Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 23: ------------ Viland war nach dem Kampf mit Tyra nicht weit gekommen. Schon nach wenigen Schritten war er aufgrund des Blutverlusts zusammengebrochen. Nun saß er an einen Tropfstein gelehnt in der Nähe der Toten und kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit. Mit einer Hand presste er die Stichwunde an seinem Bauch, die ihm durch Tyras Schwert zugefügt worden war, aber das Blut quoll trotzdem unaufhaltsam zwischen seinen Fingern hindurch. Viland wusste genau, dass er nicht mehr lange durchhalten würde, wenn ihn nicht bald jemand fand. Der schwerverletzte Barbar wusste nicht, wie lange er schon in der Grotte saß. Zwischenzeitlich hatte er das Bewusstsein und dadurch auch jegliches Zeitgefühl verloren. Nur die Strahlen der tiefstehenden Sonne, die zwischen den Felsen aufblitzten und die Grotte mit goldenem, grellem Licht überfluteten, verrieten ihm, dass es bereits Abend sein musste, als endlich gedämpfte Schritte die Ankunft der Schmuggler ankündigte. Viland verfluchte sein Schicksal, als er Molas Stimme erkannte. Ausgerechnet diese wichtigtuerische Schrapnelle würde ihn in diesem Zustand finden. Offenbar war sie dafür zuständig, die Wachen für die Nacht einzuteilen. Das faltige Gesicht der Dunkelelfe erschien in der Tunnelöffnung. Sie war gerade in ein wütendes Gespräch mit ihrer Tochter Vela vertieft. „Erst müssen wir uns von diesem aufgeblasenen Ork unsere Arbeiter bringen lassen und dann erzählt Fjedor auch noch irgendetwas von irgendwelchen ominösen Änderungen“, hörte Viland sie sagen. Weitere Dunkelelfen betraten die Grotte aus dem Inneren des Berges. Balar, der zauberkundige Dunkelelf, entdeckte den verletzten Axtkämpfer als Erster. „Was ist denn hier passiert?“, rief er erschrocken. Viland stieß ein gequältes Lachen aus. Offenbar gab er ein besonders miserables Bild ab. Auch Mola wurde jetzt auf ihn aufmerksam. Mit argwöhnischem Gesichtsausdruck näherte sie sich dem Verletzten. „Wer ist das?“, erkundigte sie sich trocken und stieß Tyras Leichnam mit dem Fuß an. „Frag sie doch selbst“, zischte Viland und verlagerte stöhnend sein Gewicht. „Irgendeine Abenteurerin mit Todessehnsucht. Und sie hat euch Stümper offenbar beobachtet, als ihr die Höhle verlassen oder betreten habt. Aber ich habe diesen Fehler wieder ausgebügelt. Nichts zu danken!“ Obwohl es Viland große Schwierigkeiten bereitete, zu sprechen, troff seine Stimme vor Sarkasmus. Mola schürzte verächtlich die Lippen. „Hört euch diesen großen Krieger an!“, höhnte sie. „Er hat sich todesmutig in den Kampf gegen ein schmächtiges Mädchen geworfen.“ „Spar dir die Sprüche, sonst hack ich dir deinen hässlichen Kopf ab!“, grollte Viland drohend und fasste den Schaft seiner Axt fester. „Hol lieber die Heilerin!“ „So spricht man aber nicht mit jemandem, von dem man gerettet werden will“, gab Mola ungerührt zurück und ging vor dem verletzten Krieger in die Knie. „Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich dich einfach hier liegen und verrecken lasse. Was Brynne wohl sagen wird, wenn er erfährt, dass einer seiner Leibwächter von einer halbstarken Göre um die Ecke gebracht wurde? Das wird er bestimmt nicht gutheißen.“ Vilands blutunterlaufene Augen sprühten zornige Funken. „Noch weniger wird er es gutheißen, dass diese halbstarke Göre den Zugang zu unserer Höhle entdeckt hat“, erwiderte er beißend. „Und wenn dabei auch noch einer seiner Leibwächter das Leben lässt, wird er garantiert sehr wütend sein und nach der Dunkelelfe suchen, durch deren Dummheit sein Versteck entdeckt wurde.“ „Schon gut, schon gut“, murrte Mola unwillig und täuschte dann Entrüstung vor. „Hältst du mich etwa für ein Monster? Ich würde dich doch niemals verbluten lassen.“ „Natürlich würdest du das nicht“, keuchte Viland schwach und tätschelte das Klingenblatt seiner Axt. „Und jetzt bring endlich die Heilerin hierher! Ich schwöre dir eins, wenn ich merke, dass ich nicht überlebe, dreh ich dir den Hals um!“ Mola erhob sich und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, gab ihrer Tochter aber einen Wink. „Vela, geh und hol die Heilerin!“, befahl sie. „Wir wollen doch wirklich nicht, dass unser tapferer Krieger ein so unwürdiges Ende findet.“ Die junge Dunkelelfe nickte gehorsam und eilte davon. Viland hatte immer schwerer mit der Bewusstlosigkeit zu kämpfen. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen und er stieß leise, gedämpfte Grunzlaute aus. Immer wieder kippte sein Kopf schwach zur Seite. Mola ging in einiger Entfernung in die Hocke und tippte beiläufig mit dem Griff ihres Säbels. „Armer Viland“, säuselte sie mit gespieltem Mitleid. „Ich fürchte, wenn Vela die Heilerin nicht sofort findet, wirst du doch noch verbluten. Tja, da kann man dann wohl nichts machen.“ „Halt die Klappe!“, stieß Viland schwach hervor. Er stöhnte gequält auf und presste seine Hand fester auf die Wunde in seinem Bauch. Das Blut sickerte durch seine Finger, tropfte auf den Boden und vermischte sich dort mit der dünnen Wasserschicht. „Du wirst dich dafür verantworten müssen, wenn ich sterbe.“ Vela eilte auf schnellstem Weg in den Höhlenabschnitt, in dem sich die Schurken der Schmugglerbande einquartiert hatten. Sie hatte einen Heidenrespekt vor Mola und nicht nur, weil sie ihre Mutter war. Seit sie denken konnte, war sie mit Molas Horde von Plünderern durch das Land gezogen und in dieser Zeit hatte sich ihre Verwandtschaft längst in ein Verhältnis zwischen Anführerin und Untergebener gewandelt. Inzwischen war Mola für Vela mehr Befehlshaberin als Mutter. Die alte Dunkelelfe gab die Befehle und ihre Anhängerschaft hatte ihr aufs Wort zu gehorchen. Wer nicht gehorchte, wurde gnadenlos bestraft. Vela bildete da keine Ausnahme und manchmal fragte sie sich, ob ihre Mutter überhaupt noch wusste, dass sie blutsverwandt waren. Immer wieder versuchte Vela, Molas Gunst zu gewinnen, indem sie die ihr erteilten Aufgaben schnellstmöglich erfüllte. Doch ihre Mutter begegnete ihr mit der gleichen Arroganz, mit der sie auch die anderen Bandenmitglieder behandelte. Balam war ihr klarer Favorit, vermutlich weil er im Gegensatz zu den anderen Plünderern magiebegabt war. Vela selbst musste zugeben, dass sich seine Feuerzauber immer wieder als äußerst nützlich erwiesen, doch sie konnte nur schwer verbergen, wie eifersüchtig sie auf den Dunkelelfen war, der ihren Platz als engster Vertrauter ihrer Mutter eingenommen hatte. Vela blieb nichts anderes übrig, als Mola alles recht zu machen, was in ihrer Macht stand, doch so sehr sie auch buckelte, neben Balam schien sie von ihrer Mutter kaum noch wahrgenommen zu werden. Deshalb lief sie so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Sie wusste, dass sie nur einen Laufbotendienst verrichtete, aber alles war ihr recht, um ihr eigenes Ansehen bei Mola zu steigern. Die Heilerin der Schmugglerbande war eine junge Dunkelelfe namens Indra. Sie war eine der unglückseligen Reisenden gewesen, die den Banditen beim Durchqueren der Düstermarsch in die Hände gefallen waren. Indras Heilkünste waren ihr Glück, denn die Schmuggler hatten ihre Fähigkeiten schnell entdeckt. Fjedor hatte daraufhin entschieden, dass er auf sie als Arbeiterin in den Minen verzichten konnte. Seitdem wurde sie gezwungen, sich um die Verletzungen und Erkrankungen der Schmuggler zu kümmern. Es war keine besonders dankbare Aufgabe, doch es war immer noch bei Weitem angenehmer, als in den Minen nach Sturmerz zu schürfen und sich von den Aufsehern auspeitschen zu lassen. Im Gegensatz zu den Schürfern genoss Indra das Privileg, dass man auf ihr Wohlergehen wertlegte. Sie bekam warme Mahlzeiten und frisches Trinkwasser und die Matratze, auf der sie schlafen durfte, war ungleich bequemer als das schimmlige Stroh im Sklavenverschlag. Trotzdem wusste die Heilerin ganz genau, dass sie wie die Arbeiter nach wie vor eine Gefangene war. Ihre Dienste wurden verhältnismäßig selten benötigt. Meistens kümmerte sie sich um Banditen, die sich leichte Fälle von Sumpffieber eingefangen hatten. Ernsthafte Verletzungen waren seltener, aber Indra hatte auch schon die ein oder andere Platzwunde genäht oder einen verstauchten Knöchel versorgt. Zu den Gefangenen hatte man sie bislang noch nicht gelassen, obwohl sie immer wieder sah, dass die entzündeten Striemen von den zahllosen Peitschenhieben dringend einer medizinischen Untersuchung bedurften. Indra empfand großes Mitleid mit den unglückseligen Arbeitern. Sie wusste selbst, wie es war, in der Mine schuften zu müssen, doch sie hatte nur einen Tag durchhalten müssen, dann hatte man sie bereits aus dem Sklavenverschlag geholt und als Heilerin eingesetzt. Nicht selten schämte sich die junge Frau dafür, dass es ihr verhältnismäßig gut ging, während sich die anderen Gefangenen täglich fast zu Tode schufteten, auf schimmligem Stroh oder feuchtem Fels schlafen mussten und immer wieder den brutalen Peitschenhieben der Aufseher ausgesetzt waren. Doch Indra konnte an ihrer Situation auch nicht mehr ändern, als die gefesselten Sklaven. Auch ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie eines Tages gerettet oder auf noch wundersamere Art und Weise von den Schmugglern freigelassen wurde. Indra lebte in einem kleinen Seitengang etwas abseits der eigentlichen Quartierhöhle. Dort sortierte sie ihren kleinen Apothekerbeutel, in dem sie verschiedene Heilkräuter und Wundsalben aufbewahrte. Manchmal durfte sie die Banditen, die sich ein oder zwei Mal am Tag in die Düstermarsch wagten, darum bitten, einige Zutaten für sie zu besorgen. Die Wälder waren voll von seltenen Kräutern und anderen Gewächsen, aus denen man wirksame Heilmittel herstellen konnte. Besonders die Vielfalt verschiedener Pilze war beeindruckend. Sie wuchsen in den Düstermarsch in allen Größen, Formen und Farben und hatten ganz unterschiedliche Eigenschaften inne. Manche enthielten ein tödliches Gift, andere wirkten bewusstseinserweiternd und wieder andere waren effektive Heilmittel. Indra erschrak gewaltig, als Vela plötzlich in ihren Raum platzte. „Beeil dich!“, schrie die rothaarige Schmugglerin barsch und machte ihrer angestauten Wut und Eifersucht auf Balam Luft. „Wir brauchen deine Hilfe!“ Indra erholte sich schnell von ihrem Schrecken und legte fragend den Kopf schief. „Was ist passiert?“, erkundigte sie sich sanft. „Viland wurde abgestochen!“, antwortete Vela kratzbürstig. „Beweg dich, sonst verblutet er!“ „Einen Augenblick“, bat Indra um Geduld und besah sich ihre gut sortierte Sammlung aus Heilkräutern und Ingredienzien. „Stichwunden…Blutverlust…“, überlegte sie laut. Schließlich griff sich nach einer holzigen Pflanze mit breiten, grünen Blättern und stopfte sie zu den anderen Zutaten in ihren Apothekerbeutel. „Bitte bring mich zu dem Verletzten.“ Die Schmuggler hoben die Köpfe, als aus dem Tunnel, der in die Wohnhöhlen führte, Schritte ertönten. Kurz darauf erschien Vela mit Indra im Schlepptau. Das Gesicht der jungen Heilerin war vor Anstrengung gerötet und sie erschrak, als sie den schwerverletzten Viland entdeckte. Sie kniete sich augenblicklich zu ihm hinab und entdeckte dabei Tyras Leiche. Ihr wurde beim Anblick der fürchterlichen Wunde in der Schulter der jungen Frau schlecht. Sie sah das blutverschmierte Klingenblatt von Vilands Axt und spielte für einen Moment mit dem Gedanken, den Verletzten für seinen grausamen Mord einfach verbluten zu lassen. Doch sie wusste, dass man sie dafür bestrafen würde, wenn Viland starb und außerdem widersprach es ihren Prinzipien als Heilerin, einen Verletzten seinem Schicksal zu überlassen, egal welche Gräueltaten er begangen hatte. „Helft mir, seinen Brustpanzer abzunehmen!“, rief sie den umstehenden Schmugglern zu. Mola nickte Balam teilnahmslos zu und der magiebegabte Dunkelelf näherte sich Indra, um ihr zu helfen. Die Heilerin entfernte vorsichtig das Messer, das noch in Vilands Körper steckte. Besonders aus den beiden Stichwunden in seinem Bauch floss eine Menge Blut. „Schnell!“, drängte sie Balam, der anfing, Viland aus seiner Rüstung zu schälen. Der Axtkämpfer wehrte sich schwach. Indra kramte die breitblättrige Pflanze aus ihrem Apothekerbeutel hervor. „Drachenschweif“, erklärte sie Viland, dem die Sinne schwanden. „Er wird Eure Blutung stillen.“ Sie brach die holzigen Blätter in der Mitte ab und im Inneren wurde eine glänzende, zähflüssige Substanz sichtbar. Sie presste die Pflanze auf die bösen Wunden am Bauch und an der Flanke und fixierte sie fachmännisch mit einem Verband aus Leinen. Dann besah sie sich die Verletzungen am Oberarm und an der Schulter. Diese waren weniger schlimm und bluteten auch nicht besonders stark, aber Indra legte auch an diesen Stellen einen Wundverband an. Viland hatte derweil das Bewusstsein verloren. Die Heilerin trat einen Schritt zurück und besah sich ihren Patienten. „Und?“, fragte Mola gelangweilt. „Kommt er durch?“ „Er wird nicht verbluten“, erklärte Indra. „Jedenfalls nicht äußerlich. Ich kann leider nicht sagen, wie schlimm seine Organe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Außerdem werde ich die Wunden an seinem Bauch und an seinem Oberschenkel nähen müssen.“ „Na, das sind ja tolle Nachrichten“, brummte Mola tonlos. „Wir sollten ihn wegschaffen, damit du ihn wieder zusammenflicken kannst. Bringt ihn in die Wohnhöhle!“ Sofort eilten ein paar Dunkelelfen zu Viland hinüber, packten ihn unter den Armen und an den Beinen und trugen ihn fort. Der verletzte Barbar wurde in die Quartiere der Schmuggler gebracht. Es handelte sich dabei um die mit Abstand größte Höhle in dem System aus Tunneln und Gängen. In der hohen Decke klaffte ein halb mit Unterholz und Erde zugeschüttetes Loch, durch das frische Luft und Tageslicht in die Höhlen strömte. Die meisten der Banditen hatten die meiste Zeit über nichts zu tun und lungerten herum. Sie waren keine Aufseher und gehörten auch nicht zu Molas Spähtrupp, sondern verdienten sich ihre Mitgliedschaft in der Bande und den damit verbundenen Lohn, indem sie für ein paar Stunden in den Minen schürften. Wenn sie ihr Tagwerk verrichtet hatten, das nicht einmal im Ansatz mit dem Pensum der Sklaven zu vergleichen war, kehrten sie in die Wohnhöhle zurück und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen, Nickerchen und ab und an auch mit einem ausufernden Saufgelage. Die letzte Schnapslieferung, die sie erhalten hatten, war aber längst aufgebraucht und in den Quartieren herrschte Langeweile. Als Molas Späher mit Viland erschienen, sahen die Schmuggler neugierig auf. Es tat sich selten etwas in der Wohnhöhle und die Banditen drängten nach vorn, um einen Blick auf den verletzten Axtkämpfer zu erhaschen. Man legte ihn auf eine Matratze und sofort scharten sich die Schaulustigen um ihn herum. „Könnt Ihr dafür sorgen, dass sie verschwinden?“, bat Indra nervös und sah Mola ängstlich an. Die alte Dunkelelfe legte gelangweilt den Kopf schief und trat mit gezücktem Säbel zwischen die neugierigen Banditen. „Genug gegafft!“, rief sie herrisch. „Seht zu, dass ihr verschwindet und lasst die Heilerin ihre Arbeit machen!“ Die Banditen hegten nicht den Wunsch, sich mit Mola anzulegen und trollten sich. Indra atmete dankbar auf. „Sieh zu, dass er am Leben bleibt“, knurrte die alte Dunkelelfe und stapfte davon. „Ich möchte nicht erleben, wie Brynne reagiert, wenn einer seiner wichtigsten Männer den Löffel abgibt.“ Indra nutzte Vilands Bewusstlosigkeit, um seine schlimmsten Verletzungen fachmännisch zu versorgen. Die Dunkelelfe zog die Wundränder der beiden tiefen Stiche im Bauch des Barbaren zusammen und nähte sie mit flinken Fingern. Bei der klaffenden Schnittwunde an Vilands Bein tat sie das gleiche. Der Barbar grunzte und stöhnte leise, während die heiße Nadel durch sein Fleisch stach. Der Drachenschweif bewirkte wahre Wunder und stillte die Blutungen bereits in kürzester Zeit. Der Zustand des Axtkämpfers blieb stabil. Seine Körpertemperatur war etwas erhöht, doch das leichte Fieber war nichts, was Indra Sorgen bereitete. Trotzdem blieb sie noch eine ganze Weile bei Viland. Sie beobachtete seine Atmung und wechselte in regelmäßigen Abständen die Verbände. Schließlich war sie sich sicher, dass seine Organe keine gefährlichen Verletzungen erlitten hatten. Die junge Heilerin seufzte und fragte sich, warum sie sich so erleichtert fühlte. Sie wusste genau, dass Viland ein rücksichtsloser Verbrecher war. Ihr wurde schlecht, als sie wieder an die fürchterliche Wunde dachte, die seine Gegnerin das Leben gekostet hatte. Der Axtkämpfer hatte gnadenlos einen Menschen getötet und nun hatte Indra sein Leben gerettet. Sie wollte kein Mitleid für einen Schurken wie Viland empfinden. Er war ein Mörder, der keinen Respekt vor dem Leben anderer Leute hatte. Jemand wie er hatte es nicht verdient, versorgt und gepflegt zu werden. Sie hasste ihre Patienten und sie hasste die Banditen. Sie hasste sie für all das, was sie ihren Gefangenen antaten, doch sie konnte nicht anders, als einem Verletzten mit all ihrem Wissen zu helfen. Indra zog ihre Knie eng an ihren Körper und umschloss ihre Beine mit den Armen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie Viland wütend anstarrte. Sie wollte ihre Fähigkeiten zum Wohle anständiger Leute einsetzen. Ihre Heilkunst wurde gemeinhin als etwas Gutes angesehen, doch noch nie hatte es sich für sie so schlecht angefühlt, jemanden zu heilen. Es war immer Indras Wunsch gewesen, den Leuten zu helfen, deshalb hatte sie sich zur Heilerin ausbilden lassen. Und nun musste sie schmerzlich feststellen, dass auch die Heilkunst ihre Schattenseiten in sich barg, wenn man damit den falschen Leuten half. Sie hatte einem Mörder das Leben gerettet und war damit mitverantwortlich für weitere Morde, die Viland begehen würde. Indra legte die Stirn auf ihre Knie und fing an, leise zu weinen. Unterdessen hatte sich die Nachricht, dass eine Fremde in die Grotte eingedrungen war, wie ein Lauffeuer unter den Schurken verbreitet. Mola hatte Fjedor höchstpersönlich davon in Kenntnis gesetzt und der Schmugglerkönig hatte daraufhin alle wichtigen Mitglieder seiner Bande in der Thronhöhle versammelt. Ohnehin hatte er vorgehabt, sie zu sich zu rufen, um ihnen von seinem Vorhaben zu berichten, die Grotte für ein paar Tage zu verlassen. Doch das war nun zweitrangig. Dass es jemandem gelungen war, seinen Schlupfwinkel aufzuspüren, zerrte an seinem Nervenkostüm. Sein geheimer Handel mit dem Sturmerz drohte aufzufliegen und Fjedor hatte nicht übel Lust, die Höhle sofort zu verlassen, und sich mit Brynne zum Wolkentempel zu begeben, bevor ein Bataillon Soldaten aufkreuzte. Vor seinen Leuten gab sich der Schmugglerkönig aber so souverän wie möglich. Neben seinem Leibwächter Nironil waren Mola als Anführerin der Späher, Ratz als Oberaufseher und Yarshuk als Vertreter der Interessen von Brigadegeneral Loronk anwesend. In seiner dunklen Ecke beobachtete außerdem Brynne die Versammlung der Banditen. Er hatte die Nachricht vom lebensgefährlichen Angriff auf seinen Leibwächter Viland überraschend gleichgültig aufgenommen. Fjedor konnte es ihm nicht verdenken. So furchteinflößend Viland auch wirkte, mit Brothain hatte Brynne noch einen zweiten Leibwächter, der eine nicht minder abschreckende Wirkung auf jeden hatte, der sich seinem Herrn nähern wollte. „Wir sollten schnellstmöglich herausfinden, wie es dieser Frau gelungen ist, unseren Schlupfwinkel aufzuspüren“, rief Fjedor energisch. Mola fläzte sich auf dem Höhlenboden und kraulte ihr Schoßtier, eine Riesenratte, die genauso hässlich war, wie die alte Dunkelelfe selbst. „Na, wie schon? Frag das mal unsere Grünhaut dort drüben“, brummte sie gelangweilt und deutete mit dem Daumen auf Yarshuk. „Sein feiner Orkhäuptling war ja der Meinung, dass es vollkommen unauffällig ist, wenn man mit einem ganzen Trupp Soldaten aufmarschiert.“ „Hüte deine Zunge, du alte Vettel!“, erboste sich Yarshuk und zeigte mit dem Finger anklagend auf Mola. „Es gibt keine Beweise dafür, dass diese Frau auf den Brigadegeneral aufmerksam geworden ist! Genauso gut könnte sie auch dir und deinen stinkenden Handlangern auf die Schliche gekommen sein!“ „Dann ist es also reiner Zufall, dass uns erst dein feiner General einen Besuch abstattet und wir nur kurz darauf von einer dahergelaufenen Abenteurerin aufgespürt werden?“, gab Mola zynisch zurück. „Im Gegensatz zu euren Soldaten kennen meine Leute die Düstermarsch wie ihre Westentasche und bewegen sich nicht einmal ansatzweise so lärmend durch die Wälder. Sogar ein taubes Schaf könnte Loronks Trupp auf der Spur bleiben!“ „Maul halten, alle beide!“, rief Fjedor erbost. „Wenn ihr euch gegenseitig zerfleischt, bringt uns das keinen Schritt weiter. Die große Frage ist, ob die Gefahr besteht, dass unser Schlupfwinkel erneut entdeckt wird.“ „Wenn diese hirnlosen Soldaten wieder hier aufmarschieren, kennt bald ganz Adamas unser Versteck“, knurrte Mola leise. „Falls hier ein Trupp Soldaten aufkreuzt, sind wir geliefert!“, rief Ratz schrill. „Dann sitzen wir hier in der Falle und werden einer nach dem anderen niedergemetzelt!“ „Nichts dergleichen wird geschehen!“, grollte Yarshuk wütend. „Brigadegeneral Loronk hat die Kontrolle über die Streitkräfte in Eydar. Sobald sich an dieser Situation etwas ändert, wird er uns augenblicklich informieren.“ Er sah Ratz verächtlich an. „Ihr habt vielleicht euer Leben oder eure Freiheit zu verlieren, aber für den General steht weit mehr auf dem Spiel.“ „Oh ja, sein Rang und sein guter Ruf“, ätzte Mola und verdrehte die Augen. „Das ist natürlich viel mehr wert, als das Leben von siebzig Leuten.“ „So etwas versteht eine Kanalratte wie du nicht“, knurrte Yarshuk gereizt. „Entschuldige bitte, wenn ich nicht mein Kanalrattenleben riskieren möchte, während dein hochwohlgeborener General seinen guten Ruf aufs Spiel setzt!“, zischte Mola gehässig. „Ich kann dir das auch nochmal in allen Einzelheiten erklären…oder in Einzelteilen“, erwiderte Yarshuk drohend und griff nach seiner Streitaxt. Mola sprang auf. „Das will ich sehen!“, rief sie und zog ihren Säbel. „Ich habe gesagt, ihr sollt die Schnauze halten!“, brüllte Fjedor wütend. „Steckt die Waffen weg und beruhigt euch endlich!“ Mola und Yarshuk knurrten unwillig, doch sie gehorchten. Fjedor massierte sich die Nasenwurzel und holte tief Luft. „So. Wo war ich stehen geblieben…“, überlegte er leise und sah dann auf. „Yarshuk, du garantierst also dafür, dass Loronk in Eydar alles unter Kontrolle hat?“ „So ist es“, bestätigte er Ork finster. „Unter diesen Umständen ist auch völlig egal, ob unser ungebetener Besucher Mitwisser hatte oder nicht“, stellte Fjedor fest. „Die einzigen, die uns etwas anhaben können, sind die Soldaten, die Loronk nicht in unseren kleinen Handel eingeweiht hat. Und da er diese befehligt, sind wir sicher. Selbst wenn noch mehr Abenteurer folgen, ist das nicht weiter schlimm. Mit denen werden wir ohne Probleme fertig. Trotzdem werde ich dafür sorgen, dass die Wachen am Eingang der Grotte verdoppelt werden. Nur um sicherzugehen.“ "Das kannst du mir überlassen“, verkündete Mola. "Ich schicke vier meiner Leute in die Eingangshöhle. Die werden schon darauf achten, dass sich hier kein weiterer Schnüffler einschleicht." „Ich könnte Loronk bitten, Patrouillen entlang der Bucht einzuteilen“, schlug Yarshuk vor. „Natürlich unter dem Vorwand der Suche nach den Vermissten. So könnten wir sichergehen, dass niemand diese Höhle entdeckt.“ „Kein schlechter Vorschlag“, brummte Fjedor und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wenn auch nicht gerade subtil. Aber das bringt wieder Ruhe in unsere Reihen. Oder wie siehst du das, Ratz?“ Er sah seinen Oberaufseher fast schon besorgt an. Er hatte beinahe die Nerven verloren und das war das Letzte, was Fjedor im Augenblick brauchen konnte. „Unter diesen Umständen ist unsere Situation wohl doch weniger bedenklich“, gab Ratz zögernd zu. „Na also“, lächelte Fjedor zufrieden. „Es besteht kein Grund zur Sorge.“ Ratz erwiderte sein Lächeln unsicher. Fjedor nahm auf seinem Thron Platz. „Nun, da ihr alle hier versammelt seid, habe ich noch etwas zu verkünden“, hob er an und musste nach Luft schnappen, als er Brynnes drohenden Blick in seinem Nacken spürte. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken und er drehte sich vorsichtig um. Sein Verbündeter starrte ihn aus der Dunkelheit der hinteren Höhlenecke wütend an, aber Fjedor brachte ein entwaffnendes Lächeln zustande und wandte sich wieder seinen Leuten zu. „Unser Freund Brynne Blutbrand wird uns verlassen, sobald Kapitän Veit mit seinem Schiff zurückkehrt“, erklärte er laut. „Ich werde ihn mit einigen meiner Leute begleiten, um ihm einen gebührenden Abschied und eine sichere Reise durch die Düstermarsch zu ermöglichen." "Ach, das meintest du also damit, als du von ein paar Änderungen gesprochen hast“, bemerkte Mola und rümpfte die Nase. Fjedors Augen funkelten gierig. "Ganz genau!", rief er. "Für die Dauer meiner Abwesenheit übertrage ich Ratz das Kommando.“ Der Oberaufseher grinste einfältig und Fjedor warf ihm einen warnenden Blick zu. Mola sprang entrüstet auf. „Was denn?“, japste sie ungläubig. „Du überträgst diesem Nichtsnutz das Kommando? Bist du wahnsinnig?“ „Hüte deine Zunge!“, rief Ratz wichtigtuerisch und schwang drohend seine Peitsche. „Ich bin immerhin der Oberaufseher der Minen!“ Mola warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Fjedor hob schlichtend die Hände. „Beruhigt euch!“, bat er ungeduldig. „Ich bin ja nur ein paar Tage weg. Solange werdet ihr es hoffentlich aushalten, ohne euch gegenseitig die Schädel einzuschlagen.“ „Darauf würde ich mich nicht verlassen“, brummte Mola beleidigt. „Schluss jetzt!“, rief Fjedor gereizt. „Ich habe mich entschieden und ihr habt das gefällig zu respektieren.“ „Na schön“, gab Mola kleinlaut nach. „Aber wenn er meint, mir Befehle erteilen zu müssen, schneide ich seine Peitsche in kleine Stückchen.“ „Du hast es gehört, Ratz“, grinste Fjedor. „Keine Befehle für Mola. Und für unseren orkischen Freund auch nicht, klar? Den Rest kannst du nach Belieben rumkommandieren.“ „Verstanden, Fjedor!“, erwiderte Ratz und wirkte dabei ein wenig niedergeschlagen. „Sehr schön!“, sagte Fjedor und klatschte zufrieden in die Hände. „Dann könnt ihr euch jetzt alle wieder verziehen! Und Mola, du nimmst gefälligst deine Ratte mit!“ Ratz, Yarshuk und Mola kamen seiner Aufforderung nach und verließen schlendernd die Thronhöhle. Kaum waren sie weg, konnte Fjedor hören, wie Brynne mit seinen Fingernägeln über die Holzkisten kratzte, auf denen er saß. „Was sollte das?“, knurrte er drohend. „Wir haben uns doch entschieden, diesen Ork nicht einzuweihen.“ Fjedor drehte sich zu Brynne um. „Was soll schon passieren?“, fragte er und war darum bemüht, seine Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen. „Von deinen wahren Plänen weiß er ja immer noch nichts. Und er wäre bestimmt misstrauisch geworden, wenn ich ohne Erklärung für ein paar Tage fort gewesen wäre." „Schon gut“, gab Brynne verärgert zurück. „Ich bin immer noch der Meinung, dass es ein Fehler war, sich mit dem Ork einzulassen.“ „Oh, das sollte schon bald nicht mehr deine Sorge sein“, erwiderte Fjedor und machte eine abwinkende Handbewegung. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“ „Ich will mit der Heilerin sprechen“, verlangte Brynne. Fjedor hob überrascht die Brauen, doch dann gab er Nironil einen Wink. „Hol Indra!“, befahl er seinem Leibwächter. Der Waldelf zögerte und warf Brothain einen nervösen Blick zu. „Geh schon“, flüsterte Fjedor ihm zu. „Du kannst mich kurz allein lassen. Ich bin nicht in Gefahr. Brynne braucht mich noch.“ Nironil schien noch immer Bedenken zu haben, doch er nickte und eilte davon. Kaum war er verschwunden, da bereute Fjedor auch schon, dass er seinen Leibwächter fortgeschickt hatte. Alleine in Brynnes Anwesenheit fühlte er sich unwohl. Er spürte, wie der frühere Schüler des Wolkentempels ihn musterte und plötzlich war sein Hals ganz trocken. Fjedor räusperte sich mehrmals, während sich die Minuten endlos in die Länge zogen. Als Nironil endlich zurückkehrte, japste Fjedor vor Erleichterung auf. Der Waldelf hatte Indra im Schlepptau. Schüchtern und sichtlich nervös betrat die junge Heilerin die Thronhöhle und neigte unterwürfig den Kopf vor Fjedor. „Ihr wünscht?“, fragte sie ängstlich. Der Schmugglerkönig hob abwehrend die Hand. „Ich habe dich nicht rufen lassen“, erklärte er und deutete in die dunkle Ecke der Höhle. Bei Brothains Anblick zuckte Indra verschreckt zusammen. Vorsichtig näherte sie sich dem Dunkelelfen mit den steinharten Gesichtszügen. „Was…was kann ich für Euch tun?“, erkundigte sie sich stotternd. „Du kümmerst dich also um Viland?“ Indra stieß einen spitzen Schrei aus, als plötzlich Brynnes Stimme aus der Dunkelheit erklang. Sie starrte panisch in die Finsternis und riss erschrocken die Augen auf, als sie dort die Umrisse eines Menschen erkannte. „Entschuldige“, sagte Brynne und seine Stimme klang ruhig und friedlich. „Ich wollte dir keine Angst einjagen. Du bist die Heilerin?“ Indra nickte hastig. „Du musst wissen, dein Patient ist einer meiner Leibwächter“, fuhr Brynne fort. „Ich wollte mich nach seinem Zustand erkundigen.“ Indra fand nur mit Mühe ihre Sprache wieder. „Er…er schläft“, stotterte sie. „Und…und er ist…er ist noch sehr schwach. Aber er wird überleben.“ „Braves Mädchen“, sagte Brynne. „Das wollte ich hören.“ Obwohl er noch immer ruhig und bedächtig sprach, jagte der Klang seiner Stimme eiskalte Schauer über Indras Rücken. „Ist er in den nächsten Tagen wieder bereit, sich auf einen anstrengenden Fußmarsch zu begeben oder zu kämpfen?“, fragte er. „Auf keinen Fall!“, rief Indra erschrocken. „Er ist schwer verletzt! Ich muss ihn bestimmt noch ein paar Tage im Auge behalten.“ „Bedauerlich“, äußerte Brynne. „Er ist für mich sehr wichtig, weißt du? Unter diesen Umständen wirst du uns wohl begleiten müssen.“ Indra wirbelte herum und starrte Fjedor an. Es war seltsam, dass sie sich auf der Suche nach Hilfe ausgerechnet an den Schmugglerkönig wandte, doch dieser zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Heute Nacht wirst du uns auf das Schiff begleiten“, entschied Brynne und nun klang seine Stimme wieder hungrig und boshaft. „Und du wirst Viland gesundpflegen, bis er wieder seine Axt halten kann!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)