Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 27: ------------ „Das funktioniert ja tatsächlich!“ Im Licht der Morgensonne, die den Nebel allmählich vertrieb, beobachtete Gancielle staunend, wie Craig mit hochgekrempelten Hosen durch die Bucht watete. Der Waisenjunge tastete sich an dem steil abfallenden Hang des angrenzenden Hügels entlang und das Wasser reichte ihm bis zu den Knien. Seine nackten Waden mussten für die lauernden Bluthechte wie appetitliche Leckerbissen aussehen, aber sie kamen nicht an ihn heran. Denn zwischen ihnen und ihrer Beute zog Knack seine Kreise durch das Wasser der Bucht. Die Bluthechte schienen instinktiv zu spüren, dass der Knucker einer ihrer größten Fressfeinde war. Obwohl sich ein riesiger Schwarm der Raubfische in der Bucht versammelt hatte, wagten sie es nicht, sich auf den schlangenartigen Drachen zu stürzen. Ihre Zähne konnten gegen die Schuppenpanzerung des Knuckers nur wenig ausrichten und so folgten sie Craig in respektvollem Abstand, in der verzweifelten Hoffnung, dass Knack für einen Augenblick unaufmerksam war. Doch der Knucker wich seinem Freund nicht von der Seite. Er ließ den Schwarm der frustrierten Bluthechte nicht aus den Augen, während Craig durch das seichte Wasser stakste und sich dabei den Dreck von den Beinen wusch. „Natürlich!“, rief er Gancielle strahlend zu. „Wenn man es mit Bluthechten zu tun hat, sollte man immer einen Knucker an seiner Seite haben. Die Mistviecher werden heute fasten müssen.“ Der Kommandant saß mit Lexa am Ufer und sah dem Schauspiel kopfschüttelnd zu. Knack konnte nicht auf sie alle drei gleichzeitig aufpassen, weswegen sie sich dazu entschieden hatten, die Bucht nacheinander zu durchqueren. Lexa behielt die Umgebung aufmerksam im Auge, aber Gancielle konnte seinen Blick nicht von Craig wenden, der so locker durch das Wasser watete, als würde ihm nicht ein ganzer Schwarm mordlüsterner Fische folgen. Eigentlich erwartete der Kommandant, dass die Bluthechte jeden Augenblick von Hunger überwältigt zum Angriff übergehen würden, aber es geschah nichts dergleichen. Knacks bloße Präsenz reichte offenbar aus, um die Raubfische auf Abstand zu halten. Schließlich hievte sich Craig jenseits der Bucht an einem großen Felsen unversehrt aus dem Wasser. Grinsend drehte er sich zu Gancielle und Lexa um und zeigte ihnen den nach oben gerichteten Daumen. Knack wiederum tauchte unter und schwamm mit kraftvollen Schwanzschlägen blitzschnell zurück zu Craigs wartenden Begleitern. Die Bluthechte stoben wütend auseinander, als der Knucker direkt durch ihren Schwarm schoss und dabei mit seinen Kiefern nach ihnen schnappte. Er bekam keinen zu fassen und die Raubfische rotteten sich in einiger Entfernung wieder zusammen. Noch hatten sie nicht aufgegeben. Als nächstes durchquerte Lexa die Bucht. Sie schien großes Vertrauen zu Knack gefasst zu haben, denn sie achtete gar nicht auf die Bluthechte, die sich langsam wieder näherten. Ein paar einzelne Raubfische wurden etwas mutiger, lösten sich aus dem Schutz des Schwarms und wagten sich nahe an die Späherin und ihren geschuppten Wachhund heran, doch Knack war auf der Hut. Ein zuckte mit dem Schwanz und diese kurze Drohgebärde war ausreichend. Die Bluthechte traten frustriert den Rückzug an. So kam auch Lexa wohlbehalten auf der anderen Seite an. Craig, der auf sie gewartet hatte, streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aus dem Wasser zu helfen, doch die Späherin lehnte dankend ab und kletterte ohne Unterstützung an Land. Sie ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder, zog ihre triefnassen Stiefel aus und schüttete das Wasser aus, das sich darin gesammelt hatte. „Das war ja ein Kinderspiel“, stellte sie fest und lächelte Craig an. „Die Armee und der Orden sollten sich überlegen, ob es nicht lohnenswert wäre, ein paar Knucker zu dressieren. Dein kleiner Freund erweist sich jedenfalls als äußerst nützlich.“ Knack, der mitbekam, dass er wieder gelobt wurde, reckte den Kopf aus dem Wasser. Lexa kraulte ihn unter dem Kinn. „Jetzt musst du nur noch Gancielle zu uns bringen“, sagte sie schmunzelnd. Der Knucker gluckste zufrieden und tauchte wieder ab. Wie ein verschwommener, langgezogener Klecks roter Farbe glitt er dicht unter der Wasseroberfläche durch die Bucht. Gancielle erwartete ihn bereits. Dem ehemaligen Kommandanten war anzusehen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Auch wenn Craig und Lexa die Bucht unbeschadet durchquert hatten, gefiel es ihm ganz und gar nicht, dass er ein mit Bluthechten verseuchtes Gewässer betreten musste. „Und du achtest auch wirklich darauf, dass mich diese Biester nicht anknabbern?“, fragte er den Knucker mit gerunzelter Stirn. Knack legte den Kopf schief und sah ihn dümmlich an. „Also gut“, seufzte Gancielle. „Bringen wir es hinter uns.“ Er krempelte seine Hosen bis zu den Knien hoch und setzte vorsichtig einen Fuß ins Wasser. Die Bluthechte schienen die sanften Wellen, die dabei entstanden, augenblicklich zu spüren und sammelten sich bedenklich nahe wieder zu einem lauernden Schwarm. Gancielle musste schlucken. Er konnte die nadelspitzen Zähne der Raubfische sehen, die durch die Lichtbrechung auf der Wasseroberfläche zu grotesken Schlachtwerkzeugen verzerrt wurden. „Bitte beiß sie, bevor sie mich beißen“, murmelte er Knack zu. Der Knucker glitt direkt neben ihm ins Wasser und streifte seine Wade mit seinem langen, glattschuppigen Körper. Gancielle tastete sich am Hang des Hügels entlang und arbeitete sich zögerlich voran. Das Wasser war inzwischen trüb geworden, da Craig und Lexa bei ihrer jeweiligen Durchquerung Schlick und Sand aufgewirbelt hatten. Gancielle konnte nicht erkennen, wohin er trat und als er bemerkte, dass sich die Frustration der Bluthechte allmählich in Raserei steigerte, wurde der frühere Kommandant nervös. Immer wieder warf er einen angespannten Blick auf die Stelle, an der sich die blutrünstigen Raubfische versammelten. Er hatte etwas die Hälfte des Weges zurückgelegt, als es passierte. Weil Gancielle mehr auf die Bluthechte achtete, als auf seine Schritte, rutschte er aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach ins Wasser. Sofort gab es für die Bluthechte kein Halten mehr. Sie vergaßen die Gefahr, die von Knack ausging, und stürzten sich tobend vor Hunger auf ihre Beute. Augenblicklich verwandelte sich die friedliche Oberfläche der Bucht in brodelnde Gischt. Der Knucker warf sich ihnen zähnefletschend entgegen. Er schnappte hierhin und dorthin, zersplitterte Gräten zwischen seinen kräftigen Kiefern und biss ellenlange Bluthechte in der Körpermitte durch. Sein Schwanz peitschte wütend durch das Wasser und die Raubfische, die er erwischte, wurden meterweit davongeschleudert. Wie flache Steine titschten ihre sich windenden Körper immer wieder auf der Wasseroberfläche auf, ehe sie benommen untergingen. Gancielle rappelte sich prustend auf und zog panisch sein Schwert. Knack drängte sich nahe an ihn, um die rasenden Bluthechte von ihm fernzuhalten, aber es waren so viele und sie waren so flink, dass er nicht alle abfangen konnte. Gancielle erkannte in dem trüben, aufgewühlten Wasser eine Kielwelle, die auf ihn zu kam. Gerade noch rechtzeitig zog er seinen Fuß weg, bevor sich die Kiefer eines ausgewachsenen Bluthechts um seinen Unterschenkel schlossen. Er stieß mit dem Schwert zu und spießte den Fisch auf, doch sofort tauchte der nächste Bluthecht aus dem brodelnden Wasser auf, um nach ihm zu schnappen. „Lauf!“, rief Lexa alarmiert. Gancielle ließ sich das nicht zweimal sagen. Er nahm die Beine in die Hand und rannte, so schnell er konnte und es das knietiefe Wasser ermöglichte, auf die rettenden Felsen zu. Sofort schossen die Bluthechte hinter ihm her. Innerhalb von wenigen Wimpernschlägen holten sie ihn ein. Gancielle führte einen wahren Veitstanz auf und riss die Füße bei jedem Schritt so hoch wie möglich aus dem Wasser, um den bissigen Fischen zu entgehen. Ein Bluthecht grub seine Zähne in Gancielles Stiefel. Das robuste Leder bewahrte den früheren Kommandanten vor einer schlimmen Fleischwunde, aber trotzdem bohrten sich die Zähne wie Nadeln in seinen Knöchel. Gancielle kniff vor Schmerz ein Auge zu, während Knack beherzt zuschnappte und den Raubfisch von seinem Bein pflückte. Er lief weiter und kämpfte gegen die Wassermassen an, die gegen seine Oberschenkel schwappten und ihn ausbremsten. Vor sich entdeckte er Lexa, die sich weit über ihren Felsvorsprung lehnte und ihm verbissen die Hand entgegenstreckte. Gischt spritzte ihm ins Gesicht und er drosch in aufkeimender Panik mit dem Schwert auf die brodelnde Wasseroberfläche ein. Die Bluthechte schienen überall gleichzeitig zu sein. Ein junges Exemplar sprang aus den Wellen und verbiss sich mit seinen Zähnen in Gancielles linkem Unterarm. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei und schlug den fleischfressenden Fisch mit einem wilden Schwertstreich entzwei. Dann setzte Gancielle zu einem verzweifelten Hechtsprung an und bekam Lexas ausgestreckte Hand zu fassen. Die Späherin griff sofort nach seinem Arm und Gancielle zischte schmerzerfüllt, als sie ihre Finger direkt auf die frische Bisswunde presste. Aber sie hatte ihn fest im Griff und als Craig ihr zu Hilfe kam, zogen sie den strampelnden Gancielle zu zweit auf den sicheren Felsen. Der frühere Kommandant rollte sich röchelnd auf den Rücken und hinterließ mit seinem durchnässten Hemd Wasserflecken auf dem Boden. Er zitterte am ganzen Leib und benötigte einige Sekunden, um sich wieder zu beruhigen. Als er sich schließlich stöhnend aufsetzte, hämmerte sein Herz noch immer wie wild in seiner Brust. „Das war haarscharf“, japste er. „Ohne diesen Knucker hätten mich diese Biester in Sekundenbruchteilen filetiert.“ Fassungslos blickte er auf die Wasseroberfläche. Dort hatte sich das Blatt in dem Moment gewendet, in dem er sich an Land gerettet hatte. Den Bluthechten war ihr Opfer entkommen und nun wurden aus den Jägern die Gejagten. Während Knack Gancielle zuvor noch erbittert verteidigt hatte, schien er jetzt großen Spaß daran zu haben, sich auf die Bluthechte zu stürzen. Ein paar Fische versuchten sich in einem gebündelten Gegenangriff auf den Knucker, doch an seinem Schuppenpanzer bissen sie sich die Zähne aus. Knack schien ihre Kiefer gar nicht zu spüren und trieb die Bluthechte nach Herzenslust durch die Bucht. „Dann lass es dir mal schmecken, Kumpel!“, rief Craig und hüpfte begeistert auf und ab. Gancielle zitterte noch immer und atmete tief durch. Lexa griff nach seinem Handgelenk und besah sich die Bisswunde genauer. Auf seinem Unterarm war eine ganze Reihe blutiger Einstiche zu sehen. „Tut es sehr weh?“, erkundigte sich. Gancielle schloss seine Hand probeweise ein paar Mal zu einer Faust. „Es geht“, brummte er. „Aber wer weiß, mit welchen Krankheiten dieses Mistvieh verseucht war.“ Lexa holte aus ihrer Tasche eine Feldflasche mit Wasser hervor und wusch die Bisswunde sorgfältig aus. Dann nahm sie einen kleinen Flakon hervor und entkorkte ihn. „Das ist das Extrakt aus den Blättern der Sumpfwurz“, erklärte sie. „Es reinigt Wunden und tötet Krankheitserreger.“ Sie träufelte aus dem kleinen Fläschchen ein paar Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit auf die Bisswunde. Das Extrakt schäumte, als es mit dem verletzten Fleisch in Berührung kam und Gancielle verzerrte das Gesicht, als die kleinen Stiche höllisch zu brennen anfingen. Doch Lexa zeigte keine Gnade. Sie wiederholte die schmerzhafte Prozedur an Gancielles Bein, an der Stelle, an der die Zähne des Bluthechts das Leder seiner Stiefel durchdrungen hatte. Sie verkorkte den Flakon und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden. „An einer Infektion wirst du jetzt schonmal nicht zugrunde gehen“, verkündete sie trocken. Gancielle lachte heiser. „Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob du um mich trauern würdest“, schmunzelte er. „Das kommt ganz darauf an, wie du abtrittst“, erwiderte Lexa kühl. „Wenn dich deine eigene Dummheit das Leben kostet, würde ich dir vermutlich keine Träne hinterherweinen.“ „Wirklich rührend“, brummte Gancielle und rieb sich das Handgelenk. Das Brennen ließ langsam nach und er glaubte zu erkennen, dass die leichte Rötung der Wundränder bereits zurückging. Trotzdem tat die Bisswunde noch immer weh, wenn er seine Hand bewegte. Gleiches galt für seinen Fuß, auch wenn der Schmerz dort nicht mit dem in seinem Arm zu vergleichen war. Vorsichtig stand er auf und verlagerte sein Gewicht auf das verletzte Bein. Solange er es nicht zu sehr beanspruchen musste, würde ihn die Bisswunde kaum beeinträchtigen. Knack zog indessen immer noch seine Kreise durch die Bucht. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, zwischen die Bluthechte zu fahren und den Schwarm auseinanderzutreiben. Die Raubfische traten endgültig den Rückzug an. Sie drängten fort von den schnappenden Kiefern des Knuckers und retteten sich in Scharen hinaus ins Binnenmeer. Trotzdem machte Knack reichlich Beute. Als er schließlich gesättigt zurück an Land schwamm, hing aus seinem halbgeöffneten Maul die Schwanzflosse eines Bluthechts. Träge schleppte sich der Knucker aus dem Wasser und fläzte sich mit ausgestrecktem Körper auf den nächsten Felsen. Ein herzhaftes Rülpsen entglitt seiner Kehle, dann bettete er seinen Kopf zufrieden auf die Vorderpranken und schloss die Augen. Craig musste lachen. „Du hast dich wohl überfressen, was?“, grinste er und knuffte Knack freundschaftlich in den prallgefüllten Bauch. „Dieses Festmahl hast du dir auf alle Fälle verdient.“ Der Waisenjunge drehte sich zu Lexa und Gancielle um und lächelte seine beiden Begleiter entwaffnend an. „Ich glaube, mit Knack ist erstmal nichts mehr anzufangen“, verkündete er. „Bevor er sich wieder bewegt, muss er erst sein Frühstück verdauen.“ „Und wie lange dauert das?“, fragte Gancielle ungeduldig und warf einen verstohlenen Blick auf den dösenden Knucker. Craig kratzte sich an der Wange und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Naja…“, sagte er gedehnt. „Er hat die halbe Bucht leergefressen. Eine Stunde müssen wir mit Sicherheit einplanen.“ „Zu lange“, brummte Gancielle. „Wir gehen ohne ihn weiter.“ „Wie bitte?“, entrüstete sich Craig. „Knack hat Euch gerade eben das Leben gerettet. Ohne ihn wärt Ihr jetzt Fischfutter! Und jetzt wollt Ihr ihn zurücklassen?“ „Versteh mich nicht falsch, Junge“, erwiderte Gancielle und trat nah an Craig heran. „Ich bin deinem kleinen Haustier wirklich dankbar. Aber ich habe in diesen Sümpfen eine Aufgabe zu erledigen und ich kann es mir nicht leisten, auf den Verdauungsschlaf eines Knuckers Rücksicht zu nehmen.“ „Jetzt mach mal halblang, Gancielle“, mischte sich Lexa ein und legte dem früheren Kommandanten eine Hand auf die Schulter. „Knack könnte uns auch weiterhin noch von großem Nutzen sein. Mit bloßer Ungeduld kommst du den Vermissten jedenfalls nicht näher auf die Spur.“ Gancielle blickte mit finsterer Miene trotzig zu Boden, erwiderte aber nichts. Lexa seufzte resigniert. „Du bist ein Dickkopf. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wir sehen uns hier ein wenig um und wenn wir eine eindeutige Fährte entdecken, lassen wir Knack hier zurück, ohne sein wohlverdientes Nickerchen zu unterbrechen. Wenn wir aber nichts finden, bleibt uns keine andere Wahl, als weiterhin auf seine Spürnase zu vertrauen.“ „Meinetwegen“, murrte Gancielle und kickte einen Stein ins Wasser. „Aber wenn wir ohne ihn nicht weiterkommen, werde ich ihn in einer Stunde wecken und keine Sekunde später, verstanden?“ Craig war ebenfalls einverstanden und so ließen sie Knack friedlich schlafen und sahen sich auf dieser Seite der Bucht ein wenig um. Sie befanden sich auf einer kleinen Landzunge, die durch den mächtigen Hügel am Ufer von den stinkenden Sümpfen der Düstermarsch abgegrenzt wurde. Graue, schroffe Felszacken, die über Jahrhunderte hinweg von Wind und Wellen geformt worden waren, ragten wie Bäume aus Stein in die Höhe. Das Gelände war äußerst unübersichtlich und unwegsam und nachdem Craig das erste Hindernis überwunden hatte und noch einmal zurückblickte, war Knack bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden. Der Waisenjunge legte den Kopf in den Nacken und blickte an der steilen Felswand des Hügels empor, der sich über ihm auftürmte. Gewaltige Risse zogen sich durch das Gestein und weiter oben, knapp unterhalb der bewaldeten Kuppe, ragte ein struppiges Geflecht aus krummen Wurzeln aus den Klippen. Die Bäume auf dem Hügel überspannten einen Großteil der Landzunge mit ihrem dichten Blätterdach und spendeten den drei Gefährten Schatten, die tief unter ihnen nach Hinweisen auf die Vermissten suchten. Lexa stieß auf einen schlammigen, von zahlreichen Stiefeln ausgetretenen Pfad, der zwischen den Felsen hindurchführte. Aufgeregt winkte sie Gancielle und Craig zu sich. „Ich glaube, wir haben hier eine ganz heiße Spur entdeckt“, verkündete sie mit gedämpfter Stimme und deutete mit einem Kopfnicken nach vorn. Dort schwappten einige Wellen auf den Hügel zu, doch es war kein Brandungsgeräusch zu hören. Stattdessen verschwanden die sanften Wogen aus ihrem Blickfeld und das Wasser schien direkt in die aufragenden Klippen hineinzufließen. Lexa tastete sich vorsichtig um einen Felsen herum, dicht gefolgt von Gancielle und Craig, deren leise Atemzüge sie deutlich hören konnte. Und dann tat sich vor ihren Augen eine große Höhlenöffnung auf. Sie lag direkt hinter den schroffen Felsspitzen und war kaum zu erkennen. Vom Meer aus musste sie vollkommen unsichtbar sein. Das Wasser trieb im gemächlichen Rhythmus der Brandung in die Grotte hinein und glitt mit dem Rückstrom wieder aus ihr heraus. Aus der Höhle kam ein wabernder, bläulicher Lichtschimmer, der von fluoreszierenden Algen an den Wänden herrührte. Lexa legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete Gancielle und Craig, keine lauten Geräusche zu verursachen. Grimmig ging sie hinter einem spitz aufragenden Felsen in die Hocke und blickte hinauf zu den mächtigen Tropfsteinen, die wie schwebende, übergroße Speerspitzen von der Höhlendecke hingen. Dann spähte sie, so gut es ging, in die Grotte hinein. Von ihrem Standort aus war sie nur schlecht einzusehen. Aber sie erkannte, dass das Wasser, das den Höhlenboden bedeckte und in ständiger, sanfter Bewegung war, einige unangenehme Bewohner beherbergte. „Bluthechte“, stellte sie verbittert fest. „Diese Mistviecher sind überall.“ „Nicht schon wieder“, knurrte Gancielle genervt. Craig lugte vorsichtig über die Schulter der Späherin. Deutlich erkannte er die stromlinienförmigen Körper und die langen, rasiermesserscharfen Zähne der Raubfische, die direkt unter der Wasseroberfläche lauerten. „Sieht so aus, als hätten sie vor gar nicht allzu langer Zeit ein Festessen veranstaltet“, bemerkte Gancielle finster. Da entdeckte auch Craig die beiden Leichen. Der Brandungsrückstrom hatte sie an einen Felsen auf der anderen Seite des Ufers gespült. Dort hatten sie sich verhakt und schaukelten in der sanften Strömung kaum merklich hin und her. Craig hielt sie zuerst für einen Haufen Treibgut aus alten Lumpen, so zerfleddert waren sie. Doch dann erkannte er, dass es die Überreste zweier Dunkelelfen waren, und sein Magen drehte sich um. Die Bluthechte hatten sich an den beiden Unglücksraben satt gefressen und sie fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Craig war froh, dass er ihre Gesichter nicht sehen konnte, denn das, was die Raubfische übriggelassen hatten, gab einen fürchterlichen Anblick ab. Arme und Beine waren stellenweise bis auf die Knochen abgenagt und die Gerippe waren nur noch von ein paar blutigen Fetzen aus Stoff und Fleisch bedeckt. Seit dem Piratenüberfall auf seine Heimatinsel wusste Craig ganz genau, wie der Tod aussah, doch er hatte ihn noch nie von einer derart grausamen Seite gesehen. Erst jetzt wurde ihm klar, in welche Gefahr er sich tatsächlich begeben hatte, als er an Knacks Seite durch die Bucht gewatet war. Unwillkürlich sah er sich nach dem Knucker um und wünschte, er hätte ebenfalls ein so robustes Schuppenkleid. Er kannte zahlreiche Geschichten von unschönen Begegnungen mit den mörderischen Raubfischen, aber er hatte sich in seinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen können, zu welchen Gräueltaten ein Schwarm von Bluthechten tatsächlich fähig war. Gancielle hatte unfassbares Glück gehabt, den blutrünstigen Fischen entkommen zu sein. Er hatte es gerade noch rechtzeitig ans Ufer geschafft. Hätte er nur wenige Sekunden länger gebraucht, wäre der Schwarm erbarmungslos über ihn hergefallen und hätte ihn ebenso zerfetzt, wie die beiden bemitleidenswerten Dunkelelfen. „Ob sie ausversehen ins Wasser gefallen sind?“, hauchte Craig und starrte mit angstgeweiteten Augen auf die zerrissenen Körper, die in der leichten Brandungsströmung seltsam friedlich auf und ab wippten. „Oder wurden sie gestoßen?“ Beim bloßen Gedanken daran, dass jemand so grausam sein konnte, zwei Dunkelelfen in ein Gewässer voller hungriger Bluthechte zu stoßen, lief ihm ein Schauer über den Rücken. „Tja, wer weiß das schon?“, erwiderte Lexa leise. „Hoffen wir für diese armen Seelen, dass sie schon tot waren, bevor sie ins Wasser gefallen sind.“ Craigs Gesicht wurde weiß wie ein Bettlaken. In diesem Moment konnte sich der Waisenjunge nichts Schlimmeres vorstellen, als bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. Sein Magen fühlte sich an, als wollte er sich nach außen stülpen. Falls der Anblick der Toten Gancielle und Lexa ähnliche Übelkeit bereitete, ließen sich die beiden davon nichts anmerken. „Gehören…gehören die beiden…zu den Vermissten?“, fragte Craig stockend. Bei jedem Wort fürchtete er, dass er sich übergeben musste. Lexa zuckte mit den Schultern. „Ich befürchte, dass man die Leichen unmöglich identifizieren kann“, murmelte Lexa. „Besonders viel haben die Bluthechte nicht übriggelassen.“ Craig zwang sich, den Blick von den Überresten der Toten abzuwenden, und starrte stattdessen auf die klare Wasseroberfläche am Höhleneingang. Die Bluthechte stierten gierig zu ihm hinauf, als wollten sie ihm sagen, dass er das nächste Opfer auf ihrer Liste war. Der Waisenjunge musste sich setzen. Mit weichen Knien ließ er sich an einem Felsen zu Boden sinken. „Soll ich Knack holen?“, fragte er tonlos. „Was ist denn los mit dir?“, brummte Gancielle. „Du bist auf einmal so blass um die Nase. Verträgst du etwa die Küstenluft nicht?“ Obwohl die Stimme des früheren Kommandanten so ernst und grimmig wie eh und je klang, und Craig vor Übelkeit der Kopf schwirrte, entging dem Waisenjungen nicht, dass man sich über ihn lustig machte. Er blitzte Gancielle wütend an und sofort bekam sein Gesicht wieder ein wenig Farbe in Form einer zarten Zornesröte. „Tut nicht so, als wäre es vollkommen normal, dass Leute bis auf die Knochen abgenagt werden!“, zischte er ärgerlich und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die beiden Leichen, wobei er es vermied, die Toten anzusehen. „Das ist es nämlich überhaupt nicht!“ „Ich glaube nicht, dass du Knack wecken musst“, mischte sich Lexa ein und unterband dadurch ein aufkeimendes Wortgefecht. „Es sieht so aus, als könnte man die Grotte trockenen Fußes betreten. Dort drüben führt ein schmaler Steinsims direkt an der Höhlenwand entlang. Er sieht allerdings ziemlich glitschig aus, also passt auf eure Schritte auf!“ „Ihr wollt, dass wir die Höhle betreten?“, flüsterte Craig ungläubig. „Ganz genau“, verkündete Lexa gedämpft und griff in den plattgetretenen Schlamm zu ihren Füßen. „Diese Spur ist so eindeutig, dass ihr selbst ein blinder Veilchenfisch folgen könnte. Und sie führt direkt in die Grotte. Wer auch immer hier entlang getrampelt ist, hat den Uferschlamm unter seinen Stiefelsohlen bis zum Höhleneingang geschleppt. Irgendjemand hat sich dort drin verkrochen.“ „Glaubt Ihr etwa, Vance und die anderen Vermissten verstecken sich hier?“, hauchte Craig. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals. „Möglich“, erwiderte Lexa leise. „Immerhin hat uns Knacks Nase hierhergeführt. Aber hier sind zu viele Stiefelabdrücke. Die stammen unmöglich nur von den Vermissten. Außerdem bezweifle ich, dass verstecken der richtige Begriff ist.“ „Wie meint Ihr das?“, fragte Craig und hielt gespannt den Atem an. „Finden wir es heraus!“, verkündete Lexa entschlossen und stand auf. „Und Gancielle…tu mir einfach den Gefallen und versuch, diesmal nicht ins Wasser zu fallen, verstanden?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)