Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 44: ------------ Drei Tage später lief die Sirene im Hafen von Eydar ein. Die Bewohner der Stadt, die nichts davon mitbekommen hatten, dass sich in den Wolkenbergen eine für das Schicksal der Halbinsel richtungsweisende Schlacht abgespielt hatte, hielten in ihrer Arbeit inne und sahen überrascht zu, wie die angeschlagenen Soldaten erschöpft und glücklich von Bord gingen. Vance war noch immer nicht bei Bewusstsein und wurde mit den anderen Verletzten umgehend ins Lazarett gebracht. Indra und die Heiler der Stadt hatten alle Hände voll zu tun, die zahlreichen Wunden zu versorgen. Meister Syndus hatte der jungen Dunkelelfe während der Fahrt angeboten, dem Orden der Goldenen Falken beizutreten, doch bevor sie die Einladung annahm, wollte sie zuerst ihre Aufgabe als Heilerin zu Ende bringen. Noch am selben Tag fand eine große Trauerfeier zu Ehren der Toten statt. Adria wurde gemeinsam mit Praharin und den übrigen Gefallen im Beisein aller Soldaten und Ordensmitglieder, die ohne Hilfe stehen konnte, beigesetzt. Auch Ilva war anwesend. Sie hatte erwirken können, dass auch ihrem Kapitän die letzte Ehre erwiesen wurde. Die Verstorbenen wurden in weiße Leichentücher gehüllt und feierlich aufgebahrt, ehe sie zur Totenhalle getragen wurden. Ganz Eydar war auf den Beinen, um der stummen Prozession beizuwohnen. Der Zug endete in der Krypta, wo man die Toten in steinerne Sarkophage legte. Syndus nahm von jedem der Gefallenen persönlich Abschied, indem ihnen Blumenkränze in die Särge legte. „Möget Ihr sicher in Khors Reich eintreten“, flüsterte er und trat einen Schritt zurück. Bragi war bei ihm und trotz ihrer Verletzungen hatten es sich auch Lexa, Rhist und Gancielle nicht nehmen lassen, ihre Krankenbetten zu verlassen und der Trauerfeier beizuwohnen. „Unser Sieg wurde teuer erkauft“, murmelte er trübsinnig. „Noch nie mussten wir so viele der unseren zur letzten Ruhe betten. Eydar wird ihren Einsatz niemals vergessen und das ganze Kaiserreich soll davon erfahren, dass sie ihr Leben für den Frieden gegeben haben.“ Gancielle, dessen gebrochener Arm in einer Schulterschlinge steckte, sah finster zu, wie sich der Sargdeckel über Adrias Körper schloss. „Hätte ich gewusst, was Loronk ihr angetan hat, ich hätte ihm noch im Augenblick seines Todes ins Gesicht gespuckt!“, zischte er gehässig. „Ihr habt sie gerächt“, erwiderte Syndus. „Mehr konnte keiner von uns für sie tun.“ Gancielle blickte stumm zu Boden, während auch die übrigen Sarkophage versiegelt wurden. Nach und nach leerte sich die Krypta. Zunächst gingen die schaulustigen Zivilisten, ehe Bragi und die ersten Soldaten aufbrachen und sich auch Lexa und Rhist aufmachten, um in ihre Krankenzimmer zurückzukehren. Schließlich waren nur noch Syndus und Gancielle in der Totenhalle. Der alte Ordensmeister griff in die Falten seines Gewands und zog einen Zettel hervor. Gancielle nahm ihn zögernd entgegen und drehte ihn zwischen den Fingern. „Was ist das?“, fragte er. Syndus versenkte die Hände in den Ärmeln seiner Robe und blickte zur Decke der Krypta. „Ein Absolutionserlass für den Dorashen“, erklärte er gedehnt. „Ein Botenfalke brachte ihn nach Eydar, kurz nachdem ich die Stadt verlassen hatte. Er ist an eine Bedingung gekoppelt. Auf Befehl seiner Kaiserlichen Majestät soll unser Freund von seiner Schuld freigesprochen werden, sofern er das Rätsel um die Vermissten löst. Auch wenn es nicht sein Verdienst war, dass wir die verschwundenen Bürger in Sicherheit bringen konnten, hat er sich seine Freiheit redlich verdient. Schließlich hat er für uns etwas viel Größeres erreicht.“ Gancielle starrte noch immer unverwandt auf den Zettel in seinen Händen. „Das freut mich für Vance“, murmelte er. „Aber warum erzählt Ihr mir das? Diese Informationen sind nicht für die Augen und Ohren von Zivilisten bestimmt.“ Syndus schmunzelte. „Ihr seid aber kein Zivilist, Gancielle“, rief er. „Ich habe Euch gesagt, dass Eure Entlassung zeitlich begrenzt sein würde.“ „Meint Ihr das ernst, Meister?“ Gancielle riss überrascht die Augen auf und senkte dann demütig den Kopf. „Es wäre mir eine Ehre, Euch wieder dienen zu dürfen. Ich werde meinen Eid so schnell wie möglich ablegen.“ „Das ist nicht nötig“, lächelte Syndus. „Ihr müsst Euren Eid nicht erneuern. Ihr habt Eure Treue tausendfach bewiesen, selbst, als Ihr nicht mehr den Löwenkopf auf der Brust trugt. Tun wir einfach so, als hätte es Eure Entlassung niemals gegeben. Ich brauche dringend einen zweiten Kommandanten an meiner Seite. Immerhin ist Rhist schwer verletzt.“ Nun musste auch Gancielle schmunzelnd. „Nun, es tut mir leid, Euch gleich enttäuschen zu müssen, Meister“, sagte er und deutete auf seinen gebrochenen Arm. „Aber in diesem Zustand bin ich nicht viel mehr wert, als dieser Hornochse mit den Kriegszöpfen.“ Es dauerte einen weiteren Tag, bis Vance erwachte. Craig hatte das Lazarett zu keinem Zeitpunkt verlassen. Anfangs war er Knack nicht von der Seite gewichen, doch es hatte sich schnell herausgestellt, dass die Verletzungen des Knuckers nicht der Rede wert waren. Seitdem saß er an Vances Bett und sah fasziniert zu, wie seine schlimmen Verbrennungen heilten. Noch auf See hatte Indra seinen Zustand als nicht lebensgefährlich deklariert, aber er hatte sich so sehr verausgabt, dass sich sein Körper die wohlverdiente Erholung in Form von tagelangem Schlaf zurückholte. „Das sind die Regenerationsfähigkeiten der Dorashen“, hatte Lazana gesagt, als Craig sich darüber gewundert hatte, dass auf Vances Haut nicht einmal winzige Brandnarben zurückblieben. „Sie sind nur eine von vielen Kräften, mit denen die Götter sie gesegnet haben.“ Die Eismagierin und Ratford hatten das Scharmützel auf der Wolkenspitze glimpflich überstanden. Obwohl sie bereit waren, nach Vanashyr zurückzukehren, hatten sie sich dazu entschieden, noch in Eydar zu bleiben, bis Vance wieder zu Bewusstsein kam. Wuleen, der aufgrund seiner Beinverletzung ebenfalls die Pflege der Heiler bedurfte, lag im Nebenbett und starrte grimmig zur Decke. Es missfiel ihm offenbar, dass man sich um ihn kümmerte. „Er wacht auf!“, hauchte Craig. Sofort traten Lazana und Ratford näher heran. Wuleen richtete sich ruckartig auf und sah zu Vance herüber, der flatternd die Lider aufschlug. Für einen Moment wirkte er verwirrt, doch dann fand sein Blick Craigs Augen. „Ist Brynne tot?“, fragte er leise. Craig grinste breit. „Ja! Du hast es geschafft! Es dauert bestimmt nicht lange, bis man sich in ganz Gäa von deiner Heldentat erzählt.“ „Heldentaten?“, brummte Vance und drehte sich weg. „Ich wollte Wiedergutmachung für mein Verbrechen üben. Stattdessen habe ich einen weiteren Menschen getötet und mir noch mehr Schuld aufgeladen.“ „Jetzt suhlt er sich wieder in seinem Selbstmitleid!“ Craig verdrehte entnervt die Augen. „Erzähl hier nicht so einen Quatsch! Du hattest keine andere Wahl. Wir haben beide ganz genau gesehen, was dort oben auf dem Berg los war. Wenn du ihn nicht gestoppt hättest, hätte Brynne die ganze Halbinsel plattgemacht!“ Vance rührte sich nicht. Da stampfte Craig verärgert mit dem Fuß auf. „Gut, wenn du nicht auf mich hören willst, hörst du vielleicht auf jemanden, der etwas mehr zu sagen hat!“, rief er wütend und pfefferte einen Zettel auf Vances Bett. „Zum Beispiel den Kaiser!“ Vance hob verwundert den Kopf. „Was soll das sein?“, fragte er brummig. Craig verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. „Ein Begnadigungsschreiben“, antwortete er verstimmt. „Es wurde vom Kaiser selbst verfasst. Solange du es bei dir trägst, kann dir niemand deine Vergehen anlasten.“ Vance griff zitternd nach dem unscheinbaren Zettel und entfaltete ihn. Seine Augen flogen über die verschnörkelten Buchstaben. Er las die Zeilen dreimal, dann blickte er auf und starrte mit entgeistertem Gesichtsausdruck in die Runde. „Woher hast du dieses Schreiben?“, fragte er ungläubig. „Von diesem alten Kerl, der hier das Sagen hat“, antwortete Craig. „Wie hieß er noch gleich? Syndus? Er wollte dir den Zettel gestern persönlich überreichen, aber du hast gepennt wie ein Kleinkind. Also hat er ihn mir gegeben und mir gesagt, dass ich ihn dir aushändigen soll, sobald du aufwachst.“ „Ein Stück Papier und ein wenig Tinte machen mich doch nicht zu einem freien Mann…“, hauchte Vance. „Anscheinend schon“, erwiderte Craig und trat direkt vor Vances Bett. „Solange der Kaiser sein Kürzel darunter und sein Siegel darüber gesetzt hat. Das ist sein Dank für deinen Einsatz. Langsam sollte dir klar sein, dass in deinen Adern doch Heldenblut fließt.“ Der Waisenjunge stieß dem Dorashen den Finger vor die Brust. „Von nun an bist du kein Gesetzloser mehr. Jetzt musst du nur noch deinen Geist befreien.“ Noch immer zitternd ließ Vance den Zettel sinken, der seine Rechtschaffenheit bezeugte. „Und dann?“, murmelte er leise. „Was soll ich dann tun?“ Craig zuckte die Schultern. „Du wirst schon eine Möglichkeit finden, wie du deine Kräfte am besten zum Wohl dieser Welt einsetzen kannst“, vermutete er. „In Gäa scheint es eine Menge großer Probleme zu geben. Und vielleicht ist dir inzwischen schon aufgefallen, dass du Großes erreichen kannst, anstatt dich mit deiner Vergangenheit selbst zu geißeln.“ „Und ich habe schon eine Idee, wohin dich dein Weg als erstes führen könnte“, verkündete Lazana. „Begleite uns doch nach Vanashyr!“ „Vanashyr?“, wiederholte Vance zögerlich. „Warum denn nicht?“, rief Craig begeistert. „Ein fremdes Land, das klingt doch schon nach Abenteuern ohne Ende!“ „Kommst du etwa auch mit?“, fragte Ratford skeptisch und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Natürlich!“, antwortete Craig überschwänglich und reckte einen Arm in die Luft. „Ich gehe dorthin, wo Vance hingeht. Man bekommt nicht täglich die Chance, an der Seite eines Dorashen zu reisen. Diese Möglichkeit muss ich nutzen!“ „Wuleen wird Euch ebenfalls begleiten.“ Der Schwertkämpfer schwang sich aus dem Bett und verzog gequält das Gesicht, als er sein Körpergewicht auf sein verletztes Bein verlagerte. „Ich sehe schon, es hat keinen Sinn, euch davon abzuhalten“, brummte Vance. „Euer Entschluss steht schon längst fest.“ Er setzte sich auf, massierte sich den steifen Nacken und sah Craig an. „Abenteuer ohne Ende, hm?“ Craig traute seinen Augen kaum, als auf Vances Lippen ein breites Lächeln erschien. „Dann geht es also nach Vanashyr.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)