Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 42: ------------ Fejdor war es gelungen, die Schatzkammer aufzustöbern. Zu seiner Frustration musste er feststellen, dass Brynne maßlos übertrieben hatte. Die Priester des Wolkentempels horteten lediglich ein paar goldene Kerzenständer, einige Kassetten mit Tafelsilber und eine kleine Truhe voller Münzen. Es war viel weniger, als sich Fjedor erhofft hatte, aber solange er mit niemandem teilen musste, würde dennoch eine stattliche Summe zusammenkommen. Rasch warf er einen Blick über die Schulter. Aus den Gängen des Tempels drang Kampfeslärm, aber es war niemand zu sehen. Er streifte sich seine Vorratstasche von der Schulter und fing an, sie mit allem von Wert zu füllen, was er finden konnte. Brynne konnte ihm gestohlen bleiben. Seinetwegen hatte er alles verloren, worauf seine Macht und sein Reichtum aufbauten. Er schuldete diesem Wahnsinnigen rein gar nichts. Als er genug Schätze zusammengerafft hatte, stand Fjedor auf, schulterte seine prallgefüllte Tasche und verließ die Schatzkammer hastig. Zielsicher streifte er durch die Gänge. Er hatte sich den Weg zur Schatzkammer gut eingeprägt, doch als er den Nebeneingang fast erreicht hatte, lief er den Soldaten aus Eydar um ein Haar direkt in die Arme. Offenbar hatten sie den Kampf zu ihren Gunsten entschieden. Den überlebenden Banditen war nichts anderes übriggeblieben, als die Waffen zu strecken, und nun blockierten die Kaiserlichen Truppen den Ausgang. Fjedor stieß einen gedämpften Fluch aus und zog sich rasch zurück, doch er war bereits entdeckt worden. Er hörte das Rasseln von Kettenhemden und keuchenden Atem, als die Soldaten die Verfolgung aufnahmen. Aufs Geratewohl stürmte Fjedor los und floh durch die breiten, von Fackeln erleuchteten Gänge des Tempels. Er musste diese Gemäuer so schnell wie möglich verlassen, ehe man ihm den Weg abschnitt. Vielleicht hatte er am Haupttor mehr Glück. Die Münzen in seiner Tasche klimperten verräterisch und der Trageriemen grub sich unter seiner goldenen Last schmerzhaft in Fjedors Schulter. Seine Lungen brannten und er befürchtete schon, dass man ihn einholen würde, wenn er sich nicht von seiner Beute trennen würde, als endlich das Hauptportal in Sicht kam. Die großen Torflügel waren aufgebrochen worden und hingen nun verkohlt und qualmend in den Angeln. Fjedor wunderte sich nicht lange über diesen Anblick, sondern beschleunigte seine Schritte. Die Freiheit rief. Da bemerkte er die beiden Gestalten, die neben dem Tor kauerten. Es waren Indra, die Heilerin, die zusammengesunken und schluchzend auf dem Boden saß, und ein älterer Mann in einer fadenscheinigen Robe, der sich tröstend zu der Dunkelelfe hinuntergebeugt hatte, aber sich sofort erhob, als er auf Fjedor aufmerksam wurde. Der Schmugglerkönig blieb wie angewurzelt stehen, als er den Alten erkannte. Es war Syndus, der Vorgänger von Loronk als Befehlshaber der Truppen von Eydar. „Was für eine Überraschung“, murmelte der Alte. „Wenn das nicht Fjedor ist.“ Die Schritte der Soldaten hallten immer lauter und drohender durch die Gewölbe. Fjedor verlor erst die Geduld und dann die Nerven. Er zog zitternd seine Axt aus dem Gürtel. „Aus dem Weg!“, schrie er den alten Ordensmeister an und stürmte mit erhobener Waffe auf ihn zu. Doch Syndus machte keine Anstalten, zur Seite zu treten. Stattdessen zog er ein Kurzschwert und mit einer Bewegung, die viel schneller und geschmeidiger war, als dass man sie dem Alten zugetraut hätte, ging er zum Gegenangriff über. Fjedor hatte gar keine Gelegenheit, mit seiner Axt zuzuschlagen, da bohrte sich die Klinge bereits in seine Schulter. Noch während ihm die Waffe aus den Fingern glitt, ließ er sich mit einem schrillen Schrei fallen, presste sich die Stichwunde und rollte heulend vor Schmerz auf dem Boden herum. In diesem Moment trafen die Soldaten ein. „Eure Machenschaften sind beendet“, rief Syndus kühl und schob sein Schwert zurück in den Gürtel. Auf seinen Befehl hin beugten sich zwei der Soldaten zu Fjedor hinunter und banden ihm die Hände auf den Rücken. „Nun werdet Ihr selbst erleben, wie es ist, auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu sein.“ Craig bereute seinen Entschluss. Vance stürmte ohne das kleinste Anzeichen von Erschöpfung die Treppe hinauf und nahm dabei drei Stufen auf einmal. Jede Faser seines Körpers schien auf einmal von neugefundener Entschlossenheit zu strotzen. Craig dagegen japste bei jedem Schritt und dem atemlosen Glucksen, dass er hinter sich hörte, entnahm er, dass es Knack ebenfalls große Mühe hatte, dem entfesselten Dorashen auf den Fersen zu bleiben. Vance schien zunächst gar nicht zu bemerken, dass ihm der Waisenjunge und der Knucker folgten, doch schließlich, als Craig am oberen Ende der quälend langen Treppe endlich die Dachluke entdeckte, die ins Freie führte, warf er einen kurzen Blick über seine Schulter und drosselte dabei seine Geschwindigkeit. „Was habt ihr hier verloren?", fragte er. „Ihr solltet doch mit Gancielle die Soldaten am Tor unterstützen.“ „Ich gehöre nicht zur Armee und Gancielle ist kein Kommandant mehr“, keuchte Craig mit dem letzten Rest Atem, der ihm noch geblieben war. „Der hat mir überhaupt nichts zu sagen.“ „Wenn du schon nicht auf ihn hörst, dann wenigstens auf mich“, sagte Vance vorwurfsvoll, aber er ließ Craig und Knack aufschließen. „Ich habe gesagt, ihr sollt euch von der Spitze fernhalten. Du hast doch gesehen, was auf dem Tempelvorplatz los war. Da oben wird es nicht weniger gefährlich.“ „Schon klar“, röchelte Craig. „Aber ich habe dafür gesorgt, dass du endlich aus dem Arsch kommst. Glaub bloß nicht, dass ich dich die Lorbeeren alleine einheimsen lasse! Außerdem muss es doch einen Augenzeugen geben, der später von deinen Heldentaten berichten kann.“ Vance brummte unwillig, aber da die Zeit drängte, sah er davon ab, sich auf eine Diskussion mit Craig einzulassen. „Halte dich wenigstens zurück, wenn wir Brynne gegenüberstehen“, murmelte er leise. „Sonst rösten dich seine Blitze bei lebendigem Leib.“ Craig schluckte leise und wurde etwas langsamer, aber er machte nicht kehrt. Seine persönliche Abenteuergeschichte näherte sich ihrem Höhepunkt und solange Knack an seiner Seite war, ließ er sich so schnell nicht unterkriegen. In respektvollem Abstand folgte er Vance auf das Dach des Tempels. Als er ins Freie trat, blieb er überrascht stehen. Sie befanden sich auf einer kleinen Hochebene, direkt unterhalb des Gipfels des Berges und der brodelnden Gewitterwolke an seiner Spitze. Craig spürte, wie sich jedes Härchen an seinem Körper kribbelnd aufstellte. Dann entdeckte er die Leichen des Hochmagiers und seiner Schüler und der Schreck durchzuckte ihn wie einer von Brynnes Blitzen. In den vergangenen Tagen war der Tod für Craig zu einem häufigen Anblick geworden, aber er war sich sicher, dass er sich niemals daran würde gewöhnen können, all das Blut und die entsetzt aufgerissenen Augen zu sehen. Wie weggeworfene Lumpen lagen Ascor und seine Novizen auf dem Boden, durchbohrt von schartigen Schwertern und rostigen Dolchen. Die Banditen hatten ganze Arbeit geleistet und die Priester der Wolkenspitze einfach niedergemetzelt. "Wie furchtbar..“, japste Craig und konnte seinen Blick nur mit Mühe von den Toten wenden. Dabei fiel ihm auf, dass der Ring am Finger des Hochmagiers fehlte. Eine ungute Vorahnung befiel ihn, jagte ihm einen Schauer über den Rücken und bewog ihn dazu, sich langsam umzudrehen. Das Dach des Tempels ragte wie eine Felsnase über das mächtige Bauwerk hinaus. Und dort, umgeben von zuckenden Blitzen und eingehüllt in ihr schauriges, blaues Leuchten, stand Brynne. Er war allein. Mit hoch in die Luft gereckten Armen beschwor er ein fürchterliches Unwetter vom wolkenverhangenen Nachthimmel herab und der Ring an seinem Finger sprühte Funken. Bei jedem Blitzschlag rumpelte lautes Donnergrollen in Craigs Ohren, aber es konnte nicht die schmerzerfüllten Todesschreie der Soldaten übertönen, die tief unter ihm starben. Immer wieder zerschnitten sie gellend das unheilvolle Getöse, das den ganzen Berg zu erschüttern schien. Bebend griff Craig nach seinem Schwert. Seine Finger zitterten so heftig, als wollten sie ihm den Dienst versagen, doch schließlich gelang es ihm, seine Klinge aus dem Gürtel zu ziehen und sie anklagend auf Brynne zu richten. „Stoppt diesen Irrsinn!“, forderte er und war selbst überrascht darüber, dass man seiner Stimme das Zittern seiner Finger nicht anmerkte. Knack duckte sich und knurrte drohend. Vance warf Craig einen ärgerlichen Blick zu. „Du solltest dich doch zurückhalten!“, zischte er gedämpft. Doch Brynne hatte Craig bereits gehört. Er ließ langsam die Arme sinken und wandte sich um. Sein gesundes Auge starrte Craig, Knack und Vance gierig an und sofort ebbte das Blitzgewitter ab und erstarb schließlich ganz. Nur die dunklen Wolken blieben wie eine Warnung am Himmel zurück. „Brothain und Loronk haben versagt“, sagte Brynne. Craig japste erstickt, als ihm der Klang seiner Stimme wie ein Donnergrollen entgegenschlug. „Ich bin nur von Taugenichtsen umgeben. Sei’s drum. Ich habe damit gerechnet, dass es Widerstand geben würde. Die Kaiserliche Armee, der Orden der Goldenen Falken, vielleicht sogar die Truppen von König Sard. Dass sich mir aber als erstes ein verkrüppelter Drache, ein Knirps und ein Landstreicher in den Weg stellen würden, kommt auch für mich überraschend.“ Da spürte Craig plötzlich, dass jemand hinter ihn trat. Sein Handgelenk wurde gepackt und schmerzhaft auf seinen Rücken gedreht, bis er seine Waffe losließ. Dann schlang sich ein schlanker, sehniger Arm um seinen Hals und im nächsten Moment fühlte er ein kaltes Messer an seiner Kehle. „Sieh an, sieh an“, hauchte eine Stimme in sein Ohr, die er sofort erkannte. „Der Junge, der nicht nach Eydar gekommen ist, um sich beliebt zu machen. Dieses Ziel hast du erreicht. Du stehst auf der falschen Seite.“ Craig schnappte erschrocken nach Luft. „Gilroy!“ „Ganz recht“, entgegnete der Dunkelelf und presste die Klinge seines Messers fester an Craigs Hals. „Pfeif deinen Schuppenköter zurück!“ Knack funkelte Gilroy mit gefletschten Zähnen hasserfüllt an, aber Craig blieb nichts anderes übrig, als dem Dunkelelfen zu gehorchen. „Bleib ruhig“, flüsterte er dem Knucker zu, auch wenn seine Stimme plötzlich schwach und kläglich und alles andere als beeindruckend war. Trotzdem begriff Knack, dass das Leben seines Menschenfreunds auf dem Spiel stand, und so wich er mit eingezogenem Kopf zurück, wie ein geprügelter Hund. Gilroy war zufrieden. Als sich Knack so weit von ihm entfernt hatte, dass sich der Dunkelelf vor den Krallen und Zähnen des Knuckers in Sicherheit wähnte, wandte er sich an Vance. „Zieh dein Hackmesser, aber nur mit Daumen und Zeigefinger!“, brüllte er. „Und dann lässt du es fallen, hast du verstanden?“ Erneut spürte Craig, wie der Druck auf die empfindliche Haut an seiner Kehle zunahm. Er erwartete, dass ihm das Messer jederzeit in den Hals schneiden konnte, und wagte kaum zu atmen. Vance zögerte noch einen Moment und kaute nervös auf den Grashalmen herum, doch letztlich hatte auch er keine Wahl. Er griff mit zwei Fingern nach seinem Hackebeil, zog es umständlich aus dem Gürtel und ließ es fallen. Der dumpfe Aufprall, mit dem die verwitterte Waffe auf dem Boden landete, klang für Craig wie ein riesiges, unüberwindbares Tor, das für alle Ewigkeit zugeschlagen wurde. In diesem Augenblick schien seine Hütte am Fluss weiter entfernt zu sein, als jemals zuvor, und Craig fragte sich, ob irgendetwas heldenhaft daran war, auf dem Gipfel eines Berges fernab jeglicher Zivilisation von einem Dunkelelfen gemeuchelt zu werden. Auf alle Fälle hatte er sich den Ausgang seines ersten Abenteuers anders vorgestellt. „Wieso?“, krächzte er so leise, dass seine Stimme fast vom gedämpften Grollen der Gewitterwolken übertönt wurde. „Wieso machst du gemeinsame Sache mit diesem Verrückten?“ Gilroy schnaubte verächtlich. „Das kann ein Wicht wie du nicht verstehen“, entgegnete er. „Brynne wird ein ewig währendes Gewitter heraufbeschwören und dieses Land für alle Zeit verdunkeln. Und unter diesen Bedingungen werden sich die rechtmäßigen Herren Gäas wieder erheben. Hier und heute wird eine neue Ära eingeläutet! Die Menschen und eure falschen Götter werden wieder in ihre Schranken gewiesen. Wenn erst die Wolken meines Herrn die Sohne erblinden lassen, werden die Dunkelelfen wieder ihren rechtmäßigen Platz als herrschendes Volk einnehmen!“ „Und ich habe gedacht, Brynne wäre der Wahnsinnige“, erwiderte Craig und zuckte zusammen, als Gilroy das Messer noch fester an seine Kehle drückte. Diesmal schnitt es in die Haut und Craig spürte, wie ein Tropfen Blut seinen Hals hinabsickerte. „Du hast doch keine Ahnung!“, brüllte Gilroy voller Zorn. „Die Dunkelelfen haben schon über dieses Land geherrscht, als es noch nichts gab, außer Finsternis und Chaos, lange bevor ihr Würmer an die Oberfläche gekrochen seid! Die jungen Völker haben uns alles genommen. Ich sollte über euch stehen und mein Leben nicht damit fristen, Netze zu flicken und für einen Hungerlohn auf Fischfang zu gehen. Das ist entwürdigend!“ Gilroy geriet derart in Rage, dass er Vance vollkommen vergaß. Mehr als einen Moment der Unachtsamkeit brauchte der Dorashen nicht. Gilroy befand sich noch inmitten seiner wütenden Rede, als Vance blitzschnell ausholte und zuschlug. Seine Faust fuhr so dicht an Craigs Wange vorbei, dass er den Luftzug spürte, und traf mit voller Wucht und einem widerlichen Knirschen direkt auf Gilroys Nase. Blut schoss hervor, der Dunkelelf ließ Craig stöhnend los und kämpfte gleichzeitig mit der Ohnmacht und dem Gleichgewicht. Wie ein betrunkener Seemann taumelte er über die Hochebene, bis er an deren Rand schwankend stehen blieb. Für einen kurzen Moment wirkte es, als würde er das Bewusstsein doch nicht verlieren, doch schließlich verdrehte er die Augen und kippte einfach nach hinten um. Sich mehrmals überschlagend rollte er den Hang hinunter und blieb in einem trockenen Gestrüpp aus Dornenranken liegen. Craigs erste Reaktion auf diese unerwartete Wendung war ein tiefer, erleichterter Atemzug. Dann tastete er mit den Fingern nach der Wunde an seinem Hals. Er konnte kaum glauben, dass es nur ein harmloser, kleiner Schnitt war. Noch immer glaubte er die Berührung des kalten, scharfen Metalls an seiner Kehle zu spüren. „Das war verdammt knapp!“, stellte er fest und bückte sich, um sein Schwert aufzuheben. „Und du hast tatsächlich zugeschlagen! Ich wusste doch, dass ein Krieger in dir steckt!“ Vance betrachtete nachdenklich seine Faust. „Lebt er noch?“, fragte er leise. Doch er erhielt keine Antwort, denn Craig fiel siedend heiß ein, dass die Hauptgefahr auf dem Gipfel des Berges nicht von einem dunkelelfischen Messerstecher ausging. Die Klinge an seiner Kehle und die anschließende Erleichterung nach Vances Volltreffer hatten ihn Brynne kurzzeitig vergessen lassen. Craig zuckte zusammen und war fest davon überzeugt, jeden Augenblick von einem vernichtenden Blick getroffen zu werden, doch Brynne machte keine Anstalten, ein neuerliches Unwetter heraufzubeschwören. Stattdessen tat er etwas, was Craig verwundert die Stirn runzeln ließ. Der Sturmmagier verfiel in schallendes, hysterisches Hohngelächter. „Dieser Idiot!“, spottete er. „Die Dunkelelfen kümmern mich so wenig, wie alle anderen Völker Gäas. Gilroy scheint vergessen zu haben, dass es allein um mich und meine Rache ging. Ich hoffe, du hast fest zugeschlagen, Landstreicher.“ „Er war Euch treu ergeben“, erwiderte Vance sichtlich empört. „Ist das der Dank für seine Dienste?“ „Der Kerl ist gar nicht wütend, dass du seinen Handlanger umgehauen hast“, stellte Craig überflüssigerweise fest. „Gilroy war ganz nützlich, als ich zu schwach war, um mich alleine um meine Feinde zu kümmern“, sagte Brynne kaltherzig. „Aber jetzt brauche ich ihn nicht mehr. Weder ihn, noch irgendeinen anderen Diener. Letztendlich haben sie sich doch alle nur als unfähige Narren erwiesen.“ Mit einem Funkeln des Wahnsinns in seinem gesunden Auge starrte er auf den Ring an seinem Finger. „Aber trotzdem habe ich jetzt, was ich wollte.“ Craig musste zweimal schlucken, ehe er wieder den Atem für Worte fand. „Der Finger der Wolken sollte weder Euch, noch irgendeinem anderen Sterblichen gehören!“, rief er trotzig. „Diese Macht ist allein den Göttern vorbehalten!“ „Die Götter…“, erwiderte Brynne mit röchelnder Stimme, als würde er keine Luft mehr bekommen. Noch immer betrachtete er den Ring, dem er seine neugewonnen Kräfte verdankte. „Den Göttern sollte nichts vorbehalten sein. Ein grausamer Tod ist das einzige, was sie verdienen. Das Schicksal der Sterblichen kümmert sie nicht.“ Er fasste sich mit zitternden Fingern an die Verbände und riss sie sich mit einem Ruck vom Gesicht. „Sie waren es, die mir das angetan haben!“ Craig wurde übel, als er die schweren Verbrennungen des Mannes sah, die seine gesamte linke Gesichtshälfte entstellten. Einige der Verletzungen waren bereits alt und vernarbt, wogegen andere noch frisch wirkten. Unwillkürlich betastete Craig seine eigenen Brandnarben. „Wir wissen von Eurer Krankheit“, rief er atemlos. „Aber das rechtfertigt nicht das Töten zahlreicher Unschuldiger!“ „Gar nichts wisst ihr“, knurrte Brynne und starrte Craig mit seinem gesunden Auge blutrünstig an. „Mein Stamm hat Sola wie keinen anderen Gott verehrt. Ich habe ihr mein ganzes Leben gewidmet. Und womit hat sie es mir gedankt? Nachdem ich mit dieser Krankheit geschlagen wurde, hat sie nichts unternommen, um mich zu heilen. Stattdessen haben mir ihre Sonnenstrahlen das Fleisch von den Knochen geschmolzen. Das Zeichen ihrer Güte wurde für mich zum Symbol der Qualen. Sie hat mich verraten. Das ist unentschuldbar. Aber jetzt wird abgerechnet. Mit dem Finger der Wolken werde ich die Sonne vom Himmel von Gäa verbannen. Sola hat keine Macht mehr über dieses Land. Das soll meine Rache sein!“ Mit diesen Worten reckte er erneut die Arme empor. Am Himmel tobten die Wolken und ballten sich erneut zu einer brodelnden, blitzesprühenden Gewitterfront zusammen. „Die Macht der Götter wird schwinden und ihr werdet sterben!“, lachte Brynne. „Betet! Betet zu ihnen und erfahrt am eigenen Leib, dass sie nichts tun werden, um euch zu retten!“ „Das müsst Ihr mir nicht sagen!“, brüllte Vance über das Tosen des Unwetters hinweg. „Ich weiß sehr wohl, dass sich die Götter nicht um das Schicksal der Sterblichen scheren!“ Craig erkannte auf Brynnes Gesicht einen Anflug von Verwunderung. Für ein paar Atemzüge kam das Inferno aus Blitzen am Nachthimmel zum Erliegen, doch dann hob es mit fürchterlichem Fauchen und Brüllen erneut zu einem grollenden Gewitter an. „So, du hast auch schon deine Erfahrungen mit der Ignoranz der Götter gemacht?“, krächzte Brynne. „Dann solltest du doch froh sein, dass ich diese Welt von einem dieser Tyrannen befreie! Warum stellst du dich mir entgegen?“ „Weil es sonst niemanden gibt, der die Sterblichen beschützen kann“, entgegnete Vance kühl. „Auf die Götter ist kein Verlass. Also nehme ich das in die Hand. Denn das ist meine Pflicht als Dorashen!“ Und mit diesen Worten duckte er sich, griff nach seinem Hackebeil und stürmte voran. „Ein Dorashen?“, japste Brynne und diesmal spiegelte sein Gesicht blankes Entsetzen. Er wirkte vor Schreck wie gelähmt, als sich Vance auf ihn stürzte, doch im letzten Augenblick erinnerte er sich an seine neugewonnene Macht und riss die rechte Hand in die Luft. Kurz bevor Vance den Sturmmagier zu fassen bekam, zuckte ein Blitz vom Himmel und traf den Dorashen mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Seine abgewetzte Kleidung fing sofort Feuer und die beiden Grashalme in seinem Mundwinkel zerfielen zu Asche. Brynne sprang vorsichtshalber einen Schritt zurück, als Vance unmittelbar vor ihm in die Knie ging. Er konnte seine Erleichterung nicht verbergen und ballte die zitternden Hände triumphierend zu Fäusten. „Ha!“, lachte er. „Wie erbärmlich! Ein Dorashen, der nicht für die Götter kämpft, denen er seine Macht verdankt! So jemand ist doch kein Gegner für mich.“ Mit aschfahlem Gesicht lief Craig zu Vance hinüber und bemerkte erleichtert, dass er noch lebte und sogar bei Bewusstsein war, doch der Blitzeinschlag hatte ihm schwer zugesetzt und sein Atem ging stoßweise. Craig schlug auf die Flammen ein, die auf seinen Schultern und auf seinem Rücken loderten, und erstickte das Feuer unter seinen Händen, ungeachtet der Brandblasen, die er sich dabei zuzog. „Mach jetzt bloß nicht schlapp!“, beschwor er den Dorashen. „Du hast versprochen, dass du nicht stirbst!“ Vance starrte ihn erschöpft an und sein Oberkörper wippte unkontrolliert vor und zurück. Da stürzte sich Knack zähnefletschend auf Brynne. Für einen Moment wirkte der Sturmmagier überrascht, doch dann gewann er die Fassung zurück. Reflexartig streckte er den linken Arm aus und schleuderte dem Knucker einen Blitzzauber entgegen. Knack erzitterte am ganzen Körper, dann brach er winselnd zusammen. Craig schrie vor Entsetzen und Zorn und richtete sein Schwert auf Brynne. Dieser zog seine eigene Klinge und trat dem Jungen entgegen. „Es wäre reine Verschwendung, einen Wurm wie dich mit der Macht der Wolken zu töten“, höhnte er und stieß mit seinem Schwert zu. Craig musste eine unangenehme Verrenkung vollführen, um den Angriff zu parieren, und als die Klingen klirrend aufeinandertrafen, stellte er fest, dass in Brynne deutlich mehr Kraft steckte, als seine abgemagerten Arme vermuten ließen. Sein Gegner verstand sich auf den Schwertkampf und drängte Craig mit wenigen Hieben rasch in die Defensive. Der Waisenjunge wehrte sich erbittert, aber er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Immer, wenn er einen Schwertstreich seines Gegners parierte, durchfuhr ein betäubendes Kribbeln seine Finger. Schon nach kurzer Zeit konnte er seine Waffe kaum noch in den Händen halten, wogegen Brynne nicht einmal ins Schwitzen geriet. Der Sturmmagier war ihm immer einen Schritt voraus und schien mit ihm zu spielen. Craig konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Kontrahent seine Deckung jederzeit durchbrechen und ihn tödlich verwunden konnte. An einen Gegenangriff konnte er nicht einmal denken, seine ganze Konzentration galt den verzweifelten Versuchen, sich vor Brynnes Schwert zu schützen. Doch es war hoffnungslos. Sein Gegner war ihm einfach überlegen und schließlich, als Brynne von seinen Spielchen genug hatte, wurde Craigs Schwert von einem solch brutalen Hieb getroffen, dass er es nicht länger in den schmerzenden Händen halten konnte. Die Wucht des Zusammenpralls der beiden Stahlklingen riss ihm den Griff aus den Fingern. Das Schwert schlitterte über den Boden und blieb in einiger Entfernung liegen. Resigniert, erschöpft und desillusioniert stolperte Craig ein paar Schritte zurück und ließ sich schließlich auf den Hintern fallen. Er sah hilfesuchend zu Vance, doch der Dorashen schien sich kaum noch bewegen zu können. Mit wippendem Oberkörper saß er da, als würde er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren, die Haut rußgeschwärzt und mit den verbrannten Resten seiner zerlumpten Kleidung am Leib. Craigs zweiter Blick galt Knack und trotz seiner schier aussichtslosen Situation verspürte er große Erleichterung, als er feststellte, dass der Knucker zwar schwer verletzt war, aber noch atmete. Trotzdem machte sich Craig keine großen Hoffnungen, dass einer von ihnen die Wolkenspitze wieder verlassen würde, und der klägliche Rest Zuversicht, der ihm noch geblieben war, versank endgültig im Bodenlosen, als sich Brynne ihm triumphierend näherte. Plötzlich fühlte er sich neun Jahre zurückversetzt. Da war er wieder, umgeben von einem Inferno aus brennenden Hütten und Häusern, gefangen im Körper eines kleinen Jungen, der gerade seine Eltern hatte sterben sehen. Brynne kam auf ihn zu, drohend und mordlüstern, wie es Varim an jenem Tag getan hatte, nur dass der Sturmmagier keine blutbefleckte Axt, sondern ein Schwert in der Hand hielt. Die Angst war die gleiche wie damals. Sie ergriff Craig mit eiskalten Fäusten, lähmte ihn und presste jegliche Kraft aus seinem Körper. Und diesmal waren weder Hiob, noch ein fremder Abenteurer mit einer Vorliebe für Äpfel in der Nähe, um ihn zu retten. Brynne packte ihn grob beim Kragen und zerrte ihn auf die Beine, doch Craigs Knie gaben einfach nach, sodass er schlaff wie ein schmutziger Putzlappen im Griff des Sturmmagiers hing. „Was mache ich jetzt mit dir?“, fragte Brynne und schien zu überlegen, auf welche Weise er Craig umbringen sollte. Schließlich fiel sein Blick auf die Felsnase, die über die Fassade des Wolkentempels hinausragte. „Ich glaube, ich schicke dich zurück zu deinen Freunden dort unten“, eröffnete er seinem Opfer mit blutrünstigem Grinsen. „Du hast doch bestimmt Sehnsucht nach ihnen. Und es wäre doch langweilig, wenn heute Nacht nur Blitze vom Himmel fielen.“ Craigs Antwort war nur ein klägliches Stöhnen. Da streckte Vance plötzlich den Arm aus und packte Brynne beim Handgelenk. Der Sturmmagier wich überrascht zurück und ließ Craig los und dieser stolperte, noch immer vollkommen kraftlos, stolperte und landete hart auf dem Boden. In seiner Panik entfernte er sich robbend, so schnell er konnte, doch Brynne beachtete ihn gar nicht mehr. Stattdessen starrte er Vance drohend an, der seinen Blick trotzig erwiderte, obwohl er kaum die Augen offenhalten konnte. „Du kannst dich noch bewegen“, grollte er mit gedämpftem Zorn. „Bemerkenswert. Selbst für einen Dorashen. Ich werde wohl noch etwas nachhelfen müssen.“ Er hob die rechte Hand gen Himmel und der Ring an seinem Finger sprühte Funken. Die Gewitterwolken am Himmel reagierten sofort darauf und ballten sich noch dunkler und drohender zusammen, um ihre Energie freizusetzen. Mit einem wütenden Aufschrei ließ Brynne einen gewaltigen Blitz niederfahren. Vance wurde von grellem Licht eingehüllt und riss den Mund weit auf, doch sein Schmerzensschrei ging wie alle anderen Geräusche in ohrenbetäubendem Donner und dem Brüllen der Flammen unter, die seine ohnehin schon versengte Kleidung in Brand setzten. Aber er ließ nicht los. Stattdessen packte Vance aller Schmerzen zum Trotz auch mit der anderen Hand zu. In Brynnes gesundem Auge loderte nackte Angst auf, als ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Mit einem überraschten Stöhnen landete er auf dem Bauch und im nächsten Moment saß Vance, halb ohnmächtig vor Pein und Anstrengung, rittlings auf seinem Rücken. Brynne wand sich unter ihm, doch Vance hielt mit aller Kraft dagegen, drückte seine Hand, an der er den Ring trug, auf den Boden und holte dann mit seinem Hackebeil aus. „Was tust du da?“, schrie Brynne und seine Stimme klang überhaupt nicht mehr grollend und gefährlich, sondern zittrig und panisch. Er versuchte, einen weiteren Blitz aus dem Himmel zu holen, doch es war zu spät. Vances Beil fuhr nieder und traf den Stein, mit dem der Finger der Wolken geschmückt war. Er zerbrach unter der Gewalt der aufprallenden Klinge und aus seinem Inneren drang ein gleißendes Licht, das sich wie eine Welle aus blendenden Sonnenstrahlen ausbreitete. Die Nacht verlor ihre Schwärze und wurde für einen Augenblick von grellem Weiß geflutet, als die versiegelten Naturgewalten aus dem Ring herausbrachen. Craig spürte die Druckwelle, die mit der Kraft eines Sturms an seiner Kleidung zerrte, ihm die Tränen in die Augen trieb und ihn von den Beinen zu reißen drohte. Er duckte sich schützend vor Knack und sah zitternd vor Angst zu, wie die freigelassenen Urkräfte ihre gesamte Macht entfalteten. Schlagartig wurde es wieder dunkel um ihn, nur dort, wo Vance und Brynne lagen, wuchs eine riesige, gezackte Säule aus blauem Licht in die Höhe. Der Boden brach auf, der ganze Berg bebte, ganze Gesteinsbrocken lösten sich von seinem Gipfel und polterten in einem gewaltigen Erdrutsch rumpelnd ins Tal. Wie ein gigantischer Speer durchbrach der Blitz die Wolkendecke und schien den gesamten Himmel zu spalten. Ein markerschütternder durchschnitt die knisternde Luft und der Donnerschlag, der folgte, was so laut, dass Craig vor Schmerz die Hände auf die Ohren presste. Dann war es auf einmal gespenstisch still. Der grelle Lichtblitz erlosch und dort, wo er in den Himmel gestiegen war, klaffte ein riesiges Loch in den Wolken. Senkrecht darunter war auf dem Hochplateau ein gewaltiger Krater entstanden, aus dem dicke, dunkle Rauchsäulen aufstiegen und mit ihnen der Gestank von verbranntem Fleisch. Craig löste sich aus seiner Lähmung, als er bemerkte, dass am Himmel keine Blitze mehr zuckten. Das Gewitter schien so plötzlich vorbei zu sein, wie es begonnen hatte. Am ganzen Leib zitternd und auf allen Vieren kroch er vorsichtig näher an den Krater heran, bis er den Rand erreichte und hinunter spähte. Als sich der Rauch gelegt hatte, konnte er am Boden zwei Gestalten erkennen. Dort lag Brynne, vollkommen regungslos, mit dem Gesicht nach unten und weit ausgestreckten Armen. Und direkt daneben hockte Vance, das Gesicht und die Arme schwarz von Ruß und Verbrennungsrückständen, die Kleidung zerfetzt und versengt. Er sah völlig zerschunden aus und glich mehr einem verkohlten Spanferkel als einem Menschen. Aber er war am Leben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)