Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 33: ------------ Die Sirene kam langsamer voran, als Veit gehofft hatte. Den ganzen Vormittag über trieb sie bei günstigem Seewind zunächst noch zügig dem Flusslauf entgegen, doch je weiter sie sich von der Mündung des Maldocan entfernte, desto mehr wurde sie von der Strömung ausgebremst. Als Khaanor schließlich außer Sichtweite war und sich an Backbord die ersten Berge auftürmten, machte das Schiff kaum noch Fahrt. Veit ließ die Riemen ausfahren und beorderte seine Mannschaft an die Ruderbänke. Auch Fjedor stellte einige seiner Leute ab, um die Seeleute zu unterstützen. Die Banditen gehorchten murrend. Veit gab den Rhythmus der Ruderzüge vor und obwohl es eine Weile dauerte, bis Fjedors Lumpenpack den richtigen Takt gefunden hatte, kam die Sirene wieder etwas schneller voran. Dem Kapitän war es wichtig, vor Einbruch der Nacht einen sicheren Ankerplatz zu finden, denn bei Dunkelheit war das manövrieren auf dem Fluss nicht ungefährlich. Die Strömung des Maldocan war zwar noch immer nicht besonders stark, aber die Flanken der Wolkenberge, durch die er im Laufe der Äonen eine tiefe Schneise geschnitten hatte, ragten zur Linken des Schiffes tückisch auf. Es gab keine Leuchttürme oder Signalfeuer, die das Ufer markierten, und so bestand bei Finsternis das Risiko, auf Grund zu laufen oder gegen die schroffe Felswand zu prallen. Die Berge warfen bereits lange Schatten auf die Sirene, deren Besatzung angestrengt gegen die Strömung ankämpfte. Veit spähte den Flusslauf entlang und suchte fieberhaft nach einer Stelle am Ufer, die nicht von aufragenden Klippen gesäumt war. Er wusste, dass sich weiter stromaufwärts, nicht unweit des Oberlaufs des Maldocan, ein großes, karges Tal befand. Dort konnte man ohne Schwierigkeiten anlegen. Doch vor sich sah er nur Berge und den Fluss, der sich schnurgerade und wie ein breites, golden glitzerndes Band nach Osten erstreckte. Im nächsten Moment verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Die Schatten schwappten wie eine dunkle Welle über das Schiff. Brynne schien zu spüren, dass es Nacht wurde. Im Westen zeugte der rötliche Himmel noch davon, dass der Tag gerade erst zu Ende ging, da Brynne auch schon mit seinen Leuten an Deck. Tareglir tauchte mit so verächtlich gerümpfter Nase auf, dass Veit dachte, der Waldelf würde sich jeden Augenblick über die schmutzigen Zustände auf dem Schiff beschweren. Dagegen wirkten die beiden Dunkelelfen ruhig und in sich gekehrt. Nur Viland fehlte. Seine schweren Verletzungen bedurften noch immer der Pflege Indras. Veit erschauderte, als er Brynne entdeckte. Allein sein Äußeres wirkte auf groteske Weise furchterregend. Er war großgewachsen, aber sehr schlank, fast schon dürr, und sein Haar war so spröde und strohig, als seien seine Wurzeln schon vor Jahren abgestorben. Aber was Veit unruhig machte, waren das zerschmolzene Narbengewebe an seiner linken Gesichtshälfte und der hungrige Blick in seinem lidlosen, starrenden Auge. Noch nie hatte er einen Gast an Bord seines Schiffes gehabt, in dessen Anwesenheit er sich unwohler gefühlt hatte. Veits Nackenhaare stellten sich auf, als Brynne direkt auf ihn zusteuerte. Seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen und das löchrige Gewebe an seiner Wange erweckte den Anschein, das Grinsen würde bis zu seinem linken Ohr ragen. „Ich hoffe, wir machen gute Fahrt“, sagte er mit einer Stimme, die Veit den Schweiß auf die Stirn trieb. Der Kapitän musste schlucken. „Nicht gut genug“, krächzte er. Seine Kehle war auf einmal wie ausgedörrt. „Ich hatte vor, noch bei Tageslicht vor Anker zu gehen.“ „Tageslicht“, schnaubte Brynne verächtlich und warf einen kurzen, hasserfüllten Blick nach Westen. Veit hatte inzwischen erfahren, dass die Sonne für den bedauernswerten Zustand seines Gesichts verantwortlich war. Er konnte verstehen, warum Brynne das Tageslicht verabscheute, nach allem, was es ihm angetan hatte. Aber für ihn als Seemann war es wichtig, noch dazu auf einem Fluss zwischen steilen Felsklippen. Veit stemmte die Hände in die Hüften. „Ich hoffe, wir erreichen das Tal der Asche noch bevor es dunkel wird“, verkündete er. „Weiter kann ich Euch nicht bringen. Aber falls die Nacht hereinbricht, bevor wir den Oberlauf erreichen, müssen wir hier vor Anker gehen. Bei Dunkelheit zu segeln wäre viel zu gefährlich.“ „Nun, sobald Ihr die Segel einholt, gehen wir von Bord“, erwiderte Brynne gelangweilt. „Wenn uns Euer Schiff nicht mehr weiterbringt und die ganze Nacht vor Anker liegt, hat es keinen Nutzen mehr für uns. In diesem Fall würden wir unsere Reise zu Fuß fortsetzen und den Treidelpfad entlangwandern.“ Er beugte sich nahe an Veit heran und der Kapitän gab sich alle Mühe, nicht in das Auge auf der verbrannten Gesichtshälfte zu sehen. „Aber ich hoffe doch sehr, dass Ihr Euer Bestes gebt, das Tal der Asche zu erreichen. Das wäre wirklich ausgesprochen hilfreich.“ Veit hatte das ungute Gefühl, dass Brynne gerade eine Drohung ausgesprochen hatte. Unwillkürlich wich er zurück und wandte sich ab. „Meine Mannschaft legt sich ordentlich ins Zeug“, brummte er. „Aber versprechen kann ich nichts.“ Dann ging er hastig davon, ehe er in Brynnes Anwesenheit noch die Nerven verlor. Er gesellte sich zu Ilva, die das Schiff auf Kurs nahe dem Ufer auf Steuerbordseite hielt. „Wir segeln noch so lange, wie wir etwas erkennen können“, flüsterte Veit seiner Vertrauten zu. „Seid Ihr Euch sicher?“, fragte Ilva zaghaft. „Es sieht Euch nicht ähnlich, mehr Risiko einzugehen, als unbedingt nötig ist.“ „Ja doch“, erwiderte Veit gereizt. „Was soll schon groß passieren? Der Maldocan ist so friedlich wie ein kleines Kätzchen.“ Der Kapitän wusste genau, dass er sich selbst belog. Es konnte eine ganze Menge passieren. Aber er wagte es nicht, Brynne Widerstand zu leisten. Ein untrügliches Gefühl sagte ihm, dass es gefährlicher war, sich diesem Mann entgegenzustellen, als bei Nacht auf einem Fluss durch die Ausläufer der Berge zu segeln. Er sehnte den Moment herbei, an dem Brynne und seine Spießgesellen endlich von Bord gingen und Fjedor und dessen Lumpenpack gleich mitnahmen. Veit lehnte sich gegen die Brüstung auf der Brücke und blickte zu den Ruderbänken hinunter. Die Kräfte seiner Mannschaft schwanden allmählich und die Strömung nahm immer mehr zu. Unterstützung durch den Seewind hatten sie kaum noch, das Großsegel flatterte nur schwach in einer lauen Brise. Einige von Fjedors Leuten hatten die Ruder sogar losgelassen und rieben sich ihre geschundenen Hände. Veit fluchte leise, als er ihr Gejammer hörte. Für die Arbeit auf einem Schiff waren diese Waschlappen vollkommen ungeeignet. Der Kapitän fragte sich, wie Fjedor es mit derart wehleidigen Untergebenen jemals soweit geschafft hatte. „Käpt’n“, rief Ilva unruhig. „Es ist zu gefährlich. Wir müssen vor Anker gehen.“ Veit sah auf. Der goldene Schimmer des Maldocan erstarb und der Fluss wurde zu einer grauen, unförmigen Masse, die sich dem Schiff träge entgegenwälzte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die gesamte Gegend in Finsternis versank. Veit wollte schon einlenken, als er weiter flussaufwärts erkannte, dass das Ufer zu seiner Linken langsam abflachte. Zwischen den Berghängen tauchte eine Senke auf. „Das Tal der Asche!“, rief er erleichtert. „Das schaffen wir, bevor es endgültig dunkel wird!“ Die Zuversicht ihres Kapitäns schenkte auch Ilva neuen Mut. Sie nickte entschlossen und korrigierte den Kurs der Sirene. Veit bohrte seine Fingernägel in das Holz der Brüstung und behielt das flache Ufer im Auge, das quälend langsam näherkam, während die Nacht ihren dunklen Schleier unaufhaltsam über die Berge legte. Die Sirene segelte den Treidelpfad entlang, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Tal war, dann warf Ilva das Steuerrad herum und das Schiff schwenkte knarrend nach Backbord. Kaum stand die Sirene längsseitig zur Strömung im Wasser, wurde sie wieder flussabwärts getrieben, aber unter Veits lauten Kommandos gelang es der Besatzung, den Maldocan zu überqueren. Am anderen Ufer ging man vor Anker und nur wenige Augenblicke später wurde der letzte Lichtschimmer der Sonne hinter dem Horizont von der Dunkelheit verschluckt. Die Mannschaft der Sirene zündete einige Öllampen an und machten sich am Tauwerk zu schaffen, während die Laderampe ausgefahren wurden und einige von Fjedors Banditen an Land gingen. Nachdem sie den ganzen Tag auf dem Schiff verbracht hatten, freuten sie sich sichtlich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Veit atmete auf. Endlich war er Fjedor und seine Spießgesellen los und konnte wieder seinem Schmugglerhandwerk nachgehen. Er warf Ilva ein glückliches Lächeln zu und seine Steuerfrau erwiderte es erleichtert. „Siehst du, was habe ich dir gesagt?“, schmunzelte Veit und sie in den Arm. „Mit dir an meiner Seite überstehe ich auch die heikelsten Situationen.“ Ilva schmiegte sich in vertrauter Freundschaft an ihren Kapitän. „Tut mir trotzdem den Gefallen und versucht in Zukunft, kein Unheil heraufzubeschwören“, murmelte sie leise. Fjedor kam mit breitem Grinsen die Treppe zur Brücke hinauf. Nironil folgte ihm und Veit fragte sich, ob der Waldelf seinem Herrn überhaupt beim Pissen von der Seite wich. Fjedor war anzusehen, dass er hochzufrieden war. Begeistert klopfte er Veit auf die Schulter. „Gut gemacht, alter Haudegen!“, lobte er mit einer Überschwänglichkeit, die der Kapitän gar nicht von ihm kannte. „Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.“ „Dem kann ich mich nur anschließen.“ Veit fuhr hoch, als Brynnes Stimme, triefend vor Hohn und Spott, von der Reling ertönte. Mit wölfischem Grinsen stand er neben Brothain und stierte gierig zur Brücke hinauf. „Auch ich möchte mich bei Euch bedanken, Kapitän. Ihr habt wirklich hervorragend Arbeit geleistet.“ „Danke“, brummte Veit tonlos. „Ich wünsche Euch eine gute Weiterreise.“ Aber Brynne machte keine Anstalten, das Schiff zu verlassen. „Kehrt Ihr nun nach Kaboroth zurück?“, fragte er scheinbar beiläufig. Veit wurde stutzig. „Nicht sofort“, erwiderte er zögerlich. „Wir bleiben über Nacht vor Anker. Meine Leute sind seit Stunden auf den Beinen und brauchen eine Mütze Schlaf. Außerdem können wir bei dieser Dunkelheit ohnehin nicht zurücksegeln.“ „So viele gute Männer bleiben einfach hier und legen sich nutzlos in ihre Kojen“, murmelte Brynne. Sein lauernder Tonfall gefiel Veit ganz und gar nicht. „Ich habe eine bessere Idee: Ihr und Eure Leute kommen mit uns! Wir können jede helfende Hand gebrauchen.“ Fjedor hob begeistert die Augenbrauen. „Kein schlechter Einfall!“, rief er und grinste Veit auffordernd an. „Komm schon! Das wird sich für uns beide in barer Münze auszahlen. Und es ist mal etwas anderes, als vor den Schiffen der Armee zu flüchten.“ „Ich bin kein Räuber“, lehnte Veit brummig ab. „Und ich werde nie einer sein. Außerdem werde ich einen Teufel tun und die Sirene unbewacht zurücklassen.“ „Offensichtlich habt Ihr mich missverstanden, Kapitän“, entgegnete Brynne. „Das war kein Vorschlag. Das war ein Befehl.“ „Jetzt…jetzt mach aber mal halblang!“, entfuhr es Fjedor und versuchte, beruhigend einzuschreiten, doch es war bereits zu spät. Veits angespannter Geduldsfaden zerriss und angesichts der Dreistigkeit, mit der Brynne ihm begegnete, verlor er jegliche respektvolle Zurückhaltung. „Ich höre wohl schlecht!“, donnerte er und schlug mit beiden Fäusten auf die Brüstung. „Ich bin ein großes Risiko eingegangen, um Euch hierher zu bringen. Ich habe sogar in Khaanor anlegen lassen, damit Ihr Euren schnöseligen Diener an Bord bringen konntet! Und das ist Euer Dank? Das hier ist mein Schiff! Ich bin der Kapitän! Ihr habt hier nichts zu entscheiden! Meine Leute tun, was ich Ihnen sage! Verlasst mein Schiff augenblicklich, bevor ich mich vergesse!“ Brynne wirkte alles andere als beeindruckt. „Oh, der Seewolf kann doch noch Zähne zeigen“, kicherte er hämisch. „Ich habe mich schon gefragt, wo Euer vielgerühmter Schneid geblieben ist. Aber Ihr habt ein völlig falsches Verständnis von Autorität. Diese Leute folgen nicht Euch, sie folgen dem, der am besten bezahlt.“ Fjedor wurde plötzlich leichenblass. „Wie meinst du das?“, fragte er unsicher. „Matrosen!“, rief Brynne, ohne den Schmugglerkönig zu beachten. „Hört her! Seid Ihr es nicht leid, Euch für einen Hungerlohn den Rücken krumm zu schuften?“ Sofort hielten die Seeleute inne und starrten Brynne mit einer Mischung aus offensichtlicher Gier und zögerlichem Interesse an. Veit platzte vor Wut. Er stürmte mit Ilva auf den Fersen die Treppe hinunter und stapfte mit hochrotem Kopf auf Brynne zu. Er wollte ihn am Kragen packen und am liebsten kielholen lassen, aber Brothain stellte sich ihm in den Weg und zog drohend seinen Dolch aus dem Gürtel. Veit blieb sofort stehen und ballte erbost die Fäuste. „Seht her!“, fuhr Brynne ungerührt fort. „Das ist der Reichtum, der Euch erwartet, wenn Ihr Euch an mich haltet!“ Er deutete auf die Luke zum Unterdeck, die sich in diesem Augenblick öffnete. Heraus traten Gilroy und Tareglir. In ihren Händen trugen sie eine Truhe, die scheinbar sehr schwer war, denn vor allem das bärtige Gesicht des Waldelfen war vor Anstrengung verzerrt. „Das…das ist doch eine Kiste mit dem Erlös!“, stammelte Fjedor. „Was tust du denn da?“ „Beruhige dich!“, lachte Brynne und trat näher an die Truhe heran. „Ich leiste nur ein wenig Überzeugungsarbeit.“ Mit einem Ruck zog er sein Schwert aus dem Gürtel und schlug auf das schwere Vorhängeschloss ein. Er musste die Klinge mehrmals niederfahren lassen, doch schließlich zerbrach der Bügel und die Truhe sprang einen Spalt weit auf. Die Seeleute kamen neugierig näher. Brynne keuchte leise, dann versetzte er der Kiste einen kräftigen Tritt. Sie kippte um, der Deckel öffnete sich und unter lautem Klimpern und Klirren fielen unzählige Geldmünzen heraus, die im Schein der Öllampen glitzerten. Ungläubig starrten die Seeleute auf die Goldstücke, die über die Planken der Sirene rollten. „All das bunkert euer Kapitän im Bauch dieses Schiffes und hält es vor euch verborgen!“, rief Brynne laut. „Das ist ungerecht! Doch wenn ihr euch mir anschließt, wird euer Leben in Armut für immer vorbei sein! Greift zu!“ Nun gab es für die Matrosen kein Halten mehr. Gierig stürzten sie sich auf die an Bord verstreuten Reichtümer, sammelten so viele Münzen ein, wie sie kriegen konnten, und stopften sich die Taschen voll. „Das ist Meuterei!“, brüllte Veit erzürnt und zog sein Schwert. Ilva tat es ihm gleich und trat an die Seite ihres Kapitäns. „So etwas dulde ich auf meinem Schiff nicht!“ Wütend wollte er sich auf Brynne stürzen, doch er kam keine zwei Meter weit. Brothain machte einen Satz nach vorn, packte ihn bei der Schulter und stieß ihm den Dolch mitten ins Herz. Veit gab einen erstickten Todeslaut von sich, dann sackte er in die Knie und sein Oberkörper kippte vornüber. Unter ihm breitete sich ein dunkler Fleck aus und sein Blut sickerte in die Ritzen zwischen den Planken. Ilva riss vor Entsetzen die Augen auf, als sie den Mann sterben sah, der sie aus der Eiswüste gerettet hatte. Mit einem von Kummer und Schmerz verzerrten Schrei ging sie auf seinen Mörder los und schwang ihr Schwert in blinder Wut. Brothain wehrte sich mit erstaunlichem Geschick, obwohl er nur mit seinem Dolch bewaffnet war. Doch Ilva war wie rasend und schlug mit heftigen Schwertstreichen auf den schlanken Dunkelelfen ein. Sie legte in jeden ihrer Hiebe all ihren Zorn und drängte Brothain bis an die Reling zurück. Als Brynne bemerkte, dass sein Leibwächter in Schwierigkeiten geriet, griff er ein. „Tötet diese Furie!“, wies er die Seeleute an und sie gehorchten. Geblendet von all den Reichtümern, die ihnen versprochen wurden, folgten sie seinem Befehl ohne zu zögern. In ihrer Raserei bemerkte Ilva gerade noch rechtzeitig, dass Brothain Hilfe bekam. Mit einem Ausfallschritt wich sie zur Seite aus und sah sich der Überzahl der Meuterer gegenüber. Obwohl ihr Urteilsvermögen von Kummer und Hass getrübt wurde, erkannte sie, dass sie gegen die Mannschaft der Sirene nicht den Hauch einer Chance hatte. Panisch warf sie einen Blick auf den leblosen Körper ihres Kapitäns und suchte ihr Heil in der Flucht. Eine Klinge schnitt ihren Arm auf und ein Knüppel streifte sie mit solcher Wucht an der Schläfe, dass sie ins Straucheln geriet und ihr beinahe schwarz vor Augen wurde. Trotzdem gelang es ihr, sich zur Reling zu retten, während ihr die Sinne schwanden. Kopfüber stürzte sie sich über Bord und fiel mit einem langgezogenen Schrei der Verzweiflung in die Tiefe. Die Dunkelheit verschluckte sie und die Meuterer, die sich ratlos an der Reling drängten, hörten, wie sie mit einem lauten Platschen im Wasser landete. „Schon gut, ihr müsst nicht nach ihr Ausschau halten“, brummte Brynne, auch wenn ihm anzusehen war, dass er Ilva gerne getötet hätte. „Vielleicht ersäuft sie der Fluss für uns.“ Ein schiefes Lächeln huschte über seine blutleeren Lippen, als er die Meuterer genauer betrachtete. „Ich weiß, dass Ihr müde seid. Aber wenn Ihr mir jetzt folgt und im Schutz der Nacht marschiert, wird diese kleine Kiste nur der Anfang eures wohlverdienten Lohns gewesen sein. Das verspreche ich euch.“ Die Seemänner zögerten nicht lange. Sie rissen ihre Fäuste in die Höhe und taten mit lauten Jubelrufen ihre Begeisterung kund. „Das wollte ich hören“, grinste Brynne. „Dann packt eure Sachen und schwingt euch von Bord!“ Fjedor hatte die Meuterei und den Mord an Veit zitternd beobachtet. Mit aschfahlem Gesicht schleppte er sich die Treppe von der Brücke hinunter und stolperte auf Brynne zu. „Was sollte das?“, fragte er entsetzt. „So war das nicht abgemacht!“ Brynne Grinsen verschwand und er starrte Fjedor kühl an. „Was für eine Abmachung?“, knurrte er drohend. „Ich kann mich nur daran erinnern, dass du plötzlich ganz begierig darauf warst, mir beim Sturm auf den Wolkentempel zu helfen, nachdem du gehört hast, wie viel lohnende Beute es dort zu holen gibt.“ „Aber…aber…“, stotterte Fjedor. Brothain trat ungerührt an die Seite seines Herrn und säuberte seinen Dolch von Veits Blut. „Das war mein Geld!“ „Ach, nun hör schon auf zu jammern!“, schnaubte Brynne verächtlich. „Du verdienst dich mit dem Schmuggel doch dumm und dämlich, da kommt es auf die eine Kiste doch nicht an. Außerdem warten im Laderaum noch zwei weitere Truhen, die randvoll mit Goldmünzen sind. Und die habe ich nicht angerührt, versprochen.“ „Und wer soll jetzt auf das Geld aufpassen?“, fragte Fjedor mit schriller Stimme. „Niemand“, antwortete Brynne achselzuckend. „Aber du glaubst ja wohl nicht, dass in unserer Abwesenheit jemand hier vorbeikommt und das Schiff kapert? In diese Gegend verirrt sich niemand. Du kannst das Geld also getrost hierlassen, wo es bis zu unserer Rückkehr auf dich wartet.“ Fjedor spürte, dass Nironil dicht hinter ihm stand, und er gewann langsam die Fassung zurück. „Veit hätte trotzdem nicht sterben müssen“, murmelte er leise und blickte trübsinnig auf den Toten zu seinen Füßen. „Er war der beste Schmuggler, den man für Geld anheuern konnte.“ „Er wollte mich umbringen“, erwiderte Brynne gefühllos und versetzte dem Leichnam einen Tritt. „Das konnte ich ihm doch nicht durchgehen lassen. Mach dir mal keine Sorgen. Geübte Seefahrer findest du in jeder Hafenspelunke.“ Fjedor kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Ich warne dich…“, zischte er. „Wenn sich dieser Raubzug nicht lohnt, dann…“ „Dann was?“, fuhr Brynne ihm über den Mund und starrte ihn so durchdringend an, dass Fjedor erschrocken nach Luft schnappte. „Willst du mir etwa drohen?“ „Nein, nicht doch!“, rief Fjedor eilig und hob abwehrend die Hände. „Ich wollte lediglich anmerken, dass diese Unternehmung bislang mit ungeahnten Einbußen verbunden ist. Und ich hoffe sehr, dass mir unser gemeinsamer Raubzug ausreichend Geld einbringt, um meine Verluste auszugleichen.“ „Du wirst schon sehen“, knurrte Brynne. „Sei froh, dass du mich als Verbündeten hast. Mich interessiert Geld nur, wenn ich es als Motivationshilfe gebrauchen kann. Ansonsten kann ich damit nichts anfangen. Und jetzt beweg dich endlich und lass deine Bande abmarschieren. Die Nacht ist kurz.“ „Schon gut, schon gut!“ Fjedor duckte sich kleinlaut weg und eilte hastig davon. Brynne blickte ihm grimmig nach. „Dieser Raubzug wird sich lohnen“, grollte er leise. „Jedenfalls für mich.“ Syndus saß noch immer auf der Stelle am Boden, an der seine Assistentin in seinen Armen gestorben war. Die Gemeinschaft der Goldenen Falken von Eydar lag in Trümmern. Aulus war spurlos verschwunden, Lexa musste aufgrund ihrer Verletzungen das Krankenbett im Lazarett hüten und nun war auch noch Adria tot. Syndus kam es vor, als habe Loronk nicht nur der jungen Frau, sondern dem gesamten Orden das Schwert in den Rücken gestoßen. Von den Goldenen Falken war nur noch Bragi übrig. Der glatzköpfige Agent hatte das Heft in die Hand genommen, während Syndus vor Kummer wie gelähmt war. Die verräterischen Soldaten Loronks, denen die Flucht nicht gelungen waren, saßen nun eng zusammengepfercht im Kerker von Eydar und leisteten den Schmugglern Gesellschaft, die Lexa ausgeliefert hatte. Adrias Körper war in die Totenhalle gebracht worden, wo er für ein anständiges Begräbnis hergerichtet wurde. Bragi trat zögerlich an den in die Jahre gekommenen Befehlshaber heran und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. „Meister“, murmelte er vorsichtig. „Es ist an der Zeit, dass wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen.“ Syndus nickte trübsinnig. „Ach, mein treuer Freund“, sagte er. Seine Stimme klang belegt und brüchig. „Dass wir diese düsteren Tage erleben müssen. Die Jungen sterben viel zu früh und die Alten bleiben zurück, hoffnungslos und gebrochen.“ „So alt seid Ihr noch nicht, Meister“, erwiderte Bragi seufzend. „Ihr könnt in Eydar noch viel bewegen.“ „Ich kann nichts mehr bewirken“, flüsterte Syndus leise. „Ich bin gescheitert. Ich habe versagt, Loronks wahre Absichten zu durchschauen, Aulus vor seinem schändlichen Einfluss zu bewahren und Adria vor seiner Mordlust zu schützen.“ „Niemand konnte ahnen, dass dieser Widerling so weit gehen würde“, entgegnete Bragi tröstend. „Eydar wurde von üblen Schicksalsschlägen gebeutelt, das ist wahr. Wer, wenn nicht Ihr, kann wieder alles zurechtrücken?“ Erstmals blickte Syndus auf. Seine wässrigen Augen glitzerten traurig, als er seinen treuen Gefährten hilfesuchend ansah. „Ihr traut mir das tatsächlich noch zu?“, fragte er heiser. Bragi nickte zuversichtlich. „Selbstverständlich. Eydar war nur eine erbärmliche Ansammlung maroder Fischerhütten, erbaut auf einem Haufen Schlamm. Ihr habt daraus einen wichtigen Außenposten geformt, mehr noch, ein Wahrzeichen des Friedens zwischen Ganestan und Shalaine. Und auch wenn diese Bastion in ihren Grundfesten erschüttert wurde, werdet Ihr sie erneut aufrichten können.“ Er half Syndus auf die Beine und stützte den zitternden Ordensmeister. „Aber das gelingt Euch nur, wenn es eine Zukunft für Adamas gibt. Wenn es stimmt, was Lexa berichtet hat, und dieser Finger der Wolken in die falschen Hände gerät, dann waren all diese Gräueltaten nur die Vorboten für das wahre Unwetter. Dann stehen uns wahrlich düstere Zeiten bevor. Wir müssen handeln, ehe es zu spät ist.“ Syndus wippte langsam mit dem Kopf. „Ja“, hauchte er. „Der Finger der Wolken. Wir müssen diese Schurken aufhalten.“ „So ist es“, bestätigte Bragi. „Ich habe bereits einen Botenfalken nach Khaanor entsandt, um Kommandantin Geyra zu informieren. Diese Verbrecher haben einen großen Vorsprung, aber vielleicht können ihre Truppen noch rechtzeitig aufholen.“ „Und wenn nicht?“, fragte Syndus zaghaft. „Dann haben wir immer noch Gancielle“, rief Bragi. „Er ist den Banditen dicht auf den Fersen. Und er hat den Dorashen an seiner Seite.“ Syndus löste sich von seinem langjährigen Weggefährten und richtete sich aus eigener Kraft auf. „Auf diesen Mann sollten wir uns nicht allzu sehr verlassen“, brummte er grimmig. „Sein Kampfgeist ist erloschen. Hoffen wir, dass Gancielle ihn wieder entfachen kann.“ „Nun, wenn Ihr an ihm zweifelt, sollten wir unseren Verbündeten möglicherweise zu Hilfe eilen“, erwiderte Bragi. „Wie steht es um die Truppen?“, erkundigte sich Syndus. Neue Entschlossenheit durchströmte seinen von Kummer gebeutelten Körper. Bragi lächelte. „Ihr habt Eydar endlich zurück unter Eurer Kontrolle. Unsere Gemeinschaft mag herbe Verluste erlitten haben, aber die Soldaten, wie auch Rhist und ich, stehen Euch nach wie vor treu zur Seite. Loronk hat hier nichts mehr zu sagen. Fühlt sich das nicht gut an?“ „Ich hatte mir andere Umstände gewünscht“, murmelte Syndus leise. „Aber ich weiß, was Ihr sagen wollt. Es ist eine glückliche Fügung, dass die Geschicke Eydars wieder in meinen Händen liegen. Ich danke Euch für Eure unerschütterliche Loyalität. In diesen düsteren Zeiten sind treue Gefährten unersetzlich.“ Bragi trat ehrfurchtsvoll zurück und neigte unterwürfig den Kopf. „Wir erwarten Eure Befehle, Meister.“ Syndus richtete den Blick finster auf das Stadttor und die Baumwipfel der Düstermarsch, die hinter der Mauer emporragten. Irgendwo jenseits des dichten Sumpfwaldes lag der Ort der Entscheidung. „Wir rücken aus“, verkündete der Ordensmeister entschlossen. „Jeder verfügbare Soldat soll sich rüsten. Ihr bleibt bitte hier in Eydar und kümmert Euch in meiner Abwesenheit um die Angelegenheiten der Goldenen Falken. Ich lasse nur eine Mindestzahl an Soldaten zurück, die gerade ausreichend ist, um die Stadt zu sichern. Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden.“ „Wo denkt Ihr hin!“, rief Bragi und verbeugte sich tief. „Es ist mir eine Ehre, Euch vertreten zu dürfen. Ich werde sogleich alles in die Wege leiten, um die Soldaten auf den Abmarsch vorzubereiten.“ „Sehr gut“, erwiderte Syndus grimmig. „Ich verlasse mich auf Euch. Die Zeit der Diplomatie ist vorbei. Loronk wird dafür zahlen, was er Eydar und dem Orden angetan hat!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)