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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Craig stellte schnell fest, dass das Leben in Eydar kaum etwas mit dem auf Notting gemeinsam hatte. Einzig das Armenviertel mit den maroden Fischerhütten nahe dem Hafen glich dem, was von seinem Heimatdorf nach dem Piratenüberfall übriggeblieben war. Die Stadt selbst aber strotzte vor Reichtum. Selbst einfache Wohnhäuser waren größer als jedes Gebäude auf Notting. Händler priesen Waren aus aller Herren Länder an. Vor allem die große Auswahl an Fleisch verschlug Craig die Sprache. Auf Notting war es eine Seltenheit gewesen, wenn er einmal einen Schinken auf den Teller bekommen hatte, während hier feinste Filets von exotischen Tieren feilgeboten wurden, von denen Craig noch nie gehört hatte.

Nachdem sich Gilroy wortkarg von ihnen verabschiedet hatte und etwas davon gemurmelt hatte, dass er noch eine Menge Netze zu flicken hatte, hatten Craig und Vance das Segelboot von der Anlegestelle losgemacht und an den nahen Strand gebracht, wo die Boote der Fischer im Sand lagen. Danach hatten sie sich auf den Weg in die Stadt begeben und nun schlenderte Craig mit seinem noch immer nassen Gepäck im Schlepptau staunend durch die breiten Straßen von Eydar. Vance war ihm bislang noch nicht von der Seite gewichen, aber Craig wusste, dass sich ihre Wege bald trennen würden, sofern der Dorashen wirklich nur mit ihm gekommen war, um in der Stadt Arbeit zu finden. Während auf Craig fast an jeder Ecke neue Eindrücke warteten, wirkte Vance desinteressiert und gelangweilt.

An einer Hauswand lehnte ein Waldelf und Craig musste sich sehr zusammenreißen, den Mann nicht allzu offensichtlich anzustarren. Dunkelelfen waren auf Notting ein häufiger Anblick gewesen, aber einen Waldelfen hatte Craig noch nie zuvor gesehen. Er war erstaunt, wie sehr sich die Ureinwohner von Shalaine von ihren Vettern aus den Dschungeln im Süden unterschieden. Während die Dunkelelfen von großem Wuchs waren und eine blasse, fast weiße Hautfarbe hatten, war dieser Waldelf klein und zierlich. Sein Gesicht hatte einen dunklen Teint, der Craig an die Farbe von Baumrinde erinnerte. Nur seine langen, spitzen Ohren teilte er sich mit den Dunkelelfen.

Eine Patrouille Kaiserlicher Soldaten kam ihnen entgegen. Ihre Schwerter blitzten im Sonnenlicht und als Craig das Zeichen des Kaisers sah, das kunstvoll auf ihre Lederrüstungen gestickt worden war, musste er an Hiob denken. Seine erste direkte Begegnung mit den Soldaten war nicht besonders gut ausgegangen und Craig machte unwillkürlich einen großen Bogen um die Patrouille. Trotzdem versetzte ihn auch dieser Anblick in Staunen, denn noch nie hatte er eine so deutliche Präsenz der Kaiserlichen Armee erlebt.

Überrascht stellte er fest, dass auch Vance den Soldaten nervös auswich. Craig blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn der Wagen eines Händlers rollte so knapp an ihm vorbei, dass er ihm beinahe über die Zehen gefahren wäre. Er drehte sich um und wollte schon ein paar wilde Flüche ausstoßen, doch dann entdeckte er die Stadtmauer.

Groß und mächtig ragte sie in den Himmel. Sie erstreckte sich einmal quer über den Zugang zur Bucht, in der Eydar lag. Nach Westen hin verschwand sie zwischen den Klippen, während sie im Osten bis an die Küste heranreichte und dort mit einer großen, steil abfallenden Felswand abschloss. Das zentrale Tor sah äußerst massiv aus und war zu Craigs Verwunderung verschlossen. Er hatte erwartet, dass täglich Scharen von Händlern in der Stadt ein- und ausgehen würden, aber dann rief er sich zurück in Erinnerung, dass auch die Küstenstraße merkwürdig verlassen gewirkt hatte.

Zwei große Türme aus robustem Mauerwerk flankierten das Tor und auf den Wehrgängen konnte Craig mit langen Speeren bewaffnete Soldaten erkennen, die dort Wache hielten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es eine Macht in Gäa gab, die diese Verteidigungsanlagen durchbrechen konnte. Eydar war bestens geschützt, aber Craig hatte nicht vergessen, dass sich Gilroy nicht besonders begeistert über die Anwesenheit der Soldaten geäußert hatte.

Überhaupt war es auffallend, dass trotz des offensichtlichen Wohlstandes der Stadt kaum ein glückliches Gesicht zu sehen war. Craig hatte zunächst gar nicht darauf geachtet, aber als sie einer zweiten Patrouille begegneten, sah er, dass auch die Einwohner den Soldaten auswichen und schüchtern die Blicke senkten. Eigentlich hatte er erwartet, dass sich die Bevölkerung sicher und beschützt fühlte, aber in den kurzen Begegnungen zwischen Soldaten und Bewohnern spiegelte sich etwas, das über bloßen Respekt hinausging. Die Bürger hatten Angst.

Craig konnte sich keinen Reim darauf machen, aber dann dachte er an seine kurze Begegnung mit Aulus. Der Kerl hatte etwas von den Goldenen Falken erzählt. Craig wusste, dass es sich dabei um den Nachrichtendienst des Kaisers handelte, aber ihm war nicht bekannt, inwieweit die Goldenen Falken und die Armee zusammengehörten. Wenn die zuständigen Offiziere der in Eydar stationierten Truppen aber ähnlich aufgeblasene Einfaltspinsel wie Aulus waren, dann konnte Craig den Unmut der Bevölkerung gut nachvollziehen.

Trotz allem überwog sein Staunen. Schon jetzt war er der Meinung, dass es sich gelohnt hatte, Notting zu verlassen, und er war begierig darauf, noch mehr von diesem fremden Land und dieser fremden Stadt zu entdecken. Bei all seiner Begeisterung bemerkte Craig zunächst gar nicht, dass er selbst auffiel, wie ein bunter Hund. Die Stadtbewohner, denen er und Vance begegneten, warfen ihm allesamt verstohlene Blicke zu. Zunächst glaubte Craig noch, dass sie Vance anstarrten, aber der Dorashen wirkte so unscheinbar wie ein Mauerblümchen. Er verhielt sich unauffällig und schließlich wurde dem Waisenjungen klar, dass er selbst im Mittelpunkt des Interesses stand.

Manche Blicke galten den alten Brandnarben in seinem Gesicht und Craig konnte in ihren Augen sehen, dass sie Mitleid mit ihm hatten. Doch am meisten Aufmerksamkeit erregte das Schwert, das in seinem Gürtel steckte. Der Anblick eines Jungen, der eine Waffe trug, um die ihn selbst Soldaten beneiden würden, verwunderte die Bevölkerung sichtlich. Craig blähte stolz die schmale Brust und ignorierte, dass seine abgewetzte Kleidung, in der noch immer Meersalz klebte, überhaupt nicht zu dem edlen Schwert an seiner Seite passte.

„Lass uns ein Gasthaus suchen“, schlug Vance vor und riss Craig unsanft aus dem Tümpel aus Selbstgefälligkeit, in dem er sich suhlte. Es war das erste Mal, dass er sich zu Wort meldete, seit sie den Hafen verlassen hatten.

„Wolltest du nicht nach Arbeit suchen?“, fragte der Waisenjunge und zwinkerte einem dunkelelfischen Mädchen zu, das ihn mit offenem Mund anstarrte.

„Schon“, erwiderte Vance. „Aber ich schulde dir was für die Überfahrt. Ich würde dich gerne auf ein Bier einladen.“

Craig entging nicht, dass die schwarzen, glanzlosen Augen des Dorashen ruhelos umherwanderten, fast als fürchtete er, dass jeden Moment ein wildes Tier aus einer der dunklen Gassen stürmen und ihn angreifen könnte.

„Ein Bier für eine Überfahrt“, lachte der Waisenjunge heiser. „Ich glaube, ich bin viel zu günstig. Aber ich sage nicht nein.“

„Das freut mich“, sagte Vance, auch wenn er alles andere als zufrieden wirkte. Craig wurde noch immer nicht schlau aus dem seltsamen Zeitgenossen. Einen Dorashen hatte er sich ganz anders vorgestellt. Die Geschichten über die Gottesstreiter waren schon immer weit auseinandergegangen. Die einen berichteten von ihnen als große Helden, voller Selbstbewusstsein und Gerechtigkeitssinn, während sie von anderen als heimtückische und verräterische Schurken und Wegelagerer stigmatisiert wurden. Aber Vance war weder das eine, noch das andere. In Craigs Augen war er nichts als ein unsicherer, eigenbrötlerischer Vagabund, der sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen. Er machte es ihm wirklich schwer, ihn zu mögen, aber Craig stellte zu seiner eigenen Verwunderung fest, dass er ihm aus irgendeinem Grund sympathisch war.

Sie erkundigten sich nach einem Gasthaus und schon der erste Passant, den sie fragten, konnte ihnen eines empfehlen und ihnen eine grobe Wegbeschreibung geben. Dank dieser Hilfe wurden sie bald fündig und standen nur kurze Zeit später vor der erwähnten Taverne. Es war ein zweistöckiges Gebäude nahe dem Stadttor und Craig schätzte, dass es in etwa dieselben Ausmaße hatte, wie Premans Kneipe. Über der Eingangstür hing ein schweres Schild, auf dem mit verwitterten Buchstaben aus Eisen der Name der Taverne stand.

Nebelbank“, las Craig vor und kratzte sich an der Nase. „Klingt irgendwie nicht besonders einladend.“

„Ich habe schon schlimmere Namen gesehen“, gab Vance tonlos zurück. „Willst du mein Angebot etwa doch noch ausschlagen?“

„Auf keinen Fall!“, rief Craig hastig, der sich schmerzlich in Erinnerung rief, dass er kein Geld besaß. Vielleicht wäre es mit Hinblick auf seine bevorstehende Reise doch nützlich gewesen, wenn er sich von den Bewohnern von Notting für seine Hilfe ab und an doch mit Münzen statt Nahrungsmitteln hätte auszahlen lassen. Geld hatte in seinem Leben nie eine Rolle gespielt, aber allein der wenig freundliche Empfang von Aulus hatte ihm deutlich gezeigt, dass man offensichtlich nicht weit kam, wenn man nicht bezahlen konnte. Craig war ein Selbstversorger, aber er hatte schon immer die Vorzüge zu schätzen gewusst, die es mit sich brachte, wenn man seinen Proviant nicht selbst durch Angeln oder Jagen auftreiben musste. Und ein kühles Bier war eine willkommene Abwechslung zu Wasser. Deshalb kam ihm Vances Einladung gerade recht.

Als sie die Taverne betraten, blieb Craig wie angewurzelt in der Tür stehen. Der Gastraum war bis auf den letzten Tisch mit Leuten belegt und die Luft war erfüllt vom Durcheinander ihrer Gespräche. Menschen und Dunkelelfen tranken und lachten zusammen und aus dem Obergeschoss, das über eine Treppe im hinteren Teil des Gasthauses zu erreichen war, drang melodisches Lautenspiel. Genauso musste es in Premans Kneipe zugegangen sein, bevor ganz Notting vor die Hunde gegangen war.

Hinter dem Tresen stand ein schlanker Waldelf, dessen wildes, haselnussbraunes Haar mit einem roten Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Als er Craig und Vance bemerkte, kam er grinsend hinter dem Tresen hervor und steuerte direkt auf die beiden Neuankömmlinge zu.

„Willkommen im Gasthaus Nebelbank!“, rief er überschwänglich. „Mein Name ist Aglir und ich bin der Schankwirt dieser bescheidenen Taverne. Fühlt Euch ganz wie zuhause! Wir bieten allerlei Getränke für ausgetrocknete Kehlen und zwei erschöpfte Wanderer werden hier auch ein warmes Bett für die Nacht finden.“

Bei den letzten Worten deutete er vielsagend auf Craigs Kleidung, die noch immer nicht richtig trocken war.

„Für den Anfang nehmen wir zwei Krüge Bier“, sagte Vance und sah sich im Gastraum um. „Vorausgesetzt, wir finden einen freien Platz.“

Aglir deutete eine Verbeugung an. „Aber selbstverständlich!“, versicherte er. „Geht einfach ins Obergeschoss, dort habt Ihr einen Tisch ganz für Euch allein.“

Vance nickte dem geschäftigen Waldelfen zu und bedeutete Craig mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Gemeinsam begaben sie sich ins Obergeschoss und fanden, wie Aglir versprochen hatte, einen freien Tisch zwischen einer Gruppe grölender Männer und einem weiteren Tresen. Dahinter stand eine dunkelelfische Schankfrau, die sich vor einem großen Weinregal aufgebaut hatte, in dem zahllose Flaschen lagerten. Ein weiterer Dunkelelf stand in der Ecke neben einem prasselnden Kaminfeuer und klimperte auf einer Laute herum. Einige Gäste stimmten zu seiner Melodie ein Lied an, aber sie sangen so schief und falsch, dass sich Craig am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

Mit gequältem Gesicht setzte er sich und streifte sich den Riemen seines Rucksacks von der Schulter. Vance nahm ihm gegenüber Platz und noch bevor einer der beiden die Gelegenheit hatte, die ausgelassene Stimmung auf sich wirken zu lassen, stand Aglir wie aus der Luft geschält neben ihrem Tisch und servierte ihnen zwei blecherne Krüge voll Bier. Der Schaum warf noch Blasen und sickerte in einer schmalen Bahn an der Außenseite des Humpens hinab.

Aglir streckte Vance auffordernd eine Hand hin, ohne dass das Grinsen von seinen Lippen verschwand. Craig fragte sich, wie der Waldelf wohl aussah, wenn er nicht lächelte.

Vance bezahlte anstandslos und nachdem Aglir die Münzen entgegengenommen und gezählt hatte, drehte er sich zufrieden um und eilte davon, ohne seine Gäste eines weiteren Blickes zu würdigen.

Craig griff nach seinem Humpen und prostete Vance zu. „Ich danke dir“, rief er glücklich.

„Ich habe zu danken“, entgegnete der Dorashen und setzte sich seinen Krug an die Lippen. Auch Craig trank einen Schluck und stellte fest, dass das Bier deutlich kühler war, als in Premans Gasthaus. Außerdem schmeckte es ganz anders. Zuerst war es so herb, dass Craig beinahe das Gesicht verzog, doch dann entfaltete es im Nachgang einen leicht süßlichen Geschmack, der ihn an den Geruch von Apfelblüten erinnerte. Er musste zugeben, dass ihm dieses Bier sehr behagte und er nahm gierig noch einen Schluck.

Auch Vance trank fleißig, doch es war nicht zu erkennen, ob es ihm mundete oder nicht. Craig kam kurz der abstruse Gedanke, dass Dorashen vielleicht gar keinen Geschmackssinn hatten.

Während sie so dasaßen und tranken, sprach keiner von ihnen ein Wort. Craig wurde die Stille allmählich unangenehm. Ringsum unterhielten sich die anderen Gäste und lachten ausgelassen, wohingegen er und Vance sich anschwiegen. Craig entschloss sich, die Stille zu durchbrechen, und räusperte sich geräuschvoll.

„Also“, begann er gedehnt. „Ich weiß ja noch immer fast nichts über dich. Ich kenne nur deinen Namen und deinen Heimatort.“

„Mehr weiß ich über dich auch nicht“, erwiderte Vance ungerührt.

„Du hast mich nie etwas gefragt“, stellte Craig fest. „Interessiert es dich überhaupt nicht, mit wem du das Binnenmeer überquert hast?“

„Eigentlich nicht“, gab Vance zu. „Wir haben es ja schließlich mehr oder weniger sicher geschafft. Das ist doch die Hauptsache.“

Craig seufzte verzweifelt. Offenbar war es nicht möglich, ein vernünftiges Gespräch mit Vance zu führen. Es kam ihm fast vor, als würde sich der Dorashen energisch dagegen wehren, mehr von sich preiszugeben, doch seine Verschlossenheit machte Craig nur noch neugieriger. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum und versuchte, sich eine Frage zurechtzulegen.

Doch zu seinem Erstaunen kam ihm Vance zuvor. Er tippte sich mit dem Finger unter die Augen. „Woher hast du die?“, wollte er wissen.

Craig fasste sich unwillkürlich an das Narbengewebe an seinen Wangen. „Das ist passiert, als das Haus meiner Eltern von Piraten niedergebrannt wurde“, erzählte er und sein Blick verfinsterte sich. „Meine Eltern sind dabei umgekommen.“ Er hob den Kopf und sah Vance direkt in die ausdruckslosen Augen. „Und was ist mit dir? Woher hast du diese Narbe an deiner Wange?“

Vance zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er. „Sie war schon immer da, solange ich denken kann.“

Craig kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Dann hast du diese Verletzungen schon als Kleinkind davongetragen? Haben dir deine Eltern nie erzählt, wie das passiert ist?“

„Ich habe keine Eltern“, gab Vance zurück und stellte seinen Humpen ab. Craig konnte erkennen, dass er leer war. „Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, jemals welche gehabt zu haben.“

Craigs Magen krampfte sich zusammen. Er fragte sich, ob es schlimmer war, seine Eltern zu verlieren, oder seine Eltern überhaupt nicht zu kennen. Unbestreitbar war aber, dass Vance ein hartes Los gezogen hatte. Allmählich konnte Craig verstehen, weswegen der Dorashen so verschlossen und in sich gekehrt war.

„Kein Wunder, dass ich nichts über dich weiß“, stellte Craig fest. „Du weißt ja selbst nichts über dich. Bist du dir überhaupt sicher, dass dein Name Vance ist?“

„Ich denke schon. Die Leute aus meinem Heimatdorf haben mich so genannt.“

„Und bist du dir auch sicher, dass du ein Dorashen bist?“, fragte Craig neugierig.

In Vances Augen flackerte der Anflug eines panischen Leuchtens auf. Er sah sich gehetzt um, doch alle anderen Gäste waren zu sehr in ihre eigenen Gespräche vertieft, um etwas von der Unterhaltung zwischen ihm und Craig mitzubekommen. „Nicht so laut“, bat er dennoch mit gesenkter Stimme. „Ich bin ohne Zweifel ein Dorashen. Auch wenn es mir lieber wäre, ein normaler Mensch zu sein. Das würde mein Leben nämlich um ein Vielfaches vereinfachen.“

Craig senkte schuldbewusst den Kopf. Offenbar sprach Vance nicht gerne über seine wahre Identität. Das war auch nicht weiter verwunderlich, nachdem das Schicksal den Dorashen so übel mitgespielt hatte. In den meisten Gegenden fürchtete und verachtete man sie, aber für Craig waren sie Legenden. Er glaubte viel lieber den Geschichten, aus der alten Zeit, als die Dorashen noch gefeierte Helden gewesen waren, als den bösartigen Gerüchten, die in den letzten Jahrhunderten gestreut worden waren. Die Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte. Wenn er sich Vance so ansah, konnte er einfach nicht glauben, dass er jemandem etwas Böses wollte. Und er wollte wahrscheinlich nicht als Dorashen erkannt werden, weil er sich in der Vergangenheit wegen des besonderen Blutes, das durch seine Adern floss, immer wieder Anfeindungen ausgesetzt gesehen hatte. Vielleicht verhielt er sich deshalb so verschwiegen und zurückhaltend. Craig begriff nun auch, warum es Vance so eilig gehabt hatte, Notting zu verlassen und auch nicht vorhatte, allzu lange in Eydar zu bleiben. Er wollte ständig seinen Aufenthaltsort ändern, bevor ihn jemand als Dorashen erkannte und ihm die Missgunst der Bevölkerung entgegenschlug.

Craig wurde plötzlich bewusst, dass er vermutlich eine der wenigen Personen war, die Vances wahre Identität kannten. Es lag also gewissermaßen in seiner Verantwortung, dass weiterhin geheim blieb, dass Vance ein Dorashen war. Für ihn war klar, dass er Stillschweigen bewahren würde. Craig fühlte sich bei diesem Gedanken plötzlich furchtbar wichtig, denn er begriff, dass er zu einem kleinen Kreis von Geheimnisträgern gehörte. Allerdings erinnerte er sich auch noch lebhaft daran, dass Hiob den Dorashen nur an dessen Aura erkannt hatte. Wenn es noch mehr Leute gab, die dazu in der Lage waren, würde Vance über kurz oder lang in Schwierigkeiten geraten.

Dem Waisenjungen schwirrte der Kopf. Wenn Vance seine gottgegebenen Fähigkeiten nutzen würde, um Gutes zu bewirken, dann würde er damit ganz Gäa zeigen, dass die Dorashen keine hinterhältigen Schurken waren. Er konnte die Namen aller Gottesstreiter reinwaschen, die in der Vergangenheit zu Unrecht verstoßen und verfolgt worden waren.

Aber Vance machte nicht den Eindruck, als würde er aktiv werden wollen. Seit Craig die Dorashen angesprochen hatte, wirkte er geistesabwesend und noch verschlossener. Der Waisenjunge konnte förmlich spüren, dass irgendetwas seinen Weggefährten hemmte. Etwas tief in seinem Inneren, das ihn dazu zwang, ständig davonzulaufen und sich zu verstecken. In gewisser Weise erinnerte er Craig an Knack. Auch der Knucker war kein bösartiges Wesen, aber trotzdem hatte die Bevölkerung Angst vor ihm. Und allein deshalb würde sie ihm mit Aggression begegnen und ihn vertreiben, wann immer sie ihn zu Gesicht bekamen. Craig hatte das dringende Bedürfnis, Vance zu helfen, aber er wusste nicht wie.

„Kann ich noch ein Bier bekommen?“

Craig hob den Kopf und sah, wie Vance der Dunkelelfe hinter dem Tresen seinen leeren Humpen entgegenstreckte. Die Schankfrau schüttelte den Kopf. „Von mir nicht“, sagte sie. „Bier gibt es unten bei Aglir. Ich schenke nur Wein aus.“

„Verstehe“, erwiderte Vance und wollte aufstehen, da schob ihm Craig eilig seinen Krug hin. „Bleib sitzen“, rief er hastig und stand seinerseits auf. „Du kannst mein Bier haben. Irgendwie ist mir die Lust daran vergangen. Außerdem wird es Zeit, dass ich mal nachsehe, was Knack so treibt und wo er sich verkrochen hat.“

„Wie du meinst“, gab Vance monoton zurück und griff etwas zögerlich nach dem Bierkrug.

„Wir sehen uns!“, rief Craig zuversichtlich und klopfte zum Abschied auf den Tisch. Dann schnappte er sich sein Gepäck, eilte die Treppe hinunter und verließ das Gasthaus Nebelbank.
 

Seine Schritte lenkten ihn fort von der Stadtmauer und zurück zum Hafen. Als er die Anlegestellen erreichte, wendete er sich nach rechts und steuerte auf die Landzunge mit dem Leuchtturm zu. In den Klippen dahinter gab es viele Felsnischen, in denen Knack Unterschlupf gefunden haben könnte.

Auf seinem Weg passierte Craig die Fischerhütten. Vor einer besonders heruntergekommenen Unterkunft kniete Gilroy im schlammigen Ufersand und flickte eines seiner Netze. Craig grüßte den mürrischen Dunkelelfen im Vorbeigehen und Gilroy hob den Kopf.

„He, Junge, wo soll es denn hingehen?“, fragte er.

Craig überlegte sich eine Antwort. Er wollte dem Dunkelelfen nicht auf die Nase binden, dass er nach einem Knucker suchte. „Ich will mir die Landzunge ansehen“, rief er schließlich. „Von den Klippen aus hat man bestimmt einen tollen Ausblick auf das Binnenmeer.“

„Wenn kein Nebel herrscht“, erwiderte Gilroy mit einem finsteren Kopfnicken. „Aber pass auf dich auf! In den Klippen brütet eine Kolonie von Felsharpyien. Die sind zwar nicht ganz so groß, wie die Biester in den Wolkenbergen, aber mindestens genauso bösartig. Und auch wenn sie sich hauptsächlich von Fisch ernähren, gibt es keine Harpyie in ganz Gäa, die Menschenfleisch verschmäht. Und so einen Knirps wie dich verspeisen sie zum Frühstück.“

Craig musste schlucken. Das klang in der Tat ungemütlich und er bereute es, dass er Knack geraten hatte, sein Glück auf der Suche nach einem Unterschlupf jenseits der Landzunge zu versuchen. Andererseits wusste Craig genau, dass der Knucker bestens in der Lage war, sich zu verteidigen. Er selbst verspürte hingegen wenig Lust auf eine Begegnung mit den Felsenharpyien.

„Danke für die Warnung“, rief er Gilroy zu. „Ich werde mich schon nicht fressen lassen! Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“

Der Dunkelelf kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Ja, fall nicht von den Klippen“, brummte er. „Sie sind zwar nicht allzu hoch und steil, aber ein Sturz könnte trotzdem ziemlich unangenehm werden.“

„Ich werde daran denken“, gab Craig zurück und winkte Gilroy zu, der sich gar nicht weiter um den jungen scherte, sondern sich wieder seinen Netzen zuwandte. Der Waisenjunge musste grinsen. Gilroy gab sich ruppig und unfreundlich, aber trotzdem hatte er sich seit Craigs Ankunft immer wieder als hilfsbereit erwiesen, auch wenn er so tat, als würde er einem Fremden nur ungern Auskunft geben. Vermutlich war das einfach die Art der Dunkelelfen von Shalaine. Craig erinnerte sich daran, dass Hiob ihm erzählt hatte, dass sie ein sehr stolzes Volk waren, das sich den Menschen überlegen fühlte. Vermutlich ging es einfach gegen ihr Selbstwertgefühl, Fremden allzu höflich zu begegnen.

Der Waisenjunge folgte der Gezeitenlinie nach Westen und seine Sandalen hinterließen deutliche Abdrücke im feuchten Sand. Das Kreischen der Möwen, die über dem Hafen kreisten, begleitete ihn und bald hatte er die Hütten der Fischer hinter sich gelassen. Vor ihm lag nur noch die Landzunge, die zur Bucht hin sanft abfiel, aber sich in Richtung Meer zu schroffen Klippen auftürmte.

An der Spitze der Felshänge stand der Leuchtturm. Erst jetzt, da er näher kam, konnte Craig die wirkliche Größe dieses Bauwerks erkennen. Mächtige Steinblöcke bildeten das Fundament, der Turm selbst bestand aus kleineren Mauersteinen, deren Ecken von Wind und Wetter zu sanften Rundungen geformt worden waren. Die Feuerplattform und das Dach bestanden aus Holz und Craig konnte im Schein des Leuchtfeuers in schwindelerregender Höhe die winzige Silhouette eines Soldaten sehen. Das Signallicht des Turms musste meilenweit zu sehen sein.

Der Eingang wurde von zwei weiteren Soldaten bewacht. Craig konnte sehen, dass sie in misstrauisch beäugten, und er entschied sich, einfach weiterzugehen, ehe man ihm noch unangenehme Fragen stellte. Der Leuchtturm befand sich auf dem höchsten Punkt der Klippen, sodass ihn der Rest seines Weges leicht bergab führte. Vorsichtig trat er den Rand der Felsen heran und spähte in die Tiefe. Wie Gilroy gesagt hatte, waren die Klippen tatsächlich weder hoch, noch steil. Craig war sich sicher, dass er den Hang vom Meer aus relativ bequem würde erklimmen können. Dafür waren die Felsen zerklüftet und ragten wie einzelne Dornen aus dem Wasser. Überall gab es kleine Nischen und Höhlen, in denen sich Knack bequem verstecken konnte. Craig seufzte leise. Es würde nicht so einfach werden, den Knucker zwischen den Felsen zu finden. Er hatte keine Lust, hinabzuklettern und die ganze Länge der Klippenfront abzusuchen. Stattdessen setzte er darauf, dass Knack ihn wittern und von alleine zu ihm kommen würde, wenn er in der Nähe war.

Das Rauschen der Brandung übertonte an diesem Ort sogar das Geschrei der Seevögel. Gischt schäumte zwischen den Felsen, an denen sich die Wellen geräuschvoll brachen. So wild und ungebändigt das Wasser an der Küste auch war, so ruhig und friedlich wirkte es auf dem offenen Meer. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte Craig aber gezeigt, dass die Elemente launisch waren und eine Flaute jeder Zeit in einen zerstörerischen Orkan umschlagen konnte.

Die Sonne glitzerte auf der Oberfläche und nach Westen hin sah der Waisenjunge nichts als Wasser. Ein seltsames Gefühl der Sehnsucht erfüllte ihn bei diesem Anblick und ohne es zu wollen wandte er sich um und sah nach Süden. Am Horizont, ein kleines Stück links neben dem Leuchtturm, meinte er einen dunklen Fleck hinter den Wellen zu erkennen. Noch kam es ihm unwirklich vor, dass er Notting vermutlich eine ganze Weile nicht mehr betreten würde.

Craig schüttelte heftig den Kopf und riss sich aus seinen Träumereien. Jetzt war nicht der Augenblick, um über seine Heimat zu sinnieren. Er hatte seine Gründe gehabt, Notting zu verlassen, und jetzt war er hier in dieser fremden Stadt in diesem fremden Land. Er musste Knack finden und sich dann überlegen, wie es weitergehen sollte. Vielleicht sollte er einfach drauflos wandern, aber als er daran dachte, dass die Straßen in dieser Gegend nicht ohne Grund so spärlich genutzt wurden, verwarf er diesen Gedanken wieder.

Er erinnerte sich an Gilroys Warnung bezüglich der Felsharpyien und suchte den Himmel ab, doch er entdeckte lediglich einen großen Schwarm Möwen und einen großen Sturmtaucher, der auf der Thermik segelte und in Küstennähe nach lohnender Beute suchte. Es schienen nur harmlose Seevögel unterwegs zu sein und gerade, als sich Craig wieder entspannen wollte, ertönte plötzlich ein schrilles Krächzen. Sofort machte sein Herz einen Satz und er wirbelte erschrocken herum. Neben ihm ragte ein zerklüfteter Fels in die Höhe. In einer Nische hockte ein vogelartiges Wesen mit gefalteten Flügeln, das ihn aus kleinen, gelben Augen hungrig musterte. Seine Federn hatten den gleichen graubraunen Farbton wie die Klippen und Craig musste zweimal hinsehen, um den Vogel vor dem Hintergrund der Felsen zu erkennen, doch dann erstarrte er auf der Stelle.

Das geflügelte Ungeheuer war aufgerichtet nur so groß wie ein Kind, aber als es seine Schwingen ausbreitete, wirkte es sofort viel imposanter. Craig drehte sich der Magen um, als er die langen, wie Fleischerhaken gekrümmten Klauen des Vogels bemerkte. In seinen Fängen hielt das Untier die kümmerlichen Überreste von etwas, das nach Craigs Einschätzung einmal ein ausgewachsener Bluthecht gewesen war. Der Waisenjunge wusste mit Sicherheit, dass das kein harmloser Seevogel war, und noch bevor die Bestie ihren langen Schnabel öffnete und eine Reihe nadelspitzer Zähne präsentierte, wurde ihm klar, dass er auf eine Felsharpyie gestoßen war.

Craig griff hastig nach seinem Schwert, als der Raubvogel einen wütenden Schrei ausstieß und sich mit ein paar Flügelschlägen etwas unbeholfen in die Lüfte erhob. Im ersten Moment glaubte Craig, dass er das Ungeheuer erschreckt und vertrieben hatte, bis ihm klar wurde, dass die Harpyie in ihm einen schmackhaften Nachtisch sah. Sie flog einen kleinen Bogen, um Anlauf zu nehmen, und ging dann im Sturzflug zu einem Frontalangriff über.



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