Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 15: ------------ Craig verbrachte die Nacht unter freiem Himmel. An der Stadtmauer fand er ein trockenes, windgeschütztes Plätzchen, an dem er sein Lager aufschlug. In einem richtigen Bett hatte er seit Jahren nicht mehr geschlafen, deswegen störte es ihn im Normalfall nicht, sich mit unbequemem Untergrund arrangieren zu müssen. Doch nachdem ihm von seinem Abstecher in die Düstermarsch jeder Knochen im Leib wehtat, wünschte er sich, wenigstens auf einer Matte schlafen zu können. Immerhin war das Gras weich und als Kissen diente ihm ein moosbewachsener Stein, auf den er seinen Kopf bettete. Die Decke, die während des Sturms auf dem Binnenmeer klatschnass geworden war, war längst wieder getrocknet und Craig schlief vor Erschöpfung fast augenblicklich ein, als er sich auf den Boden legte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, bemerkte er, dass es unangenehm kühl und feucht geworden war. Dichter Küstennebel hing über Eydar und seine Decke hatte sich langsam aber sicher mit winzigen Wasserpartikeln vollgesogen. Fröstelnd setzte sich Craig auf und stöhnte, als er das Brennen seiner Muskeln spürte. Sein Körper schien nicht bereit, ihn seinen Ausflug in den Sumpf so schnell vergessen zu lassen. Außerdem stank er noch immer nach Tod und Moder. In seiner Erschöpfung hatte er es am Vorabend nicht mehr fertiggebracht, sich zu waschen. Mühsam stand Craig auf und packte seine Sachen zusammen. Er fühlte sich noch immer müde und schwach, aber an Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Auch das Gras, auf dem er gelegen hatte, war durch den Morgennebel feucht geworden und Craig hatte nicht vor, sich eine Erkältung einzufangen. Er trottete zum Brunnen, der in der Mitte des Marktplatzes stand und versuchte, die Blicke der Einwohner so gut es ging zu ignorieren. Alle, die so früh morgens schon auf den Beinen waren, starrten ihn an und hielten ihn in seiner schlammbespritzten Kleidung wahrscheinlich für einen Bettler. Mit einer Winde kurbelte er einen vollen Eimer aus dem Brunnenschacht, zog seine zerschlissene und dreckige Tunika aus und warf sie ins Wasser, das sich sofort braun färbte. Dann kniete er sich auf den Boden und knetete den schmutzigen Stoff, bis er wieder einigermaßen sauber war. Anschließend wiederholte er diesen Vorgang mit seiner Hose. Craig holte noch zwei weitere Eimer mit Wasser aus dem Brunnen. Er wusch sich die Schmutzkruste, die über Nacht getrocknet war, und die Salzränder, die sein Schweiß hinterlassen hatte, von seinem Körper und säuberte sein Schwert. Er polierte die Klinge so lange, bis sie wieder glänzte, und wog sie anschließend zufrieden in der Hand. Nun, da nicht mehr vollständig schmutzig war, fühlte er sich direkt besser. Die Leute starrten ihn allerdings noch immer an. Er war zwar wieder sauber, dafür saß er nackt bis auf die Unterhose mitten auf dem Marktplatz. Besonders unangenehm war ihm das nicht, aber er sah trotzdem zu, dass er sich schnell aus dem Staub machte. Seine nasse Kleidung breitete er zum Trocknen auf einem großflächigen Felsen aus, doch es dauerte eine Weile, bis die wärmespendenden Strahlen der Sonne ihren Weg durch den dichten Nebel gefunden hatten. Dann ging es aber ganz schnell und Craigs Tunika und Hose waren in Windeseile wieder trocken. In der Zwischenzeit dachte der Waisenjunge nach. Lexa hatte erwähnt, dass sie schon lange erfolglos nach den Vermissten suchte. Er hatte die Bedingungen in der Düstermarsch am eigenen Leib gespürt. Die Aufgabe der Späherin musste unglaublich anstrengend sein. Die Sümpfe wirkten so groß und unübersichtlich, dass Craig überhaupt keine Vorstellung von ihren wahren Ausmaßen hatte. Eine einzelne Person würde Ewigkeiten brauchen, um das ganze Gebiet zu durchsuchen, es sei denn, es war jemand mit übermenschlichen Kräften. Aber der einzige, auf den das zutraf, saß jetzt im Kerker. Craigs Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Wenn die Geschichten über die Dorashen stimmten, dann hätte Vance den gesamten Sumpf in wenigen Tagen einmal vollständig umgekrempelt. Aber er besänftigte lieber sein schlechtes Gewissen, als den Einwohnern von Eydar bei der Lösung dieses Rätsels zu helfen. Der Waisenjunge zog sich an und schulterte seinen Rucksack. Auch wenn es für Vance kein Zurück mehr gab, wollte Craig ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Er entschied sich, dem Dorashen im Kerker einen Besuch abzustatten. Obwohl er nicht besonders gut auf die Soldaten der Armee zu sprechen war, passte er eine ihrer Patrouillen ab und erkundigte sich nach dem Weg. „Entschuldigung“, sagte er und ärgerte sich, dass er die Wachmänner so respektvoll ansprach. „Wo geht es hier zum Gefängnis?“ Die Patrouille blieb auf der Stelle stehen. Einer der Soldaten sah sich verstohlen um und Craig erkannte zu seiner Verwunderung einen Anflug von Angst auf dem Gesicht des Mannes. „Was willst du denn da?“, fragte der Wachmann lauernd. „Na, was wohl?“, erwiderte Craig schon deutlich weniger ehrfurchtsvoll. Er verdrehte die Augen und seine Stimme troff vor Sarkasmus. „Ich will mich einbuchten lassen.“ „Vorsicht mit solchen Wünschen“, warnte der Soldat. „Die gehen hier momentan sehr schnell in Erfüllung. Und jetzt hör auf mit den Scherzen. Ich habe dir eine Frage gestellt.“ Craig hatte augenblicklich das untrügliche Gefühl, dass es besser war, den Mann nicht weiter zu reizen. Auf seltsame Art und Weise erinnerte der Soldat den Waisenjungen an ein in die Enge getriebenes Tier. „Ich will einen der Gefangenen besuchen“, murmelte er verunsichert und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Das wird doch wohl hoffentlich noch erlaubt sein.“ Er bemerkte, wie der Soldat mit seinen Kameraden nervöse Blicke tauschte. „Ich denke, das ist in Ordnung“, brummte der Wachmann und deutete auf das große Gebäude mit den Bannern des Kaisers. „Du findest den Kerker im Haupthaus des Ordens. Betritt es durch den Haupteingang und halte dich einfach rechts, dann kannst du den Gefängnistrakt nicht verfehlen.“ „Danke für den Hinweis“, nuschelte Craig undeutlich. „Schon gut“, erwiderte der Soldat und drehte sich zu seinen Kameraden um. „Sieh einfach zu, dass du keinen Ärger machst!“ Als die Patrouille ihren Kontrollgang fortsetzte, zögerte Craig nicht länger und lief auf den imposanten Gebäudekomplex zu. Hohe Mauern umgaben das Grundstück und das Tor wurde von zwei Soldaten bewacht, die sofort ihre Speere senkten, als der Waisenjunge näherkam. „Wo soll es denn hingehen?“, fragte der eine spitz. Er wirkte deutlich wichtigtuerischer als die Wachleute der Patrouille. „Ins Gefängnis“, antwortete Craig und ließ die Speerspitzen nicht aus den Augen. Der Wächter schürzte verächtlich die Lippen. „Dann kannst du meinetwegen passieren“, brummte er und hob seine Waffe. Sein Kamerad tat es ihm gleich und machte Craig den Weg frei. „Aber lass dich bloß nicht dabei erwischen, wie du in einem anderen Teil des Gebäudes herumschleichst! Und wenn du die Waffe da ziehst, bist du tot!“ Er deutete mit seinem Speer auf Craigs Schwert. Der Waisenjunge hob die Augenbrauen angesichts der Aggressivität, die ihm entgegenschlug. Der Soldat schob den Unterkiefer vor und trat zur Seite. „Der Kerker befindet sich auf der rechten Seite“, sagte er mürrisch und ohne Craig anzusehen. „Ich weiß“, antwortete der Junge hastig und schlüpfte zwischen den beiden Wachmännern hindurch, ehe sie noch weitere Drohungen äußern konnten. Er passierte das Tor in der hohen Mauer und steuerte direkt auf die Eingangstür zu. Im Gegensatz zu dem mächtigen Tor in der Mauer wirkte sie klein und unscheinbar und das Holz, aus dem sie bestand, war feucht und von Algen und Moos bewachsen. Zwischen den mächtigen Bannern an den hohen Außenwänden wirkte sie deplatziert, doch Craig erkannte schnell, dass das ursprüngliche Gebäude deutlich kleiner und unscheinbarer gewesen war, ehe man es ausgebaut und um ein Stockwerk erweitert hatte. Der Waisenjunge betrat das Haus und fand sich in einem schmalen, mit Holzdielen ausgelegten Gang wieder. Die Bodenleisten waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert und an den Wänden hingen feingewebte Teppiche, die abwechselnd den Löwenkopf des Kaiserreichs und die in Flammen stehende Krone des Königshauses von Shalaine zeigten. Craig schlenderte den Gang staunend entlang, bis er sich gabelte. Den Anweisungen der Soldaten folgend wandte sich der Waisenjunge nach rechts, wo er auf eine breite, steinerne Treppe stieß, die in ein von Fackeln erleuchtetes Kellergewölbe führte. Davor versperrte eine massive Gittertür den Weg, die mit einem wuchtigen Vorhängeschloss und einer dickgliedrigen Kette gesichert war. Craig rüttelte wenig hoffnungsvoll daran und war nicht überrascht, dass sich das Gitter keinen Zentimeter rührte. „Na, sind wir auf Stippvisite?“ Craig wollte schon wieder resigniert gehen, als von rechts plötzlich eine spöttische Stimme ertönte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges war ein kleines Fenster in die Wand eingelassen worden. In der Kammer dahinter erkannte Craig einen Mann in voller Rüstung und mit braunem, langem Haar, der gerade die gemütlich hochgelegten Füße vom Tisch nahm und aufstand. Sekunden später tauchte er in der Öffnung auf, stützte sich mit den Unterarmen auf den Fensterrahmen lächelte Craig verschmitzt an. Der Soldat wirkte freundlich, aber der Waisenjunge erinnerte sich noch gut daran, dass der Hauptmann, der Hiob auf Notting festgenommen hatte, zunächst auch nett und höflich gewirkt hatte. Dann rief er sich seine Unterhaltung mit Bragi zurück ins Gedächtnis. Die Soldaten machten nur ihre Arbeit und Craig beschloss, den Gesetzeshütern nicht mehr ganz so abweisend zu begegnen. „Äh…also eigentlich wollte ich in den Kerker“, sagte er schließlich und deutete unsicher auf das verschlossene Gitter. Das Lächeln des Mannes wurde breiter. „Na, da kommst du ohne meine Erlaubnis nicht besonders weit“, sagte er und verschwand aus dem Fenster. Dann öffnete sich direkt neben der Öffnung eine Tür und der Soldat trat in den Gang. Als er sich aufrichtete und seine Brust vorreckte, musste Craig neidlos anerkennen, dass er ein äußerst eindrucksvolles Bild abgab. „Ich bin Fähnrich Jel Sabya und der hiesige Kerkermeister. Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Also, ich bin Craig“, stellte sich der Waisenjunge verunsichert vor. „Und ich will einen der Gefangenen besuchen. Man hat mir gesagt, dass ich mich bei Euch melden soll, Kerkermeister.“ „Warum so unterwürfig, Craig?“, fragte Jel schmunzelnd. „Du bittest mich um einen Besuch bei einem meiner Gäste, nicht um eine Audienz beim Kaiser.“ Craig verzog gequält das Gesicht. „So eine Audienz könnte ich auch gebrauchen“, murmelte er und dachte an Hiob, der auf Befehl des Kaisers festgenommen worden war. „Damit kann ich leider nicht dienen“, sagte Jel sichtlich amüsiert, löste seinen Schlüsselbund vom Gürtel und ließ ihn am Verbindungsring lässig um seinen Zeigefinger rotieren. „Also gut, dann will ich dir mal meine Gasträume zeigen. Wird ohnehin Zeit, dass die Burschen ihr Frühstück bekommen.“ Er verschwand kurz in seiner Kammer. Als er zurückkam, hielt er ein großes Tablett mit ein paar Tonkrügen, Bechern und Brotlaiben in den Händen. „Halt das mal kurz“, forderte er Craig auf und hielt ihm das Speisenbrett entgegen. Der Waisenjunge nahm es ihm ab. Er zählte insgesamt drei Portionen. Der Fähnrich sperrte das Schloss auf, löste die schwere Kette von den Gitterstäben und stieß die Tür auf. „Hereinspaziert!“, rief er vergnügt und zog Craig das Tablett aus den Händen. Der Waisenjunge ging vorsichtig die in den Stein gehauene Kellertreppe hinab. Das Gewölbe wirkte trotz der vielen Fackeln dunkel und bedrückend. „Habt Ihr eigentlich keine Angst, dass Eure Gefangenen ausbrechen könnten?“, fragte er Jel. „Immerhin ist einer von ihnen ein Dorashen.“ „Ach, ist der Kerl etwa dein Freund?“, erwiderte der Kerkermeister überrascht. „Dann muss ich dich bitten, für dich zu behalten, dass wir hier einen Dorashen beherbergen. Ich habe die Anweisungen erhalten, mit niemandem über die Identität dieses Mannes zu sprechen.“ „Verstehe“, gab Craig zurück. „Ich halte die Klappe. Aber es ist doch so, dass er jederzeit ausbrechen könnte oder nicht?“ „So wie ich das sehe, verschwendet er keinen Gedanken an Flucht“, lachte Jel. „Aber er kann es ja gerne mal auf einen Versuch ankommen lassen. Mal sehen, wie weit er kommt. Wobei…vielleicht sollte er das doch lieber bleiben lassen. Es wäre wohl ziemlich ermüdend, ihn wieder einfangen zu müssen und ich kann nicht behaupten, dass ich besonders begierig darauf bin. Aber warum sollte ich Angst vor ihm haben? Nur weil er ein Dorashen ist? Unter dem Segen seiner Kräfte ist er auch nur ein einfacher Mensch, genau wie du und ich. Und vor meinesgleichen habe ich bestimmt keine Angst. Vertrau mir, wenn du jemals einem rasenden Berserker der wilden Barbarenstämme aus Isenheim oder einem mächtigen Krieger der Dunkelelfen gegenüberstandst, dann schreckt dich so leicht nichts mehr. Und, mal ganz unter uns, besonders beeindruckend sieht dein Kumpel nicht gerade aus.“ „Wirklich nicht“, gab Craig zu. „Für mich ist er in erster Linie ein Gefangener“, fuhr Jel fort. „Und da mache ich keine Unterschiede, egal ob Dorashen oder nicht, Mensch oder Dunkelelf, Ork oder Zwerg. Vor den freien Dorashen habe ich auch keine Angst. Nur Respekt, weil ich weiß, wozu sie fähig sind und was sie in der Vergangenheit geleistet haben. Dein Kumpel hat noch nichts geleistet, außer einen Mann zu töten. Und jetzt suhlt er sich in seinem Selbstmitleid und verdirbt mir damit die gute Laune. Auf der anderen Seite war die Stimmung im Kerker noch nie besonders ausgelassen…woran das wohl liegt?“ Der Kerker selbst war deutlich heller, als die Steintreppe, die in die Gewölbe führte. Vance saß in einer von zwei Fackeln erleuchteten Zelle und Craig entdeckte sofort die Bettrolle, die auf dem Boden lag. Die Matte sah deutlich bequemer aus, als das Gras, auf dem er selbst die Nacht verbracht hatte. Offenbar schliefen Gefangene in Eydar komfortabler als Obdachlose. Vance war nicht der einzige Gefangene, den Jel im Moment beherbergte. Seit Brigadegeneral Loronk unter dem Vorwand, die Bevölkerung besser schützen und den vermissten Bürgern schneller auf die Spur kommen zu wollen, hatte er die Abgaben erhöht, die jeder Bewohner der Stadt an die Armee zu entrichten hatte. Gleichzeitig ließ er jeden, der sich eines auch noch so geringen Verbrechens schuldig machte, ohne Prozess in den Kerker werfen. Zwei Bewohners Eydars hatte dieses Schicksal bereits ereilt. In einer Zelle saß ein junger Waldelf mit blondem, geflochtenem Haar. Er hieß Farniel und war der Neffe von Aglir. Er hatte Widerstand geleistet, als man seine Steuern eintreiben wollte und war dafür verhaftet worden. Daneben war ein älterer Mann mit dunklen Ringen unter den Augen eingesperrt und gab ein Bild des Jammers ab. Sein Name war Vox und er war einer der vielen Siedler, die der Kaiserlichen Armee vor Jahren nach Eydar gefolgt waren, um sich dort niederzulassen. Er hatte schlichtweg nicht genug Geld, um seine Abgaben zahlen zu können, weswegen man ihn ebenfalls in Gewahrsam genommen hatte. Kaum betrat Jel den Kerker, erhoben die beiden ihre Stimmen zu einem nervtötenden Geplärre. Während Vox jammerte und unter Tränen um Mitleid flehte, beschwerte sich Farniel lautstark und drohte damit, dass sein Onkel Aglir seine Beziehungen spielen lassen und die Verantwortlichen für die Festnahme seines Neffen zur Rechenschaft ziehen würde. Jel gab sich alle Mühe, die beiden Gefangenen zu ignorieren. Auch wenn Craig das Geheule kaum ertrug, konnte er Farniel und Vox in gewisser Hinsicht verstehen. Er selbst war erst in Eydar angekommen und hatte sich noch kein wirkliches Bild von der Stadt machen können, aber sein erster Eindruck war nicht besonders gut gewesen. Der Brigadegeneral hielt die Fäden in der Hand und griff knallhart durch, wenn jemand nicht nach seinen Regeln spielte. Craig konnte sich gut vorstellen, dass man Farniel und Vox wegen Lappalien eingesperrt hatte, weshalb er nachvollziehen konnte, dass sie sich ungerecht behandelt fühlten. Die beiden Gefangenen stellten ihr Gejammer ein, als ihnen Jel ihr Frühstück durch die Gitterstäbe reichte. Sie stürzten sich mit Heißhunger auf ihre Mahlzeit, während Vance den Brotlaib, den er bekommen hatte, nachdenklich in der Hand wog. Craig setzte sich seufzend vor die Zelle. „Du siehst immer noch jämmerlich aus“, stellte er fest. Jel baute sich hinter ihm auf und beobachtete ihn argwöhnisch. „Weißt du inzwischen, was man mit dir anstellen will?“ „Der Befehlshaber hat irgendetwas davon gesagt, dass sich die Verantwortlichen in Kaboroth um mich kümmern werden“, antwortete Vance. „Vermutlich werde ich bald mit einem Schiff abgeholt.“ Craig nickte bedächtig. Wenn das der Fall war, würde er Vance nie wiedersehen. Egal ob er in einem dunklen Kerker verrottete oder direkt unters Henkersbeil kam. „Es gibt da noch etwas, was mich beschäftigt“, erklärte er gedehnt. „Es betrifft den Mann, den du umgebracht hast.“ Vance zuckte zusammen und Craig wusste, dass ihn die Erinnerungen erneut peinigten. „Wenn du ihm nicht zuvorgekommen wärst, hätte der Mann dann dich getötet?“ Der Dorashen raufte sich schmerzerfüllt die Haare. „Ich weiß es nicht“, gab er mit schwacher Stimme zu. „Er war sehr wütend. Er hat mich verletzt. Und er hat gedroht, mich zu töten. Aber ich weiß nicht, ob er wirklich bereit war, mich umzubringen. Aber es macht keinen Unterschied. Er ist tot und sein Blut klebt an meinen Händen. Ich will endlich für das büßen, was ich getan habe!“ „Selbst, wenn man dich dafür hinrichtet?“, fragte Craig und hob skeptisch die Augenbrauen. „Das wäre dann nur gerecht“, murmelte Vance und sank in sich zusammen. „Ein Leben kann nur mit einem anderen Leben aufgewogen werden.“ „Das nehme ich dir nicht ab!“, rief Craig spöttisch. „Du redest dir nur ein, dass du bereit bist, für dein Verbrechen mit dem Tod zu büßen.“ Vance hob verbittert den Kopf. „Wie kannst du das behaupten?“, fragte er gereizt. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle.“ „Mag sein“, erwiderte Craig ungerührt. „Aber ich habe genau gesehen, wie nervös du warst, als wir auf dem Binnenmeer in den Sturm geraten sind. Da hattest du Angst, dass wir kentern und du ertrinken musst, oder willst du das etwa leugnen? Du fürchtest dich vor dem Tod. Du willst noch nicht sterben.“ Vance wich dem Blick des Waisenjungen aus. Mit den Fingern trommelte er unruhig auf seinen Knien herum. „Ich will nur nicht auf offenem Meer sterben“, verteidigte er sich halbherzig. „Dann kann ich nicht mehr für mein Verbrechen bestraft werden.“ „Das ist eine ganz faule Ausrede und das weißt du auch!“, höhnte Craig. „Du willst, dass dein Name reingewaschen wird. Schön. Aber der Tod wird deinen Namen mit Sicherheit nicht reinwaschen. Ob nun in den Fluten des Meeres oder unter der Axt des Henkers, du wirst als Mörder sterben. Wenn du deinen Namen reinwaschen willst, dann musst du aktiv etwas dafür tun. Du bist ein Dorashen und dazu bestimmt, Großes zu vollbringen. Und stattdessen sitzt du hier, gibst ein Bild des Jammers ab und ertränkst dich in Selbstmitleid. Du solltest dich schämen! Wenn du Großes vollbringst, wirst du den Leuten eines Tages nicht mehr als Mörder im Gedächtnis bleiben, sondern als Held.“ „Ein Held“, wiederholte Vance abfällig. „So ein Blödsinn. Ich bin kein Held. Ich bin ein Monster.“ Du hast einen Menschen getötet“, erwiderte Craig scharf. „Vielleicht hatte er es verdient, vielleicht auch nicht. Jetzt quält dich dein Schuldbewusstsein und du machst du dir selbst die schlimmsten Vorwürfe. Ich bin gestern drei richtigen Monstern begegnet, wilden Bestien, die mich zum Frühstück fressen konnten. Und die waren nicht dazu in der Lage, Reue zu verspüren.“ Vance schwieg. Craig konnte genau sehen, wie er nachdachte. „Du hast vorhin gesagt, dass man ein Leben nur mit einem anderen Leben aufwiegen kann“, fuhr der Waisenjunge fort und seine Augen funkelten schelmisch. „Und das stimmt auch. Aber niemand sagt, dass es dein Leben sein muss. Du kannst Leben retten, das habe ich dir schon einmal gesagt. Eine gute Tat macht einen Mord bestimmt nicht wett, aber vielleicht kann eine Vielzahl von guten Taten ein so schweres Verbrechen eines Tages aufwiegen. Du hattest hier vielleicht eine einmalige Chance, dich von deiner Schuld zu befreien, aber du hast sie einfach weggeworfen!“ Seine Worte erfüllten ihren Zweck. Nachdenklich nestelte Vance an dem Seil an seiner Hüfte herum. „Jetzt ist es zu spät“, stellte er verbittert fest und legte eine Hand an das Gitter. „Ich bin nicht länger der Herr meines eigenen Schicksals.“ „Tja, dann bleibt dir nur noch zu hoffen, dass das Schicksal noch eine zweite Chance für dich bereithält“, erwiderte Craig und stand auf. „Und wenn das so sein sollte, ergreifst du sie gefälligst beim Schopf! Ich hätte nämlich wirklich nichts dagegen, dir dein Hackebeil eines Tages wiedergeben zu können.“ Er wusste nicht, ob Vance jemals wieder die Gelegenheit bekam, sich seine Worte zu Herzen zu nehmen. Wenn ihn sein Weg in einen dunklen Kerker oder auf ein Schafott führte, waren Craigs Ratschläge vollkommen nutzlos. Aber immerhin hatte Vance eine Menge Zeit, um über seine wahren Fehler nachzudenken. Am liebsten hätte Craig ihm seine Worte eingeprügelt, aber jetzt, da es für den Dorashen kein Zurück mehr gab, schienen sie auf einmal seinen Panzer aus Selbstmitleid und Schuldgefühlen zu durchdringen. Leider kam Vances Einsicht zu spät. Craig fragte sich, ob sein Weg anders verlaufen wäre, wenn er sich seinen Mitmenschen freiwillig als Dorashen offenbart hätte. Der Waisenjunge konnte nicht glauben, dass er damit nur auf Angst und Abneigung gestoßen wäre. Der Kerkermeister war das beste Beispiel. Er machte sich überhaupt nichts aus Vances Götterblut. Für ihn war er ein Gefangener wie jeder andere auch und noch dazu ein riesengroßer Jammerlappen. „Das war eine beeindruckende Ansprache“, stellte Jel fest und klopfte Craig anerkennend auf die Schulter. „Das passt gar nicht zu einem Knirps wie dir.“ Der Waisenjunge blähte empört die Backen auf. Er konnte es nicht leiden, ständig wie ein Kind behandelt zu werden. Das war auf dem Festland nicht anders als in Notting. Nirgends nahm man ihn für voll. Craig konnte seinen Zorn gerade noch in Zaum halten. So erntete Jel nur einen kurzen, wütenden Blick statt einer ausgewachsenen Hasstirade. „Ich musste mir solche altklugen Sprüche oft genug selbst anhören“, brummte er. Hiob hatte ihn mit weisen Ratschlägen und oberlehrerhaften Lektionen nie verschont und nun hatten sie offenbar auf ihn abgefärbt. „Bist du dann fertig hier?“, fragte Jel und grinste. Augenscheinlich war ihm nicht entgangen, dass er Craig mit seinen Worten provoziert hatte. Der Waisenjunge nickte finster und wandte sich von dem Gitter ab, hinter dem Vance gedankenverloren auf der Matte saß. In diesem Moment ertönten von der Treppe energische Schritte und das Klirren schwerer Kettenhemden. Die Geräusche hallten bedrohlich von den steinernen Wänden des Kerkers wieder und im nächsten Augenblick trat der größte Mann in den Schein der Fackeln, den Craig jemals gesehen hatte. Es war ein riesiger Ork. Er überragte Jel, der auch nicht gerade von kleiner Statur war, um einen ganzen Kopf. Muskelbepackte Arme, so dick wie Baumstämme, verschränkten sich vor dem gewaltigen Brustkorb, der unter einer vergoldeten Plattenrüstung steckte. Auf dem Torso prangte der Löwenkopf des Kaiserhauses. Graugrüne Haut spannte sich über einen deformierten Schädel mit einem kantigen Kinn und einer von Falten zerfurchten Stirn. Schwarze Kriegszöpfe rahmten ein Gesicht, das so hart wie Stein wirkte, und aus dem linken Mundwinkel ragte ein langer Eckzahn. Der Ork blickte sich spöttisch im Kerker um und die beiden Soldaten, die ihn begleiteten, verschwanden beinahe hinter ihm. Craig musste nicht erst den roten Umhang entdecken, der an goldenen Spangen befestigt über den breiten Schultern des Hünen hing, um zu wissen, dass er vor dem befehlshabenden Brigadegeneral stand. Das selbstsichere und herrische Auftreten erzählte mehr über den Rang dieses Mannes, als es Dutzende Orden tun konnten. „Was macht der Zivilist hier?“ Selbst Loronks Stimme war beeindruckend. Tief und grollend rumpelte sie in seiner Brust und raubte Craig beinahe den Atem. Er fragte sich kurz, wie es ein Ork geschafft hatte, in die Generalsränge der Armee aufzusteigen, aber Loronks autoritäre Ausstrahlung beantwortete seine Frage sofort. Sogar Farniel und Vox unterbrachen in ihren Zellen erschrocken ihre Mahlzeit und hielten die Luft an. Vance dagegen schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass ein imposanter Neuankömmling den Kerker betreten hatte. Sein Blick ging ins Nichts und seine ausdruckslosen Augen wirkten sogar noch leerer als gewöhnlich. Und auch Jel wirkte weniger beeindruckt, sondern vielmehr verwundert. Er salutierte vor dem General, wobei er argwöhnisch die Brauen zusammenschob. „Er ist hier, um einen der Gefangenen zu besuchen“, gab er Loronk Auskunft. „Darf ich fragen, was Ihr hier sucht, Brigadegeneral?“ Auf den wulstigen Lippen des Orks lag ein schiefes Grinsen, dessen verschlagene Wirkung durch den tückisch hervorstehenden Eckzahn noch zusätzlich verstärkt wurde. „Dürft Ihr nicht, Fähnrich“, entgegnete er schroff. „Aber Ihr dürft diesen Winzling aus meinem Dunstkreis entfernen. Ich habe eine Angelegenheit mit Euch zu klären.“ Craig konnte hören, wie Jel schluckte. „Du hast es gehört, Craig“, lachte er heiser, doch er konnte die Anspannung in seiner Stimme nicht verbergen. „Die Besuchszeit ist um.“ Der Waisenjunge nickte nur und sah dann zu, dass er wegkam. Denn er spürte instinktiv, dass dieser Ork, der den Kerker betreten hatte, ein gefährlicher Mann war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)