Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 18: ------------ In einem anderen Bereich des Höhlensystems thronte der Anführer der Schmuggler auf einem behelfsmäßig hergerichteten Stuhl aus Vorratskisten und Getreidesäcken. Fjedor war einer von vielen Barbaren aus Isenheim, die ihre Heimat verlassen hatten, um plündernd und brandschatzend durch das Landesinnere von Adamas zu ziehen. Das Einschreiten der Kaiserlichen Armee hatte die Vorzeichen auf der Halbinsel aber dramatisch geändert. Das Inland von Adamas war längst ausgebeutet und die meisten Bewohner waren an die Küste geflüchtet, wo sie unter dem Schutz der Armee lebten. Die wenigen Siedlungen, die im Landesinneren noch nicht verlassen waren, stellten längst keine lohnenden Ziele für Überfälle mehr da. Die Einwohner waren verarmt und hungrig und entsprechend mager fielen die Beutezüge der Räuber und Plünderer aus. Eine umso größere Rolle spielte der Schmuggel verschiedenster Waren. Anfangs hatten Fjedor und seine Banditen Reisende überfallen, die sie bis aufs letzte Hemd ausgeraubt hatten. Alles von Wert, egal ob Waffen oder Werkzeuge, Rüstungen oder Kleidung, Alkohol oder Gewürze, hatten die Schurken dann nach Ganestan verschifft und dort unter der Hand verkauft. Besonders reich war Fjedor dadurch nicht geworden, doch seit man ihn auf die verborgene Grotte aufmerksam gemacht hatte, lief der Schmuggel deutlich besser. Sturmerz war ein beliebtes Metall, denn es war robust und trotzdem einfach zu bearbeiten. In Ganestan gab es überhaupt keine Vorkommen des seltenen Erzes, man fand es ausschließlich in Shalaine. Entsprechend wertvoll war das Metall für Schmiede und Waffenhändler in Ganestan und dieser Umstand hatte Fjedor in kürzester Zeit großen Reichtum beschert. Für eine kleine Kiste voll Sturmerz bekam er bereits mehr Geld, als er jemals bei einem seiner Raubzüge durch das Landesinnere von Adamas erbeutet hatte. Mittlerweile bezeichnete er sich selbst als Schmugglerkönig und dieser Beiname war nicht nur ein Fantasieprodukt seiner Arroganz. Während die anderen Räuberbanden in der Gegend ein Leben wie Bettler führten, mangelte es Fjedors Leuten an nichts. Der illegale Handel mit dem Sturmerz warf so viel Gewinn ab, dass für seine Handlanger mehr als genug Geld übrigblieb, um ein zufriedenes Leben führen zu können. Jeder der Schmuggler hätte sich jederzeit absetzen können, um sich an einem anderen Ort eine neue Existenz aufzubauen, doch die Gier hielt sie alle unter Fjedors Fuchtel. Selbst die kleinen Gauner in seiner Bande hatten inzwischen bemerkt, dass der Schmuggel von Sturmerz eine wahre Goldgrube war und keiner von ihnen war bereit, für ein friedliches Leben am anderen Ende der Welt auf derart einfach verdientes Geld zu verzichten. Für den Warentransport war Veit zuständig. Fjedor war einst mit ihm von Isenheim nach Adamas gesegelt und seither standen die beiden Männer in engem Kontakt. Veit war im Besitz eines kleinen, wendigen Zweimasters, mit dem er die Schmuggelware nach Ganestan und Verpflegung zum Schlupfwinkel der Banditen transportierte. Er war ein erfahrener Seemann und auch wenn er sich selbst nicht die Finger schmutzig machte, waren er und seine Mannschaft unentbehrlich für Fjedors Erfolg als Schmuggler. Veit kannte das Binnenmeer wie seine Westentasche und obwohl die Schiffe der Kaiserlichen Armee die Küstengebiete kontrollierten, gelang es ihm immer, durch ihre Blockaden hindurch zu schlüpfen. Er wusste um die kleinsten Strömungen und Untiefen und entkam dank seiner Ortskenntnis auch den verzwicktesten Situationen. Fjedor wusste, was er Veit zu verdanken hatte, zumal der Kapitän keinen besonders hohen Lohn für seine risikoreiche Arbeit verlangte. Die Dunkelelfen, die dem Schmugglerkönig folgten, waren ein wild zusammen gewürfelter Haufen. Die meisten von ihnen hatten sich jahrelang auf eigene Faust durchgeschlagen und dabei nur wenig Erfolg gehabt. Fjedor war für sie ein Anführer, der ihre Stärken bündeln und koordinieren konnte. Auch Mola hatte vor den Führungsqualitäten des Schmugglerkönigs kapitulieren müssen. Ursprünglich waren ihre Leute die gefürchtetsten Räuber von Adamas gewesen, doch auch sie hatte die Umsiedelung der vielen Bewohner hart getroffen. Fjedor hatte sich ihre Bande einfach einverleibt, indem er sie mit Gold gelockt hatte. Mola genoss unter ihren früheren Anhängern zwar immer noch eine gewisse Autorität und hatte sich und Fjedor lange Zeit als gleichgestellt betrachtet, doch inzwischen war auch der alten Dunkelelfe klar geworden, dass der Schmugglerkönig die Zügel allein in der Hand hielt. Sie hatte sich mit ihrer neuen Position abgefunden und gehörte immerhin noch zu den Unterführern der Schmugglerbande. Inzwischen unterstanden Fjedor fast siebzig Banditen, die in den weit verschlungenen Gängen des Höhlensystems herumlungerten, die Düstermarsch nach neuen Opfern durchstreiften oder die Arbeiter beaufsichtigten. Hinzu kam das Dutzend Seeleute aus der Mannschaft von Veit. Jeder der vierzehn Sklaven baute am Tag durchschnittlich eine halbe Kiste Sturmerz ab und die Förderung wurde sukzessive erhöht. Die Soldaten in Eydar und Khaanor waren völlig ahnungslos und alles war reibungslos vonstattengegangen, bis es Loronk gelungen war, die Schmuggler aufzustöbern. Mola und ihr Lumpenpack waren dem Brigadegeneral unvorsichtigerweise direkt in die Arme gelaufen und der Ork hatte sie gezwungen, den Schlupfwinkel und die Machenschaften der Schmuggler zu offenbaren. Glücklicherweise hatte sich Loronk als korrupter Opportunist entpuppt und so hatte Fjedor aus der Not eine Tugend gemacht. Der Brigadegeneral sorgte dafür, dass den Schmugglern die Soldaten aus Eydar nicht in die Quere kamen und im Gegenzug überließ Fjedor ihm die Hälfte des Gewinns aus dem Handel mit dem Sturmerz. Für den Schmugglerkönig blieb immer noch mehr als genug Geld übrig und Loronk lieferte ihn nicht ans Messer. Fjedor drehte gerade einen bläulich schimmernden Erzklumpen zwischen seinen Fingern, als Yarshuk erschien. Als Loronks Fähnrich war er in der Mine stationiert worden, um darauf zu achten, dass man den Brigadegeneral nicht hinterging. Nironil, Fjedors Leibwächter, trat dem Ork entschlossen entgegen und Yarshuk blieb in einiger Entfernung grimmig stehen. Nironil war ein blonder Waldelf und machte in seiner einfachen Leinenkleidung nicht besonders viel her, doch er war ein mächtiger Magier, der verheerende Feuerzauber wirken konnte. Außerdem war Nironil wie fast jeder Abkömmling seines Volkes ein begnadeter Bogenschütze. „Als würde man nach purem Gold schürfen“, murmelte der Fjedor abwesend und betrachtete das wertvolle Mineral. Unter seinen blassblauen Augen lagen dunkle Ringe und eine krumme Narbe, die sich von seinem Jochbein bis zu seinem Unterkiefer zog, entstellte seine linke Gesichtshälfte. Yarshuk räusperte sich und Fjedor sah auf. „Brigadegeneral Loronk entsendet seine Grüße“, verkündete der Fähnrich knurrend. „Er hat Euch drei neue Sklaven beschafft.“ „Der General nimmt seine Aufgabe ja richtig ernst!“, erwiderte Fjedor und grinste boshaft. Er gab Nironil einen Wink und der Waldelf trat wieder zurück an seine Seite. „Aber in erster Linie soll er dafür sorgen, dass uns die Soldaten nicht in die Quere kommen.“ „Loronk lässt Euch ausrichten, dass er die Kontrolle in Eydar an sich gerissen hat“, fuhr Yarshuk fort. „Ausgezeichnet!“, rief Fjedor. „Dann bleiben nur noch die Stümper in Khaanor und Tareglir hat berichtet, dass sie ihre Patrouillen durch die Düstermarsch eingestellt haben. Richte deinem General aus, dass ich inzwischen sehr zufrieden mit unserer Zusammenarbeit bin.“ Er drehte seinen Kopf und wandte sein Gesicht der dunkelsten Ecke der Höhle zu. „Hast du das gehört? Neue Sklaven! Dadurch wird der Erzabbau weiter forciert. Ich hoffe, wir finden bald, wonach du suchst. So gut, wie das Geschäft läuft, hast du allmählich eine Gegenleistung verdient.“ Im hinteren Teil der Grotte war aus Kisten ein weiterer Thron errichtet worden, der von zwei großgewachsenen Wächtern flankiert wurde. Einer von ihnen war ein stämmiger Mensch aus Isenheim, der eine stählerne, zweischneidige Streitaxt an seinem Gürtel trug. Der andere Wächter war ein ganz in schwarz gekleideter Dunkelelf mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck. Seine Waffe war ein schmaler Dolch, der in einer schlichten Lederscheide steckte. Auf dem Thron zwischen den beiden respekteinflößenden Wachen saß ein schlanker Mann in einer weiten, zerschlissenen Robe, dessen Gesicht in Schatten gehüllt war. Dürre Arme ragten unter dem groben Stoff hervor und eine fleckige Hand mit langen, feingliedrigen Fingern umklammerte den Knauf eines blitzenden Langschwerts. Struppiges Haar fiel in dicken Strähnen über schmale Schultern und aus dem Dunkel des Höhlenbereichs ertönte ein krächzendes Kichern. „Das hoffe ich ebenfalls sehr, mein lieber Fjedor. Dann ist deine Schuld bei mir endlich beglichen. Dem Schmugglerkönig und dem orkischen Fähnrich stellten sich beim Klang der Stimme die Nackenhaare auf. Der Mann auf dem behelfsmäßigen Thron beugte sich nach vorn in den Schein einer Fackel. Das eingefallene, stoppelbärtige Gesicht war auf der linken Seite von hässlichen Narben übersät, die wie Brandwunden aussahen. Die Backe war von den Verletzungen durchlöchert und vergrößerte den Mund mit den blassen Lippen auf groteske Art und Weise. Blutunterlaufene, hungrige Augen lagen unter buschigen Brauen und die markanten Wangenknochen traten deutlich unter der bleichen Haut des Mannes hervor. Der Braunton seiner langen Haare war stumpf und glanzlos. „Ich kann es kaum erwarten, Brynne.“ Fjedor konnte nur mit Mühe verhindern, dass seine Stimme nicht versagte. Er spürte, wie ihm ein dicker Schweißtropfen über die Wange lief. Brynne Blutbrand stammte wie Fjedor aus Isenheim, doch im Gegensatz zu dem selbsternannten Schmugglerkönig strahlte er eine Aura aus, die bloße Führungsqualitäten überstieg. Er verbreitete Angst durch bloße Anwesenheit und Fjedor fragte sich, wie seine beiden Leibwächter Viland und Brothain in seiner Gegenwart so ruhig bleiben konnten. Selbst mit Nironil an seiner Seite fühlte sich Fjedor nicht besonders wohl in seiner Haut. Insgeheim verfluchte sich der Schmugglerkönig dafür, dass er sich bereit erklärt hatte, mit Brynne gemeinsame Sache zu machen. Er war es gewesen, der Fjedor auf die reichen Sturmerzadern unter dem kleinen Berg an der Küste aufmerksam gemacht hatte. Brynne war an dem wertvollen Metall selbst nicht interessiert, sondern suchte in den Minen nach etwas anderem, das er als Blitzstein bezeichnete. Fjedor hatte davon noch nie gehört, aber die Tatsache, dass Brynne weder für sich, noch für seine Handlanger eine Beteiligung an dem Erlös durch den Erzhandel verlangte, war Grund genug für den Schmugglerkönig gewesen, sich auf ein Abkommen mit dem mysteriösen Kerl einzulassen. Brynne überließ Fjedor das Feld, ließ ihn Befehle erteilen und Entscheidungen treffen und hielt sich selbst immer im Hintergrund. Der Schmugglerkönig wusste fast nichts über seinen Verbündeten. Ihm war lediglich bekannt, dass Brynne unter einer seltenen, unheilbaren Krankheit litt, die dafür sorgte, dass seine Haut bei Kontakt mit Sonnenlicht verbrannte. Die Auswirkungen der Erkrankung waren deutlich zu sehen. Es war pures Tageslicht gewesen, das Brynnes Gesicht entstellt hatte. Er mied die Sonne und hielt sich in Höhlen und dichten Wäldern auf, wo ihn seine Krankheit nicht behinderte. Fjedor waren nicht einmal Brynnes Absichten bekannt, aber er hoffte, dass sein Verbündeter einfach verschwand, wenn er hatte, was er wollte. Brynnes Gegenwart machte ihn allmählich nervös. Yarshuk war deutlich anzusehen, dass es ihm keinen Deut besser erging. Der Ork murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und entschuldigte sich. Dann drehte er sich hastig um und verschwand eilig in den gewundenen Gängen. Nur Nironil blieb ruhig und lieferte sich ein grimmiges und stummes Blickgefecht mit Brynnes Leibwächtern. Schließlich lehnte sich Brynne wieder zurück und Fjedor atmete erleichtert auf, als sein entstelltes Gesicht in den Schatten verschwand. „Viland, sei doch bitte so gut und löse unsere gemeinsamen Freunde ab, die am Eingang der Grotte Wache halten.“ In Brynnes Stimme schwang gefährliche Freundlichkeit mit und seine Worte waren keine Bitte, sondern ein Befehl. Der stämmige Mann aus Isenheim tätschelte seine Axt und neigte unterwürfig den Kopf. „Wie Ihr wünscht, Meister“, erwiderte er gehorsam und trottete davon. Fjedor blickte Viland nervös hinterher. Auch mit nur einem Mann als Garde wirkte Brynne nicht weniger bedrohlich. Brothain, der dunkelelfische Leibwächter, blieb regungslos stehen und zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. „Mir wäre es lieber gewesen, du hättest die Soldaten getötet“, bemerkte Brynne kühl. „Dieser Loronk ist zu neugierig. Ich traue ihm nicht.“ „Keine Sorge“, versicherte Fjedor hastig und warf den Klumpen Sturmerz in eine randvoll gefüllte Kiste mit abgetragenem Metall. „Er steckt viel zu tief in dieser Sache drin. Wenn er uns verrät, liefert er sich selbst ans Messer.“ „Dann hoffe ich für ihn, dass er ein vernünftiger Ork ist.“ Fjedor sah Brynnes Gesicht nicht, doch er spürte instinktiv, wie sein Verbündeter das eingefallene Gesicht zu einem animalischen Grinsen verzog. Loronk hatte sich geirrt. Seine Machenschaften waren nicht unentdeckt geblieben und dabei war ihm seine eigene Vorgehensweise zum Verhängnis geworden. Tyra hatte alles gesehen und jedes Wort gehört. Noch am Vormittag hatte sie sich auf einen weiteren Streifzug in die Düstermarsch begeben. Nach Craig hatte sie nicht gesucht und nachdem er ihr nicht über den Weg gelaufen war, hatte sie sich entschieden, alleine loszuziehen. Besonders nützlich war der Blondschopf schon bei ihrem ersten Abstecher in den Sumpf nicht gewesen. Er hatte sie nur mit seinen ständigen Fragen gelöchert. Tyra hatte ursprünglich den Plan gehabt, noch ein wenig nach den Vermissten zu suchen und dann, falls sie dabei erneut keinen Erfolg hatte, nach Norden weiterziehen. Sie hatte von den Wolkenbergen und dem Tempel auf dem höchsten Gipfel des Gebirgszugs gehört und sich ein neues Ziel gesetzt. Diesmal war sie deutlich aufmerksamer, als bei ihrem ersten Ausflug in die Düstermarsch. Sie wollte frühzeitig bemerken, dass sie jemand beschattete, und dabei war es äußerst hilfreich, keine Plaudertasche wie Craig am Hals zu haben. Doch so angestrengt sie auch lauschte, sie bemerkte keine Anzeichen für einen möglichen Verfolger. Dafür lief sie kurze Zeit später um ein Haar Loronk in die Arme. Der Ork hatte einen Trupp Soldaten und drei Männer im Schlepptau, die aufgrund ihrer gefesselten Hände stark nach Gefangenen aussahen. Tyra wurde sofort misstrauisch und heftete sich an die Fersen des Brigadegenerals und seiner Patrouille. Als die Soldaten die Bucht erreichten und Halt machten, ging die Abenteurerin hinter einem großen Felsen in Deckung und spähte durch ein Dickicht aus Farnen und Sumpfpflanzen. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie alles ganz genau sehen und hören. Sie sah, wie sich die Bluthechte langsam aus der Bucht zurückzogen und schließlich über ihre eigenen Artgenossen herfielen, wie Loronk langsam ungeduldig wurde und den am Ufer zurückgebliebenen Raubfisch aufspießte, wie die Soldaten ein Feuer entzündeten und der Wasserpegel in der Bucht immer weiter sank. Und Tyra sah, wie das Wasser den schmalen Pfad am Nordufer freilegte und eine Horde zwielichtiger Gestalten hinter dem Hügel hervorkam. Sie hörte, wie sich die Anführerin der Dunkelelfen mit Loronk über Sturmerz, ihre Arbeiter in der Mine und die Kontrolle über Eydar unterhielten. Und mit einem Mal war der jungen Abenteurerin alles klar. Sie wusste jetzt, dass die Bande aus Dunkelelfen hinter dem Verschwinden der Leute steckte. Sie überfielen Reisende und verschleppten sie, um sie in ihrer Mine schuften zu lassen. Loronk hatte ein Schiff erwähnt und für Tyra stand fest, dass er sich mit dem Schmuggel von Sturmerz ein zusätzliches Gehalt verdiente. Sie verstand jetzt auch, warum bislang niemand eine Spur entdeckt und den Schlupfwinkel der Banditen aufgestöbert hatte. Der schmale Pfad, der offensichtlich in ihren Unterschlupf führte, lag nur bei Ebbe für kurze Zeit über der Wasseroberfläche. Ansonsten war das, was jenseits des Hügels lag, aufgrund der Bluthechtschwärme in der Bucht unmöglich zu erreichen. Außerdem war es den Banditen bislang immer gelungen, einen Bogen um Lexa und die Patrouillen der Armee zu machen, wenn diese sich auf Spurensuche in die Düstermarsch begaben. Loronk hatte etwas von einem Spitzel gesagt, den er bezahlen musste. Offenbar gab es einen geregelten Informationsaustausch zwischen den Banditen in der versteckten Mine und Loronk in Eydar. Tyra wusste zwar noch nicht, wie diese Nachrichten überbracht wurden, aber das erklärte, weswegen die Schurken immer darüber Bescheid wussten, wenn ein Reisender des Weges kam oder eine Patrouille im Anmarsch war. Alle Rätsel waren auf einen Schlag gelöst. Selbst das Verschwinden von Loronks Fähnrich hatte sich aufgeklärt. Er war den Gaunern nicht in die Hände gefallen, sondern sorgte in ihrem Schlupfwinkel dafür, dass alles nach Loronks Geschmack ablief. Mit diesem Wissen wäre es Tyra ein Leichtes gewesen, nach Eydar zurückzukehren, dort Bericht zu erstatten und die ganze Schmugglerbande auffliegen zu lassen. Aber sie dachte nicht einmal im Traum daran, den Soldaten etwas zu erzählen. Abenteuerlust flackerte in ihren Augen, als sie sich entschied, sich alleine um die Schurken zu kümmern. Die Wege von Loronk und den dunkelelfischen Schmugglern trennten sich wieder. Die Banditen nahmen den Gefangenen mit, den Loronk ihnen ausgeliefert hatte. Tyra wartete noch einen Moment, bis sie sich sicher war, dass sowohl die Soldaten, als auch die Verbrecher verschwunden waren, ehe sie aus ihrem Versteck kam. Langsam und vorsichtig näherte sie sich der Bucht. Das Wasser war deutlich angestiegen und hatte den schmalen Uferpfad wieder bedeckt. Auch die Bluthechte waren zurückgekehrt. Im Schwarm lauerten sie dicht unter der Wasseroberfläche und stierten hungrig zu Tyra hinauf. Die Bucht zu betreten war selbstmörderisch. Für den Augenblick war ihr der Weg versperrt. Tyra kickte einen Stein ins Wasser. Die Bluthechte stoben wütend auseinander. „Mistviecher“, brummte Tyra verärgert und spähte über die Bucht, dorthin, wo die Banditen verschwunden waren. Es musste noch einen anderen Weg auf die andere Seite des Hügels geben. Und wenn man ihn nicht umrunden konnte, bestand vielleicht die Möglichkeit, dass man ihn überqueren konnte. Tyra warf einen flüchtigen Blick ins Unterholz, wo sich die Riesenratten tummelten. Dann begann sie mit dem Aufstieg. Der Hügel war stark bewaldet und bot viel Deckung. Außerdem stieg das Gelände nur sanft an, sodass Tyra rasch vorankam. Schnell befand sie sich hoch über dem Meeresspiegel und durch die Bäume hindurch bat sich ihr eine atemberaubender Aussicht auf die ruhige See, auf deren Oberfläche das Wasser der Nachtmittagssonne glitzerte. Doch Tyra hatte keinen Blick dafür übrig. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Dickicht und behielt die Umgebung im Auge. Plötzlich fiel das Gelände vor ihr steil ab. Die Abenteurerin unterdrückte einen erschrockenen Aufschrei und hielt sich reflexartig am Stamm eines Baumes fest, als ihr rechter Stiefel um ein Haar ins Leere trat. Unter ihr befanden sich steile Klippen und der Weg nach unten war tief. Tyra schätzte, dass sie sich fünfzehn oder sogar zwanzig Meter über dem Meeresspiegel befand. Es war, als wäre der Hügel in der Mitte von einem riesigen Messer in zwei Teile gespalten und eine Hälfte im Meer versenkt worden. Vorsichtig spähte Tyra in die Tiefe. Sie konnte deutlich eine große Öffnung in der Felswand erkennen, die sie als Grotte identifizierte. Die Abenteurerin wusste sofort, dass sie den Unterschlupf der Gauner entdeckt hatte. Nun musste sie nur noch herausfinden, wie sie diese Höhle am besten betreten konnte. Vermutlich gab es noch einen zweiten Eingang irgendwo auf der anderen Seite des Hügels. Tyra konnte sich nicht vorstellen, dass die Schmuggler riskierten, bei Flut in der Grotte festzusitzen. Außerdem bestand die Gefahr, dass das gesamte Höhlensystem bei einem Unwetter überschwemmt wurde. Ohne einen Hinterausgang konnte die Grotte schnell zur Todesfalle werden. Doch falls es einen zweiten Eingang tatsächlich gab, hatten die Schmuggler ihn vermutlich gut getarnt. Es konnte Stunden dauern, ihn zu finden, und Tyra war nicht besonders geduldig. Deshalb entschied sie sich, an dieser Stelle nach unten zu klettern. Das Wasser ragte inzwischen bis an die Klippen heran und in die Grotte hinein, aber die Abenteurerin entdeckte einen schmalen Steinsims, der noch über dem Meeresspiegel lag. Die Felswand war aber zu steil, als dass Tyra ohne Hilfe hätte hinunterklettern können. Deshalb holte sie ein langes Seil aus ihrem Rucksack, schlang es um den Stamm eines Baumes, der am Rande der Klippe stand, und ließ sich an dem Tau langsam und vorsichtig die Felswand hinunter. Der Strick reichte nicht bis ganz nach unten, aber auf halber Strecke wurden die Klippen schroffer und boten Tyra die Möglichkeit, mit Händen und Füßen weiter zu klettern. Gerade als sie auf einem spitz aufragenden Felsen Halt suchte, nahm sie unter sich eine Bewegung wahr. Sie fluchte leise, als sie erkannte, dass der Eingang der Grotte von zwei Dunkelelfen bewacht wurde. Die beiden Schmuggler standen auf beiden Seiten des schmalen Wassergrabens, der in die Höhle hineinragte. Sie trugen keine Rüstungen, waren aber bewaffnet. Tyra sah deutlich die schartigen Dolche, die in ihren Gürteln steckten. Die Abenteurerin zögerte kurz. Sie konnte die Grotte nicht einsehen und wusste nicht, wie viele der Schmuggler in ihrem Inneren noch lauerten. Trotzdem war sie noch immer fest entschlossen, die Höhle auszukundschaften und sich einen Überblick über die Situation dort zu verschaffen. Wenn sie der Meinung war, die Banditen einen nach dem anderen ausschalten zu können, wollte sie sich mit ihnen anlegen. Falls sich jedoch herausstellen sollte, dass es zu viele waren, um alleine mit ihnen fertig zu werden, konnte sie immer noch nach Eydar zurückkehren und dem Orden von Loronks Machenschaften berichten. In jedem Fall würde sie als die Frau gefeiert werden, die das Rätsel um das Verschwinden der Leute gelöst hatte. Die beiden Wachposten am Höhleneingang schienen jedenfalls kein großes Problem zu sein. Sie wirkten gelangweilt und schienen nicht damit zu rechnen, dass auch von oben Gefahr drohen könnte. Trotzdem wollte es Tyra nicht auf eine direkte Konfrontation mit beiden ankommen lassen. Sie achtete genau darauf, dass ihre Stiefel keine Steinchen lösten, als sie nach Halt suchte, ließ das Seil los und kletterte vorsichtig weiter. Die hohen Felsen verbargen nicht nur den Eingang der Grotte, sondern schützten sie auch vor den Blicken der beiden Dunkelelfen. Die Abenteurerin zog ein Messer, dessen Klinge sie sich zwischen die Zähne klemmte. Dann zog sie einen weiteren Dolch und ging auf einem Felsvorsprung gut drei Meter über dem Erdboden in die Hocke. Prüfend wog sie die Waffe in ihrer Hand, dann nahm sie Maß und schleuderte das Messer kraftvoll auf den Wachposten, der weiter von ihr entfernt war. Es war ein perfekter Wurf. Die Klinge drehte sich mit tödlichem Surren um ihren Schwerpunkt und fuhr dem Dunkelelfen direkt zwischen die Schulterblätter. Der Mann gab einen erstickten Laut von sich und kippte dann nach vorne um. Der andere Wachposten wirbelte herum und erstarrte vor Schreck, als er sah, wie sein Kamerad in sich zusammensackte. Tyra ließ ihm keine Zeit, nach dem Angreifer Ausschau zu halten. Sie zog das zweite Messer zwischen ihren Zähnen hervor und warf es mit todbringender Präzision. Die Klinge traf den Mann in den Rücken und auch er fiel auf der Stelle regungslos um. Tyra verharrte noch kurz auf ihrem Felsvorsprung. Aus dem Inneren der Grotte kamen außer dem stetigen Tropfen von Wasser keine weiteren Geräusche. Als sie sich schließlich sicher war, dass die beiden Dunkelelfen die einzigen Wachposten gewesen waren, kletterte sie geschickt die Felsen hinunter und trat in die Höhle. Sie bückte sich über die Leiche des ersten Mannes und zog ihr Messer aus seinem Rücken. „Nichts für ungut“, murmelte sie leise und stieß den Toten mit dem Stiefel ins Wasser. „Ihr seid einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.“ Die Bluthechte lauerten bereits und stürzten sich sofort auf den Leichnam. Tyra sprang über den Graben hinweg und stieß auch den zweiten Dunkelelfen ins Wasser, nachdem sie sich auch ihr anderes Messer zurückgeholt hatte. Vorsichtshalber hievte sie ihren Schild von der Schulter, schlüpfte mit dem linken Unterarm in die Lederschlaufen und zog mit der rechten Hand ihr Schwert. Dann sah sie sich in der Höhle um. Bläulich schimmerndes Licht fluoreszierender Pilze und Algen umgab sie. An der Decke waberte die Reflexion des von den Bluthechten aufgewühlten Wassers. Der Untergrund war feucht und glitschig und Tyra setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Ihr fiel sofort auf, dass die Grotte ihre Tücken barg. Im Boden klafften tiefe, mit Wasser gefüllte Löcher und die Abenteurerin sah die spitzen Zähne der Bluthechte, die dort lauerten. In dieser Höhle hatte ein Fehltritt sogar noch gravierendere Folgen als draußen in der Düstermarsch. Tyra überlegte, ob sie eher in einem Tümpel aus Schlamm ertrinken oder doch lieber von Bluthechten zerfleischt werden wollte, und kam gerade zu dem Schluss, dass beides kein besonders angenehmer Tod war, als sie ein Geräusch aufhorchen und Kampfstellung einnehmen ließ. Schwere Stiefel traten in Wasserpfützen und bevor Tyra in Deckung gehen konnte, trat ein großgewachsener Mann aus einem breiten Gang im hinteren Teil der Grotte. Die junge Abenteurerin erkannte den Fremden sofort als einen ursprünglichen Bewohner Isenheims. Er war mit einer Streitaxt bewaffnet und trug einen einfachen Brustpanzer aus Leder, der an den Schultern und Oberarmen mit robusten Kettengliedern verstärkt war. Der Mann entdeckte Tyra und blieb überrascht stehen. „Wie bist du hier reingekommen?“, fragte er verblüfft. „Na, durch den Eingang“, antwortete Tyra frech und schwang prüfend ihr Schwert. „Klugscheißerin“, knurrte der Mann und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Wer bist du? Und wo sind die Wachen?“ „Die gehen eine Runde schwimmen“, entgegnete Tyra und deutete mit der Schwertspitze hinter sich, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. „Das wirst du noch bereuen“, grollte ihr Gegenüber drohend und zog seine Axt aus dem Gürtel. „Ich habe dich gefragt, wer du bist!“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, gab Tyra lässig zurück. „Aber wenn du das unbedingt wissen möchtest, solltest du dich vielleicht erst einmal selbst vorstellen.“ Der großgewachsene Mann glotzte sie zornig an. Tyra konnte ihm ansehen, dass er darüber nachdachte, ob er antworten oder lieber direkt zuschlagen sollte. Vorsichtshalber tastete sie mit ihrer linken Hand, an der ihr Schild hing, nach dem Griff eines Wurfmessers. Die Schultern des Mannes strafften sich. „Man nennt mich Viland“, brummte er reserviert. „Und wer immer du bist, es war ein großer Fehler, dass du hierhergekommen bist.“ „Das bleibt abzuwarten. Ich bin Tyra aus den Eismarschen. Du stammst ebenfalls aus Isenheim, nicht wahr?“ Viland wich einen Schritt zurück und verengte die Augen zu Schlitzen. „Wenn du glaubst, dass ich aufgrund unserer gemeinsamen Heimat Gnade walten lasse, bist du auf dem Holzweg!“, dröhnte er. „Aber ich gebe dir die Chance, dich zu ergeben! Das Ergebnis ist dasselbe, aber du ersparst dir die Prügel deines Lebens, du Rotzgöre!“ Tyra grinste angriffslustig. „Das beleidigt mich. Du solltest doch wissen, dass sich unsereins nicht so einfach ergibt. Und wir schuften auch nicht für so ein Lumpenpack in einer Mine am Arsch der Welt!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)