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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Loronk ging im Kerker auf und ab und spähte in die Zellen. Farniel und Vox, die ihn angsterfüllt anstarrten, würdigte er nur mit abschätzigen Blicken, doch vor dem Gitter, hinter dem Vance saß, blieb der Ork grinsend stehen.

„Der sieht kräftig aus“, stellte er knurrend fest und wirkte sehr zufrieden. „Fähnrich, gebt mir die Schlüssel.“

„Was habt Ihr vor?“, erkundigte sich Jel vorsichtig, ohne jedoch Anstalten zu machen, dem Ork den geforderten Schlüsselbund auszuhändigen.

„Ich bin Euch keine Rechenschaft schuldig, Fähnrich“, erwiderte Loronk und seine Stimme klang gereizt und drohend.

Jel trat einen Schritt zurück. „Bei allem Respekt, Brigadegeneral. Ich muss wissen, was Euer Vorhaben ist. Schließlich bin ich für diesen Kerker und seine Insassen verantwortlich.“

„So?“, höhnte Loronk. „Wenn das so ist, entbinde ich Euch von dieser Verantwortung. Und jetzt gebt mir die Schlüssel!“

Loronks Stimme wurde ungeduldig und er streckte Jel auffordernd die Hand entgegen. Der Kerkermeister zögerte noch einen Augenblick. „Es wurde noch nicht entschieden, wie mit dem Gefangenen verfahren werden soll“, murmelte er halbherzig.

„Diese Entscheidung habe ich gerade getroffen“, knurrte Loronk und das Grinsen auf seinem Gesicht erstarb. „Ich habe hier das Sagen, habt Ihr das schon vergessen? Und wenn ich Euch befehle, mir die Schlüssel auszuhändigen, dann habt Ihr dieser Aufforderung umgehend Folge zu leisten! Ich sage es nicht noch einmal, Fähnrich!“

Jel musste schlucken, doch ihm blieb keine andere Wahl. Er löste den Schlüsselbund von seinem Gürtel und drückte ihn in Loronks ausgestreckte Hand. „Na also, geht doch“, brummte Loronk missgelaunt. „Und jetzt entfernt Euch!“ Jel machte ein paar Schritte zurück und sah unsicher zwischen Vance und dem Brigadegeneral hin und her. Dann salutierte er zaghaft und verließ den Kerker.

„So und nun zu uns“, knurrte Loronk und wandte sich wieder der Zelle zu. Vance hob den Kopf und sah den Brigadegeneral unverwandt an. Er beobachtete abwartend, wie der Ork nach dem richtigen Schlüssel suchte. Als er ihn gefunden hatte, steckte er ihn in das Schloss und sperrte die Gittertür auf. Mit vorgereckter Brust und hinter dem breiten Rücken verschränkten Armen trat der hünenhafte Ork in die Zelle und blickte auf den jungen Dorashen hinab, der stumm auf seiner Matte saß und angespannt darauf wartete, was als nächstes geschah.

Das Grinsen auf Loronks Gesicht kehrte zurück. „Hoch mit dir!“, befahl er. „Ich habe Arbeit für dich.“ Er gab einem der beiden Soldaten den Schlüsselbund und dieser sperrte die Zellen der anderen Gefangenen auf. Farniel und Vox wichen erschrocken von den Gittern zurück.

„Was soll das werden?“, fragte der Waldelf mit zitternder Stimme. „Wartet, bis mein Onkel davon erfährt!“

Vox dagegen brachte nur ein ersticktes Schluchzen zustande.

Loronk drehte sich um und reckte das kantige Kinn vor. Angewidert blickte er auf Farniel herab. „Ich zittere schon vor Angst“, grollte er. „Ich sorge nur dafür, dass ihr minderwertigen Unruhestifter euch endlich nützlich machen könnt. Ihr werdet alle noch früh genug herausfinden, was ich damit meine.“ Er hob den muskelbepackten Arm und deutete auf die Gefangenen. „Soldaten, fesselt diese Männer!“

Die Begleiter des Orks traten mit schweren Metallketten in die Zellen und griffen nach den Gefangenen.

„Nein!“, schrie Vox schrill. Der Alte wehrte sich gegen den Mann, der sich ihm näherte, doch der Soldat war viel stärker. In Sekundenschnell hatte er Vox zu Boden gerungen und drückte das Gesicht des Gefangenen in die Matte. Er drehte ihm die Arme in schmerzhafter Weise auf den Rücken und die Metallfesseln schlossen sich um Vox‘ Handgelenke.

Farniel leistete nur kurz Wiederstand. Als er sah, wie grob mit seinem Zellennachbarn umgesprungen wurde, hob er entwaffnend die Hände und ließ sich mit aschfahlem Gesicht fesseln.

Vance reagierte nicht auf Loronks Befehl, sondern blieb gedankenverloren auf der Matte sitzen. Der Ork hatte keine besonders strapazierfähigen Geduldsfaden, weswegen er den regungslosen Mann rüde am Oberarm packte und ihn auf die Beine zog. Als er ihm die Metallschellen anlegen wollte, ertönte eine laute Stimme.

„Was geht hier vor?“

Loronk drehte verärgert den Kopf zur Seite und sah Syndus, der mit hochgerafftem Gewand die Kerkertreppe hinuntereilte. Ihm folgten Jel, dessen Pferdeschwanz bei jedem Schritt auf und ab hüpfte, und Gancielle, dessen Gesicht zu einer Maske aus grimmiger Entschlossenheit verzogen war. Syndus‘ Kopf war rot vor Anstrengung und er war ganz außer Atem, als er direkt vor Loronk stehenblieb.

„Der alte Meister Syndus“, knurrte der Ork und warf Jel einen so finsteren Blick zu, dass der Kerkermeister erzitterte. „Gut, dass Ihr hier seid. Ich wollte mich ohnehin mit Euch unterhalten.“

„Lasst diese Leute in Frieden!“, forderte Syndus voller Empörung. Loronks Soldaten gehorchten auf der Stelle. Sie ließen von Farniel und Vox ab und traten schützend an die Seite ihres Generals, doch der Ork machte selbst keine Anstalten, Vance loszulassen.

„Ich denke gar nicht daran!“, grollte er. „Diese Männer haben ihre Abgaben nicht entrichtet und das muss bestraft werden!“

„Zu den Terramorphen mit Euren Gebühren, Loronk!“, wetterte Syndus. „Was auch immer Ihr damit bezweckt, sie sind eine Geißel für diese Stadt!“ Er deutete auf Vance und sah den Brigadegeneral anklagend an. „Und dieser Mann ist nicht Euer Gefangener! Er wird in Ganestan gesucht und dort soll ihm auch der Prozess gemacht werden. Ein Falke mit dem entsprechenden Antrag ist bereits unterwegs nach Kaboroth.“

„Interessant“, brummte Loronk und festigte seinen Griff um Vances Oberarm. „Was soll er denn Verbrochen haben?“

Syndus zögerte einen Augenblick, doch dann gab er dem General Auskunft. „Er wird beschuldigt, einen Mord begangen zu haben.“

„Er ist also ein Mörder“, murmelte Loronk nachdenklich. „Aber das tut nichts zur Sache. Ich habe noch Verwendung für ihn. Wir werden ihn nicht an die Verantwortlichen in Kaboroth ausliefern.“

„Das habt Ihr nicht zu entscheiden!“, entrüstete sich Syndus und seine Stimme überschlug sich.

„Oh doch“, entgegnete der Ork und ein höhnisches Grinsen schlich sich zurück auf seine wulstigen Lippen. „Wir sind hier auf dem Hoheitsgebiet der Dunkelelfen, habt Ihr das etwa schon vergessen? Ein Prozess in Kaboroth spielt für einen Gefangenen in Shalaine keine Rolle, bis er nach Ganestan überführt wird. Solange er hier ist, kann ich als Befehlshaber über ihn rechtsprechen! Und genau das gedenke ich auch zu tun. Das Alter scheint Euch nicht gut zu bekommen, Syndus. Ganz offensichtlich seid Ihr nicht mehr in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen.“

Syndus wusste im ersten Augenblick gar nicht, was er antworten sollte, doch das erledigte Gancielle für ihn. „Was erlaubt Ihr Euch, Ihr aufgeblasener Trampel!“, fuhr er empört auf. „Brigadegeneral hin oder her, Ihr sprecht hier mit einem Meister der Goldenen Falken! Erweist ihm also ein bisschen mehr Respekt oder es wird Euch noch sehr leidtun!“

Loronk schob die Unterlippe vor und sah verächtlich auf Gancielle herab. Syndus schritt ein und hielt den wutschnaubenden Kommandanten zurück, ehe er erneut Luft holen konnte.

„Lasst es gut sein, Gancielle“, mahnte er sanft. „Ich bin sicher, Brigadegeneral Loronk hat eine plausible Erklärung für seine Vorwürfe.“

„Wie kommt Ihr dazu, Reisende, die sich auf den Weg durch die Düstermarsch begeben, von Eurer Späherin beschatten zu lassen?“, fragte der Ork grollend.

Syndus war wie vom Donner gerührt. „Woher wisst Ihr von Lexa?“, stammelte er.

„Vielleicht solltet Ihr Eurer kleinen Spionin besser einbläuen, dass sie in Zukunft ein bisschen besser darauf achten sollte, unerkannt zu bleiben.“ fuhr ihm Loronk über den Mund. „Aber dafür ist es jetzt wohl zu spät. Ich habe meine Soldaten längst über ihre Identität aufgeklärt. Es spielt auch gar keine Rolle, woher ich von Eurer Späherin weiß. Wichtig ist in diesem Fall nur meine Position. Ich bin Euch übergeordnet, Syndus. Und deshalb werdet Ihr diesen Blödsinn künftig unterlassen! Es wird keine Ausgangssperre geben und Ihr lasst alle Reisenden unbehelligt ihrer Wege ziehen!“

Syndus spürte, wie seine Knie weich wurden und fasste sich an den Kopf. Gancielle trat an seine Seite und stützte ihn. „Wir wissen nicht, was dort draußen vor sich geht“, murmelte der Alte geschwächt. „Womöglich schickt Ihr diese Leute in ihr Verderben.“

„Möglich“, erwiderte Loronk ungerührt. „Aber vielleicht löst einer von ihnen auch das Rätsel um die Vermissten und wir müssen unsere Soldaten nicht der Gefahr aussetzen, die in den Sümpfen lauert. Diese junge Abenteurerin und alle, die ihr folgen, könnten eine große Hilfe für uns sein!“

Syndus zuckte zusammen, als er bemerkte, dass er Loronks Worte in etwas anderer Form schon einmal gehört hatte.

Der Brigadegeneral verzog sein Gesicht zu einem selbstgefälligen Grinsen. „Ihr betont doch selbst immer, wie sehr Euch die Bewohner und Soldaten von Eydar am Herz liegen. Und das Verschwinden der Leute bereitet Euch große Sorgen. Ich bin mit der Aufgabe betraut worden, hier nach dem Rechten zu sehen. Ich habe bereits einen meiner Männer verloren. Und ich gedenke nicht, das Leben weiterer Soldaten auf der Suche nach Gespenstern aufs Spiel zu setzen. Wir überlassen die Aufklärung dieses Rätsels künftig willigen Außenstehenden! Abenteurer wie diese junge Barbarin sind Geschenke der Götter und wir werden sie gefälligst annehmen, verstanden?“

Syndus knirschte verärgert mit den Zähnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Brigadegeneral zu gehorchen. „Verstanden“, bestätigte er trotzig. „Lexa wird die Beschattung der jungen Frau einstellen. Aber damit werdet Ihr auf Dauer nicht durchkommen.“

„Was denn?“, spottete Loronk. „Wollt Ihr mir etwa drohen? Ihr vergesst, wo Ihr hingehört, alter Mann. Ihr hatte hier die längste Zeit das Kommando.“

„Es gibt andere, die sich um Euch kümmern werden“, fuhr Syndus ungerührt fort. „Ich werde von Adria ein Schreiben aufsetzen lassen, in dem ich in Kaboroth um Eure Rückversetzung bitte.“

Für einen kurzen Augenblick wirkte Loronk verunsichert. Er antwortete nicht sofort, sondern öffnete ein paar Mal seinen Mund, ohne etwas zu sagen. Doch dann kehrte das hochmütige Grinsen auf sein Gesicht zurück. „Verstehe“, murmelte er ruhig. „Ihr erkennt, dass Ihr machtlos seid und bittet jemanden mit mehr Einfluss um Hilfe. Vermutlich haltet Ihr das für weise. In meinen Augen ist es eine Verzweiflungstat.“ Er schlug sich mit der Faust vor die gepanzerte Brust und seine Stimme wurde lauter und grollender. „Aber meine Versetzung nach Eydar hatte einen Grund! Ich soll dem ständigen Verschwinden der Leute auf den Grund gehen, dem Ihr nicht mehr gewachsen seid! Meine Aufgabe hier ist noch nicht erledigt und jeder hochrangige General in Kaboroth, der noch bei Verstand ist, wird sich davor hüten, mich zurückzubeordern. Außerdem darf ich erwarten, dass man von mir in meiner Position ebenfalls eine Stellungnahme zu Eurer Bitte verlangt. Vielleicht sollte ich in meiner Antwort erwähnen, dass ich den Verdacht hege, dass Euer Alter Eurem Urteilsvermögen nicht gut bekommt, und beantragen, dass Ihr an meiner statt nach Kaboroth versetzt werdet. Schließlich seid Ihr es, der mir bei der Aufklärung dieses Mysteriums ständig Steine in den Weg legt und sich gegen einfache und effiziente Lösungen sträubt!“

Der drohende Unterton in Loronks Stimme war nicht zu überhören. Syndus zuckte ein wenig zusammen, doch er hielt Blickkontakt mit dem Ork. „Ihr vergesst, dass Ihr noch keinerlei Fortschritte gemacht habt“, erwiderte er gelassen. „In Kaboroth wird man das nicht gerne hören.“

Das Grinsen auf Loronks Gesicht wurde noch breiter und selbstgefälliger. „Wer sagt denn, dass ich keine Fortschritte mache?“

Nun war es Syndus, der verunsichert war. Er schob die Brauen zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Wieder fehlten dem Alten die Worte und wieder war es Gancielle, der für ihn in die Bresche sprang. „Wie meint Ihr das?“, forschte er lauernd nach. Der offene Hass, der in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

„Oh, Kommandant Gancielle, der Stachel in meinem Fleisch“, höhnte Loronk. „Habt Ihr Euch nicht gefragt, warum ich die Abgaben an die Armee erhöhen ließ?“

Gancielle durchzuckte ein Gedanke und er ballte beide Hände zu Fäusten. Mit knirschenden Zähnen schob er Loronks Soldaten beiseite und zwängte sich an ihnen vorbei. „Das kann nicht Euer Ernst sein!“, knurrte er wütend.

Loronk verfiel in lautes Gelächter. „Warum denn nicht?“, rief er triumphierend. „Gefangene Verbrecher sind die besten Späher, die wir in die Düstermarsch schicken können. Und genau das werde ich mit diesen Unruhestiftern tun. Niemand vermisst sie und falls sie doch Erfolg haben sollten und die verschwundenen Leute finden, haben sie ihre Schuld beglichen. In dieser Situation können wir nur gewinnen.“

Farniel und Vox stöhnten auf vor Entsetzen, als ihnen bewusst wurde, was der Ork mit ihnen vorhatte.

„Ich toleriere gerade noch, dass Ihr einen Mörder in die Sümpfe schickt“, zischte Gancielle gehässig und deutete auf Farniel und Vox. „Aber das sind harmlose Bürger! Ihr schickt Unschuldige in den Tod!“

„Unschuldige?“, erwiderte Loronk kühl. „Wohl kaum. Sie konnten ihre Gebühren nicht bezahlen. Das Spitzohr hat sogar einen meiner Soldaten geschlagen.“

„Das war alles Kalkül“, japste Gancielle ungläubig. „Ihr wusstet genau, dass es Einwohner gibt, die die erhöhten Abgaben nicht bezahlen können. Ihr habt nur einen Grund gesucht, jemanden als Verbrecher einzusperren.“

„Clever, nicht wahr?“, lachte Loronk. „Das sollte doch ganz in Eurem Sinne sein, Kommandant. Verbrecher sind für die Gesellschaft entbehrlich, aber sie können ihren Wert unter Beweis stellen, indem sie die Vermissten finden. Das ist doch eine faire Chance!“

„Haltet Euer Maul!“, knirschte Gancielle und die Ader auf seiner Stirn pochte heftig. Der gesamte Körper des Kommandanten zitterte vor Wut.

„Kaboroth wird davon erfahren!“, rief Syndus, doch seine Stimme war so schwach und brüchig, dass ihr jegliche Autorität fehlte.

„Das könnt Ihr nicht tun!“, jammerte Vox. „Das wäre unser sicherer Tod!“ Tränen standen dem Mann in den Augen und er klammerte sich mit mehr Kraft an den Ork, als man ihm bei seinem Alter zugetraut hätte. Verzweifelt zerrte er am Umhang des Brigadegenerals, doch dieser stieß ihn mit einer groben Armbewegung zurück in die Zelle.

„Ihr werdet es schon überleben“, spottete er. „Und wenn ihr nicht lebend zurückkehrt, muss der Rest der Bevölkerung eben für eure ausbleibenden Gebühren aufkommen. Dadurch gibt es weitere arme Seelen, die nicht bezahlen können und der Kreislauf beginnt von Neuem. Früher oder später wird einer von ihnen Erfolg haben. Warum zieht Ihr denn so ein Gesicht, Gancielle? Mein Vorhaben ist genial! Ihr solltet mir dafür dank-!“

Weiter kam er nicht. Gancielle konnte sich nicht mehr beherrschen und schlug dem Ork mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Loronks Kopf wurde zur Seite geworfen, doch ansonsten wirkte der Brigadegeneral von den Folgen des Schlags unbeeindruckt. Im Gegenteil, er schien sich sogar zu freuen. Gancielle fluchte leise, als er begriff, was er getan hatte.

„Ah, na endlich“, knurrte Loronk mit hämischem Grinsen. Blut sickerte aus seiner Nase, doch das schien den Ork nicht zu stören. „Darauf habe ich gewartet. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Rhist vor Euch die Beherrschung verliert. Euer Rang hat Euch bislang davor bewahrt, für Euren ständigen Ungehorsam von mir in irgendeiner Weise belangt zu werden. Aber Gewalt gegenüber einem Vorgesetzten kann nicht toleriert werden. Das wird Euch teuer zu stehen kommen.“

„Ich kümmere mich darum!“, rief Syndus hastig und eilte herbei. „Gancielle gehört zu meinen Leuten. Ich werde ihn für dieses Vergehen bestrafen.“ Er vergaß seinen Stolz und neigte unterwürfig den Kopf vor Loronk.

Gancielle sah ihn entgeistert an. „Aber Meister…“

„Seid still!“, zischte ihm Syndus aus dem Mundwinkel zu.

Loronk überlegte einen Moment und starrte Gancielle prüfend an. „In Ordnung“, meinte er schließlich und wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht. „Aber ich werde mich persönlich davon überzeugen, dass seine Strafe angemessen ist, hört Ihr? Falls nicht wäre das nur eine weitere Bestätigung meiner Meinung über Euren Geisteszustand, Syndus.“

Die Drohung des Orks war unmissverständlich und der alte Ordensmeister nickte hastig, noch immer mit gesenktem Kopf. „Selbstverständlich, Brigadegeneral.“

Loronk machte eine abwinkende Handbewegung. „Und jetzt entfernt diesen Nichtsnutz!“, befahl er barsch. Syndus griff Gancielle augenblicklich beim Arm und zog ihn mit sich. Jel blieb kurz stehen und starrte den Ork unschlüssig an, doch dann entfernte er sich ebenfalls.
 

Kurz darauf verließ der Brigadegeneral Eydar an der Spitze eines Trupps von ein Dutzend Soldaten. In der Mitte der Patrouille befanden sich Vance, Farniel und Vox, denen mit gefesselten Händen und umringt von bewaffneten Wachleuten nichts anderes übrigblieb, als dem Ork zu folgen. Die Bewohner von Eydar beobachteten die seltsame Prozession verwundert.

Kurz vor dem Stadttor wurde der Trupp aufgehalten. Aglir hatte offenbar mitbekommen, was mit seinem Neffen geschehen sollte. Der Waldelf eilte hastig herbei und schwenkte dabei wild die Arme. Diesmal lächelte er nicht.

„Wartet!“, rief er laut. „Bitte wartet einen Augenblick!“ Die Patrouille blieb stehen und einige Soldaten griffen argwöhnisch nach ihren Schwertern.

Farniel seufzte erleichtert, als er seinen Onkel sah. „Jetzt wird es Euch leidtun, dass Ihr so mit mir umgesprungen seid!“, zischte er trotzig und funkelte Loronk böse an.

Doch der Ork zuckte nur teilnahmslos die Schultern. „Ich glaube, du überschätzt den Einfluss deines werten Onkels“, erwiderte er ungerührt und reckte Aglir die Handfläche entgegen. Der Waldelf blieb in respektvollem Abstand stehen und sah den Brigadegeneral verängstigt an.

„Ich bitte Euch, lasst meinen Neffen gehen!“, flehte er. „Ich werde seine Abgaben für ihn bezahlen!“

„Dafür ist es leider ein wenig zu spät“, gab Loronk zurück. „Er hat Widerstand geleistet und einen meiner Soldaten tätlich angegriffen. Durch eine einfache Nachzahlung ist dieses Vergehen nicht zu sühnen.“

„Dann lasst ihn mich freikaufen!“, bat Aglir und knetete verzweifelt die Hände. „Ich habe genug Geld. Das dürfte doch kein Problem sein. Bitte vergebt meinem Neffen! Er ist ein dummer Junge und handelt viel zu oft unüberlegt!“

Loronk schien zu überlegen, ob er auf Aglirs Angebot eingehen sollte. Er beobachtete gierig den prallgefüllten Geldbeutel, den der Waldelf von einem Metallring an seinem Gürtel löste. Doch dann schüttelte der Ork energisch den Kopf.

„Es gibt keine Kaution!“, entschied er grollend. „Behaltet Euer Geld, Aglir! Vielleicht tröstet Euch ja das Wissen, dass Euer Neffe endlich etwas Sinnvolles tut! Mit seiner Hilfe werden wir der Lösung der Vermisstenfälle mit Sicherheit einen Schritt näherkommen.“ Loronk verfiel in spöttisches Gelächter und ließ den niedergeschlagenen Waldelfen einfach stehen. Farniel wurde kreidebleich, als der Ork seinen Trupp wieder in Bewegung setzte und die Soldaten ihn rüde weiterstießen. Er blickte sich panisch nach seinem Onkel um, doch Aglir konnte nichts weiter tun, als verzweifelt die Hände zu ringen.

Auf Loronks Gesicht lag ein selbstgefälliger Ausdruck, als er mit seinem Trupp das Stadttor durchquerte. Die beiden wachhabenden Soldaten gehörten zu der Einheit, die mit dem Brigadegeneral nach Eydar gekommen war, und so ließen sie die Patrouille passieren.

„Seht zu, dass die Späherin des Alten die Stadt nicht verlässt“, wies er die Wachmänner an. Diese salutierten grimmig und schlossen das Tor hinter ihrem Befehlshaber und seinem Gefolge. Dann postierten sie sich mit gekreuzten Speeren vor dem verriegelten Ausgang, während Loronk seinen Trupp in die Düstermarsch führte.

Die hohen Bäume der Sumpfwälder und ihre dichten Wipfel erschufen in Kombination mit der schweren, von würzigen Gerüchen geschwängerten Luft, bei der jeder Atemzug schwerfiel, eine bedrückende Atmosphäre. Kaum schirmte das Blätterdach das Sonnenlicht ab, verbreitete sich unter den Soldaten eine nervöse Anspannung. Loronk ging an der Spitze des Trupps und bahnte sich und seinen Gefolgsleuten krachend einen Weg durch das modrige Unterholz. Wie gehetzte Tiere sahen sich die Soldaten bei jedem Geräusch um und zuckten erschrocken zusammen, wenn der Brigadegeneral einen Ast unter seinen schweren Stiefeln zermalmte. Sie hielten ihre Waffen stets griffbereit, als erwarteten sie jeden Augenblick einen Angriff. Vox schluchzte und jammerte die ganze Zeit, bis ihm einer der Soldaten einen heftigen Stoß in die Rippen verpasste. Danach riss sich der Alte zusammen und blieb ruhig, auch wenn offensichtlich war, dass er kurz davorstand, die Nerven zu verlieren. Farniel sagte kein Wort. Der Schock darüber, dass auch das Eingreifen seines Onkels nichts an seinem aufgezwungenen Abstecher in die Düstermarsch ändern konnte, war ihm noch deutlich anzusehen. Auch Vance verhielt sich ruhig, aber er blickte sich immer wieder misstrauisch um und schien angestrengt nachzudenken.

Riesige Ratten folgten dem Trupp durch das Dickicht, doch die Aasfresser wagten trotz ihrer großen Zahl keinen Angriff und hielten sich versteckt. Alle paar Minuten durchdrang ein markerschütterndes, hallendes Heulen die feuchte Luft und mit jedem Schritt, den die Patrouille tiefer in den Wald vordrang, drohte eine Panik unter den Soldaten auszubrechen.

Loronk trieb sie unerbittlich voran. Seine Soldaten schienen größere Angst vor ihrem Anführer zu haben, als vor den unheimlichen Sumpfwäldern. Ihre Furcht vor Loronk war der einzige Grund, weswegen sie dem Ork folgten und nicht Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

„Wohin bringt Ihr uns?“, fragte Vance. Die Soldaten zuckten bei seiner Stimme zusammen und hielten den Atem an.

„Ihr werdet für mich arbeiten“, knurrte Loronk verächtlich. „Mehr musst du nicht wissen.“

„Ich dachte, wir sollen für Euch nach den Vermissten suchen“, erwiderte Vance misstrauisch.

Der Ork blieb stehen und funkelte seine Gefangenen finster an. „Denkst du das, ja?“, gab er grollend zurück. „Du wirst deine Antworten schon bald bekommen. Und jetzt halt die Klappe, bevor du noch einen Warg auf uns aufmerksam machst!“

Ein Schaudern lief durch die Reihen der Soldaten. Die Umgebung war ruhig, wenn man von den fetten Ratten absah, die sich noch immer im Unterholz tummelten. Loronk setzte sich wieder in Bewegung und sein Trupp folgte ihm. Einer der Soldaten stieß Vance unsanft an. „Komm schon!“, drängte er mit zitternder Stimme. „Je schneller das erledigt ist, desto früher können wir zurück nach Eydar!“

Loronk führte seine Leute zielstrebig durch die Sümpfe. Routiniert wich er verborgenen Tümpeln aus und kletterte über Hindernisse wie umgestürzte Bäume und moosbedeckte Steinbrocken. Schließlich lichtete sich der Wald und gab den Blick auf einen großen See frei. Das Ufer war gesäumt von großen, glatten Felsen und einzelnen Bäumen und auf der Nordseite erhob sich ein kleiner, bewaldeter Berg aus dem sonst flachen Marschland. Sonnenstrahlen glitzerten auf der Wasseroberfläche und bei einem genaueren Blick entpuppte sich der See als Bucht. Ein verborgener, von hohen Bäumen flankierter Meeresarm ragte ins Landesinnere hinein und bildete dort eine kleine Lagune. Es war Ebbe und entsprechend niedrig war der Wasserstand. Das Ufer war flach und an dem breiten, schlammigen Streifen entlang der Gezeitenlinie war zu erkennen, dass die Bucht bei Flut deutlich größer war und bis an die Stämme der Bäume heranragte. Nun war das Wasser an keiner Stelle mehr als zwei Meter tief und man hätte die Bucht bequem zu Fuß durchqueren können, ohne schwimmen zu müssen, wären da nicht die Bluthechte gewesen.

In Schwärmen lauerten sie knapp unter der Wasseroberfläche auf ein unachtsames Opfer. Ihre langen, stromlinienförmigen Körper waren fast bewegungslos und nur ihre Brustflossen zuckten in unregelmäßigen Abständen. Die Raubfische waren in allen Größen vertreten, von Jungtieren, die bequem auf eine Hand passten, bis hin zu riesigen, adulten Tieren, die eine Länge von über zwei Metern erreichten. Alles Lebendige, was unvorsichtig genug war, sich in die Bucht zu wagen, würde in einem Augenblick zerfleischt werden.

Vereinzelt hatte die Strömung die Überreste der früheren Beute der Bluthechte ans Ufer gespült. Fein säuberlich abgenagte Gerippe lagen tief eingesunken im Schlamm und zwischen den Binsen ragte das blanke Skelett eines ausgewachsenen Wargs hervor, der den gefräßigen Raubfischen zum Opfer gefallen war. Die so friedlich wirkende Bucht war eine wahre Todesfalle.

Die gefährlichen Raubfische beobachteten die Soldaten, die in einiger Entfernung von der Küstenlinie stehenblieben, mit einer Mischung aus unstillbarem Hunger und großer Frustration, da die lockende Beute außer Reichweite blieb. Den Soldaten gefiel der Anblick der Bluthechte ebenso wenig. Nervös beäugten sie die langen, rasiermesserscharfen Zähne der Raubfische, die sogar den mächtigen Wargen, den eigentlich unangefochtenen Herrschern der Düstermarsch, den Garaus machen konnten.

Das Wasser zog sich mit der Zeit immer weiter zurück. Da das Ufer so flach war, wirkten die Gezeiten umso deutlicher. Auch den Bluthechten entging der schnelle Gezeitenwechsel nicht. Langsam bewegten sie sich rückwärts auf den schmalen Meeresarm zu. Doch nicht alle von ihnen waren so aufmerksam. Ein offenbar besonders hungriges, anderthalb Meter langes Tier, das zu nahe am Ufer gelauert hatte, wurde von der plötzlichen Ebbe überrascht und ehe der Fisch reagieren konnte, hatte sich das Wasser zurückgezogen und er zappelte hilflos auf dem trockenen. Vance sah zu, wie seine tödlichen Kiefer ins Leere schnappten und sich seine Kiemen weit öffneten. Der Raubfisch würde noch eine Weile leiden müssen, bevor er zugrunde ging.

Die Bluthechte, die den Gezeitenstrom rechtzeitig bemerkt hatten, zogen sich derweil mit dem sinkenden Wasserstand immer weiter aus der Bucht zurück. Bis zuletzt schienen sie die Hoffnung zu haben, dass sich einer der Soldaten ins Wasser traute, doch schließlich schien ihr schlichter Geist zu begreifen, dass nichts dergleichen geschehen würde. Vom Hunger überwältigt stürzten sich die größten Bluthechte auf die kleineren Fische und Jungtiere. Weit draußen in der immer seichter werdenden Bucht wurde das Wasser aufgewühlt und färbte sich rot. Das Schauspiel aus wild peitschenden Schwanzflossen, zuschnappenden Kiefern und schäumender Gischt dauerte nur ein paar Sekunden. Dann hatten die Bluthechte ihre kleineren Artgenossen verschlungen und zogen sich durch den Meeresarm auf das offene Binnenmeer zurück. Sie ließen sorgfältig abgenagte Gräten und einen blassroten Fleck auf der Wasseroberfläche zurück, der sich langsam ausbreitete.

Den Soldaten war das mörderische Schauspiel nicht entgangen. Ihre Gesichter waren aschfahl und schweißnass. Einzig Loronk schien vom grausamen Kannibalismus der Bluthechte unbeeindruckt zu sein. „Wir sind zu früh“, knurrte er verärgert. Er zog einem seiner Leute das Schwert aus dem Gürtel und stapfte wütend zu dem noch immer im Schlamm zappelnden Bluthecht hinüber. Trotzig und hungrig starrte der Raubfisch den Brigadegeneral mit seinen blutunterlaufenen Augen an und schnappte nach seinem Knöchel. Loronk zog fluchend den Fuß zurück und stieß dem Hecht das Schwert direkt in die weit geöffneten Kiemen. Ein letztes Zittern durchlief den länglichen Körper des Fisches, dann standen seine tödlichen Kiefer für immer still.

Loronk verzog angewidert das Gesicht und hob die Klinge mit dem aufgespießten Fisch. „Wir werden noch kurz warten müssen“, brummte er und warf seinen Soldaten das Schwert samt Bluthecht zu. „Ihr könnt euch ja nützlich machen und diesen Mistkerl braten.“

Die Soldaten sprangen erschrocken zurück, als der tote Bluthecht vor ihren Füßen landete. Obwohl sich der Fisch nicht mehr bewegte und ein trüber Schleier seine Augen überzog, waren ihnen die fürchterlichen Kiefer des Monsters noch immer nicht geheuer. Loronk spuckte verächtlich aus. „Elende Feiglinge. Womit habe ich es verdient, dass mein Trupp aus solchen Weicheiern besteht?“ Fluchend stapfte der Ork das Ufer entlang und sprang behänder, als man es ihm angesichts seiner wuchtigen Statur und der schweren Rüstung zugetraut hätte, auf einen glatten Felsen. Dort oben nahm er im Schneidersitz Platz und starrte grimmig zum Nordufer der Bucht hinüber.

Während die Soldaten ihre Angst vor dem toten Bluthecht allmählich verloren und anfingen, ein Feuer zu entzünden, zog sich das Wasser immer weiter zurück und legte dabei Seetang und ein paar Muscheln frei. Kleine Krebse gruben sich rasch im nassen Schlamm ein und warteten dort auf die Flut. Mittlerweile war die Bucht auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft.

Vox ließ sich erschöpft in den schlammigen Ufersand fallen. „Wir werden sterben“, flüsterte er immer wieder. „Wir werden sterben.“ Der alte Mann schlug verzweifelt die Hände ins Gesicht und zitterte dabei so sehr, dass seine Ketten klirrten. Farniel dagegen blieb an Ort und Stelle wie versteinert stehen und starrte ins Leere.

Vance setzte sich neben Vox auf den Boden. „Wir werden sterben. Wir werden sterben. Wir werden sterben“, wiederholte der Alte kaum hörbar.

„Leben retten“, murmelte Vance.

Vox hob den Kopf. „Was sagt Ihr da?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Nichts“, erwiderte Vance nachdenklich.

Und dann sagte er wirklich nichts mehr.



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