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Die Farbe Grau

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Disclaimer: alles nicht meins, bis auf die Ideen zu dieser Geschichte.

Nun beginnt die Fluffzeit. Und natürlich ein bisschen Drama. Komplett anzeigen

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Die Ruhe nach dem Sturm

Als wäre ein Vertrag, der ihr Zusammenarbeiten und Zusammenleben regelte, nicht genug gewesen, hatte sich bei Bezug ihrer Zimmer herausgestellt, dass der Ire ihnen allen Kleidung mitgebracht hatte. Ihre eigene Kleidung um genau zu sein, die er aus dem Koneko geholt hatte und die sich nun säuberlich aufgehängt in den entsprechenden Kleiderschränken befand, wie Schuldig es Aya mit Spott und Hohn verraten hatte.

Alleine der Gedanke daran, dass der Ire in ihrem Haus war, in ihren Zimmern und zielgerichtet das gepackt hatte, was für sie von Belang und Bedeutung war, dass er ihre Kleidung berührt hatte, hatte bei Aya für eine Gänsehaut gesorgt. Ganz zu schweigen von dem Rest seines Teams.
 

Jeder von ihnen hatte sein eigenes Zimmer erhalten und doch war Omi samt Bettzeug zu ihm gekommen und hatte mit gesenktem Blick in seinem Türrahmen gestanden. Die gemurmelte Frage war beinahe zu leise gewesen, als dass Aya sie verstanden hatte, aber eben nur beinahe und so hatte er ihren Jüngsten hineingewunken und ihm den Platz im Bett, der am Weitesten von der Tür entfernt war, angeboten.

Mit immer noch gesenktem Blick hatte Omi sich in das Bett gelegt und Aya hatte sich zu ihm gesetzt und ihm solange versichernd über die Schulter gestrichen, bis das Zittern aufgehört hatte. Erst dann war er noch einmal nach unten gegangen, um Omi eine Flasche Wasser zu holen, die dieser nachts immer brauchte, die er sich aber nicht traute zu holen.
 

Mit jedem Schritt, den Aya in Richtung Küche tat, wurde ihm mehr und mehr bewusst, dass er diese Angst nicht verspürte. Unwohlsein, ja. Vorsicht, ja. Aber er hatte keine Angst vor Schwarz und er fragte sich, ob er das seinem unfreiwilligen Aufenthalt zu verdanken hatte, der ihm auch die Menschen hinter den Monstren gezeigt hatte. Stirnrunzeln versuchte sich Aya an den Moment zu erinnern, an dem Schuldig zu dem Monster geworden war, was er von ihm erwartet hatte, doch das Wissen darum glitt ihm wie immer aus den Fingern. Er hatte noch nicht einmal wirklich das Gefühl, dass es knapp außerhalb seiner Reichweite lag, sondern, dass es gar nicht so wichtig war, dass er sich nicht daran erinnern konnte, was nach seinen Worten passiert war, die der Telepath hatte hören wollen.
 

Aya wusste ebenso wenig, woher die Gewissheit stammte, dass Schuldig sich nicht an seiner Schwester vergriffen hätte. Eine Gewissheit, die ihm geradezu ins Hirn gepflanzt worden war. Kopfschüttelnd vertrieb er diese Gedanken und fand sich in dem nun aufgeräumten Raum, mit gedämpften Licht beleuchteten Raum wieder. Alleine war er jedoch nicht.

Crawford stand unweit von ihm an der Spüle und starrte blind in die Dunkelheit hinaus. Aya hielt inne. Sicherlich wusste das Orakel, dass er hier war und hielt es nicht für notwendig, sich zu ihm umzudrehen. Sicherlich hatte er Schotte sein Vorhaben bereits vorhergesehen und entschied sich dafür, ihn zu ignorieren. Einen Augenblick lang überlagerte die Erinnerung an die kleine, alte Küche in dem Apartment den großzügig geschnittenen Raum und warf Aya zurück in ihr erstes, verhältnismäßig friedliches Gespräch. Die zweite Erinnerung führte ihn zu Crawfords Versuch, Wasser zu trinken und daran mit einem Würgen zu scheitern.
 

„Ist es nicht ein bisschen zu spät für Kaffee?“, fragte er eingedenk dessen in die Stille des Raumes. Crawford zuckte wie verbrannt zusammen und drehte sich ruckartig zu ihm herum.
 

Nichts hatte das Orakel vorausgesehen, wurde Aya bewusst. Gar nichts. Wenn es doch auch schon in der Vergangenheit so einfach gewesen wäre, ihn zu überraschen, seufzte er innerlich und trat mit einem knappen Nicken näher, hinein in den Radius des stummen Mannes, der jede seiner Bewegungen genauestens analysierte, als wäre er…Lasgo.

Da war er wohl nicht der Einzige gewesen, der sich in Erinnerungen verloren hatte.
 

„Nimm deine Wasserflasche und geh“, gab Crawford zu erkennen, dass er sehr wohl einiges vorhergesehen hatte und drehte sich unwirsch weg, beinahe schon trotzig, auch wenn Aya dieses Attribut niemals laut in den Mund nehmen würde. Trotzend, ja. Seiner Angst und seinen schlechten Erinnerungen trotzend.

Aya dämpfte seine aufkommende Wut über den abfertigenden Befehl und atmete tief aus. Er rief sich zur Ruhe und zu eben jener Gelassenheit, mit der er größtenteils ihre gemeinsame Zeit in Lasgos kleiner Wohnung überstanden hatte.

„Warum glaubst du, mir Befehle erteilen zu können?“, fragte er so neutral, als würde er über das Wetter sprechen und kam nicht umhin, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, wie zielgerichtet und schnell er Crawford noch wütender machte, als es das Orakel ohnehin schon war. Langsam kam er zu dem Tisch und ließ sich unweit von Crawford nieder. Ernst erwiderte er den Blick des Mannes, der nun alles dafür tat, seine eigenen Emotionen wieder unter die Maske der eisernen Kontrolle zu zwingen, die ihm zusehends entglitt.

Crawford öffnete die Lippen und verschloss sie nach ein paar Sekunden wieder, ohne ihn mit seinem üblichen, zynischen Spott überzogen zu haben. Aya beschloss, das als Fortschritt zu verbuchen und gönnte seinem Rücken die Entspannung einer Lehne.
 

„Hast du das alles vorhergesehen?“, fragte er und spöttisch schnaubte Crawford.

„Was alles?“, echote er und Aya nickte.

„Dass wir zu euch kommen und hier bleiben werden. Dass ihr Kritiker zugeordnet werdet.“

„Ja.“

Aya runzelte die Stirn und maß den anderen Mann kritisch. „Wenn du es vorhergesehen hast, warum hast du es dann nicht verhindert?“, fragte er misstrauisch. Er konnte sich beileibe nicht vorstellen, dass Crawford mit dieser Lösung einverstanden war. Ebenso wenig wie er sich vorstellen konnte, dass das Orakel wirklich dazu bereit war, mit ihnen zusammen zu arbeiten.

„Manche Dinge sind unaufhaltsam.“

„Du hättest nein sagen können.“

„Hätte ich?“

„Hättest du nicht?“
 

Crawford wandte den Blick ab und starrte an ihm vorbei aus dem Fenster in die Dunkelheit hinein, die einen hell leuchtenden Vollmond offenbarte. So etwas wie Ruhe huschte über sein angespanntes, angeschlagenes Gesicht voller Erschöpfung. Wobei Ruhe nicht ganz das richtige Wort dafür war. Schicksalsergebene Gelassenheit und ein Loslassen, das Aya sich fragen ließ, was genau Crawford gerade losgelassen hatte.

„Nein“, sagte er weniger zu Aya denn eher zu der unbestimmten Dunkelheit außerhalb der Küche, die immer noch nach dem opulenten und höchst fragwürdigen Essen roch.

„Und was jetzt?“

„Plane ich zu schlafen, insofern ich nicht von neugierigen Fragen abgehalten werde.“

Aya schnaubte. „Danach?“

„Gibt es Frühstück.“

Schneller als ihm lieb war, wurde Aya klar, dass Crawford ihm keine Antwort auf seine Fragen geben würde. „Wirst du dich damit arrangieren, unter Kritikers Kontrolle zu stehen und mit Weiß zusammen zu arbeiten?“

„Solange es mir befohlen wird.“

Aya lächelte freudlos. Keine Sekunde länger, stand zwischen den Zeilen. Dennoch fiel es ihm schwer, das Crawford zu glauben.
 

„Meine Schwester…“, lenkte er ihr Gespräch auf ein anderes Thema, das seine Gedanken öfter beherrschte, als ihm lieb war und Crawford rollte mit den Augen.

„Nicht mehr mein Problem, Fujmiya“, unterbrach er ihn nahtlos, doch Aya schüttelte nur den Kopf.

„Du hättest das nicht tun müssen.“

„Was?“

„Die bessere Versorgung. Die Datentabellen. Alles.“ Die Geste seiner Hand umspannte das, was Crawford für Aya im Ganzen getan hatte.

„Und jetzt?“

„Ich bin dir dankbar dafür“, erwiderte Aya ehrlich. „In all dem Chaos, das du mit deinem Handeln verbreitet hast, in all dem, was du mir angetan hast, nur um deine Gabe zu stabilisieren, war das das einzig Positive, egal, wie arrogant und herablassend du es mir verkaufen möchtest. Du hast ihr eine exzellente Versorgung zukommen lassen und das macht mich dankbar.“
 

Dass seine Worte den Schwarz überraschten, war unübersehbar. Dass Crawford nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, ebenso. Reglos wurde er bis auf die Grundmauern seines Selbst seziert und auseinandergenommen und mit jedem Mal fiel es Aya leichter, dieser Musterung standzuhalten und ihr seine eigene Ruhe entgegen zu setzen. Schlussendlich gewann eben diese, als Crawford wieder nach draußen sah.

„Kritiker kommt mittlerweile wieder für ihre Versorgung auf, belässt sie aber da, wo sie gerade ist. Aus…offensichtlichen Gründen.“

Die hellen Augen kehrten abrupt zu Aya zurück, als hätte er Crawford persönlich beleidigt. „Deine Schwester interessiert mich nicht, Fujimiya. Dieses komatöse Mädchen könnte mich nicht weniger interessieren, es sei denn, ich benötige sie als Würgehalsband für dich.“

Aya maß Crawford lange und ausgiebig, dann zog ein Lächeln seine Lippen nach oben. „Also ging es nie um sie. Auch in dem Moment nicht, in dem du ihr exzellente, medizinische Versorgung hast zukommen lassen. Um wen dann? Um mich? Hast du das für mich getan?“, fragte er schließlich und sah, wie sich diese teilweise so furchteinflößenden Augen weiteten.

„Wieso sollte ich…“, knurrte Crawford erbost, doch Aya ließ ihn seinen Satz nicht beenden.

„Du hast keinen anderen Grund. Du entführst meine Schwester und mich, damit ich deine Gabe stabilisiere und machst mir gleichzeitig das zum Geschenk.“
 

Schnaubend schüttelte Crawford den Kopf und kehrte zu seinem imaginären Fixpunkt nach draußen zurück, gab Aya somit Zeit, sein Profil ausgiebig zu betrachten. Er beschloss, das Thema nicht weiter zu verfolgen, sondern auf etwas Unverfänglicheres, wenngleich nicht weniger Wichtigeres zu wechseln.

„Eingedenk des strikten Baderitus deines Teams… gibt es bereits einen Plan um morgendliches Blutvergießen zu verhindern?“, fragte er nicht ohne ein eigenes, selbstironisches Lächeln. Der Blick, den er dafür erhielt, war nicht mehr als ein nachsichtiges Lächeln, das man einem Kleinkind schenkte, wenn es eine wirklich dumme Frage gestellt hatte. Angesichts der Tatsache, dass Aya selbst Opfer dieses morgendlichen Krieges geworden war, hielt er die Frage für nicht ganz so dumm.
 

„Es gibt in jedem Trakt ein Bad, das bedeutet, dass sich Jei, Schuldig und Nagi ein Bad teilen werden, du und dein Team das andere. Meine Mutter, ihr Assistent und ich haben eigene.“

„Der feine Herr“, schmunzelte Aya und traf auf einen mehr als hasserfüllten Blick, der beinahe augenblicklich alle seine Instinkte Alarm schlagen ließ. Wütend ballte sich die auf dem Tisch liegende Hand des Schwarz zur Faust.

„Ich habe für ein ganzes Leben lang genug an mich mit ihren Blicken ausziehenden Menschenhändlern und weißen Auftragsmördern erhalten, Fujimiya, meinst du nicht auch? Ich habe kein Bedürfnis…“ Crawford unterbrach sich selbst und schluckte den Rest des Satzes eisern hinunter. Beinahe schon konnte Aya das Knirschen seiner Kieferknochen hören. Es sollte ihn nicht überraschen, doch das tat es genau so, wie ihn die Worte an sich überraschten, die Crawfords Mund verließen. Aya hätte nicht gedacht, dass das Orakel bereit war, jetzt noch über das, was geschehen war, zu sprechen.
 

Er wusste auch nicht so genau, warum er gerade jetzt den Drang verspürte, Crawford auf seine Worte zu antworten und ihm Mut zu machen. Er wusste, dass es dumm war und dass er es um Omis Willen nicht tun sollte, dennoch war da immer noch das Bild eben des Mannes, der beinahe darum gefleht hatte, die Fesseln los zu werden, weil er sie nicht mehr ertrug. „Du bist stärker als besagter Menschenhändler.“

Unglauben traf auf seine Ruhe. „Was wird das denn jetzt, Abyssinian? Eine Motivationsansprache?“
 

Der Spott, den Crawford über ihm ausschüttete konnte ebenso wenig wie sein Codename darüber hinwegtäuschen, dass er einen Nerv bei dem Orakel getroffen hatte. Wenn er die Wut in den Augen des Schotten richtig interpretierte, dann war der Nerv ziemlich groß.

„Nein, das war es nicht.“

„Gut, ich komme auch ganz gut alleine damit zurecht.“

Das bezweifelte Aya und auch hier ließ er sich von seinem Instinkt leiten. Langsam erhob er sich und ging zum Waschbecken. Schweigend und ebenso ruhig füllte er eines der Wassergläser zur Hälfte und kam damit wieder an den Tisch zurück und stellte es in die Nähe seines Gegenübers, der erst das Glas, dann ihn musterte, als hätte er ihm einen Korb voller Giftschlangen vorgesetzt.

Betont langsam ließ sich Aya wieder auf seinen Stuhl zurückfallen.

„Kommst du?“, hinterfragte er mit einem pointierten Blick auf das Glas die Worte Crawfords und wurde mit eisigem Schweigen belohnt. Natürlich war die Antwort nein. Für Minuten war sie es. Crawford starrte das Glas an, als wäre es sein persönlicher Feind. Keine Sekunde lang wich seine Aufmerksamkeit von der durchsichtigen Flüssigkeit.
 

Langsam streckte er seine Hand aus und griff nach, hielt sie nachdenklich vor sein Gesicht, als könne er darin etwas erkennen, was Aya verborgen blieb. Erst nach und nach verzogen sich die Lippen zu einem Lächeln, das Aya das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der scharfe Verstand drang mühelos durch die Müdigkeit und spießte ihn auf mit seiner raubtierartigen Intensität.

„Fünfmal“, stellte Crawford in den stillen Raum zwischen sie beide und Aya hob fragend die Augenbrauen.

„Von den Malen, die er sich mir aufgezwungen hat, hat er mich fünfmal zum Orgasmus gebracht.“

Aya zuckte so brachial zusammen, dass er beinahe einen Satz nach hinten machte. Von jetzt auf gleich beschleunigte sich sein Puls und pendelte sich bei einem unsicheren Rasen ein. Er war sich zu hundert Prozent sicher, dass er nicht hören wollte, was der Mann ihm gegenüber nun sagen würde.
 

Doch er hörte zu und tat nichts Anderes, als stumm und steif auf dem Stuhl zu sitzen und Crawford anzustarren. Er schluckte trocken.

„Fünfmal, Fujimiya. Und weißt du, welche Bedingung er an so etwas Simples, aber Lebensnotwendiges wie Wasser geknüpft hat?“

Mit Mühe gelang Aya es, den Kopf zu schütteln. Crawford nahm das als ein Zeichen, dass er das Glas noch einmal eingehender betrachtete.

„Ich komme für ihn und ich bekomme im Gegenzug etwas zu trinken. Ich komme nicht und es gibt kein Wasser. Zuvorkommend von ihm, meinst du nicht auch?“

Das Letzte war noch nicht einmal eine rhetorische Frage, es war eine reine Drohung, wurde sich Aya plötzlich bewusst. Wenn er falsch reagierte, wenn er auch nur einen Laut äußerte, der Crawford nicht gefiel, würde dessen bereits ausgefranste Selbstbeherrschung zerreißen. So blieb er sitzen und wagte es noch nicht einmal zu blinzeln.

„Und was mache ich? Verweigere dann auch noch das Wasser, was er mir gibt. Lasse mich auch jetzt noch von diesen Erinnerungen so weit bringen, dass ich es nicht schaffe, ein solches Glas anzusetzen und es leer zu trinken. Ich scheitere an einem Glas, das ich in meiner Hand zerbrechen könnte.“
 

Abrupt erhob Crawford sich und Aya zuckte erneut zurück. Insbesondere jetzt, da der Schwarz mit zwei Schritten bei ihm war und das Glas sacht neben ihm abstellte. Wieder waren es die intensiven Augen, die Aya gefangen nahmen und ihn nicht mehr aus ihren Fängen ließen. Wieder waren es die Emotionen dahinter, die aus Crawford soviel mehr machten als den ewig arroganten und unbesiegbaren Anführer von Schwarz.

„Crawford…“

„Das war das letzte Mal, Fujimiya, dass du dieses Thema in meiner Gegenwart aufgebracht hast.“

Da hatte er sie, die leise, ruhige, tödliche Drohung, die er mehr als ernst nahm. Stumm nickte Aya und atmete zittrig ein.
 

„Und wo du es so genau wissen willst, neugieriger Weiß. Nein, ich komme nicht alleine zurecht. Ich habe die Geschehnisse zum Anlass werden lassen, mein Team durch mein Handeln an den Rand des Abgrunds zu bringen. Die Fehler, die ich dabei gemacht habe, erstrecken sich insbesondere auch darauf, dich geholt zu haben. Überhaupt den Kontakt zu dir gesucht zu haben und dafür straft mich der Rat von Rosenkreuz nun. Nichts Anderes ist das hier, eine Strafe für abtrünnige, dumme, unüberlegt handelnde Agenten. Und so werde ich auch noch dieses Unbill tragen und versuchen, die mir gestellte Frist zu erfüllen. Aber du wirst kein Teil dessen sein, Fujimiya. Weder du noch dein bigottes Mitleid. Geh nach oben, kümmere dich um Tsukiyono, den ich im Übrigen gefoltert habe, wenn ich dich erinnern darf. Willst du genau wissen, wie lange ich auf ihn eingeschlagen habe, bis er sich nicht mehr bewegt hat? Willst du wissen, welche Freude ich dabei empfand, damit du dich aus deiner weißschen Dummheit lösen kannst?“
 

Nein, das wollte Aya nicht. Er wollte in der Tat weg von hier, nach oben und am Liebsten nichts mehr von dem Schwarz und seinem Team sehen. Doch das war genau das, was Crawford gerade wollte und wie in der Vergangenheit auch schien es anscheinend seine Rolle zu sein, dem Orakel eben nicht das zu geben, was dieser verlangte. Nichtsdestotrotz erhob er sich und drängte Crawford alleine mit seiner Nähe einen Schritt zurück. Immer noch schlug sein Herz schmerzhaft schnell, als er jedweden Verteidigungsinstinkt in sich unterdrücken musste, als er nach der Wasserflasche griff und Schritt um Schritt aus dem Radius des Orakels heraustrat. Erst an der Tür drehte sich er noch einmal um und maß die abgewandte Gestalt.
 

Ihm lagen Worte auf der Zunge, die er nach weiteren Sekunden herunterschluckte, bevor er sich endgültig umdrehte und nach oben ging.
 

~~**~~
 

Es war still geworden im Haus weit nach Mitternacht, als Crawford langsam aus dem Arbeitszimmer kam, völlig ruhig, jedoch hellwach, noch nicht bereit zu schlafen, weil seine Gedanken und Visionen ihm keine Ruhe ließen, auch wenn er bis über die Grenze des Belastbaren hinaus erschöpft war. Wenigstens war er nach seiner denkwürdigen Begegnung mit Fujimiya von niemandem mehr gestört worden und hatte so die Möglichkeit genutzt, die Vertragsdokumente und die kommende, mögliche Zukunft durchzugehen, die sich ihm nur bruchstückhaft und seltsam verschlungen offenbarte und auch Weiß nicht ausließ, die nun ein Teil der nächsten sechs Wochen sein würden. Ein Teil in Crawford bereute das bis aufs Blut und begehrte auf: das war sein Stolz. Ein anderer wusste jedoch, dass das gegnerische Team gerade wegen ihrer mangelnden Begabung, was PSI-Kräfte anging, eine durchaus wertvolle Ergänzung sein würden zu dem, was Schwarz gerade zu bieten hatte.

Die Frage war, was brachte Stolz, wenn er ihn immer wieder unter den Mann trieb, den er wie niemand anderen zu hassen gelernt hatte und Weiß gleichzeitig ein Ausweg aus dieser Situation war?
 

Er hatte Stolz um sich gewoben, damit er seine Würde behalten konnte, doch was, wenn er sie auch so erlangte oder aber – im schlimmeren Fall – nicht mehr brauchte? Er konnte nichts mehr vor seinem Team verbergen. Sie alle wussten, was geschehen war. Jei viel eher als die anderen, Schuldig durch seine darniederliegenden Schilde, Nagi sicherlich durch Schuldigs Worte. Seine Mutter...es stand außer Frage, woher sie es wusste.

Er war schwach gewesen und wurde wiederholt geschwächt. Die Frage, die jetzt omnipräsent in seinem Denken war, wie er wieder stark werden konnte.
 

In Gedanken versunken betrat er langsam und erschöpft den zum Wald gewandten Wintergarten und merkte erst spät, dass nebst einer brennenden Kerze auch eine einsame Figur auf der Couch saß, die Beine neben sich hochgezogen.

„Du bist noch wach?“, fragte er seine Mutter und sie lächelte ihm durch die Beinahedunkelheit entgegen.

„Wie du auch. Anscheinend liegt Schlaflosigkeit in der Familie.“

„Hast du meine Gedanken gelesen?“

„Nein. Ich war in meinen eigenen.“

Crawford setzte sich vorsichtig neben sie auf das Sofa.

„Wie geht es dir?“

„Schlecht“, erwiderte er ehrlich und sie beugte sich zu ihm, strich ihm eine Strähne aus der Stirn, was er wie üblich mit einem Grollen beantwortete, wie er es immer tat, seit er die Schule von Rosenkreuz betreten hatte und darauf vorbereitet worden war, seine zukünftige Aufgabe zu erfüllen. Und nebenher erwachsen zu werden.
 

„Komm, leg deinen Kopf auf meinen Oberschenkel“, schmunzelte sie seinem Grollen zum Trotz liebevoll und nach einigem Zögern gehorchte Crawford. Wann hatte er das das letzte Mal gemacht? Als Kind, vor wieviel Jahren? Neunzehn, wenn er sich nicht täuschte, doch es tat dem Trost, den sie verströmte, keinen Abbruch und in den er sich jetzt gerade fallen ließ. Erst jetzt, als er sich dieser eindeutigen Schwäche hingab, wurde ihm bewusst, wie gut es eigentlich tat, dass sie hier war. Dass sie Bescheid wusste und ihn nicht dafür verurteilte, dass er sich dem älteren Mann hatte hingeben müssen.

Das Gesicht zu der nur von der Kerze erhellten Dunkelheit gewandt, ließ er seine Gedanken durch die vergangene Zeit und seine Empfindungen treiben und sie daran teilhaben. Er spürte sie nicht, doch das war nicht nötig um zu wissen, dass sie seine Erinnerungen und Überlegungen begleitete und dass sie aufmerksam beobachtete, was zu dieser Katastrophe geführt hatte.

~Es ist gut, dass ich hier bin~, resümierte sie schließlich sanft.

Ja, war es, aber er würde den Teufel tun, das zuzugeben. Zumindest offen. ~Ich muss es auch so schaffen, Mutter. Wenn ich nicht in der Lage dazu bin, einen gewöhnlichen Sterblichen zu eliminieren, was bin ich dann noch für die kommende Aufgabe wert?~

~Schwarz liegt in Scherben, Sprössling~, erwiderte sie und er grollte unzufrieden. Diese Art von Kosenamen war…so typisch sie. ~Ich kann nicht zulassen, dass mein Ältester sich zugrunde richtet, weil er momentan ein wenig verloren ist.~

Crawford lachte innerlich bitter. ~Ich finde es schon interessant, dass du jetzt erst gekommen bist. Schließlich versage ich schon seit Wochen, als wäre ich ein Kind, das sich nicht unter Kontrolle hat.~
 

Siobhan lächelte sanft, aber verschmitzt und das Lächeln hatte eine dunkle Note an sich. ~Du weißt, dass ich mich in die Belange meiner Sprösslinge erst dann einmische, wenn es beinahe zu spät ist. Die Kleinen müssen schließlich flügge werden.~

~Deine Kleinen sind flügge.~

~Und sie sind mein ganzer Stolz, da hast du Recht.~

Ihr ganzer Stolz… das konnte er von sich nicht behaupten. Er hatte Schwäche gezeigt, wo sie ihr Leben lang Stärke und Überlegenheit von ihm erwartet hatte. ~Was macht eigentlich Aileene?~, musste er unwillkürlich an seine Schwester denken und war auch nicht böse darum, von sich selbst abzulenken.

~Studieren. Sie geistert glaube ich gerade in Thailand herum, zusammen mit diesem Typen, den wir alle nicht leiden können.~
 

Aileene war die Jüngste der Crawfordgeschwister und diejenige, die keinerlei Gabe von ihrer Mutter geerbt hatte. Die Glücklichste unter ihnen, vermochte Crawford zu behaupten. Er hatte sie nie anders als unbeschwert kennengelernt, immer einen beißenden Spruch auf den Lippen, besonders dann, wenn er auch gegenüber seinen Geschwistern Phasen des Hellseherhochmutes gehabt hatte. Ihr Freund hingegen war das komplette Gegenteil. Sie hatte ihn nun schon seit sieben Jahren, seitdem sie 14 Jahre alt war. Von Anfang an war er der Familie nicht wirklich sympathisch gewesen. Ein langweiliger, normaler Typ ohne wirkliches Potential und noch viel weniger Charme. Sie alle hatten versucht, ihn ihr auszureden – und waren, wie so oft, wenn es sie betraf - gescheitert.
 

~Was empfindest du für diesen Weiß?~

Wieso wusste Crawford nur, dass sie dank Schuldig und seiner eigenen Gedanken in Bezug auf seine Schwester auf diese Frage kommen würde? Innerlich aufseufzend, zuckte er äußerlich mit seinen Schultern. Er wusste, worauf sie hinauswollte und das war sicherlich nicht sein letztes Gespräch mit dem Japaner in der Küche gewesen.

~Er hat mir das Leben gerettet. Vermutlich ist es eine Art von Dankbarkeit. ~

~Nichts anderes?~

~Was sollte da anderes sein?~

~Ist er attraktiv?~

Erinnerungen von ihm und Lasgo flackerten vor seinem inneren Auge hoch. Erinnerungen, wie sich ein williger, schwitzender Körper an seinem unwilligen, zitternden rieb, wie seine Haut dem Druck der Fesseln nicht mehr standhielt und blutete…wie er weiter unten blutete, als dort das Gewebe riss und der Mann nicht aufhörte, sondern noch angespornt wurde…weiter und tiefer in ihn drang…

Crawford würgte diese Gedankenfetzen ab, bevor sie ihn in die Panik stoßen konnten und atmete für Momente tief durch, bevor er das Gefühl der aufkommenden Luftnot loswurde.

~Du denkst, ich bin immer noch in der Lage, einen Mann attraktiv zu finden?~
 

Seine Mutter ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, während ihre Finger beruhigend über seine Kopfhaut strichen. Schlussendlich sah sie auf ihn herab und Wärme stand in ihren Augen. ~Ja, weil du mein Sohn bist. Weil ich nichts Anderes als sture Stärke von dir kenne und erwarte.~

~Stärke hilft mir nicht, seine Berührungen zu vergessen oder seine Worte, das haben die vergangenen Wochen sehr deutlich gezeigt.~
 

Siobhan schwieg lange Zeit, dann runzelte sie die Stirn.

~Wie konnte das passieren?~, fragte sie sanft, ihre Stimme nicht viel mehr als ein Murmeln, das über seine Schläfen strich. Crawford hätte ihr zu jedem anderen Zeitpunkt die Frage nur dann beantwortet, wenn sie sie offiziell gestellt hätte. Nun aber spielte es keine Rolle, dass sie die Frage als seine Mutter stellte und tief in ihm Dinge aufwühlte, die er so sehr versucht hatte zu verdrängen.

~Ich weiß es nicht ~, einigte er mit sich selbst auf das Neutralste. Dass es genauso gut Hybris gewesen war, äußerte er nicht bewusst, auch wenn es deutlich in seinen Gedanken stand. Er hatte sich zu sicher und zu überlegen gefühlt und das hatte zuviel gekostet. Er hatte sich nicht gewundert, dass seine Visionen ausgeblieben waren und ihm keine Gefahr gezeigt hatten. Ein leichter Auftrag, begleiten, das Problem beseitigen, wieder zurückkehren.

~Hast du dich in den Tagen davor nicht gut gefühlt?~

~Ich habe mich wohl bei einem der Geschäftsessen mit etwas angesteckt. Anders kann ich es mir nicht erklären.~
 

Wieder zog sie sich in ihre Stille zurück und ließ ihre Präsenz in seinen Gedanken schwer und warm ruhen. Er ahnte, was sie sich ansah und er wollte nicht darüber nachdenken, dass sie ihn so sah, wie er sich gesehen hatte. Dass sie miterlebte, was er erlebt hatte, was sich unaufhörlich in seine Gedanken gebrannt hatte. Schwäche, Demütigung, die Nutzlosigkeit des eigenen Daseins, sein Versagen im Anschluss an seine Rückkehr.
 

All das, was sie ihn nicht gelehrt hatte.
 

Siobhan erwiderte zunächst nichts, dann strich ihre Gabe sanft über das, was man gemeinhin als Seele bezeichnete. Crawford zuckte zusammen, zunächst in Erwartung eines mentalen Schlages, doch dann begriff er, was sie vorhatte, und ließ sich zögerlich in diese Berührung fallen, so wie er es früher immer getan hatte, wenn sie ihn damit beruhigt hatte. Er schloss die Augen, atmete tief ein und konzentrierte sich auf sie, ließ sich fallen.
 

So viele Nachteile Telepathen an sich auch hatten, sie beherbergten einen einzigen Vorteil. Die sanfte Berührung der Seele durch einen Telepathen war mit das Schönste, was es in ihrer Welt gab, hatte er schon vor langer Zeit befunden. Die Wärme, das Gefühl des Geliebtseins jenseits aller Grenzen, von Unbeschwertheit und Geborgenheit, war etwas, was nichts Anderes auf der Welt hervorrufen konnte.

~Auch wenn ich mir von meinem Erstgeborenen schon Enkel wünsche, so ist das nicht~, kam nach der sanften, wunderbaren Berührung der sprichwörtliche Eimer kalten Wassers und Crawford blinzelte verständnislos.
 

~Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf Kinder?~
 

Crawford war überrascht über diese Aussage, wirklich überrascht. Er hatte immer den Eindruck gehabt, dass seine Mutter sich eher von Kenneth Kinder wünschte, ihrem Zweitältesten, der mit seiner Ehefrau ein Bilderbuchleben führte. Wie die perfekte, glückliche Familie…etwas, das Crawford nie wirklich verstehen konnte.

~Wie sollte ich mit einem Mann Kinder bekommen?~

Siobhan winkte gedanklich ab. ~Es wäre ja nicht so, als wärst du streng einseitig orientiert.~

~Ich will keine Kinder.~

~Das sagst du jetzt, Bradley.~

~Das sage ich auch noch in zehn Jahren.~ Wenn er so lange leben würde, was er bezweifelte. Vermutlich schaffte er es nicht einmal über die nächsten sechs Wochen hinaus.

~Hast du deine Kinderlosigkeit vorhergesehen?~

~Nein, aber…~ Schon in dem Moment, in dem er es dachte, wusste er bereits, dass er einen Fehler in der Argumentation begangen hatte. Wenn seine Mutter und Schuldig eines einte und die beiden damit ihrer Gattung alle Ehre machten, so war es das Festbeißen an unmöglichen Möglichkeiten zur Pein aller Anwesenden.

~Also. Alles ist offen. Du brauchst nur die richtige Frau.~

~Keine Kinder, Siobhan Crawford.~

~Um was wetten wir, dass, Bradley Rodrick Crawford?~
 

Und ob sie es immer übertreiben musste.
 

~Ich finde, es wurde ein sehr schöner Name für dich ausgesucht…~

~Ich kenne die Geschichte, Mutter…~ Er rollte gedanklich mit den Augen. Was aber nichts an der Tatsache änderte, dass Crawford selbst seinen zweiten Vornamen hasste. Rodrick. Wer hieß schon wie ein Barbar?

~Von wegen und…du wurdest nach einem echten Herrscher benannt.~

~Dir ist schon bewusst, dass der Name eigentlich gar nicht aus Schottland, sondern aus Deutschland stammt?~

~Ja siehst du, dein Weg zu Schuldig war vorgezeichnet.~

~Im Leben nicht.~

Siobhan lachte leise und Crawford musste zähneknirschend daran denken, wie sehr er damals geflucht hatte, als ihm der deutsche Telepath zugeteilt worden war.

~Wie wäre es, wenn du Nagi adoptierst? Er hat doch keine Eltern und du warst ihm die letzten Jahre quasi ein Ziehvater. Ein ausgezeichneter Ziehvater übrigens, die Fortschritte des Jungen sind bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass du ihn seit Jahren den meisten Trainern von Rosenkreuz vorenthältst und ihn wie ein Löwe mit fadenscheinigen Berichten, wie wichtig der Junge für die Arbeit hier ist, vor unserem Zugriff verteidigst.~
 

Die minimale Entspannung, die Crawford sich erlaubt hatte, wich mit einem Schlag und alles andere als angenehme Erinnerungsfetzen wallten hoch, entwickelten sich zu einem intensiven Flashback, den Siobhan mithilfe ihre Gabe begleitete und ihm so einen Anker in dem Chaos, was in ihm tobte, bot. Er zitterte unter der Wucht des realen und doch längst vergangenen Schmerzes, bis er sich daraus lösen konnte und gepeinigt die Augen schloss. Sanft strichen die Finger seiner Mutter durch seine Haare, ebenso sanft strich sie ihm mit ihrer Gabe über sein aufgewühltes Innerstes.

~Er ist nach wie vor der Junge, der er war. Es war nicht seine Schuld, dass seine eigene Wut dazu genutzt wurde, dich so zu verletzen. Es war seine Kraft, aber nicht sein Wille, dich zu verletzen. Alles, was er dir angetan hat, war Lasgo.~

~Doch das ändert nichts an dem, was er getan hat. Es ändert an den Erinnerungen nichts, wie du gerade sehen konntest.~

Siobhan seufzte. ~Das ist richtig, doch du hast gelernt zu vergeben, wenn es sein muss. Zumindest meine ich mich erinnern zu können, dass ich es dich gelehrt habe.~

Es brauchte etwas, bis sie ihre Antwort bekam, während er sich vorsichtig und langsam in eine bequemere Position kämpfte. ~Meine Alpträume und meine Erinnerungen lassen mich nicht vergessen. Ich weiß nicht, ob ich vergeben kann.~

~Und doch ist er noch hier, bei dir.~

~Er gehört zu meinem Team.~

~Du hättest das nicht tun müssen. Die Standardprozedur für einen solchen Fall ist die Rückbeorderung nach Österreich, mein Sprössling. An die du im Übrigen keinen einzigen Gedanken verschwendet hast, wenn ich dich darauf aufmerksam machen darf. Und nicht nur das, Ich könnte ihn mir gut als Enkel vorstellen. Er ist ein lieber, gehorsamer Junge. Freiwillig würde er dir niemals etwas antun.~
 

~~**~~
 

Ihr Sohn erwiderte nichts, so schwiegen sie wieder einträchtig, beide Augenpaare in den Anblick der flackernden Kerze versunken. Wieder und wieder strich sie ihm über seine Haare, spielte mit ihnen, wie sie es in seiner Kindheit schon gerne getan hatte. Immer dann, wenn er von seinen neu erwachten Fähigkeiten Kopfschmerzen und Fieberkrämpfe gehabt hatte und nicht mehr ein noch aus wusste in der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Oder wenn ihm die Gegenwart zu nichtig erschien, weil er sie bereits in der Vergangenheit gesehen hatte.

Ihr Mutterherz hatte es geschmerzt, ihm diese Erfahrung nicht ersparen zu können, während ihre Position es als notwendig ansah, was geschah. Jeder PSI-Begabte musste diese Phase durchleben, nur so war Evolution und Perfektion möglich.
 

Auch sie hatte Schmerzen, Wahnsinn und Verzweiflung kennengelernt auf ihrem Weg durch die Ränge von Rosenkreuz und hin zu ihrer Berufung als Dame des Hauses. Aber sie war sturer und stärker gewesen als das und als die anderen Telepathen, von denen sich auf dem Weg durch die Zeit einige das Leben genommen hatten, weil sie sich von der Außenwelt nicht rechtzeitig abschotten konnten oder nicht rechtzeitig von Rosenkreuz gefunden worden waren um trainiert zu werden.

Ihr Wille zu überleben hatte sie vorangetrieben, hatte sie in die Arme ihres Mannes getrieben, der völlig ohne eine PSI-Begabung auf die Welt gekommen war und der ihr deswegen eine heilsame Quelle der Ruhe bot. Diese Quelle beschützte sie mit all ihrer Macht und den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln.

Das halt auch für ihre Kinder.

Sie alle lebten, waren starke und stolze Menschen, egal, was ihnen geschah. Auch wenn ihr Mutterherz blutete, wenn sie den schlimmen Erinnerungen ihres Sprösslings folgte und am Liebsten nichts Anderes tun würde als Lasgo dafür in blutige Stücke zu reißen.

Seufzend löste sie sich aus den dunklen Gedanken.
 

~Besonders du bist stark, mein kleiner Revoluzzer~, schmunzelte sie und wollte Bradley gerade anstupsen, als sie merkte, dass die ruhige Atmung eher von endlich eingekehrtem Schlaf als von Entspannung zeugte und sein bewusstes Denken gänzlich daniederlag, zum ersten Mal seit Wochen entspannt und tief ruhend.

Sie lächelte im Schein der Kerze auf ihn herab und wurde sich plötzlich eines anderen Lebewesens bewusst, das sich in der Nähe befand.

~Hallo mein irischer Teufel~, schickte sie mit schiefgelegtem Kopf in Richtung Jei.

~Du Engel…~, kam es mystisch zurück und sie hob eine Augenbraue.

~Das aus deinem Mund, deamhan? Aber wohl kaum. Dafür klebt viel zu viel Blut an meinen Händen.~

~Sein Engel.~

~ Das bin nicht ich.~

~Ich weiß. Sein Schutzengel ist…~

~…Ran Fujimiya. Auch wenn er es niemals zugeben würde.~

~Abyssinian von Weiß, Arielle, die Meerjungfrau, Rosenrot.~

~Deine Vorliebe für Märchen und Disneyfilme ist bemerkenswert. Hat er es mittlerweile begriffen?~
 

Jei nickte und kam näher. Eingehend maß er sie und den schlafenden Mann auf ihrem Schoß, bevor er langsam in die Knie sank.

~Du hast mich nicht kontaktiert, als du davon erfahren hast.~

~Warum auch?~

Stirnrunzelnd maß sie ihn. ~Denkst du nicht, dass Weiteres hätte verhindert werden können?~

~Sicherlich. Aber er hätte es ebenso wenig gewollt, wie er die Untersuchung durch Rosenkreuzärzte gewollt hatte.~

~Die er geschwänzt hat.~

~Natürlich.~

~Auch davon wusstest du.~

~Natürlich.~

~Jei.~

~Er ist interessant genug, um ein Leben mit ihm zu verbringen, findest du nicht?~ Seine Hand strich in einer geisterhaften Imitation einer Liebkosung über Crawfords Körper ohne ihn zu berühren. Siobhan seufzte innerlich. Hiermit war das Thema feierlich und abrupt vorbei. Sie wusste, dass es nichts bringen würde, den Iren noch einmal darauf anzusprechen.

~Er ist mein Sohn, was hast du erwartet?~ Ihr Schmunzeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und ließ die Sommersprossen tanzen, was Jei interessiert beobachtete. Ja, es gab wahrlich interessante Dinge auf dieser Welt, in dieser Zeit, in diesen Menschen.

~Nichts Anderes, mo nighean donn, nichts Anders.~

~Ich denke, du kommst aus Irland?~, stellte sie fragend in den mentalen Raum zwischen sie beide und nun war es an ihm, knapp zu lächeln.

~Ich spreche viele Sprachen.~

Sie nickte anerkennend. ~Wohl wahr. Wie viele, wenn nicht alle? Wer, wenn nicht du?~

„Die Welt“, wisperte Jei und erhob sich geschmeidig. „Die Welt.“ Er lachte leise, als hätte er einen besonders guten Scherz gemacht. „Jaja, die Welt.“

Damit verließ er sie und ihren Sohn und streunte wieder zurück in die Dunkelheit des Hauses.
 

„Schlaf dich aus, Bradley, schlaf dich aus. Morgen wird es schon besser sein als heute“, flüsterte sie und summte ihrem Sohn ein schottisches Schlaflied. Er würde es nicht wollen, er war schließlich erwachsen, doch wer schlief, konnte sich nicht wehren, nicht wahr?
 

~~**~~
 

Salzig roch sie, die frische Seeluft kurz vor Sonnenaufgang. Gemächlich brandeten die Wellen weit unter ihm ans Ufer, während die ersten Vögel mit ihrem Tagesgesang begannen und ihnen mehr und mehr Nachzügler folgten, je heller es wurde. Noch lag Nebel über der Bucht und den Hängen der Wälder, doch es kündigte sich bereits ein sonniger Tag an, der einiges an Wärme bringen würde.

Jeden Atemzug, den er tat, tat er mit Bedacht, mit der Wertschätzung eines Mannes, der zu schätzen wusste, dass er sich in Freiheit befand.

Seine lädierte, aber mittlerweile nicht mehr bandagierte Hand umfasste die warme Kaffeetasse und wärmte sich an dem schwarzen Gold. Die Verletzungen heilten, wie es für PSI nicht ungewöhnlich war, schneller, als sie es bei normalen Menschen tun würden. Bald wären auch die Hämatome oder die verschorften Stellen ganz verschwunden und würden keinen Rückschluss mehr darauf geben, was geschehen war.
 

Auch die Neutralisierung im Falle seines Versagens würde keine Spuren hinterlassen, zumindest keine äußerlichen. Seine Gabe würde weiterhin existieren und Rosenkreuz nützlich sein. Was seine Seele, sein bewusstes Denken und seine Emotionen anging…nun.

Sie dienten Rosenkreuz mit allem, was ihnen zur Verfügung stand. Treu bis zum Tod.

Fünf Wochen und wenige Tage hatte er noch, um das Schicksal aufzuhalten, was der Rat und die Exekutorin für sie vorgesehen hatten. Fünf Wochen um sich Lasgo zu entledigen. Fünf Wochen um so mit Weiß zusammen zu arbeiten, dass sie Erfolg hatten. Eine Zusammenarbeit, deren Grundstein er am gestrigen Abend mit Fujimiya ja so wunderbar gelegt hatte.
 

Eine Vision kündigte sich in seinen Nervenenden prickelnd an. Die erste für den heutigen Tag. Seitdem er im Kritikergebäude wieder zu sich gekommen war und die Drogen sich aus seinem System gewaschen hatten, waren sie gekommen. Erst zögerlich, seit dem Erscheinen der Dame des Hauses wieder stärker und häufiger. Erst am gestrigen Abend hatte er drei längere Visionen gehabt, die einigermaßen aufschlussreich waren. Einige Visionen, die ihm unsinnige Dinge zeigten, die er nicht wissen musste. Visionen, die ihm die Gegenwart zeigten, kurz bevor sie passierten und die das Jetzt damit so fürchterlich unerträglich und langweilig machten. Schließlich würde sich das legen und er würde es unter Kontrolle bekommen, doch bis es soweit war, musste er diese Nichtigkeiten aussitzen.
 

Diejenige, die ihn nun überkam, war keine dieser Nichtigkeiten und ließ ihn die Stirn runzeln. Er hob die Hand, strich über den Nachhall des Stückes Papier in seinen Händen und lauschte seinen Empfindungen nach, die immer noch in seinen Fingerspitzen prickelten. Nachdenklich betrachtete er die Finger und die durch die Zwischenräume aufgehende Sonne, die nun ihre ersten Strahlen zu ihm schickte. Langsam kroch der rote Feuerball über den rosablauen Himmel und tauchte die Umgebung in ein unwirkliches Licht, nur durchbrochen von dem Gesang der Vögel.
 

Der Vertrag mit Perser war unterschrieben. Nach dem Frühstück, das seine Mutter sich mit Sicherheit nicht nehmen ließ zuzubereiten und das alle mehr oder minder freiwillig einnähmen, würden sie in die Planung gehen und damit würden die Probleme beginnen. Er seufzte ausgiebig, gönnte sich diese Emotion im Angesicht der Einsamkeit des frühen Morgens.

Tief in seine Möglichkeiten und die Stränge der Zukunft versunken, leerte er seine Kaffeetasse und schloss schlussendlich die Augen, als ihm bewusst wurde, dass das Haus bald aufwachen würde. Jei, als erstes. Der Ire würde sich damit begnügen, vor dem Zimmer seiner Mutter zu warten, bis sie aufwachte und ihre Räumlichkeiten verlassen würde.

Immer wieder amüsierte es Crawford, wie sehr Jei ihre Nähe suchte. Angefangen hatte es, als er sich dafür entschieden hatte, den Jungen aus einer Zelle im Hochsicherheitstrakt der SZ-Forschungsstation mitzunehmen, nachdem seine Barrieren gegen jedwede Art der Beeinflussung gebrochen worden waren. Nicht beugbar. Nicht zähmbar. Verrückt. Der Junge, der seine Familie massakriert hatte.
 

Crawford hatte ihnen bewiesen, wie falsch sie gelegen hatten und hatte sich schlussendlich den Respekt und Gehorsam des Jungen erarbeitet. Und damit auch dessen Vorliebe zu seiner eigenen Mutter, von deren Seite der Ire nicht wich, wenn sie ihn besuchte. Crawford amüsierte das fast noch mehr, wo Jei den anderen Telepathen in seiner Nähe doch wie die Pest mied und dessen Fähigkeiten mit Verachtung strafte. Was in Schuldig natürlich den Drang erweckte, Jei dafür büßen zu lassen, dass er nur ihn diskriminierte.
 

Nach dem Iren würde Nagi wach werden, in die Welt der Wachen geplagt durch seine Alpträume, die ihn nicht mehr schlafen ließen. Die Worte seiner Mutter kamen Crawford unwillkürlich in den Sinn, als er an den Jungen dachte. Adoption. Ein Enkel für Siobhan, damit sie endlich Ruhe gab. Konnte er es? Zum jetzigen Zeitpunkt war die Antwort nein. Ob sie jemals ein Ja werden würde, das wagte er zu bezweifeln. Ob er jemals sich so eine Schwäche eingestehen würde, ebenso. Natürlich hatte er den Telekineten zu schätzen gelernt und natürlich hatte er die Aufgabe übernommen, ihn zu erziehen, aber...
 

Aber.
 

Crawford beschloss, das Thema nicht weiter zu verfolgen und wandte sich dem vierten Wachwerdenden zu. Siberian, stellte er ohne eine wirkliche Überraschung fest. Der Ex-Sportler hatte seinen festgelegten Tagesrhythmus, der vollkommen unüberraschend am frühen Morgen begann.

Dass Kudou der Fünfte sein würde, gönnte Crawford einen Moment der Überraschung. Der Mann war laut den Akten wie Schuldig auch als Langschläfer bekannt und nicht dazu geeignet früh aufzustehen. Anscheinend verdarb ihm die Anwesenheit von Schwarz das Bedürfnis nach Schlaf.
 

Fujimiya würde als nächstes wachwerden und mit ihm der junge Takatorispross, der durch seine Alpträume Auslöser des Ganzen zu sein schien. Crawford musste nicht lange überlegen, wer Ursache für die Alpträume war. Der Kleine war mutiger als er es ihm zugestanden hatte, nachdem er ihn in ihrem Keller zusammengeschlagen hatte. Die Angst war immer noch da, das sah Crawford in jeder Bewegung Tsukiyonos und dennoch war es Bombay, der entgegen aller Wahrscheinlichkeiten sich für eine Zusammenarbeit ausgesprochen hatte, weil er den Nutzen sah.

Das war beachtlich. Wie sehr er da doch seinem Vater folgte.

Eine Vision überkam ihn und er blinzelte in ihrem Nachhall. Gedankenlos starrte er auf die Bucht vor sich. So würde es also sein. Crawford schnaubte.
 

Schuldig wäre der Letzte von allen, der aufwachte. Auch dieser Tag würde ein Kampf zwischen ihnen werden, ein Tanz auf der Nadelspitze mit unsicherem Ausgang. Crawford wusste, dass Schuldig ihn fallen sehen wollte. Er wusste, dass der Telepath seine körperliche Schwäche, seine am Boden liegenden Schilde und seine unregelmäßig arbeitende Gabe gegen ihn verwenden würde. Aber was, wenn Schuldig Recht hatte? Was, wenn Schwarz wirklich besser ohne ihn dran wären und er das Problem war? Schließlich war zu schwach, über physische und psychische Gewalt hinwegzugehen. Rosenkreuz hatte ihn anders trainiert und er hatte bei der erstbesten Gelegenheit bewiesen, wie wenig er von dieser Ausbildung mitgenommen hatte.

Wenn er nun die Ideale seiner Organisation verriet, indem er sich von seinen Erinnerungen und Emotionen schwächen ließ, hatte er nichts Anderes verdient.
 

~Schön, dass du das endlich einsiehst, nutzloses Orakel~, erlangte er auf dem peinigenden Weg die Bestätigung seiner Gedanken. Schuldig machte sich erneut einen Spaß daraus, seine Telepathie möglichst schmerzhaft in ihn eindringen zu lassen.

Vorbei war es mit dem Frieden des aufkommenden Morgens. Crawford schloss die Augen, als der Schmerz stetig anstieg. Er schwankte unter dem Druck des telepathischen Einflusses. Wortlos ließ er die Beleidigung und die Schändung seines Geistes durch den Anderen durch sich hindurchwaschen…wie Lasgos Berührungen auch. Hilflosigkeit war ein neues Konzept für ihn, doch anscheinend eines, das ihn von nun an begleiten würde und das er akzeptieren musste, egal, wie sehr es in ihm schrie.
 

Anders als Lasgo verlor Schuldig jedoch schnell sein Interesse an ihm. Crawford spürte das, als der Schmerz abebbte und die gewohnte Leere das ungewohnte Gefühl der zerstörerischen Präsenz ersetzte. Langsam und bewusst beruhigte er seine schnelle Atmung wieder und bekämpfte das Zittern, das seinen Körper befallen hatte.
 

Hinter ihm schob sich die Tür auf.
 

„Sir.“

„Was gibt es, Thomas?“, fragte Crawford auf Englisch ohne sich umzudrehen. Seine Stimme war erfreulicherweise ebenmäßig und ruhig.

„Das Frühstück wäre gleich fertig, wenn Sie es wünschen.“

Er nickte und hörte, wie sich der Assistent seiner Mutter wieder hineinbegeben wollte. „Thomas?“, hielt er ihn zurück.

„Ja, Sir?“

„Gehe ich recht in der Annahme, dass die Vorräte für beide Gruppierungen akribisch vorbereitet wurden?“

„Ja, Sir.“

„Was schließt das im Einzelnen ein?“

Thomas berichtete ihm, was bereits hierhergeholt worden war und Crawford hakte seine innere Liste ab. Bei dem Punkt Kleidung runzelte er die Stirn.

„Handelt es sich dabei um die Originalkleidung?“

„Ja, Sir.“

Zweifelnd hob Crawford die Augenbraue. Er hatte noch keinen Blick in seinen Kleiderschrank geworfen, doch die Vorstellung, dass jemand es auch nur gewagt hatte, seine Sachen zu berühren, machte ihn zu seinem eigenen Erstaunen mehr als wütend.

„Wer?“, fragte er gefährlich leise und er hörte Thomas schlucken. Interessant, dass er dem Mann nach all den Jahren im Dienste der Dame des Hauses immer noch Angst einjagen konnte.

„Jei, Sir.“

Das machte es nicht besser. Eisern schwieg Crawford, während seine Sinne ihm sagten, dass der Mann hinter ihm von Minute zu Minute nervöser wurde.

„Nach meiner Berechnung zur Wahrscheinlichkeit eines Angriffs war es zu gefährlich, dass Sie in Ihrem Zustand Ihr Anwesen noch einmal betreten. Das Gleiche galt für den Rest Ihres Teams sowie für Weiß, also habe ich veranlasst, dass der Ire tätig wird.“
 

Crawford überging die Rechtfertigung, als er sich nun zu dem größeren Mann umdrehte. Schweigend fixierte er ihn und selbst auf die Entfernung schien Thomas unter der Musterung seiner kalten, braunen Augen zu schrumpfen. Mit jedem Schritt, den das Orakel nun näher trat, senkten sich die breiten Schultern etwas mehr und der Hüne zog den Kopf ein. Etwas Dunkles in Crawford labte sich an dieser Art der Unterordnung. Etwas, das zur Hilflosigkeit gezwungen worden war und nun feststellte, dass es doch Macht hatte.

„Ich schätze es nicht, dass jemand mein Eigentum bewegt, Thomas“, richtete er vollkommen ruhig an den Assistenten und labte sich an dessen Angst vor ihm.

„Sehr wohl, Sir“, brachte der Mann schließlich hervor und neigte den Kopf, verbeugte sich vor ihm. Crawford ging an ihm vorbei in das klimatisierte Haus, das für seinen Geschmack schon viel zu lebendig war und er fragte sich nicht zum ersten, aber zum eindringlichsten Mal, ob die Kombination aus Schwarz und Weiß wirklich so erfolgversprechend war, wie seine Mutter und Perser es sich gedacht hatten.
 

Das Chaos, das sich bereits jetzt wieder um den großen Essenstisch ausgebreitet hatte, ignorierte er zum Wohle des Vollautomaten, der ihm einen weiteren, endlich wieder trinkbaren Kaffee spendieren würde.

Mit dem Rücken zu den Anfeindungen Schuldigs und Kudous warf er einen kurzen Blick auf seine Mutter, die verstohlen etwas aus einem der Schränke holte und es ihm zeigte. Das „Guten Morgen“ sparte sie sich, der Wunsch nach Ruhe am Morgen einte sie beide.

Er warf einen Blick auf die Verpackung und hob fragend die Augenbraue.
 

~Für Nagi~, deutete sie auf die lächerlich bunten Kornpopskringel. Crawford wusste, welche es waren. Nagis Lieblingssorte, die dieser sich anscheinend nicht traute zu nehmen, eben weil er wusste, dass Crawford so gar nichts von diesen Ausgeburten an künstlichen Farbstoffen und ungesunden Inhaltsstoffen hielt.

Sie deutete auf den Jungen, der ihnen mit dem Rücken zugewandt stumm und eingesunken am Tisch saß und wie auch am Abend zuvor das Essen nicht anrührte.

Für einen Moment lang starrte Crawford die Packung an, dann ergriff er sie langsam. Zusammen mit dem Kaffee ging er damit zu Nagi und stellte sie an die rechte Seite des Jungen. Das Zusammenzucken des Telekineten ließ ihn die Stirn runzeln, ebenso wie die großen, furchtsamen Augen, die ihn an ihre Anfangszeit erinnerten.

„Hole dir eine Schüssel“, sagte er ruhig und setzte sich auf den noch freien Platz neben Fujimiya, dessen nachdenklichen Blick er zugunsten des Frühstücks ignorierte.
 

~~**~~
 

Das Licht im Keller war wie in den oberen Etagen auch in eine Vertiefung an der Decke eingelassen und erzeugte somit eine eigentlich heimelige Beleuchtung. Eigentlich…denn er Keller als solches wurde dadurch nicht weniger fensterlos, nicht weniger bedrückend und nicht weniger trostlos mit den Computern und Servern und den Metern an Kabeln, die sich in ihm befanden. Das Whiteboard an der Wand war noch unbenutzt, würde es aber bald nicht länger bleiben, wenn es nach dem Willen seines Anführers ging.
 

Und Nagi sich eher selbst umbringen als seinem Anführer noch einmal nicht zu gehorchen.
 

Er hatte gesehen, wie groß der Widerwillen des Orakels vor ihm war, wie groß die Vorsicht war, mit der der ältere Mann ihn bedachte. Und dennoch sprach er mit ihm, dennoch schlug er ihn nicht für sein Versagen, dennoch verstieß er ihn nicht. Es verminderte den Schmerz in Nagis Brust nicht, aber der Hoffnungsschimmer ließ ihn nach seinen Alpträumen aufstehen, etwas Essen zu sich nehmen und er schaffte es sogar, Crawford in die Augen zu sehen, auch wenn ihm das Unwohlsein bereitete und die Schuld in seinem Inneren eines ums andere Mal hochkommen ließ.
 

Schuld, die nicht in seinen Weg geraten durfte, wenn er verhindern wollte, dass Rosenkreuz sie nach sechs Wochen neutralisierten und ihnen ihr bewusstes Denken nahmen. Oder sie trennten und anderen Teams zuordneten. Das wollte er nicht, denn Schwarz war seine Familie, in der er aufgewachsen war. Auch wenn er es nun sicherlich nicht mehr war, so hatte er Crawford die letzten Jahre über heimlich als seinen Ziehvater angesehen. Der, der ihn von der Straße geholt und ein Dach über dem Kopf gegeben hatte. Und auch der, der ihn durch sein Leben gelenkt und geleitet hatte, wo immer er Führung brauchte.

Nagi war ihm über alles dankbar dafür und er konnte es sich nicht anderes vorstellen, also würde er auch alles dafür tun, dass sie zusammenblieben.
 

Auch wenn das beinahe unmöglich zu sein schien. Die Spannung und der Hass zwischen Schuldig und Crawford war greifbar und fühlbar, selbst wenn sie nicht in einem Raum waren. Die Tatsache, dass Crawfords Schilde seinen Geist nicht mehr vor den Übergriffen des Telepathen schützen, war keine Hilfe und Nagi verstand nicht, warum die Dame des Hauses gerade diese Strafe für das Orakel gewählt hatte.

Schuldig nutzte, wie es in seinem Naturell lag, jede sich bietende Möglichkeit, um denjenigen, den er hasste und dem er vorwarf, ihr Team zu zerstören, daran zu erinnern, dass er nun derjenige war, der die Macht in seinen Händen hielt alles zu zerstören. Die neue Kräfteverteilung tat ihrer Teambalance nicht gut und Nagi befürchtete, dass es ihnen schließlich das Genick brechen würde. Mit Schuldig selbst darüber zu reden machte momentan keinen Sinn und so verloren sie Stunde um Stunde, Tag um Tag und kamen damit ihrer Neutralisierung immer näher.
 

„Nagi?“
 

Der Telekinet blinzelte und riss sich aus seinen Gedanken. Drei Augenpaare beobachteten ihn aufmerksam und er senkte mit einem leisen „Ja?“ den Blick, der anscheinend bislang abwesend und starrend auf den Anderen gelegen hatte und der die eigentliche Frage nicht mitbekommen hatte.

Tsukiyono gab einen Laut des Missfallens von sich und Nagi zuckte innerlich zusammen. Der Weiß hatte gut reden, schließlich war er nicht derjenige, dessen Team zerfallen würde. Schließlich war das alles hier nicht gegen Weiß gerichtet, die wieder und wieder mit dem, was sie taten und ihnen antaten, ungeschoren davonkamen, während Schwarz am Rande des Abgrundes standen.

Nagi sah auf und begegnete den tiefblauen Augen mit stummer Wut, die er weniger gut als sonst hinter seiner üblichen Ausdruckslosigkeit zu verstecken wusste, bevor sein Blick zu Crawford huschte und darauf wartete, dass sein Anführer seinen Befehl wiederholte.
 

„Ich möchte, dass du und Tsukiyono euch um die Recherchen um das Bombenattentat kümmert. Findet alles über die Herkunft des Sprengstoffes heraus, was ihr finden könnt, wer ihn wann und wo erhalten hat. Ich will außerdem alles über den Anschlagsort wissen, Aufnahmen von Überwachungskameras, Umgebungsdaten, Telefon- und Funkdaten, Satellitendaten, alles, was uns weiterhelfen könnte. Wenn ihr damit fertig seid, möchte ich, dass ihr der Spur der Scheinfirma nachgeht und was diese mit Lasgo zu tun haben könnte.“
 

Nagi nickte und sah, wie der Weißtaktiker erst stumm seinen Anführer um Erlaubnis fragte und erst zustimmte, als dieser ihm sie ebenso nonverbal erteilte.

„Welcher Zeitrahmen ist zu erwarten?“

Der Telekinet runzelte die Stirn, als er den Zeitbedarf durchkalkulierte. An die Daten heranzukommen, würde Zeit erfordern, die Daten auszulesen würde da aber den größeren Anteil für sich beanspruchen.

„Ich denke, ich benötige zwei, maximal drei Tage dafür“, erwiderte er schließlich und Abyssinian hob die Augenbraue.

„Wie lange, wenn ihr zusammen daran arbeitet?“, fragte der Mann, der es gewagt hatte, sich seinem Anführer aufzuzwingen, mit einer Selbstverständlichkeit, die Nagi wütend machte.

Dunkel kam sein Blick auf Tsukiyono zum Ruhen, der ihn mit ausgesuchter Ausdruckslosigkeit erwiderte. Er wollte mit dem Weiß nicht zusammenarbeiten. Er wollte es schlicht nicht. Nicht mit dem, der so unbeschadet aus der Begegnung mit Lasgo hervorgegangen war. Eigentlich mit niemandem der feindlichen Gruppierung. Und dennoch hatte auch er den Vertrag zu erfüllen, so sein Anführer es denn von ihm verlangte.

„Gemessen an den Fähigkeiten eures Taktikers“, erwiderte er Abyssinian kühl. „…dürfte sich der Zeitansatz um die Hälfte reduzieren.“

„Ihr habt anderthalb Tage dafür“, erhielt er den eindeutigen Befehl seines eigenen Anführers und schloss für einen Moment die Augen. Anderthalb Tage in einem Keller mit Bombay. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken daran.
 

Als Crawford sich erhob, zuckte Nagi zusammen und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Wortlos lag der Blick aus hellbraunen Augen auf seinen eigenen und maß ihn nachdenklich, dann nickte Crawford und verließ den Keller, ihm auf den Fersen der Anführer von Weiß.
 

Als die Tür zufiel, schloss Nagi für einen Moment lang die Augen und versuchte mit aller Macht, das Zittern zurück zu drängen, das die Erinnerungen an den Keller, in dem sie ihn gefangen gehalten hatten, in ihm hervorrief. Die Anwesenheit des lästigen Weiß blendete er aus, nicht wissend, was er oder respektive seine Gabe tun würde, wenn der Taktiker ihm auf die Nerven ging.

Doch der Weiß verhielt sich still und schließlich hörte Nagi, wie dieser sich am Whiteboard zu schaffen machte und die zu eruierenden Daten stichwortartig notierte, die Handschrift schnell und unleserlich, zittrig gar.

Nagi atmete tief durch, einmal, zweimal, dreimal, bevor er sich an einen der Rechner setzte, ihn hochfuhr und ihnen das System einrichtete.
 

Sechs Wochen. Sechs kurze Wochen, die über ihr Leben bestimmten. Sechs lange Wochen, um Nutzen aus Weiß zu ziehen. Nagi wagte einen Blick zu Tsukiyono, der für einen Moment lang blind auf seinen Monitor starrte, an dem er sich eingerichtet hatte, die Finger auf den Tasten der Tastatur zitternd.

Es war Angst, erkannte Nagi schließlich, die den Jungen dazu verleitete und er lächelte in sich hinein. Der Andere hatte Angst vor ihm.
 

Gut.
 

Nicht, dass es seine eigene Angst wettmachte, die sich von Stunde zu Stunde, die sie in dem gekühlten Keller verbrachten, steigerte und ihm Erinnerungen an Fixierungen, Drogen, Fragen nach seinem Ich, Einsamkeit und Verzweiflung einbrachte.
 

„Was tust du da, Naoe?“, holte ihn eine scharfe Stimme aus seinen Gedanken und Nagi fuhr elendig zusammen, als er sich Auge in Auge mit dem Weiß gegenüber sah, der seine Drehstuhllehne gepackt und ihn zu sich herumgezogen hatte. Zu Tode erschrocken zuckte Nagi zusammen und instinktiv langte er nach der vermeintlichen Bedrohung, stieß ihn mithilfe seine unsteten Kraft von sich weg an die nächste Wand. Das schmerzvolle Aufstöhnen des Anderen brachte ihn zur Besinnung und Nagi blinzelte erschrocken.

Der Weiß lebte noch. Gut. Er blutete auch nicht, auch wenn er es ihm insgeheim gegönnt hätte. Benommen blinzelte Tsukiyono, während seine Hand vorsichtig seinen Hinterkopf befühlte.

„Hast du sie noch alle?“, pressten die schmalen Lippen hasserfüllt hervor und Nagi schnaubte verächtlich, während er tatsächlich ein überhebliches Lächeln auf seine Lippen bringen konnte.
 

„Man könnte meinen, dass du es besser wissen solltest, als einem von uns zu nahe zu kommen, Weiß.“ Die blauen Augen, die sich so sehr von Schuldigs unterschieden, starrten ihm wütend in seine grauen Gegenstücke und der Weiß richtete sich langsam auf, blieb jedoch an der gegenüberliegenden Wand sitzen.

„Auch dann, wenn du schon seit einer Stunde immer mehr in deine Gedanken und in deine Angst abdriftest und damit die Geräte hier zum Erzittern bringst und du selbst immer blasser und fahriger wirst?“, hielt Tsukiyono dagegen und Nagi presste ihn zum Dank gleich noch einmal gegen die Wand, labte sich an dessen Aufstöhnen.

„Und wenn schon, was geht es dich an, Bombay?“

Mit Mühe antwortete ihm der junge Takatori. „Viel, wenn ich schon wieder mit dir in einem Kellerraum eingeschlossen bin und du drohst, das ganze Gebäude in sich einstürzen zu lassen. Dann geht es mich etwas an.“
 

Dass es nicht das Klügste war, ihm das zu sagen, zeigte Nagi dem feindlichen Taktiker nun, als er ihm mit seiner Gabe half, wieder auf die Beine zu kommen und seinen Hals in einem unnachgiebigen, aber lufteinengenden Griff zu halten.

„Ich hatte dich für klüger gehalten, Weiß…“, lächelte er. Zeig ihm nicht, dass dich seine Worte verletzen, sonst wird er weitermachen. Zeig ihm, dass du der Stärkere bist. Zeig ihm, dass er sich dir unterzuordnen hat, sagte er sich wieder und wieder und verstärkte den Druck auf die Kehle des Weiß noch einmal, bevor er ihn verächtlich fallen ließ und für einen Moment lang dem Röcheln des Anderen lauschte, der ihm gegenüber an der Wand kauerte, das Gesicht gen Boden gewandt. Es erinnerte ihn an den Besuch des Weiß im Schlachthof, hilflos in ihrem Keller. Verzweifelt. Ängstlich.
 

So wie er es bei Lasgo gewesen war. Nagi blinzelte und wandte sich ab, widmete sich eisern den zu erhebenden Daten.
 

Hinter ihm hörte er, wie sich der Weiß erhob und er lächelte. Das Lächeln erstarb, als Tsukiyono sich räusperte und mit rauer Stimme versuchte zu sprechen, was schließlich von Erfolg gekrönt war.

„Du hast Crawfords Opfer, sich selbst aufzugeben um dich zu retten, nicht verdient“, sagte Tsukiyono schließlich leise und ließ Nagi erstarren. Diese schlichten Worte, dieser eine Satz sollte nicht einfach so in sein Innerstes drängen und ihn nicht wütend sondern traurig machen können. Er sollte nicht wie gelähmt hier sitzen, sondern den Weiß für seine Unverschämtheit strafen, trotz oder gerade wegen ihres Vertrages. Er sollte nicht…dennoch konnte er nicht anders.
 

Nichts in ihm wollte sich regen bis auf das verdammte Brennen in seinen Augen. Tsukiyono öffnete die Tür und Nagi wusste, dass er ihn nicht gehen lassen sollte, dass er ihn nicht gehen lassen konnte, weil sie einen Auftrag zu erfüllen hatten und weil er die Aufgabe hatte, diesen mit dem Weiß zu erfüllen. Doch er tat nichts, starrte nur auf die Ziffern und Zahlen, die über den Bildschirm liefen.

Die Tür schloss sich laut hinter dem Weiß und Nagi tat immer noch nichts, als die Tränen, die in seinen Augen standen, frei zu fließen begannen und – das war das Schlimmste – es noch nicht einmal Tränen der Wut waren, sondern Tränen der Verzweiflung und des Eingeständnisses, dass der Andere Recht hatte. Er hatte es nicht verdient. Weder Crawfords Güte noch seine Milde. Das hatte er nun schon wieder einmal bewiesen.
 


 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie ihr wisst, möchte ich immer gerne wissen, was ihr über die Geschichte denkt ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Meggal
2019-05-16T15:17:42+00:00 16.05.2019 17:17
Wow.

Okay, du schaffst es echt immer wieder, eine Gefühlsachterbahn auszulösen. Egal auf welche Art und Weise. Ich bin echt gespannt, wie du die Geschichte weiterschreibst. Ob du sie irgendwann erkennen lässt, dass sie tief innen doch nicht so unterschiedlich sind wie sie glauben. Dass sie nicht die Monster sind, die sie in der Gegenseite zu sehen glauben, dass sie alle mal schwach sind und tatsächliche Stärke nicht in der Ignoranz dieser steckt, sondern in ihrer Annahme und Akzeptanz.

Ich bin wirklich gespannt :)

*Tee und Kekse rüberschieb*
Antwort von:  Cocos
16.05.2019 20:16
*Beruhigungstee reicht und Kekse futtert* :3

So kann man sich täuschen... ich hatte gedacht, dass der jetzige Teil nach der ganzen Aufregung mal ein ruhigerer ist. *hüstel*
Wo ich mit der Geschichte hin will? Ins Happy End! :3 Und das ist in Sichtweite, auch wenn es jetzt noch nicht so aussieht, die Herren sind halt einfach noch fremd miteinander (die wohnen erst einen Tag zusammen). Aber ich halte die Chancen für gut, dass sie eben genau das erkennen, was du so wunderbar formuliert hast. Und dann gehts vielleicht auch endlich Lasgo an den Kragen. ^_^v


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