Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 23: Erlösung -------------------- So oft sich Omi auch verdeutlichte, dass er auf Bäume starrte, die sich sacht im aufkommenden Wind hin und herwogen, so oft kehrten seine Gedanken auch wieder zurück zu den Stunden, die er in Schuldigs Gewalt verbracht hatte und die wie ein innerer, unausweichlicher Film vor seinen Augen abliefen und ihm das Leben zur Hölle machten, jetzt, da eben jener Telepath ihn und seine Angst alleine gelassen hatte. Natürlich hatte die Anwesenheit des Schwarz alles hervorgeholt, was er unter der Last der jetzigen Situation vergraben hatte. Natürlich war es noch eine zusätzliche Belastung, die er durchzustehen hatte. Omi kauerte sich in sich zusammen und schlang die Arme um seine Beine, die er an die Brust gezogen hatte. Er wusste nicht, wann Mastermind ihn verlassen hatte, doch es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dass er hier darauf warten musste, dass dieser mit seinem Team sprach. Wenn es überhaupt der Fall war und Schuldig ihn nicht angelogen hatte. ~Ein verlockender Gedanke, Bombay, aber nein, ich habe die Anwesenheit deines ätzenden Teams in meiner Wohnung nicht erfunden. So etwas Ekelhaftes kann ich mir gar nicht ausdenken~, drang eben jene verhasste Stimme tief in ihn und Omi zuckte elendig zusammen, als Panik und Angst aufwallten und im gleichen Moment wieder verschwanden. So wie beim ersten Mal ließen sie ihn ruhig und vollkommen furchtlos zurück. Was sich falsch anfühlte und in seiner Falschheit richtig. Omi runzelte die Stirn und fasste seine Knie enger. ~Also, ich habe mit deinem unfähigen Team gesprochen~, kam Schuldig ohne Umschweife zum Thema und Omi war unbewusst dankbar darum. ~Sie sind erleichtert, dass es dir gut geht und wünschen dir noch eine schöne Zeit hier. Du sollst einfach zurückkommen, wenn du dazu bereit bist.~ Omi blinzelte ungläubig. Was hatten sie gesagt? Aber nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Warum taten sie das? Warum ließen sie ihn hier alleine? ~Wieso?~, wagte er eine zaghafte, erschütterte Frage und wurde mit einem Grinsen konfrontiert, das er zwar unmöglich sehen konnte, aber ohne jeden Zweifel spürte. ~War ein Spaß~, winkte der Telepath ab und Omi fror voller Unglauben ein. Ein Spaß. Ein Spaß? Wie konnte Schuldig diese ernste Situation dazu missbrauchen, Späße mit ihm zu treiben? ~Das geht ganz einfach. Soll ich nochmal?~ ~Nein!~, begehrte Omi auf und Schuldig lachte dermaßen, dass es hinter seiner Stirn juckte und kratzte. ~Also schön, Kleiner.~ Da war es wieder, dieses Wort in dieser Betonung, das so konträr zu Schuldigs Taten und Charakter stand. Der Kosename, der keiner war und der ihn unwillkürlich beruhigte und ihn das vergessen ließ, was ihm Angst und Panik bereitete. ~Ich habe die Informationen, die ich aus deinem Hirn habe ziehen können an die fleißigen Arbeiterbienchen weitergeleitet, damit sie die Vegetation oder die netten Kleinigkeiten, die dir aufgefallen sind, mit der Umgebung vergleichen und einen Anhaltspunkt dafür finden, wo ihr festgehalten werdet. Ja, selbst diese potthässlichen Statuen im Wohnzimmer. Bis wir damit weiter sind, wirst du dich normal verhalten und dem Arschloch weiterhin brav dabei zusehen, was er mit meinem Team anstellt, ist das klar? Wenn Lasgo dich auch noch unter Drogen setzt, dann haben wir keine Verbindung mehr zu euch.~ Omi nickte, auch wenn ihm gleichzeitig bewusst wurde, was es bedeutete. Bis sie es schafften zu entkommen, würde er eine ständige Verbindung zu Schuldig haben. Trocken schluckte er, als die Gabe des Telepathen das Unwohlsein über diese Tatsache nicht gänzlich unterdrücken konnten. Als Antwort darauf schien Schuldig jede einzelne positive Erinnerung, die er an sein Team hatte, hervorzuholen und vor seinem inneren Auge abzuspielen. Omi wusste nicht, ob er dankbar für diese Ablenkung oder wütend sein sollte, dass der Schwarz sich seiner Freunde bediente und die Eindrücke mit ihm erlebte. ~~**~~ Sein Zeitgefühl teilte ihm mit, dass zwei Stunden vergangen waren, bevor sich die Tür mit dem leisen Rauschen erneut öffnete und den Blick auf Lasgo freigab, der dort in Begleitung seiner Männer stand. Als Lasgos Blick auf ihm zum Ruhen kam und der ältere Mann ihn anlächelte, hatte Omi unwillkürlich das Gefühl, dass man ihm doch ansehen musste, dass er Besuch hatte. Dass er nicht alleine war. Doch Lasgo merkte nichts. Schweigend kam er zu ihm und setzte sich auf den Sessel neben dem, auf den sich Omi schlussendlich zurückgezogen hatte. „Hast du dich beruhigt?“, fragte er sanft und Omi nickte, den Blick des Älteren meidend. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass er eindringlich gemustert wurde. Die Frage, die kam, hatte er jedoch nicht erwartet. „Fällt es dir so schwer, Rache an ihm zu nehmen?“ Alles in ihm schrie ja, alles in ihm wollte Lasgo anschreien, dass er endlich aufhören sollte mit seinen sadistischen Spielen. Schwarz waren Feinde, aber das rechtfertigte doch noch lange nicht SO etwas. Doch Omi schüttelte den Kopf. Das Beste wäre sicherlich eine ehrliche oder zumindest eine halbehrliche Antwort, damit er keinen Verdacht erregte. „Das ist es nicht. Er hat es verdient. Aber es fällt mir schwer selbst zu diesen Mitteln zu greifen.“ Seine Stimme verlor sich und nun sah er doch hoch. Hilflosigkeit stahl sich in seine Augen und für einen Moment lang war er versucht, Lasgo einfach um Naoes und Crawfords Leben zu bitten. Vielleicht konnte er seine wie auch immer geartete Verbindung zu Lasgo nutzen um diesen um Gnade zu bitten. ~Nichts für ungut, Kleiner. Du appellierst an einen Sadisten, dass er Milde zeigt mit seinen Opfern und hoffst auf Erfolg? Wer hat dich denn erzogen?~, fragte Schuldig und Omi zuckte innerlich zusammen. ~Birman~, erwiderte er schlicht und plötzliche Wut auf die Kritikeragentin durchflutete sein Denken. ~Kein Wunder, dass deine Prioritäten da verschoben sind~, knurrte Schuldig. ~Und nein, du wirst ihn nicht um Gnade anbetteln und deine Tarnung auffliegen lassen. Der Mann muss denken, dass du Gewissensbisse hast, ja. Aber dann wirst du dich dem fügen um allen Anwesenden mehr Spielraum zu verschaffen. Klar?~ Ja, das war es. Seine pragmatische Seite sah es genauso wie Schuldig, dazu hätte sich Omi nicht noch zusätzlich ins Gedächtnis rufen müssen, dass er hier außerdem mit dem Mann sprach, der ihn gefangenhielt. Und dass eben dieser Mann ihn schon unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in sein Bett gelockt hatte. „Halte dir vor Augen, was er die angetan hat, Omi. Halte dir vor Augen, was der Mann, für den er arbeitet, deiner Mutter und der Familie deines Anführers angetan hat. Er hat sie in den Selbstmord getrieben mit seiner Bosheit. Er hat ihre Firma in die Luft gesprengt. Er ist ein widerlicher, schlechter Mann und jeder, der für ihn arbeitet, ist widerlich und schlecht und hat alles Schlimme auf der Welt verdient.“ So sehr Omi sich auch wünschte, dem zustimmen zu können, so sehr sträubte sich sein Gewissen dagegen. Doch er nickte, zumindest sein Kopf tat es. Dort, wo Omi verneinen wollte, übernahm Schuldig die Kontrolle über seinen Körper. ~Zum Kotzen gut bist du, Kleiner. Das ist ja unaushaltbar~, kommentierte Schuldig seine Weigerung spottend, während er seine Kontrolle über Omis Körper ausweitete. „Wollen wir weiter machen?“ Wieder war es Schuldig, der nickte und Lasgo erhob sich. Er streckte Omi die Hand entgegen und Schuldig schlug ein. ~Bitte zwing mich nicht dazu, das mit anzusehen~, wisperte der Weiß. ~Er wird ihnen wieder wehtun und ich...~ ~Du bist stark genug, ein weiteres Mal zuzusehen, wie sie mein Team foltern werden, Tsukiyono, weil es dem zufällig anwesenden, ansässigen Telepathen helfen wird, Informationen zu gewinnen und so weiter und so fort~, durchbrach Schuldig seine aufkommende Panik und Angst vor dem Kommenden. ~Reiß dich zusammen, Bombay, wir kommen euch holen. Weiß hat Fortschritte gemacht, was Tadashi angeht und den Künstler dieser unseligen Statuen, die dort überall stehen, haben wir auch schon ausfindig gemacht. ~ So etwas wie Ruhe strömte in Omi und er wusste, dass es von Schuldig auferzwungene Ruhe war, die er nicht fühlte. Doch das spielte keine Rolle, denn gerade jetzt, in diesem Moment, war Omi nicht wählerisch, denn auch die erzwungene Ruhe half ihm, sich zu stählen. ~Los, geh mit ihm.~ Omi ließ sich von Lasgo hochziehen und begleitete ihn hinaus, den gewohnten Flur entlang nach unten in die Kellerräume. Alles besah er sich, damit Schuldig Informationen gewinnen konnte, jedes kleine Detail, das eventuell noch hilfreich sein konnte. Seine Schritte trugen ihn in den Kellerraum hinein und fast konnte er seinen Blick nicht auf Crawford richten, aus Angst davor, was Schuldig tun würde, aus gleicher Angst davor, was er in Crawfords Augen vorfinden könnte. Doch schlussendlich kam er nicht umhin, den Amerikaner anzusehen. Lasgo hatte seine Position erneut verändert. Die Hände hinter seinem Rücken gefesselt kniete das Orakel vorneübergebeugt in der Mitte des Raumes. Omi vermutete, dass Crawford sich dagegen gewehrt hatte, denn die Hämatome im Gesicht des Schwarz und das getrocknete Blut an seiner Schläfe waren neu. Eine kurze Kette hielt seine Hände und ihn selbst an einem Ring am Boden und zunächst glaubte Omi, dass Crawford Fieber hatte, so rot waren seine Wangen. Seine Atmung war viel zu schnell und auf der Stirn des Amerikaners sah Omi winzige Schweißperlen. Die Augen hatte er geschlossen und unruhig wand er sich in seinen Fesseln. „Was ist mit ihm?“, fragte Omi stirnrunzelnd an Lasgo gewandt, doch der ältere Mann lächelte nur subtil. „Lass dich überraschen. Ich möchte wetten, wie erleben gleich einen Durchbruch.“ Omi schluckte gegen das telepathische Grollen in ihm an, doch Lasgo hatte sich bereits wieder an seine Männer gewandt. „Holt ihn“, befahl er und es war unzweifelhaft, wen er damit meinte. Sie brachten Naoe in den Keller und Omi zuckte beinahe schmerzerfüllt zusammen, als er sah, wie schnell sich der Zustand des jungen Schwarz sich zu seinem Nachteil verändert hatte. Die Haut des Telekineten war durchscheinend blass, die Lippen bläulich und rissig. Er schwankte, während die unsehenden Augen leer auf einen Punkt auf den blutbefleckten weißen Fliesen starrten. Die Augenringe zeugten von tagelangem Schlafmangel. Schuldigs unbändige Wut darüber schwelte in Omi, verursachte ihm beißende Magenschmerzen. Mit Mühe löste er seine Aufmerksamkeit von Naoe und verfolgte Lasgo Weg zu Crawford. Mit fest zusammengepressten Lippen sah er stumm zu, wie dieser dem Orakel in falscher, ekelerregender Zärtlichkeit über das errötete Gesicht strich. Der kniende Mann presste seinerseits die Lippen zusammen, konnte jedoch das aufkommende Stöhnen nicht unterdrücken und Omi runzelte verwirrt die Stirn. Das Stöhnen klang keinesfalls schmerzerfüllt. Gepeinigt, ja…und dunkel vor etwas, das Omi nur zu bekannt vorkam. Wo er vorher nur auf das Gesicht des Orakels gestarrt hatte, glitt sein Blick nun tiefer und er hob ungläubig die Augenbrauen, als er sich der Erregung Crawfords bewusst wurde. „Was hast du gemacht?“, fragte er erneut, dieses Mal war seine Stimme rau. Was zur Hölle hatte Lasgo dem Schwarz angetan? Der Drogenhändler lächelte und packte Crawfords schwarze Haare, zog den Kopf samt Oberkörper daran zurück. Selbst diese grobe Behandlung schien Crawford zu erregen, die sonst so kalten Augen waren dunkel vor widerwilliger, verzweifelter Lust. „Wir werden heute ein kleines Spiel spielen. Geben wir doch dem Anführer die Möglichkeit, seinen Telekineten auf seine Seite zu ziehen und ihn davon abzuhalten, ihn erneut mit seiner Gabe zu beglücken. Schafft er es nicht, wird Naoe ihm die Erlösung verschaffen, die ihm so dringend zusteht und die er sich so sehnlich wünscht. Kein Leid, keine Schmerzen, nur Erlösung…“ Omi starrte dem Drogenhändler in die Augen und alleinig Schuldigs Anwesenheit in seinen Gedanken verhinderte, dass er tobte und schrie. Naoe sollte seinen unter Drogen stehenden Anführer zum Sex zwingen? Nein, das konnte er nicht zulassen, das durfte nicht sein. ~Da müssen wir jetzt durch, Kleiner. Das wird die beiden nicht umbringen und um das Danach können wir uns kümmern, wenn wir sie da rausgeholt haben.~ Mühevoll schluckend wunderte sich Omi, wie Schuldig so kalt sein konnte. Sein Anführer wurde gefoltert auf die schlimmste erdenkliche Art und Weise und Schuldig sprach von durchstehen? Wie konnte er? Wie konnte er das dem Telekineten des feindlichen Teams antun, dessen Mimik und Gestik klar und deutlich machte, dass er nichts hiervon freiwillig getan hatte und dass auch er nur ein Opfer des Sadismus des Menschenhändlers war. ~Ansichtssache, Tsukiyono. Er verstümmelt sie nicht, er hackt ihnen keine Gliedmaßen ab droht ihnen akut mit dem Tod. Mit dem Rest werden wir fertig und müssen solange mit den Gegebenheiten vorlieb nehmen, bis wir einen verdammten Plan haben. Und der Plan heißt Naoe. Also verliere hier verdammt nochmal nicht die Nerven, sondern nutze die Chancen, die dir gegeben werden.~ Die Worte klangen ein wenig zu selbstsicher, als dass Omi sie wirklich glauben konnte. Er sah mehr als dass er hörte, dass Lasgo Crawford etwas zuflüsterte, was diesen brachial zusammenzucken ließ. Lasgo lachte und ließ den anderen Mann los, der sich mit Mühe fing. Ein verzweifelter Laut verließ die zerschlagenen Lippen. „Es ist dir überlassen, Bradley, ob du deinen Jungen einfach so gewähren lässt oder ob du die Chance nutzt, ihn umzustimmen. Sagst du nichts, wird er dir gleich Abhilfe bei deinem Problem geben. Aber dann erfährst du auch nie, ob du jemals hättest aufhalten können, was geschehen ist.“ Ein Lächeln, teuflischer als alles, was Omi bisher von Schwarz gesehen und am eigenen Leib miterlebt hatte, breitete sich auf dem Gesicht des Drogenhändlers aus und Omi wurde bewusst, dass Crawford sich verweigern würde. Sein Stolz würde dieses Spiel nicht zulassen. Er irrte. „N…Nagi…“, kam es gepeinigt und trocken aus der gefolterten Kehle. Rau war die Stimme, missbraucht, unterdrückt. Omi war wider Willen beeindruckt von der Willensstärke des Amerikaners, die Lust in ihm seine Stimme nicht erreichen zu lassen, auch wenn sie brennend in den hellen Cognacaugen stand, die sich nun in Naoe bohrten. „Nagi, sieh mich an. Du bist stärker als die Drogen in dir. Du willst das nicht. Ebenso wenig wie du alles Andere gewollt hast.“ Omis Blick richtete sich etwas zu schnell auf Nagi um unauffällig zu sein, doch Lasgo schien davon keine Notiz zu nehmen. Mit Stolz sah der Drogenhändler auf die unruhige Gestalt, die hin und her schwankte und zitternd in den Händen der Häscher hing. Genugtuung stand auf seinem Gesicht und einen Moment später wusste Omi auch warum. Dieses Spiel spielte Crawford nicht nur gegen seinen beeinflussten Telekineten, nein. Er spielte auch gegen Lasgo und der würde mit allen Mitteln versuchen zu gewinnen. „Lass dich von ihm nicht beeinflussen, Nagi“, hielt Lasgo mit eiskaltem Lächeln dagegen, das Omi das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das war nicht der Mann, der seit Tagen versuchte, ihn auf seine Seite zu ziehen und der behauptete, seine Mutter geliebt zu haben. „Erinnere dich, dass er derjenige ist, der dich geschlagen, beleidigt hat und dir gedroht hat, dich zurück in die Gosse zu schicken, obwohl du schon soviel für ihn geopfert hast. Denkst du, es wird anders werden, wenn du nun zurückkehrst?“ Omi fragte sich, ob Crawford überhaupt eine realistische Chance hatte zu gewinnen und verneinte das. Schuldig verneinte es. Wütend grollte Crawford und Omi war sich nicht sicher, ob er froh sein sollte, dass der Anführer von Schwarz noch soviel Widerstand in sich hatte, oder ob er sich fürchten sollte vor dem, was Lasgo tun würde, um eben diesen Widerstand zu brechen. Crawford schluckte mühevoll. „Er wird dich umbringen, Nagi. Für mich bist du ein wertvolles Teammitglied. Er wird dir nichts als den Tod bringen mit seinen Drogen und dem, was er dir darüber hinaus antut.“ Mühevoll verließen die Worte die Lippen des Amerikaners. Mühelos wurden sie von Lasgo beiseite gewischt. „Glaubst du ihm das wirklich, Nagi? Oder versucht er nur seine Haut und sein Leben vor deiner Gabe zu retten? Du brauchst ihn nicht, du bist soviel stärker als dass er es dir zugesteht. Du bist der eigentliche Herrscher mit deiner Kraft und dem Geschenk, das dir zuteil geworden ist.“ Crawford erzitterte und musste einen Moment lang die Augen schließen. Er schwankte, bevor er sich wieder soweit unter Kontrolle brachte, dass er fähig war, etwas zu sagen. „Dir liegt es nicht zu herrschen, Nagi. Das wolltest du nie. Deine Sicherheit liegt im Folgen, nicht im Führen.“ Omi schien, als sprächen die Worte etwas an tief im Inneren des Telekineten. Sein Kopf ruckte unbewusst zu Crawford, auch wenn sein Blick immer noch starr auf einen Punkt weit weg von beiden Männern gerichtet war. Gut so. Das war ein Anfang…ein guter Anfang. Zum ersten Mal, seit Lasgo dieses perverse Spiel begonnen hatte, hatte Omi das Gefühl, als könne sich der Amerikaner wirklich durchsetzen, auch wenn die Hoffnung verschwindend gering war. „Du brauchst jemanden, der dich für das, was du bist, liebt, nicht für das, was dir innewohnt. Dieser jemand werde ich sein, dieser jemand kann niemals dieser eiskalte Bastard sein, der dich benutzt hat, seit er dich als Kind dazu trainiert hat, Menschen zu töten und seinem zerstörerischen Willen zu folgen.“ Ein Zittern ging durch die schmale Gestalt und für einen Moment lang schien es, als ätte Crawford Erfolg mit dem, was er gesagt hatte. Doch dann zogen Wut und Hass auf das gepeinigte Gesicht des Telekineten und Crawfords verzweifeltes Aufstöhnen hallte durch den Keller, als die Kraft des Telekineten aufwallte und seinen Anführer berührte und diesen gepeinigt aufstöhnen ließ. Wie von Sinnen wandte er sich in seinen Fesseln, zerrte an den Ketten, die ihn am Boden hielten. „N…ne…nein, Nagi…tu das nicht…nein…“, flehte er die Augen fest zusammengepresst, die Zähne in die Unterlippe gegraben, bis er blutete. „Doch, Nagi. Das, genau das ist es, was er verdient. Na los, mein hübscher Junge, zeig ihm, wo sein Platz ist.“ Wieder wallte die Kraft auf und Crawford zuckte brachial zusammen. „Nein…Nagi…“, presste er hervor und Omi schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als er die bodenlose Pein in den Augen des Orakels sah, die dieser verzweifelt auf Naoe gerichtet hatte. Er wandte sich an Naoe, doch Schuldig verschloss seine Lippen, bevor er etwas sagen konnte. Eisern presste er sie ihm aufeinander. Und zum ersten Mal erschien so etwas wie Leben in den Augen des Telekineten. Verzweifeltes, verängstigtes Leben, das in ein Zittern der schmalen Gestalt mündete. Scheinbar passend dazu war anscheinend ein Gewitter aufgekommen, das in der Ferne seinen grollenden Donner auf die Erde schickte um Lasgo zu strafen für das, was er den beiden Männern antat. ~Oh Scheiße…~, waberte es wenig hilfreich durch seine Gedanken, doch Omi ignorierte das, als die Erkenntnis über seine Fehleinschätzung langsam in sein Denken einsickerte. Dieses Grollen hatte er schon einmal gehört. Ruckartig sah er zu Nagi und fand in den stummen, bleichen Zügen und den bebenden Schultern seinen schlimmen Verdacht bestätigt. Sie mussten das hier schnellstens beenden. „Lasgo, hör auf damit!“, schrie Omi abrupt, bevor Schuldig ihn davon abhalten konnte, als er erkannte, was das Grollen war, doch der ältere Mann lächelte nur manisch. „Nein“, schüttelte der ältere Mann den Kopf, blind für das, was er in Gang gesetzt hatte und was unweigerlich passieren würde. „Das ist meine Rache. Das ist DEINE Rache, Omi. Die Rache deiner Mutter!“ Er grinste wild und das Grollen wurde lauter, wurde zu einem Beben, das den Keller erschütterte. Geschockt starrte Omi auf den Telekineten, der in den Händen seiner Häscher hing, das Gesicht tränenüberströmt, die Lippen zu einem stummen Schrei verzogen. Mit jeder Sekunde, in der Naoe sich mehr und mehr gegen die ihn steuernden Drogen wehrte, wurde das Beben intensiver, drängender und die Wände erzitterten gewaltiger unter der Wucht der auf sie einwirkenden Telekinese. ~Schuldig! Er wird uns alle umbringen!~, schrie Omi panisch in seinen Gedanken und die Anspannung des Telepathen war selbst über die Verbindung, die sie hatten, nur zu deutlich zu spüren. ~Ja, wird er. Hör zu, Kleiner. Du hast eine Chance, eine winzige. Crawford auch. Ich sage dir, wenn es soweit ist, was du zu tun hast.~ „Sir, wir sollten den Jungen betäuben“, merkte einer der Wachmänner an, doch da richtete Nagi auch schon seine Aufmerksamkeit auf den Mann, hob seine Hand und warf ihn wie eine Puppe wieder und wieder gegen die nächste Wand, bis nur noch ein blutiges Häufchen an menschlichem Fleisch zu sehen war, während seine Lippen zu einem stummen Schmerzensschrei verzogen waren. Omi würgte trocken und sah, wie der andere Wachmann – der Vernarbte – nicht lange fackelte und Lasgo aus dem Raum herauszog. Er warf die Tür hinter sich zu und ließ die drei alleine. Das Donnergrollen wurde lauter und fuhr Omi durch jeden Knochen in seinem Leib. Risse krochen die Wände entlang und ächzten unter der Last der Beanspruchung durch Nagis Kraft. Fliesen sprengten sich von den Wänden und die Decke stöhnte unter der Beanspruchung von Nagis Kraft. Das ganze Gebäude schien unter der Last der durchwirkenden Telekinese zu erzittern. „Tsuki…yono…“, hörte er Crawfords Stimme wie aus weiter Ferne, missachtete sie aber zugunsten Schuldigs mentaler Präsenz, die beinahe schon panisch in ihm kochte, als wenn seine eigene Angst und Panik noch nicht ausreichen würden. ~Greif dir Nagi, ziehe ihn so eng es geht an dich und bringe ihn so nahe Crawford heran, dass nichts mehr zwischen euch passt~, zischte Schuldig und Omi glaubte, dass der Deutsche den Verstand verloren hatte. Wenn er Naoe jetzt anfasste, würde dieser ihn umbringen, ganz sicher. Er wollte aufbegehren und den Telepathen davon überzeugen, dass sein Plan so nicht funktionierte, doch anstelle zu diskutieren, übernahm ihn Schuldig kurzerhand und kaum einen Augenblick später hatte er Naoe in den Armen, der nun so lauthals schrie, dass Omis Ohren klingelten. Er…oder Schuldig…zogen Naoe zu Crawford und kauerten sich zu ihm auf den Boden. Kurz war es verzweifelte Verwirrung, die er in den Augen des Amerikaners zu erkennen glaubte, dann presste er unter Schuldigs eiserner Kontrolle dessen Kopf ebenso wie Naoes und seinen eigenen gen Boden und warf sich auf die beiden, damit sein Körper den der Schwarz schützen konnte. Schuldig ließ ihn nicht los und opferte ihn, als die Decke herunterfiel und es nun Omi war, der schrie. Solange, bis ihn etwas am Kopf traf und gnädige Schwärze seine Angst und Panik vor einem qualvollen Tod… vor dem Tod überhaupt…auslöschten. ~~**~~ „Scheiße. Scheiße Scheiße Scheiße!“ Schuldig sprang auf und hielt sich keine Sekunde später aufjaulend die schmerzende Schulter, die wütend protestierte. Der blonde Weiß saß ihm am nächsten und hatte sich alarmiert in die Höhe geschraubt. Wild sah sich Schuldig um und hielt sich an den grünen Augen fest, die ihn im Hier und Jetzt verankerten, wo der Geist des Kleinen ihn herausgeworfen hatte. Beinahe schon verzweifelt bohrte er sein Hiersein in die Augen des Weiß. „Verfluchte, dreckige Scheiße!“, fluchte er weiter und starrte auf Youjis Hand, die ihn am unverletzten Oberarm gepackt hatte. Mit Gewalt machte er sich davon los und krallte seine Hand in seine Haare, beugte sich für einen Moment vorneüber um dem gewaltigen Kopfschmerz wie auch der aufwallenden Übelkeit zu entkommen. „Was ist los?“, hörte er verschwommen vor sich und blinzelte ein paar Mal erfolglos, um den Schwindel loszuwerden, der ihn überkommen hatte, als Tsukiyonos Bewusstseinsverlust einen guten Teil seiner Gabe mit sich gezogen hatte. Bewusstseinsverlust. Schuldig hoffte, dass dem wirklich so war und dass der Bewusstseinsverlust nicht eigentlich das Ableben des Weiß gewesen war. Zum jetzigen Zeitpunkt konnte er Letzteres nicht ausschließen und wenn es um Nagi ging, machte ihm das gleich doppelt soviel Angst. Langsam atmete Schuldig ein und aus, richtete sich noch viel langsamer wieder auf. Seine Hand zitterte, als er sie vage in Youjis Richtung ausstreckte. Sie konnten just in diesem Moment auf Kunstgegenstände und Zahlungen scheißen. Er brauchte keine weiteren Eindrücke, er brauchte nur Kontakte zur japanischen Wetterbehörde. Wenn es nicht schon zu spät war. „Gib mir dein Handy“, sagte er rau. „Such… such mir die Nummer von Manx…raus.“ „Warum sollte ich das tun?“, fragte dieser unsinniger Weiß und Schuldig schrie innerlich auf. „Gib es mir!“, fuhr er den anderen mit verzweifelten Zorn in der Stimme an, doch anscheinend hatte Kudou gerade jetzt beschlossen, ein Rückgrat zu entwickeln. Auf die Wahl der unpassenden Momente konnte man bei Weiß vertrauen, doch dafür hatte Schuldig keine Zeit. Jede verdammte Sekunde zählte und die würde er nicht an Weiß verschenken, auf dass sein Team dort in diesem Trümmerhaufen starb. „Nicht bevor du mir sagst, was hier los ist.“ „Kudou, ich schwöre, ich bring dich heute noch um. Nagi hat gerade das Haus einstürzen lassen, in dem sie gefangen gehalten werden. Tsukiyono ist bewusstlos oder tot, was von beidem es ist, kann ich dir nicht sagen, da ich keine Verbindung mehr zu ihm habe im Moment. Mit deinem Scheiß Handy werde ich eure Agentin anrufen, damit DIE die japanische Wetterbehörde kontaktiert. Das ist unsere Chance herauszufinden, wo es gerade ungewöhnliche seismologische Ausschläge gegeben hat. Und erspar dir und mir, die verdammten Kontakte Kritikers zur Wetterbehörde zu verneinen und sei wenigstens einmal nützlich in deinem erbärmlichen Leben.“ Der Schock im Gesicht des Weiß ließ ihm jedwede Farbe aus der Haut weichen. Bleich und mit geweiteten Augen verlor er wertvolle Sekunden, als er Schuldig anstarrte, aber reichte ihm schließlich stumm sein Handy, die Agentin bereits auf Kurzwahl. Schuldig drehte sich tief einatmend zum Fenster und starrte nach draußen. Zweimal klingelte es, dann nahm Manx ab. „Ja?“ Kurz angebunden und immer noch wütend, befand er, nicht, dass es ihn im Geringsten interessierte. „Nimm Kontakt auf zur Wetterbehörde. Sie sollen die vergangenen fünfzehn Minuten auf eine ungewöhnlich starke seismische Aktivität in Japan prüfen.“ „Schuldig…?“ „Tu was ich dir sage“, knurrte Schuldig. „Prodigys Kraft hat sich gezeigt und das aller Wahrscheinlichkeit zum letalen Nachteil Tsukiyonos. Wenn du den Kleinen nicht sterben lassen willst, dann hörst du auf, wie Balinese dumme Frage zu stellen und machst, was ich dir sage.“ Für exakt fünf Sekunden herrschte Stille in der Leitung „Ich melde mich.“ Sie legte auf und Schuldig sackte in sich zusammen. Wenigstens einer in diesem Möchtegerngeheimdienst hatte so etwas wie Intelligenz aufzuweisen. Youji hatte inzwischen sein Team geholt, das im Nebenzimmer die Auswertung der Unterlagen vorangetrieben hatte. Schuldig hätte ihnen in ihre besorgten Gesichter kotzen können, so sehr widerte ihn der Teamzusammenhalt von Weiß an, der ihm seit ein paar Wochen verwehrt blieb, weil das Orakel nicht das tat, was es tun sollte. Sie sollten die Starken und nicht auf Hilfe angewiesen sein. Nicht Weiß. Sie. Das Glas Wasser, das ihm Fujimiya entgegenstreckte, hatte er nicht erwartet und fast hätte es Schuldig ihm aus der Hand geschlagen. Wütend starrte er den rothaarigen Mann an und erst die Ruhe des Anführers von Weiß ließ ihn das Wasser schlussendlich unwirsch entgegennehmen. „Also?“, trug sich Abyssinians ruhige Stimme zu ihm und für einen Moment erlaubte sich Schuldig die irrwitzige Vorstellung, die Ruhe des Weiß würde ein Spiegelbild der Ruhe seines eigenen Anführers sein. Er labte sich daran. Er beruhigte sich damit. „Lasgo hat Prodigy so sehr gereizt, dass dieser das ganze Haus in Schutt und Asche gelegt hat. Mit welchen Ausmaßen und welchen Überlebenden, das kann ich noch nicht sagen. Die Verbindung zu eurem Teammitglied ist abgerissen. Das kann Bewusstlosigkeit oder eben auch den Tod bedeuten“, fasste Schuldig all das, was gerade in ihm schwelte, kurz und prägnant zusammen, als würde er nicht gerade rasende Angst um die Hälfte seines Teams haben. Er hoffte, konnte nur hoffen, dass sein Plan, Nagi und Brad so nah aneinander zu bringen, dass sie durch Nagis Schild geschützt wurden, Erfolg hatte. Groß waren sie nicht, denn Nagi musste sich dafür bewusst sein, was er tat und das, was er in Tsukiyonos Gedanken gesehen hatte, war vieles, aber kein bewusstes Denken gewesen. Doch keine großen Chancen waren immerhin noch besser als gar keine. „Und jetzt?“ „Jetzt heißt es warten. Eine solche Eruption telekinetischer Kraft zeigt sich als eine Art unerwartetes lokales Erdbeben auf der entsprechenden Skala. Die Wetterbehörde wird darüber in den nächsten Momenten informiert werden. Und mit ihr hoffentlich eure rothaarige Agentin. Sobald sie das Erdbeben lokalisieren können, haben wir sie und können sie da rausholen. Hoffentlich.“ Drei Augenpaare starrten ihn entsetzt an, unfähig, etwas zu sagen und Schuldig grollte unwirsch. Lieber drehte er sich da wieder zum Fenster und verlor sich in den Menschenmassen, die sich durch die Straßen schoben. Mit seinem Team wäre das nicht passiert. Schwarz hätte gewusst, was zu tun war, Schwarz hätte nicht warten müssen um zu handeln. Doch er musste nun ausharren und warten, dass diese…Menschen…unfähigen Kritikermitarbeiter…endlich handelten. Verfluchte Scheiße, er würde sie alle umbringen, wenn das hier vorbei war. Wenn. Was, wenn Nagi und Brad dort gestorben waren?, geisterte die Frage in seinen Gedanken, die ihm am Meisten Angst machte. Unangenehme, angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Keiner von ihnen sagte ein Wort, keiner von ihnen wagte es, zuerst die Stimme zu erheben. Schuldig konnte die Angst beinahe riechen und auf der Zunge schmecken, so dicht waberte das Gefühl in dem kleinen Wohnzimmer und fand seinen Höhepunkt im Klingeln von Kudous Handy. Bevor Schuldig abnehmen konnte, hatte der Weiß es ihm aus den klammen Fingern gerissen und für einen Moment überlegte Schuldig, den anderen Mann dafür einfach zu zerreißen. Er ließ von dem Gedanken ab. „Manx?“, fragte Kudou atemlos nach und presste das Handy gegen sein Ohr, so als würde es niemanden sonst interessieren, was mit ihrem Taktiker geschehen war. „Die Wetterbehörde konnte in der Tat ein ungewöhnliches Erdbeben lokalisieren. Präfektur Tokyo, in der Nähe von Ōme. Ich habe das nächstgelegene Team mit Krankenwagen, Notarzt und Geleitschutz dorthin befohlen. Sie holen sie und bringen sie nach Tokyo.“ Schuldig las eher aus Gewohnheit in den Gedanken des Weiß mit und wurde mit dessen Erleichterung überflutet; angewidert zog er sich zurück. Bevor er sich allerdings das Handy aneignen konnte, war es Manx, die ihn zu sprechen wünschte. „Es bietet sich nicht an, dass ihr dorthin kommt. Nicht in dem geschwächten Zustand und nicht mit der Zielscheibe, die ihr momentan auf euch habt“, sagte sie ihm und Schuldig presste das Telefon erbittert an sein Ohr. „Ich habe alle verfügbaren Kräfte dahin abkommandiert. Die Frage ist jedoch, wie wir mit eurem Telekineten umgehen sollen. Ich riskiere meine Leute nicht, um euch zu retten, damit er sie alle aus Panik umbringt.“ Die Drohung in ihren Worten war klar und deutlich zu hören. Entweder, er brachte ihr jetzt, in diesem Augenblick eine Lösung für einen unberechenbaren Telekineten oder sie würde ihn erschießen lassen, bevor er eingreifen konnte. Schuldig fluchte innerlich. „Sediert ihn mit allem, was ihr habt. Dann sollte er transportfähig sein. Sobald er in Tokyo ist, werde ich mich um ihn kümmern, ich bin in der Lage, ihn solange ruhig zu halten, bis er aus Versehen oder Angst niemanden mehr umbringt.“ Manx durchdachte das für eine lange Zeit und Schweigen beherrschte die Leitung. Dann schnaubte sie. Sie wollte, dass Schuldig ihr Schwäche von Schwarz preisgab? Das konnte sie haben…aber es hatte seinen Preis. Er würde Nagi nicht in ihren Klauen belassen. „Gut. Machen wir es so. Ich melde mich. Weiß soll sich bereithalten um zum nächstmöglichen Zeitpunkt in die Klinik zu kommen, in die wir sie bringen werden. Du wirst sie begleiten.“ Oh wie sehr würde Schuldig es lieben, diesen Befehl an Weiß weiter zu geben und zu wissen, dass sie ihm gehorchen würden. ~~**~~ Der Bericht, der auf ihrem Tisch lag, verhieß nichts Gutes. Seismische Werte ausgedrückt in Zahlen und Diagrammen, Tabellen und Statistiken sagten alles aus, was sie wissen musste. Sie schaute auf die Uhrzeit der Aktivität und rechnete nach. Vor dreißig Minuten hatte es die Anomalie gegeben. „Das ansässige Team?“ „Bisher gab es keinen Bericht und keine Vorwarnung.“ „Kontaktieren Sie das örtliche Team und weisen Sie auf das notwendige Protokoll hin.“ „Sehr wohl, Mylady.“ Bevor ihr Assistent das Büro verlassen und zum Hörer greifen konnte, klingelte ihr eigenes Telefon und stirnrunzelnd sah sie auf die Nummer. Sie kannte die Nummer, die anrief, nicht und ihre Nummer wiederum war nur denjenigen bekannt, die sie auch wirklich benötigten. Wortlos hob sie die Augenbraue und nahm schweigend ab. „Es ist Zeit“, drang eine raue Stimme an ihr Ohr, die sie jederzeit erkennen würde. Unter tausenden. „Das ist nicht deine Nummer“, erwiderte sie und erntete ein kehliges Lachen. Ansonsten blieb der Anrufer ihr eine Antwort schuldig. „Sie hat sich gezeigt und ist nun lokalisierbar.“ Sie. Die Gabe des jungen Telekineten. „Warum kontaktierst du mich in dieser Angelegenheit, Berserker?“ „Weil es der Kronprinz versäumt hat.“ Schweigend wartete sie auf eine Ausführung der knappen Worte, doch die folgte nicht. Sie folgte nie, denn der Mann am anderen Ende der Leitung erläuterte nichts, was unnötig war. Der Mann am anderen Ende der Leitung kannte sie und er wusste, dass sie sich die Informationen auf eine Weise holen würde, die Worte überflüssig machten. Also schwieg er. Sie tat ihm den Gefallen und richtete ihren Blick aus dem Fenster ihres Büros. Nach und nach verlor sie ihren Fokus und ging auf die Suche nach ihm und seinen Gedanken, die er ihr zielsicher entgegenstreckte und geduldig darauf wartete, dass sie durch die Fäden angezogen wurde, die er für sie bereithielt. Lange brauchte sie nicht dazu, doch das, was sie sah, überraschte sie. Sie musste gestehen, dass er jede Einzelne ihrer Erwartungen übertraf und enttäuschte gleichzeitig. Sie sah die Unmöglichkeit. Sie sah das Undenkbare. Sie sah Handlungsbedarf. „Ich verstehe“, sagte sie in den Hörer, auch wenn Berserker ihre Gedanken bereits gelesen hatte. „Ich werde da sein“, erwiderte er und legte auf, bevor sie es tun konnte und langsam wandte sich die Dame des Hauses an ihren Assistenten. Ihr Blick verhieß nichts Gutes, ganz im Gegenteil und jemand, der nicht bereits seit zwanzig Jahren mit ihr zusammenarbeitete, wäre vielleicht geflohen vor dem Ausdruck in den wissenden Augen. Doch nicht Thomas. Thomas hielt ihrem Blick zwar nicht stand, aber er wusste was zu tun war. „Ich wünsche den Jet startbereit. Wir fliegen nach Japan“, sagte sie mit eiserner, kühler Ruhe. ~~**~~ Die medizinische Einrichtung von Kritiker, in die sie Omi und die beiden Schwarz gebracht hatten, versteckte sich hinter einer unscheinbaren Fassade inmitten der Stadt. Die Fassade war verspiegelt und von außen nicht einsehbar, der Name eines medizinischen Scheinkonzerns prankte außen in schlichten Lettern und erhellte den dunklen Bürgersteig vor dem Gebäude. Niemand von ihnen, auch Schuldig nicht, hatte in Frage gestellt, ob die Adresse, die die Kritikeragentin ihnen gegeben hatte, eine Falle war. Die Dame am Empfang lächelte freundlich, als sie das Gebäude betraten. Das Lächeln erstarb, als sie Schuldig ansichtig wurde, den sie mit vollendeter japanischer, vorgetäuschter Höflichkeit maß. Alter Hass ließ sich nicht von jetzt auf gleich auslöschen und das war in dem ganzen Chaos, das sie umgab, etwas seltsam Tröstliches, befand Aya. „Meine Herren, Sie werden bereits erwartet“, nickte sie und überreichte jedem von ihnen einen Besucherausweis mit Zutrittskarte für die entsprechende Etage und den entsprechenden Fahrstuhl. „Fahrstuhl drei, bitte. Auf der Ebene zehn befindet sich die Krankenstation“, präzisierte sie und wies ihnen den Weg. Schweigend folgte die bunt durcheinander gewürfelte Gruppe ihren Anweisungen und fuhr in den zehnten Stock. Aya beobachtete dabei, wie Youji nervös seine Finger knetete und immer wieder über seine Uhr strich. Ken schnippte, seitdem sie im Auto saßen, ununterbrochen lautlos mit seinen verborgenen Klauen. Schuldig starrte mit seinem Blick Löcher in die Luft und spießte alles auf, was ihm nicht aus dem Weg ging. Wenn Aya es nicht besser wusste, hätte er vermutet, dass der Telepath Angst hatte. Angst und Schuldig waren bis vor zwei Tagen ein absolutes Gegensatzpaar für ihn gewesen, doch nun konnte er die Reaktion des Telepathen nur zu sehr nachvollziehen. Er verstand, dass Schuldig Angst um sein Team hatte, vermutlich die gleiche Angst, die sie auch um Omi hatten. Sie wussten nicht, was sie erwarten würde. Manx hatte ihnen am Telefon nichts verraten, doch ihre Stimme hatte eben jenen gestressten Unterton inne gehabt, den Aya bei ihr immer nur dann heraushörte, wenn sie sich große Sorgen machte. Er ahnte nichts Gutes, doch er hoffte, dass sie es ihnen bereits gesagt hätte, wenn jemand der drei verstorben wäre. Wenn Omi verstorben wäre. Gerade dann. Aya umfasste den Griff seines Schwertes enger. Das Leder seiner Handschuhe knirschte vertraut. Er hatte seinen Mantel angelegt, weil er auf einer Mission war. Das hier war nichts Anderes als ein Auftrag, der ihn zurücktreiben würde in die Hände von Kritiker. Doch das war ihm Recht, wenn er dadurch nur Klarheit erlangte, was mit Omi war. Und dem Amerikaner. Verzweifelt klammerte er sich an jede Hoffnung, die sich ihm bot. An jeden Talisman, den er auch nur im Entferntesten als solchen identifizierte. Der Flur, den sie nun betraten, wurde von einem dutzend Agenten mit schweren Waffen bewacht und Aya hätte schwören können, dass die Besucher im Aufenthaltsbereich ebenfalls Agenten in zivil waren. Ein unterschwelliger Geruch von Desinfektionsmitteln waberte in der Luft. Leise drangen Geräusche medizinischer Geräte und menschlicher Gespräche zu ihm, ohne dass er Worte ausmachen konnte. „Meine Herren.“ Aya schreckte hoch und sah sich einem älteren Mann japanischer Abstammung gegenüber, die Haare kurz geschoren, das spitze Kinn von einem Bart verdeckt. „Harano Akio, ich bin der behandelnde Arzt der Herren, die heute Abend eingeliefert wurden. Manx-sama teilte mir mit, dass Sie kämen und bat mich, Sie in Empfang zu nehmen. Ich heiße Sie willkommen und möchte Sie bitten, mir in mein Sprechzimmer zu folgen.“ Aya nickte, machte die Rechnung jedoch ohne Schuldig, dessen unwirsches und verächtliches Grollen durch den gedämpft beschallten Gang hallte. „Ich will sie sehen. Jetzt.“ Die letale Drohung in seinen Worten war immanent und die Augen des Deutschen sagten nichts Anderes als dass er den Arzt bei einer Weigerung mental auseinanderreißen würde. Dr. Harano drehte sich zu ihm und maß ihn ernst. „Die Mitglieder Ihres Teams werden momentan medizinisch behandelt. Beide leben. Wir führen allerdings noch diverse Tests und Untersuchungen durch, die uns helfen werden, zielgerichtete Maßnahmen zu ergreifen, die ihr Überleben sicherstellen. Zudem gibt es einige Wunden zu versorgen“, erwiderte er und tippte sich dann an die Schläfe. „Lesen Sie bitte meine Gedanken, wenn Sie mir nicht glauben.“ Er neigte den Kopf. „Es ist notwendig, dass Sie uns noch ein wenig Zeit geben, damit wir Ihr Team adäquat versorgen können und das ist, so sehr ich das auch bedauere, nicht verhandelbar.“ Soviel Selbstbeherrschung musste Aya Schuldig lassen: der Arzt starb nicht auf der Stelle. Anstelle dessen knurrte der Schwarz abgrundtief böse und nur seine eigene Hand auf dem gesunden Oberarm des Telepathen hielt diesen davon ab, zuzuschlagen. Warnend drückte Aya zu. „Warum sollte ich jemanden aus Ihrem stümperhaften, medizinischen Team an Schwarz heranlassen und zulassen, dass Sie sie auch nur anfassen um sie zu behandeln?“ Aya rollte mit den Augen und setzte schon zu bitterbösen Worten an, als Dr. Harano die weitaus bessere Antwort hatte, als er sie jemals hätte haben können. „Weil es mein Auftrag ist, eben dies zu tun und ich gedenke, diesen Auftrag zu erfüllen, Schuldig-san. Ich würde Sie daher erneut bitten, mir bei der Erfüllung meines Auftrages nicht in die Quere zu kommen.“ Es mochten die ruhigen Worte sein, oder aber die Wahrheit, die Schuldig in den Augen und Gedanken des Arztes las, aber schlussendlich stimmte er zähneknirschend zu. Gemeinsam gingen sie in das Büro des älteren Mannes, der sie nun hieß, auf den durchaus bequemen Besuchersesseln Platz zu nehmen, die keiner von ihnen richtig zu schätzen wusste. Schuldig blieb bei der Tür stehen, Ken tat es ihm gleich. Nur Youji und er setzten sich hin, der Höflichkeit halber. Angespannt lauschten sie seinen Worten und den Beschreibungen der Verletzungen, die er dezidiert mit ihnen durchging. Omi hatte es nicht so schwer erwischt wie Crawford. Crawford hingegen war glimpflicher davon gekommen als Naoe. Naoe hatte es am Schlimmsten getroffen und es stand noch nicht fest, welchen Schaden die Drogen in seinem Blut bei ihm angerichtet hatten. Worte wie Mangelernährung und Dehydrierung waren noch das Harmloseste, das Harano mit ihnen durchging. Schnittwunden, Prellungen, Quetschungen, Traumata… „Bitte warten Sie hier, ich lasse sie sofort rufen, wenn Sie zu Ihrem Team, Verzeihung, zu Ihren Teams können“, schloss Dr. Harano, indem er die Akte zusammenklappte, aus der er gerade berichtet hatte. „Ich verspreche Ihnen, wir werden alle tun, was in unserer Macht steht, damit es den Herren wieder gut geht. Ich werde derweil Manx-sama Bescheid geben, dass Sie da sind. Sie wird Sie sicherlich sehen wollen.“ Aya blinzelte nur und nickte betäubt. Sie waren hier, das war gut. Omi war in Sicherheit. Das war ebenso gut. Aber was war mit dem eigentlichen Problem? War Lasgo tot? Wenn ja, was würde dann mit Schwarz passieren? Was passierte mit ihnen, nun da sie hier waren? Manx hatte ihren Verrat sicherlich noch lebhaft vor Augen. Aya machte sich keine Illusionen darüber, dass die Agentin sie durchaus angelogen haben könnte und nun die Gelegenheit nutzte, sich des feindlichen Teams zu entledigen. Niemand der anwesenden Schwarz war momentan in der Lage, mehr als ein Kritikerteam aufzuhalten. Dessen war sich auch Schuldig bewusst, wenn er sich den Telepathen und dessen Beißreflex in jede Richtung ansah. Auch oder gerade in Richtung Manx, die nun den Raum betrat und sie alle kühl musterte. Aya machte sich bewusst, dass nichts von dem, was sie getan hatten, vergessen war, ungeachtet der Tatsache, dass sie in den letzten Tagen zusammengearbeitet hatten. „Weiß, Mastermind, nehmt bitte Platz. Ja, auch du, Mastermind“, erwiderte sie mit der emotionslosen Stärke, die sie alle hier dringend nötig hatten, wenn sie klar denken wollten. Aya folgte ihrem Wunsch und ließ sich auf einen der Stühle nahe des Schreibtisches nieder, während Youji sich auf die Couch fläzte und müßig mit dem Draht seiner Uhr spielte, den Blick unablässig auf Schuldig gerichtet, der unweit von ihm auf einem Sessel Platz genommen hatte. Manx überging das infantile Gehabe und lehnte sich an den Schreibtisch, nahm sich einen schwarzen Kaffee. „Dr. Harano hat euch so eben bereits über den Gesundheitszustand von Bombay, Prodigy und des Orakels in Kenntnis gesetzt. Wie es scheint, wurde das Anwesen, in dem sie festgehalten worden sind, sowie der direkte Umkreis des Anwesens vollständig zerstört. Wir untersuchen in Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden, die uns unterstellt sind, gerade die Trümmerteile auf Überlebende oder weitere Leichen. Ich gehe davon aus, dass es noch zwei oder mehr Tage dauern wird. Gleichwohl habe ich die Bewachung dieses Gebäudes auf ein Maximum hochfahren lassen und werde euch ebenso einteilen, die verwundeten Personen zu schützen, bis wir die Sicherheit haben, dass Lasgo und seine Männer tot sind.“ Der rothaarige Weiß runzelte die Stirn. „Warum diese hohen Sicherheitsmaßnahmen?“ „Die Daten, die ihr uns geschickt habt, weisen auf eine Verbindung zwischen Takatoris Firma und Lasgo hin. Wenn er tatsächlich den Schutz des korrupten Politikers genießen sollte, dann werden wir mit Problemen rechnen müssen.“ Ihr Blick ruhte vielsagend auf Schuldig, der die Zähne bleckte. „Wag es ja nicht, Schwarz zu unterstellen, wir würden mit diesem Abschaum paktieren, Rote.“ „Tut ihr doch. Oder ist Takatori etwa kein Abschaum?“, spottete Youji, doch der Spott perlte an eiskalten, blauen Augen ab, die sich seltsamerweise nichtssagend und verschlossen in die Seinen bohrten. „Balinese!“ Selbstgefällig lehnte sich Youji zurück. Sein Blick ruhte auf Manx, die ihm nonverbal zu verstehen gab, dass es keine gute Idee wäre, sie noch weiter mit unnötigen Streitereien zu belästigen. Aya war da ganz bei ihrer Agentin. „Solange wir keine gesicherten Erkenntnisse über den Tod des Mannes sowie über die Verbindungen, die er zu anderen politisch engagierten Personen pflegt, haben, können wir davon ausgehen, dass Bombay, Prodigy und das Orakel weiterhin in Gefahr sind. Eine Schwächung von Weiß über das bisher erfolgte Maß ist inakzeptabel, eine Schwächung von Schwarz unter diesen Umständen ebenfalls nicht hinnehmbar. Soweit einverstanden?“ Sie nickten und Manx nahm sich Zeit mit den nächsten Schlucken Kaffee, scheinbar in Gedanken bei einer äußerst bitteren Pille, die sie bereits geschluckt hatte und nun mit ihnen teilen würde. Aya kannte diesen Gesichtsausdruck. „Siberian, Balinese, Abyssinian, ungeachtet des noch schwebenden Verfahrens gegen euch, versetze ich euch hiermit wieder in den aktiven Status. Mastermind, unseren Handel erweitere ich auf die nächsten vier Tage und unterstelle Schwarz der Protektion von Kritiker für eben jenen Zeitraum. Nach Ablauf der vier Tage wird neu verhandelt. Einwände?“ „Keine“, stimmte Schuldig knapp zu und Manx nickte. „Dann ist es beschlossen. Mastermind, du wirst dich um Prodigy kümmern, damit die Ärzte ungestört die Drogen aus seinem Blutkreis waschen können. Du wirst ihn bewachen und notfalls mithilfe deiner Telepathie eingreifen, sollte das notwendig werden. Balinese und Siberian, ihr kümmert euch um Bombay. Abyssinian, du bewachst das Orakel.“ Aya blinzelte überrascht und runzelte fragend die Stirn. Es stand außer Frage, dass sie sich auf dem Prüfstand befanden, es war ihm jedoch schleierhaft, warum ausgerechnet er Crawfords Babysitter sein sollte. Als er Einspruch gegen ihre Anweisung erheben wollte, hob sie die Augenbraue und schüttelte warnend den Kopf. „Keine Widerworte, Abyssinian. Meine Geduld mit dir ist am Ende und ich werde kein weiteres Hinterfragen meiner Anweisungen dulden. Hast du das verstanden?“, fragte Manx lauernd und Aya schluckte. Stumm nickte er. Crawford also. „Machen wir so“, stimmte Ken zu und ein vorsichtig optimistisches Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Wir schaffen das. Wäre doch gelacht, wenn uns das bisschen Chaos kleinkriegt.“ Alle, einschließlich Manx starrten Ken an, als hätte er den Verstand verloren mit all seinem Optimismus. Schuldig vergrub sein Gesicht in seiner gesunden Hand und schüttelte schweigend den Kopf, winkte dann wortlos ab, bevor er den Raum verließ um ungehindert zu seinem Telekineten zu kommen. ~~**~~ Als ihn die allumfassende und erlösende Dunkelheit losließ und ihn erneut einer schmerzenden Welt preisgab, wehrte er sich dagegen. Schwach zunächst und als das nichts half schließlich immer stärker. Er wollte das nicht, er wollte zurück in die sichere, schmerzlose Schwärze. Er wollte nicht zu sich kommen und feststellen, dass er immer noch in dem fensterlosen Keller kniete, oder dass er unter Lasgo lag und dieser in ihn stieß. Oder auch, dass Lasgo über ihn herfiel und dass dieser Nagi dazu zwang, es ihm gleich zu tun. Er wollte nicht zu sich kommen und feststellen, dass er immer noch in diesem Keller kniete und dass sein Körper eine Kakophonie der Schmerzen anstimmte, sobald er aus der willkommenen Schwärze auftauchte. Er wusste nicht, wie lange er noch stark genug sein konnte um das zu ertragen. Doch sein Geist gönnte ihm diese Art der Erholung nicht, als er ihn beharrlich in die Welt der Wachen zog. Langsam öffnete Crawford die Augen, auf alles gefasst, doch zunächst war da nichts. Für einen Moment befürchtete er, dass Lasgo ihm schon wie zuvor sein Augenlicht genommen hatte, doch dann fiel sein Blick auf den Schein einer kleinen Nachttischleuchte, die das Zimmer, in dem er lag, in ein angenehmes Licht tauchte. Darüber hinaus war es dunkel. Crawford blinzelte. Die Fenster verkündeten, dass es draußen dunkel war. Dunkel. Er befand sich nicht mehr in dem unerträglich hellen, fensterlosen Keller. Sich still verhaltend machte er eine Bestandsaufnahme seines Körpers, so wie es ihm bei Rosenkreuz vor langer Zeit beigebracht worden war. Nach wie vielen Tagen nun konnte er seine Hände wieder sehen? Crawford wusste es nicht, aber die fachmännisch bandagierten Handgelenke und Handflächen bis hin zu den Fingern mussten wohl ihm gehören. Er lag auf der Seite in einem bequemen Bett, eine Decke war über seinem ungefesselten Körper ausgebreitet und sorgte für wohlige Wärme, die ihm aber bei weitem noch nicht genug war nach der inneren wie äußeren Kälte des Kellers. Dumpfer Schmerz durchzog ihn, insbesondere von seinem Rücken und seinen Schultern ausgehend. In seinem Handrücken steckte eine Nadel, ein Zugang, der ihn mit irgendeiner Flüssigkeit und Schmerzmitteln versorgte und wenn er sich nicht täuschte, roch es um ihn herum antiseptisch…nach Krankenhaus Er ließ seine Augen über den Raum schweifen und blieb mit einem Ruck an der Gestalt hängen, die neben der Nachttischlampe in einem Sessel saß. Das Gold des schmalen, langen Ohrrings schimmerte im Schein des Lichts, das Rot der Haare war nicht mehr als ein dunkler Schimmer vor dem Hintergrund der Fensterfront. Die Augen, die gerade noch die Zeitschrift auf den Oberschenkeln studiert hatten, krochen nun hoch zu ihm und stumm begegneten sich ihre Blicke. Crawford sah, dass das Katana des Weiß an dessen Lehne ruhte, ein stetiger Begleiter des Sensenmannes. Trotzdem war es Erleichterung, die ihn durchfloss, unbändige, bodenlose Erleichterung. Wieder einmal waren Rettung und Sicherheit verknüpft mit dem Erscheinen des Japaners. Wieder einmal beendete der Weißanführer das, was er selbst nicht hatte beenden können. Wieder einmal versprach die Anwesenheit des Mannes Besserung, auf die er kaum zu hoffen wagte und die dennoch greifbar in seiner Nähe schwelte. „Du bist in Sicherheit“, trug sich der ruhige Bariton Fujimiyas zu ihm und war Verheißung wie Begrüßung zugleich. Crawford schloss für einen kurzen Moment die Augen vor der Wucht seiner widerstreitenden Gefühle. In Sicherheit, erneut gerettet durch Fujimiya. Das war bitter. Das war beruhigend. Es war alles zugleich, mutmaßte sein träger Verstand. Doch irgendetwas an diesem Gedanken war falsch und für einen Moment lang war Crawford sich nicht sicher, warum. Dann jedoch kamen sie, die Erinnerungen, die sich bisher zurückgehalten hatten. Nagis Zusammenbruch, die Wellen der Telekinese, die das Gebäude erschüttert hatten, das schließlich über ihnen zusammengebrochen war. Er erinnerte sich an den reißenden Schmerz und die darauffolgende Schwärze, die ihm jedes Denken genommen hatte. „Wo…?“, fragte er wispernd, da seine Stimme zu nicht mehr fähig war. Selbst dieses eine Wort bereitete ihm ungeahnte Probleme und ließ ihn trocken husten. Gepeinigt schloss Crawford die Augen und war für einen Moment lang unaufmerksam genug, nicht zu sehen, wie Fujimiya sich bewegte. Als es ihm schließlich bewusst wurde, zuckte er brachial zusammen und ein instinktiver Laut irgendwo zwischen Angst und Schrecken entwich ihm, genauso, wie sein Körper versuchte, Abstand von Fujimiya zu gewinnen und an der eigenen Wundheit scheiterte. Überrascht maßen sie sich. Fujimiya, weil er mit einer solchen Reaktion anscheinend nicht gerechnet hatte. Crawford selbst, weil die Kontrolle, die er mühsam aufrecht zu erhalten versuchte, ihm aus den Fingern glitt wie Wasser. Wenn er sie denn überhaupt noch hatte. Oder jemals gehabt hatte. Ruhig hob der Weiß die Hände und deutete dann schließlich ebenso gelassen auf das Glas, das er langsam umfasste. „Ich möchte es dir geben. Kannst du dich aufsetzen?“, fragte Fujimiya in dieser immer noch seltsamen Ruhe, die durch alles drang, was seinen Fluchtinstinkt ausmachte, der, überschwemmt von Angst und geboren aus schlechten Erinnerungen, übermächtig zu werden drohte. Crawford versuchte es, doch noch nicht einmal dafür fand er die Stärke, so schüttelte er schließlich den Kopf. „Kannst du dich zurücklehnen?“ Das klappte besser, sodass Fujimiya das Glas Wasser vorsichtig an seine Lippen ansetzte. „Nein!“ Wieder waren es Crawfords Instinkte, die übernahmen und keine Zeit verloren, gegen die unwillkommenen Erinnerungen und das Glas Wasser, das soviel Schlimmes bedeuten würde, anzukämpfen. Eine seiner bandagierten Hände schoss vor und schlug dem anderen Mann das Glas aus den Händen. Das Wasser bespritzte sie beide und schickte das Glas erbost klirrend in eine der dunklen Ecken des Raumes. Überrascht starrte Fujimiya ihn an, ebenso überrascht keuchte Crawford auf, als Schmerz in seinem Rücken und seiner Hand explodierte. Zittrig atmete er ein und sah aus dem Augenwinkel, wie sich der Weiß langsam auf den Sessel setzte um Abstand zu gewinnen, die Hände erneut beschwichtigend erhoben. „Es war nur Wasser“, teilte ihm die ruhige Stimme mit und Crawford labte sich an der Ruhe, welche die anderen Momente durchdrang. Er erwiderte nichts, konnte aber auch seinen Blick nicht von dem Weiß nehmen, der den seinen, unsteten, ruhig erwiderte und der nach Augenblicken der Stille mit einem Stirnrunzeln hinter sich griff. Crawfords Aufmerksamkeit zuckte zu der Flasche, die er in den Händen hielt und fing sich an dem bunten, grellen Aufdruck. Irritiert wie auch vorsichtig hielt er inne, als Fujimiya die Augenbrauen hob. „Das ist kein Wasser“, stellte der Weiß ruhig in den angespannten Raum zwischen ihnen und Crawford wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Kaffee war es also dieses Mal nicht. „Ramune?“, wisperte er trocken und Fujimiya nickte. „Melone.“ „Ekelhaft.“ Fujimiya zuckte mit den Schultern und streckte ihm vorsichtig die Flasche entgegen. Crawfords Blick verhaftete sich darauf, bevor er einen weiteren Versuch unternahm, seine Hand zu heben. Zittrig und schwach schaffte er es und mithilfe von Fujimiyas Hand war es ihm sogar möglich, dieses widerwärtige Gebräu schlückchenweise zu trinken und dessen nasse Kühle seine Kehle hinunterrinnen zu lassen, die wie ausgetrocknet war. Erst, als die Flasche leer war, setzte er sie mithilfe des Japaners ab und sein Blick glitt von Fujimiya zu dessen Katana, als er das Wissen in den ruhigen Augen nicht mehr ertrug. „War das… meine Henkersmahlzeit? Bist…bist du hier, um zu vollenden, was du begonnen hast?“, krächzte er, anstelle sich über die Hilfsbereitschaft des Weiß Gedanken zu machen. Eben jener wusste nicht, was er meinte, so deutete Crawford mit seiner Hand unmerklich auf die Waffe. Mit seiner eigenen Hand… Seltsam fasziniert starrte er darauf, immer noch irritiert, dass er sie wieder sehen konnte, seine Hand, seine bandagierten Finger. Wie viele Tage war es nun her, dass er das letzte Mal ungefesselt gewesen war? Fujimiya folgte seinem Blick und schlussendlich war es Erkenntnis, die ihn die Augenbrauen heben ließ. Crawford sah, wie Erkenntnis und Erinnerungen über das Gesicht huschten und der Weiß schließlich den Kopf schüttelte. „Schuldig sagte, dass du nicht den Befehl gegeben hast, sie zu töten.“ Crawford musterte ihn und lauschte den gemäßigten Worten. Er erinnerte sich noch gut an das zornige Gesicht, an die Waffe, die ihn umbringen wollte. Wieso war der Hass verschwunden? Wieso war da nur Ruhe in den Augen des sonst so wütenden Japaners? Was entging ihm hier? „Was…ist passiert?“, versuchte er eben darauf eine Antwort zu erhalten und wurde mit einem abfälligen Schnauben belohnt, das er nicht zuordnen konnte. „Nachdem sie euch mitgenommen haben, haben wir Schuldig aufgelesen. Wir haben beschlossen, zusammen zu arbeiten um euch da raus zu holen. Wie erfolgreich das war, kannst du dir sicherlich vorstellen. Bevor wir große Fortschritte machen konnten, hat Omi Mastermind kontaktiert. Woraufhin wir euch über Umwege da rausholen konnten, nachdem Prodigys Kraft seismische Ausschläge bei der Wetterbehörde produziert hat.“ Wieder brauchte Crawford lange Momente, um den Ausführungen des Weiß zu folgen und sie auch nur ansatzweise zu verstehen. Frage um Frage tat sich hier auf und er wusste nicht recht, ob er auf alle Fragen auch eine Antwort haben wollte. Doch eine brannte ihm unter den Nägeln, eine wollte er beantwortet wissen. „Nagi…lebt…er?“ Aya nickte und Crawford schloss erleichtert die Augen. Also war das, was er in den letzten Momenten gesehen hatte, doch Schuldigs Wirken gewesen. Tsukiyono hatte tatsächlich Kontakt aufgenommen. Er hätte es nicht gedacht. Ebenso wenig wie er gedacht hätte, da lebend heraus zu kommen. Oder jemals wieder den fahlen Eindruck von Freiheit zu gewinnen. „Was ist mit Schuldig?“, fragte er schließlich um sich von der Angst abzulenken, dass all das hier nur ein schöner Schein war, ein Traum, der zerplatzen würde. „Er hat eine ausgerenkte Schulter, ein angebrochenes Nasenbein und sehr unter dem Spott meines Teams zu leiden gehabt in den letzten Tagen“, troff die Stimme des Japaners nur so vor zufriedenem Amüsement. Überrascht maß Crawford den Weiß. „Ihr habt ihn leben lassen.“ Die unausgesprochene Frage nach dem Warum hing zwischen ihnen in der Luft ohne dass Fujimiya die Güte besaß, sie zu beantworten. Zunächst. Crawford erkannte den selbstironischen Zug um die Mundwinkel des Weiß und die Bitterkeit, die dahintersteckte. „Aus genau dem gleichen Grund, aus dem du dich hier in einer medizinischen Einrichtung von Kritiker befindest. Um euch zu finden und euch den Arsch zu retten.“ Nun war es an Crawford, trotz seines Schmerzes amüsiert zu schnauben. „Immer noch der gleiche strahlend weiße Ritter“, wisperte er. Nur, dass der strahlend weiße Ritter es sich wiederholt nicht nehmen ließ, ihn zu retten. „Nicht nur. Ihr untersteht für die nächsten vier Tage dem Schutz von Kritiker, danach wird neu verhandelt. Was genau verhandelt werden wird, kann ich dir nicht sagen, ich gehe aber davon aus, dass Manx noch einmal auf dich zutreten und dir ein Angebot machen wird.“ „Und das Angebot lautet dann ‚diene oder werde getötet‘?“ Eben jenes Angebot vermutlich, dass sie ihm gemacht hätten, wenn Fujimiya ihn schon nach seinem ersten Aufenthalt in den Fängen des Drogenhändlers zu Kritiker verfrachtet hätte. Wenn es sowieso unabwendbar war, wieso hatte er sich dann dagegen gewehrt, fragte er sich in einem Anflug von nutzlosem Selbstmitleid. „Das weiß ich nicht.“ Crawford schwieg dazu. Es waren zu viele Informationen, die er erst einmal verarbeiten musste. So viel, was einfach nicht sein durfte, nicht sein konnte und doch war. „Wie geht es Nagi?“ „Er wurde großflächig am Rücken verwundet, außerdem haben die Drogen, die ihm verabreicht wurden, seinem Körper geschadet. Sie versuchen gerade, sein Blut zu reinigen um ihn zu stabilisieren und ihn aus der Bewusstlosigkeit zu holen. Aber sie sind optimistisch. Schuldig ist bei ihm, für den Fall der Fälle.“ Crawford konzentrierte sich erneut auf seine Hände, als würde ihm das Kraft geben. Er war Schuld. Er war derjenige, die Nagi in die Hände des Monsters getrieben und ihm das angetan hatte. Er hatte sein Team zerstört durch sein Handeln. Niemand sonst, nur er. Und dafür hatte sich Nagi ausgiebig gerächt. Crawford schauderte. Zitternd vor innerer wie äußerer Kälte zog er sich vorsichtig die Decke weiter über seinen Körper, als könne er sich so vor den blutigen, brutalen Erinnerungen schützen. „Wo ist Jei?“ Fujimiya zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht, er kommt und geht, wie er es will. Pläne kennt er nicht und offen gesprochen hat er uns vermutlich mehr in die Scheiße hineingeritten, als uns lieb war, als er Manx mit seinem Messer bedroht hat.“ Crawford runzelte die Stirn. „Was heißt das?“ „Er hat sie als Geisel genommen, während wir versucht haben mit ihr zu verhandeln. Er hat in ihr die rothaarige Protagonistin von Arielle gesehen und erst von ihr abgelassen, als sie sich selbst gerettet hat…sozusagen. Indem Ken ihr den Schlüssel für ihre Handschellen gegeben hat, damit sie sich selbst von ihnen befreien konnte.“ So sehr er auch versuchte, das Gesagte nachzuvollziehen, so wenig konnte er es. „Deine Worte…ergeben keinen Sinn…“, stellte Crawford irritiert fest und er versuchte noch einmal, die Situation zu analysieren. Ein aussichtsloses Unterfangen, stellte er fest. „Ja, ich weiß. Wir hatten sie entführt, in einen Kofferraum gesperrt und in eine verlassene Lagerhalle ausgesetzt, um mit ihr zu reden.“ „Gute…Grundvoraussetzungen. Funktioniert nur bedingt… wie du aus eigener Erfahrung weißt.“ Ein humorloses Schmunzeln geisterte über die Lippen des Japaners und er hob herausfordernd die Augenbraue. „Nicht die Besten, das gebe ich zu. Und genau genommen war Farfarello derjenige, der den Handel besiegelt hatte, dass die Reste von Weiß und Schwarz mit Kritiker zusammenarbeiten, damit wir euch retten konnten.“ Crawford runzelte die Stirn. „Ich träume…noch?“ Fujimiya schüttelte zu seinem Unbill den Kopf. „Ich fürchte nicht, Crawford.“ Einen langen Moment schwieg er und violetten Augen taxierten ihn. Auch ohne seine brachliegende Gabe wusste Crawford, welche Frage kommen würde. Er sah es in den Augen seines Gegenübers. Er wollte es nicht sehen, aber sie war da und lauerte nur darauf, hinausgelassen zu werden, unsicher noch, ob er nun geschehen sollte. „Was ist passiert?“, fiel das Damoklesschwert auf ihn herab und Crawford verschloss seine Augen vor der Wahrheit und vor dem Anblick des Weiß, der diese Frage schon einmal gestellt hatte. Vor Wochen, einer Ewigkeit, die ihn so mühelos wieder eingeholt hatte. Crawford wollte nicht. Er konnte nicht. Warum sollte er auch? Was ging es den anderen Mann an? Nichts. Doch sein Schweigen hatte sie alle erst hierhin geführt, oder etwa nicht? Eher er sich es versah, suchte Crawford nach neutralen Worten für den Weiß, suchte nach einer Antwort, die er geben konnte. „Prodigy wurde unter Drogen gesetzt und dazu genutzt, seine Kraft gegen mich einzusetzen“, fand er schließlich das, was er preisgeben konnte, was neutral genug war, um nur wenig von dem Schmerz, der in ihm tobte, heraus zu lassen. „Hat Lasgo…“, begann Aya und Crawford öffnete abrupt die Augen, würgte ihn ab, wollte nicht hören, was der Rest der Frage war. „Nein! Nein… er hat nicht.“ Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Crawford, versunken in Erinnerungen, der Weiß anscheinend auf der Suche nach Formulierungen, die ihm Informationen geben würden, die aber neutral genug waren. „Wie…viele Tage sind seitdem…vergangen…?“, brach Crawford schließlich das Schweigen und Vorsicht begegnete ihm. Das Mitleid, was dahinter lauerte, wollte er nicht sehen. „Fünf.“ Wortlos starrte er den Weiß an. Fünf verfluchte Tage voller Gewalt und Folter, mit seinem Blut auf den weißen Fliesen des Kellers, hervorgebracht durch seinen eigenen Telekineten. „Was ist mit…mit…lebt er noch?“ Dass Fujimiya Probleme mit der Antwort hatte, sah Crawford auch im Schein der Dunkelheit. Es ließ einen kalten Schauer seinen wundheißen Rücken hinunterlaufen. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Wieso…? „Wir wissen es noch nicht. Kritiker sucht in dem Anwesen nach Überlebenden oder Leichen. Bis es geklärt ist, haben alle Verwundeten einen gesonderten Schutzstatus. Schuldig wacht über Naoe, Ken und Youji über Omi und ich bewache dich.“ „Deswegen das Katana?“ Der Weiß nickte und Crawford konnte die zarte Erleichterung nicht verneinen, der in ihm aufwallte. Er war bereit anzunehmen, dass all das ein gutes Ende nehmen würde. Vielleicht. „Bleibst du…hier…?“ Bevor Crawford sich fangen konnte, hatten die Worte seine Lippen verlassen und waberten zwischen ihnen, als könnten sie beide nichts damit anfangen. Er überraschte den Weiß damit, das sah er und für einen Moment lang befürchtete Crawford entgegen aller Vernunft ein Nein. Ein Nein sollte ihn nicht stören, schließlich war Fujimiya nichts weiter als sein Bewacher, dazu auserkoren, ihn daran zu hindern, von hier zu fliehen. Doch das Nicken des Weiß ließ ihn den Umstand vergessen, denn in seinem geschwächten und an der Grenze zur Verzweiflung tanzenden Verstand war eben jener die Quelle an Sicherheit, an der er sich just in diesem Moment festhalten konnte. So verwerflich und töricht das auch war. „Ja, ich bleibe hier. Schlaf. Dir kann nichts passieren.“ Es war überraschenderweise alles, was Crawfords gepeinigter Geist benötigte. Noch bevor er seinen Kopf wieder auf das Kissen gelegt hatte, war er bereits eingeschlafen. ~~**~~ Manx starrte auf ihr Telefon. Das schlichte, leise Ping der einkommenden Nachricht schien ihr zu wenig, zu ungenügend für das, was nun auf dem Display aufleuchtete. Von all den schlechten Nachrichten, die sie erhalten hatte, erhielt und auf die sie noch wartete, war das eindeutig diejenige, die sie am Wenigsten erwartet hatte. ‚Ein Treffen wird erbeten. 2d.1000pm R-C. AdjDdH‘, las sie und schluckte mühevoll. In zwei Tagen um 10:00 Uhr abends im Ritz-Carlton, einem der besten Hotels in Tokyo. Ein grauenvoller Platz um die Sicherheit des Kritikerchefs zu gewährleisten, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der momentanen Geschehnisse. Sie war versucht, die Bitte abzuschlagen, doch dann richteten sich ihre Gedanken auf die Patienten, die sie in ihrer Notfallstation aufgenommen und gesichert hatten. Natürlich hatte das Treffen etwas damit zu tun. Natürlich ging es da um Schwarz. Leise fluchend wählte sie Persers Nummer und überbrachte ihm die schlechten Neuigkeiten. Nach der Tatsache, dass sie am gestrigen Abend seinen Sohn entgegen aller Wahrscheinlichkeiten hatten lebend bergen konnten, war dies nun ungleich unschöner und Manx rieb sich müde die Nasenwurzel. Sie hatte seit 29 Stunden nicht mehr geschlafen und langsam machte es sich bemerkbar. „Ist das Anliegen authentifiziert?“, fragte Perser, nachdem sie ihm die Nachricht weitergeleitet hatte. „Ja. Es kam über die gesicherte Verbindung.“ „Und es ist definitiv die Dame des Hauses?“ „Ja. Ihr Adjutant hat die Bitte über den gesicherten Kanal verschickt. Seine Nummer liegt mir vor.“ „Treffen bestätigen“, grollte es am anderen Ende der Leitung und schon hatte er aufgelegt. Na wunderbar. ‚2d.1000pm R-C. MxiAP‘, tat sie genau das und steckte das verfluchte Handy zurück in ihre Tasche. Gerade jetzt, in diesem Moment beneidete sie Weiß und Schwarz um ihre einfache, brutale Feindschaft, die aus nichts Anderem bestand als darin, sich bei Aufträgen gegenseitig das Leben schwer zu machen und recht erfolglos zu versuchen, sich zu töten. Sobald es politisch wurde, sobald die Interessen ihres Landes ins Spiel kamen, die weit über den Grenzen eines einzelnen Auftrags hinausgingen, wurde es unschön. Natürlich hatten sie Verbindungen zu Rosenkreuz, wo Weiß alleine schon besorgt waren, in einer Stadt wie Tokyo Schwarz über den Weg zu laufen. Natürlich wurden diese Verbindungen auch genutzt, so wie jetzt. Natürlich fanden auch Treffen statt. Das hieß aber noch lange nicht, dass Manx das gut finden musste. Und dass ausgerechnet die Dame des Hauses kam, behagte Manx ganz und gar nicht. Sie fing gar nicht erst an, sich auszumalen, wer sie gerufen hatte und warum sie hier war. Wenn es gut lief, wären sie in der Lage, einen Deal abzuschließen. Wenn nicht…als wenn sie nicht schon genug Kriegsfronten hätten. Der perfekte Zeitpunkt für ein Treffen also. Kaum arbeiteten Weiß und Schwarz zusammen, entstanden nur Probleme. Und noch nicht einmal kleine. Nein. Manx hatte noch keine Ahnung, wie sie das neu hinzugewonnene Problem zu lösen gedachte. In einem Anflug von Galgenhumor überlegte sie sich zu kündigen oder eine Gehaltserhöhung für den Mist zu fordern, um den sie sich kümmern musste, doch dann wurde ihr bewusst, dass kein Geld der Welt den Stress aufwiegen konnte, den ihr Weiß und Schwarz, Kritiker und Rosenkreuz in den letzten Wochen machten. ~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)