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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Als Gancielle niedergeschlagen in die Mine zurückkehrte, hatten sich Craig und Lexa bereits mit den Sklaven bekannt gemacht. Die übrigen Schmuggler wurden mit den Ketten gefesselt, aus denen sich die Gefangenen befreit hatten. Nur noch sieben Dunkelelfen waren am Leben, alle anderen waren der Vergeltung ihrer ehemaligen Sklaven zum Opfer gefallen. Ratford bewachte sie mit grimmigem Blick, noch immer mit der Spitzhacke in den Händen. Keiner der Banditen wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben.

Lazana, Kidhara und Banashi kümmerten sich um die erschöpften Sklaven. Sie weinten vor Freude und Erleichterung, als die Ketten von ihren Armen und Beinen abfielen. Ungläubig rieben sie sich die wundgescheuerten Stellen an den Handgelenken und Fußknöcheln. Einige von ihnen waren so lange in den Fängen der Banditen gewesen, dass sie vergessen hatten, wie es sich anfühlte, nicht gefesselt zu sein.

Craig saß etwas abseits bei Lexa, die ihre Wunde versorgte, und starrte auf seine zitternden Hände. Sein Wutanfall war in dem Moment vorbei gewesen, als ihm wirklich bewusst geworden war, dass es um Leben und Tod ging. Es grenzte an ein Wunder, dass er heil aus dem Scharmützel herausgekommen war. Gancielle hatte ihn und Lexa verteidigt, so gut es ging. Craig war natürlich froh, noch am Leben zu sein, aber noch erleichterter war er darüber, dass er selbst niemanden getötet hatte, obwohl er in seinem Zorn fest entschlossen gewesen war, jeden einzelnen Dunkelelfen umzubringen.

Lexa stieß ihn an und Craig hob den Kopf. Gancielle schlurfte geknickt zu ihnen herüber. „Yarshuk ist mir entwischt“, brummte er verbittert.

„Höchst bedauerlich“, erwiderte Lexa. „Dann müssen wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Es ist gut möglich, dass er Loronk informiert. Vorausgesetzt, dass er tatsächlich mit diesen Schurken unter einer Decke steckt.“

„Das tut er“, mischte sich Farniel ein. „Loronk hat uns nicht einfach in den Sümpfen ausgesetzt, sondern uns direkt diesen Halsabschneidern ausgeliefert.“

Gancielle ballte erbost die Fäuste. „Dieser Mistkerl“, knurrte er zornig. „Damit ist er endgültig zu weit gegangen. Jetzt machen wir ihn fertig!“

„Nicht so eilig, Gancielle“, mahnte Lexa. Sie hatte die Schnittwunde an ihrer Taille inzwischen verbunden, aber bei manchen Bewegungen verzog sie noch immer schmerzverzerrt das Gesicht. „Loronk hat in Eydar immer noch das Sagen. Es könnte gefährlich sein, ihn in aller Öffentlichkeit mit seinen Schandtaten zu konfrontieren. Wir müssen vorsichtig vorgehen.“

„Dann müssen wir Meister Syndus informieren, ohne dass Loronk etwas davon mitbekommt“, brummte Gancielle und warf den gefangenen Schmugglern einen bitterbösen Blick zu. „Dieser widerliche Ork wird sich noch umsehen! Seine Verbündeten haben wir schließlich schon aus dem Verkehr gezogen.“

„Das stimmt nicht ganz.“ Ratford trat mit grimmigem Gesichtsausdruck an Gancielle und Lexa heran. „Ursprünglich haben sich hier doppelt so viele Gauner herumgetrieben. Aber gestern Nacht hat die Hälfte dieses Lumpenpacks die Höhle verlassen.“

„Es gibt noch mehr von ihnen?“, rief Gancielle entsetzt. „Wo sind sie hin?“

Ratford zuckte die Schultern. „Keine Ahnung“, brummte er. „Aber vielleicht weiß es einer dieser dreckigen Blasshäuter.“ Er warf den gefesselten Dunkelelfen einen verächtlichen Blick zu.

Gancielle stapfte entschlossen auf die Banditen zu und packte den ersten von ihnen beim Kragen. „Raus mit der Sprache!“, brüllte er ihn an. „Wo ist der Rest von euch Bastarden?“

„Sie sind nach Norden gesegelt!“, schrie der Dunkelelf mit angstschriller Stimme. „Fjedor hat sie in die Wolkenberge geführt!“

„Fjedor…“, grollte Gancielle. Der Name des selbsternannten Schmugglerkönigs war ihm geläufig. Es gab fast niemanden auf der Halbinsel, der ihn nicht suchte. Bislang hatte ihn noch niemand zu fassen bekommen und eigentlich wunderte es Gancielle gar nicht, dass er seine Finger bei dieser Sache im Spiel hatte.

„Was will diese windige Ratte in den Wolkenbergen?“, fragte er den Dunkelelfen mit drohendem Unterton.

Dem Banditen liefen die Tränen über die Wangen und der Rotz aus der Nase. „Mola glaubt, dass sie den Tempel dieser merkwürdigen Sturmpriester überfallen wollen“, antwortete er zitternd. „Das war alles Brynnes Idee!“

„Brynne?“, knurrte Gancielle misstrauisch. „Wer soll das sein?“

„Ich habe keine Ahnung, wer er ist“, jammerte der Dunkelelf. „Ich weiß nur, dass er aus Isenheim stammt und an einer seltenen Krankheit leidet, durch die ihn das Licht der Sonne verbrennt. Und ich weiß, dass ich Angst vor ihm habe.“

„Und was hat dieser ominöse Brynne mit Schmugglerpack wie euch zu schaffen?“, grollte Gancielle und zog den Kragen des Banditen enger um dessen Hals.

„Er hat diese Höhle entdeckt“, wimmerte der Dunkelelf verzweifelt. „Und das Sturmerz. Er hat Fjedor davon erzählt und so hat die Sache mit dem Schmuggel begonnen. Wir haben Reisende überfallen, entführt und in der Mine für uns schuften lassen. Das Sturmerz haben wir an Hehler verkauft. Daran hat sich auch nichts geändert, als Loronk uns aufgestöbert hat. Für einen großen Anteil des Erlöses aus dem Schmuggel hat er uns unterstützt. Er und Fjedor haben sich dumm und dämlich verdient. Aber Brynne wollte nichts von all dem Geld. Er war nur die ganze Zeit hier und hat den Erzabbau beobachtet, als ob er nach etwas Bestimmtem suchen würde. Und dann hat dieser Kerl gestern diesen merkwürdigen Stein gefunden.“ Der Bandit zeigte mit zitterndem Finger auf Vance, der noch immer gefesselt war und stumm auf dem Boden saß. „Kurz darauf sind Brynne und Fjedor nach Norden aufgebrochen.“

„Ein merkwürdiger Stein?“, brummte Gancielle skeptisch.

„Verzeihung, dürfte ich mich einmischen?“, fragte Lazana. Die junge Frau wirkte noch immer erschöpft, doch ihr Gesicht hatte wieder einen gesunden Farbton angenommen. Dafür hatte sich ihre Stirn in sorgenvolle Falten gelegt. „Nach allem, was ich darüber weiß, nehme ich an, dass es sich bei dem besagten Bruchstück um einen Blitzstein handelt. Sollte das der Wahrheit entsprechen und Brynne tatsächlich auf dem Weg zum Wolkentempel sein, dann ist das eine Katastrophe!“

Gancielle ließ den Banditen los, der sich leise schluchzend an den Hals fasste. Er starrte Lazana fragend an und schob die Brauen zusammen. „Wisst Ihr etwa, wer dieser Brynne ist?“, erkundigte er sich.

„Das nicht“, antwortete Lazana und schüttelte den Kopf. Ihr blondes, seidig glänzendes Haar wehte um ihre schmalen Schultern. „Aber ich weiß das ein oder andere über den Wolkentempel. Es ist an den magischen Akademien von Ganestan kein Geheimnis, dass Hochmagier Ascor, der Vorsteher des Tempels, im Besitz eines mächtigen Artefakts ist, das man den Finger der Wolken nennt. Es handelt sich dabei um einen Ring, der mit einem Blitzstein, dem reinsten seiner Art, besetzt ist.“

„Und warum ist das eine Katastrophe?“, unterbrach Gancielle die Magierin. „Brynne und Ascor besitzen also beide einen dieser Blitzsteine. Was hat es mit ihnen auf sich?“

„Sie absorbieren die Energie von Blitzen, egal ob natürlicher oder magischer Herkunft“, erklärte Lazana. „Das funktioniert allerdings nur begrenzt. Meist verlieren Blitzsteine nach dem dritten oder vierten Gebrauch ihre Absorptionsfähigkeiten und zerfallen zu Staub. Aber der Finger der Wolken ist anders. Wie gesagt, es ist der reinste Blitzstein, den es gibt. Er kann unendlich viel Energie in sich aufnehmen, speichern und jederzeit wieder freisetzen. Und er gestattet seinem Träger, die urtümliche Macht der Wolken heraufzubeschwören. Nicht die einfache Sturmmagie, die man an jeder Akademie lernen kann, sondern gewaltige Blitze, die direkt aus dem Himmel kommen. Nicht einmal Schleierstahl kann die uralte Magie des Fingers der Wolken unterdrücken. Mit diesen Kräften wird man zu einem sterblichen Gott. Man ist nahezu unantastbar. Es sei denn…“

„Es sei denn, man trifft auf einen Kontrahenten, der ebenfalls einen Blitzstein besitzt und diese Urkräfte absorbieren kann.“ Gancielle verstand endlich, wovor Lazana warnen wollte, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Brynne will Ascor überwältigen und den Finger der Wolken in seinen Besitz bringen!“

Lazana nickte besorgt. „Genau das befürchte ich“, bestätigte sie. „Ich weiß nicht, was er damit vorhat, aber wenn ein derart mächtiges Artefakt in die Hände eines Mannes fällt, der nicht vor Menschenraub und Sklaverei zurückschreckt, sind seine Absichten wohl nicht besonders edel.“

„Was könnten die schlimmsten Folgen sein?“, fragte Gancielle zaghaft.

„Nun…“, überlegte Lazana verbittert. „Stellt Euch vor, einem einzelnen Mann folgt auf Schritt und Tritt ein Gewitter, das auf ihn hört, wie ein braves Schoßtier. Ich kenne Brynnes Ziele nicht, aber möglicherweise hat er es auf den Kaiserthron abgesehen. In diesem Fall wäre ganz Gäa in Gefahr.“

Gancielle wurde schwindelig und er fasste sich an den Kopf. Zu keinem Zeitpunkt hatte er gedacht, dass hinter den Vermisstenfällen von Eydar ein solches Unheil verborgen lag. „Brynne darf diesen Ring unter gar keinen Umständen in die Finger kriegen!“, japste er.

„Genau“, sagte Lazana gefasst. „Denn wenn er die Macht der Wolken an sich reißt, kann ihn nur noch jemand mit einem Blitzstein und viel Glück aufhalten.“

Craigs Herz hämmerte, als Lazana ihre Theorie darlegte. Sein erstes Abenteuer schien ungeahnte Ausmaße anzunehmen. Wenn er dabei helfen konnte, diesen Brynne aufzuhalten, wurde er schlagartig zum Helden. Dann würden Preman und Hiob aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Allerdings musste Craig zugeben, dass es nicht ungefährlich klang, sich mit einem Kerl anzulegen, der Blitze aus dem Himmel holen konnte. Er musste gestoppt werden, bevor er diesen mysteriösen Ring in seinen Besitz brachte. Wenn das nicht gelang…

Craig stapfte mit geballten Fäusten auf Vance zu, der teilnahmslos auf dem Höhlenboden hockte. Er war wütend, dass er sich nicht in den Kampf eingemischt hatte. Craig, Gancielle und Lexa hatten zwischenzeitlich wirklich in der Klemme gesteckt und trotzdem hatte Vance nichts unternommen, um sie zu retten.

Jetzt schlug er schuldbewusst die Augen nieder, als sich Craig vor ihm aufbaute. „Hast du das gehört?“, rief er laut. „Da draußen ist ein gefährlicher Irrer unterwegs. Das ist deine Chance, dein Gewissen reinzuwaschen.“

„Warum wollt ihr alle, dass ich euch unterstütze?“, fragte Vance. „Ich bin ein Verbrecher und gehöre in den Kerker.“

Craig schnaubte vor Zorn. „Drückst du dich schon wieder vor deiner Verantwortung?“, empörte er sich. „Ich dachte, ich hätte dir dein Selbstmitleid ausgetrieben. Wenn diese Angelegenheit erledigt ist, kannst du dich meinetwegen wieder einbuchten lassen. Aber wenn du uns nicht hilfst, dann gibt es vielleicht bald gar keinen Kerker mehr, in dem du dich verkriechen kannst!“

„Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders begeistert von der Vorstellung bin, mir die Unterstützung eines Verbrechers zu sichern“, brummte Gancielle und musterte Vance mit abschätzigen Blicken. „Aber gleichzeitig wäre ich ein Narr, wenn ich auf die Kampfkraft eines Dorashen verzichten würde. Auch wenn es mir zutiefst widerstrebt, ich bitte dich, uns zu helfen.“

Vance zuckte kaum merklich zusammen, antwortete aber nicht. Da packte ihn Craig am Kragen. „Das ist deine zweite Chance, das Vertrauen der Gesellschaft zurückzuerlangen!“, beschwor er ihn wütend. „Die erste hast du schon in den Wind geschossen und eine dritte wird es nicht geben, hast du kapiert?“

Ratford trat neben Craig und blickte so sanft, wie es mit seinem kantigen, unrasierten Gesicht möglich war, auf Vance hinab. „Komm schon, gib dir einen Ruck“, sagte er ruhig. „Immerhin konnte ich dich endlich dazu überreden, uns aus dieser Mine zu befreien, auch wenn deine Hilfe letztlich nicht nötig war. Aber trotzdem warst du bereit, diese armen Seelen zu retten. Und jetzt rettest du eben noch ein paar Leute mehr.“

Vance hob zaghaft den Kopf. Die Augen aller Anwesenden waren auf ihn gerichtet. Die ehemaligen Sklaven starrten ihn ehrfürchtig an und die gefesselten Banditen zitterten vor Angst so sehr, dass ihre Ketten rasselten.

„Ein Dorashen!“, hauchte Vox mit großen Augen.

„Weißt du was?“, schnaubte Craig verächtlich und ließ Vance los. „Ich habe angefangen, zu verstehen, warum dich dein Schuldbewusstsein so quält. Aber eines sage ich dir: Wenn du jetzt nichts unternimmst und dieser Brynne sein Ziel erreicht, wirst dein schlechtes Gewissen bis ins Unendliche wachsen und dich eines Tages erdrücken. Du wirst dich bis an dein Lebensende fragen, ob du diese Katastrophe hättest abwenden können.“

Vance rang die Hände. Zweifel schüttelten seinen Körper, doch plötzlich blitzte in seinen dunklen Augen ein entschlossenes Leuchten auf. Er erhob sich so ruckartig, dass Craig reflexartig zurückwich, und richtete seinen Blick auf Gancielle. „Gut“, verkündete er mit fester Stimme. „Ich werde Euch helfen.“

Und mit einer kurzen Kraftanstrengung sprengte er die Ketten, die seine Hände fesselten. Zerbrochene Metallglieder fielen klirrend zu Boden und Craig wich angesichts dieser Demonstration von Stärke unwillkürlich noch einen weiteren Schritt zurück.

Ratford grinste zufrieden. „Na, also!“, rief er erleichtert und ließ sich von Kidhara den Schlüsselbund geben, mit dem er die Metallschellen an Vanes Handgelenken und Beinen aufsperrte.

Im nächsten Augenblick trat Wuleen nach vorn und sank vor Vance auf die Knie. „Du hast Wuleen vor dem Dolch des Oberaufsehers beschützt“, sagte er mit einem seltsamen Akzent. Seine Stimme klang rau und heiser, fast wie ein Zischen. „Wuleen verdankt dir sein Leben und er wird dich begleiten, bis seine Schuld beglichen ist.“

Vance hob überrascht die Augenbrauen. Ihm war anzusehen, dass ihn Wuleens Treueschwur verlegen machte. „Lass das…“, murmelte er unsicher.

Craig stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „So ein bisschen Dankbarkeit fühlt sich doch gut an, oder?“, feixte er. „Und davon kannst du noch viel mehr haben, wenn du dich endlich am Riemen reißt!“

Vance sah sich verdattert um. Die meisten Anwesenden lächelten erleichtert und die Hoffnung war in ihre Gesichter zurückgekehrt. Ratford drehte sich zu Lazana um und nahm sie in den Arm. „Dann ist diese Angelegenheit ja in guten Händen“, schmunzelte er und blickte zu den drei Pardelfrauen herüber. „Und wir beide können unseren Auftrag zu Ende bringen.“

„Weißt du, Ratford, ich glaube, wir sollten hierbleiben und helfen“, sagte Lazana zögerlich.

Ratford riss entgeistert die Augen auf. „Wie bitte?“, rief er. „Cord fragt sich sicher schon, wo wir bleiben! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir nach Vanashyr zurückkehren.“

„Cord hat schon immer denjenigen geholfen, die seiner Unterstützung bedurften“, erwiderte Lazana. „Und von uns erwartet er dasselbe. Er würde wollen, dass wir uns für die Sicherheit der Bevölkerung von Adamas einsetzen.“

„Aber…unsere Aufgabe…“, stammelte Ratford unsicher. Hilfesuchend sah er zu Ahravi.

Die Pardelbotschafterin legte den Kopf schief. „Ich denke, wir kommen ab jetzt bestens allein zurecht“, verkündete sie. „Wir werden König Bardhan berichten, dass Ihr auf der Suche nach uns keine Mühen gescheut und Euer Leben aufs Spiel gesetzt habt. Er wird Euren Einsatz zu würdigen wissen, auch wenn Ihr uns nicht bis vor die Tore von Fravea begleitet.“

„Na, wenn das so ist…“, murmelte Ratford, auch wenn er alles andere als überzeugt klang. „Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt, Lazana.“ Er wandte sich Vance zu und lächelte gequält. „Wir stehen dir bei. Schließlich muss ja irgendjemand sichergehen, dass du kurz vor dem Ziel nicht doch noch kneifst.“

„Und ich komme auch mit!“, verkündete Craig überschwänglich und reckte sein Schwert so hoch in die Luft, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor und um ein Haar nach hinten umkippte.

Gancielle stieß ein missmutiges Schnauben aus. „Ich würde dir ja wirklich gerne davon abraten, aber ich glaube nicht, dass man dich so einfach loswird“, brummte er.

Craig drehte sich zu ihm um und drohte ihm mit der Faust. „Was soll denn das heißen?“, rief er empört. „Habt Ihr etwa schon vergessen, dass Ihr diese Höhle ohne mich niemals gefunden hättet?“

„Du meinst wohl, dass ich sie ohne deinen Knucker niemals gefunden hätte“, erwiderte Gancielle ungerührt. „Aber wir bekommen es jetzt mit mehr zu tun, als einem Schwarm ausgehungerter Bluthechte.“

„Schon klar!“, gab Craig patzig zurück.

Gancielle verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich um, ohne den beleidigten Waisenjungen weiter zu beachten. „Lexa, ich werde diese Freiwilligen nach Norden begleiten“, sagte er entschlossen. „Wir werden versuchen, Brynne und sein Lumpenpack einzuholen. In der Zwischenzeit muss Meister Syndus von Loronks Verrat und dem Angriff auf den Wolkentempel erfahren! Außerdem müssen die Gefangenen in Sicherheit gebracht werden. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Mit dieser Verletzung werde ich mich erstmal zurückhalten müssen“, erwiderte die Späherin und verzog das Gesicht. „Aber einen einfachen Botengang werde ich noch schaffen.“

Gancielle nickte finster. „Ausgezeichnet. Nimm einfach das Boot von dem Knirps, um nach Eydar zurückzukehren.“ Craig beschwerte sich lautstark, doch er wurde einfach ignoriert.

Lexa legte nachdenklich eine Hand ans Kinn und ließ ihren Blick über die Gefangenen schweifen. „Es sind zu viele“, murmelte sie leise. „Es passen nie und nimmer alle in diese Nussschale. Ich werde mehrmals fahren müssen.“

„Überlasst das uns“, verkündete Ahravi entschlossen und trat mit ihren beiden Leibwachen an der Seite nach vorn. „Eine von uns wird Euch begleiten und das Boot zurücklenken, sobald Ihr in Eydar angekommen seid. Die anderen werden im Sumpf bei den Sklaven bleiben, für die kein Platz mehr war, und auf sie aufpassen. Das soll unser bescheidener Beitrag für Eure Aufgabe sein. Ihr könnt Euch derweil voll und ganz darauf konzentrieren, Euren Befehlshaber zu informieren.“

Lexa neigte demütig den Kopf. „Eure Unterstützung wäre mehr als hilfreich“, erwiderte sie dankbar.

„Dann wäre alles besprochen“, rief Gancielle. „Meister Syndus soll dafür sorgen, dass Loronk aus dem Verkehr gezogen wird. Und anschließend soll er Truppen in die Wolkenberge schicken. Außerdem muss Khaanor benachrichtig werden. Wir brauchen dringend Unterstützung. Es grenzt schon an ein Wunder, dass wir mit den Banditen in der Höhle fertiggeworden sind, und es dürfte uns nicht gelingen, Brynnes Meute aufzuhalten. Also besteht unsere Aufgabe darin, den Wolkentempel vor ihm zu erreichen und den Hochmagier vor der Gefahr zu warnen.“

Es dauerte noch eine Weile, bis die befreiten Sklaven bereit waren, die Höhle zu verlassen. Ratford und Lazana durchsuchten das Vorratslager der Schmuggler und trieben dabei haufenweise Proviant in Form von Trockenfleisch und Brot auf, den sie unter den Gefangenen verteilten. Die ausgemergelten Gestalten stürzten sich mit Heißhunger auf die Nahrungsmittel. Craig konnte nur erahnen, wie lange sie nichts Richtiges mehr zu essen bekommen hatten.

Einige der einstigen Sklaven fanden außerdem ihre Waffen wieder und nachdem sie gerüstet vor Craig standen, erkannte er sie kaum wieder. Ratford wirkte in seiner schweren Brustplatte und dem Kettenhemd noch bulliger und furchteinflößender und seine zweischneidige Streitaxt unterstrich diesen Eindruck zusätzlich. Craig musste zugeben, dass er sich mit einem solchen Verbündeten gleich ein wenig wohler fühlte. Die Pardelfrauen tauschten ihre abgewetzten Tuniken gegen geschmeidige Lederrüstungen, die sie auf einem Haufen alter Waffen gefunden hatten, den die Schmuggler wohl ebenfalls an Hehler in Ganestan verkaufen wollten. Ihre eleganten, schmalen Krummsäbel, die typischen Waffen der Katzenkrieger von Vanashyr, hatten ihnen einige der Banditen abgenommen, die nun tot auf dem Höhlenboden lagen, und Ahravi und ihre Gefährtinnen holten sie sich nun von ihnen zurück. Lazana stützte sich auf ihren Stab, den die Banditen achtlos in eine Ecke geworfen hatten. An seinem oberen Ende war ein großer Edelstein eingelassen, der im Fackellicht der Mine in einem hellen Blau schimmerte. Ihre Robe war zerfetzt und schmutzig, aber mit ihrem Stab wirkte die Magierin augenblicklich um ein Vielfaches erhabener. Wuleen wiederum trug sein Schwert am Gürtel. Craig hatte noch nie eine vergleichbare Waffe gesehen. Sie hatte nur eine scharfe Seite und einen stumpfen Schwertrücken, ähnlich wie bei einem Messer. Die Klinge selbst war schmal und schnurgerade, nur an der Spitze krümmte sie sich leicht. Wuleen hatte sich wie ein kleines Kind gefreut, als er seine Waffe an sich genommen hatte.

Craig überreichte Vance dessen Hackebeil. „Bitte sehr“, grinste er und legte neckisch den Kopf schief. „Du hast ja gesagt, dass vielleicht irgendwann der Tag kommt, an dem ich es dir zurückgeben kann. Ich habe eigentlich nicht damit gerechnet, dass das schon so bald der Fall sein würde.“

Vance nahm das Beil etwas zögerlich entgegen und schob es vorsichtig in das Seil an seiner Hüfte. Craig kreuzte die Arme hinter dem Kopf und Vance mit hochgezogener Augenbraue an. „Das Ding war sehr hilfreich, um deine Fährte aufzunehmen“, murmelte er.

„Hast du etwa gewusst, dass ich in der Klemme stecke?“, fragte Vance überrascht.

„Nein“, erwiderte Craig achselzuckend. „Aber du warst die einzige Person in diesen Sümpfen, deren Spur wir folgen konnten. Also haben wir genau das getan.“

„Seid ihr dann fertig?“, mischte sich Gancielle ein. Die Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Kommt schon, ich möchte diese verfluchte Höhle so schnell wie möglich verlassen.“

Mit diesen Worten sprach er den meisten Sklaven aus der Seele. Die Mahlzeit hatte sie wieder ein wenig gestärkt, aber die Mine erinnerte sie noch immer an die Qualen, die sie erlitten hatten. Mit erleichtertem Seufzen standen sie auf und setzten sich in Bewegung. Craig folgte dem Zug der befreiten Gefangenen eilig.

Bewacht von Lexa und den Pardelfrauen stolperten die gefesselten Schmuggler voran. Keiner der Dunkelelfen beklagte sich. Sie waren heilfroh, noch am Leben zu sein. Damit hatten sie deutlich mehr Glück gehabt, als die meisten ihrer Kameraden und Anführer, die erschlagen in der Mine zurückgeblieben waren. Dafür erwartete sie nun das gleiche Schicksal, das ihre Gefangenen erlitten hatten. Sie würden vermutlich den Rest ihres Lebens in einer muffigen Zelle verbringen, mit dem Unterschied, dass es ihnen wahrscheinlich erspart blieb, in einer Mine schuften zu müssen. Craig fand diese Strafe nur gerecht. Sein Zorn war verraucht und er wünschte den Dunkelelfen nicht länger den Tod. Aber er verspürte auch keinerlei Mitleid in Anbetracht der lebenslangen Gefangenschaft, die auf die Banditen wartete.

Als er allerdings in die Eingangshöhle schlurfte und Tyras Leichnam sah, zog sich sein Magen in gedämpftem Zorn krampfhaft zusammen. Er wollte noch immer nicht wahrhaben, dass die Abenteurerin tot war. Zwar hatte er sie kaum gekannt, aber sie war für ihn sofort zum Vorbild geworden. Vielleicht lag seine Zuneigung zu ihr daran, dass sie kaum älter gewesen war als er, aber bereits all das erlebt hatte, wonach er sich sehnte. Und jetzt war sie tot.

Das Leben als Abenteurer mochte aufregend sein, aber es konnte auch fürchterlich kurz sein. Die Wirklichkeit wich auf grausame Weise von Craigs Vorstellung ab. Die Düstermarsch war nur einer von vielen Orten in Gäa, die ihre eigenen Regeln hatten. Der Waisenjunge begriff mehr und mehr, weshalb Hiob den Frieden, den er selbst immer als langweiliges Ärgernis empfunden hatte, als Geschenk bezeichnete.

Als Vance die Tote bemerkte, glaubte Craig einen kurzen Anflug von Betroffenheit auf seinem sonst so ausdruckslosen Gesicht zu erkennen. „Das ist doch das Mädchen aus dem Gasthaus“, stellte er tonlos fest.

Craig nickte bedrückt. „Sie war fest entschlossen, die Vermissten zu finden“, murmelte er. „Und sie war so kurz davor.“ Geräuschvoll zog er die Nase hoch, trat an den kalten Leichnam heran und ergriff ihn bei den Beinen. „Kannst du mir helfen, sie aus der Höhle zu tragen?“

Vance nickte wortlos und bückte sich hinunter, um Tyra unter den Achseln zu greifen. Gemeinsam hoben sie die Tote vom Boden.

Selbst durch die fellbesetzten Stiefel konnte Craig die Aura der Kälte spüren, die den Leichnam umgab. Mit den geschlossenen Augen und dem blutleeren Gesicht wirkte Tyra merkwürdig friedlich. Wäre nicht die fürchterliche Wunde in ihrer Schulter gewesen, hätte man annehmen können, sie sei im Schlaf verstorben.

Inzwischen hatte sich das Wasser wieder aus der Grotte zurückgezogen. Die einsetzende Ebbe würde es ihnen deutlich einfacher machen, zurück in die Düstermarsch zu gelangen. Auch der Weg aus der Grotte erwies sich bei Niedrigwasser als weit weniger beschwerlich. Die Ebbe legte einen schmalen Pfad frei, der zwischen den gezackten Felsen hindurchführte, und ersparte ihnen somit eine ähnliche Kletterei, wie beim Betreten der Höhle.

So erreichten sie ohne Schwierigkeiten den Felsvorsprung, auf dem Knack lag. Der Knucker schlummerte friedlich vor sich hin und schnarchte leise, doch als die gefesselten Schmuggler entdeckten, die unter Lexas strengem Blick an der Spitze gingen, ihn entdeckten und erschrocken aufschrien, wachte Knack auf und hob blinzelnd den Kopf. Er rülpste herzhaft und betrachtete die Ansammlung fremder Dunkelelfen neugierig. Als er Lexa erkannte, sprang er erfreut auf und hechelte glücklich.

„Der tut nichts“, brummte die Späherin und stieß einen der Schmuggler mit dem Knauf ihres Kurzschwerts an. Im Vorbeigehen streichelte sie Knack über den Kopf. Der Knucker gluckste zufrieden.

Die Dunkelelfen beäugten den schlangenartigen Drachen ängstlich. Die Anwesenheit des Ungeheuers missfiel ihnen sichtlich. Auch den befreiten Sklaven ging es ähnlich. Gancielle und Lexa hatten alle Hände voll zu tun, die aufkeimende Unruhe in Zaum zu halten.

„Bei allen Göttern, ein Knucker!“, donnerte Ratford und hob seine Streitaxt. „Vorsicht, die Biester haben Giftzähne!“

„Um Solas Willen, beruhigt Euch!“, rief Gancielle eilig und packte den Hünen am Arm. „Der kleine Fischfresser ist völlig harmlos. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir Euch gefunden haben.“

Ratford ließ verdattert die Axt sinken. „Harmlos?“, wiederholte er und glotzte Gancielle ungläubig an. „Die Biester fressen Vieh und schlagen auch arglose Wanderer nicht aus, wenn ihnen einer vor die Schnauze läuft!“

„Nun, dieser hier scheint sich mit Bluthechten zufrieden zu geben“, erwiderte Gancielle und deutete auf die feinsäuberlich abgenagten Gräten, die um Knack herum lagen. „Er gehört zu dem Jungen.“

Alle Anwesenden drehten sich zu Craig um, der mit Vance ganz am Ende des Zuges ging. Der Waisenjunge bemerkte ihre Blicke gar nicht. Er konnte seine Augen nicht von Tyras leichenblassem Gesicht abwenden. Die Ungerechtigkeit ihres Todes setzte ihm schwer zu.

Knack bemerkte seinen Freund und reckte den Kopf in die Höhe, doch er begriff sofort, dass Craig trauerte. Der Knucker winselte mitleidig und ließ die Fortsätze an seinem Schädel hängen. Wortlos stapfte der Waisenjunge an Knack vorbei. Da alle anderen stehengeblieben waren, schob er sich zusammen mit Vance und der Toten langsam an die Spitze der Gruppe.

Die Bucht war inzwischen auf die Größe eines Teichs zusammengeschrumpft. Der schmale Pfad an ihrem Ufer war noch mit einer dünnen Schicht Wasser bedeckt, aber die meisten Bluthechte hatten sich bereits ins Binnenmeer zurückgezogen. Die Zahl derer, die noch auf Beute lauerten, war zu gering, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Trotzdem ließ sich Knack ins Wasser gleiten, als Craig und Vance die Bucht betraten.

Die Bluthechte unternahmen erst gar nicht den Versuch, einen Angriff zu riskieren. Kaum erkannten sie die rostroten Konturen des Knuckers, wichen sie bis zum anderen Ufer der Bucht zurück, sodass die Durchquerung ohne Schwierigkeiten vonstattenging. Sowohl Craig und Vance, als auch die Schmuggler und ihre ehemaligen Sklaven erreichten den Strand unversehrt. Das Wasser blieb so ruhig, dass einige der erschöpften Gefangenen gar nicht bemerkten, dass die Bucht tödliche Bewohner beherbergte.

Vor allem Gancielle schien sehr froh darüber, nicht wieder Bekanntschaft mit den scharfen Zähnen der Bluthechte zu machen. Sein Gesicht war während der Durchquerung angespannt und besorgniserregend blass, doch als er statt Wasser wieder schlammigen Sand unter den Sohlen seiner Stiefel hatte, kehrte seine Entschlossenheit und Ungeduld zurück. Er verlor nicht viele Worte, sondern verabschiedete sich in aller Eile von Lexa. Die beiden tauschten wechselseitig Glückwünsche aus und Gancielle konnte seine Sorge nicht verbergen. Lexa verbarg es gut, aber ihre Verletzungen machten ihr zu schaffen. Immerhin waren Ahravi, Kidhara und Banashi an ihrer Seite. Die Katzendamen waren grimmige Kriegerinnen und in ihrer Anwesenheit würde es keiner der gefangenen Schmuggler wagen, irgendwelche Dummheiten zu machen.

Craig sah mit leerem Gesichtsausdruck zu, wie sich Lexa und die Pardelfrauen mit den Sklaven und den gefesselten Banditen im Schlepptau entfernten und schon bald zwischen hohen Farnwedeln und Büschen verschwanden. Gancielle, dessen Ungeduld förmlich spürbar war, musste sich noch etwas gedulden, denn es war Craig ein Anliegen, Tyra zur letzten Ruhe zu betten. Es lag in ihren Händen, ob Brynne Erfolg hatte oder die Katastrophe noch abzuwenden war.

Doch zunächst musste sich Gancielle noch gedulden. Es war Craig ein Anliegen, Tyra zur letzten Ruhe zu betten. Sie begruben sie auf dem Hügel, in dessen Inneren sie den Tod gefunden hatte. Dort war das Erdreich weich und fruchtbar und nicht so schlammig wie zwischen den Tümpeln der Düstermarsch. Craig und Vance legten den Körper der jungen Frau in eine Mulde zwischen den Wurzeln einer großen Schwarzerle. Ihr dichtes Blätterdache rauschte in einer lauen Meeresbrise, als wollte sie einen leisen Trauergesang in der Sprache der Bäume anstimmen. Craig faltete Tyra die Arme über dem Bauch, trat einen Schritt zurück und sah die Tote noch ein letztes Mal mit verkniffenem Mund an. Dann nickte er Ratford und Wuleen zu.

Mit zwei Spitzhacken aus den Minen, lösten die beiden Männer, in Ermangelung eines Spatens, Erde aus einer Erhebung neben der Schwarzerle und bedeckten den Körper der jungen Frau damit. Als die Tote darunter verschwunden war, legte Craig ein paar Steine auf das Grab und drapierte zuletzt Tyras in Mitleidenschaft gezogenen Schild zwischen den Wurzeln des Baumes. Ihr Schwert hatte er nicht gefunden. Entweder war es in einem der tiefen, mit Wasser gefüllten Löcher in der Grotte versunken, oder ihr Mörder hatte es an sich genommen. Nun diente ihr Schild als Grabstein.

Für einige Atemzüge blieb Craig in der Hocke sitzen. „Den Schild hat sie selbst hergestellt“, sagte er bedrückt. „Genau wie ihre Rüstung.“

Knack winselte leise und drückte seinen Kopf an Craigs Körper. Zum ersten Mal, seit er die Höhle verlassen hatte, reagierte Craig auf den Knucker und strich ihm traurig über die Nüstern.

„Sie muss eine tapfere Frau gewesen sein“, stellte Ratford fest.

„Das war sie“, erwiderte Craig leise. „Und dabei war sie kaum älter als ich. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie tot ist.“

Ratford legte dem Waisenjungen mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Leider genügen Tapferkeit und Entschlossenheit nicht immer aus, um dem Tod zu entgehen“, sagte er nachdenklich.

„Das weiß ich“, erwiderte Craig trotzig und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er wollte nicht, dass jemand die Tränen in seinen Augenwinkeln sah. „Aber trotzdem will ich auch so tapfer sein, wie sie es war. Als wir zusammen durch die Düstermarsch gewandert sind, war ich ihr nur ein Klotz am Bein.“

„Vielleicht beobachtet sie dich schon jetzt aus Khors Reich und ist stolz, dass du zu Ende gebracht hast, was sie begonnen hat“, meinte Lazana lächelnd und trat näher an Craig heran.

„Vielleicht“, wiederholte Craig tonlos. Dann schniefte er laut und stand auf. „Kommt schon, wir haben noch etwas zu erledigen. Tyras Tod war völlig umsonst, wenn wir diesen Brynne nicht aufhalten.“ Entschlossen sah er in die Runde und ließ den Blick über seine neuen Gefährten.

Ratford und Lazana waren ohne Zweifel Wegbegleiter von unschätzbarem Wert, er aufgrund seiner schieren Kraft und sie dank ihrer magischen Begabung. Wuleen hatte ebenfalls bewiesen, dass er ein fähiger Krieger war, aber er wirkte so unkontrolliert wie ein tollwütiger Hund. Craig fühlte sich in seiner Gegenwart nicht gerade besonders Wohl. Gancielle wiederum war ein geborener Anführer, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Es war bestimmt nicht verkehrt, jemanden dabeizuhaben, der die ungleiche Gruppe zusammenhalten und leiten würde. Und dann war da noch Vance, der gehemmte und schüchterne Dorashen, in den alle so große Hoffnungen setzten. Craig fragte sich, ob er sich im Zuge dieses Abenteuers in einer Situation wiederfinden würde, in der seine Kraft den entscheidenden Unterschied ausmachte.

Gancielle räusperte sich geräuschvoll. „Na, dann wollen wir mal“, brummte er, wandte sich um und winkte seine Begleiter ungeduldig hinter sich her. „Achtet auf eure Schritte. Es dürfte euch schon aufgefallen sein, dass diese Sümpfe äußerst tückisch sind.“

„Haben wir überhaupt eine Chance, diese Leute rechtzeitig einzuholen?“, fragte Craig und lief Gancielle zaghaft nach. „Der Schmuggler hat doch gesagt, dass sie die Höhle bereits letzte Nacht verlassen haben, noch dazu mit dem Schiff.“

„Es stimmt schon, sie haben in etwa einen halben Tag Vorsprung“, antwortete Gancielle ohne sich umzudrehen. „Und sie sind schneller, aber nur auf dem Meer. Sobald sie den Maldocan hinaufsegeln, wird ihre Geschwindigkeit stark fallen. Wenn wir Glück haben, kommen sie dann sogar noch langsamer voran als wir.“

Craig sah sich um und hatte so seine Zweifel. Außer Gancielle schien keiner seiner Begleiter besonders erpicht darauf zu sein, die Düstermarsch im Eiltempo zu durchqueren. Lazana schleppte sich auf ihren Stab gestützt erschöpft dahin und Ratford wich ihr nicht von der Seite. Craig konnte sehen, dass Vance am Wegesrand stehen blieb und nach einer dünnen, holzigen Pflanze griff, die neben einem blubbernden Schlammloch wuchs. Er brach zwei Stängel ab, schnupperte daran und steckte sie sich schließlich in den Mund. Während er darauf herumkaute, setzte sich Vance wieder in Bewegung. Wuleen, der seinen Treueschwur offenbar sehr ernst nahm, folgte ihm auf Schritt und Tritt.

„Aber warum gehen sie dann nicht einfach zu Fuß weiter, wenn die Strömung sie zu stark ausbremst?“, warf Craig beharrlich ein.

„Weil dieser Brynne eine Krankheit hat, die ihm bei Kontakt mit dem Sonnenlicht die Haut von den Knochen schmilzt“, erwiderte Gancielle und trat ein paar Farnwedel platt. „Er kann nur bei Nacht reisen. Bei Tag ist er darauf angewiesen, sich irgendwo verkriechen zu können. Deshalb wird er auf dem Schiff bleiben, solange es gegen die Strömung ankommt.“

Lazana erschauderte, obwohl ihr die Hitze unter den erdrückenden Baumwipfeln der Düstermarsch zu schaffen machte. „Die Sonnenfäule“, murmelte sie leise und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. „Ich habe schon von dieser Krankheit gehört. Sie wird auch Solas Strafe genannt. Man sagt, dass sie angeblich nur diejenigen trifft, deren Herzen wahrhaft dem Bösen verfallen sind.“

„Dann hat es mit diesem Brynne ja offensichtlich den Richtigen erwischt“, bemerkte Gancielle ungerührt. Energisch schob er eine dicke Liane zur Seite, die aus dem Geäst eines Baumes hinabhing, und trat um ein Haar in ein stinkendes Schlammloch. Fluchend zog er den Fuß zurück und rettete sich wieder auf den Pfad, der immerhin ansatzweise trocken war. „Für uns ist seine Krankheit ein unschätzbarer Vorteil. Die Nächte sind noch kurz. Sobald er das Schiff verlässt, ist das Zeitfenster, in dem er sich frei bewegen kann, sehr begrenzt. Das heißt, wir holen langsam auf. Aber trotzdem dürfen wir uns keine Trödeleien erlauben. Ich will die Düstermarsch noch vor Einbruch der Nacht verlassen!“



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