Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 3: Familienbande ------------------------ ~~**~~ „Na, geht‘s wieder?“ Crawford schwieg. Er würde den Teufel tun und Schuldig auf seine allzu neugierige und hämische Frage antworten. Was sollte er auch schon sagen? Der Beweis für das Gegenteil war doch evident und prankte sicherlich hellrot in seinem Gesicht. Sie saßen mittlerweile wieder im Auto, das Schuldig möglichst rasant zurück zu ihrem Anwesen lenkte. Dankbarerweise, das musste Crawford ihm lassen, hatte er sich ohne Diskussion auf den Weg nach Hause gemacht. Das Orakel schloss für einen Moment die Augen. Die verabreichten Schmerzmittel hatte ihn müde gemacht und die Schmerzen in seinem Inneren wie auch Äußeren hatten stumpf aber bestimmt zugenommen und ließen ihn nun in unregelmäßigen Abständen unmerklich erzittern. Crawford machte sich keine Illusionen darüber, dass Schuldig nicht jede kleinste Regung, derer er ansichtig wurde, dazu nutzen würde, sie ihm unter die Nase zu reiben und spaßeshalber seinen Status als Anführer in Frage zu stellen – so wie er es früher auch schon gemacht hatte. Auch oder gerade, weil er sich gerade angesichts der eisigen Stille wieder auffallend auf den Verkehr konzentrierte und ihn nicht beachtete. Der Telepath war weder dumm noch ignorant, er hatte die Schmerzen sicherlich bemerkt, die ihn angespannt und schweigsam sein ließen. Crawford brauchte dringend Ruhe, schon alleine um seine Gabe zurück zu erlangen, die brach lag und ihm letztendlich mehr Sorgen bereitete als sein Körper. Der Telepath neben ihm seufzte allzu unsubtil in sich hinein und trat das Gaspedal durch, als er dem lahmlegenden tokyoter Verkehr entkommen war. Fast erwartete Crawford, Schuldig an den Wällen seiner Schilde zu spüren. Doch noch ließ sich der andere Mann nicht dazu herab, ihn auf diese Weise zu überfallen. Nicht, dass Crawford ihn nicht blocken konnte und das zur Not mit sehr rabiaten Mitteln, wie es zu Beginn ihres Zusammenarbeitens häufiger der Fall gewesen war. Doch mittlerweile hatten sie sich in den meisten Fällen austariert und Crawford hatte seine Grenzen derart eng gesteckt, dass solche Gefechte nicht mehr nötig waren. „Der Panda hat dich geschlagen?“, fragte Schuldig in die Stille hinein und Crawford wünschte sich, dass er nicht eine ganze, lange Ampelphase hatte, um der Frage ausreichend oder gar nicht zu antworten. Doch der Verkehr gab wieder einmal sein Bestes und damit spielte die Zeit gegen ihn. An Schuldigs Ton erkannte er, dass der Telepath nicht wirklich mit einer Antwort rechnete und Crawford beschloss, für etwas Neues zu sorgen. Ein bitteres, böses Lächeln lag auf seinen Lippen, als er sich zu Schuldig drehte. „Besser. Er hat mir seinen Golfschläger durchs Gesicht gezogen“, erwiderte er, als wäre es nicht ihm passiert und labte sich an dem aufkommenden Entsetzen in den Zügen des Deutschen, als dieser sich unwillkürlich an seine Begegnung mit eben jenen erinnerte, die ihn für Wochen außer Gefecht gesetzt hatte. Ein kleiner Triumph war hart erkämpft heutzutage. Aber wer wäre Crawford, wenn er sich nicht auch über die kleinen Dinge des Lebens freuen würde? ~~**~~ Zehn Grad waren ihm einfach zu wenig, beschloss Nagi, als er sich in seinen Schal hüllte und missmutig nach draußen starrte. Es war beinahe Mai und der heutige Temperatursturz gefiel ihm ganz und gar nicht. Es sollte zwanzig Grad und wärmer sein, aber die kalte Suppe da draußen war nicht normal. Klimawandel, nein, den gab es nicht… Nicht sein Problem. Nagi ging zurück in die Küche und holte sich seinen Thermobecher mit Tee, Milch und Zucker, den er vor exakt vierundzwanzig Minuten befüllt und verschlossen hatte. Er hatte sich diese Art Getränk vor Jahren von Crawford abgeschaut und schließlich Gefallen daran gefunden. Zum Leidwesen Schuldigs und zur stillen Zustimmung des Orakels. Den hermetisch verschlossenen Becher stopfte er in seine Büchertasche und ging zurück in den Flur um sich die Schuhe anzuziehen. Eine Aufgabe, die er seine Gabe erledigen ließ, weil er just in diesem Moment zu faul war, sich zu bücken und weil er üben musste. Täglich mindestens drei Übungen an mikrochirurgischen Eingriffen in seinem Alltag, so sein stetiger Stundenplan gemäß Crawford, der ihn seit seiner Ankunft hier begleitete und den er zu dokumentieren hatte. Es hatte ihn weit gebracht und eine Übung wie diese war mittlerweile kein Problem für ihn und so starrte er eher desinteressiert auf die sich schließenden Schnürsenkel. Erst danach zog er sich seine dicke Winterjacke über und öffnete die Tür zu ihrem Haus. Er musste für ein paar Stunden zur Universität, seine Stunden in Festkörperphysik standen an. Zugegeben, er freute sich wirklich darauf, da es ihn forderte, auch wenn er den Drang dazu verspürte, hier zu bleiben und darauf zu warten, dass sein Anführer zurückkehrte und sich mit ihm in die Missionsnachbesprechung setzte, wie er es immer tat, aber noch nicht getan hatte. Es war so etwas wie ihre gemeinsame Zeit und das schätzte Nagi sehr. Jede Zeit, die er mit ihrem kühlen und besonnenen Anführer verbrachte, gefiel ihm gerade wegen Crawfords unnachgiebiger Strenge, mit der er ihn seit Jahren erzog. Crawford war es gewesen, der ihn von der Straße geholt hatte. Nagi erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Es hatte angefangen zu schneien und die Kälte hatte ihm wie jedes Jahr, das er auf der Straße verbrachte, nachdem die Frau, die ihn auf die Welt gepresst und dann vergessen hatte, zugesetzt. Wie immer hatte er gebettelt und sich vor der Polizei versteckt, um nicht in ein Waisenhaus gebracht zu werden. Wie immer war seine Ausbeute dürftig gewesen und er hatte zitternd und hungrig zwischen Häuserwänden an der Abwärme einer Klimaanlage gekauert, als sich das spärliche, fahle Winterlicht verdunkelt hatte. Zur Flucht bereit hatte er seinem Angreifer in die Augen gestarrt, der groß über ihm thronte. Doch der Ausländer in dem schwarzen Wollmantel beschimpfte ihn nicht, versuchte ihn nicht zu Dingen zu überreden, von denen er automatisch wusste, dass sie nicht gut waren, er schlug ihn nicht dafür, dass er sich hier versteckte. Nein. Nichts dergleichen hatte der große Mann getan. Nur einen Thermobecher hatte er ihm entgegengestreckt und sich gleichzeitig auf die Knie begeben, um mit ihm auf einer Höhe zu sein. Die eiskalten Augen voller strenger Beherrschung hatten ihm damals eine Heidenangst eingejagt und schneller, als er den Mund aufmachen konnte, hatte er ihn an die gegenüberliegende Wand gepresst und war überstürzt aus meinem liebgewonnenen Versteck gekrochen. Flucht war wichtiger als Wärme und dieser Mann konnte nichts Gutes von ihm wollen. Vier Schritte weit war er gekommen, da hatte ihn Crawfords Stimme zurückgehalten. „Ich weiß, wer du bist, Naoe Nagi“, waren es harte, aber ruhige Worte gewesen, die ihn hatten verharren lassen. Einfach, schnörkellos, schnöde, so langweilig. Doch für ihn war es das nicht gewesen. Dieser Fremde kannte seinen Namen. Er nannte ihn bei eben jenem und war der Erste außer Nagi selbst gewesen, der diesen beinahe vergessenen Namen ausgesprochen hatte. „Ich weiß um deine Gabe.“ Damals war diese noch ein Fluch gewesen, der ihn absonderte und zu einem Monstrum machte, das verstoßen gehörte. Doch nicht in den kalten, unnahbaren Augen des Mannes, der sich aufgerappelt hatte um langsam zu ihm zu kommen. Wieder war da die Hand gewesen mit dem Becher an unbekanntem Inhalt, die sich ihm ruhig entgegengestreckt hatte. „Mein Name ist Brad Crawford und ich sehe das, was noch nicht passiert ist.“ Dieser eine, ruhige Satz hatte sie heute hierhin geführt, ihn und den Thermobecher, der irgendwann einmal – so abgegriffen und voller Gebrauchsspuren er auch war – in seinen Besitz übergegangen war. Oder vielmehr in sein alleiniges Nutzungsrecht, da Crawford sich mittlerweile einen anderen zugelegt hatte und Schuldig derlei Annehmlichkeiten nicht zu schätzen wusste. ~Nur weil ich mit eurem Hipstertee nichts anfangen kann~, schnaubte es ohne Zeitverzug in seinen Gedanken und Nagi rollte mit den Augen. Müsste er Schwarz mit dem idealisierten Bild einer Familie vergleichen, so wäre Schuldig der komische Onkel oder der rotznasige, ältere Bruder, aus dem nichts geworden war und der nun die ganze Familie auf Trab hielt, während der Vater, also Crawford, mit strenger Regie versuchte, Disziplin und Ordnung aufrecht zu erhalten. ~Dir ist schon klar, dass ich dich hören kann?~ ~Und das macht jetzt welchen Unterschied? Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ich dich in diese Schublade stecke.~ ~Wiederholung macht es nicht besser, du kleiner Hosenscheißer.~ ~Repetition ist der Schlüssel zum Erfolg.~ ~Ja, zum Erfolg, dass ich dir den Hintern versohle.~ Nagi schmunzelte kurz. ~Try me, Mastermind.~ Zuvorkommend und höflich, wie er war, gab er Schuldig einen dezidierten Ausblick auf das, was ihn erwarten würde, sollte er auch nur wagen, eine Hand an ihn zu legen. ~Später, später… jetzt brauche ich dich erstmal zuhause. Ich komme gleich mit unserem Anführer zurück und möchte, dass du mit ihm ein Missionsbriefing machst oder ihn dazu überredest, wenn er sich weigert.~ Überrascht hob Nagi die Augenbraue. ~Warum sollte ich das tun, wenn er es nicht möchte? Außerdem bin ich auf dem Weg zur Uni, ich sollte schon längst unterwegs sein.~ ~Sind dir deine blöden Kurse wichtiger als dein Anführer, Prodigy?~, hielt Schuldig dagegen und Nagi schluckt unwillkürlich. Nein, das waren sie ihm definitiv nicht. Schwarz stand unangefochten an erster Stelle und alles Weitere hatte hinten an zu stehen. Selbst seine geliebten Physikkurse. ~Und wie soll ich ihn überreden?~, fragte er zurück und wurde mit einem mentalen Schulterzucken belohnt. ~Sei sein braver, kleiner Ziehsohn, der ganz nach ihm kommt und seine Regeln befolgt, Nagi. Das kannst du doch?~ Was Schuldig ihm so nonchalant an den Kopf warf, stimmte und es schmerzte Nagi nicht im Geringsten. Im Gegenteil, er war stolz darauf, dass er die Regeln, die Crawford seit Beginn seines Hierseins für ihn aufgestellt hatte, befolgte und den anderen Mann damit stolz machte. Schuldig sah sie als zu streng an, als einengend, doch für Nagi waren die Regeln, denen er unterworfen war, genau das Richtige und er fühlte sich wohl in der Führung, die Crawford ihm gab. Ebenso wie er ihn stolz machte, indem er seine Gabe schulte und über sich hinauswuchs, zur Freude seines Anführers. ~Das ist doch zum Kotzen.~ ~Du meinst deinen Modegeschmack? Da stimme ich dir zu~, gab Nagi zurück und rollte mit den Augen. Dass er Crawfords Befehlen folgte, hieß nicht, dass er Schuldig alle Freiheiten ließ, mit ihm zu machen was der Telepath wollte. Schuldig war ebenso Teammitglied wie er auch, auch wenn er sich fragte, warum Rosenkreuz ausgerechnet die beiden Männer zusammen in eine Gruppierung gesperrt hatte. Da hätte es sicherlich reibungslosere Kombinationen gegeben als einen aufdringlichen und lauten Telepathen und einen stringenten und gradlinigen Hellseher. ~Was bist du doch für ein parteiischer, kleiner Hosenscheißer.~ ~Immer.~ ~Wir kommen gleich an, also tu mir einen Gefallen und wirke deine Gehorsamkeitsmagie auf unseren ehrenwerten Anführer. Das kann er brauchen, nachdem Takatori ihm ins Gesicht geschlagen hat.~ Unwillkürlich zuckte Nagi zusammen. ~Was hat Takatori getan?~, fragte er noch einmal nach nur um ganz sicher zu sein, da er glaubte, sich verhört zu haben. Wie konnte der Mann es wagen, ihren Anführer zu schlagen? Wie konnte er es wagen, Hand an ihn zu legen? Wut kroch in ihm hoch wie ein lauerndes Raubtier. Wut war nicht gut, nicht für jemanden wie ihn und Crawford hatte ihn anderes gelehrt. Wut würde sein Team gefährden und sie in Schwierigkeiten bringen, wenn er eben diese an Unbeteiligten ausließ. Insbesondere seine Wut konnte Häuser in sich zusammenfallen lassen. Also musste er seine Emotionen im Griff behalten und dafür sorgen, dass seine rationale Seite immer die Oberhand behielt. Auch dafür waren die strengen Regeln gedacht. Die nun eher weniger Anklang fanden. ~Er hat ihm einen Golfschläger durchs Gesicht getrieben für die vergangene Mission und sein Versagen dort.~ Der Thermobecher in seiner Hand vibrierte verdächtig. Bedächtig stellte Nagi ihn ab und löste seine Fäuste. Wie Crawford es ihm gezeigt hatte, atmete er, als würde er eine Panikattacke erleiden um seinen Puls zu beruhigen und damit seine Gabe, die in ihm hochkochte, wieder niederzuringen. ~Und damit kommt er durch?~ Schuldig schnaubte mental. ~Klar. Er ist doch das prämierte Rennpferd, das Rosenkreuz‘ liebstes Spielzeug ist.~ Nagi schluckte schwer. Sie alle hatten seit Takatori Schuldig mit dem Golfschläger verprügelt und ihn krankenhausreif geschlagen hatte, nichts mehr für ihren Auftraggeber übrig. Und nun auch noch Crawford. Hass wallte ungebeten in Nagi hoch. Wenn er doch endlich die Gelegenheit dazu erhalten würde, den widerlichen Japaner für seine Unverschämtheit zu strafen. ~Er wird dafür bl…~ ~Nana, lass das, Naoe Nagi. Das sollst du nicht denken~, würgte Schuldig seine Gedanken ab, noch bevor er sie ausformulieren konnte und Nagi war dankbar darum. Ihren Auftraggeber zu bedrohen würde im Ernstfall harte Strafen nach sich ziehen, von denen der Tod sicherlich noch die mildeste war. Stumm nickte der Telekinet und atmete ruhig ein. Lieber konzentrierte er sich da auf den Wagen, der den Kies in ihrer Einfahrt knirschen ließ und streifte sich in Höchstgeschwindigkeit seine Schuhe ab um kurz darauf seine Jacke auszuziehen und seine Tasche ordentlich abzustellen, als wäre er nicht gerade auf dem Weg in die Universität gewesen und würde nun seinen Kurs verpassen. ~Wir kommen rein. Achtung, er hat schlechte Laune~, warnte Schuldig ihn vor und Nagi begab sich in ihre Küche, von der er aus einen versteckten Blick in den Flur hatte. Nicht, dass Crawford ihm Aufmerksamkeit schenkte, als er vom Flur aus, wo er seine Schuhe abstreifte, in sein Büro ging und ihn wieder ignorierte. Nagi schluckte schwer. Seit Crawford am gestrigen Nachmittag angekommen war, ging das so und entsprach nicht den Regeln. Ein Missionsdebriefing hatte mindestens am Morgen nach der abgeschlossenen Mission zu erfolgen um die Informationen auszutauschen und eventuelle Konsequenzen zu besprechen. Eine Verzögerung war durch Crawford nicht erwünscht. Das wäre doch eine gute Begründung, oder? ~Ja, wäre es. Und jetzt schwing deinen Streberarsch in Richtung Büro.~ ~Aus welchem Grund eigentlich?~ Schuldig kam in die Küche und grinste, auch wenn sich Nagi nicht sicher war, ob er das als Grinsen bezeichnen wollte. Viel zu sadistisch mutete es ihm an. ~Unser ehrenwerter Anführer hat sich von mir zur Rosenkreuzklinik chauffieren lassen, wo sie ihn anscheinend dreimal komplett auf den Kopf gestellt haben, so lange, wie er dort war. Danach mussten wir dringend zum Panda, der ihm dann seinen Golfschläger ins Gesicht getrieben hat. Und meinst du, unser geschätztes Orakel redet über das, was passiert ist? Mit mir nicht. Also musst du ran.~ ~Vielleicht möchte ich ihm sein Geheimnis lassen?~, hielt Nagi zögerlich dagegen und Schuldig lachte sein unangenehmes, aufdringliches Lachen, das seinen Mitmenschen mitteilte, wie wenig er von den nutzlosen Worten oder Gedanken hielt. Seufzend schloss Nagi die Augen und schüttelte schicksalsergeben den Kopf. ~Wenn er mich dafür straft, werde ich die Strafe eins zu eins an dich weitergeben, das ist dir klar, oder?~ ~Jaja.~ ~Und was, wenn er nicht mit mir spricht?~ ~Dann solltest du es nochmal versuchen, Wunderkindchen.~ ~Vielleicht fragst du ihn einfach?~ Schuldig hob spöttisch eine Augenbraue. ~Was bist du doch für ein schlauer Junge. Was meinst du, was ich getan habe?~ ~Ich meine nicht Crawford. Takatori.~ Eher ironisch hatte Nagi diese Idee ins Spiel gebracht. Takatori fragen… als wenn der Politiker irgendetwas sagen würde. Nein, natürlich nicht, im Gegenteil: er würde in vollen Zügen seine Machtposition Schwarz gegenüber auskosten, da Schuldig Takatori nicht lesen durfte, seitdem er ihr Auftraggeber war und der Rat es so bestimmt hatte um ihre unabdingbare Loyalität zu sichern. Aus welchen Gründen auch immer. Doch wer war Nagi, die Entscheidungen ihres Rates zu hinterfragen? Insbesondere wenn Ratsherr Leonard die Aufsicht über ihr dickes Zugpferd hatte und nur die Dame des Hauses nach Genehmigung des Rates den widerlichen Fettsack lesen durfte? Schuldigs Blick in seine Richtung als schmutzig zu bezeichnen, war weit untertrieben. Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins für einen absolut sterilen Raum und zehn für eine Müllkippe stand, lag der Ausdruck in den Augen des deutschen Telepathen ungefähr bei zwölf. Nagi musste lächeln. Und noch einen draufsetzen. Er fühlte sich gerade danach. ~Du könntest sie um Hilfe bitten.~ Damit hatte er Schuldig! Erbost grollte dieser in den sonst stillen Raum hinein. ~Ohne Scheiß, Naoe! Noch irgendwelche klugen Vorschläge?~ ~~**~~ Nachdem Aya sich das Blut von seinen geschwollenen Fingerknöcheln gewaschen und festgestellt hatte, dass er für heute nicht in einer der Schichten eingeplant worden war – er vermutete Youji dahinter - hatte er sich dazu entschlossen, den Tag im Freien zu verbringen. Er musste nachdenken, einen klaren Kopf bekommen, er brauchte einen Plan, um seine Schwester aus den Fängen der verfluchten Verräterin zu lösen. Ohne Ziel streifte er in der Stadt herum und fand sich schließlich in einem der unzähligen Parks wieder. Ein lauschiger, kleiner See befand sich in der Mitte. Geistig und körperlich erschöpft ließ sich Aya auf eine der unzähligen Parkbänke nieder und schloss für einen Moment die Augen. Ein schöner Frühlingstag, sehr warm und sonnig, mit dem Rauschen der Bäume im Hintergrund. Trügerisch entspannend. Er brauchte die Zeit, um sich darüber klar zu werden, was in den vergangenen Tagen und Stunden passiert war. Birman, wie sie ihre Ideale verriet. Kritiker, die, so vermutete er, nicht mit unter der Decke steckten. Oder nicht gänzlich. Die Frage war, wer und wer nicht. Perser selbst vielleicht? Aber warum? Es waren Faktoren, die einer Gleichung angehörten, deren Lösung ihm alles andere als bekannt war. Und genau die musste er nun alleine entwirren, denn er wollte Weiß nicht mit in diesen Abgrund ziehen. Zudem hatte Aya brachiale Angst um seine Schwester, die Birmans Rache gegenüber mehr als hilflos war. Ein Geräusch neben ihm ließ ihn aus seinen Gedanken auftauchen. Sein Instinkt sagte ihm, dass es niemand war, der ihm gefährlich werden würde, vielleicht einfach ein anderer Spaziergänger. Er öffnete langsam seine Augen, um sich dem Anderen zuzuwenden. „Ein herrlicher Tag, nicht wahr, Red?“ Zuerst weigerte sich sein Verstand, das anzuerkennen, was er nun sah und hörte. Den Mann zu identifizieren, der nun neben ihm saß, ihn freundlich anlächelte. So, als ob sie nicht Feinde waren und als ob er nicht dessen Basis in die Luft gesprengt und ihn versucht hatte zu töten. Ayas Lippen entkam kein Ton, als er nun wirklich sämtliche Zweifel an der Identität des Mannes fallen ließ. Vor ihm saß der sadistische Mann, dessen sanftes Lächeln so zweischneidig war wie das die Klinge eines Messers. Hellbraune Haare leuchteten in der Sonne, die in leichten Wellen nach hinten fielen, sein Gesicht umrahmten, das durch seine beinahe olivefarbigen Teint bestach. Eine sanfte, stetige Bräune, dazu trügerisch warme, graue Augen und feingliedrige Hände, die verbargen, was für ein Monster er wirklich war. Das durfte doch nicht wahr sein. „Ich muss schon sagen, dass es mich amüsiert hat, dich dabei zu beobachten, wie du gegen mich arbeitest und du es trotz aller Widrigkeiten tatsächlich geschafft hast, meine Basis in die Luft zu sprengen.“ Das Aftershave des Mannes wehte zu ihm herüber und ließ Aya schwer schlucken. Lasgo war hier, um ihn zu töten. Und er selbst war unbewaffnet, konnte sich mit nichts anderem verteidigen als seinen bloßen Händen. Wie hatte er auch nur einen Moment annehmen können, dass das alles hier bereits vorbei war? Wie hatte er annehmen können, dass Birman sein einziges Problem war? „Lasgo.“ Jetzt endlich durfte er seine Wut und seinen Hass über die Verderbtheit des anderen Mannes herauslassen, die er schon seit Wochen empfand. Erinnerungen an die letzten Tage seines Aufenthalts überkamen ihn, Erinnerungen ausgerechnet an Crawford, wie er am Abend des dritten Tages zusammengesunken auf dem Boden von Lasgos Gemächern gekniet hatte. Zum wievielten Mal auch immer vergewaltigt. Dafür, doch nicht ausschließlich dafür, verdiente Lasgo alles, was Aya bereit war ihm anzutun. „Birman hat mir viel über dich erzählt, Ran Fujimiya, der sich den Namen seiner Schwester gegeben hat. Über dich, dein Leben im Dienst der Rache, über deine Schwester und Weiß.“ Ayas Puls rauschte in seinen Ohren, als er den Horror begriff, der sich ihm just in diesem Moment auftat. Aya starrte Lasgo in die amüsiert funkelnden Augen. Er hatte es vermutet, doch zwischen Vermutung und Gewissheit lagen Welten, wie er nun feststellte. Welten des eiskalten Entsetzens. „Weißt du, warum ich dir den Anführer von Schwarz geschenkt habe, Aya?“ Verwirrt runzelte Aya die Stirn. Er hatte viel erwartet, eine solche Frage jedoch nicht. „Nein“, brachte er hervor und schaffte es erst nach und nach, seinen Herzschlag zu beruhigen und Lasgo zu fixieren. Der Drogenhändler selbst wirkte vollkommen ruhig und gelassen, wie immer. Er lächelte nun, eine charmante, unerwiderte Geste. „Birman und du, ihr habt eines gemeinsam. Euren Hass auf Schwarz. Und genau das fand ich so ansprechend. Verachtung macht eine Kreatur wie dich so ätherisch, dein Hass verleiht dir eine unglaubliche Anziehungskraft. Genauso wie deine Menschlichkeit, die dich überschwemmt hat, als du Crawford das erste Mal gesehen hast, so nackt und hilflos. Ich habe ihn dir geschenkt, damit du dich an ihm für all das, was er getan hat, rächst. Ich wollte dir etwas Gutes tun.“ „Gutes?“, stieß Aya zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Auf deine Stufe lasse ich mich nicht herab, Lasgo.“ „Ach nein? Das sah aber ganz anders aus, als du so kurz davor warst, dich ihm aufzuzwingen.“ Aya konnte sein Gegenüber nur sprachlos anstarren. Woher wusste er das? Lasgo lachte erneut, ein intensives Geräusch, ein vermeintlich angenehmer Ton, wenn er nicht wüsste, was dahintersteckte. Der ältere Mann betrachtete für einen Moment versonnen seine perfekt manikürten Finger und hielt sie sich schließlich vor Augen. „Denkst du, ich schenke dir etwas, ohne dabei auch an meinen Vorteil zu denken? Ein wenig naiv, Anderes anzunehmen, meinst du nicht auch? Aber lass uns nicht abschweifen. Denkst du, ich hätte keine Vorkehrungen getroffen, um euch beide beobachten zu können? Deine Überprüfung der kleinen Wohnung war gründlich, nur hatte Birman mir zu dem Zeitpunkt bereits eine Kopie der Technik zukommen lassen, mithilfe derer ich die Frequenz deines Ortungsgerätes umgehen konnte. Schön, nicht wahr? Es gab nichts, was ich nicht gesehen habe. Und ich muss sagen, ich habe es schließlich genossen, euer Zusammenspiel zu verfolgen, das so überraschend friedlich war.“ Es hätte Aya nicht überraschen sollen. Wirklich nicht. Und dennoch hatte er das Gefühl, mit einem Mal gegen eiserne Bande um seine Brust atmen zu müssen. Lasgo hatte alles gewusst. ALLES. Und er selbst hatte sich vollkommen naiv und unerfahren täuschen lassen. Hatte gedacht, dass er den älteren Mann überlisten könne. Doch wie hätte er es auch anders ahnen sollen, wenn es Birman selbst war, die ihn verraten hatte? Sie und Lasgo hatten es vermutlich von Anfang an geplant. „Ich hatte nie eine Chance, den Auftrag erfolgreich auszuführen“, merkte er eher zu sich selbst als für Lasgo an. Ein Lachen antwortete ihm. „Nein, das hattest du nicht. Dazu hat Birman ihre Rache an Schwarz zu minutiös geplant. Obwohl sie noch nicht ganz damit fertig ist.“ „Wie meinst du das?“, fragte Aya misstrauisch, wenngleich ihn so schnell nichts mehr aus der Bahn werfen konnte. Er ahnte, dass die Kratzspuren von ihr stammten oder dass sie mindestens dabei gewesen war, während Lasgo sich an Crawford vergangen hatte, doch was auch immer sie noch für Crawford und Schwarz in petto hatte, er wollte kein Teil davon sein. Ein frommer Wunsch, der ihm aber vermutlich nicht erfüllt werden würde, wenn er sich Lasgo besah, dessen Blick vielsagend auf ihm ruhte. „Sie war dabei, als ich das wertlose Stück erneut für mich beansprucht habe. Sagen wir mal, sie hat aktiv am Geschehen teilgenommen.“ Wertloses Stück? Hatte Aya vor ein paar Augenblicken noch gedacht, dass er bereits alle Widerwärtigkeiten aus dem Mund des anderen Mannes vernommen hatte, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Wie auch schon bei der „Geschenkübergabe“ stieg eine unbändige Übelkeit in ihm hoch, die er nur mit Mühe zurückhalten konnte. Da hatte er die Bestätigung seiner Vermutung. Wie widerlich. Ayas Herz schlug wütend, als er seine eigenen Hände zu Fäusten ballte, die weißen Knöchel anstarrte. Hände, die sich in diesem Augenblick gerne um den Hals des Mannes gelegt und solange gewürgt hätten, bis kein Laut mehr den schmalen Lippen entkam. „Das ist krank!“, stieß er angeekelt hervor. „Vollkommen krank! Das hat nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun oder mit Rache. Das ist Perversion.“ „Mag sein, Aya, aber macht es das nicht umso interessanter? Macht die Tatsache, dass Crawford, die arrogante Gewalt an sich, MIR unterlegen ist, meine Tat nicht auf eine gewisse Weise anziehend? Hat sie nicht etwas verboten Attraktives an sich?“ Aya wollte entsetzt den Kopf schütteln, als ihm eine kleine, nagende Stimme in seinem Hinterkopf ins Bewusstsein flüsterte, dass er für einen einzigen Augenblick genau das zunächst auch gedacht hatte. Welch gerechte Strafe für einen solchen Verbrecher. Aber als anziehend hatte er die Vergewaltigung nie empfunden, nein. Er hatte sich schlussendlich vor sich selbst geekelt. „Du hattest ihn doch auch unter dir, Aya. Wie hat sich das angefühlt? Warst du in dem Moment nicht auch berauscht, von der Aussicht, diesen Mann für sein Handeln zu strafen? Zu wissen, dass er dir ausgeliefert ist? Glaube mir, wenn du einmal in den Genuss dessen gekommen bist, kannst du davon nicht ablassen. Ich hatte ihn auf seinen Knien vor mir, auf seinem Rücken unter mir, bereit und unwillig, genommen zu werden. Und genau das habe ich getan, Aya. Doch sein Körper ist bei weitem nicht das Einzige, was mich zu ihm hinzieht; es ist sein Leid, das er sich weigert zu zeigen, das jedoch deutlich spürbar da ist. Sein stummer, nutzloser Widerstand, sein Hass...Wundervoll, ich sage es dir. Seine Wut, als ich ihn das erste Mal überwältigt habe. Ausgerechnet ich. Ein einfacher Mensch. Dann das Entsetzen, als ihm bewusst wurde, was ich tun würde. Und dann sein Erkennen, als ich ihn für mich habe kommen lassen.“ „Das ist widerlich!“, donnerte Aya erbost, schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um schließlich erschrocken zusammen zu zucken, als Lasgo ihm eine der Hände, mit denen er Crawford berührt hatte, auf die Wange legte. Aya schlug sie mehr als gewaltbereit weg. „Keine Angst, mein schöner Mann mit dem Mädchennamen. Ich hege keine Zuneigung für dich, zumindest nicht sexuell. Deine Unschuld ist es nicht wert, zerstört zu werden; wenn du so willst, bist du für mich uninteressant. Das Einzige, was ich für dich habe, ist ein Angebot.“ Die Hand kam zurück und dieses Mal warnten ihn die grauen Augen davor, sich dem anderen Mann zu widersetzen. Wortlos ließ es Aya geschehen, dass Lasgo ihm über die Stirn strich, die Wangenknochen, schlussendlich über die Lippen. „Was für ein Angebot?“, presste Aya hervor, als Lasgo die Hand senkte. „Schließe dich uns an. Nehme deine Rache an den Menschen, die dich unterdrücken und an eine Leine legen, die dir so zuwider ist. Für deine Schwester kannst du auch mit unserem Geld sorgen. Ohne Verpflichtungen und Konsequenzen.“ Aya lachte bitter auf. „Geld von Kindern, die sich Drogen kaufen und die elendig daran zugrunde gehen? Vom Menschenhandel? Von Waffenverkäufen in Kriegsgebiete an den Meistbietenden? Nein. Niemals.“ Lasgo schüttelte scheinbar nachdenklich den Kopf. „Es ist Zeit für dich, die Wahrheit zu erkennen, Aya. Du mordest. Du machst Frauen zu Witwen, Männern zu Witwern und Kinder zu Waisen. Das ist genauso ruchlos, auch WENN deine Opfer scheinbar alles andere als gut sind. Aber glaube mir, ich kenne die Wahrheit über Kritiker und Perser, ich weiß, dass ihre Motive nicht rein von Schuld sind, dass sie Blut an ihren Fingern haften haben, was du so sehr verabscheust. Was meinst du, ist der Kampf gegen das Böse so lukrativ? Denkst du das wirklich? Perser tut es nicht, daher hat er beschlossen, auf zwei Seiten Profit zu schlagen. Stelle dich gegen ihn, Aya und kämpfe nicht für Wahrheiten, die keine sind.“ „Gegen ihn und auf eure Seite? Auf das vollkommen Böse? Nein, niemals!“ „Nicht das vollkommene Böse. Deine heilige Rache am Bösen kannst du meinetwegen fortführen, wenn du es unbedingt möchtest. Aber ich möchte dir zeigen, dass es auch andere Seiten des Lebens gibt, mit denen du deine Zeit verbringen kannst, Aya. Mit deiner Schwester zum Beispiel. Ist dir deine Schwester so unwichtig, dass du dich tagtäglich anderen Dingen widmest? Hätte sie gewollt, dass du tötest? Dass du für ihr Leben mordest? Ich denke nicht. Und genau das ist der Handel. Komm zu mir und ich sorge dafür, dass du nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen musst, um einen Menschen zu töten. Lass deine Schwester stolz auf dich sein, wenn sie aufwacht. Biete deiner Schwester ein gewaltfreies Leben, wenn sie die Augen aufschlägt und dich anlächelt.“ Obgleich Aya es nicht wollte, spürte er, wie sich sein Herz zusammenzog. Lasgo hatte Recht, zumindest in diesem Punkt. Er würde Aya nicht mehr unter die Augen treten können, so über und über mit Blut besudelt wie er war. Er war unrein. Wenn sie erwachte, würde er sich von ihr fernhalten, von diesem zerbrechlichen Engel, für den er die letzten Jahre gekämpft hatte. Und doch er würde diese Falle, denn nichts Anderes war es, nicht annehmen. „Nein.“ Beinahe wie ein Fluch verließ das Wort seine Lippen und überraschte ihn selbst. „Ich will nicht noch mehr Schuld auf mich laden. Mein Leben gehört Kritiker und so wird es auch bleiben. Kritiker steht für die Gerechtigkeit, ganz im Gegensatz zu dir!“ Lasgo betrachtete ihn für einen Moment schweigend, nur um dann enttäuscht den Kopf zu schütteln. Es schien, als könne er Ayas Entscheidung nicht wirklich nachvollziehen. Umständlich stemmte er sich in die Höhe und sah auf sein Gegenüber hinab. „Was ich dir zu bieten habe, Aya, ist ultimative Rache. An Takatori. An Schwarz. An den Menschen, die dich psychisch vergewaltigen, und das jeden Tag. Denn etwas Anderes macht Kritiker nicht. Sie benutzen deinen Körper gleichwohl wie deine Seele. Im Moment siehst du das einfach noch nicht, doch ich habe Zeit. Ich kann warten, bis du dich entschieden hast.“ Damit wandte er sich um und verließ Aya ohne ein Wort des Abschieds und ohne sich Sorgen darüber zu machen, ob dieser ihn töten würde. Vertrauensvoll schlenderte er im warmen Sonnenlicht des Tages davon, so als wenn er es gerade darauf anlegen würde. Doch Lasgo kannte ihn. Er wusste, dass die Drohung Birmans, seine Schwester zu töten, wie eine zuverlässige Leine wirkte, an die er gelegt war. Vor Abscheu und Sorge zitternd blieb er auf der Parkbank sitzen und starrte der sich entfernenden Gestalt hinterher. ~~**~~ Nervös klopfte Nagi an die verschlossene Tür und wartete auf das obligatorische Herein, das dieses Mal so lange brauchte, dass er bereits dachte, nicht hineingelassen zu werden. Doch ihr Orakel erlöste ihn und mit einem plötzlich trockenen Hals öffnete Nagi die Tür zu dem Raum, in dem er schon so viele Stunden zugebracht hatte, seitdem er die Missionen ebenso bestritt wie der Rest von Schwarz. „Darf ich eintreten?“, fragte er beinahe ruhig und war stolz darauf, dass seine Stimme fast gar nicht zitterte, als die hellen, stechenden Augen sich in ihn bohrten und nach einer Antwort auf Fragen verlangten, die Nagi sicherlich nicht ohne weiteres beantworten konnte. Nervös umkrampften seine Finger das mitgebrachte Tablet und wartete darauf, dass sein Anführer etwas sagte. „Zu welchem Zweck?“, bohrte sich die wenig erfreute, kühle Stimme in seine Nervosität und Nagi schluckte schwer. Das war ein Test an ihn, soweit erkannte er es. Crawford wollte wissen, wie weit er bereit war zu gehen um die Regeln einzuhalten, die das Zusammenleben und -arbeiten des Teams bestimmten. Alleine das Wissen darum gab ihm Kraft und er straffte sich. „Die Missionsnachbesprechung steht noch aus, Crawford, und ich wollte dich nicht weiter warten lassen“, formulierte er höflich, was Schuldig ihm weniger höflich zu verstehen gegeben hatte und für einen kurzen Moment lang weiteten sich die Augen des Orakels. Nagi war sich nicht sicher, was er dort las: Anerkennung? Wut? Überraschung? Schwer zu beziffern. Nicht die übliche Ruhe auf jeden Fall und das machte ihn unsicher. Er fragte sich unwillkürlich, ob der Eindruck durch das von Hämatomen verunzierte Gesicht gestärkt wurde. Er hatte Crawford vielleicht einmal in all den Jahren, in denen er ihm folgte, mit so etwas wie einem Hämatom gesehen. Das Orakel war unberührbar durch seine Gabe. Doch nun? Was auch immer es war, das Crawford auf der Zunge lag – Ablehnung vielleicht? – das schluckte dieser nun hinunter und nickte langsam. Mit einem Nicken deutete er zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und Nagi betrat erleichtert das Heiligtum des Orakels, in dem er die meiste Zeit verbrachte, wenn er nicht mit Takatori unterwegs war oder sie keine Aufträge ausführten. Sorgsam schloss er die Tür hinter sich und ließ sich auf den Stuhl nieder, der ihm zugewiesen worden war. Verstohlen sah er sich um und entdeckte nur die immerwährende, penible Ordnung, die das Büro dominierte. Akten waren in akkuraten Stapeln angeordnet, ansonsten hingen sie im Schrank oder lagen auf der Anrichte. Die Kugelschreiber und Füller, mit denen das Orakel für gewöhnlich schrieb, waren ebenso ordentlich verstaut und Nagi fing sich an dem grünen Exemplar, das offen auf dem Tisch ruhte. Besser dort, als in den ihn messenden Augen, die ihn bis auf den Grund seiner Seele durchdrangen, so wie es schon von je her getan hatten. Vermutlich hatte Crawford schon alles vorausgesehen und prüfte ihn nun weiter. Nagi schluckte und sah hoch. „Wie war es?“, begann er etwas holprig und Crawford hob die Augenbraue. „Unschön und erfolglos“, erhielt er die Antwort, die er nicht haben wollte, die ihn aber dazu herausforderte, weiter zu fragen, da er die Informationen brauchte um sie zu verwerten. „Die Zielperson ist nicht liquidiert worden“, stellte Nagi in den Raum, ohne, dass er Crawford dafür direkt verantwortlich machte. Lieber aktivierte er parallel dazu sein Tablet und begann mit Hilfe seiner Gabe, sich Notizen zu machen. „Das ist richtig.“ „Ist einer der Parameter, den ich für dich ausgearbeitet habe, der Grund für das Entkommen der Zielperson? Habe ich nachzusteuern?“, fragte er möglichst neutral, da es durchaus sein konnte, dass seine Informationen nicht erschöpfend genug gewesen waren, auch wenn er sie, wie vor jeder Mission, mehrfach in penibler Arbeit überprüft hatte. Und noch niemals hatte er so falsch gelegen um das Leben seines Anführers derart zu gefährden. Crawford lehnte sich zurück und maß ihn für lange Zeit nachdenklich. Schlussendlich schüttelte er den Kopf und Nagi atmete erleichtert auf. „Die von dir erarbeiteten Parameter waren tadellos und vollumfänglich korrekt“, erreichte ihn das Lob seines Anführers und unwillkürlich lächelte Nagi kurz, bevor er sich besann. „War er vorbereitet?“, fragte er, auch wenn er sich nicht ausmalen konnte, wie ein normaler Mensch sich auf Crawford vorbereiten konnte. Doch zu seinem Erstaunen nickte das Orakel. „Ja, das war er. Und so konnte er sich dem Zugriff entziehen und mich im falschen Moment überraschen.“ Die Entschlossenheit in der Stimme des Orakels sagte Nagi, dass dieser nicht elaborieren würde, was er ihm gerade mitgeteilt hatte. Gleichwohl waren die Worte eine Warnung an den Telekineten, nicht weiter nachzufragen. Nagi respektierte diesen Wunsch, auch wenn der Analytiker in ihm sich leise bemerkbar machte und anmerkte, dass vollständige Informationen für ein besseres Ergebnis sorgten. „Gibt es neue Parameter, die ich zu meinen Berechnungen hinzufügen muss? Interferenzen mit bereits bekannten Gruppen zum Beispiel?“, kam Nagi diesem am Nächsten ohne den Wunsch des Orakels außen vor zu lassen. Wieder brauchte es eine lange Weile, bis Crawford ihm eine Antwort gab. Wieder verloren sich die hellen Augen in ihren Überlegungen, verloren ihren Fokus und kehrten danach zu ihm zurück. „Die Basis, auf der ich den Auftrag ausgeführt habe, wurde restlos in die Luft gesprengt. Er wird sich für seine Logistik einen anderen Standort suchen. Ein Zusammentreffen mit oder eine Verbindung zu anderen Gruppierungen gibt es nicht.“ Nagi nickte und notierte sich die zusätzliche Information. Er wartete, doch nichts Weiteres kam über die Lippen seines Anführers. „Hat Takatori Schwarz einen Folgeauftrag gegeben?“, fragte er schließlich und Crawford nickte. Ein selbstironisches Lächeln geisterte über seine Lippen, bevor er zu seiner ausdruckslosen Maske zurückkehrte. „Lasgo zu töten.“ Nagi widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen und machte sich eine kurze Notiz. Er verachtete den Mann, seitdem dieser sich an Schuldig vergriffen hatte. Er verachtete ihn, weil er alles andere als ein adäquater Kandidat für die Ziele von Rosenkreuz war, egal, was Ratsherr Leonard gesehen hatte. Dieser Mann war dumm und nur durch seine Berater so weit gekommen, wo er jetzt war. Durch sie und seine Machtgier, die ihn rücksichtlos alle, die es wagten, sich gegen ihn zu stellen, aus dem Weg hatte räumen lassen. Natürlich wäre er eine leichte Marionette… aber wenn es darum ging, die Macht weiter auszubauen, so war er der Falsche. „Ich beginne sofort mit meinen Recherchen.“ Wohlwollend nickte Crawford und widmete sich seinem Bildschirm, das deutliche Zeichen für Nagi, dass er sich entfernen konnte. Bis zur Tür kam er, dann hielt ihn eine Bewegung in seinem Augenwinkel davon ab. Fragend wandte er den Kopf zu Crawford, der erst seine Uhr und dann ihn stirnrunzelnd musterte. „Täusche ich mich oder solltest du in diesem Moment nicht in der Universität sein? Festkörperphysik ist es.“ Nagi schluckte. Eine von Crawfords Regeln war, dass Nagi das, was er sich wünschte, auch zu Ende brachte. Das Orakel duldete nicht, wenn er Vorlesungen ausließ. Ausschließlich in Ausnahmefällen hatte er die Erlaubnis, der Universität fern zu bleiben, sobald er sich dazu entschieden hatte, ein Studium zu beginnen. „Das ist richtig“, erwiderte er schlicht und die Missbilligung in den strengen Augen ließ ihn zusammenzucken. „Erkläre dich.“ Nagi presste das Tablet an seinen Bauch, als er Schuldig innerlich verfluchte, der ihn dazu gebracht hatte, seiner Sorge um ihren Anführer nachzugeben. „Ich nahm an, dass du den heutigen Tag für das Debriefing wählen würdest und ich wollte dich nicht weiter warten lassen“, fand er Worte, von denen er insgeheim dachte, dass Schuldig sie ihm in den Mund gelegt hatte. Doch der Telepath würde sich sicherlich nicht dazu herablassen, ihm aus seiner Misere zu helfen. Eher würde er lachend zuschauen, wie Nagi sich immer wieder in sein Unglück argumentierte. Crawford maß ihn Momente lang schweigend und mit wenig Zustimmung in seiner Mimik. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde die Wahrscheinlichkeit einer disziplinarischen Maßnahme größer, befand Nagi. „Ich möchte, dass du die nicht besuchte Vorlesung zeitnah nachholst“, wies Crawford ihn schließlich an. „Ebenso gehe ich davon aus, dass dies kein weiteres Mal vorkommen wird.“ Erleichtert nickte Nagi und schluckte den allzu großen Kloß in seinem Hals herunter. „Natürlich, Crawford“, sagte er und neigte leicht den Kopf. Das Orakel wandte sich erneut ab und Nagi verließ erleichtert den Raum. ~~**~~ Er musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn das Erste, was Crawford spürte, als er wieder zu sich kam, war eine seichte Berührung an seiner Wange. Nicht schmerzhaft und unter anderen Umständen wäre sie sogar recht angenehm gewesen, wenn man einmal von der Tatsache absah, dass es niemand zu wagen hatte, ihn einfach so anzufassen oder gar in sein Zimmer einzudringen, wenn er schlief. Auch wenn für einen Moment lang der absurde Gedanke, dass diese Zeiten ein für alle Mal vorbei waren, zu groß in ihm wurde, als dass er ihn ignorieren konnte. Obwohl sein Verstand ihm Gegenteiliges sagte, überschwemmten nun Erinnerungen sein rationales Denken, beschleunigten auf unmenschliche Weise seinen Herzschlag und ließen nur einen Schluss zu. Lasgo war da, streichelte seine Wange, würde sich ihm gleich erneut aufzwingen, weil er zu unfähig gewesen war, sich gegen den Drogenhändler zu wehren. Crawfords Augen öffneten sich abrupt, während sie sich langsam auf die zusammengekauerte Gestalt vor sich fixierten. Das war nicht Lasgo, dafür war der Schemen viel zu hell. Es war.... Trotz seiner unruhigen, ja beinahe schon ängstlichen Gedanken blieb er ruhig liegen und ließ Farfarello in seinem Tun gewähren, als dieser ihm ohne Unterlass über seine Wange strich und seine Stirn dabei nachdenklich runzelte. Der junge Ire hatte die Beine angezogen und seinen Kopf darauf gestützt, während sein blasser Arm ausgestreckt war und dessen Finger sacht, fast scheu sein Gesicht berührten. Was in aller Welt sollte das hier? Seit wann hatte auch nur ein Mitglied seines Teams die Erlaubnis, ohne seine Zustimmung sein Zimmer zu betreten? Crawfords Eingeweide zogen sich vor Wut zusammen, als er für einen Moment überlegte, Farfarello aus dem Zimmer zu werfen, dann jedoch eines Besseren belehrt wurde, als er auf den ruhigen, jedoch vor allen Dingen wissenden Blick des Iren stieß, der auf seinem Unterleib ruhte, bevor er wieder zu seinen Augen zurückkehrte. Er kannte den Ausdruck und nun Empfänger dessen zu sein, schmeckte Crawford ganz und gar nicht. Je mehr Zeit Farfarello, oder Jei, wie sein richtiger Name war, mit ihnen verbrachte, desto ruhiger war er schließlich geworden und desto klarer wurde Crawford, dass der Mann kein völlig Unbegabter sein konnte. Ein Undefinierter, ja, aber kein Unbegabter. Selbst der Rat und die Dame des Hauses hatten Jei nicht klassifizieren können, ihn aber dennoch wegen seiner Blutrünstigkeit Schwarz zugeteilt. Das, was Rosenkreuz nur vermutet hatte, hatte seine Bestätigung schließlich in seinem alltäglichen Zusammenleben mit Schwarz gefunden. Jei erkannte Zusammenhänge schneller als intuitiver als jeder andere von ihnen. Sein Verstand war, wenn er denn wollte, brillant und messerscharf. Die Schlussfolgerungen, die er zog, noch bevor sie über alle Informationen verfügten, waren exorbitant richtig und genau. Crawford hatte bereits mehrfach davon profitiert und war mehrfach unwillentlicher Empfänger von Jeis Kombinierungsgabe gewesen. Jei war ihm bisher ohne Unterlass gefolgt, ohne jemals seinen Führungsanspruch in Frage zu stellen. Ruhe, so wie Crawford sie nun sah, stellte er nur zur Schau, wenn er sich vollkommen sicher war. Doch fast als hätte er seine Gedanken gelesen, machte Farfarello Crawfords Eindruck zunichte, als er seine Lippen hasserfüllt verzog. „GOTTES Chöre frohlocken, denn einer SEINER Widersacher wurde wiederholt geschändet.“ Ein Flüstern, nicht viel mehr, und doch das, was Crawford absolut nicht hören wollte. Farfarello wusste es, das war ihm übelkeitserregend klar. Wie so vieles wusste Jei es, hatte die Zusammenhänge erkannt, die er vor seinem Team hatte verbergen wollen. Crawford fragte sich, was es war. Seine Haltung? Den Schmerz, den er manchmal nicht ausblenden konnte? Sein verändertes Verhalten mit anderen Parametern? Die bleiche Hand strich immer noch über seine Wange, schien ihn beruhigen, trösten zu wollen. „Was willst du hier, Farfarello?“, fragte Crawford unwirsch und entzog sich eben jener Hand. Der nahende Sonnenaufgang tauchte den Raum durch die offenen Vorhänge in ein fahles Licht, als der jüngere Mann seinen Kopf schief legte und hinauf zum Haaransatz wechselte, eine Geste, die das Orakel erschauern und unwillkürlich an Lasgo und Fujimiya zurückdenken ließ, die ähnliches getan hatten. Ähnlich unerwünscht. Doch so gleich sie sich auch waren, so sehr unterschied sich Jeis Berührung von den anderen. Etwas daran ließ Crawford innehalten in seinem Wunsch, Abstand zu dem anderen Mann zu gewinnen. Die Warnung in dem narbenumschlossenen Auge vielleicht. So genau wollte es sein schlafvernebelter, müder Verstand ihm nicht auseinandersetzen. Eben jener blinzelte, schien sich mit einem Mal auf seine Frage zu besinnen, als er lächelte. „Aber GOTTES Widersacher wird IHM nicht zu Gefallen sein und daran zerbrechen.“ Crawford schwieg eine lange Zeit. Zerbrechen? Niemals. Er war bei seinem Team, er würde sich kein weiteres Mal diesen fatalen Fehler erlauben. Niemals mehr. Er würde Lasgo schließlich finden und beseitigen. „Nein, das werde ich nicht.“ Es hatte keinen Sinn, das Offensichtliche zu leugnen. Das, was er vor Schuldig und auch Nagi verbergen konnte, lag anscheinend ohne Ausnahme offen vor dem jungen Iren. „Du wirst darüber schweigen, Jei.“ Crawfords Augen bohrten sich in die des Iren und dieser maß ihn ausdruckslos. Er hätte es nicht sagen müssen, doch es fühlte sich besser an, es noch einmal auszusprechen. Jeis Gedanken waren zu verworren, als dass Schuldig genug Muße aufbrachte, in ihnen zu lesen und nachzuforschen. Der perfekte Geheimnisträger also. Von sich aus würde Jei keine Informationen mit Schuldig teilen, für die er nicht die Erlaubnis hatte, dafür verachtete er die Neugier des Telepathen zu sehr. Darauf baute Crawford. Die Hand, welche sich schließlich wieder auf seiner Wange bewegte, verharrte nun und sandte leichte Wärme aus, Balsam für die Hautpartie, die mit Takatoris Golfschläger Bekanntschaft gemacht hatte. Beinahe schien es Crawford, als würde die Berührung des Iren den Schmerz dort lindern. Doch das war sicherlich nur eine Illusion seines überreizten Körpers. „Als wenn der Mond je aufhören würde zu leuchten“, wisperte Farfarello und fuhr mit vernarbten, rauen Fingern über die geschwollene Haut seines Teamführers und erhob sich schließlich grazil, beinahe geräuschlos. „Als wenn es je hell werden würde in der Nacht.“ Jei bückte sich und griff nach etwas, das außerhalb von Crawfords Blickfeld auf dem Boden lag. Er hob es hoch und das Orakel erkannte Desinfektions- und Verbandsmaterial. Eben jenes, das Martinez ihm mitgegeben hatte. Langsam kehrte sein Blick in das Auge des Iren zurück, als er erkannte, was nun folgen würde. Was er nicht wollte, aber was getan werden musste, eben weil es zum Genesungsprozess beitrug. „Schneewittchen ist nicht Ursula“, stellte Jei in den noch frischen Morgen und Crawford schloss ergeben die Augen vor der zweiten Überraschung, die der Ire ihnen allen bereitet hatte: seine Vorliebe für Märchen, Disneyfilme und der konstanten Vermischung von beidem zu ihrer aller Leidwesen. Seufzend öffnete er seine Augen und wartete, bis sich der Ire erklärte, der ihm nun mit einem unwirschen Zug um die Lippen zu verstehen gab, dass er sich aufsetzen sollte, damit er die Wunden auf dem Rücken versorgen konnte. Crawford folgte dem Wunsch und ließ seinen Geist zur Ablenkung darüber sinnieren, wer nun wer in diesem Vergleich war. Er war sich nicht sicher, ob er lieber eine sich an einem Apfel verschluckende, komatöse Prinzessin oder aber eine tentakelbewehrte alte, frustrierte Hexe war. ~~**~~ An manchen Tagen hasste Manx ihren Job. Besonders dann, wenn sie spät abends weit entfernt vom Feierabend noch im Büro saß und die Akten der Mitarbeiter bearbeitete, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Gehaltskonten, Missionspläne, Zusammenstellung der Einheiten. All das war ihr Gebiet und all das sorgte mit Regelmäßigkeit dafür, dass sie Unmengen an Geld alleine für Überstunden verdiente, das sie nicht ausgeben konnte, weil sie Überstunden machte. Ein Teufelskreislauf. Was ihr aber im Moment Sorgen bereitete, war die Videodatei, die sie sich nun schon zum zehnten Male hintereinander ansah, sie auf Anzeichen einer Fälschung überprüfte. Anzeichen dafür, dass es nicht Abyssinian war, der dort auf der Parkbank saß. Und vor allen Dingen, dass die Person neben ihm nicht sein ursprüngliches Ziel war, welches er eigentlich hatte umbringen sollen. Lasgo, so war der Deckname des Mannes. Ein Drogendealer, Menschen- und Waffenhändler ohne Gnade, ein abgrundtief böser Mensch. Ein Mann, der nun Ayas Gesicht berührte und ihn zärtlich streichelte. Manx konnte nicht hören, was die Beiden sagten, dafür war ihr Agent viel zu weit weg gewesen, doch das, was sie sah, war mehr als deutlich. Sie hatte es erst nicht glauben wollen, als Birman zu ihr gekommen war und ihr im Vertrauen von der Möglichkeit berichtet hatte, dass Aya sie womöglich hinterging. Nein, sie hatte es nicht glauben wollen und dennoch war sie bereit gewesen, den rothaarigen Weiß durch einen ihrer Agenten beschatten zu lassen. Und nun hefteten sich ihre Augen zum wiederholten Male auf die sich vor ihr abspielenden Bilder, auf den Rotschopf, der sich von dem Mann berühren ließ, auf dessen Konto unzählige Morde gingen, der erbarmungslos Drogen an Kinder verkaufte. Den er eigentlich hatte töten sollen. Laut Birman war der Auftrag hierzu missglückt. Missglückt. Aya, was denkst du dir bloß dabei?, fragte sie sich stirnrunzelnd und stützte den Kopf auf ihre Hände. Wieso versagte ausgerechnet Abyssinian? Was dachte er sich dabei, seinen Auftrag nicht auszuführen und so offensichtlich mit dem Mann zu flirten? War es wirklich Verrat? Manx griff schweren Herzens zum Telefonhörer. Sie wusste genau, wen sie nun aus dem Bett klingelte und mit diesen unerwarteten, schrecklichen Neuigkeiten konfrontieren musste. Sie richtete ihren Blick auf die nächtliche Skyline, als sie dem Freizeichen lauschte und wartete, dass jemand abnahm. Was schließlich auch geschah, als sich eine verschlafene, schleppende Männerstimme mit einem knappen „Ja?“ meldete und sie zunächst ungehört schlucken ließ. Er musste es wissen, sie konnte es ihm einfach nicht verheimlichen. „Es gibt ein Problem“, meldete sie sich direkt, ohne ihren Namen zu nennen. Es war auch nicht nötig, denn Manx gehörte nebst Birman zu den einzigen beiden Agenten, die seine Nummer hatten. Für Notfälle wie diesen. „Manx, ich wünsche Ihnen auch einen zweifelhaften, guten Morgen.“ Die rothaarige Frau musste unwillkürlich lächeln. Der ironische Charme Persers war selbst durch das Telefon zu hören. Als Gentleman, der er war, zollte er zunächst ihr und ihrer Arbeit Aufmerksamkeit, bevor er schließlich zum eigentlichen Problem kam. „Was gibt es denn?“ „Ich habe Abyssinian überwachen lassen und es sieht so aus, als ob er einvernehmlichen Feindkontakt hat.“ Manx spielte schon beinahe nervös mit dem Löffel in ihrem kalten, abgestandenen Kaffee, während sie auf seine Antwort wartete. Wann hatte sie sich ihre allabendliche Koffeinspritze eingeschenkt? Vor vier Stunden? Oder noch länger? Sie wusste es nicht. Ein unwilliges Brummen antwortete ihr schließlich und sie vernahm ein Rascheln, gerade so, als ob der andere Mann sich aus dem Bett schwingen würde. „Ich komme ins Büro.“ Damit legte er auf und ließ eine nachdenkliche Agentin zurück, die sich unwillkürlich fragte, ob sie das Richtige getan oder ob sie vorschnell und unüberlegt gehandelt hatte. ~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)