gedanken an sie jedoch beiseite. Ein monströser Gedanke kommt mir, für den Bruchteil einer Sekunde, in den Sinn. Ich könnte Fynn mit meiner Fähigkeit zwingen uns zu antworten, zu reagieren irgendwas. In Gedanken strecke ich bereits meine Hand nach seinem Arm, der mir am nächsten ist, aus. Ich spüre, wie sich die Muskeln in meinem Bein anspannen als ich einen Schritt auf Fynn zugehen will. Jetzt muss ich wirklich nur noch meine Hand um seinen Arm legen. Sobald ich seine Haut berühre kann ich ihn beeinflussen. Doch bevor ich diesem Gedanken, diesem verfluchten, gefährlichen Gedanken, nachgeben kann, schlägt Fynn das Buch zu und schwingt die Beine über die Bettkante. „Ich weiß“, antwortet er plötzlich und sieht uns an. Vor Erleichterung atme ich aus und bemerke dabei erst, dass ich die Luft angehalten habe. „Sie hat mir das Buch zurückgebracht“, beendet er seine Antwort. Dabei hält er das Buch, in dem er eben noch geblättert hat, hoch. Ich setzte mich neben William, auf dessen Bett. Wollte ich eben ernsthaft meine Fähigkeit gegen Fynn, einen meiner beiden besten Freunde, einsetzen um ihn zu manipulieren? Würde ich so weit gehen? Oder war das nichts weiter, als ein harmloser Gedanke, wie ihn auch Allen hatte, als er unbedingt das letzte Eis vom Eiswagen haben wollte, bevor ihm ein Kind zuvorgekommen war? Für mich steht fest: Ich kann mir selbst momentan nicht trauen. Ich brauche Hilfe, aber nicht von einem meiner Freunde. Sie stehen mir zu Nahe. Ich werde einen anderen aus der Versuchsreihe finden müssen, jemanden, der mit mir nicht emotional verbunden ist und der so einen neutralen Blick auf meine Situation hat. Ana wäre sicherlich eine gute Wahl, wenn sie bereits fertig studiert hätte und nicht erst am Anfang ihrer Karriere stünde. Die anderen Doktoren kommen ebenso wenig in Frage wie Dr. Wellington selbst. Ich habe nicht vor mich erschießen zu lassen. Ich seufze und grüble weiter darüber nach, wer mir in dieser Sache noch als Ansprechpartner nützlich sein könnte.

Sicherlich könnte ich versuchen mit etwas Hilfe meine Fähigkeit zu kontrollieren, aber dieses schwarze Loch, das innerlich nach mir greift, zu stopfen wird schwierig werden. Möglicherweise kann mir doch jemand wie Darcy helfen. Sie kennt sich sehr gut mit Psychologie aus und arbeitet mit ein paar der Doktoren im Institut zusammen, aber trotzdem ist sie eine von uns und wenn ich sie nett frage und sie darum bitte mein Geheimnis für sich zu behalten, könnte ich bestimmt dafür sorgen, dass sie im Gegenzug nicht mehr so oft ignoriert wird. Ich bastel mir in meinem Kopf einen Plan zusammen, dafür zu sorgen das Darcy mich einhört, natürlich ohne meine Fähigkeit dabei einzusetzen. In diesem Moment sitze ich neben meinen besten Freunden in unserem Zimmer und spüre doch, wie ich mich von ihnen entferne…

Sam und Evelyn

Zugegeben, ausgerechnet in Jonathan und William reinzulaufen war ganz und gar nicht mein Plan gewesen. Überrascht sehe ich die beiden an und sie mich ebenfalls. Um nicht in eine längere Unterhaltung verwickelt zu werden fasele ich eine kurze und dennoch plausible Erklärung für meine Anwesenheit hier. Danach nehme ich die Beine in die Hand und verlasse das Wohnheimgebäude so schnell wie möglich. Um den beiden am schnellsten aus dem Blickfeld zu entkommen, nehme ich eine Kurve und bin damit um eine Ecke gegangen, die nicht meinem üblichen Weg entspricht. Ich kann nur hoffen, dass es den Beiden nicht aufgefallen ist. Ich warte zur Sicherheit knappe fünf Minuten und gehe wieder zurück auf meinen eigentlichen Weg. Fynn hatte mir versprochen einen Weg zu finden, durch den wir beide zusammen bleiben könnten, doch fürs erste haben wir beschlossen so zu tun, als seien wir nicht mehr zusammen und würden gerade eine Trennung durchleben. Das Buch über Genetik, gehört eigentlich mir, aber wir haben eben ein Loch in die Mitte der Seiten geschnitten und nun kann man dort einen kleinen, schmalen Gegenstand drin verstecken. Die restlichen Papierschnipsel habe ich in meine Handtasche gestopft, damit weder William noch Jonathan sie zufällig im Papierkorb finden und Fynn darauf ansprechen können. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass wir unsere Freunde anlügen.

Manchmal zweifle ich an Fynns und meinem Vorhaben, aber als ich ein Video von Fynn geschickt bekommen habe, auf dem William sich wegteleportiert und ein weiterer Teilnehmer der Versuchsreihe urplötzlich in Flammen aufgeht nur um dann in der nächsten Sekunde unverletzt wieder da zu stehen, war ich nicht nur verblüfft, sondern auch davon überzeugt, dass es Wege geben wird, wie man mit solchen Fähigkeiten anderen Menschen helfen kann. Wissenschaftlich gesehen, ist es höchst interessant die Genetik eines Menschen so zu beeinflussen, dass er binnen kürzester Zeit eine so enorme Veränderung durchmacht und sogar eine Fähigkeit entwickeln kann. Es ist einfach unglaublich.

Als ich diesen Gedankengängen nachhänge komme ich an Evelyns Kunstwiese vorbei. Sie sitzt dort und bringt Farben auf ihre Leinwand. Sie und William haben sich wirklich getrennt. Neulich haben wir die ganze Nacht in meinem ehemaligen Wohnheimzimmer über ihre Trennung von Will gesprochen. Meine frühere Mitbewohnerin war an dem Tag nicht da und an besagtem Abend war sie auf einer der vielen Partys am Campus. Ich gehe über die Wiese und setze mich neben Eve, neugierige Studenten bleiben stehen und starren Eve über die Schulter. „Hey Eve“, begrüße ich sie und setzte mich im Schneidersitz hin. Eve sieht mich nicht einmal an, nicht weil sie beleidigt mit mir ist, sondern weil sie so in ihre Leinwand vertieft ist. Sie hat diesen festen Blick, den sie immer aufsetzt, wenn es in ihr brodelt. Sicher geht es um William. Ich sehe auf ihre Leinwand und das Bildnis, welches sich dort bildet während Eve die Ölfarben aufträgt. Es sind bunte Farben kreuz und quer über die gesamte Leinwand verteilt und in der Mitte ein dunkler Fleck, der aussieht als könnte er eine Art Schatten von etwas sein. Wenn ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es mehrere solcher Schattierungen auf der Leinwand gibt. Außerdem fällt mir auf, dass die bunten Farben aus verschiedenen Rot- und Orangetönen gewählt worden sind. Kurz bekomme ich ein beklemmendes Gefühl, als ich das Bild länger betrachte. „Sam…“, begrüßt mich Eve dann zurück, als ich wieder in der Realität ankomme und registriere, dass sie den Pinsel vom Stoff der Leinwand genommen hat und mich nun ansieht. Die Leute um uns herum fangen an, sich wieder ihrem stressigen Alltag zu widmen. Eve seufzt kurz und steckt ihren Pinsel dann in ihre Metalldose zurück. „Ich denke ich bin fertig für heute“, teilt sie mir mit und erhebt sich von ihrem Schemel. Ich nicke und stehe ebenfalls auf. Wollen wir in ein Cafe gehen?“, schlage ich ihr vor und sie nickt. Ich helfe ihr dabei ihre Sachen aufzuräumen und trage ihre Staffelei zusammen mit ihr in ihr Wohnheim zurück. Zuerst schweigen wir noch, aber kaum sitzen wir in unserem üblichen Lieblings Café, schon beginnt unsere Unterhaltung.

„Ich kann einfach immer noch nicht glauben, dass er nicht vorher mit mir wenigstens darüber gesprochen hat“, sagt Eve, während sie an ihrem Keks kaut. Sie ist frustriert, das kann ich ihr deutlich ansehen. Ich kann ihren Frust über William sogar verstehen, wären Fynn und ich an ihrer und Williams Stelle, hätte ich Fynn sehr wahrscheinlich auch den Laufpass gegeben.

„Er hat sicher nicht gedacht, dass es funktionieren würde“, versuche ich Will zu verteidigen, auch wenn ich seine Entscheidung, nichts zu ihr zu sagen, nicht billigen kann. Eve sieht mich erneut an. „Dann hätte er ja nicht teilnehmen brauchen“, wirft sie berechtigterweise ein. Ich nicke kurz, bis mir wieder einfällt, welche Vermutung Fynn damals hatte, weshalb William so versessen darauf war am Programm teilzunehmen. „Eve… ich denke das Ganze hatte eher damit zu tun, dass er seinem Vater wieder näher kommen wollte“, sage ich schließlich und sehe sie an. Natürlich weiß sie ganz genau, wie es um das Verhältnis zwischen Peter und William steht. Sie weiß es sogar besser als Fynn oder ich. Immerhin ist Eve im vergangenen Jahr mittendrin gewesen. Eve wirkt nachdenklich und rührt langsam mit dem Löffel in ihrem Getränk. Sie seufzt. „Okay… das kann ich ihm ja wohl kaum übel nehmen,“ sagt sie und spricht sofort weiter, „er hätte es mir nur vorher erzählen sollen. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander. Zumindest habe ich das geglaubt. Wann bin ich für ihn zu einer Person geworden der er nicht mehr vertrauen kann?“, fragend sieht sie mich an. Ich fühle mich schlecht dabei zu tun als wüsste ich, was in Williams Kopf abgeht. „Nun ja, das solltest du ihn vermutlich selbst fragen?“, schlage ich ihr vor. Ich weiß, dass Will ihr alles erklären könnte und auch würde, wenn sie ihm nur noch einmal die Chance dazu lässt.

Als wir bei dem Kellner zahlen, sehe ich aus dem Augenwinkel, dass Eve das Foto von William und sich noch in ihrer Brieftasche hat. Es gibt also noch Hoffnung für die Beiden, was mich ungemein erleichtert. „Wie wäre es, wenn du William noch heute anrufen würdest, zum Reden?“. Wir verlassen gemeinsam das Cafe und gehen die Straße entlang. Zu dieser Uhrzeit sind viele Menschen unterwegs und wir können teilweise nicht nebeneinander auf dem Gehsteig laufen. Eve sieht mich an. Sie scheint unsicher zu sein. „Was ist denn mit dir und Fynn?“, eine Gegenfrage mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte. Sie trifft mich so unvorbereitet, dass ich mich etwas in unserer Lüge verhasple: „Bei uns ist alles okay…“, als ich meinen Fehler bemerke bremse ich ab und versuche zu retten, was noch zu retten ist, „ich meine… wir werden heute auch noch miteinander reden. Genau genommen, sind wir verabredet und ich bin schon etwas spät dran“, was teilweise ja auch stimmt. Fynn und ich sind wirklich verabredet, nur nicht um zu reden, zumindest nicht hauptsächlich. Im ersten Moment wirkt Evelyn überrascht, aber dann wünscht sie mir viel Glück für das vermeintliche Gespräch und wir verabschieden uns, nachdem sie mir erzählt hat, dass sie William eine SMS geschrieben hatte, als ich meine Rechnung bezahlt habe.

Verbiegen von Regeln und Moral

In der Nacht mache ich mich noch einmal auf den Weg in das Forschungslabor. Lange nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass jeder dort gesehen hatte wie ich um 14 Uhr eben dieses verlassen hatte. Heute haben Sam und ich es endgültig beschlossen. Ich sagte ihr, wie viele nach dem Serum gestorben waren oder wie schlecht es um einige der bisher Überlebenden bestellt war. Sie hatte einige Tage zum Nachdenken gebraucht, nur um mir dann mitzuteilen, dass sie ihre Meinung nicht geändert hatte.

Also stehe ich jetzt hier, mit dem Buch über Genetik, welches sie mir am frühen Vormittag in mein Zimmer gebracht hatte. Ich umgreife den Verschluss meines Rucksackes, in welchem ich das Buch mit mir herumtrage. Plötzlich geht im zweiten Stock ein Licht an. Es muss eines der Labore sein, aber sicher nicht das in welches ich einzudringen vorhabe. Ich betrete das Gebäude mit einem dicken Kloß im Hals. Ich hatte mich bisher immer an alle Gesetze und Regeln gehalten. Sie haben schließlich alle ihren Sinn und ihre Berechtigung.

Kurz überlege ich alles wieder abzublasen, Sam anzurufen und ihr mitzuteilen, dass ich das nicht für sie tun kann, das es einfach nicht richtig ist, sie nicht ausgewählt worden ist und sich nun damit abfinden muss. Aber würde ich mich damit abfinden können? Tu ich es jetzt gerade oder tat ich es in den vergangenen drei Monaten?

Ich hatte die letzten Wochen damit verbracht mir eine Lösung einfallen zu lassen, währenddessen hatte ich jedoch bemerkt, dass Sam und ich mittlerweile auf verschiedenen Erden zu leben scheinen. Ich war kein normaler Mensch mehr, sie schon. Es fing bereits an uns auseinander zu bringen und keiner von uns beiden wollte das zulassen. Deswegen stehe ich hier und werde es für sie durchziehen, für uns. Dieses eine Mal werde ich das Gesetz etwas dehnen. Hatte ich nicht immerhin unterschrieben, dass ich an einem Experiment mit diesem Serum teilnehme? In diesem Zusammenhang würde Sam allerdings mein Versuchsobjekt sein. Bei diesem Gedanken wird mir übel und ich verziehe das Gesicht. Ich musste einen anderen Vergleich, oder in diesem Fall eine andere Ausrede, finden um dieses Vorhaben vor mir selbst zu gerechtfertigen. Während ich darüber nachdenke, laufe ich in die erste Etage.

Da die Aufzüge videoüberwacht sind, nehme ich die Treppen und lasse dort das Licht aus. Im dunklen Treppenhaus muss ich mich auf meine Schritte konzentrieren, um nicht zu stolpern. Es ist absolut still im Treppenhaus und ich habe das Gefühl, dass meine Atmung extrem laut ist. Ich gehe weiter, bemüht möglichst lautlos zu laufen, doch das hallen meiner Schritte scheint ohrenbetäubend zu sein. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht bis ich das Treppenhaus wieder verlassen habe und den dunklen Flur entlanglaufe bis zu dem Labor, in dem mein Zielobjekt sich aktuell befindet. Ich stehe direkt vor der Schiebetür zum Labor, als innen plötzlich das Licht angeht. Ich stehe in kurzer Schockstarre da und die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich so sehr, dass sie in einem unentwirrbaren Knoten zusammenfügen.

„Fynn? Was machst du so spät noch hier?“, fragt mich die Person vor mir. „Vor allem im stockdunklen?“, der Kopf der Gestalt vor mir neigt sich zur Seite. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an das plötzliche, grelle Licht der Neonröhren gewöhnt haben. Mein Hirn versucht bereits vorher auszumachen, wer mich da während meines Raubzuges erwischt hat. Die Stimme ist weiblich und die Gestalt vor mir einen Kopf kleiner als ich, die Frisur ist kurz und irgendwie stachelig, sofern ich das erkennen kann. Der Knoten in meinem Kopf lässt einen Faden locker. Erin, es ist Erin die mich erwischt hat. Logisch. Seit anfang an arbeitet sie direkt in dem Labor mit, in dem das Serum produziert wird. Sie kennt die genaue Zusammensetzung von jeder einzelnen Phiole. „Hey… Erin“, mein Hals ist wie die Wüste: total ausgetrocknet. Ich räuspere mich und versuche möglichst selbstbewusst zu klingen. Mist! Was soll ich ihr für eine Ausrede präsentieren?

„Ich hatte nur etwas vergessen und wollte es schnell für eine Vorlesung besorgen“, sage ich und hoffe, dass sie nicht bemerkt wie nervös ich in Wirklichkeit bin. Erins Kopf neigt sich noch etwas weiter zur Seite. Sie ist skeptisch, oder neugierig, so ganz durchschauen kann ich sie nicht. Also nestle ich an meinem Rucksack rum, bis ich den Reißverschluss erreicht habe um ihn aufzuziehen. Der einzige Gegenstand, der für eine Vorlesung an einer Uni wichtig sein könnte, also wichtig genug um Nachts noch schnell in ein Labor einzubrechen, ist das Genetikbuch. In diesem Moment bin ich froh, dass Sam so eindringlich darauf bestanden hat, dass wir es in diesem Buch transportieren. Als hätte sie geahnt, dass ich es als Tarnung brauchen würde.

„Genetik?“, Erin zieht eine Augenbraue hoch. „Sag mir wenn ich mich irre, aber du hast das doch gar nicht auf deinem Vorlesungsplan?“, bemerkt sie recht aufmerksam, während sie wieder mit ihrer eigentlichen Handlung, dem Reinigen der Laborinstrumente, fortfährt. „Ja, richtig…“, sage ich schnell. Der Knoten in meinem Kopf gibt weitere Fäden frei, die wie Gummischlangen in mir herumwabbeln. Im Ausreden finden war ich bisher nie gut und Erin ist ziemlich scharfsinnig, was es mir beinahe unmöglich macht eine Lüge wie die Wahrheit klingen zu lassen. „… Sam braucht es für ihre Vorlesung“, füge ich hinzu. „Ich hatte es mir ausgeliehen als ich darüber nachgedacht habe vielleicht Genetik meinem Studienplan hinzuzufügen“, beende ich schließlich diese fette Lüge. Jetzt habe ich auch noch Sams Namen hineingezogen. Ich könnte mich selbst ohrfeigen. „Verstehe“, sagt Erin in einem halben Singsang und spült dabei ein Reagenzglas mit der Hand ab. Etwas unsicher, was ich jetzt tun soll, stehe ich da. Der Schrank mit den Phiolen voller Serum nur wenige Meter neben mir. Ich kann es nicht riskieren jetzt den Schrank zu öffnen und eine der Phiolen auszuwählen. Immerhin will ich ja nicht das falsche erwischen. Es muss ein Serum sein, wodurch keiner von uns verstorben ist. „Und wirst du es tun?“, fragt Erin plötzlich. Sie sieht mich mit ihren hellblauen Augen an. Erneut stehe ich stocksteif da. Sie hat mich durchschaut, aber wie? Ich bemerke, wie sie erneut den Kopf schief legt und mich fragend ansieht. „Wie?“, versuche ich Zeit für eine weitere Ausrede zu schinden. „Naja… nimmst du den Genetikkurs in deinen Plan mit auf?“, ihre Stirn ist gerunzelt. Mir fällt ein Stein, oder besser gesagt ein Asteroid, vom Herzen. Sie hat mich also nicht durchschaut, noch nicht. „Achso!“, rutscht es mir etwas zu erleichtert heraus. „Nein. Eher nicht..“ antworte ich, wieder möglichst ruhig. Ich versuche lockerer zu werden, als ich mir innerlich vornehme, es heute doch nicht durchzuziehen. Wenn heute eine der Phiolen verschwinden sollte, wäre Erin die Zeugin dafür, dass ich nachts im dunklen durch das Labor geschlichen bin und dann würden Dr. Sasson und Dr. Augustine nicht lange brauchen um mich bei Dr. Wellington zu melden. Dieser wiederum würde ziemlich schnell auf die Verbindung zwischen Sam und mir kommen und wir würden mit der ganzen Aktion auffliegen. Es wäre ein absolutes Desaster.

Erin seufzt und wirft den Lappen beiseite. „Fynn… ich merke doch was los ist“, sagt sie dann und sieht mich mit ihrem wissenden Ausdruck in den Augen an. Ich stehe schweigend da. Sicherlich, innerlich raste ich aus vor Panik, dass sie diesmal ins Schwarze treffen könnte, aber vermutlich ist es schlauer ihr erst weiter zuzuhören um mich nicht doch noch selbst zu verraten, falls sie doch daneben liegt. Abwartend sehe ich sie an, bis sie weiterspricht: „Du verhältst dich schon länger so merkwürdig“, erklärt sie mir, „und das kann ich sogar verstehen. Bei allem was hier so mit uns und den Fähigkeiten los ist und denen die gestorben sind, dann deine Trennung von Sam…“, erneut seufzt sie, während sie anfängt ihre Putzmaterialien aufzuräumen. „Du hattest noch keine Gelegenheit mal in Ruhe mit jemandem zu sprechen… wegen Sam meine ich?“, erneut sieht sie mich mit einem durchdringenden Blick an. „Trennungen sind nie leicht… besonders nicht unter diesen verrückten Umständen, aber vielleicht kannst du dich ja einem der psychologischen Betreuer hier anvertrauen? Dieser Dr. Coulson scheint ganz nett zu sein“, gibt sie mir den Rat. Erst bin ich verblüfft, aber dann stelle ich fest, dass sie mir die perfekte Entschuldigung für mein Verhalten geliefert hat. Ich muss ihr nur recht geben, dann habe ich ja nicht so ganz gelogen, nicht wahr?

Ich sollte dringend meine moralischen Ansichten überdenken!

„Ja… stimmt, Erin“, ich nicke. „Das werde ich gleich morgen früh vor meiner ersten Vorlesung in Angriff nehmen“, sage ich, um endlich aus dieser Situation zu kommen. Hastig verabschiede ich mich und verlasse das Gebäude so schnell wie möglich. Ohne das Serum für Sam…

Nächtliche Begegnungen mit einem Zeitreisenden

Nachdem ich das Gebäude verlassen habe, schnalle ich mir meinen Rucksack wieder über die Schultern und laufe zum Campus zurück. Es ist stockfinster und kühl. Licht spenden nur alle paar Meter die hohen Straßenlaternen, die unheilvoll über mir aufragen. Ich grübele darüber nach, wie ich Sam beibringe, dass ich es heute nicht durchziehen konnte, während ich über die verlassenen Wege zurück zu meinem Wohnheim laufe. Weit und breit ist kein anderer Mensch zu sehen, die Wiese, auf der sich sonst Studenten sonnen, ist leer. Ich sehe mich nochmal nach dem Institut um und kann gerade noch sehen, wie Erin das Licht ausschaltet und das Fenster schließt.

Mist, hätte ich mich vielleicht doch noch in der Nähe rumdrücken sollen um es nochmal zu versuchen?

„Fynn“, höre ich Allen nach mir rufen. Er steht inmitten der Wiese. Habe ich ihn eben übersehen? Möglich wäre es bei diesen schlechten Lichtverhältnissen. „Allen“, antworte ich ihm verwirrt. Ich habe ihn ein paar Tage nicht mehr gesehen, offenbar hat er sich in dieser Zeit nicht rasiert, den Dreitagebart kann ich erkennen, als ich näher zu ihm gehe. „Was tust du hier?“, will ich von ihm wissen. Statt mir gleich zu antworten hält er mir etwas entgegen. „Hier“, er legt es mir in die Hand. Es ist eine Phiole. Ich begutachte die kleine schmale Glasphiole, die mit einer silbrigen Flüssigkeit gefüllt ist. Nun begreife ich, was er mir da gegeben hat. Mein Kopf schießt hoch und ich sehe ihn geschockt und sprachlos an. Es dauert ein paar Augenblicke, bis ich mich gesammelt habe. „Was soll das?!“, unnötigerweise halte ich ihm die Phiole unter die Nase und wedle damit herum. Erneut antwortet er nicht gleich, sondern sieht mich mit dem ernstesten Gesichtsausdruck an, den ich je auf seinem Gesicht gesehen habe.

„Keine Sorge, niemand wird erfahren wohin sie verschwunden ist Fynn“, will er mich beruhigen, während in meinem Kopf bereits ein Schreckensszenario nach dem anderen abläuft. Fragend lege ich meine Stirn in Falten: „ich verstehe nicht…. Woher weißt du…?“, doch er unterbricht mich, bevor ich die Frage vollenden kann. „Ich berichtige nur einen Fehler. Du musst Sam dieses Serum geben, das ist verdammt wichtig und das einzige durch das sie nicht gestorben ist“, erklärt er mir. Ich schnappe kurz nach Luft, um ihm Fragen stellen zu können. „Woher weißt du das?“, ich hoffe er hat eine plausible Antwort, doch dann fällt mir wieder ein, welche Fähigkeit er hat. „Du bist durch die Zeit gereist?“, hatten wir ihm nicht untersagt durch die Zeit zu reisen um Dinge zu verändern? Allen nickt knapp. „Wir werden sie brauchen… und dich“, sagt er. Hinter mir hustet jemand und ich drehe mich erschrocken nach dem Geräusch um. Ich kann gerade noch sehen, wie sich ein junges Mädchen mit blondem Haar hinter dem Baum versteckt. Sie hat gelauscht, wird mir klar. Der Größe nach zu urteilen kann sie nicht älter als 15 oder 16 Jahre alt sein. Was tut sie hier am College und das auch noch mitten in der Nacht? Ich drehe mich wieder zu Allen um, doch ich stehe alleine auf der Wiese. Von Allen ist weit und breit keine Spur. Ich sehe mich um, ob ich ihn auf einem der Wege laufen sehe, aber er ist nirgends zu finden. Er kann unmöglich so schnell, geräuschlos von der Wiese verschwunden und einen der langen Wege entlanggerannt sein! Erneut sehe ich auf die Phiole, die ich fest in meiner Faust verschlossen halte. Eines war ganz klar: Allen war durch die Zeit gereist um zu sehen, welches Serum für Sam ungefährlich war. Was bedeutete, dass ich das falsche ausgewählt und ihr ausgehändigt haben musste. Zumindest in seiner Vergangenheit. Was ich nicht verstehen kann ist, was er gemeint hat als er sagte er habe einen Fehler gemacht. Wie konnte er durch Sam diesen Fehler wieder geradebiegen? Ich stopfe die Faust mit der Phiole in meine Jeanshosentasche und eile zu dem Baum, hinter welchem das Mädchen Zuflucht gesucht hat. Als ich um den Baumstamm herumsehe, ist sie fort. Auch sie hätte ich bemerken müssen, wäre sie weggelaufen. Die Wege sind absolut leer und es ist so still, dass ich es hätte hören müssen, wenn jemand von mir fortläuft oder auf mich zukommt. Ich lasse meinen Blick kurz über den Boden schweifen, als mir etwas metallisch glänzendes neben einer der Baumwurzeln auffällt. Ich hebe es auf und begutachte den kleinen Gegenstand in meiner freien Hand. Es ist ein silberner Schlüsselanhänger mit dem griechischen Symbol für BETA und auf der anderen Seite ist der Name Zoey eingraviert. Konnte das dem Mädchen gehören? Hatte das Wort BETA an ihrer High School eine besondere Bedeutung? Ich schiebe den Anhänger in meine andere Hosentasche. Im Wohnheim werde ich das Internet befragen, ob es in der Nähe eine Schule gibt an dem solche Anhänger momentan im Trend sind.

Mit der Faust in der Tasche, laufe ich grübelnd weiter. Diese rätselhafte Begegnung mit Allen geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
 

Im Wohnheim sind alle Lichter gelöscht. Bei einzelnen Türen kann ich unter dem Türspalt sehen, dass gedämpftes Licht, vermutlich von Leselampen, hervorscheint. Ich gehe zu meinem Zimmer und betrete es leise. Sam muss vor einer Weile gegangen sein. Hoffentlich noch bevor William und Jonathan das Zimmer betreten haben. Beide sind noch auf und arbeiten an einer Hausarbeit für ihr Studium. William sieht von seinem Buch und seinen Notizen auf und begrüßt mich kurz mit einem „Hey“, während Jonathan auf seinem Bett sitzt und ein ziemlich dunkles Bildnis seiner Selbst zeichnet. Auf jeden Fall sieht der Typ auf seinem Papier ihm recht ähnlich. Ich mache gerade hinter mir die Zimmertür zu, als es auch schon klopft. Die Hand noch an der Klinke ziehe ich die Tür wieder auf und entdecke, heute bereits das zweite Mal, Allen. „Hey…“, ich bin nervös. Ich hoffe, dass er über die Phiole in meiner Tasche kein Wort vor den anderen verlieren wird. Statt zu antworten, stürmt er an mir vorbei auf William zu. „Okay also ich habe eben alles nochmal durchsucht“, erklärt er meinem besten Freund mit seiner üblichen Begeisterung, die er bis vor ein paar Minuten definitiv nicht hatte. Er hatte eher bedrückt, sogar sehr besorgt gewirkt. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf meine Uhr, nur um festzustellen, dass seit meiner Begegnung mit ihm nur fünf Minuten vergangen sind. Innerhalb dieser paar Minuten hat sich Allens Laune komplett verändert. Er muss ein besserer Schauspieler sein, als ich ihm bisher zugetraut habe. Ich schließe die Tür wieder, als William und er in ein angeregtes Gespräch über irgendwelche Winkel und Graphen verfallen. Jonathan sieht zu mir und rollt mit den Augen. „Das läuft schon seit einer Stunde so“, erklärt er mir. Eine Stunde? Ich nicke langsam und sehe wieder zu Allen. Er dreht sich kurz, während seiner Unterhaltung mit William, zu mir und reibt sich das Kinn. Sein rasiertes Kinn.

Keine Putzfrau

Es gibt Menschen, die in einer der beiden folgenden Welten leben: in Welt Nummer eins gibt es keine Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, keine Forschungsreihe für Supersoldaten und keine Studenten die sich für sowas verändern lassen würden, dann gibt es Welt Nummer zwei, in der all diese Dinge existieren. Welt Nummer eins ist die Welt der Anderen. Sie sind ahnungslos und in gewisser Weise auch sorgenlos. Ich meine klar, jeder hat so seine kleinen und großen alltäglichen Sorgen, aber ich meine die Art von Sorgen, bei denen du nicht weißt, was ab jetzt mit dir passieren wird und für was deine Fähigkeiten gut sein sollen.

Ich kann mich in fast jeden beliebigen Menschen formen. Je besser ich den Menschen kenne, dessen Gestalt und Stimme ich annehme, umso leichter geht es. Die Fähigkeit der Gestaltwandlerin habe ich nun seit etwas mehr als drei Monaten. Anfangs war es ganz witzig, eine Art Partytrick für Eingeweihte. Doch jetzt bin ich am zweifeln, ich zweifle an den Fähigkeiten, an meiner eigenen Gabe des logischen Nachdenkens und der Entscheidungsfindung. Habe ich richtig entschieden, als ich mich für dieses Projekt beworben habe? Beim Sturz des World Trade Centers habe ich beide Eltern verloren. Meine Mutter wurde entweder vom Rauch oder von herunterfallenden Trümmerteilen in den Tod gerissen, mein Vater starb noch am selben Tag auf dem Weg ins Krankenhaus. Er war später zur Arbeit gegangen, weil ich getrödelt habe. Dad war verdammt sauer auf mich, daran erinnere ich mich noch gut. Vielleicht wäre er noch heute am Leben, wenn ich nur noch etwas länger getrödelt hätte. Nur eine Minute hätte mein gesamtes Leben in eine komplett andere Bahn lenken können.

Nun stehe ich, Erin Tember, hier in einem Labor in meinem letzten Semester am College und reinige nachts um halb zwölf noch Reagenzgläser.

Fynn, ein netter Typ, den ich vor fast vier Semestern kennengelernt habe, ist bereits vor einer halben Stunde gegangen. Er ist momentan noch eigenbrötlerischer als sonst. Die Trennung macht ihm sicherlich zu schaffen. Ich selbst habe Sam nur zweimal gesehen, aber sie schien mir ein netter Mensch zu sein und die beiden schienen auch gut zueinander zu passen. Die beiden Male, in denen wir zusammen in einem Raum waren, haben sie sich gegenseitig ausgeglichen. Ihre Gegenwart war nicht unangenehm, im Gegensatz zu der von Nicole und Jonathan. Die beiden konnten streiten was das Zeug hält, aber gleich in der nächsten Sekunde hatte man wieder das Gefühl die beiden wollten sich gegenseitig auffressen. Ekelhaft.

Ich gehe nochmal zurück in den Nebenraum, in welchem ich bereits durchgeputzt hatte. Immerhin muss ich dafür sorgen, dass für den morgigen Tag wieder alles an Ort und Stelle ist. Natürlich bin ich nicht die Putzfrau vom Dienst, auch wenn das Momentan anders wirkt, putzen beruhigt mich. Besonders dann, wenn ich durch meine wirren Gedanken wieder einmal nicht einschlafen kann. Als ich das Licht im Nebenraum anschalte bemerke ich, die offene Vitrinentür. Mit gerunzelter Stirn gehe ich rüber, bevor ich auf Fynn getroffen bin hatte ich überprüft ob alle Schranktüren verschlossen waren. Da bin ich mir ganz sicher. „Hallo?“, frage ich in den Raum. Möglicherweise war ja noch jemand anderes hier. Nur um sicher zu gehen nehme ich die Gestalt eines Typens an, den ich häufiger mal im Fitnessstudio sehe und der groß und muskulös wie ein Schrank ist. Nur für den Fall, das sich ein Dieb hier herumtreiben sollte. Ich verhalte mich ruhig und lausche in die Stille. Es scheint niemand weiter hier zu sein. Warum war ich nicht gleich gemeinsam mit Fynn gegangen? Ich könnte mir selbst in den Hintern treten. Als ich an der offenen Tür stehe und überprüfe, ob noch alles an seinem entsprechendem Ort ist, fällt mir das Glaskästchen auf, in dem Ana Mitchel eine Eigenkreation des Serums aufbewahrte. Doch nun ist eben dieses Glaskästchen leer.

Mein Herz rutscht mir in die Hosentasche, als sich mir in Erinnerung ruft, dass es vor wenigen Minuten noch da gewesen war. Ich überlege was ich am besten unternehmen sollte. Ana anrufen? Oder Dr. Wellington? Die Polizei konnte ich nicht informieren, immerhin geht es hier ja um ein geheimes Programm, von dem nur die Regierung, Doktor Wellington und wir Probanden etwas wissen. Die Polizei würde eine ganze Menge Fragen stellen, die wir nicht würden beantworten können.

Schließlich entscheide ich mich dafür Dr. Wellington zu benachrichtigen und rufe ihn an. Wenige Zeit später stehen er und Dr. Augustine neben mir an der Vitrine. „Nach mir kann niemand hier im Raum gewesen sein“, beteuere ich zum widerholten Male.

Dr. Wellington legt mir beruhigend seine Hand auf die Schulter. „Wir werden den Schuldigen schon finden Erin, mach dir darüber keine Gedanken. Ich fange mit der Suche sofort morgen früh an, wenn alle wieder hier sind“, erklärt er mir freundlich. Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob seine Freundlichkeit ernst gemeint ist. Dr. Augustine macht sich nicht mal die Mühe freundlich zu wirken. Sie macht immer ein ernstes Gesicht und ich frage mich, was in ihrem Leben so furchtbar gewesen sein muss, das sie nicht ein einziges Mal lächeln kann. „Geh in dein Wohnheim Erin, wir klären alles weitere morgen“, mit diesen Worten schickt mich Wellington nach Hause. Als ich in meinem Wohnheimzimmer ankomme, fühle ich mich immer noch schlecht wegen des verschwundenen Serums. Ana hatte so viel Mühe hineingesteckt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie Darcy und mir mal erklärte, dass sie dieses Serum mit dem Ziel entwickeln würde, damit sämtliche Krankheiten, die auf Zellenbasis bestehen, heilen zu können. Es sollte praktisch ein Heilmittel für Gendefekte und Krebserkrankungen werden. Soweit ich es zumindest verstanden hatte.

Als ich die Tür aufschließen will, wird diese bereits von innen geöffnet. Ein Typ mit braungebrannter Haut und grünen Augen tritt heraus und grinst mich an. „Hi Erin“, sagt er und wirft nochmal einen Blick zurück ins Zimmer. Das war Damian, der stumpfsinnige Freund von meiner Mitbewohnerin. „Hey D“, sage ich, als ich die Tür hinter mir schließe.

Darcy sitzt mit zerzauselten Haaren auf ihrem Bett und grinst breit. Sie fängt an zu lachen, als sie sieht wie ich mit dem Kopf schüttele. „Wie lange bist du diesmal mit ihm zusammen?“, frage ich und kann mir meinen sarkastischen Ton dabei nicht verkneifen. Darcy zuckt mit den Schultern „Bis mir etwas Besseres über den Weg läuft“, antwortet sie mir und steht von ihrem Bett auf. Ich beobachte sie dabei, wie sie anfängt ihr Duschzeugs zusammen zu sammeln, kurz bevor sie durch die Zimmertür verschwindet bleibt sie stehen und sieht mich an: „Meine kleine Schwester hat wieder ein Carepaket geschickt“, sie zeigt auf eine kleine bunte Pappkiste auf ihrer Seite des Zimmers. „Sie hat wieder diese Nussplätzchen gebacken die du das letzte Mal so gerne mochtest. Kannst dich gerne bedienen“. Karrens Nusskekse sind wirklich der Wahnsinn. Für eine 6-jährige kann sie wirklich verdammt gut backen. Ich schnappe mir ein paar Kekse, als Darcy zum duschen in die Duschräume gegangen ist und versuche nicht mehr an das verschwundene Serum zu denken.

Unliebsame Überraschungen

Am nächsten Tag scheint die Sonne. Ich schiebe mir mein morgendliches Frühstück in den Toaster, welchen mir Laura zum Einzug in das Wohnheim geschenkt hat. Noch immer vermisse ich sie wahnsinnig.

Das sie eine der Toten des Programms ist, macht mich innerlich fertig. Auch wenn es bereits einige Zeit her ist. Laura war mir wichtig und ist es noch, auch wenn sie nicht mehr am Leben ist. Ich werfe einen Blick auf das Foto an meiner Pinnwand. Dort sind wir beide zusammen abgebildet, wie wir Grimassen ziehen. Ich erinnere mich an den Tag zurück. Es war ihr achtzehnter Geburtstag und wir haben im Garten ihrer Eltern gefeiert, zusammen mit ein paar Freunden aus ihrer Nachbarschaft. Die Sonne schien genauso warm wie heute. Laura liebte den Sonnenschein, also verbrachten wir unsere Freizeit häufig draußen.

Meine Poptarts springen aus dem Toaster und holen mich zurück in die Gegenwart. Ich werfe mir die Umhängetasche über die Schulter und schlüpfe in meine Turnschuhe. Dann schnappe ich mir die Poptarts und renne beinahe aus meinem Wohnheimzimmer zu meinem Fahrrad. Ich beiße einmal ab und schwinge mich anschließend kauend aufs Rad. Ich bin etwas spät dran, weil ich vergangene Nacht noch so lange bei Fynn, William und Jonathan war, um diese Hausarbeit fertig zu bekommen. Mit dem Poptart im Mund fahre ich quer über den Campus um die Zeit aufzuholen, die ich heute früh verschlafen habe. Ich schließe eilig das Rad vor dem Wellington-Institut an und gehe rein. In der Eingangshalle stehen bereits viele von uns herum. Hatte ich vergessen, dass heute eine Versammlung anberaumt gewesen ist? Ich checke meinen Terminplaner. Außer einer Routineuntersuchung bei Dr. Sasson und Augustine steht nichts weiter drin, abgesehen von einer Vorlesung am späten Nachmittag. Seltsam. Ich sehe mich nach einem bekannten Gesicht um. „Hey… Elaine“, rufe ich im Flüsterton zu ihr. Sie steht nur ein paar Meter von mir entfernt, bemerkt aber, dass ich sie ansprechen will. Sie dreht ihren Kopf zu mir und wendet sich dadurch ihrer Freundin Oonagh ab. Diese sieht mich ebenfalls neugierig an. Ich zwänge mich an Galen und Alaric vorbei, die eben gemeinsam mit Josephine die Eingangshalle betreten haben und angeregt miteinander diskutieren. Ich sehe mich nochmal nach William und Fynn um, kann sie aber nirgends entdecken. Also belasse ich es erstmal dabei und stelle mich zu Elaine und Oonagh. „Wisst ihr was hier los ist?“ frage ich sie gespannt. Elaine schüttelt den Kopf. „Es heißt letzte Nacht sei hier jemand eingebrochen um die Formel für das Serum zu stehlen“, antwortet mir eine ältere Studentin, die meine Frage wohl mitbekommen hatte. Ich drehe mich zu ihr und bekomme gerade noch mit, wie sie von einem anderen Studenten, ich meine mich zu erinnern, dass es sich um den gleichen Studenten handelt, der neulich erst von Dr. Wellington gelöscht werden musste, nachdem er sich selbst entzündet hatte, gerufen wurde. „Da ist Dr. Wellington“, höre ich Josephine Alaric und Nicole zuflüstern. Elaine und Oonagh sind inzwischen weitergelaufen und haben mich stehen lassen. Also schließe ich mich Josephine, Nicole und Alaric an. „Was ist denn hier los? Wurde wirklich etwas gestohlen?“, frage ich aufgeregt. Alaric wirft mir einen Blick zu und verzieht das Gesicht. Kurz bin ich verwirrt, bis mir auffällt, dass er nicht mich sondern meinen Poptart misstrauisch beäugt. Er überprüft, ob ich damit seine Jacke gestriffen habe, was zum Glück nicht der Fall war. Sicherlich hätte er mir dann wieder einen Vortrag gehalten, wie über meine Obsession mit den M&Ms, die ich immer dabei habe. Wobei mir einfällt, dass ich mir wieder ein paar Tüten kaufen gehen muss. Das werde ich wohl vor meiner Vorlesung nachher erledigen. Das Mikrofon gibt einen unangenehm hohen Ton von sich, als Dr. Augustine es einschaltet um anschließend Platz für Dr. Wellington zu machen. „Warum haben die ihre Schießhunde wieder hier?“, Alaric blickt grimmig zu dem bewaffneten Wachpersonal. Ich folge seinem Blick. Er hat recht, zuvor war mir nicht aufgefallen, dass sie an jedem Ausgang zu zweit postiert waren und mindestens ebenso grimmig wie Alaric dreinblickten. Ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Brust frei.

Als Dr. Wellington an das Mikro tritt schaue ich zu ihm rauf. Er trägt einen dunklen Anzug mit einer dunkelblauen Krawatte und steht auf der Galerie. Er sieht abgespannt und müde aus, hat aber nichts von seiner ernsten, strengen Wirkung verloren. „Letzte Nacht ist jemand unbekanntes in dieses Institut eingedrungen um etwas zu entwenden“, fängt er an. Seine Stimme schallt laut durch die Halle und lässt das Getuschel der Studenten sofort verstummen. Hinter uns quietscht die Eingangstür und einige drehen sich nach dem Geräusch um, das einen Zuspätkommenden Studenten ankündigt. Ich recke mich etwas nach oben aus und gehe auf die Zehenspitzen um zu erkennen, wer es ist. Fynn und William stehen mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen über diese unangekündigte Versammlung in die Menge. Dr. Wellington räuspert sich und zieht die Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. „Leider können wir nicht ausschließen, dass es sich bei dem Dieb um jemanden mit Zugang zu diesem Institut handelt.“ Dr. Wellington macht eine dramatische Pause, um das erschrockene Raunen der Menge wieder abflauen zu lassen. „Wir werden deswegen jeden einzeln befragen. Es sei denn der oder die Schuldige stellen sich innerhalb der nächsten halben Stunde und händigt uns das entwendete Serum wieder aus“. Also wurde wirklich etwas gestohlen! Ein Serum, welches bisher scheinbar nicht verwendet worden ist. Gab es noch Probanden, die keines verabreicht bekommen haben?

Ein paar Laboranten, darunter Ana Mitchell, verteilten kleine weiße Zettel an jeden. Als ich meinen in die Hand gedrückt bekomme werfe ich einen kurzen Blick darauf. Auf dem Zettel steht mein Name zusammen mit einer Nummer und der Aufforderung mich in dem Büro von Dr. Augustine zur Befragung zu melden. Ein unruhiges Flüstern geht durch die Reihen meiner Mitstudierenden. Aus irgendeinem Grund bin ich beunruhigt, obwohl ich nichts damit zu tun hatte. Ich sehe diese Verunsicherung in vielen Gesichtern. Palila zum Beispiel. Sie steht mit Brock und dessen Bruder Mitch zusammen und beäugt jeden misstrauisch. Also verdächtigt sie jeden, außer ihren beiden Freunden. Mitch wirkt als würde ihn das alles nichts angehen, wirkte allerdings irgendwie verärgert. Seit der Sache mit Hank schien das aber ein Dauerzustand bei ihm zu sein. Ich schätze er hat Dr. Wellington und den andere Doktoren noch nicht verziehen, wozu sie bereit gewesen wären. Ich sehe mich nochmal nach William und Fynn um, kann aber nur Fynn entdecken, der eine ziemlich blasse Färbung im Gesicht hat. Ich runzele die Stirn. War er eben auch schon so blass gewesen? Ich hatte nicht darauf geachtet, mache mich nun aber auf den Weg zu ihm. Womöglich wurde er auch einfach nur krank, schließlich würde er doch niemals etwas stehlen…?

„Hey… was ist denn mit dir passiert?“, frage ich ihn, als ich ihn erreichen kann. Sich durch die Menschenmenge zu schieben ist gar nicht so einfach gewesen. Ich reibe mir die Schulter, mit der ich auf dem Weg zu Fynn gegen jemanden gestoßen bin, dessen Namen ich nicht kenne. Fynn sieht mich erschrocken an. „Was mit mir passiert ist?“, wiederholt er hektisch. „Sie suchen danach Allen“, sagt er, als ob ich hätte genau wissen müssen, was los ist. Irgendetwas schien ihn nun zu ärgern. „Warum hast du es mir untergeschoben? Und wieso sind wir aufgeflogen?“ fragt er mich eilig, während er mich etwas vom Rest der Leute wegzieht. Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie Alaric Fynn einen misstrauischen Blick zuwirft, als er mitbekommt das er mich wegzerrt. In seinem Gesicht sehe ich Sorge aufblitzen und er scheint darüber nachzudenken mir zur Hilfe zu eilen, lässt es dann aber doch bleiben, als Nicole ihn anspricht und somit ablenkt. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was war nur los? Warum behauptet Fynn, ich hätte ihm etwas untergeschoben? Ich sehe ihn verständnislos an. „Was meinst du? Wovon redest du da?“ Ich entziehe mich seines Griffes um meinen Oberarm. „Weißt du das nicht mehr? Letzte Nacht??“, fährt er mich herausfordernd an. „Du hast das Serum gestohlen und mir gegeben“, hilft er mir auf die Sprünge, doch ich verstehe kein Wort. Letzte Nacht habe ich mit William gelernt und das einzige Mal, dass ich an diesem Abend sein Zimmer verlassen hatte war, als ich uns eine Jumbopizza bei Bob´s PizzaWorld geholt hatte. Welche ich bezahlt habe, ich hatte bisher noch nie etwas gestohlen. Ich bezahlte sogar jedes Mal den einen Dollar bei der Toilettenfrau im Kaufhaus, auch, wenn sie nicht fordernd an ihrem Stuhl saß. „Fynn… du musst dich irren… ich war das nicht, ich schwöre“, versuche ich ihn zu überzeugen. Ich kann mir nicht erklären, warum er der festen Überzeugung ist, dass ich der Schuldige war. Das ergab keinen Sinn. Wenn nicht gerade eine zukünftige Version meiner selbst extra durch die Zeit zurückgereist war, nur um Dr. Wellington zu ärgern, indem ich ein übriggebliebenes Serum bei Fynn versteckte, ergab das alles keinen Sinn.

„Allen Nicholas Bishop!“, ertönt es plötzlich über einen Lautsprecher. Fynn und ich zucken zusammen. „Ich muss jetzt zu Dr. Augustine“, sage ich mechanisch zu ihm. Hatte mein zukünftiges Ich wirklich etwas damit zu tun? Langsam laufe ich, in diesen Gedanken verheddert, die Treppe zu den Sprechzimmern hoch, um mich meiner Befragung zu unterziehen. Als ich gerade den verlassenen Flur zu Dr. Augustines Büro langlaufe, geht neben mir plötzlich die Tür zur Abstellkammer auf und jemand packt mich und zerrt mich mit sich hinein. „Hey!“, protestiere ich und werde mit einem scharfen „pscht!“ zum Schweigen gebracht. Die Tür wird geschlossen und das Licht wird angeknipst. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück und stoße mit dem Rücken gegen einen Wischmop, der hinter mir polternd zu Boden geht. „WAS ZUM TEUFEL?!“ entfährt es mir, als ich realisiere wen ich da vor mir stehen sehe.

Ich bin es selbst. Eine wenig ältere Version von mir. Ernster, irgendwie unheimlicher. Ich brauche ein paar Sekunden um mich zu sammeln. Ich mustere mich selbst, also die Version von mir, die mir hier gegenübersteht. Seine Klamotten, ich würde sie niemals tragen, oder scheinbar doch? Sie sind ganz anders als die Klamotten wie ich sie zurzeit trage. Der andere Allen hat etwas längeres Haar, einen Bart, der gar nicht mal schlecht aussieht und trägt einen schwarzen langen Mantel mit einem schwarzen Pullover und einer dunklen Jeans. Er hebt seinen Finger an seine Lippen und teilt mir dadurch mit leise zu sein. Stumm wie ein Fisch nicke ich nur und sehe zu wie er an meiner Stelle die Abstellkammer verlässt und zu Dr. Augustine ins Büro läuft um statt mir zu der Befragung zu gehen.

Ich hatte also tatsächlich das Serum gestohlen und es Fynn ausgehändigt. Was hatte ich mir dabei nur gedacht?



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Kommentare zu dieser Fanfic (24)
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Von:  Timin
2020-09-20T17:33:02+00:00 20.09.2020 19:33
Ist been 84 years….
Cooles neues Chapter! Musste mich erst wieder etwas einlesen weil solange her war~
Uuuuuh er bricht die wichtigsten Regeln beim Zeitreisen!
Triff nie dich selbst! Sprich nie mit dir sel…okay er hat nicht wirrklich mit sich selbst geredet noch nicht XD Armer Vergangenheits Allen muss jetzt mit Schlechtem Gewissen für immer in einer Abstellkammer leben
Hoffe er hängt es Darcy an Bitte hängen es Darcy an >:D Aaaaber was wenn sie Darcys Zimmer durchsuchen und dann denken es war Erin!!? Sie war doch auch da sogar!? Oh no….. (0Δ0;)


Von:  Timin
2019-10-18T18:43:05+00:00 18.10.2019 20:43
ASDFGHJKLö! Das Kapitel ist über ERIN!!! *-* *high pitched fansreaming* How dare you Dieb! Deinetwegen fühlt sie sich jetzt schlecht! *enemy spotted - revenge will be served!* Wait WHAT! Erin und Darcy waren Best-Friend-Zimmergenossen?!! .............*heavy breathing* Hörst du das? Ja? Das ist meine Welt die gerade einstürzt! Oder meine sterbende Seele. Eins von beidem. Und warum sieht Erin Darcy gleich im Bett sitzen? Wo hat die ihr Schlafzimmer direkt im Flur stehen? XP Imagine, die beiden waren Best Buddys und jetzt sind sie Feinde das Ist schon dramatisch! Sie sind doch Feinde? Wenn Erin auf Darcys Seite is stirbt etwas in meinem Herzen XP
Antwort von:  Yomiuri
18.10.2019 20:46
abwarten :-)
Von:  -Felicita-
2019-10-16T22:07:24+00:00 17.10.2019 00:07
Ich finde es interessant die Situation aus Erins Sicht zu sehen, man erfährt einiges über ihren Charakter. Ihre Fähigkeit ist irgendwie wirrklich zu beneiden in so einer Situation XD Ich bin gespannt wen Dr. Wellington und Dr. Augustine verdächtigen werden..>-<"
Von:  -Felicita-
2019-09-22T00:20:05+00:00 22.09.2019 02:20
Ah der Zukunfts Allen kommt vor :DDD Die Überschrift verrät das ein bisschen zu früh, vielleicht wäre es spannender, wenn der Leser das erst herausfindet wenn Fynn merkt, das der andere Allen ein rasiertes Kinn hat? Das du Zoey mit eingebaut hast finde ich großartig! Ein kleiner Insider für alle die aus dem RPG sind *-* Es passt zu ihr, das sie im falschen Moment husten muss oder Schluckauf bekommt und das sie natürlich etwas verliert XD
Von:  -Felicita-
2019-09-21T23:16:43+00:00 22.09.2019 01:16
Ich finde das Kapitel ist echt gut geworden :DD Spannend geschrieben sodass es den Leser sofort in die Handlung hineinzieht. Außerdem gefällt es mir das man hier eine "andere Seite" von Fynn kennen lernt und es ist immer interessant wenn ein neuer Charakter vor kommt :DD
Antwort von:  Yomiuri
22.09.2019 03:13
danke^^ jup, eins zu eins kann ich die charaktere ja noch nicht in diese story übernehmen, sie verändern sich charakterlich ja bis zum rpg-beginn :-)
Von:  Timin
2019-09-19T19:20:38+00:00 19.09.2019 21:20
Okay wenn ICH allein mitten in der Nacht rumwandere und ich höre auch nur IRGENDEINE Person in meiner Nähe meinen Namen sagen - im DUNKELN! - würde ich anfangen zu laufen....XP

RPG overlapping?! Zoey und Amber?! Zeitreisen confirmed! XP Waaaaaaarte wir haben Schlüsselanhänger gekriegt?! Ey wo ist meiner! Ich will auch einen modischen Schlüsselanhänger mit meinem Namen drauf!

Jonathan u are creeping me out....
Antwort von:  Yomiuri
19.09.2019 21:27
Nur Zoey, ohne Amber, ABER eine Zoey die ihre Fähigkeit bereits fest unter Kontrolle hat. Ich fands ganz witzig^^
Von:  Timin
2019-09-15T14:31:33+00:00 15.09.2019 16:31
Oook anfangs wusste ich nicht wer da grade erzählt, aber als Sam vorkam aaaah es ist der Vampir XP

(╯✧∇✧)╯ asdfgh ERIN! Wenn du an sie denkst hast du da eine konkrete Schauspielerin im Kopf? just asking XP weeeil omfg okay Ich sag jetzt warum ich das mit den Alphas so hype, seit du angefangen hast damit hab ich so ein Alternate-Universe im Kopf wo beide Alpha und Beta okay sind und leben und Dr.Wlls nicht böse ist XP und die Alphas quasie die Mentor/Ausbilder der Betas werden \(●⁰౪⁰●\)

Haha hab dasselbe gedacht wie Fynn das Erin alles weiß xP

Einziger -Punkt das Chapter ist zu kurz (ノT_T)ノ ^┻━┻
Antwort von:  Yomiuri
16.09.2019 15:15
Ja, ich muss erstmal wieder reinkommen, hab ja jetzt knapp 3 Monate nicht mehr dran gearbeitet und der Anfang vom Kapitel hat mir selbst noch nicht so 100%ig gefallen, aber ich wollte unbedingt endlich hochladen^^°
außerdem hab ich vor diese ganzen Kapitel nochmal ausführlicher für mich aufzuschreiben, also sollen sie quasi wenn alles fertig geschrieben ist mindestens doppelt so lang werden, aber erstmal will ich sozusagen die "Kurzfassung" mit nur den wichtigsten Ereignissen schreiben.

Ich hab für jeden Alpha (also auch für Erin) Schauspieler, die den Charakteren ähnlich sehen aber nicht 1:1 äußerlich übereinstimmen. Bei Erin wäre das zum Beispiel Ruby Rose ;-)
Haha freut mich, dass dich diese Vorgeschichte so interessiert :-)

Ja, Erin wächst mir irgendwie richtig ans Herz^^ ich denke irgendwann demnächst wird sie ein eigenes Kapitel bekommen und evtl zu einem der Hauptcharaktere der Alpha-Geschichte befördert, aber um das konkret zu sagen muss ich erstmal sehen, wie gut sie sich in die Story verflechten lässt.

Das Kapitel ist aber in etwa so lang, wie die anderen auch^^°
Antwort von:  Timin
19.09.2019 21:28
Will aber auch die lange Fassung lesen (╯°□°)╯︵ ┻━┻

Uuuuy Ich hätte so eine coole Alpha Mentorin!!! Yosh Main Character :DD
Ich find es interessant wie das Alpha Projekt verlaufen is~ BG Infos XP Macht die Alphas im RPG auch sympathisch weil man verstehen kann wie warum sie was sagen/handeln~~~Waaait wenn Allen und Zoey eh Zeitreisende sind....(Alternate Universe here we cooome XP)

Mir ists nur kurz vorgekommen weils so viel Spaß zum Lesen macht ~~~XP
Von:  Timin
2019-07-15T20:35:45+00:00 15.07.2019 22:35
...ist es möglich...das Reed sich selbst gewandelt hat?! ━(◯Δ◯∥)━ンdundunduuuuuuun
<- ist...ist das Mitleid? Neeeein das kann nicht sein oder doch?!
Gruppenstalking! Dass sind echte Bros! Niemand sollte je gezwungen sein die Ex alleine zu stalken XP
Warum habe ich das Gefühl das es KEINE so gute Idee ist sich DARCY anzuvertrauen?!?!?!?!?
Reed hat diese Fähigkeit deinen Denkprozessor gekillt?! DIE FRAU ISt n PSYCHO!!!

Lieblingszitat: "bringt Farbe auf ihre Leinwand"
Ich werde mich jetzt auch mit ner Leinwand in die Gegend stellen
Und wenn wer fragt was ich male sage ich "Ich male nicht. Ich bringe Farbe an die Leinwand!" XP

Aber was ist mit Erin? Würd voll gern mehr von ihr lesen. Und gibts auch Alphas mit Eliots oder Rubys Fähigkeit?

Fehlerdetektor: Am Ende von Kapitel 9 : dafür zu sorgen das Darcy mich einhört -> anhört
Antwort von:  Yomiuri
21.07.2019 12:44
pssst Timin! Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, warte einfach mal ab, was noch alles mit Jonathan passiert bis er zu Reed wird^^

nach und nach werden noch mehrere Alphas auftauchen, vielleicht nicht jeder mit den Fähigkeiten aus dem RPG, aber schon noch mehr als jetzt gerade^^

Uuuuuhhhh danke für den gefundenen Fehler! Manchmal schreibe ich einfach zu schnell und dann flutscht mir sowas wortwörtlich durch die Finger^^
Antwort von:  Timin
21.07.2019 20:15
Wow 눈_눈 Arbeitest du für Disney? XP Aus dir Infos rauszukriegen ist so wie wenn man versucht Infos über die Handlung von Frozen 2 rausfinden zu wollen...hinterher is man NULL schlauer (⇀‸↼) Kommt Erin nochmal vor? Gibts Alphas wie Eliot und Ruby? ...nach und nach...vielleicht... (┛ಠДಠ)┛彡┻━┻ Why Adminheit, WHY, do you play with my feelings?!!

Lässt du jemand Korrekturen lesen bevor du veröffentlichst?
Von:  Timin
2019-06-18T18:34:44+00:00 18.06.2019 20:34
*zieht notziblock raus* Darcy hat keine Freunde!!! Das kann ich gegen sie nutzen muahahahaha! ( •̀ ᗜ •́ )
Moooment!Mal! Darcy fragt wo is Hank, minutenspäter hat Hank einen Anfall! Zufall?!! Press X to doubt! X X X X X X!!!!
Uuuuuuui mein Alpha äquivalent Erin!!! Wanna know more! Kommt sie noch vor? Im RPG?
"würde er ihm auch das lange Haar zurückhalten" ...is this still Reed we are talking about?!!Σ(-᷅_-᷄๑)

Sie glauben nich das Erneuerbareenergien reichen werden? Unsere Lösung heißt Hank! Der Atomenergieman! Hank produziert vollkommen umweltfreundliche Atomenergie. Es entsteht KEIN Atommüll. Gehen sie jetzt wählen. Wählen sie HANK! #keinatommüll #erneuerbareenergienreichennicht #HANK
Allen könnte alle Probleme lösen...aber neeeeein....

„Lass sie mich finden und ich bringe sie einfach dazu, dir zu verzeihen“ ...(ಠ-ಠ) Lauf Eve...lauf....
Von:  FrostyFox
2019-05-20T23:07:38+00:00 21.05.2019 01:07
lol und ich dachte erst mit mitchell ist unsere dr.ane mitchell gemeint?
dachte erst so
"wow! warte! was? mitchell...unsere dr.ane mitchell ist n alpha?
^^°


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