Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 14: Schachmatt ---------------------- Dass Zeit je nach Situation unterschiedlich langsam und schnell verging, war Aya durchaus schon etwas länger bewusst. Es hatte Momente in seinem Leben gegeben, da war die Zeit nur so geflogen, ebenso Momente, da waren die Sekunden nur so gekrochen. Und da waren die Momente gewesen, in denen die Zeit stillgestanden hatte. Als seine Eltern gestorben waren. Als seine Schwester ins Koma gefallen war. Als er seine erste Zielperson getötet und begriffen hatte, dass es keinen Weg zurückgab, nun da Blut an seinen Händen klebte. Der Moment, in dem Schuldig ihm die Wahl zwischen Folter und Kontakt zu seiner Schwester gelassen hatte, hatte sich nahtlos in die Reihe dieser Ereignisse gefügt. Seitdem war die Zeit verflogen wie nichts. Während Ayas Herz in der absoluten Grabesstille des Kellers viel zu laut und viel zu schnell schlug, liefen seine Gedanken im Kreis, ohne wirklich auf ein Ergebnis zu kommen. Verweigerte er sich Schuldig und blieb seinen Prinzipien treu bis zuletzt, würde dieser ihn zerstören. Dafür würde er dann aber weder seine Maxime noch Omi verraten. Doch was wäre, wenn er die zweite Möglichkeit wählte? Keine Vergewaltigung, sondern eine Belohnung für seine Kooperation und seinen Verrat an Weiß und ihren Maximen. Aya machte sich diesbezüglich nichts vor, Schuldig würde es sich nicht nehmen lassen, das Weiß auf die Nase zu binden. Aber auch wenn es stimmte und er Kontakt zu seiner Schwester aufnehmen konnte, dann war da immer noch Instinkt, der ihn anschrie, Schuldig nicht zu vertrauen. Da war er wieder, das Hamsterrad, in dem seine Gedanken liefen und liefen und liefen, bis sich die Tür schließlich wieder öffnete und mit einem Klicken das gleißende Licht anging. Aya Herz begann zu rasen und mühevoll schluckte er, als er die Schritte hinter sich hörte, die unverkennbar zu Schuldig gehörten. Langsam, wie ein Jäger, der seine Beute im Visier hatte. Die Tür des Käfigs, an dessen Gitterstäben er hing, öffnete sich langsam und Aya schloss die Augen. Er wollte das siegessichere Grinsen auf dem Gesicht des Telepathen nicht sehen. Die Hand in seinen Haaren sollte ihn nicht überraschen oder gar erschrecken, nichtsdestotrotz tat sie es. Schuldig lachte über sein Zusammenzucken. „Sieh mich an, Fujimiya“, raunte die barsche Stimme und Aya gehorchte schweigsam. Er sah, dass er sich vertan hatte. Schuldig war alles andere als spöttisch oder schadenfroh. Sein konzentrierter Gesichtsausdruck sagte mehr als deutlich, dass er sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Aya wusste nicht, was ihm mehr Sorgen bereiten sollte. Schweigend starrte er dem Telepathen in die viel zu nahen Augen, während dessen Atem wie eine schlechte Verheißung über sein Gesicht strich. „Also, Fujimiya, welches Tor darf es heute für dich sein?“ Aya schluckte schwer. Das Rauschen in seinen Ohren steigerte sich und Panik kroch in ihm hoch, unaufhaltsam und ohne Gnade. Seine schnelle Atmung betrog seine Wortlosigkeit und rang Schuldig ein sanftes Lächeln voller Falschheit ab. „Soll Schweigen deine Antwort sein? Also willst du den harten Weg. Gut, kann ich mit leben.“ Aus der Sanftheit wurde Bosheit und Aya schüttelte panisch den Kopf. „Nein, Schuldig, ich…“ Weiter kam er nicht, als der Mann vor ihm ihm den Mund zuhielt und seinen Hinterkopf schmerzhaft an die Gitterstäbe presste. „Ich habe dir ganz klar die Spielregeln dargelegt, Fujimiya. Ein Satz, den du dir merken solltest, ein einziger Satz und du schaffst das nicht? Oder willst du es nicht? Den eigenen Prinzipien treu bis zum Schluss, wie löblich und nutzlos.“ Der Telepath seufzte theatralisch und ließ ihn wieder frei atmen. „Na da wird Nagi viel zu tun haben, dich wieder und wieder zu heilen.“ Dort, wo die Panik vorher nur hintergründig dafür gesorgt hatte, dass er nicht mehr in der Lage war, einen vernünftigen Satz von sich zu geben, überschwemmte sie ihn nun mit all ihrer Macht. Einen Satz. Schuldig hatte einen Satz gewollt. Welcher Satz… „Ich gewähre dir Zutritt!“, presste Ayas unterbewusstes Gedächtnis die Worte, die Schuldig hatte hören wollen, schneller hervor, als dass er sich wirklich bewusst an sie erinnerte. Selbst als Schuldig lauthals lachte und seine Schenkel auseinanderdrängte und sie erneut an den Gitterstäben hochschob, wiederholte er den Satz wie ein Mantra immer und immer wieder. Doch so oft er ihn auch äußerte, so wenig ebbte Schuldigs Lachen ab und Aya erkannte seinen Fehler. Sein Instinkt hatte Recht gehabt, Schuldig nicht zu vertrauen. Natürlich würde der Mann jede Gelegenheit nutzen, ihn zu brechen und sei es mit falschen Versprechungen, auf die er wie ein Anfänger hereinfiel, nur weil der Telepath etwas in den Gedanken seiner Schwester gefunden hatte, das nur Aya und ihn selbst betraf. Bitte nicht, geisterte es durch seine Gedanken. Bitte nicht. Immer und immer wieder flehte er stumm, selbst über den aufsteigenden Kopfschmerz hinweg flehte er. ~Braver Weiß~, geisterte es durch eben jene und Aya hielt abrupt inne. Verzweifelt stöhnte er auf, als Schmerz in seinem Kopf explodierte, den er noch nie vorher so erlebt hatte. Er bäumte sich auf, schlug den Kopf gegen die Gitterstäbe nur um dieses Reißen loszuwerden. Was passierte hier mit ihm? Was tat Schuldig ihm an? ~Genaugenommen dringe ich in dich ein.~ Aber wieso verspürte er dann in seinem Kopf die Schmerzen, die Schuldig mit seinem Eindringen viel tiefer verursachen sollte? Wie als Antwort darauf wurde der Schmerz größer und größer und Aya hatte das irrwitzige Gefühl, dass etwas in seinem Kopf riss. Er schrie, zumindest glaubte er das. Er schrie so laut, dass seine eigenen Ohren klingelten und dass sein Rachen von der Wucht der Laute schmerzte, die er veräußerte. ~Das mag vielleicht daran liegen, dass ich gerade in deine Gedanken dringe und nicht in deinen Körper~, schlängelte sich Schuldigs Stimme unaufhörlich… in seine Gedanken. ~Ich komme gerade durch einen kleinen Spalt in deine ach so dicken Mauern, deren Reißen und Splittern du als körperlichen Schmerz wahrnimmst. Am Besten, du stellst dir das so vor, als wärest du eine schwangere Frau und ich würde ohne Betäubung die verschiedenen Schichten Bindegewebe in deinem Bauch aufreißen um an dein Kind zu kommen. Also so ungefähr und nur in deinem Kopf und…~ „Hör auf!“, presste Aya hervor und erkannte die krächzende Stimme nicht, die aus seinem Mund kam. „Nein, Schuldig, hör auf! Bitte…hör auf…!“ ~Zu spät, mein Bester. Du hast mich eingeladen und nun bin ich drin. Das ist eine notwendige Prozedur. Also sei jetzt tapfer, das wird alles, aber kein Spaziergang.~ Doch Aya war alles andere als tapfer. Der Schmerz wurde noch schlimmer und es gab kein Entkommen. Nichts, was er tat half, nichts, um das er flehte, konnte Schuldig dazu bewegen, aufzuhören. Nichts, und erst, als er den Schmerz nicht mehr ertrug und seine Rezeptoren die Impulse nicht mehr verarbeiten konnten, verlor er gnädigerweise das Bewusstsein. ~~**~~ Na das war ja besser gegangen als gedacht. Schuldig rieb sich grollend seine Ohren, die ihm ganz schön von den Schreien des Weiß klingelten. Genaugenommen hörte er für Minuten nichts anderes als eben dieses Klingeln und verfluchte sich dafür, dass er Nagi nicht mit dazu geholt hatte, damit dieser dem nun endlich bewusstlosen Schreihals den Mund zugehalten hatte. Wenn seine eigenen Hände nicht damit beschäftigt gewesen wären zu verhindern, dass Fujimiya sich aus Panik seine eigenen Hände und Arme ausriss, hätte er die Aufgabe auch selbst erledigen können, aber so… Hinterher war man immer klüger, so hatte er keine Zeit verloren und dem Weiß die Handschellen abgenommen, sobald dieser das Bewusstsein verloren hatte. Wie einen Sack Kartoffeln hatte er ihn zu der Matratze gezerrt und ihn dort auf die Seite gelegt. Falls der Weiß sich übergeben sollte, auch wenn Schuldig auf einen starken Magen hoffte. Nun hieß es warten, bis Fujimiya wieder zu sich kam und dann würde er die Antworten erhalten, die ihm sein Anführer nicht geben wollte. Wortlos ließ sich Schuldig neben Fujimiya auf dem Boden nieder und zog sein Handy aus der Tasche. Er öffnete eine seiner Tierdokumentationen, die er sich heruntergeladen hatte und die ihm nun die Zeit vertreiben würde. Eine halbe Stunde später stieß er den schlafenden Mann neben sich mit dem Fuß an, doch noch erhielt er keine Regung. Noch schlief der Mann wie tot. „Hast du wirklich geglaubt, dass ich einen für dich hochkriegen würde?“, fragte er in die Stille des Raumes hinein und lachte, als hätte er einen besonders guten Scherz gemacht. Und war es nicht auch so? Alleine der Gedanke daran war ihm zuwider und die Worte, mit denen er den Weiß bedroht hatte, waren nur leere Hülsen gewesen, ohne eine wirkliche Bedeutung dahinter. Die Berührungen, die notwendig gewesen waren um das richtige Maß an Panik in dem Weiß hochkommen zu lassen, verursachten in Schuldig den beinahe schon überwältigenden Drang, sich das Gefühl von Fujimiyas Haut und Atem auf seiner eigenen Haut vom Körper zu waschen. Eine heiße Dusche wäre da gut oder besser noch: ein schönes, heißes Bad. Aber erst, nachdem er alle Informationen aus dem Weiß gequetscht hatte, derer er habhaft werden könnte. Während Schuldig darauf wartete, dass der Weiß wieder zu Bewusstsein kam – oder zumindest einen Zustand erlangte, in dem er mit hm kommunizieren konnte – versuchte sich Schuldig auf seinem Handy die neuesten Folgen über die Flora und Fauna Japans anzuschauen. Viel Erfolg hatte das nicht und das lag nicht an dem Keller ohne Empfang, sondern vielmehr an der Tatsache, dass ihn die Informationen, die er aller Wahrscheinlichkeit nach aus den Gedanken des Weiß ziehen würde, nervös und flatterig machten. Er konnte und wollte sich nicht auf die Bilder konzentrieren, die auf dem kleinen Bildschirm des Smartphones liefen, sondern sich lieber der Frage „Was wäre wenn?“ widmen. Er wollte sich wappnen für das, was er sehen würde, doch er wusste nicht wie, denn alleine die Vorstellung, dass er Crawford auch nur einen Hauch anders sehen könnte als jetzt, verursachte ihm Übelkeit, insbesondere nach den Ereignissen der letzten Tage und den kleinen und großen körperlichen Unzulänglichkeiten, die ihm sein Anführer offenbart hatte. Doch bis der Weiß ihn mit seiner mentalen Anwesenheit beehrte, würde er sich sinnlose, nicht hinterlegte Gedanken darum machen und keine validen Informationen erlangen. Das teilte ihm zumindest seine rationale Seite mit, nicht, dass sie groß Gehör fand in diesem Moment. Eine halbe Stunde lang starrte er auf seinen Bildschirm ohne wirklich etwas zu sehen, bevor das Bewusstsein des Weiß Ebenen erreichte, in denen er zumindest mit den Gedanken des Anderen kommunizieren konnte, während der Körper sein Eindringen und das damit zwangsläufig verbundene Trauma ausschlief für die nächsten Stunden, wenn nicht sogar Tage. ~Schau mal einer an, wer da ist~, sandte er probeweise aus und Verwirrung war das Erste, was ihm entgegengetragen wurde. Verständlich, soweit und ganz natürlich. ~Wo bin ich?~ Interessant, wieviel anders die mentale Stimme des Weiß klang. Um einiges weniger nervig, mochte Schuldig meinen. Ein Grund mehr, nicht mehr mit ihrem Neuzugang zu sprechen, sondern seine neugewonnene, telepathische Freiheit in dessen Gedanken zu nutzen. ~Du bist in deinem Unterbewusstsein. Dein Körper ist immer noch in dem Keller.~ ~Du bist nicht ich?~ Ach herrje, da war aber jemand schwer von Begriff. ~Nicht wirklich, Fujimiya. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich Zutritt zu deinen Gedanken erhalten habe. Glückwunsch, du gehörst jetzt zu dem erlesenen Kreis derjeniger, deren Gedanken mir zu keiner Zeit verborgen sind.~ Schuldig hätte es sich denken können, dass auf seine Worte erneut Panik folgte. Er hätte damit rechnen müssen, dass der Weiß sich nicht sofort erinnerte und wenn er es schlussendlich tat, ihn das erst einmal aus der Bahn werfen würde. Dass es ihn aber derart in Angst und Schrecken versetzte, damit hatte Schuldig nicht gerechnet und so wurde er im ersten Moment von den negativen Gefühlen geradezu zerquetscht und beinahe herausgeschleudert, bevor er sich mit Mühe und einigen Kopfschmerzen fangen konnte um zu handeln. Alles Positive, was Schuldig aufzubieten hatte, schickte er gegen diesen Wirbelsturm an, auch wenn es ihn – auf Deutsch gesagt – fürchterlich ankotzte, dass er dem Weiß auch nur einen Funken Gutes entgegenbringen musste. Dieser Mann war nichts als ein Ärgernis und nun war er auch noch ein lästiges Ärgernis, das außer für ein paar gute Prügeleien unter Feinden nichts taugte. ~Hörst du jetzt endlich AUF damit!~, brüllte er gegen die Panik an und umhüllte den Weiß zusätzlich noch mit sämtlichen positiven Gedanken und Emotionen, die er in seinem Wirkungskreis finden konnte. Das würde das bewusste, logische Denken des Mannes zwar für zusätzliche Stunden außer Kraft setzen, ihn dafür jetzt aber nicht verrückt werden lassen. Nach und nach wurde es still um sie beide und Schuldig seufzte. ~Hast du dich jetzt wieder eingekriegt?~, fragte Schuldig schließlich und er erhielt so etwas wie zögerliche, fragende Zustimmung im Nachhall der positiven Gefühle. Fujimiya war gerade das Äquivalent zu zugedröhnt, ohne wirklich zugedröhnt zu sein. Mal sehen, ob er so in der Lage war, gute Antworten aus dem Weiß heraus zu bekommen. ~Bist du in der Lage, in Ansätzen klar zu denken?~ ~Ich weiß es nicht.~ ~Also ja. Wunderschön. Du wirst mir jetzt Rede und Antwort stehen.~ Fujimiya benötigte dieses Mal etwas länger für seine Antwort, was maßgeblich daran lag, dass sich die trägen Gedankenkreise einen Reim zu machen versuchten. ~Worüber?~ Nun war es an Schuldig, zunächst einmal zu schweigen. Er wusste, wenn er Fujimiya das richtige Stichwort liefern würde, dann hätte er die Erinnerungen des Weiß auf einem Silbertablett präsent. Er müsste sie nur durchforsten und sie in die richtige Reihenfolge zu bringen und dann wüsste er, was sein Anführer ihm verschwiegen und grundsätzlich ausgelassen hatte. Doch mit einem Mal war Schuldig sich nicht mehr so sicher, ob er all die Details, die auf ihn warten würden, wirklich haben wollte. Crawford war sein ekelhaft arroganter, alleswissender Anführer, der mit seinen Dreiteilern verwachsen war und sicherlich von Entspannung nie etwas gehört hatte in seinem Leben. Nichts Anderes war er. Nichts Anderes hatte er zu sein. Und dennoch musste Schuldig Licht ins Dunkel bringen und Fujimiya war gerade die Quelle, die er benötigt, um mehr Informationen zu erhalten. ~Was ist bei Lasgo passiert?~, fragte er so neutral, wie es ging und die mentale Präsenz des rothaarigen Mannes zuckte gleichermaßen vor der Frage zurück wie sie Erinnerungen hervorrief, die an Schuldig vorbeiliefen und ihm einen ersten Einblick gaben. Langweilige Dinge über den Auftrag, die Schuldig nicht im Geringsten interessierten. Schuldig grollte. Man könnte meinen, dass der Weiß ihn absichtlich von den Antworten fernhielt, die er wollte… und nicht wollte. ~Du hast Crawford bei Lasgo getroffen~, soufflierte Schuldig und wurde mit anderen Bildern belohnt, weniger harmlosen Bildern. Wie es schien, hatte das ekelhaft geordnete Leben des Weiß seinen Ursprung in den ebenso ekelhaft geordneten Gedanken, die exakt zu dem Zeitpunkt sprangen, in dem sich Crawford und Fujimiya bei Lasgo das erste Mal begegnet waren. Und Schuldig bekam das Kotzen alleine beim Anblick der Bilder, die sie beide umschwirrten. Er zuckte nicht nur mental zurück bei dem Anblick, der sich ihm hier bot. Schmerzhaft stieß sein Kopf gegen die geflieste Wand der Zelle, als er seinen Anführer dort knien sah und als er jeden einzelnen, ihn schmerzenden Gedanken des Weiß dazu verfolgte, der mit Lauten unterlegt war, die Fujimiya in den Momenten zuvor noch als anregend empfunden hatte… nun aber angeekelt und entsetzt war. Doch das war nicht das Schlimmste, was Schuldig sehen konnte, bei weitem nicht. Es war nur ein Katzensprung zu weiteren, fürchterlichen Erinnerungen, die ihm alle eins zeigten: seinen Anführer, weit ab von seiner üblichen Würde, weit ab von der ihm zustehenden Unversehrtheit und deutlich gezeichnet von den Taten des Menschenhändlers. Der Anblick und die dazugehörigen Einschätzungen des Weiß bereiteten Schuldig Kopfschmerzen, doch das war nur ein geringer Preis für die Katastrophen, die sich in den Erinnerungen des anderen Mannes aneinanderreihten und schließlich darin gipfelten, dass eben jener, den er gerade noch mit positiven Erinnerungen überschüttet hatte, ebenso versuchte, sich seinem Orakel aufzuzwingen. Wie ein Tier hielt er ihn nieder, um sich ihm aufzuzwingen… nur aufgehalten von der Erwähnung seiner Schwester und anschließend reichlich nutzlos geplagt von Unverständnis und einem schlechten Gewissen. Mit Mühe erinnerte sich Schuldig an Crawfords Befehl und den Grund des Hierseins von Fujimiya. Wäre er nicht noch nützlich, so hätte Schuldig Fujimyias Geist auf der Stelle zerfetzt und ihn zu einem dauerhaft sabbernden Idioten gemacht. Er hätte ihn bis zu seiner vollkommenen Verpflichtung gefoltert, bis dem feindlichen Agenten die Hirnmasse aus den Ohren geflossen wäre. Doch er hatte ja noch einen Sinn, eine Aufgabe, die ihm von ihrem Orakel selbst gegeben worden war, also würde Schuldig vorerst die Finger von diesem widerlichen Stück bigottem Dreck lassen. ~Du hast allen Ernstes geglaubt, dass du Hand an meinen Anführer legen kannst?~, knurrte er dennoch voller mordlüstiger Bosheit und Fujimiyas Geist überschwemmte sie beide nur so von Reue und Angst. Beinahe ertränkte er Schuldig damit und vergrub ihn soweit unter sich und den Schuldgefühlen, dass sich der Telepath nur mit Mühe von den überschäumenden Emotionen befreien konnte. ~Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich weiß es wirklich nicht. Plötzlich war ich so wütend, dass es mir als die einzige Möglichkeit schien, ihn dafür zu bestrafen, was er getan hatte all die Jahre über. Aber ich kann nicht verstehen, warum. Ich würde das niemals tun. Niemals wieder.~ Schuldig schnaubte. ~Und du glaubst, dass ich dir das abnehme, du widerliches Stück Scheiße?~, fragte er lauernd und Fujimiyas Erinnerungen verharrten. Angst kroch zwischen sie beide und krallte sich wie giftige, ätzende Tentakel an ihnen fest. Schuldig begrüßte das, denn er wollte, dass Fujimiya Angst vor ihm und vor seiner Rache hatte. Alleine dafür, dass er es gewagt hatte, Hand an Crawford zu legen, würde er die nächsten drei Monate leiden. Alleine dafür. Dennoch schlug er nun diese Emotion erbarmungslos nieder, denn er konnte sie nicht gebrauchen. Nicht jetzt. Später, oh ja, gerne. Hinzukam, dass das Nächste, was er sah, ihn zu den ach so wichtigen Tugenden des Weiß zurückführte. Rettung der Unschuldigen. Bestrafung der Bösen. Begleichung einer Schuld und so weiter. Lächerlich, wirklich, auch wenn, das musste Schuldig dem Weiß zugestehen, der Nutznießer des Ganzen Crawford gewesen war, dem der Weiß sogar einen Kaffee mitgebracht hatte um seinen hoch unvernünftigen Anführer aus dem Wald zu locken. Ebenso, wie er ihm Kleidung mitgebracht und nach der Dusche seine Wunden versorgt hatte. Ihn trotz allem nicht einsperrte oder zu Kritiker zerrte, was sicherlich im Rahmen seiner Möglichkeiten gewesen wäre ohne dass Schwarz davon Wind bekommen hätten. Und wenn sie es dann doch erfahren hätten, wäre Crawford vermutlich schon längst außer Landes geschafft worden, in eine der koreanischen oder chinesischen Forschungseinrichtungen. Aber Fujimiya hatte es nicht getan. Anstelle dessen hatte er sich bei Crawford entschuldigt und es auch genauso gemeint. Immer noch, auch wenn seine Erinnerungen nun mit dunklen Hass getränkt waren, dafür, dass sich Crawford an Tsukiyono vergriffen hatte. Wenn er es sich ehrlich eingestand, war Schuldig da unterm Strich ganz bei Fujimiya. Betrachtete er alles zusammen, so war der Ausreißer nicht logisch, denn augenscheinlich hegte der Mann, dessen Gedanken ihn voller Angst vor weiteren Schmerzen umschwirrten, keine weitere Absicht, sich Crawford aufzuzwingen, ganz im Gegenteil. Schuldig fand sogar stellenweise Sorge in diesen Gedankensträngen. Wohl verstaut und unsicher, aber es war Sorge. Das war ja geradewegs zum Kotzen. ~Bitte…nicht noch einmal~, trug sich eben jene Stimme zu ihm und Schuldig brauchte etwas, um dem Gedankengang folgen zu können. Er sollte Fujimiya nicht noch einmal foltern und ihm solche Schmerzen zufügen wie bei seinem notwendigen Eindringen. ~Wir werden sehen, wenn du wieder bei Verstand bist, Weiß. Bis dahin wünsche ich dir süße Träume von deinem Team, das für dich in immer weitere Ferne rückt.~ Schuldigs Stimme troff nur so vor beißendem Sarkasmus, als er das Bewusstsein des Mannes in die Untiefen der dringend benötigten Regeneration schickte, der ihm in den letzten Minuten jede einzelne seiner Fragen beantwortet und ihm damit mehr Informationen gegeben hatte, die Schuldig zu verwerten bereit war. Lasgos persönlicher Sexsklave. So unbegreiflich es ihm die Bestätigung dessen auch war, so ekelerregend wahr war diese Bezeichnung. Soweit Schuldig das aus Fujimiyas Gedanken lesen konnte, hatte sich Lasgo mehrfach an Crawford bedient und ihn in der Tat wie ein Tier gehalten, das er nach Belieben ficken und ficken lassen konnte. Von Fujimiya, der sich verweigerte. Von Birman, die es nicht tat. Hass schäumte in Schuldig hoch, so heiß und unnachgiebig, dass er seine Faust gegen die Fliesen schlug…dreimal, bevor der Schmerz ihn in die Gegenwart zurückholte. Lasgo hatte es gewagt, Hand an Crawford zu legen und dafür würde er sterben…doch schnell würde das nicht gehen. Er würde ihn langsam krepieren lassen und ihm jeden einzelnen Knochen in seinem Leib dafür brechen, dafür, dass er es gewagt hatte, seinen Anführer anzufassen. Nicht nur das das. Schlimmeres noch. Weitaus Schlimmeres. Was die Agentin betraf, so hatte Jei, wie er jetzt wusste, schon vorgesorgt. Nun hieß es nur noch, ihr den finalen Todesstoß zu geben und dafür zu sorgen, dass sie ihre widerlichen Taten bereute. Jedes Quäntchen an Glück würde er aus ihrem Körper quetschen, darauf konnte sie sich verlassen. Schweigend warf Schuldig einen Blick auf den erneut wie tot schlafenden Weiß. Die Verbindung zwischen den Beiden war nicht zu leugnen. Fujimiya rettete Crawford den Arsch und brachte ihn sogar in das Haus seiner Eltern – zum Kotzen gut gemeint, diese Unterbringung. Dafür ließ Crawford Fujimiya am Leben, auch wenn sich dessen Gehirn sicherlich gut gemacht hätte auf dem Grabstein seiner Eltern. So wäre es doch nur fair, dass Fujimiya zurückkehrte zu seinem neuen, besten Freund, oder? Schuldig sandte seine mentalen Fühler in Richtung Nagi aus um zu fragen, ob dieser ihm den Weiß hochtragen konnte, doch ihr Telekinet war immer noch nicht zuhause. Also musste er selbst ran und hievte sich den schlafenden Kartoffelsack unrühmlich über die Schulter. Schwankend trug er ihn die Treppen hoch und betrat ohne anzuklopfen in einem Akt der zivilen Rebellion das Schlafzimmer seines Anführers. „Lieferservice!“, rief er fröhlicher als er sich wirklich fühlte, ins angrenzende, private Büro und ließ den Weiß ohne Zeremoniell auf das Bett fallen, auf das dieser mit einem dumpfen Laut auftraf. Schritte hinter ihm kündeten von der Ankunft des stolzen, neuen Besitzers und Schuldig drehte sich mit einem vorgeschobenen, faulen Grinsen auf den Lippen zu seinem Anführer um, der ihn mit sorgsam ausdruckslosen Augen musterte, bevor sein Blick über Fujimiya glitt. „Was soll er hier?“, fragte Crawford, als hätte er nicht schon längst Schuldigs Antwort auf diese zugegebenermaßen dumme Frage vorhergesehen. „Du wolltest, dass ich ihm eine weitere Leine anlege, dann kümmere dich auch um die Nachsorge deines neuen Gadgets.“ Nachdenkliches Schweigen begegnete ihm, als müsse Crawford erst noch ausmachen, was er mit dieser Situation anfangen sollte. Schlussendlich nickte er beinahe ergeben und Schuldig meinte, ein beinahe lautloses Seufzen zu hören. Doch sicher war er sich dessen nicht. „Du wirst seine Erinnerungen an den Durchbruch dämpfen.“ Ungläubig starrte Schuldig seinen Anführer an. Das war ihm gerade wichtig? Nach allem, was Schuldig gesehen hatte, nach allem, worüber sie sprechen müssten, hatte das oberste Priorität? Er grollte unzufrieden. „Gern geschehen, Crawford, dass ich den Weiß, den du ohne Rücksprache in unser Haus geholt hast, noch ein Stück weit kontrollierbar gemacht habe“, gab Schuldig entsprechend ungnädig zurück und wurde mit einem Blick belohnt, der arroganter nicht sein könnte, bevor das Orakel sich wegdrehte und das Thema anscheinend als erledigt ansah. Ohne ein weiteres Wort ging das Orakel an ihm vorbei nach unten in die Küche und ebenso schweigend folgte Schuldig ihm. Anscheinend war Crawford trotz seiner ursprünglichen Verweigerung redebereit und wer war Schuldig, dass er dieses seltene Angebot nicht annahm? Zumal die Küche der Ort in einem Haus war, der sowohl auf Partys als auch im Privaten ein Ort der Gespräche war. Und so konnte sich Crawford wieder eine seiner unzähligen Tassen Kaffee einschenken, die, so wusste Schuldig jetzt, deswegen getrunken wurden, weil Crawford kein Wasser zu sich nehmen konnte. Eben weil man ihn vermutlich genau damit gefoltert hatte. Ungebeten überkamen Schuldig andere Bilder, weitaus verstörendere Bilder über seinen Anführer, allen voran das kurze Gespräch, kurz bevor Fujimiya ihn von diesem Pfahl befreit hatte. Schockiert hatte Schuldig mitansehen müssen, wie sein ewig sturer und arroganter Anführer lieber das Zeitliche segnete, als ein weiteres Mal vergewaltigt zu werden. Schuldig schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, der sich aus hilfloser Wut und Entsetzen zusammensetzte. „Hör auf, an ihn zu denken“, holte ihn die kühle, wissende Stimme aus seinen Gedanken und Schuldig fokussierte sich auf die hellen, stechenden Augen, die eine deutliche, lauernde Warnung aussprachen. Er bewegte sich hier auf dem schmalen Grat, dass Crawford es überhaupt in Erwägung gezogen hatte, sich ihm und seinen Fragen zu stellen. Doch er musste vorsichtig sein mit dem Mann, der das Trauma, was er durchlitten hatte, kontinuierlich versucht hatte, vor ihnen zu verbergen. „An wen?“, fragte Schuldig mit gemäßigtem Interesse, abseits seines üblichen Spottes. „Den Mann aus Fujimiyas Erinnerungen.“ Schuldbewusst zuckte der Telepath zusammen. Er konnte nicht damit aufhören, nicht, wenn sich die Erinnerungen des Weiß so sehr in seine eigenen Gedanken gebrannt hatten und ihm dadurch so vieles klar wurde. So vieles, was so brachial offensichtlich gewesen war und das er einfach ignoriert hatte. Die Kleidung, natürlich. Die offensichtlichen Schmerzen, die Crawford nicht vor ihm verbergen konnte. Der Alptraum, die Fesselspuren, der erhöhte Kaffeekonsum. Eigentlich alles hätte ihm einen Aufschluss geben müssen, wenn er dem Mann, den er vor zwei Jahrzehnten kennengelernt hatte, wirklich aufmerksam betrachtet hätte. Schuldig sah auf und schüttelte den Kopf. „Du bist dieser Mann.“ „Ich war es.“ Das war doch Bullshit. Schuldig nahm sich ebenso eine Tasse Kaffee und näherte sich seinem Anführer. Aufmerksam beobachtete er, was er sonst immer missachtet hatte, wie sich Anspannung Crawfords Rücken herauffraß und seine Augen noch ein Stück kälter wurden. Das, was Schuldig als Distanz zu seinem Team gedeutet hatte, war vermutlich die Distanz zu anderen Menschen generell aufgrund des durchlebten Traumas. „Ich bin nicht er“, sagte der Telepath ruhig und wusste in dem Moment, dass er ins Schwarze getroffen hatte, als die eiskalte Beherrschung einer für Sekunden aufflammenden Wut Platz machte. Was auch immer dem Orakel auf der Zunge lag, er verbiss sich eine Antwort und nahm anstelle dessen einen weiteren Schluck, gab Schuldig so die Zeit, sich über etwas klar zu werden, dass ihm bis eben nicht bewusst gewesen war. „Die Untersuchung bei Rosenkreuz“, stellte er in den Raum und wurde mit einem selbstironischen Lächeln belohnt. „Geschwänzt.“ „Aber du warst in dem Gebäude.“ „War ich?“ Schuldig blinzelte und lachte dann überrascht. „Nicht dein Ernst! Der Kronprinz umgeht die Spielregeln?“ Ein simples Schulterzucken sollte ihm Antwort genug sein und Schweigen trat zwischen sie beide. Es war seltsam einvernehmlich und Schuldig fühlte sich an die wenigen Augenblicke, die sie tatsächlich in so einem Schweigen miteinander verbracht hatten, erinnert. Er konnte sie an einer Hand abzählen, aber er wusste sie zu schätzen. Auch wenn er das Crawford niemals auf die Nase binden würde. „Wette gewonnen im Übrigen, würde ich sagen“, legte Schuldig schließlich den Kopf schief und wackelte mit den Augenbrauen, als Crawfords zweifelnder Blick ihn traf. „Hast du ihn gebrochen?“ Was für ein Vertrauen sein Anführer mal wieder zu ihm hatte. Er war doch kein Stümper. Meistens jedenfalls nicht. Schuldig schnaubte. „Nein. Ich habe ihm zwei Wahlmöglichkeiten gegeben und die eine ein Stückchen attraktiver gemacht als die andere. Dann habe ich ihm ein Zauberwort an die Hand gegeben, dieses schlussendlich eingefordert und schon habe einen Spalt in seiner undurchdringlichen Mauer gehabt, durch den ich hineinkommen konnte.“ „Wie willst du das mit seiner Schwester bewerkstelligen?“ „Ich fixe ihn damit an und dann wird er, jedes Mal, wenn er besonders brav war, einen Abstecher in ihre Gedanken unternehmen können.“ „Das birgt Gefahren, wie du weißt.“ Schuldig zuckte mit den Schultern. „Was glaubst du, wie brav der Weiß sein wird?“ Es schien ihm eine Ewigkeit her gewesen zu sein, Crawford ehrlich amüsiert lachen zu sehen. Selten genug kam es vor und nun war es wieder so weit. Befreites, ehrliches Amüsement stand auf dem gezeichneten Gesicht und Schuldig gönnte es Crawford. „Wenn ich raten müsste…“ „Du bist ein Hellseher. Du musst nicht raten.“ Crawford zuckte nichtssagend mit den Schultern und Schuldig wurde nach und nach wieder ernst. „Warum hast es nicht vorhergesehen?“, näherte er sich vorsichtig einem Minenfeld, das jederzeit hochgehen konnte, wie er wusste. Wenn Crawford eines nicht schätzte, dann war das, auf seine eigenen Unzulänglichkeiten angesprochen zu werden. Das sah er auch an der Maske, die nun Stück für Stück wieder über die Mimik glitt und ihm ein nichtssagendes Gesicht präsentierte, das ihn gleichwohl warnte, es nicht zu weit zu treiben. „Ich habe keine Ahnung.“ „Rosenkreuz‘ Analysten könnte dir da weiterhelfen.“ „Könnten sie.“ Würden sie aber nicht, weil Crawford sich nicht an sie wenden würde um keinen Verdacht zu erregen. Das sagte er nicht und Schuldig kommentierte es nicht. „Ist es mit Fujimiya jetzt besser?“ „Das werden wir sehen.“ Schuldig rollte mit den Augen. „Deine Wortspiele sind scheiße, Crawford.“ Natürlich war das dem Orakel keine Antwort wert. Lieber lehnte er sich mit Bedacht an die Anrichte und sah für einen Moment in ihren Garten hinaus, den er prüfend musterte. „Was Nagi betrifft, Schuldig...“ „…so werde ich dem armen Jungen nicht seine Vaterfigur nehmen, zu der er aufsehen kann“, erwiderte Schuldig und wusste in dem Moment, in dem er den Satz vervollständigt hatte, dass es falsch war, was er gesagt hatte. So als ob Crawford durch das Tun des Menschenhändlers an Wert verloren hätte oder an Stärke. Dem war nicht der Fall, garantiert nicht, denn Schuldig blieb dabei, dass Crawford unantastbar war und es immer bleiben würde. Abwinkend hob er die Hand, als der andere Mann zum Konter ansetzen wollte. „Falsch formuliert, mein Fehler. Ich werde nicht zulassen, dass der Junge dich mit deplatziertem Mitleid überschüttet und halb Tokyo in Schutt und Asche legt, um seinen Ziehvater zu rächen.“ „Ich bin nicht sein Ziehvater“, grollte es aus reiner Gewohnheit und Schuldig winkte erneut ab, wo er schon einmal Übung hatte damit. Diese Diskussion war so alt wie der Moment, in dem sich Nagi an Crawford gebunden hatte mithilfe seines telekinetischen Handabdrucks. Und wie immer waren sie da unterschiedlicher Meinung. Schuldig kam Crawford ein weiteres Mal näher und ließ dem Orakel Zeit, sich an seine Anwesenheit zu gewöhnen. Aufmerksam, aber primär amüsiert starrte er ihm in die Augen. „Du kannst das und vieles Anderes verleugnen, Crawford. Aber dein Team, das hinter dir steht, insbesondere jetzt, das wirst du nicht los. Wir hören nicht einfach auf, dich als unseren arroganten Anzugträgerarschanführer zu behandeln, nur weil dir jemand im übertragenen Sinn und wortwörtlich den Arsch aufgerissen hat.“ Schuldig wünschte sich in diesem Moment, dass er eine Kamera gehabt hätte, um Crawfords Gesichtsausdruck für die Nachwelt festhalten und millionenfach duplizieren zu können. Aber das Schicksal war nun einmal auf Seiten der Hellseher, also musste er sich damit begnügen, das spontane, gewaltige Erstaunen der scharf geschnittenen Züge in seiner eigenen Gedankenwelt festzuhalten. Mit Schwung drehte er sich um und verließ die Küche. Es wurde jetzt endlich Zeit für das Bad, damit er diese Berührungen loswerden konnte. ~~**~~ Das erste Mal, als er die Augen öffnete, hörte er nur das Rauschen des Windes in den Blättern unsichtbarer Bäume. Es war schön, es beruhigte ihn. Er lauschte und ließ sich treiben von dem Flüstern der Blätter, die Gedanken angenehm nicht existent und auch nicht wichtig. Er schwebte, er war körperlos, er war der Wind. Zufrieden schloss er die Augen und glitt wieder in den erholsamen, tiefen Schlaf ohne Träume, der, das wusste er instinktiv, gut tat. Das nächste Mal, als er erwachte, war es eine Stimme, die ihn lockte. Rau und tief war sie, auch wenn er die Worte, die geäußert wurden, nicht verstand. Waren sie in seiner Sprache? Er wusste es nicht. Welche Sprache sprach er denn? Auch das wusste er nicht und es war auch nicht wichtig. Losgelöst von allem war sein einziges Bestreben, den Lauten und Worten zu lauschen, die sich an sein Ohr schlängelten und ihn mehr und mehr zu dem Mann lockten, der unweit von ihm saß, mit einem dicken Buch auf seinem Schoß. Der Anblick beruhigte ihn und rang ihm ein wohliges Lächeln ab, auch wenn eine Stimme tief in ihm versuchte ihm deutlich zu machen, dass etwas an diesem Bild nicht stimmte. Er konnte es nicht genau ausmachen, ob es die Stimme, die Worte oder das Bildnis war, aber wirklich wichtig war es auch nicht. Zufrieden seufzte er und schloss erneut die Augen. Wie zuvor vom Wind auch schon ließ er sich treiben und genoss die Losgelöstheit, bis ihn der Schlaf erneut zu sich lockte. Das dritte Mal, als er die Augen öffnete, lag er nicht und schwebte auch nicht. Er lehnte an einer warmen Stütze, die im Gleichklang mit ihm atmete. Die Nähe sorgte ihn nicht, ganz im Gegenteil, sie war ein willkommener Anker, der ihn in diesem Augenblick dort hielt, wo er sich befand. Ruhig atmete er und schloss die Augen für einen Moment, noch nicht wieder müde, aber noch nicht bereit, das grelle Licht in seine Augen zu lassen. Er sog die Luft ein, die ihm den Geruch seiner Stütze mitbrachte und befand ihn als angenehm und beruhigend, passend zu den Bewegungen der Atmung. Als er seinen Kopf drehte, schlängelte sich ein Laut an sein Ohr und er wusste nicht recht, was es war. Doch wie zuvor auch war das nicht wichtig. Er war hier, die Ruhe war hier, das war wichtig. Die Kühle, die nun gegen seine Lippen gepresst wurde, akzeptierte er auch, ebenso wie er die Flüssigkeit willkommen hieß, die in seinen Mund lief. Zunächst behielt er sie dort, bis dieser ungewohnte Laut erneut zu ihm drang. Er musste schlucken, das wusste er und sein Körper gehorchte. Einmal, zweimal, so oft, bis die Kühle verschwand. Er öffnete die Augen und sah ein Gesicht, von dem ihm, als ihn der Schlaf rief, nur noch die schwarzen Haare im Gedächtnis blieb und das Gefühl, dass es falsch war. Was aber falsch war, das wusste er nicht. Das vierte Mal, als er erwachte, war er im Regenwald. Wasser plätscherte auf ihn nieder und er reckte sein Gesicht in Richtung des kommenden Regens. Er genoss das Gefühl des warmen Wassers auf seiner Haut und öffnete seine Lippen. Schaudernd ließ er sich von den ihn umgebenden Geräuschen treiben und zurück in seinen Schlaf geleiten, der auf ihn unter dem Regendach erwartete. Das fünfte Mal, als er wach wurde, war es das Geräusch einer Bewegung, das ihn dazu verleitete, seine Augen zu öffnen. Unweit von ihm stand ein Mann, dessen nackter Rücken mit Hämatomen übersäht war und der sich nun ein Hemd aus dem Schrank nahm. Er folgte seinen Bewegungen und blieb an Augen hängen, die ihn maßen, während sich der Mann näher zu ihm bewegte. Vielleicht flüsterten ihm seine Gedanken einen Namen ein und vielleicht warnten sie ihn auch, dass etwas falsch war, dass er sich anders verhalten sollte, doch er wollte nicht. „Fujimiya, bleib wach“, verließen Worte die Lippen des Mannes mit den Hämatomen, die er nicht verstand. Er schloss seine Lider, als ihm die Augen schwer wurden und ließ sich von dem Grollen, das ihm vage bekannt vorkam, wieder zurück in den entspannenden Schlaf führen. „Warum kommt er nicht zu sich?“, hörte er, als er das sechste Mal aufwachte. Wut schwang in der Frage mit und aufmerksam lauschte er. „Weil sein Geist den Rausch noch ausschläft.“ „Dafür veranschlagt sind anderthalb Tage.“ „Jedes Hirn braucht da seine individuelle Zeit zu. Lass ihn doch.“ „Er liegt seit drei Tagen in meinem Bett, nicht in deinem, Schuldig. Vielleicht sollte ich das ändern und du überdenkst deine „Lass ihn doch“-Einstellung?“ „Dann verfrachte ihn in den Keller.“ „Da ist er ohne Aufsicht, was in seinem Zustand nicht ratsam ist.“ „Dann leg dich einfach zu ihm und hör auf, dich zu beschweren, Orakel.“ Er seufzte leise und bewegte seine Hand. Tastend strich er über das angenehm weiche Bettlaken. Aufstehen wollte er allerdings noch nicht. Lieber schlief er erneut ein. ~~**~~ Selten hatte sich Aya so ausgeruht gefühlt wie gerade jetzt. Jeder Muskel seines Körpers war entspannt und fühlte sich an, als wäre er weichgeknetet. Seine Sorgen der letzten Tage ruhten zugunsten einer Entspannung, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Daran konnte selbst der Anblick des feindlichen Schlafzimmers, das sich seinen geöffneten Augen nun offenbarte, nichts ändern. Im Gegenteil. Insgeheim war er froh, dass es nicht der Keller war, in dem er erwachte. Ayas Gedanken schweiften zu eben jenem und er lauschte ihrem gedämpften Nachhall. Er wusste um die Schmerzen, die Schuldig ihm bereitet hatte, doch die Erinnerung daran war weniger lebendig, als er es erwartet hatte. Weniger…schlimm, wenn er es so bezeichnen mochte. So hatte Aya auch erwartet, sich anders zu fühlen, offen und entblößt, doch da war nichts. Gut, das mochte auch an der Abwesenheit des Telepathen liegen, der momentan schwieg, aber er fühlte sich nicht missbraucht. Und wenn Schuldig nicht gelogen hatte, dann würde er mit seiner Schwester kommunizieren können. Alleine die unwahrscheinliche Möglichkeit dessen gab ihm Hoffnung, die vermutlich letzten Endes ebenso fatal sein würde wie die Vorstellung, sie durch sein Tun vor Kritiker und seinen ganz persönlichen Feinden schützen zu können. Aber er versuchte es. Und er würde hoffen, denn das gab ihm Kraft, die kommenden Monate zu durchstehen. Aya seufzte und setzte sich in dem viel zu bequemen Bett auf, das ihn ungerne aus seinen weichen und warmen Armen ließ. Er schlug die Bettdecke zurück und schauderte ob der kühlen Luft, die ihm von dem viel zu weit geöffneten Fenster kündete. Überrascht stellte er fest, dass er nicht mehr seine vorherige Kleidung trug, sondern einen Pyjama, der sich ebenso weich unter seinen Fingern anfühlte wie die Bettdecke und der ihm die Frage abrang, ob es tatsächlich Menschen gab, die Nachtwäsche passend zur Bettwäsche besaßen. Momentan konnte Aya die Frage reinen Herzens mit ja beantworten, während er auf etwas wackligen Beinen zu dem Kleidungsstapel ging, der sorgfältig gefaltet auf exakt dem Platz lag, auf dem er gestern auch gelegen hatte. Wenn es denn gestern gewesen war. Dieses Mal jedoch befand sich keine Anweisung zum Duschen auf der Kleidung, so stand Aya für einen Moment unschlüssig vor dem Stuhl, bevor ihm sein Magen durch ein deutlich lautes Grollen zur verstehen gab, dass eine Dusche gerade nicht erwünscht war, sondern Nahrungsaufnahme oberste Priorität hätte. Beinahe schon schlecht wurde ihm, als er sich die Kleidung überstreifte, die augenscheinlich ebenfalls dem Amerikaner gehörte. Vom Hunger getrieben folgte er seinen Erinnerungen, die ihn zuverlässig in die Küche des feindlichen Teams brachten und öffnete den Kühlschrank, unbehelligt und unbelästigt von Schwarz. Aya schnaubte. Hätte ihm jemand vor einer Woche noch gesagt, dass er in der schwarzschen Küche stehen und sich schwarzsches Essen aus deren Kühlschrank nehmen würde, hätte er gelacht. Es war beinahe zu absurd um wahr zu sein, insbesondere, da der bis zum Bersten gefüllte Kühlschrank ein Hort des vollkommen Chaos war, den er weder hier in der Küche noch oben im Schlafzimmer so wiederfinden konnte. Nicht, dass es seinen Magen interessierte, als er des Tellers mit dreieckigen Onigiri ansichtig wurde, die, so fand er durch einen ersten Bissen heraus, mit Thunfisch gefüllt waren. Erst, als er das Vierte wie die Drei vor ihm auch schon hinuntergeschlungen hatte, hielt er mit einem gesättigten, zufriedenen Seufzen inne. Das hatte gut getan und sein rebellierender Magen war endlich zufrieden. Nun ging es nur noch darum, den aufgekommenen Durst zu löschen, bevor er herausfinden würde, ob er wirklich alleine in dem Haus war und was nun von ihm erwartet werden würde. Wortlos griff er sich eines der Gläser, die auf der Abtropfmatte am Spülbecken standen und füllte es mit Leitungswasser, das, so musste er gestehen, um ein Vielfaches besser schmeckte als das im Koneko. Kein Wunder, denn ein Blick aus dem großflächigen Küchenfenster verriet ihm, dass sie sich anscheinend außerhalb von Tokyo im Grünen befanden. Aya blinzelt ob des flüchtigen Gedankens, der sich so schnell verlor, wie er gekommen war und er zu der Ruhe zurückkehrte, die sich wie die Bettdecke von oben auf ihn gelegt hatte. Aya runzelte die Stirn über die Sicherheit, die er in sich verspürte bei dem Wissen, dass Schuldig sich ihm nicht aufzwingen würde. Der Telepath war genau die Art Mensch, ein Folterer, warum also sollte er nicht letzten Endes tun, was er ihm angedroht hatte? Etwas in seinem Unterbewusstsein flüsterte ihm zu, dass diese Möglichkeit nicht existent war und Aya suchte irritiert nach der Quelle dafür. Als er sie nicht fand, war es dennoch Erleichterung, die übrig blieb. „Fujimiya.“ Zwischen den Buchstaben seines ruhig ausgesprochenen Namens stand eine Frage, die beinahe so versteckt und subtil war, dass Aya sie unter der Kälte nicht gehört hätte. Er kannte die Stimme nur zu gut und das machte die Frage, die hier in den Raum gestellt wurde, noch viel absurder, schließlich war es erst Crawford gewesen, der ihn dieser Situation ausgeliefert hatte. Langsam drehte er sich um und maß den im Türrahmen stehenden Amerikaner aufmerksam, blieb es doch abzuwarten, welche Leine ihm als nächstes angelegt wurde, die ihn gleichzeitig gläsern machte für das feindliche Team. „Du bist wach.“ Augenscheinlich, wenn er auf zwei Beinen stand, es sei denn, er träumte, was Aya wiederum nicht glaubte. Dafür fühlte sich die Kühle des Glases, aus dem er nun den letzten Schluck Wasser trank, zu real an. Stille trat zwischen sie, die Aya nicht unbedingt als negativ empfand, die Crawford aber wohl irritierte, wenn er dessen Stirnrunzeln richtig interpretierte. Das war ihm soweit egal, wie ihm vieles egal war und so drehte er sich wieder weg, um das Glas wieder aufzufüllen. „Bist du in der Lage zu sprechen?“, fragte das Orakel weiter und Aya vermutete, dass dem tatsächlich der Fall war. Bisher hatte er aber nicht den Anlass gesehen, mit sich selbst zu sprechen oder auf die Fragen des Amerikaners zu antworten. Gemächlich drehte er den Wasserhahn auf und sah dabei aus dem Fenster in die Natur heraus. Wie verschieden dieser Anblick doch zu dem Ausblick aus dem Koneko war, der außer gegenüberliegenden Häusern nichts zu bieten hatte. Hier war all der Raum, der in Tokyo so knapp war bei den Millionen von Menschen, die in seiner Heimatstadt lebten. In ihrem damaligen Haus hatte es da nicht anders ausgesehen. Natürlich hatten sie mehr Platz gehabt als ihm jetzt zur Verfügung stand – im Koneko zur Verfügung gestanden hatte. Aber trotzdem nicht genug und so hatten sie sich das Ferienhaus gekauft, weitab von der lauten, nie stillstehenden Stadt im einsamen Grünen. Aya seufzte. Es war schon ein schöner Ort. Und vielleicht würde er nach den drei Monaten exakt dorthin zurückkehren. Dort würden sie ihn vielleicht eine längere Zeit nicht finden. Die Hand, welche den Wasserhahn abdrehte, ließ ihn aus seinen Gedanken auftauchen und aufsehen zu dem Mann, der neben ihm stand und mit hoch erhobener Augenbraue auf seine nasse Hand und das übervolle Glas deutete. Ah. Aya schüttete einen kleinen Teil des Wassers aus dem Glas in den Kaktus, der auf der Fensterbank stand und beanspruchte den Rest für sich. Die Hand selbst ließ er nass, sie erinnerte ihn an den Regenwald, in dem er sich befunden hatte. In seinem Traum. „Fujimiya.“ Dieses Mal war da keine Frage in seinem Namen zu hören, sondern eine Warnung und er hob nun seinerseits die Augenbraue. Er wartete geduldig, während er seziert wurde, gefühlt bis ins tiefe Innerste seines Selbst. Nicht, dass es Schuldig nicht schon längst getan hatte. „Ich habe im Keller andere Kleidung getragen“, fügte er dieser Musterung schließlich hinzu und erzeugte damit Überraschung bei dem Mann, der eigentlich nicht überrascht hätte werden sollen. Es amüsierte ihn. Das Stirnrunzeln des Orakels war tief und kritisch. „Du hast fast vier Tage geschlafen. Jei hat dich in der Zwischenzeit geduscht und dir darauf neue Kleidung angezogen.“ Aya wusste, dass diese Worte Sinn ergeben sollten. Das taten sie aber nicht. Weder der Mann, der genannt wurde – Farfarello, so nahm er an – noch dessen Handlung – ihn zu duschen – passte zu dem, was Aya jemals über den Iren gelernt hatte. Aber war eben jener auch nicht der gewesen, der Omi ins Bad gezerrt hatte? „Ist das seine Aufgabe?“ „Auch.“ Aya ließ seinen Blick von Crawfords Gesicht an dessen Körper hinunter- und wieder hochgleiten. Beim Anblick des rasierten Gesichts fuhr er über seine eigenen Wangen und stellte fest, dass sie glatt und ordentlich rasiert waren. Aya nickte. „Hat er seine Drohung wahrgemacht?“, fragte er indifferent in den Raum hinein. „Welche Drohung?“ „Mich zu vergewaltigen.“ Wieder war es Überraschung, die auf ihn traf und Aya überlegte sich bedächtig, ob er sich falsch ausdrückte oder undeutlich sprach, dass nicht klar wurde, was er meinte und wenn es dann klar wurde, es etwas war, mit dem selbst ein Hellseher nicht rechnete. „Du meinst Schuldig.“ Er nickte. „Nein, das hat er nicht.“ Erzwungene Ruhe lag in diesen Worten. „Wird er es?“ „Nein.“ Verbindlichkeit lag in dem einen Wort und es genügte Aya, so drehte er sich zum Spülbecken und säuberte sein Glas, stellte es wieder dorthin, wo er es hergeholt hatte. Aber er wollte sich ja das Haus anschauen. Wenn er die nächsten Monate hier verbringen würde, dann wäre es von Vorteil, sich jetzt schon einen Überblick zu verschaffen, wo er bisher doch nur den Keller, die Küche, das Schlafzimmer mit angrenzendem Bad und das Büro gesehen hatte. Aya ließ den anderen Mann am Spülbecken stehen und ging in Richtung Wohnzimmer, zumindest schien es so auszusehen mit all seinen Pflanzen und Möbelstücken, als ihn die Stimme des Orakels ein weiteres Mal aus seinen Überlegungen holte. „Wohin gehst du?“ Dafür, dass der Anführer von Schwarz in der Vergangenheit außerordentlich hohe Intelligenz bewiesen hatte, waren dessen Fragen irritierend simpel und schlicht zu beantworten. Entsprechend machte sich Aya nicht die Mühe, stehen zu bleiben oder sich umzudrehen, sondern ging einfach weiter, ließ sein Handeln die Antwort auf Crawfords Frage sein, dessen Präsenz im Hintergrund wie ein dunkler Schatten über dem hellen und weitläufigen Raum thronte. Klare Linien erinnerten ihn an das Schlafzimmer im ersten Stock, auch wenn die Pflanzen ein über und über chaotisches Bild abgaben in ihrem Mix, der weder Linie noch Sinn noch Verstand kannte. So wie der Inhalt des Kühlschranks. „Die Nervensäge hat seinen Widerstand gestohlen“, ertönte eine fremde Stimme hinter ihm, die er ebenso im Regenwald verortete, wie seine nasse Hand auch. Aya zupfte eines der absterbenden Blätter aus der Pflanze und lauschte dem Klang der Stimme, der nun einen vorwurfsvollen Ton annahm. „Wie du es von ihm wolltest.“ „Jei.“ Die Warnung, die den Namen begleitete, war unüberhörbar. „Er ist wie ich.“ „Das bedeutet?“ Irritation begleitete die Frage und Aya musste schmunzeln, weil Ungeduld die Irritation noch mehr antrieb. „Unbeeindruckt.“ Das Lachen des Iren klang nicht halb so verrückt, wie er es in Erinnerung hatte. Überhaupt schien ihm der vernarbte Mann zwar ein gefährlicher Mörder zu sein – doch das war jeder von ihnen – aber hier in diesem Moment war er weder cholerisch noch verrückt, im Gegenteil. Aya stimmte ihm sogar zu. „Das sollte er nicht sein.“ Die Worte des Orakels waren weniger zustimmungswürdig. Aya mochte es so, wie es war. „Sieh, was du aus dem Überbringer schlechter Nachrichten gemacht hast, Orakel. Wer Sturm säht, wird Stille ernten.“ „So heißt das Sprichwort nicht, Jei.“ „Jetzt schon.“ Wieder schlängelte sich das raue, amüsierte Lachen zu ihm und Aya lächelte unwillkürlich mit, auch wenn es keiner der anderen beiden Männer sah. Er hatte erwartet, dass sie den Iren einsperren würden, wenn sie keine Aufträge zu erfüllen hatten. Er hatte erwartet, dass dieser unberechenbar war. Doch dass dieser Humor hatte, das war ihm neu, aber nicht unwillkommen, vor allen Dingen, da dieser Humor den Amerikaner offen zum Grollen brachte und Aya ihm das in einem wohltuenden Anflug an Schadenfreude gönnte, die ihm bereits Aufschluss darüber gab, dass es nicht nur Ruhe war, die er verspürte, sondern dass er auch zu anderen Emotionen in der Lage war. „Fujimiya.“ Wie der Ruf eines Tierkindes nach seiner Mutter schien es ihm und Aya richtete sich von seiner Betrachtung der vor ihm stehenden Pflanze auf. Bedächtig drehte er sich zu der Stimme um und hob die Augenbraue. „Ich möchte, dass du wieder nach oben gehst, dich hinlegst und deinen Rausch ausschläfst.“ „Ich bin nicht müde, ich habe vier Tage geschlafen“, gab er wieder, was derselbe Mann ihm just vor ein paar Minuten gesagt hatte. Belohnt wurde er mit einem stummen Blick, der ihn zum Gehorsam zwingen sollte, der an Aya jedoch abprallte wie Wasser an seinem imprägnierten Mantel, der sich nebst seinem Katana noch im Koneko befand. Er würde beides benötigen, wenn er für den Schwarz töten sollte. Schusswaffen waren nicht seins und sein Trefferbild war zu ungenau, wie Youji es ihm immer sagte. Ausgerechnet Youji mit seinen Drähten. Interessiert verließ er das Wohnzimmer und befand sich nun in dem Flur, durch den Schuldig ihn gezerrt hatte, bevor er ihn in den Grabkeller gesperrt hatte. Die Tür, die nicht zu eben jenem führte, hatte er noch nicht probiert und so stand er nun in einem weiteren Büro, das noch viel größer war als das in der ersten Etage. Das Lachen und Fluchen hinter ihm ignorierte er zugunsten des weitläufigen Ausblicks aus bodentiefen Fenstern. „Raus hier“, grollte es hinter ihm und Aya entzog sich mühelos der Wut dieser Worte. Es gab Wichtigeres, zum Beispiel, dass seine Augen an etwas hängen blieben, das seine Aufmerksamkeit beinahe augenblicklich zu sich zog. Fast schon magisch wurde er von dem opulenten Schachbrett hingezogen, dessen Figuren bereits miteinander um den Sieg kämpften. Aya runzelte die Stirn und betrachtete für lange Zeit schweigend die Anordnung der Figuren. Ein spöttisches Schnauben an seiner Seite untermalte seine Beobachtungen und ein Blick in die hellen, amüsierten Augen sagte ihm, dass das Orakel, das so stetig seinen Namen sagte, ihm nicht zutraute, dieses Spiel zu beherrschen. Fragend hob Aya die Augenbraue. „Man nennt es Schach“, erläuterte Crawford ironisch und warf ebenso wie er selbst auch einen langen Blick auf die in Position gestellten Figuren. Gegen wen wohl ein Orakel spielte? Vermutlich gegen sich selbst, Zug um Zug, mit eiskalter Berechnung. „König, Dame, Turm, Läufer, Pferd“, erläuterte Crawford der Reihe nach alle wichtigen Figuren, deutete gleichzeitig bezeichnend auf jede der kleinen, geschnitzten Statuen. „Ein taktisches Spiel, Schwarz gegen Weiß, wenn du so willst.“ Ironisches Amüsement begegnete Aya und stieß auf verwunderte, violette Augen, die ihn mit ehrlichem Interesse ansahen. Seine Augen und sein Zeigefinger glitten zum Spielfeld. „Das ist also das Pferd“, wiederholte Aya langsam, nachdenklich, schob es langsam zwei Felder nach links hin zum feindlichen, schwarzen König. In Gedanken legte er den Kopf schief. „…und das ist dann wohl Schachmatt.“ Es brauchte einen Moment, bis er eine Antwort auf seine Worte erhielt, deren immanente Bestandteile nicht vollkommene Überraschung und beinahe schon beleidigender Unglauben waren. Crawford sah ihm in die Augen, dann wieder auf das Spielfeld und versuchte, den Zug nachzuvollziehen. War es Wut, dass ihm der Zug schier in den Schoß gefallen war, der Crawford nicht gelungen war? Dabei war es doch so einfach gewesen. Weiß hatte gewonnen. Der Zug war getan. Bedächtig griff Aya sich das weiße Pferd und begutachtete es von allen Seiten. Mehr als der Sieg des Guten amüsierte ihn aber die Reaktion des Amerikaners, der ihn für Minuten nur stumm fixierte und versuchte, sich einen Reim daraus zu machen. Dieses Mal blieb sein Name ungenannt. Keine Wut, keine Frage, nichts lag auf den strengen Lippen. Schließlich antworteten ihm ein schicksalsergebenes Seufzen und ein Augenrollen. „Wie wäre es mit einer Revanche?“, stellte Crawford die Frage, die es tatsächlich wert war, beantwortet zu werden. „Selbstverständlich“, erwiderte Aya mit ehrlichem Interesse an einem Spiel gegen das Orakel und kam zu der Frage zurück, wie man eigentlich gegen einen Hellseher gewann. Vielleicht würde er es nun herausfinden. ~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)