Zum Inhalt der Seite

Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Kannst du mir kurz helfen, Ratford?“

Lazana zerrte an dem zerrissenen Saum ihrer Robe, der sich in einer Dornenranke verfangen hatte. Ihr Gefährte war sofort bei ihr und befreite sie mit einem kräftigen Ruck von der Schlingpflanze, wobei die Robe erneut einen Fetzen Stoff einbüßte. Die tückischen Rankengewächse bedeckten auch die Hänge und den Pfad, der in die Berge führte.

Seit Loronk an ihnen vorbeigeritten war, hatte Gancielles Entschlossenheit einen neuen Schub bekommen. Er schien keine Erschöpfung mehr zu kennen. Die Begegnung mit dem Brigadegeneral konnte nur bedeuten, dass Yarshuk ihn rechtzeitig gewarnt hatte. Aber da Loronk das Tal der Asche alleine durchritten hatte, war er offensichtlich auf der Flucht. Also hatte Syndus die Situation in Eydar wieder unter Kontrolle. Lexa hatte es geschafft.

Gancielles Entschlossenheit verlieh ihm Flügel und er trieb seine Begleiter nun schon seit Stunden unermüdlich an. Diese waren allerdings nicht vor Müdigkeit gefeit. Außer Vance ging jeder von ihnen auf dem Zahnfleisch. Selbst Wuleen keuchte bei jedem Schritt, seit der Weg steil bergauf führte.

Kurz nach Sonnenuntergang hatten sie die Wolkenberge erreicht und quälten sich nun stöhnend den ansteigenden Pfad hinauf. Bei Tageslicht hatte Craig der Anblick des mächtigen Gebirges sehr beeindruckt. Die hohen, zackigen Gipfel ragten drohend empor, als wollten sie den Himmel aufspießen. Und in ihrer Mitte thronte die Wolkenspitze, ein gewaltiger Berg, um dessen kahle Flanken Nebelfetzen waberten. Craig hatte sich so klein und unbedeutend gefühlt, aber die Nacht hatte das Gebirge bald in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt. Die Berge waren zu unförmigen Umrissen vor dem Sternenhimmel geworden und Craig fühlte sich plötzlich von unzähligen, pechschwarzen Löchern umgeben, die nur darauf zu warten schienen, ihn zu verschlingen und nie wieder freizugeben. Im Sonnenlicht hatten die Wolkenberge einfach majestätisch und imposant gewirkt. In der Dunkelheit waren sie bedrohlich und beängstigend.

Immerhin verströmte die Nacht eine angenehme Kälte. Craig spuckte noch immer Staub aus dem Tal der Asche, den er bei jedem Atemzug inhaliert hatte. Nun war die Luft feucht und mild, dafür hatte er den Eindruck, direkt in eine Wand hineinzulaufen, so steil führte der schmale Pfad bergan. Sie hatten weder Fackeln noch Öllampen, um sich ihren Weg zu erleuchten und angesichts des bodenlosen Abhangs am Wegesrand, arbeitete sich Craig ganz vorsichtig und Schritt für Schritt voran.

Knack kroch angestrengt neben ihm her. Dem Knucker fehlte die Kraft, seine Körperspannung aufrechtzuerhalten, und so schleifte sein Bauch über den Boden. Vance, Wuleen und Ilva schwiegen größtenteils und sagten immer nur dann etwas, wenn man sie direkt ansprach. Doch nun hatten sie in ihrer Schweigsamkeit Gesellschaft bekommen, denn ihre Begleiter sparten sich ihren übrigen Atem. Gancielle ging ganz vorne, setzte sich immer wieder deutlich von seinen Gefährten ab und musste dann voller Ungeduld warten, bis sie zu ihm aufschlossen.

Craig wartete sehnsüchtig darauf, dass ihr Anführer endlich ein Lager für die Nacht aufschlagen ließ, aber obwohl es längst stockdunkel war, machte Gancielle keine Anstalten, stehenzubleiben oder seine Geschwindigkeit zu drosseln. Der Waisenjunge stöhnte gequält und wollte sich gerade zu ihrem Anführer nach vorn kämpfen, als Gancielle mit einem Ruck stoppte und sich über eine am Boden liegende Gestalt beugte.

„Was ist das?“, fragte Craig röchelnd und in die Knie. Er war dankbar um jede Pause.

„Sieht nach einem weiteren Banditen aus, den es erwischt hat“, murmelte Gancielle und untersuchte den Toten zu seinen Füßen genauer. Es war ein blonder Waldelf. „Er hat die gleichen Brandverletzungen, wie ein Großteil der Harpyien, die wir im Tal der Asche entdeckt haben. Sieht ganz so aus, als hätte Brynne ihn auf dem Gewissen.“

„Dieser Bastard macht vor gar nichts Halt!“, entrüstete sich Ilva. Sie blieb neben dem Toten stehen und starrte ihn finster an. „Das ist Nironil, Fjedors persönlicher Leibwächter, und vermutlich der geschickteste Kämpfer, der je für diese Banditen gearbeitet hat. Und wahrscheinlich war er Brynne genau deshalb ein Dorn im Auge. Wie Käpt’n Veit.“

„Sie zerfleischen sich also gegenseitig. Das soll uns recht sein.“ Gancielle beugte sich zu dem Toten hinunter. „Die Leiche ist noch warm. Sie können also noch nicht besonders weit gekommen sein.“

Ein gutes Stück den Berg hinauf, erkannte er einen entfernten Lichtschimmer, der immer wieder hinter Felsvorsprüngen verschwand, aber unverwechselbar aus zahlreichen Öllampen stammte. Hastig sprang er auf. „Da sind sie!“, rief er aufgeregt. „Los, bewegt euch! Wir haben sie fast eingeholt!“

„Und was sollen wir dann tun, wenn wir sie erreicht haben?“, fragte Lazana müde. „Wir sind völlig erschöpft und brauchen eine Pause. Gegen die Überzahl der Banditen können wir ohnehin nicht viel ausrichten, in diesem Zustand schon gar nicht.“

Gancielle knirschte leise mit den Zähnen. Hilflos blickte er den Berg hinauf, an dessen Flanke sich der Zug aus Lampenträgern langsam emporschlängelte.

„Loronk hat sie mit Sicherheit gewarnt“, brummte er. „Sie werden sich beeilen, um den Wolkentempel vor uns zu erreichen.“

„Oder sie locken uns in dieser Dunkelheit in einen Hinterhalt“, mischte sich Ratford ein. „Das hat doch keinen Zweck. Wir sollten die Nacht hier überdauern. Sobald der Tag anbricht, kommen diese Kerle nicht mehr weiter. Morgen werden wir sie garantiert einholen. Dann können wir uns an ihnen vorbeischleichen.“

Gancielle seufzte resigniert. „In Ordnung“, sagte er. „Wir gehen noch ein Stück weiter, bis wir einen geeigneten Lagerplatz gefunden haben.“

Craig seufzte erleichtert. Er wollte gerade aufstehen, als hinter einem Felsvorsprung ein gedämpftes Stöhnen ertönte. Auch seinen Begleitern erging das Geräusch nicht. Gancielle, Wuleen und Ilva zogen zeitgleich ihre Schwerter, Ratford hielt seine Axt bereit und in Lazanas Handfläche bildete sich unter leisem Knistern und Klirren ein scharfkantiger Eiskristall. Langsam und vorsichtig näherten sie sich dem Vorsprung. „Das könnte eine Falle sein“, warnte Gancielle mit gedämpfter Stimme. Eng an die Felswand gepresst schob er sich um die Ecke und gab nur einen Augenblick später Entwarnung. „Ein Verletzter“, meldete er. „Der wird uns in seinem Zustand nicht gefährlich.“

Craig erhob sich und näherte sich neugierig. Er spähte über Gancielles Schulter und entdeckte im Dunkeln einen bulligen Mann, der zusammengesunken auf dem Boden saß. In seinen zitternden Händen hielt er eine Axt und aus tiefen Wunden in seinem Bauch sickerte Blut.

Auch Ilva trat heran und ihr Blick verfinsterte sich. „Viland!“, zischte sie gehässig. „Brynne lässt sogar seinen treuesten Leibwächter zurück.“

Der Axtkämpfer hob den Kopf und sah mit blutunterlaufenen Augen auf. „Die Steuerfrau“, ächzte er. „Du lebst noch. Brothain ist ein Versager.“ Ein Krampf schüttelte ihn und er krümmte sich unter starken Schmerzen zusammen. „Ich werde…meinem Herrn…einen letzten Dienst erweisen…und…euch…alle…aufhalten…“

Er wollte aufstehen, doch sein Versuch scheiterte kläglich. Gancielle trat rasch auf das Axtblatt und löste die Waffe aus Vilands Händen. Der Hüne wehrte sich nur schwach. Auch als sich Lazana neben ihn kniete und seine Wunden untersuchte, leistete er kaum Widerstand.

„Also noch einer dieser Schurken“, stellte Ratford fest. „Ihre Horde dünnt sich mehr und mehr aus. Wie sieht es aus, Lazana? Ist er noch zu retten?“

Die blonde Magierin schüttelte bedrückt den Kopf. „Seine Wunden sind tief und er hat viel Blut verloren“, sagte sie leise. „Offenbar trägt er diese Verletzungen schon über einen Tag mit sich herum. Da waren scharfe Messer und Dolche am Werk. Es ist Wahnsinn, dass er sich in seinem Zustand auf einen solch anstrengenden Fußmarsch begeben hat. Seine Wunden bedürfen dringend der Pflege eines ausgebildeten Heilers, sonst stirbt er.“

„Die Dunkelheit wird euch alle fressen!“, grölte Viland, doch seine Stimme brach in einem röchelnden Hustenanfall ab. Blut tropfte ihm von den Lippen und blieb in seinem Bart hängen.

„Wir haben weder einen Heiler bei uns, noch die Zeit, um uns mit so einem Galgenvogel herumzuärgern“, rief Gancielle trocken. „Lasst ihn liegen. Wir können nichts für ihn tun.“

„Er hat unsere Hilfe auch gar nicht verdient!“, keifte Ilva und spuckte verächtlich aus. „Am liebsten würde ich ihn persönlich in die Terramorphen befördern!“

Viland lachte heiser. „Erst sticht mich eine kleine Göre ab, die noch nicht einmal grün hinter den Ohren ist, und dann gibt mir Veits Handlangerin den Gnadenstoß. Was für eine Demütigung.“

Craig wurde hellhörig. „Eine Göre?“, rief er aufgeregt und drängte sich an Gancielle vorbei. „Was für eine Göre? Warst du etwa derjenige, der Tyra umgebracht hat?“

Viland verzog das Gesicht zu einem grotesken, schmerzerfüllten Grinsen. „Tyra…“, röchelte er. „Ja, ich glaube, so hieß sie. Aber ich kann mich auch irren. Ich kann mich nicht besonders gut an die Namen derer erinnern, die ich einen Kopf kürzer gemacht habe. Schließlich fragt der Stiefel die Kakerlake, die er zerquetscht, auch nicht nach ihrem Namen.“

Craig explodierte. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte er sich auf Viland und packte ihn beim Kragen. „Du widerlicher Mistkerl!“, brüllte er ihn an. „Dafür bring ich dich um!“

„Du willst Vergeltung üben?“, keuchte Viland. „Das ist nicht nötig. Die Kleine hat ganze Arbeit geleistet.“ Erneut verfiel er in heiseres Gelächter und spuckte dabei Blut und Speichel aus. „Du kommst zu spät, kleiner Racheengel.“

Craig rauschte vor Zorn das Blut in den Ohren. Er schüttelte den verletzten Axtkämpfer mit aller Kraft durch und starrte ihm mit blankem Hass in das totenbleiche Gesicht. Vilands Worte schien er gar nicht zu hören. „Du Bastard!“, schrie er. „Ich bring dich um! Ich mach dich fertig! Ich reiß dir den Kopf ab! Ich…ich…“

„Lass gut sein“, murmelte Gancielle und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Craig zuckte zusammen. Vilands Kopf war kraftlos nach vorne gekippt. Dunkle Fäden aus Blut und Spucke hingen von seinem Kinn und der Axtkämpfer rührte sich nicht mehr. Als Craig begriff, dass der Mann gestorben war, stieß er einen erstickten Schrei aus, ließ ihn los und wich erschrocken zurück. Viland sackte in sich zusammen und sein Körper lag in einem zusammengekrümmten, verdrehten Haufen am Boden.

Entsetzt starrte Craig auf seine Hände, an denen das Blut des Toten klebte. Unverwandt starrte er Gancielle an. „Habe…habe ich…?“, stammelte er mit aschfahlem Gesicht.

Gancielle schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er ruhig. „Er lag schon im Sterben, als wir ihn gefunden haben. Tyra hat ihren Tod schon vorab gerächt.“

Craig spürte große Erleichterung. Er blickte zu Vilands Leichnam herüber. Tyra musste diesem Hünen, der so viel größer und stärker gewesen war als sie, einen großartigen Kampf geliefert haben, und hatte ihn letztlich, wenn auch mit einiger Verzögerung, mit sich in den Tod gerissen. Vilands Ende machte die junge Abenteurerin nicht mehr lebendig, aber Craig hatte das Gefühl, dass sie nun in Frieden ruhen konnte.

Er stellte fest, dass er Tränen in den Augenwinkeln hatte. Rasch wischte er sie fort, ehe sie noch jemand bemerkte, und stand dann entschlossen auf. „Dann wäre das hier erledigt“, rief er. „Lasst uns unser Lager aufschlagen, damit wir unsere Aufgabe morgen ausgeruht zu Ende bringen können.“

„Diese Zuversicht lobe ich mir“, schmunzelte Gancielle. Er warf einen kurzen Blick auf die Leichen von Nironil und Viland. „Aber wir sollten noch ein kleines Stück weitergehen, bevor wir rasten. Es schläft sich nicht besonders ruhig und erholsam zwischen den Toten.“
 

Ein kleines Stück den Berg hinauf fanden die Gefährten eine Stelle, an der genug Platz vorhanden war, um ein bequemes Lager aufzuschlagen. Gancielle teilte erneut Wuleen, Vance und sich selbst als Wachen ein, während er dem Rest der Gruppe die Möglichkeit gab, sich zu erholen. Auf ein Feuer mussten sie allerdings verzichten, da sie kein Brennholz auftreiben konnten. Die einzige Vegetation in den Wolkenbergen waren die Dornenranken. Nach ein paar wenigen Versuchen stellte sich heraus, dass sie viel zu schnell verbrannten. Den Gefährten stand also eine kalte Nacht bevor und sie kuschelten sich in ihre wärmenden Decken.

Als Craig am nächsten Morgen geweckt wurde, fühlte er sich völlig steifgefroren. Ungelenk und zitternd setzte er sich auf und blinzelte in das graue Nebelmeer, das wie ein brandungsloser Ozean zwischen den Bergen wogte.

Vor allem Knack hatte mit der Kälte der Nacht zu kämpfen. Der Knucker war wie gelähmt. Zum Glück ließ die Sonne nicht lange auf sich warten. Ihre wärmenden Strahlen durchdrangen den Nebel und Knack taute langsam auf. Auch die anderen zitterten und bibberten am ganzen Leib, sogar Vance, der sich sonst überhaupt keine Schwächen anmerken ließ. Lediglich Lazana schien von der Kälte überhaupt nicht beeinträchtigt zu sein und Craig fragte sich, ob das Blut von Eismagiern wohl gefroren war.

Ihm selbst tat die Anstrengung des Fußmarsches gut. Mit jedem Schritt schüttelte er die Kälte, die noch in seinen Gliedern steckte, mehr und mehr ab. Er spürte, wie er allmählich auf Betriebstemperatur kam und obwohl der Weg weiterhin steil bergauf führte, konnte Craig die morgendliche Wanderung im Sonnenlicht stellenweise sogar genießen.

Gancielle ging wieder an der Spitze und fand immer wieder Hinterlassenschaften der Banditen. Allerdings konnte er aus den Stiefelspuren und weggeworfenen Fleischresten und Kerngehäusen nicht lesen, wie groß ihr Vorsprung war.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie schließlich die Passhöhe erreichten. Unter ihnen schlängelte sich der Gebirgspfad bergab, nur um weit unter ihnen die Talsohle zu durchqueren und die Wolkenspitze hinaufzuführen. Der höchste Gipfel der Wolkenberge lag ihnen direkt gegenüber und Craig konnte bereits das Gebäude sehen, das wie ein Vogelnest an seiner Flanke klebte. Massiv und hoch wie ein Turm schmiegte es sich an die Felswand. Einzelheiten konnte Craig zwar nicht erkennen, aber er war sich sicher, dass es der Wolkentempel war.

Gemeinsam wollten sie den Abstieg in Angriff nehmen, als Gancielle ruckartig stehen blieb und Craig an der Schulter festhielt. „Runter!“, zischte er alarmiert. Sofort duckten sich die Gefährten hinter einen Felsen und spähten vorsichtig bergab.

Ein gutes Stück unter ihnen befand sich ein schattiger Überhang und dort waren deutlich die Gestalten einiger zerlumpter Dunkelelfen zu sehen. „Wir haben sie eingeholt“, flüsterte Craig und wagte kaum zu atmen. „Und was jetzt?“

„Wir ziehen uns zurück und behalten sie im Auge“, sagte Gancielle grimmig. In der Hocke kroch er zurück zur Passhöhe. Craig folgte ihm auf den Fersen. Er warf einen kurzen Blick den Weg hinunter, den sie hinaufgestiegen waren, und erstarrte vor Schreck. Eine größere Gruppe von Bewaffneten näherte sich dem Gipfel und steuerte direkt auf sie zu.

Gancielle bemerkte die Neuankömmlinge ebenfalls. Für einen quälend langen Augenblick fürchtete er, dass die Banditen sie tatsächlich in eine Falle gelockt hatten, aber dann erkannte er den goldenen Löwenkopf. Es waren Truppen des Kaisers, siebzehn oder achtzehn Soldaten in voller Rüstung, die den Berg erklommen.

An ihrer Spitze ging eine Frau in prächtiger Plattenrüstung. Streng zurückgebundenes, rotes Haar wehte ihr in einem Pferdeschwanz über die Schulter. Als die Soldaten Gancielle und seine Gefährten entdeckten, zogen sie ihre Waffen und verlangsamten ihr Tempo. Der frühere Kommandant konnte ihnen ihre Vorsicht nicht verübeln. Er und seine Begleiter sahen von Weitem tatsächlich aus wie Banditen und Strauchdiebe und noch dazu hatten sie einen Knucker bei sich.

Gancielle hob entwaffnend die Hände und kam den Soldaten langsam entgegen. Geyra, ihre Anführerin, kannte er selbstverständlich. Als er noch Kommandant gewesen war, hatte er in engem Kontakt mit der Befehlshaberin der Truppen von Khaanor gestanden.

„Bin ich froh, Euch zu sehen, Kommandantin“, seufzte er erleichtert. Seine Begleiter folgten ihm zögerlich.

Auf einen Wink Geyras blieben die Soldaten stehen. „Was tut Ihr denn hier, Gancielle?“, fragte sie misstrauisch. „Wo ist Eure Uniform? Und wer sind diese Leute?“ Sie starrte an Gancielle vorbei und betrachtete seine Gefährten. Ihr Blick blieb an Ilva hängen. „Euch kenne ich doch!“, rief sie. „Ihr wart an Bord dieses Schiffes, dass vor zwei Tagen frühmorgens in Khaanor vor Anker gegangen ist. Wir dachten, Ihr wolltet nur Eure Passagiere in die Wolkenberge bringen. Aber gestern sind wir auf den Kahn gestoßen. Er war verlassen und an Bord fanden wir nur die Leiche des Kapitäns!“

Ilva zuckte zusammen. Gancielle kam ihr eilig zu Hilfe.

„Das ist eine längere Geschichte“, rief er hastig und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr auf Geheiß von Meister Syndus hier seid?“

„Er hat uns von einem geplanten Überfall auf den Wolkentempel in Kenntnis gesetzt“, berichtete Geyra. „Offenbar befürchtet er, dass dieser Raubzug weitreichende Folgen haben könnte, denn er hat uns gebeten, so schnell wie möglich die Verfolgung der Banditen aufzunehmen, um sie aufzuhalten.“

„Und ihr sendet keine zwanzig Soldaten aus?“, erwiderte Gancielle und deutete sichtlich enttäuscht auf Geyras Begleitung. „Mir scheint, Ihr habt die Dringlichkeit dieser Unternehmung nicht ganz verstanden.“

Geyra legte die Stirn in Falten und verschränkte empört die Arme vor der Brust. „Ich kann es mir nicht leisten, den Hafen schutzlos zurückzulassen“, rechtfertigte sie sich patzig. „Mir wäre es lieber gewesen, einen Stellvertreter zu schicken, aber Meister Syndus hat darauf bestanden, dass ich diese Mission persönlich anführe.“ Missbilligend musterte sie Gancielle. „Seid Ihr etwa auch hinter diesen Schurken her?“

„So ist es“, bestätigte Gancielle. „Und wir haben sie bereits gefunden.“ Er winkte Geyra zu sich heran. „Duckt Euch!“, warnte er sie, als sie die Passhöhe erreichte, und deutete den Pfad hinunter. „Seht Ihr den Wachposten dort hinter dem Felsen? Und den anderen, ein kleines Stück tiefer?“

„Sie machen Rast“, stellte Geyra grimmig fest. „Also schlagen wir am besten gleich zu.“

Gancielle schnitt eine gequälte Grimasse. „Das ist nicht so einfach“, murmelte er zerknirscht. „Es ist eine große Bande. Hinter dem Felsvorsprung warten fünfzig Schurken auf uns. Auch wenn Eure Leute kampferfahren und bewaffnet sind, es wäre zu riskant uns jetzt auf einen Kampf einzulassen.“

„Was schlagt Ihr stattdessen vor?“, fragte Geyra und runzelte die Stirn. „Sollen wir auf Syndus warten?“

„Der Meister ist auf dem Weg hierher?“, rief Gancielle erleichtert.

„Er hat uns wissen lassen, dass er uns Verstärkung schickt“, sagte Geyra. „Aber in der Düstermarsch dürften sie nicht besonders schnell vorankommen. Es könnte gut und gerne noch einen Tag dauern, bis sie die Berge erreichen.“

„So viel Zeit haben wir nicht mehr“, zischte Gancielle verbissen und richtete seinen Blick auf die gegenüberliegende Flanke der Wolkenspitze. „Ihr kennt Euch hier besser aus als ich. Gibt es einen anderen Weg, der zum Tempel führt?“

Geyra sah Gancielle nachdenklich an und wies schließlich nach Osten. „Dort drüben zweigt ein Pfad ab, der über einen benachbarten Pass führt“, erklärte sie. „Auf diesem Wege kann man den Wolkentempel ebenfalls erreichen, aber es dauert länger. Ich denke, vier zusätzliche Stunden müsste man einplanen.“

„Das reicht“, sagte Gancielle entschlossen. „Dann nehmen wir diesen Pfad!“

„Wollt Ihr ihnen den Weg abschneiden?“, fragte Geyra skeptisch. „Das wird Euch nicht gelingen. Diese Kerle sind doch viel schneller unterwegs.“

„Sind sie nicht“, erwiderte Gancielle. „Sie werden noch eine ganze Weile rasten, denn sie können nur bei Dunkelheit reisen. Wir haben also genug Zeit, um sie zu umgehen und vor ihnen die Tore des Tempels zu erreichen.“

„Nur bei Dunkelheit?“, brummte Geyra. „Hättet Ihr vielleicht die Güte, mich aufzuklären, was hier los ist? Syndus hat sich in seiner Nachricht auch schon so nebulös ausgedrückt. Seine Botschaft klang fast, als würde diese Räuberbande eine Gefahr für ganz Gäa darstellen.“

„Womit er vielleicht nicht ganz Unrecht hat“, murmelte Gancielle. „Ich werde Euch alles erzählen, was ich weiß. Aber vorerst dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Wir müssen den Tempel unbedingt vor diesem Lumpenpack erreichen!“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück