Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 35: ------------ Am frühen Morgen wurde Craig von Gancielle geweckt. Es war unangenehm kalt und der Nebel, der über der Ebene hing, war so dicht, dass alles außerhalb eines Umkreises von zehn Metern in waberndem Grau verschwand. Craig richtete sich stöhnend auf und sah blinzelnd dorthin, wo sich normalerweise blauer Himmel befand. Jetzt befand sich über ihm nur dunkler Dunst. Er spürte jeden Knochen im Leib und hätte sich in Anbetracht des bevorstehenden Tagesmarsches am liebsten sofort wieder in seine wärmende Decke gewickelt, aber alle anderen waren schon auf den Beinen und Craig wollte nicht derjenige sein, der seine Begleiter ausbremste. Also rieb er sich den Sand aus den Augen, trank einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und stand schlaftrunken auf. Gancielle trat die Glut des heruntergebrannten Lagerfeuers aus, bis selbst das schwächste Glimmen erloschen war. „Wir überqueren jetzt den Maldocan und müssen anschließend durch das Tal der Asche“, verkündete er und die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Passt bloß auf! Die Düstermarsch mag tückisch sein, aber dieser Ort ist ein ständiger Gefahrenherd.“ Craig musste schlucken, als er an Gilroys Warnungen bezüglich der Harpyien dachte. Damals hatte der Dunkelelf ihm gesagt, dass die Bestien, die in den Hängen der Wolkenberge nisteten, noch größer und gemeiner waren, als die Ungeheuer, mit denen Craig auf den Klippen von Eydar Bekanntschaft gemacht hatte. Ohne seine schlagkräftigen Gefährten hätte er trotz aller Abenteuerlust vermutlich den Mut verloren. Angeführt von Gancielle setzte sich die Gruppe in Bewegung. Craig hatte das Gefühl, noch immer nicht richtig wach zu sein. Müde schlurfte er hinter Lazana und Ratford her. Auch Knack wirkte nicht besonders begeistert. Er kam zu Fuß einigermaßen gut zurecht, aber bei langen Märschen zeigte sich deutlich, dass er nicht für das Leben an Land geschaffen war. Das Gras der Hügel, die sie überquerten, war nass vom Tau und Craigs ausgefranste und zerrissene Hosenbeine sogen sich schon nach wenigen Schritten mit Wasser voll. Er fror erbärmlich und sah sich suchend nach der Sonne um. Im Osten hing sie als trübe Scheibe hinter dem Nebel knapp über dem Horizont. Noch fanden ihre wärmenden Strahlen ihren Weg nicht bis zur Erde und Craig hoffte, dass sich das bald ändern würde. Alles versank im Dunst. Die Wolkenberge waren ebenso verschwunden wie der Maldocan, dessen sanftes Rauschen allerdings deutlich zu hören war. Während der breite Strom am Vorabend noch deutlich sichtbar gewesen war, tauchte er nun erst aus dem Morgennebel auf, als sie keine zehn Meter mehr von seinem Ufer entfernt waren. Knack gluckste vor Freude und stürzte sich ohne zu zögern ins kühle Nass. „Schwimm nicht zu weit weg!“, rief Craig ihm zu. „Sonst treibst du noch ab!“ Lazana blieb stehen und stocherte mit ihrem Stab in der Uferböschung des Maldocan herum. Feuchte Erde löste sich und plumpste ins Wasser. Das andere Ufer des breiten Flusses war nicht zu sehen. „Wie sollen wir auf die andere Seite kommen?“, fragte die Eismagierin ratlos. „Kannst du den Fluss nicht einfach zufrieren lassen?“, fragte Craig mit großen Augen. Lazana lachte leise. „Ich glaube, da überschätzt du meine Fähigkeiten ein klein wenig“, schmunzelte sie. „Einen Bach würde ich vermutlich noch in Eis verwandeln können, aber das hier ist ein äonenalter, mächtiger Fluss. Keine Macht der Welt wird ihn so einfach aufhalten können.“ „Es gibt hier eine Brücke“, brummte Gancielle und blinzelte in den Dunst. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber sie müsste sich ein Stück weiter flussaufwärts befinden.“ Bei dem dichten Nebel war es nicht möglich, sich zu orientieren, weswegen sich Craig und seine Begleiter ganz auf Gancielles Instinkte verlassen mussten. Und der frühere Kommandant enttäuschte sie nicht. Nachdem sie eine Weile dem Treidelpfad am diesseitigen Ufer des Maldocan gefolgt waren, tauchte vor ihren Augen tatsächlich eine große Brücke auf. Sie bestand aus Stein und war so breit, dass sie drei Karren bequem nebeneinander überqueren konnten. Craig betrachtete das mächtige Bauwerk fasziniert und fragte sich, wie lange es gedauert hatte, die Brücke zu errichten. Sie spannte sich über den Fluss und verschwand auf halbem Weg im Nebel. Es wirkte, als würde sie direkt ins Nichts führen. Rechterhand rauschten Stromschnellen. Der Maldocan verengte sich deutlich und zeigte sich von seiner wilden, urzeitlichen Seite. Craig fiel es schwer zu glauben, dass dieser sprudelnde Fluss und der breite Strom, den er zuvor gesehen hatte, ein und dasselbe Gewässer waren. Gancielle betrat die Brücke als erster und der Rest der Gruppe folgte ihm. Nur Knack blieb im Wasser und überquerte den Fluss schwimmend. Ab und an ertönte sein zufriedenes Glucksen, doch ansonsten hörte Craig nur das Rauschen des Maldocan. Craig fühlte sich unwohl und als das Ufer hinter ihm im Nebel verschwand und die Brücke weder einen Anfang, noch ein Ende zu haben schien, wurde er nervös. Es kam ihm so vor, als würde das mächtige Bauwerk im Nichts schweben, umringt von undurchdringlichem, waberndem Dunst. Da gewann die Sonne endlich ihren Kampf gegen den Nebel. Ihre Strahlen durchdrangen den trüben Schleier, rissen Löcher aus wärmendem Licht hinein und vertrieben den Dunst nach und nach. Die letzten Nebelfetzen lösten sich in Wohlgefallen auf und dann beschien die Sonne den Maldocan in seiner ganzen Pracht. Seine Oberfläche glitzerte, als wäre sie mit tausenden Diamanten besetzt. Craig atmete auf, als er endlich das andere Ufer sehen konnte, doch seine Erleichterung war nicht von langer Dauer. Denn hinter der Brücke lag ein tristes Ödland, eingebettet zwischen kahlen Berghängen und bedeckt von einer fingerdicken Schicht aus grauem Staub. Dornige Schlingpflanzen rankten sich über den trockenen Boden und hier und da entdeckte Craig große Teergruben, in denen eine schwarze, zähflüssige Masse blubberte und kochte. Den Waisenjungen erinnerte dieser Anblick stark an die stinkenden Schlammlöcher der Düstermarsch. „Ist das etwa das Tal der Asche?“, fragte er vorsichtig. „So ist es“, antwortete Gancielle grimmig. „Und es grenzt an Wahnsinn, es bei Tageslicht zu durchqueren, aber uns bleibt keine Wahl. Verhaltet euch einfach ruhig, dann bemerken uns die Harpyien vielleicht nicht.“ Daran konnte Craig nicht so recht glauben. In der Senke saß man für die Harpyien an den Berghängen wie auf einem Präsentierteller. Es gab keinerlei Deckung. Selbst einem einäugigen, kurzsichtigen Vogel wäre es nicht entgangen, wenn jemand das Tal passierte. „Das gibt Ärger“, murmelte Craig leise und wünschte sich plötzlich den Nebel zurück, den er zuvor noch als unheimlich empfunden hatte. Missmutig befühlte er die verschorfte Wunde an seinem Handrücken. Die Verletzung war gut verheilt, aber er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie er im Kampf mit der Klippenharpyie einen ordentlichen Hautfetzen eingebüßt hatte. Und wenn Gilroy nicht übertrieben hatte und die Bewohner der Wolkenberge tatsächlich deutlich größer waren, als ihre Vettern von der Küste, dann würde es bei seiner nächsten Begegnung mit einer Harpyie nicht bei einem einfachen Kratzer bleiben, da war sich Craig sicher. Seine Gefährten zeigten keine Angst. Aufmerksam suchten sie die Berghänge nach verräterischen Schatten ab, aber bislang war alles ruhig und friedlich. „Seht mal“, hauchte Lazana und deutete den Maldocan hinunter. „Ein Schiff!“ Craig hob überrascht den Kopf. Tatsächlich lag ein gutes Stück flussabwärts ein mittelgroßer Bilander vor Anker. „Ist das das Schiff der Schmuggler?“, fragte er aufgeregt. „Möglich“, knurrte Gancielle. „Vielleicht haben wir Glück und diese Mistkerle kamen doch langsamer voran, als wir gedacht haben. Wenn sie erst in der Dämmerung vor Anker gegangen sind, ist Brynne gezwungen, an Bord zu bleiben. Das sehen wir uns an!“ Craigs Herz schlug schneller, als er sich mit seinen Kameraden vorsichtig dem Schiff näherte. Sorgenvoll blickte er sich nach Knack um, den er eine ganze Weile nicht mehr gehört hatte. Kurz befiel ihn die Angst, dass der Knucker sich zu nahe an das Schiff gewagt hatte und von den Banditen entdeckt worden war, doch schon bald verflüchtigten sich seine Sorgen und es stellte sich heraus, dass der Kahn unbemannt war. Die Segel waren eingeholt und die Laderampe ausgefahren. Am Rumpf prangte in verwitterten Eisenlettern der Name Sirene. „Seltsam“, murmelte Gancielle. „Haben sie ihr Schiff etwa unbewacht zurückgelassen?“ „Vielleicht haben sie sich unter Deck verkrochen“, mutmaßte Ratford. „Überprüfen wir das“, zischte Gancielle und hob sein Schwert. „Folgt mir. Und seid um Solas Willen leise.“ Am Bug des Schiffs streckte Knack den Kopf aus den sanften Wellen und blinzelte neugierig. Craig legte warnend einen Finger an die Lippen und der Knucker verstand sofort. Ohne einen Laut glitt er ins Wasser zurück, bis nur noch seine Nasenlöcher zu sehen waren. Craig selbst holte tief Luft und folgte den anderen an Bord. Bis auf Vance hatten all seine Gefährten ihre Waffen gezogen und schlichen sich geduckt und mit spürbarer Anspannung über die Laderampe. Doch auch an Deck entdeckten sie keine Wachen, dafür aber einen Mann, der regungslos auf den Planken lag. Craig konnte einen überraschten Aufschrei nur mit Mühe zu einem entsetzten Keuchen abdämpfen, als er den Toten sah. Er konnte deutlich die Wunde an seiner Brust erkennen. Dunkles, getrocknetes Blut bedeckte seinen Oberkörper. „Kennt Ihr diesen Mann?“, fragte Gancielle mit gedämpfter Stimme. Lazana schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber dem Aussehen nach gehörte er zu den Banditen. Vielleicht war er einer der Seeleute, die das Sturmerz nach Ganestan schmuggeln. Die haben sich in der Mine jedenfalls nie blicken lassen.“ Gancielle beugte sich über den Toten und nahm ihn genauer in Augenschein. „Ein einzelner Stich ins Herz“, stellte er finster fest. „Armer Kerl. Diese Bastarde machen noch nicht einmal vor ihren eigenen Leuten Halt.“ Er erhob sich und deutete mit einem Kopfnicken zu einer offenen Luke. „Ratford, Ihr kommt mit mir. Wir durchsuchen das Unterdeck. Ihr anderen wartet hier.“ Ratford schulterte seine Axt und folgte Gancielle. Die beiden stiegen vorsichtig die steile Treppe hinunter und verschwanden. Craig blieb mit einem Gefühl des Unwohlseins zurück. Seinen Gefährten ging es offenbar ähnlich. Lazana hielt ihren Stab fest umklammert und Wuleens Ohren zuckten bei jedem noch so kleinen Geräusch wie die eines wilden Tieres, das auf der Lauer lag. Nur Vance wirkte teilnahmslos und abwesend. Craig entging nicht, dass er es vermied, den toten Seemann anzusehen. Stattdessen trat Vance an die Reling auf Steuerbordseite und starrte gedankenverloren nach Süden. Craig lauschte angestrengt nach Kampfgeräuschen vom Unterdeck, doch alles, was er hörte, war das leise Knarren des Großmasts. Dann, nach einer Weile, die Craig fast endlos vorkam, ertönten Schritte auf der Treppe und einen Augenblick später erschien Ratfords Kopf in der Luke. Lazana atmete auf, als sie feststellte, dass er unverletzt war. „Niemand da“, verkündete Ratford. „Der Kahn ist verlassen. Gancielle durchstöbert gerade das Vorratslager. Aber wir haben unten zwei Kisten gefunden, die randvoll mit Goldmünzen gefüllt sind. Ich verwette meine Axt darauf, dass es sich dabei um den Erlös aus dem Schmuggel handelt. Umso merkwürdiger ist es, dass die Schurken keine Wachen zurückgelassen haben. Für das Gold, das dort unten lagert, würde jeder dahergelaufene Hafenschläger ohne zu zögern seine eigene Mutter umbringen.“ „Dann hat sich also sogar die Mannschaft dieses Schiffs auf den Weg nach Norden gemacht“, murmelte Lazana nachdenklich. „Und niemand von uns weiß, wie viele Seeleute hier an Bord waren. Aber wir müssen davon ausgehen, dass Brynnes Gefolge zu einer schlagkräftigen Truppe angewachsen ist.“ „So ist es“, bestätigte Ratford und raufte sich die Haare. „Und ich habe mich schon gefragt, wie wir mit den Banditen fertig werden sollen. Jetzt haben diese Galgenvögel auch noch Verstärkung bekommen.“ Alle Anwesenden verfielen in schwermütiges und nachdenkliches Schweigen, das von Gancielles Schritten durchbrochen wurde, der nun ebenfalls zurück an Deck erschien. In der einen Hand hielt er noch immer sein blankes Schwert, in der anderen einen grobmaschigen Stoffsack, und Craigs Erleichterung, die er bei Ratfords Rückkehr verspürt hatte, wurde nun von einem bedrückenden Gefühl abgelöst, als er Gancielles Gesicht sah, in dem sich Frustration und Ärger spiegelten. „Viel haben diese Kerle nicht zurückgelassen“, knurrte er und warf Craig den Beutel vor die Füße. Zwei Brotlaibe und ein angeschnittenes Käserad kullerten heraus. „Sobald wir unsere Vorräte aufgestockt haben, brechen wir wieder auf.“ Da noch nicht einmal ein ganzer Tag vergangen war, seit sie die Mine verlassen hatten, war noch nicht viel von ihrem Proviant verbraucht worden. Craig bediente sich an ein paar Streifen Trockenfleisch, einer Handvoll Dörrobst und an den beiden Brotlaiben und hatte anschließend damit zu kämpfen, die Riemen seines prallgefüllten Rucksacks zu schließen. Als der Vorratsbeutel schließlich geleert war, warf ihn Gancielle achtlos zur Seite und trieb seine Gefährten zur Eile an. Craig gehorchte unwillig und trat auf die Laderampe, als er bemerkte, dass Vance noch immer an der gegenüberliegenden Reling stand und sich nicht rührte. „Dorashen!“, bellte Gancielle ungeduldig. „Was ist los? Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“ „Da drüben liegt jemand“, murmelte Vance. Gancielle schob missmutig die Brauen zusammen und eine tiefe Falte teilte seine Stirn. „Was redet Ihr da?“, schnaubte er und trat ebenfalls an die Reling, um ans andere Ufer zu spähen. „Wo liegt jemand?“ „Dort“, antwortete Vance und streckte den Arm aus. Er deutete auf eine plattgedrückte Stelle zwischen den Binsen und verengte die Augen zu Schlitzen. „Es ist ein Mensch.“ Craig lief neugierig zur Reling und starrte über den Fluss. „Donnerwetter!“, staunte er. „Scharfe Augen hast du auch noch! Ich sehe da drüben nur Schlamm und Schachtelhalm.“ „Kannst du erkennen, ob er noch lebt?“, fragte Lazana. Vance nickte langsam. „Es sieht so aus, als würde er noch atmen.“ Craig pfiff auf den Zähnen und sofort hob Knack den Kopf aus dem Wasser. Craig beugte sich zu ihm herunter. „Dort drüben liegt jemand“, sagte er und deutete ans andere Ufer. „Kannst du ihn zu uns bringen? Aber am besten so, dass er nicht absäuft.“ Der Knucker legte den Kopf schief, als hätte er Craig nicht verstanden, doch als dieser seine Bitte seufzend wiederholen wollte, tauchte Knack endlich ab. Gancielle trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Reling. „Was soll denn das jetzt?“, rief er unglücklich. „Wir haben für solche Späße keine Zeit.“ „Dort drüben liegt ein Mensch, der möglicherweise in Lebensgefahr schwebt“, wies Lazana ihn streng zurecht. „Ist es nicht Eure Aufgabe, die Zivilbevölkerung zu beschützen, Kommandant?“ Gancielle trat missmutig von einem Fuß auf den anderen. „Ihr habt ja Recht“, gab er kleinlaut zu. Ungeduldig beobachtete er, wie Knack den Fluss in kürzester Zeit durchquerte. Er schob sich neben der offensichtlich bewusstlosen Person aus dem Wasser, packte sie mit seinen Kiefern möglichst zärtlich am Oberarm und schleppte sie in den Fluss. Er reckte den Hals weit aus den sanften Wellen, um den Kopf der Gestalt über Wasser zu halten. Mit seiner Last kam er nur langsam voran, doch bald erkannte Craig einen roten Haarschopf und als Knack endlich das Ufer erreichte und die bewusstlose Person an Land zerrte, bemerkte er, dass es eine junge Frau war. Hastig verließen die Gefährten das Schiff und liefen hinüber zu der Stelle, an der Knack die Frau aus dem Wasser gezogen hatte. Lazana beugte sich mit sorgenvollem Blick über die Bewusstlose. Ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung angenommen, in ihrem Oberarm klaffte eine Schnittwunde und an ihrer rechten Gesichtshälfte klebte getrocknetes Blut und Schlamm. Aber Vance hatte recht. Sie atmete noch. „So, Person gerettet“, brummte Gancielle. „Dann können wir jetzt endlich weiter.“ „Sie ist verletzt“, bemerkte Lazana, ohne Gancielle zu beachten. „Wir müssen ihre Wunden säubern.“ Widerwillig warf Gancielle der Magierin den Beutel mit dem Verbandszeug und den Arzneien zu, den Lexa ihm überlassen hatte. „Aber bitte beeilt Euch“, flehte er gequält. Mit ein wenig Flusswasser wusch sie den Schnitt am Arm der jungen Frau aus, der sich entzündet hatte, und träufelte ein wenig Sumpfwurzextrakt auf die Wunde. Sorgfältig verband sie den verletzten Arm und wandte sich der Platzwunde an ihrer Schläfe zu, doch als sie der Bewusstlosen mit einem feuchten Stück Stoff das angetrocknete Blut und den Dreck aus dem Gesicht waschen wollte, schlug die junge Frau plötzlich die Augen auf. Mit einem erstickten Aufschrei robbte sie zurück und zog panisch ihr Schwert aus dem Gürtel. „Wer seid ihr?“, rief sie ängstlich. „Was wollt ihr von mir?“ „Wir haben dich gefunden“, erklärte Lazana sanft und lächelte entwaffnend. „Du warst bewusstlos und bist verletzt. Wir wollen lediglich deine Wunden versorgen.“ Die Frau zuckte zusammen und ließ ihr Schwert sinken. „Käpt’n Veit“, hauchte sie und sah ruckartig zu dem verlassenen Schiff herüber. Craig konnte sehen, dass ihre Unterlippe bebte. „Das habe ich mir gedacht“, brummte Gancielle und stemmte die Hände in die Hüften. „Du gehörst also zu der Besatzung dieses Schiffs. Sag mir die Wahrheit! Kennst du einen gewissen Fjedor?“ Die Frau senkte betreten den Kopf. „Ja“, gab sie leise zu. „Ich kenne ihn. Käpt’n Veit und ich haben mit ihm zusammengearbeitet. Mein Name ist Ilva. Ich bin die Steuerfrau der Sirene. Oder besser gesagt, ich war es.“ Ihr ganzer Körper erzitterte. Lazana sah sie mitfühlend an. „Was ist geschehen?“, fragte sie vorsichtig. „Dieser Mistkerl Brynne hat eine Meuterei angezettelt“, berichtete Ilva flüsternd. „Und dann…und dann hat sein Leibwächter…dann hat sein Leibwächter Käpt’n Veit…“ Ihre Stimme brach ab und sie verbarg das Gesicht in den Händen. „Dann war der arme Kerl, den wir an Deck gefunden haben, also der Kapitän dieses Schiffs“, stellte Gancielle verbittert fest und trat näher an Ilva heran. „Du da! Wie groß ist die Truppe, die Brynne folgt?“ Ilva zuckte zusammen. Verängstigt und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Gancielle ins Gesicht. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Lazana warf Gancielle einen vernichtenden Blick zu. Dann wandte sie sich wieder Ilva zu und ihr Gesichtsausdruck milderte sich. „Keine Angst. Wir tun dir nichts. Aber wenn du etwas über Brynne und sein Gefolge weißt, wäre das von unschätzbarem Wert für uns.“ Ilva starrte noch immer Gancielle an, bis dieser ihrem Blick schließlich auswich und sich abwandte. „Fünfzig…“, flüsterte sie schließlich kaum hörbar. „Mit den Meuterern dürften es ungefähr fünfzig Leute sein.“ Ratford und Lazana wechselten besorgte Blicke. „Fragt sie, wann sie an Land gegangen sind“, knurrte Gancielle. „Wann hat das Schiff diesen Ort erreicht?“, erkundigte sich Lazana vorsichtig. „Wann genau sind Brynne und seine Spießgesellen nach Norden aufgebrochen?“ „Wir sind hier gestern kurz vor Einbruch der Nacht vor Anker gegangen“, antwortete Ilva und ihre Stimme klang nun etwas kräftiger. „Wahrscheinlich sind sie direkt aufgebrochen, aber ich kann das nicht mit Gewissheit behaupten…ich…ich bin doch über Bord gegangen…“ Lazana sah Ilva mitfühlend an. „Haben sie Pferde und Karren dabei?“, fragte sie. Ilva schüttelte den Kopf, zuckte zusammen und fasste sich an die Schläfe. „Nein“, murmelte sie. „Sie sind zu Fuß unterwegs.“ „Lass mich diese Verletzung sehen“, sagte Lazana sachte und streckte die Hand aus. „Sie muss gesäubert werden.“ Ilva ließ es zu, dass ihr Lazana die Platzwunde auswusch und ihr anschließend einen Kopfverband anlegte. „Sie haben nur eine Nacht Vorsprung und kommen vermutlich nicht so schnell voran wie wir“, stellte Gancielle fest. Zum ersten Mal, seit sie die Mine verlassen hatten, wirkte er ansatzweise zufrieden. „Wir holen auf!“ „Und was machen wir jetzt mit ihr?“, fragte Ratford und deutete auf Ilva. „Na, was schon?“, brummte Gancielle ungerührt. „Wir sperren sie in die Brig des Schiffs bis wir wieder zurück sind.“ „Das ist nicht Euer Ernst!“, fuhr Lazana auf. „Keiner kann sagen, ob und wann wir zurückkehren! Hat sie nicht schon genug durchgemacht? Seht Ihr denn nicht, dass sie immer noch Hilfe braucht? Sie ist verletzt!“ „Und sie ist eine Schmugglerin“, erwiderte Gancielle hart. „Sie trägt eine Mitschuld an dem Unheil, das uns droht. Sollen wir sie etwa einfach laufen lassen?“ „Erst, nachdem wir sie ausreichend versorgt haben“, rief Lazana und schürzte die Lippen. „Ich werde bei ihr bleiben, bis es ihr besser geht. In diesem Zustand kommt sie nicht weit.“ Gancielle war anzusehen, dass er alle Mühe hatte, seine aufkeimende Wut in Zaum zu halten. Sein Kopf lief rot an und auf seiner Stirn trat eine dicke Ader hervor. „Hört zu“, zischte er mit gedämpftem Zorn. „Die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Euch ist doch hoffentlich klar, was passiert, wenn Brynne den Wolkentempel vor uns erreicht, oder? Wollt Ihr das Schicksal von ganz Adamas wegen einer Fremden aufs Spiel setzen, die noch dazu eine Verbrecherin ist?“ Ratford wollte einschreiten, um zu verhindern, dass zwischen Lazana und Gancielle ein Streit entbrannte, doch er blieb überrascht stehen, als sich Ilva schwankend auf die Beine kämpfte. „Bitte verzeiht“, murmelte sie. „Aber habe ich das richtig verstanden? Ihr verfolgt Brynne?“ Lazana drehte sich verwundert um. „Das stimmt. Wir sind schon seit einem Tag hinter ihm her.“ Ilva neigte unterwürfig den Kopf. „Ich bitte Euch, nehmt mich mit!“, rief sie flehend. Gancielle rümpfte die Nase. „Und warum genau sollten wir das tun? Schließlich bist du mitverantwortlich für diesen Schlamassel.“ Ilva ballte zitternd die Hände zu Fäusten und hielt Gancielles geringschätzigem Blick stand. „Weil ich alles tun würde, um diese elenden Verräter für ihre Meuterei büßen zu lassen!“, verkündete sie mit bebender Stimme. „Bitte, lasst mich Euch folgen! Der feige Mord an Käpt’n Veit darf nicht ungesühnt bleiben!“ „Aber deine Verletzungen…“, warf Lazana ein. „Die sind nicht wichtig!“, entgegnete Ilva mit fester Stimme. „Und sie sind nichts im Vergleich zu dem, was ich Brynne antun werde, wenn ich ihn in die Finger bekomme!“ Lazana beäugte Ilva mit zweifelnden Blicken und schien scharf nachzudenken. Dann drehte sie sich um und sah Gancielle hoffnungsvoll an. „Das wäre eine Möglichkeit…“, murmelte sie. „Auf diese Weise kann ich ihre Wunden im Auge behalten.“ „Ihr macht Witze!“, rief Gancielle. „Wir sollen einen dieser Gauner als Verbündeten betrachten?“ Lazana verdrehte die Augen. „Ich bitte Euch! Ihr werft sie immer noch mit Brynnes Handlangern in einen Topf? Hat sie uns mit ihren Auskünften nicht schon weitergeholfen? Sie ist bereit, ihre Verfehlungen wiedergutzumachen, indem sie uns unterstützt. Ihr habt es in der Mine selbst gesagt, Gancielle. Wir können jede Unterstützung gebrauchen, die wir kriegen können. Könnt Ihr unter diesen Umständen nicht einmal Euer verdammtes Pflichtgefühl vergessen? Immerhin seid Ihr kein Kommandant mehr!“ „Ihr hättet mal sehen sollen, wie er sich angestellt hat, als Lexa die Paddel für unser Boot geklaut hat!“, rief Craig und grinste. Gancielle warf ihm einen wütenden Blick zu, der aber nicht übertünchen konnte, dass Lazanas Worte gesessen hatten. Mürrisch verschränkte er die Arme vor der Brust. „Meinetwegen, dann soll sie eben mitkommen“, brummte er und sein Blick streifte Vance. „Immerhin ist sie ja nicht der erste Galgenvogel, auf dessen Unterstützung wir uns verlassen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)