Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 10: Gut und gut gemeint ------------------------------- Es war still, bis auf das gurgelnde Röcheln hinter seinem Rücken. Crawford blinzelte und stellte fest, dass die roten Flecken in seinem Sichtfeld keine Überanstrengung seines Sehnervs war, sondern Blut auf seiner Brille. Mit zitternden, schmerzenden Händen nahm er sie ab und stellte mit Erstaunen fest, dass seine Hände blutrot waren und dazu noch glitschig von eben jenem. So glitschig, dass ihm seine Brille durch die Finger glitt und zu Boden fiel, dort unbeschädigt zum Liegen kam. Stirnrunzelnd stellte er fest, dass auch der Boden mit rotem Blut besprenkelt war. Seine Finger ballten sich zur Faust und öffneten sich probeweise wieder. Ach ja. Er hatte Tsukiyono geschlagen. Immer wieder, bis diese verdammten, verfluchten blauen Augen aufhörten, ihn mit Todesangst, Schmerz und Wissen darin anzusehen. Er hatte auf den Körper eingeschlagen, als hätte er Lasgo persönlich vor sich und würde endlich zu der Rache kommen, die ihm Frieden und Ruhe bringen würde. Und jetzt? Jetzt fühlte er sich ausgebrannt und leer. Die Befriedigung, die er anscheinend vor ein paar Minuten noch verspürt hatte, war verschwunden und bitteres Versagen schwelte in ihm. Er hatte seine antrainierte und anerzogene Disziplin vergessen. Er hatte sein strategisches Denken hinter sich gelassen und über seine persönliche Befriedigung gestellt. Er hatte sich von Gefühlen anstelle von Fakten leiten lassen. Wegen des dummen Kommentars eines Jungen, der von Schuldig vorher auf links gedreht worden und entsprechend hasserfüllt gewesen war. Crawford hatte sich vergessen und nun? Langsam drehte er sich zurück und stellte sich der Katastrophe, die er und nur er angerichtet hatte. Tsukiyono rührte sich nicht mehr. Er lag am Boden, in seinem eigenen Blut, der Körper sicherlich übersäht mit den Spuren seiner hemmungslosen Gewalt. Die Kleidung war blutverschmiert und unregelmäßig hob sich der Brustkorb, während der Weiß leise röchelte. Zehn Sekunden erlaubte Crawford es sich, den Zustand des Weiß abzuschätzen, dann drehte er sich um und ging zur Tür. Er riss sie förmlich auf und suchte nach Nagi, der mit ausdruckslosem Blick auf ihn wartete und sich von der Kiste erhob, auf der er Platz genommen hatte, während Crawford all das, was er Schuldig vorgeworfen hatte, nun selbst getan hatte. Hatte Schuldig den Grundstein gelegt, um die von ihrer Organisation geforderte Zurückhaltung in Bezug auf Kritiker zu gefährden, so hatte Crawford mit seinem unüberlegten Tun den Krieg geradezu heraufbeschworen. Er würde dieses nicht noch mit einem Mord krönen. „Kümmere dich um ihn“, presste Crawford hervor und Nagi nickte stumm. Die Doppeldeutigkeit seines Befehls erkannte er aber erst an Nagis Gesichtsausdruck, mit dem dieser sich auf die Ausführung seines Befehls konzentrierte. Crawford schüttelte den Kopf und fasste Nagi am Oberarm. Erstaunt hielt der Telekinet inne und maß ihn vorsichtig. „Du sollst ihn nicht umbringen, sondern dich um seine Verletzungen kümmern, Prodigy“, präzisierte Crawford mit einem flüchtigen Blick auf den Insassen ihrer Zelle. „Ich benötige ihn lebend und soweit es geht unversehrt.“ Nagi konnte sich nicht um alles kümmern, aber die Knochenbrüche und gefährlichen Verletzungen waren heilbar. „Natürlich, Oracle“, nickte Nagi, als hätte Crawford Tsukiyono nicht gerade eben noch krankenhausreif geschlagen und als hätte er nicht dessen Schreie noch durch die Tür gehört. Das war die Labsal an dem jungen Telekineten. Im Gegensatz zu Schuldig gehorchte er ohne Fragen zu stellen. Er vertraute seinem Anführer. Wenigstens einer. Noch während sein Blick auf dem Weiß ruhte, klingelte sein Telefon und Crawford fischte es mit spitzen Fingern aus seiner Hosentasche. Takatori. Natürlich ausgerechnet jetzt. Natürlich hatte er das nicht vorhergesehen. Und natürlich wusste er, worauf das Gespräch hinauslaufen würde. „Crawford“, meldete er sich und nahm mit dem Handy Abstand zu seinem Ohr, als ihr Auftraggeber bereits cholerisch in den Hörer schrie und ihn für sein Versagen in der letzten Nacht verantwortlich machte. Stumm richtete das Orakel seine Augen zur Decke und ertrug die Tiraden des älteren Japaners mit der gebotenen Höflichkeit und Demut, auch wenn er beides nicht wirklich fühlte und diesem Mann noch nie gegenüber gefühlt hatte. Der Mann, der ihre auserkorene Marionette war, war ein grobschlächtiger, machtgieriger Politiker, dem nichts zu schade war. Das hatte ihn auf die Gehaltsliste von Rosenkreuz gesetzt und nichts Anderes. Das machte ihn aber genau entbehrlich, wenn sie ihn nicht mehr brauchten. Und solange das so war, verfügte der Japaner in gewissen Grenzen frei über sie. So frei, dass er ihn nun zu sich zitierte. Ausgerechnet jetzt. „Natürlich, Takatori-sama. Ich bin innerhalb der nächsten halben Stunde bei Ihnen.“ Nagi sah ihn erwartungsvoll an, als er auflegte und Crawford nickte knapp in Richtung Zelle. „Kümmere dich um ihn und halte ihn am Leben. Sollte es dir nicht möglich sein, rufe einen Krankenwagen oder bringe ihn ins Krankenhaus. Sobald ich kann, werde ich wieder zu dir stoßen. Und lass Schuldig nicht noch einmal in seine Nähe“, grollte Crawford. Er wusste nicht, auf den er wütender sein sollte. Sich selbst oder den Telepathen, der ihm dieses ganze Desaster erst eingebrockt hatte, indem er den Weiß hierher geschleppt hatte. Ein Eingreifen ihrer Organisation wurde immer wahrscheinlicher, spätestens dann, wenn sie davon Wind bekamen, dass sie sich abseits von Aufträgen an dem Taktiker des prämierten Zugpferdes von Kritiker vergriffen hatten. Abseits davon, dass Schuldig nun eine Spur hatte, die er jetzt nicht mehr außer Acht lassen würde. Abseits davon, dass er noch keine Ahnung hatte, wo sich Lasgo befand. Abseits davon, dass er ihren Schützling am gestrigen Abend verloren hatte. Abseits davon, dass seine Gabe nur in Fujimiyas Nähe stabil lief. Es geschah nicht oft, aber Crawford fluchte wortgewaltig. Zwar stumm und sorgsam hinter einer starren Miene verborgen, aber er fluchte in jeder Sprache, die ihm zur Verfügung stand über seine Unzulänglichkeiten. ~~**~~ Nagi wartete nicht, bis sein Anführer das Gebäude verlassen hatte, bevor er dessen Befehl ausführte. Wenn er sich das Blut in dem weiß gefliesten Raum ansah, dann stand es ernst um den Jungen, der still am Boden lag, der Körper in einer sonderbar offenen Position dafür, dass er sich eigentlich schützend hatte zusammenkrümmen sollen, als die Schläge auf ihn eingeprasselt waren. Nagi konnte zwar das abgewandte Gesicht nicht sehen, aber die lang ausgestreckten Beine und die abstrus verdrehten Arme boten ein seltsames Bild. Nagi konnte nur raten, was Crawford getan hatte. Letzten Endes spielte es für seine Aufgabe aber keine Rolle, denn seine Gabe sagte ihm, was zu tun war, nicht die bereits geschehene Vergangenheit. Erst vor zwei Jahren hatten sie durch Zufall festgestellt, dass seine Telekinese nicht nur zerstörerisch wirkte, sondern dass er wohl auch die Fähigkeit besaß, in Kleinste zu gehen. Blutgefäße, Knochen, Nerven. Mehr aus Instinkt hatte Nagi damals einen minimalen Bruch an sich selbst geheilt. Crawford hatte ihn darauf für ein halbes Jahr nach Österreich in die medizinische Abteilung von Rosenkreuz geschickt, damit diese ihn schulten. Auch wenn Herr Professor Doktor Hartlgruber ein strenger, zuweilen auch bitterböser Lehrer gewesen war, so hatte er Nagis Gabe in ordentliche Bahnen gelenkt und ihm genau das Vertrauen beschwert, was die Arbeit in Mikrokosmen benötigte, damit er Schwarz noch effektiver als zuvor unterstützen konnte. So auch jetzt. Er löste mithilfe seiner Telekinese die Fesseln des Weiß und legte ihn rücklings auf den Boden. Er fühlte in den röchelnden Körper hinein und fuhr die Energiebahnen entlang, wie er es gelernt hatte. Anhand der unterbrochenen Wege konnte er die Frakturen, Blessuren und geplatzte Blutgefäße ausfindig machen, die über kurz oder lang zum Tod des Weiß führen würden. Als sich die blutigen Lippen zu einem ersten Schrei teilten, verschloss er sie mithilfe seiner Gabe und drückte den Weiß unsichtbar zu Boden, so sehr sich der Körper auch gegen den nun kommenden Schmerz wehren wollte. Er brauchte Ruhe und wenn ihm von den Schreien des Weiß die Ohren klingelten, wäre er nicht in der Lage, seine Arbeit zur Zufriedenheit seines Anführers zu erledigen. Und den Weiß sterben zu lassen, war sowieso keine Option. Konzentriert runzelte Nag die Stirn, als er einen Schritt näher an den Körper herantrat, dessen Schmerzimpulse an seiner Gabe kratzten. Wäre er ein Gedankenleser, würde er sicherlich Probleme haben, die kreischenden und sich wehrenden Impulse von sich zu weisen, doch so konnte er sich ganz darauf konzentrieren, von Kopf bis Fuß den Körper abzugehen und das, was Crawford zerstört hatte, wieder aufzubauen… zu einem gleichen, wenn nicht sogar schlimmeren Preis. Wie hatte es Schuldig genannt? Wie Heilungsschmerz in hundertfacher Form, nur schlimmer und schneller und grotesk ätzend. Alles hatte seinen Preis. Und alles brauchte seine Zeit, so verbrachte er die nächste lange halbe Stunde damit, den Weiß so gut es ging zu heilen. Als er fertig war, betrachtete Nagi sein Werk mit selbstzufriedenem Stolz. Er wollte sich nicht selbst loben, aber er hatte sich selbst übertroffen, was die Heilung der äußeren und inneren Verletzungen anging. Der Weiß schwebte nicht mehr in Lebensgefahr und bis auf die kleineren Verletzungen war alles soweit verheilt, dass dieser sogar aufstehen konnte, wenn es ihm denn befohlen werden würde. Nagi ließ den halb bewusstlosen Körper unweit von sich liegen und holte sich den Stuhl heran, der in diesem Raum stand. Schweigend ließ er sich darauf nieder. Er hatte noch eine Hausarbeit für seine Arbeit in der Universität zu schreiben und der Abgabetermin rückte näher. Dank seiner Sorge um Crawford war er noch nicht so weit vorangekommen, wie er es gerne hätte und musste das nun nachholen, während er auf den Taktiker des feindlichen Teams aufpasste. Stirnrunzelnd holte Nagi sein Smartphone heraus und begann zu tippen, doch seine Gedanken wollten nicht so recht bei seinem eigentlichen Thema bleiben, sondern kehrten immer wieder zu dem jungen Mann zurück, der unweit von ihm zitternd auf dem Boden lag. Nagi konnte sehen, dass er nicht bewusstlos war und das sprach schon für die körperliche Konstitution des Weiß, die dieser unzweifelhaft besaß. Als Nagi das gegnerische Team studiert hatte, war er erst davon ausgegangen, dass Tsukiyono nur ein schmächtiger Junge war, der von klein auf zum Töten erzogen worden war. Doch mit den Jahren, die sie gegeneinander gekämpft hatten, hatte er festgestellt, dass dieser alles andere als schmächtig war. Er war sehnig und athletisch gebaut, ohne dabei bullig zu wirken. Seine Fähigkeiten zur Akrobatik überstiegen bei weitem die der anderen Weiß und machten es Nagi nicht wirklich leicht, ihn zu fassen zu bekommen. Wieder und wieder war er eine Herausforderung und das machte ihre Treffen zu einer willkommenen Abwechslung zu ihren sonstigen Aufträgen. Zudem die IT-Fähigkeiten des Weiß sich durchaus mit den seinen messen konnten, was wiederum Nagi schon beim ersten Mal, als er sich in das Netzwerk Tsukiyonos gehackt und dessen Onlineaktivitäten zugesehen hatte, aufgefallen war. Seitdem besuchte er die Aktivitäten des Anderen regelmäßig und lernte von ihnen, wo er konnte. Nagi runzelte die Stirn. Er würde es nie zugeben, doch während seiner körperlichen Zusammentreffen mit dem Weiß, kam es ihm manchmal so vor, als wäre dieser der Einzige, der nachvollziehen konnte, was für ein Leben sie führten. Seit Jahren schon trafen sie aufeinander, wenn es darum ging, Menschen zu neutralisieren. Tsukiyono und er waren sich am Nächsten, was das Alter betraf, so schien es nur natürlich, dass Nagi sich an ihm orientierte und nicht an seinen Mitstudenten an der Universität, die allesamt so naiv waren, dass er sie dafür brennend verachtete. In aller ihrer Feindschaft lag auch etwas Vertrautes, was dazu führte, dass Nagi es wirklich bereut hätte, wenn Crawford ihm den Tötungsbefehl gegeben hätte. So war er umso erleichterter, dass dieser nun unweit von ihm lag, zwar in den Nachwehen seiner Heilung, aber geheilt als solches. Nagi atmete tief aus und lehnte sich zurück. Der Einzige, der von seinen Gedanken wusste, war Schuldig und dieser hatte sich wochenlang mental darüber lustig gemacht, bevor er eines Morgens in einem umdekorierten Zimmer aufgewacht war. Seitdem war der Telepath vorsichtiger und subtiler mit den Spitzen und behielt es immer noch für sich. Crawford und Jei ahnten nichts und das war auch gut so. Denn wenn es Bewunderung war, die er ohne schlechtes Gewissen für den Weiß empfand, so war es Verehrung und Gehorsam, die er jederzeit und überall seinem Anführer schenken würde. Ein Geräusch ließ ihn aufsehen und Tsukiyono drehte sich von der Rückenlage auf eine Seitenlage, die ihm erlaubte, sich von ihm wegzudrehen und die Beine anzuziehen. Nagi runzelte die Stirn bei einer solchen Zurschaustellung von Schwäche, die er von Tsukiyono nicht kannte. Der Weiß verließ die Norm ihrer Treffen, doch der rationale Teil in ihm erkannte, dass es sicherlich die Nachwirkungen der Folter waren, die sich hier zeigten. Apropos. ~Schuldig?~ ~Anwesend. Oh. Wie ich sehe, hat Crawford dich mit deinem Dreamboy alleine gelassen. Deine Chance, ihn anzuflirten, während er sich nicht wehren und weglaufen kann~, drang die mentale Stimme des Telepathen beinahe augenblicklich in seine Gedanken und Nagi rollte mit den Augen. ~Was hast du mit ihm gemacht?~, ignorierte Nagi alle zweideutigen Anspielungen und gab Schuldig einen kurzen Überblick über die momentane Lage. Anerkennend pfiff der andere Mann. ~Anscheinend weniger als Crawford. Soviel zum Thema, ICH würde mit meinem Vorgehen den Zorn unserer Auftraggeber auf mich ziehen. Dämliches Orakel.~ ~Schuldig.~ Das Seufzen geisterte durch seine Gedanken. ~Das Übliche. Schmerz, Freude, beides im Wechsel, bis er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf steht. Wusstest du, dass der Kleine hier mit Lasgo gefickt hat und dass Crawford sich ihn deswegen vorgenommen hat?~ Nagi kommentierte das nicht. Er würde nicht gegen seinen Anführer sprechen und ihn auch nicht kritisieren. Das stand ihm weder noch fühlte Nagi sich damit wohl, auch nur in die Richtung zu denken. Und dass Tsukiyono mit anderen Männern schlief, war ihm ebenfalls schon bekannt, das war nichts Neues, so sehr ihm das auch einen Stich versetzte und so sehr er sich innerlich auch fragte, warum Tsukiyono es für nötig erachtete, mit dem Drogenhändler zu schlafen. ~Jetzt hör mal zu, du kleiner Stalker. Der Weiß wusste anscheinend nicht, mit wem er da fickt. Und jetzt sag du mir, dass das Zufall ist. Ich glaube das nicht. Insbesondere, da es anscheinend ein Zusammentreffen zwischen deinem Idol und einem bestimmten, rothaarigen Mann gegeben hat.~ ~Meinem Idol?~ ~Dem arroganten Hellseherarschloch.~ Nagi seufzte innerlich. ~Warum frage ich eigentlich?~ ~Weil du mich gerne denken hörst.~ ~Unwahrscheinlich.~ ~Lüge und dazu auch noch eine schlechte.~ ~Kommt auf die Tagesform drauf an. Und welchen rothaarigen Mann meinst du überhaupt?~ ~Na rate doch mal.~ ~Abyssinian?~ Leichter Unglaube tränkte Nagis Gedanken. ~Exakt der. Friedlich zusammen mit Crawford in einem Raum.~ ~Hör auf mich zu anzulügen, Schuldig. Das kann doch nicht sein.~ ~Ich zeige dir nachher Bilder, wenn du zuhause bist, da werden dir die Ohren schlackern. In der Zwischenzeit frag mal deinen Dreamboy danach. Ich bin mir sicher, dass er dir äußerst gerne Antwort darauf gibt.~ ~Meinst du?~, fragte Nagi zweifelnd und Schuldig schickte ihm das Äquivalent eines Nickens. ~Definitiv, Kleiner. Und nun lass mich in Ruhe die Augen zumachen. Seine Schmerzen machen mich alle gerade.~ ~Was folterst du ihn auch? Das war doch deine Entscheidung.~ ~Ja und es hat gut getan.~ ~Dann hör auf rumzuheulen.~ Nagi bekam keine Antwort mehr so widmete er seine Aufmerksamkeit dem Weiß, der nun langsam seine rechte Hand zu sich zog. Sacht bewegten sich seine Finger, als musste er erst begreifen, was gerade geschehen war. Es war einer der vormals gebrochenen Finger, die nun lautlos über die blutbefleckten Fliesen strichen und die roten Tropfen verschmierten. Ebenso vorsichtig bewegte sich schlussendlich der ganze Körper und Nagi wusste, dass außer einem weitreichenden Muskelkater von dem vergangenen Schmerz schlussendlich nicht mehr viel bleiben würde. Zumindest körperlich. Ob der Weiß mentalen Schaden von Schuldigs Tun genommen hatte, konnte Nagi nicht sagen. Er würde es sich nicht wünschen, doch die Geräusche, die nun eben jenen verließen, verhießen nichts Gutes. Das beinahe unhörbare Wimmern reizte Nagis Ohren und ließ ihn wütend werden. So hatte er Bombay in all den Jahren, in denen sie aufeinander trafen, nicht erlebt und das frustrierte ihn. Ebenso, wie ihn nun die Versuche des Weiß frustrierten, irgendwelche Wörter von sich zu geben, rau und ungelenk. Erst nach ein paar Anläufen ließ sich Nagi darauf ein, dieser Schwäche überhaupt zuzuhören. „Bitte…bitte…bitte…“ Wieder und wieder und wieder provozierte dieses Wort Nagis Gehörgang und er knirschte mit den Zähnen. „Bitte was?“, entfuhr es ihm knurrend in einem Akt der ungewohnten, fehlenden Selbstbeherrschung und der ihm abgewandte Körper zuckte elendig zusammen. Der Weiß, zu dem er aufsah, der soviel außergewöhnliche und einfallsreiche Dinge in seinen IT-Netzen anstellte, der so zielstrebig und entschlossen seine Aufträge ausführte, bettelte darum, das Badezimmer nutzen zu dürfen. Nagi hielt ihm mithilfe seiner Gabe den Mund zu. Er wollte diese Erbärmlichkeit nicht hören, er wollte die Schwäche nicht wahrhaben, die ihm entgegenkroch und er wollte sich nicht der bitteren Realität stellen, dass Schuldig oder Crawford es vielleicht geschafft hatten, den Taktiker zu brechen. Langsam erhob er sich und stand zunächst unschlüssig in dem Raum. Tsukiyono war ihr Gefangener. Crawford hatte sicherlich noch etwas vor mit ihm. Die Frage war, wieviel Milde Nagi selbst zeigen durfte. Wo war da die Grenze zwischen Milde und Dominanz, was durfte er erlauben und was nicht um den Weiß zum Gehorsam zu zwingen? Normalerweise wäre jemand seines Teams da, der ihm diese Entscheidung abnehmen würde, doch nun war er vollkommen auf sich alleine gestellt. Schuldig würde er nicht fragen, Crawford konnte er mit so einer Lappalie nicht belästigen, Jei würde ihm überhaupt keine Antwort geben. Ein wenig Entgegenkommen konnte da doch nicht schaden, oder? Crawford hatte nichts von Entwürdigung und Demütigung gesagt. Also sollte es in Ordnung sein, dem Flehen statt zu geben. Nagi räusperte sich, um seiner Stimme die nötige Festigkeit zu geben. „Wenn du aufhörst zu betteln, entspreche ich deinem Wunsch“, stellte er in den Raum und der Körper zu seinen Füßen hielt abrupt inne. „Nicke, wenn du mich verstanden hast.“ Das Nicken kam überhastet und zu bereitwillig, aber Nagi ließ es gelten. Er löste seine Gabe von den Lippen und gab Tsukiyono seine Fähigkeit zu sprechen zurück. „Steh auf.“ Zu Nagis Unbill wurde sein Befehl nicht sofort befolgt. Im Gegenteil. Tsukiyono wies alle Anzeichen dafür auf , dass er sich mehr in sich zusammenrollen würde, als dass er bereit war, sich zu erheben. Doch dann begriff Nagi, dass Tsukiyono sich zusammenkrümmte, um sich auf die Knie hochzukämpfen und egoistisch sah er das als Zeichen, dass noch nicht aller Wille aus dem Weiß entwichen war. Wenn dieser ihm in die Augen sehen würde, dann könnte Nagi vielleicht eine Einschätzung treffen, doch den Gefallen tat ihm der Weiß nicht. Den Blick konstant auf den Boden gerichtet, kämpfte er sich Zentimeter um Zentimeter in die Höhe und stand schließlich schwankend, aber auf zwei Beinen vor ihm, die Arme schlotternd über seinen Körper geschlungen. „Ich…ich…kann…nicht…laufen…“, presste die demütige Stimme hervor und Nagi schnaubte. Er hasste diese Stimmfärbung aus tiefstem Herzen. Sie passte nicht zu Tsukiyono. Er sollte aufhören damit. „Natürlich kannst du das“, fuhr Nagi ihn entsprechend unwirsch an. „Meine Beine…“ „Deine Beine sind geheilt. Der Schmerz wird dich nicht am Laufen hindern.“ Strauchelnd tat der Weiß einen unsicheren Schritt nach vorne, dann noch einen, immer den größtmöglichen Abstand zu Nagi haltend. „Geh vor. Aus der Tür links, dann wieder links.“ Es brauchte seine Zeit, bis es der Weiß tatsächlich zu dem weitläufigen Raum am Ende des Ganges schaffte. Die Hälfte des Wege hielt er sich an der Wand fest und tastete sich langsam vor, als wäre er blind. Schweigend beobachtete Nagi dabei das Blut auf den Fingern, das von Crawfords zügelloser Gewalt zeugte, mit der dieser aus welchem Grund auch immer auf Tsukiyono eingeschlagen hatte. Nagi öffnete mithilfe seiner Gabe die Tür zu dem ehemaligen Dusch- und Toilettenraum der Schlachterei. „Die erste Tür rechts. Du hast drei Minuten.“ Der Weiß hinterließ einen blutigen Handabdruck an dem Türrahmen, als er hineinging. Das legendäre Zeitgefühl, dass dieser auch ohne Uhr besaß, zeigte sich erneut, als er innerhalb der drei Minuten wieder heraustrat um sich am Waschbecken die Hände zu waschen. Nicht einmal hob er den Blick um sich selbst im Spiegel anzuschauen oder seine Umgebung wahrzunehmen und sie sich einzuprägen. Nicht einmal sah er ihn an und beinahe wollte Nagi ihn dazu zwingen. Doch das wäre weder effektiv noch nützlich, so ließ er es und gab Tsukiyono die Gelegenheit, sich das Blut von den Händen und von seinem Gesicht zu waschen und ein paar Schlucke des mit Sicherheit rostigen Wassers zu trinken, bevor Nagi ihm mit einem telekinetischen Abdrehen eben jenes zu verstehen gab, dass seine Zeit im Bad vorbei war und dass sie wieder zurückkehren würden. „Würdest…würdest du mich gehen lassen…wenn ich…darum bitte…?“, fragte der Weiß unsicher, während er immer noch mit gesenktem Kopf am Waschbecken stand, am ganzen Körper zitternd. „Nein“, erwiderte Nagi schlicht. Natürlich würde er das nicht tun. Aber er verstand, dass Tsukiyono das fragen musste. So schätzte er auch, dass dieser sich ohne Widerstand fügte und sich zu ihm drehte. Nagi trat zur Seite und ließ den Weiß wieder vorgehen, zurück in den Raum hinein, der so penetrant nach Blut roch. Wie von selbst fand dieser in die letzte Ecke und ließ sich dort mit dem Rücken zu ihm nieder. Möglichst klein machte er sich, als er die Knie an sich zog und seine Arme darum schlang. Nagi ließ ihn und nahm erneut auf dem Stuhl Platz um sich wieder seiner Hausarbeit zu widmen, doch so ganz wollte sich seine Konzentration wieder nicht einstellen. Obwohl der Weiß nichts sagte und sogar so flach atmete, dass es Nagi erst nicht auffiel, störte er ihn bei seinem Schreibfluss. Noch einmal versuchte er es, sich in die Arbeit einzufinden, dann gab er es frustriert auf und schnaubte, ganz zum Erschrecken des Weiß. „Was sind das für Bilder von Oracle und Abyssinian“, stellte er abrupt in den stillen Raum und Tsukiyono verharrte so reglos, dass Nagi beinahe der Meinung war, dass dieser aufgehört hatte zu atmen. Dann schüttelte sich der blutige, blonde Schopf. „Ich weiß nichts darüber, bitte. Wirklich nicht. Er…er hat doch schon alles aus meinen Gedanken…ich…bitte…“ „Schuldig ist aber nicht hier“, hielt Nagi kühl dagegen und ein erschrockenes Jaulen entkam der abgewandten Gestalt. Schützend zog Tsukiyono den Kopf zwischen die Knie und schlang seine Arme darüber. Nagi wartete, doch kein einziger Ton verließ den Weiß. Es musste an seiner Frage liegen, befand Nagi, die eine solch heftige Reaktion hervorgerufen hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass es vor ihm nur Schuldig und Crawford gewesen waren, die Informationen von dem Weiß gewollt hatten, tippte Nagi darauf, dass ihr Anführer zunächst eine ähnliche Antwort erhalten hatte, bevor er sein Missfallen mit körperlicher Gewalt klar herausgestellt hatte. Das klang logisch und erklärte auch die Angst, die aus der Ecke des Raumes zu ihm drang. Er wartete schweigend, dass sich der Weiß entspannte, doch vergebens. Und anstelle schneller Atmung und zitternden Glieder waren es nun Tränen und gut verborgene, leise Schluchzer, die ihn davon abhielten, seine Hausarbeit zuende zu schreiben. Nagi beschloss, das Thema Bilder nicht noch einmal aufzubringen. Doch was sollte er dann anschneiden? Natürlich hätte er viele Fragen gehabt, die er während ihrer Aufträge nicht stellen konnte, aber die würden dem Weiß zu erkennen geben, dass er ihn und seine Bewegungen im Netz aus sicherer Entfernung beobachtete. Alleine schon aus dem Grund, dass er dadurch eine unfreiwillige Informationsquelle verlieren würde, würde Nagi dieses Thema nicht anschneiden. „Warum hast du für Mastermind das Gift gewählt und für mich das Schlafmittel?“, fragte er anstelle dessen in der Annahme, dass es sichererer wäre, darauf einzugehen, doch anscheinend schreckte die Frage den Weiß in der Ecke mehr als dass er sie ihn beruhigte. Reglos verharrte er, als könne er dadurch verhindern, dass Nagi ihn anstarrte und seine Reaktionen Millimeter für Millimeter katalogisierte. Geduldig wartete der Telekinet und wurde schlussendlich belohnt, als er doch tatsächlich eine leise, raue Antwort erhielt. „Ich dachte, dass deine Gabe sich unter dem Einfluss eines Schmerzgiftes zu unserem Nachteil äußern würde.“ Nagi hob die Augenbraue. Die Annahme war insofern korrekt, dass er unter gewissen Umständen keine Kontrolle über seine Gabe hatte. Aber da Kontrolle das Erste gewesen war, das Crawford ihm beigebracht hatte, stellte der Einfluss eines einfachen Giftes keine Gefahr dar. Zumal das Schlafmittel so schnell gewirkt hatte, dass Nagi gar keine Möglichkeit gehabt hatte, darauf zu reagieren. Und bis auf ein flaues Gefühl im Magen am nächsten Morgen und einen trockenen Hals hatte er keine bleibenden Schäden davongetragen. „Die Zusammensetzung?“, fragte er aus ehrlicher Neugier und der blonde Schopf schüttelte sich unmerklich. „Ich weiß es nicht“, presste Tsukiyono hervor und Nagi hob ungläubig die Augenbraue. „Du weiß es nicht?“, fragte er nach, ob er es richtig verstanden hatte und sah zu, wie sich die zittrigen Finger in eben jene blonden Haare krallten und an ihnen zerrten. Eher aus Instinkt als aus Notwendigkeit löste er telekinetisch eben jene von den malträtierten Strähnen und Tsukiyono keuchte entsetzt auf. „Bitte, ich weiß es wirklich nicht. Ich sage die Wahrheit. Das ist keine Lüge. Bitte foltere mich nicht erneut. Bitte.“ Schon wieder bettelte er und Nagi runzelte die Stirn. Dieses Mal ließ er ihn sprechen und flehen und hielt ihm nicht den Mund zu. „Erneut? Wann soll ich dich denn zuvor gefoltert haben?“, fragte er mit Irritation in der Stimme und der Weiß verstummte abrupt. „Mein…Körper…“, presste er schließlich ohne wirklichen Zusammenhang hervor und Nagi verstand erst nach ein paar Sekunden, worauf der Weiß sich bezog. Abrupt hielt er inne. Er hatte schon früh gelernt, dass das Leben Ungerechtigkeiten für ihn bereithielt und er hatte ebenso früh gelernt, sie zu ignorieren. Er war gut darin, doch es gab hin und wieder Situationen, in denen seine Indifferenz, mit der an das Leben selbst heranging, versagte. So überraschend es auch für ihn kam, dies war eine davon. Er wollte nicht, dass der Weiß von ihm dachte, er hätte ihn gefoltert. Wenn er folterte, sah das anders aus. Er hatte ihn geheilt. Und hatte er ihn nicht auch ins Bad gelassen? Was war denn daran Folter bitteschön? „Du denkst, ich hätte dich gefoltert?“, fragte Nagi lauernd nach und ließ ehrliche Wut in seine Stimme einfließen. Der Weiß verstummte und presste eine seiner geheilten Hände vor seinen Mund. Der Nagi zugewandte Rücken verspannte sich sichtlich und das, obwohl Nagi gedacht hatte, dass der Weiß sich nicht noch enger in sich hatte zusammenkrümmen können. Für einen Moment lang war er versucht, dem Anderen am lebenden Beispiel vorzuführen, was genau er getan hatte und somit seiner Wut eine Stimme zu geben, doch dann besann er sich, als er sich die Fakten ins Gedächtnis rief. Schuldig hatte Tsukiyono gefoltert. Crawford ebenso. Was sollte der Weiß aus reinem Unwissen auch anderes erwarten, als dass seine Heilung nichts anderes war als Folter. Schließlich war er nur ein Mensch ohne Gabe und ohne Wissen um die Funktionsweise seiner Telekinese. Die Frage war, konnte Nagi es riskieren, dem Anderen zu erklären, was er getan hatte? Außer, dass dieser, sobald er wieder in der Lage war, klar zu denken, selbst darauf kommen würde, da war Nagi sich sicher. Er atmete tief ein und betont wieder aus. Gut, dann doch an einem prägnanten Beispiel. „Sieh dir deine linke Hand an“, befahl er und wartete, bis dem zögerlich Folge geleistet wurde. Panisch brach sich der Atem des Weiß in der sonstigen Stille des Raumes und Nagi rollte unwirsch mit den Augen. Die Angst des Anderen zerrte an seiner Selbstbeherrschung und das irritierte ihn mehr als die Tatsache, dass Tsukiyono überhaupt mit einem Mal ihr Gefangener war. „Bewege deine Finger.“ Wimmernd wurde sein Befehl verweigert. „Bitte. Es tut mir leid, ich habe das nicht so gemeint, bitte, ich…“, versuchte der Weiß einer erneuten Folterung – aus seiner Sicht – zu entgehen. „Bewege deine Finger“, wiederholte Nagi stur und sah, wie sich eben jene zusammenkrümmten und wieder aufrichteten. „Scheinen sie dir gebrochen?“ Wild flogen die Haare, als Tsukiyono den Kopf schüttelte. „Schienen sie dir vor meiner Folter gebrochen zu sein?“ Zögerlich nickte er. „Das waren sie auch“, bestätigte Nagi. „Und jetzt zieh deine Schlüsse, Bombay.“ Ruhe kehrte ein zwischen sie beide und Nagi beobachtete den Weiß dabei, wie er seine Finger weiterhin bewegte und schließlich auch seine zweite Hand dazunahm. Nagi wertete das als Fortschritt, denn nun war der Weiß nicht mehr vollkommen in sich zusammengekrümmt, sondern hatte sogar den Kopf gehoben. Mal sehen, ob er ihn auch dazu bekommen konnte, ihn anzusehen. „Ich verstehe nicht“, murmelte dieser schließlich und Nagi seufzte innerlich. Sicherlich waren es die äußeren Umstände, die das logische Denken behinderten, schließlich war der sonst messerscharfe Verstand des gegnerischen Taktikers nicht plötzlich dumm geworden. „Glaubst du allen Ernstes, dass sich deine Knochen magisch wieder zusammengesetzt haben?“ Ein leichtes Kopfschütteln. „Wie könnte es dann gelaufen sein?“ „Du…“, fiel der Groschen und Nagi war versucht, in die Hände zu klatschen. „Exakt, Weiß“, erwiderte er und wurde Zeuge, wie Tsukiyono über seine Worte nachdachte und schließlich erneut in tränendurchsetzte Panik geriet. Mit fest auf den Mund gepressten Hände wurde der noch wunde Körper nur so geschüttelt von Schluchzern, die Nagi weder nachvollziehen noch verstehen konnte. Er versuchte, sich darauf einen Reim zu machen und scheiterte auch nach mehrmaligen Überlegungen und Kalkulationen. Vielleicht sollte er einfach aufhören, mit dem Weiß zu sprechen, schlussfolgerte Nagi schließlich und widmete sich nun mehr als halbherzig seiner Hausarbeit. ~~**~~ Er schaltete den Wasserkocher aus, als das Wasser kochte und gewaltige Blasen die klare Flüssigkeit durchdrangen auf der Suche nach der Oberfläche. Kaum hatte er ihn vom Strom getrennt, schon beruhigte sich das Spektakel und ließ nur noch einzelne, kleine und schlaffe Bläschen übrig, die wenig attraktiv waren. Jei taufte sie Schuldig, wie er vieles in seiner Umgebung Schuldig taufte, das ihm nicht gefiel, ihn langweilte, ihn nervte oder einfach hässlich war. Sterbende Wasserbläschen Schuldig zu nennen, war durchaus passend. Doch noch war der Telepath anscheinend von Nutzen, auch wenn Jei die Logik des Orakels nicht ganz nachvollziehen konnte. Vermutlich war es etwas, das in der Zukunft lag, ihrer aller Augen verborgen, sichtbar nur für die zukunftsgerichteten Augen des Hellsehers. Am Anfang war es frustrierender gewesen als jetzt. Jetzt ließ die deutsche Nervensäge ihn in Ruhe, sowohl mental als auch körperlich. Meistens. Jei füllte das Wasser in dem Becher mit dem Teebeutel und zählte die Sekunden der vorgeschriebenen Zeit, bevor der den Beutel herausnahm und ihn in den Müll warf. Die widerlich süßen Riegel ihres Technikjungen befanden sich in dem Schrank am anderen Ende der Küche und Jei runzelte nachdenklich die Stirn, als er überlegte, wie viele davon er mitnehmen sollte. Schlussendlich griff er sich zwei und kehrte zur Anrichte zurück, auf der der dampfende Becher stand. Er drehte ihn zu und packte beides in den Rucksack, in dem sich bereits der Rest befand, den er aus dem Haus zusammengesucht hatte, während die Nervensäge schlief und das aus der Bahn geratene Orakel auf dem Weg zu ihrem Auftraggeber war. Jei legte den Kopf schief. Wie ein defekter Satellit hatte der Anführer seine Umlaufbahn verlassen und trudelte durch das All seines Daseins. An allen Meteoriten, die an ihm vorbeitrudelten, stieß er sich und geriet damit noch weiter aus dem natürlich vorgegebenen Takt. Doch anstelle alles daran zu setzen, zurück zu kehren zu seiner Aufgabe, gab sich der Satellit die beste Mühe, auf Kollisionskurs mit der Erde zu geraten. Jei verzog unwirsch die Lippen. Es war nie seine Aufgabe gewesen, defekte Satelliten auf den richtigen Kurs zurück zu bringen. Eigentlich. Er löste sich aus seinen Überlegungen und nahm sich den Autoschlüssel des Wagens mit dem größten Kofferraum. Er gehörte dem Hellseher und normaler fuhr Jei ihn auch nicht, aber es nahm an, dass die Umstände diese Ausnahme rechtfertigten, so fuhr er in den Außenbezirk der Stadt, in dem sich ihre Schlachterei befand. Der Technikjunge dürfte sein Spiegelbild bereits geheilt haben, aber wie er den Gehorsamen kannte, hätte er nicht weiter gedacht als es ihm der ihr Anführer befohlen hatte. Bald würde es noch weitere, trudelnden Satelliten geben, wusste Jei. So war es nur noch eine Frage der Zeit, bevor sie darauf aufmerksam werden würde. Er lächelte beinahe zufrieden. Wenn sie darauf aufmerksam werden würde, käme sie mit Sicherheit hierher. Den Hellseher würde das sicherlich nicht freuen, aber davon würde sich Jei nicht abhalten lassen. Er zog das Handy hervor, das ihm gegeben worden war um auch im Fall einer Abwesenheit erreichbar zu sein und starrte das kleine Ding an, während er die Nummer ihres Technikjungen wählte und seine Ankunft ankündigte. ~~**~~ Der ihn genauso aufmerksam musterte wie Jei nun den Weiß und feststellte, dass er bereits einen weiteren, trudelnden Satelliten gefunden hatte, der auf dem besten Weg war, auf Kollisionskurs mit der Erde zu geraten. Schweigend bedeutete ihm ihr Wunderkind, dass er ihm nach draußen folgen sollte und verschloss ihm den Blick auf den in der Ecke kauernden Weiß, dessen Atem sich panisch an den Wänden brach, als er sich gewahr worden war, dass nun auch ein zweiter Schwarz in seiner Nähe war. „Was machst du hier?“ Jei hob seine Augenbraue. „Ich nehme ihn mit.“ Er wäre enttäuscht gewesen, wenn ihr Becherjunge nicht misstrauisch geworden wäre, da er ja schon die Halbschwester des anderen Technikjungen getötet hatte. Doch das war etwas vollkommen Anderes gewesen. Sehr viel notwendiger als es bei dem Weiß war. „Wohin?“ „Weg von hier.“ Missfallen stand deutlich auf dem ausdruckslosen Gesicht und Jei zog seine Lippen zurück zu etwas, das ein Lächeln sein sollte, auch wenn er darin nicht gut war, wie er selbst wusste. „Wohin?“, wiederholte Nagi eindrücklich in dem Tonfall, den er der Nervensäge gegenüber anschlug. Das wiederum missfiel Jei. Er war nicht die Nervensäge. „Zu Weiß.“ Anscheinend hatte Crawford nicht mit ihrem Wunderkind gesprochen, dass er hierherkommen und ihn mitnehmen würde, stellte Jei fest, als dieser überrascht wurde von seinen Worten. Also gab es noch keinen Blick in die Zukunft hierfür. Interessant. Und es gab noch keinen Plan für den Weiß in dem Raum. Auch das war höchst erstaunlich. „Zu Weiß?“, echoete ihr Jüngster und Jei nickte schweigend. Als er sich nicht weiter erklärte, begann der Junge anscheinend seine eigenen – fehlerhaften – Schlüsse zu ziehen. „Hat Crawford dich geschickt?“ Jei runzelte die Stirn und erwog, ob es sich lohnte, zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Und ob es überhaupt notwendig war, irgendetwas zu sagen, wenn er bedachte, dass ihr Technikjunge seit geraumer Zeit ein krudes Interesse darin fand, die Zahlen des ihn spiegelnden Technikjungen mithilfe seines Computers zu verfolgen. „Sollst du ihn lebend dorthin bringen und leben lassen?“, fragte der Zahlenverfolger weiter und Jei nickte. „Das ist mein Auftrag.“ Nicht von dem Hellseher, aber das spielte für Nagi keine Rolle, der, wie sie doch alle, nur das hören wollte, was er zu hören wünschte. „Was hast du dann in deinem Rucksack?“ Jei verzog seine Lippen und grinste freudlos. „Das wirst du sehen“, murmelte er und trat an ihrem Jüngsten vorbei zurück in den Kellerraum. So wie der Weiß gerade war, konnte er ihn nicht zurückbringen um Umlaufbahnen zu begradigen. Blutig war er und verängstigt. Verrückt noch lange nicht, aber wenn die Nervensäge die Gelegenheit als günstig erachtet, dann würde er einer zweiten Runde nicht widerstehen können und spätestens dann wäre der Geist des Spiegeltechnikjungen nicht mehr als ein Sammelsurium von Einzelteilen, die es nicht mehr zusammenzufügen gelang. Jei seufzte genervt und kniete sich zu dem Weiß. Junge Katzen wurden durch die Mutter am Nacken gepackt, in einem praktischen Tragegriff, der sich auch für den Weiß anbot, befand er. Das gefiel dem Jungen nicht und schmerzerfüllt stöhnte er auf. Eine Gegenwehr seitens des Weiß konnte er nicht feststellen. Wohl jedoch von ihrem Jüngsten. „Was tust du?“, fragte er ausdruckslos, auch wenn hinter diesen Worten durchaus Emotionen lauerten. Jei hob die Augenbraue. „Ich drehe ihn um.“ Er tat, was er gesagt hatte und holte den Weiß aus seiner Ecke. Mit einem Grollen hielt er ihn an Ort und Stelle und wartete, bis dessen lächerliche Versuche, ihn loszuwerden, verebbten. Erst, als der Körper vor ihm kein Anzeichen mehr gab, dass er sich aus lauter Verzweiflung in das offene Messer stürzen würde, setzte Jei den Rucksack ab und öffnete ihn zum verzweifelten Schrecken des zweiten Technikjungen. Zuerst stellte er den Becher zwischen sich und den Weiß und legte dann den ersten Müsliriegel daneben. Nach kurzer Überlegung folgte dann auch der Zweite. Ungeduldiger als es Crawford damals mit ihrem Technikjungen gewesen war, deutete er auf alles. Er hatte schließlich keine Wochen Zeit. „Trink. Iss.“ Die blauen Augen, die nicht halb so penetrant waren wie die der Nervensäge, schossen hoch zu ihm und hinter seinem Rücken hörte Jei einen überraschten Laut. Er selbst war weniger überrascht darüber. Nein, so konnte der Weiß sicherlich nicht zu den Seinen zurückkehren. So gerne sie auch im Blut badeten mit ihren Krallen, ihren Drähten, Schwertern und Darts, so wenig würde es den Anderen gefallen, wenn einer der Ihren blutbeschmiert zurückkehrte. Ein Geschenk musste schön verpackt werden. Es war sogar eine Kunst, die richtige Verpackung zu wählen. Nichts geschah und Jei legte den Kopf schief. Seine eindeutigen Worte schienen nicht auf hörende Ohren zu stoßen. „Hört er?“, wandte er sich an Nagi, der ihm eine hoch erhobene Augenbraue schenkte. „Ja.“ Jei seufzte und drehte sich wieder zurück. „Dann trink. Iss“, wiederholte Jei eindringlicher und hielt dem Weiß zur Bekräftigung den Becher entgegen, den dieser mit zittrigen Fingern annahm. Anscheinend wusste er, wie man mit dem Thermobecher umzugehen hatte, als er die Öffnung aufdrückte und einen ersten, vorsichtigen Schluck nahm. Überraschung kroch in die erschrockenen Augen. Unter wachsamem Blick Jeis, der ohne zu blinzeln das Tun des Weiß verfolgte, nahm dieser gehorsam so lange Schlucke aus dem Becher, bis der Tee aufgetrunken war und er ihn wieder auf exakt den gleichen Platz abstellte, an dem Jei ihn abgestellt hatte. Weniger gehorsam legte der andere Taktiker nun die Hände in den Schoß seiner angezogenen Beine und wartete mit hochgezogenen Schultern. Jei seufzte. Selbst ihr Jüngster war zu Beginn nicht so unselbstständig gewesen wie der Weiß nun. Eine Tatsache, die sicherlich auf die Folter zurück zu führen war, aber unnötig und zeitraubend trotzdem. Schließlich würde Takatori den Hellseher nicht ewig in Beschlag nehmen. Grob griff Jei zu beiden Riegeln und riss sie auf. Fordernd hielt er sie dem Weiß hin und anscheinend erinnerte sich dieser wieder daran, wie man aß. Langsam zwar, aber stetig verschwanden die Riegel in dem Jungen. Gut. Nun ging es an die Verpackung. Jei erhob sich und drehte sich zu ihrem Technikjungen um, der ihn fragend musterte und mit dem Becher und den Riegeln anscheinend genauso wenig anfangen konnte wie sein Spiegelbild, dabei war es doch so offensichtlich. „Dusche“, gab Jei die nächste Stufe seines Plans bekannt. Notgedrungen, damit der Telekinet ihn nicht von seinem Tun abhielt, weil er wieder den Verdacht hegte, dass er dem Weiß etwas tun würde. Als er keine Einwände zu hören bekam, packte er den entsetzten Weiß am Nacken. Wortlos zog er ihn hoch und zerrte ihn an Nagi vorbei aus dem Kellerraum hinaus in den gekachelten Sanitärraum hinein. Leicht stieß er ihn in Richtung der in die Wand gelassenen Duschköpfe. Nagi wollte ihnen nachkommen, doch Jei hielt ihn davon ab. Wenn er den Weiß begucken wollte, würde er ihn vorher fragen müssen…aber erst, wenn dieser zurück bei den Anderen war, hier würde es wieder nur für Komplikationen sorgen. „Warte draußen, Prodigy“, knurrte er wütend. „Du wirst ich nicht anrühren, Berserker“, drohte eben jener ihm und Jei lächelte wieder sein unglaubwürdiges Lächeln über den Schutzinstinkt ihres Jüngsten. „Er ist schmutzig. Er muss sauber werden. Das wird er selbst können ohne dich. Ich passe nur auf, dass er es auch wirklich tut“, erwiderte er und schlug dem Jungen die Tür vor der Nase zu. Langsam wandte er sich zu dem Weiß, der sich zwar zu ihm umgedreht hatte, dessen Blick sich aber in den Boden bohrte. Das war dumm, befand Jei, in Anwesenheit eines Feindes den Blick abzuwenden. Er hatte den Jungen nicht so dumm in Erinnerung, doch das spielte jetzt keine Rolle. Selbst dumme Menschen konnten duschen. „Zieh dich aus.“ Der Blick aus blutunterlaufenen, rotgeweinten Augen schoss wieder zu ihm hoch und die blonden, strähnigen Haare schüttelten sich zusammen mit dem Kopf. „Bitte, ich möchte das nicht. Tu mir das bitte nicht an, bitte. Berserker, ich…“ Jei war irritiert über die Worte und das Flehen. Duschten die Weiß nicht? Hatte der Technikjunge im Spiegel Angst vor Wasser? Wie wurde er dann reinlich? Angewidert verzog Jei seine Lippen ob der Vorstellung, dass dieser sich nicht wusch und reinigte. „Zieh dich aus“, wiederholte er anstelle dessen strenger und sah, wie Tränen in die blauen Augen traten und über die blutigen Wangen rollten. Wenn doch ihre Nervensäge nur halb so viele Tränen vergießen würde, wäre er schon froh, befand Jei und sah reglos zu, wie seinem Befehl Stück um Stück Folge geleistet wurde und der Weiß schließlich nackt und blutig vor ihm stand. Beinahe schon gelangweilt griff er erneut in den Rucksack und holte ein Handtuch und Duschgel hervor. Es war das ihres Technikjungen. Beides drückte er dessem Spiegel vor die Brust und deutete auf die Kabine links neben ihm. „Duschen“, wiederholte er und zog die Augenbraue hoch, als sich die blauen Augen ungläubig weiteten. Dieses Mal gab es keine Verzögerungen und ein paar Sekunden später hörte Jei das Wasser rauschen, das den Gehorsam des Weiß verkündete. Er seufzte tief. Wenn der Junge erst einmal zurück bei den Anderen war, würden diese ihn in seine Umlaufbahn bringen und das Duschen wäre Weiß‘ Problem. Und dann würde alles so weitergehen bis bisher, so er denn ihren eigenen, trudelnden Satelliten einfangen konnte. Im Spiegel beobachtete Jei, wie sich der Junge mit abgehackten Bewegungen einseifte und sich mit dem kalten Wasser das Blut vom Körper wusch, das seinen Weg in stark verdünnter Form in den Abfluss fand. Beinahe normal sah er wieder aus, als er aus der Dusche trat, das Handtuch fest um sich geschlungen. Wieder war der Blick zu Boden gerichtet, als könne er dadurch seinem Schicksal entgehen und Jei rollte sein Auge über abermals soviel Unvernunft. „Abtrocknen und anziehen“, gab er dem Jungen die nächsten Handlungen vor und holte aus dem Rucksack entsprechendes Material hervor. Er hatte nicht lange dafür suchen müssen, ein Griff in den Kleiderschrank ihres Technikjungen und er hatte alles gefunden, was der Weiß brauchte um angezogen zu werden. Die Sachen passten ihm, auch wenn es nicht seine waren und verdeckten die Hämatome auf seinem Körper, um die ihr Telekinet sich nicht gekümmert hatte. Zufrieden betrachtete Jei sein Werk und deutete dann auf den Boden. „Hinknien.“ So gehorsam, wie der Weiß das tat, was er wollte, wünschte er sich ihre Nervensäge und wieder erlaubte Jei sich ein missbilligendes Grollen über dessen Anwesenheit in ihrem Haushalt. Alleine, um sich davon abzulenken, griff er in den Rucksack und förderte einen Fön zutage, den er nun in einer der Steckdosen anschloss. Für einen Moment überlegte er, ob er dem Weiß diese Aufgabe überlassen sollte, doch ein Blick in die erneut vor Tränen überquellenden Augen sagte ihm Gegenteiliges. So übernahm er nun die Aufgabe und föhnte die blonden Strähnen, bis sie nicht mehr auf die Kleidung ihres Technikjungen tropften. Sie fühlten sich so weich an, dass Jei dem Verlangen widerstehen musste, sie büschelweise auszurupfen, um ihre pure Schönheit zu vernichten. Wie gut, dass er mittlerweile die Disziplin besaß, sein Verlangen seinem Willen unterzuordnen, wenn es einen besseren Plan gab, der es mehr wert war, verfolgt zu werden. ~~**~~ Die Fliesen unter seinen Knien waren kalt und bohrten sich erbarmungslos in die empfindliche Haut. Überhaupt schien ihm das Wort erbarmungslos ein stetiger Begleiter der letzten unzähligen Stunden gewesen zu sein, in denen sich Schwarz an ihm bedient hatten. Zuerst war da Schuldig gewesen, der ihn mithilfe seiner Telepathie gefoltert hatte, bis Omi nicht mehr konnte. Oder wollte. Als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte Crawford mit den Bruchstücken weitergemacht, die von Schuldigs Eingreifen noch übrig gewesen waren. Und in seiner verzweifelten Wut hatte Omi den Amerikaner verletzten wollen, so wie Schuldig und das Orakel selbst ihn verletzt hatten. Er hatte zu dem einzigen Schwachpunkt gegriffen, der ihm in dem Moment greifbar schien und hatte das bitter bereut. Die Befriedigung darüber, dass er ins Schwarze getroffen hatte und dass Crawford anscheinend wirklich von dem Menschenhändler vergewaltigt worden war, war nach und nach der Gewissheit gewichen, dass dieser ihn totschlagen würde. Und dennoch hatte Crawford aufgehört. Nach Frakturen am ganzen Körper, nach Schlägen, die Omi innere Blutungen vermuten ließen, hatte er aufgehört und hatte ihn Prodigy übergeben. Das, was Omi als finale Folter vermutet hatte, hatte sich im Nachhinein als Heilung herausgestellt, wobei er das Wort Heilung für diese Qual nicht verwenden würde. Nichts hatte er machen können, als der Telekinet ohne Gnade seine Kraft in ihn gepresst hatte, in jeden Winkel seines Körpers. Er hatte nicht schreien dürfen, sich nicht aufbäumen dürfen, nichts war ihm erlaubt gewesen, bis die Kraft des Anderen von ihm abgelassen und ihn wund und mit rasendem Herzschlag zurückgelassen hatte. Das schreiende und kreischende Ziehen und Brennen in seinem Körper war zu einem dumpfen Pochen, einer Art schlimmem Muskelkater abgeklungen und sprach von Heilung. Zu dem Zeitpunkt war Omis Widerstand aber schon erloschen gewesen. Er hatte panische Angst davor, dass es noch einmal geschehen würde. Er hatte Angst davor, durch ein falsches Wort eine neue Welle der Gewalt und Schmerz auszulösen, also sagte er gar nichts. Oder das, was seine Folterer hören wollten, die, so hatte er begriffen, ihn nur heilten, damit es wieder von vorne beginnen konnte. Ein ewiger Kreislauf aus Schmerz und Demütigung, nur weil er mit einem Mann geschlafen hatte, von dem er nicht gewusst hatte, wer es war. Omi wurde alleine bei dem Gedanken daran übel, was er getan hatte, doch er schob es weit weg von sich. Wenn er überleben wollte, dann durfte er sich nicht durch andere Probleme ablenken, auch wenn ein Teil von ihm bereits begriffen hatte, dass sein Überleben garantiert nicht mehr in seiner Hand lag. Er war vollkommen hilflos im Angesicht der PSI. Er konnte sie noch nicht einmal dazu bringen, ihn im Affekt zu töten, weil Prodigy neben seiner zerstörerischen Gabe auch noch die bisher unbekannte Fähigkeit besaß, zu heilen. Spätestens, als der Irre des Teams auftauchte, wusste Omi, dass sein Leid grenzenlos sein würde. Doch das, was er erwartet hatte, war nicht eingetreten. Anstelle von Messerspielen hatte der vernarbte Mann ihm zu trinken und zu essen gegeben. Der Tee war süß und heiß gewesen, eine Wohltat für seinen Körper und Omi hatte ihn trotz der stetigen Angst vor dem weißhaarigen Schwarz genossen. Er hatte seinen kalten Körper gewärmt und die Müsliriegel hatten seinen knurrenden und schmerzenden Magen beruhigt. Und wie war er erneut getäuscht worden, als er angenommen hatte, dass Berserker sich ihm in der Dusche aufzwingen wollen würde. Er hatte ihn duschen lassen, ihm saubere Kleidung gegeben und nun föhnte er ihm die Haare. Farfarello föhnte ihm summend die Haare. Omi presste seine Lider zusammen und versuchte, an etwas anderes zu denken als daran, dass es die Finger des irren Schwarz waren, die wieder und wieder durch seine Haare fuhren und sie mithilfe eines Föns trockneten, während er ein Lied summte, das Omi vage bekannt vorkam und dass sein geschundener Geist als Lied aus einem Disneyfilm klassifizierte. Er versuchte sich auf die Wärme zu konzentrieren, die nach der eiskalten Dusche Einzug hielt. Er versuchte sich auf den Schmerz in seinen Knien zu konzentrieren, nur um nicht über die Bedeutung dessen nachzudenken zu müssen, was nun passierte. Doch sein Verstand machte ihm bereits deutlich, dass die Einzelteile, die sich bisher außerhalb seiner Reichweite befanden, sich langsam und unaufhörlich zu einem Bild zusammenfügten. Sie gaben ihm zu trinken und zu essen, neue Kleidung und sie ließen ihn duschen. Das war nicht für ihn, es konnte es nicht sein. Es war für jemand anderen. Er hatte sich mit einem Menschenhändler eingelassen, der Crawford vergewaltigt hatte. Natürlich war das die Rache, die Crawford an ihm nehmen würde. Er würde ihn verkaufen an einen der anderen Menschenhändlerringe, die ihre Ware sicherlich nicht blutig und verhungernd haben wollte. Deswegen geschah das alles. Deswegen packte der weißhaarige Mann ihn erneut am Nacken und schleifte ihn zurück in den Raum, der von seinem Blut beschmutzt war. Omi strauchelte hinein, immer darauf bedachte, dem anderen Schwarz nicht zu nahe zu kommen, dessen überraschter Laut seine überreizten Nerven erreichte. „Das sind meine Sachen“, drang die indignierte Stimme des Telekineten an Omis Ohr und ließ ihn zusammenzucken. Wenn der Telekinet wütend war, würde er es an ihm auslassen und das würde erneut Schmerzen bedeuten. Überrascht und entsetzt fuhr Omis Blick hoch, direkt in die Augen des jüngsten Schwarz, der ihn durchdringend musterte. „Ja“, lautete die gleichgültige Antwort des Iren, als würde er ihm damit nicht mehr Schmerzen bereiten als Omi ertragen konnte. Er konnte nicht mehr, insbesondere dann nicht, wenn sie ihn verkaufen würden an Männer, die ihn unter Drogen setzen und sich hm aufzwingen würden. Doch diese würden nur normale Menschen sein. Vielleicht hätte er da irgendwann die Gelegenheit zu fliehen. Vielleicht… doch verwundet und unter Schmerzen würde ihm das nicht gelingen. Seine Hand fuhr beinahe bedauernd über den Saum des ihn wärmenden Pullovers, bevor er sich daran machte, ihn sich auszuziehen. Unmissverständlich und mit roher Gewalt wurde er davon abgehalten und er stöhnte ohnmächtig auf, als Farfarello sein Handgelenk im schmerzhaften Griff hielt und warnend verdrehte. „Nein“, erhielt er den eindeutigen Befehl, der im Widerspruch zu der zerstörerischen Wut des Telekineten stand, die mächtiger war als der Ire. So viel mächtiger. „Ich kann ihn ausziehen“, murmelte Omi mit dem Blick wieder auf den Boden gerichtet und wurde mit einem zweifachen Schnauben belohnt. „Das wirst du nicht“, raunte Farfarello in sein Ohr, während Prodigy die Arme verschränkte. „Das hast nicht du zu entscheiden, Farfarello. Das sind meine Sachen, die du dem Weiß mitgebracht hast.“ Die Absurdität der Situation ließ Omi fassungslos zurück und er wusste langsam nicht mehr, ob er schreien, weinen oder hysterisch lachen sollte. Er war in einem Kellerloch gefangen, von dem er nicht mehr wusste, wie er hierher gekommen war. Er war gefoltert worden und wurde nun an einen Menschenhändlerring verkauft und die beiden Schwarz stritten sich um Kleidung. Als gäbe es nichts Wichtigeres. Als wäre er nicht wichtig. Wut stieg in ihm hoch, ziellos und zerstörerisch, wie sie es bei Crawford gewesen war. Eben diese Wut gab ihm Kraft in das Gesicht des Telekineten zu starren und dessem unzufriedenen Blick standzuhalten. „Soll ich mich ausziehen?“, fragte er mit beißender Selbstironie. „Sicherlich brauche ich deine Kleidung in dem chinesischen Bordell, in das ihr mich verkaufen werdet, nicht.“ Anstelle der erwarteten Wut, die ihn treffen würde, wurde es still um ihn herum. Naoe starrte ihn wortlos an, die Augen ungläubig geöffnet. Hinter ihm gab selbst der Irre des Teams einen Laut des Unverständnisses von sich und Omi Lippen verließ ein weiteres, verzweifeltes Schnauben. „Glaubt ihr, ich wüsste nicht, wozu der Tee, das Essen, die Dusche hier dienen? Glaubt ihr, ich wüsste nicht, was euer Anführer geplant hat, nur weil ich…“ Omi würgte sich ab und verstummte abrupt. Er verbot sich weiter zu sprechen, weil die Folgen dessen unkalkulierbar waren und er schon genug gesagt hatte. Viel zu viel. „Ist das so, Jei?“, fragte Naoe tatsächlich mit dem Hauch des Unwissens, den Omi ihm keine Sekunde abnahm, und der Ire lachte. Vertraulich strichen die vernarbten Lippen über sein Ohrläppchen und hinterließen eine brennende Spur an Gänsehaut. „Wenn du den Blumenladen, den ihr für eure nutzlose Tarnung nutzt, ein Bordell nennen möchtest, kleiner, schöner Weiß, dann ja, werden wir dich dahin verkaufen“, raunte die raue Stimme in sein Ohr und Omi konnte nicht anders. Abrupt drehte er sich in dem eisernen Griff des Berserkers um und wagte einen Blick in das verbliebene Auge. „Was?“, fragte er mit klopfendem Herzen voller Hoffnung auf etwas, das eigentlich nicht sein konnte. Zurück zu Weiß? Wieso sollten sie? Was für Grund konnte es haben? Welchen Sinn hatte das? „Zurück in die Umlaufbahn mit dir, kleiner trudelnder Satellit“, murmelte der weißhaarige Schwarz und fischte nach einem Haar, das ihm ins Gesicht hing. Mit einem Grinsen zog er es und drehte ihn zurück zu dem Telekineten, der ihn ausdruckslos maß. Omi senkte seinen Blick und richtete ihn fest auf dem Boden gerichtet, auch oder gerade dann, als Prodigy auf ihn zukam und er sich nun in der Mitte zwischen den beiden Schwarz befand. Zu nah, schrie eben jene Stimme panisch in ihm, die keine Grausamkeit mehr ertrug und die nun neue Hoffnung auf Besserung geschöpft hatte. Omi ballte seine freie Hand zur Faust, als der Schwarz zum Sprechen ansetzte. „Wage es ja nicht, diese Sachen wegzuwerfen oder zu vernichten, Weiß. Du wirst nicht mögen, was passiert, wenn ich herausfinde, dass du es dennoch getan hast. Aber keine Sorge, ich werde sie mir aus eurem kleinen, heimeligen Blumenladen wiederholen.“ Omi zuckte vor dem Lächeln in den Worten zurück, das ihm voller sadistischer Versprechen schien. Er schluckte mühevoll und schwieg zu der Drohung. Sollten sie ihn wirklich gehen lassen, würde er sich später darum kümmern können. So nickte er lediglich und schloss die Augen, voller Angst, dass jedes Wort, das er verlor, sie umstimmen würde. Wieder war es Farfarello, der ihn zurückzucken ließ, als er ihm von hinten über die Lippen strich. „Und nun mach deinen Mund auf, kleiner Weiß. Zeit für dich zurück zu kehren.“ Gehorsam öffnete er die Lippen und zuckte überrascht, als es ein Knebel war, der sich eisern in seine Mundwinkel schnitt. Überrascht wehrte er sich, doch dann wurde ihm sein Augenlicht genommen und die Finger, die seine Hand im eisernen Griff gehalten hatte, zwangen diese hinter seinen Rücken zu den Handschellen, die dort auf sie warteten. Omi stöhnte verzweifelt auf, wurde jedoch gnadenlos aus dem Raum gezogen, Treppen hinauf, die er sich nicht mehr erinnern konnte, heruntergekommen zu sein. Der Raum, durch den er zu einem Auto geführt wurde, war kalt und weitläufig, wenn er dem Echo seiner Schritte vertrauen konnte, ganz im Gegensatz zu dem engen Kofferraum, in den der Schwarz ihn nun sperrte und nach unendlich langer Zeit mit ihm durch die Stadt fuhr. Omi zitterte am ganzen Körper und klammerte sich an den kleinen Funken an zerstörerischer Hoffnung, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Frage, was passierte, wenn es eine Lüge war, wollte er sich nicht beantworten, wollte noch nicht einmal einen Gedanken daran verwenden. So klammerte er sich die endlosen schrecklichen Augenblicke im Kofferraum an die rettende Vorstellung seines Teams. Und endlich…endlich…hielt der Wagen an und Omi hatte das Gefühl, dass sein Herz stehen blieb. Kaum, dass er hörte, wie der Kofferraum geöffnet wurde, zogen ihn auch schon gnadenlose Hände aus dem Wagen. Es war Farfarello, der ihm die Augenbinde abnahm und mit einem verzweifelten Blinzeln erkannte er, dass sie sich im Hinterhof des Konekos befanden. Gegen alle Vernunft begann sich Omi gegen den eisernen Griff des Berserkers zu wehren, in der plötzlichen Angst, dass etwas fürchterlich schief gehen würde. Dass Prodigy und er sein Team auslöschen würden und ihn nur zu diesem Zweck hierhin gebracht hatten. Doch kaum hatte Farfarello ihn mit einem Lächeln losgelassen, fing Naoe ihn wieder ein und schob ihn unerbittlich in Richtung Hintereingang. „Zurück in den Weltraumbahnhof mit dir, kleiner Satellit“, murmelte Farfarello und nahm zusammen mit Prodigy und ihm den Hintereingang. Wie nichts öffnete sich eben jene Tür, die ihr Heim schützen sollte und er wurde hineingestoßen. Hinein in die Wärme seines Zuhauses, hinein zu den Stimmen seines Teams und seiner Freunde. Omis Blick verschwamm vor den Tränen, die in seine Augen traten, und beinahe wäre er in seinem eigenen Haus gestürzt, wenn Farfarello ihn nicht vertraulich an sich gepresst hätte und mit ihm ins Wohnzimmer gegangen wäre, wo Omi nicht nur sein Team vorfand, sondern auch noch Birman und Manx, deren Gespräche nun abrupt erstarben, als sie ihn sahen. Ihn. Farfarello. Naoe. Wie Salzsäulen wurden sie dort unter dem Einfluss des Telekineten festgehalten, während der weißhaarige Schwarz in die aufkommende, gespenstische Stille irre kicherte. „Sieh sie dir an, kleiner Satellit. Wir haben sie überrascht, hatten sie doch keine Ahnung, wo du warst und wie sie dich zurückbekommen sollen. So schlecht passen sie auf einen der ihren auf. Ist das nicht bitter? Die Frage ist, was sie bereit sind, für dich zu bezahlen, wo sie dich doch jetzt so überraschend wieder haben. Ob sie überhaupt bereit dazu sind oder ob wir dich wieder mitnehmen sollen, damit du ihnen nicht zur Last fällst.“ Omi lief es eiskalt den Rücken hinunter. Nein… bei allem, was ihm heilig war, nein. Das konnte nicht sein, nicht so kurz vor dem Ziel. Nein, bitte nicht. Er wehrte sich in dem Griff des Berserkers, doch der plötzliche Lauf einer Waffe an seiner Schläfe hielt ihn davon ab. Abrupt verharrte Omi ebenso still wie sein Team, während er ihnen in die erschrockenen Augen starrte. In diesem Moment ahnte Omi, dass er sterben würde. Und ebenso sicher wusste er, dass er das im Angesicht seines Teams tun würde. Sie würden das Letzte sein, was er sah, nicht Schwarz. Sie, seine Freunde, seine Familie. Nur sie. Die Waffe, die nun seine Schläfe verließ, richtete sich auf eben jene und Omi schrie hinter dem Knebel. Er wimmerte, flehte, bettelte erstickt, dass der Schwarz Gnade zeigte, doch weit gefehlt. Farfarello richtete die Waffe unnachgiebig auf jeden seines Teams und als ihm der Knebel aus dem Mund gerissen wurde, ahnte er das Schlimmste. Zurecht. „Wähle, kleiner Satellit. Ein Leben für ein Leben. Wer soll es sein?“ Verzweifelt schluchzte Omi. „Niemand. Bitte. Wenn du jemanden töten möchtest, dann nimm mich. Töte mich, aber nicht sie. Bitte, Farfarello. Bitte!“ Ein missbilligendes Zungenschnalzen antwortete ihm. „Das sind nicht die Regeln des Spiels, Bombay. Wen wählst du?“ Mit Omi im festen Griff ging der Schwarz zu seinem Team und ließ ihn in die besorgten Augen Youjis starren. Wild schüttelte Omi den Kopf. Ebenso bei Aya, ebenso bei Ken und bei Manx. Natürlich auch bei Birman. Sie blieben bei der Kritikeragentin, die den Schwarz mit absolutem Hass und brennender Verachtung und doch so etwas wie Genugtuung in ihrem Blick musterte, die sich Omi nicht erklären konnte. Omi schüttelte den Kopf. „Bitte, Farfarello. Wenn du jemanden töten willst, dann nimm mich. Nicht sie.“ Wie als hätte er ihn nicht gehört, richtete sich Farfarellos Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Agentin, die Omi großgezogen hatte. „Schau her, kleiner Satellit. Schau sie dir genau an“, raunte Farfarello und Omi verdrehte schmerzhaft seinen Kopf um einen Blick in das verbliebene Auge zu werfen. Oder auf Naoe. „Nicht sie, Farfarello. Bitte! Erschieß mich anstelle dessen. Halt ihn davon ab, Naoe!“, gellte es nunmehr panisch aus seinem Mund. Ein heiseres Lachen penetrierte Omis überreizten Gehörgänge. „Du willst dich für die böse Königin opfern, kleiner Prinz? Und wieder einmal weißt du gar nichts und denkst, dass du alles weißt. Schau genau hin, trudelnder Satellit. Sieh nicht mit den Augen.“ Der Schuss, der auf die Worte des Schwarz folgend durch die Stille dröhnte, ließ ihm genauso wie sein eigener Schrei die Ohren klingeln, als er sah, wie Birman zu Boden ging, getroffen durch eine Kugel in den Bauch. Er selbst wurde vorwärts gestoßen, direkt in die Arme seines Anführers hinein, der über ihn hinweg Farfarello verständnislos, aber nicht im Mindesten fassungslos ansah. Er konnte nicht aufhören nach Birman zu schreien, bis alles Erlebte der letzten Stunden oder Tage in all seiner Schrecklichkeit über ihn hereinbrach und er mit einem gewaltigen Rauschen in seinen Ohren schlussendlich das Bewusstsein verlor. ~~**~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)