Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 7: ----------- Eydar war einst nur eine kleine Fischersiedlung an der südwestlichsten Küste der Halbinsel Adamas gewesen, doch mit der Kaiserlichen Armee waren der Handel und der Wohlstand in das Dorf gekommen. Das Reich der stolzen Dunkelelfen hatte sich mehrere Jahrhunderte lang gegen ein Friedensabkommen mit den Kaisern von Ganestan gesträubt, doch letztlich hatte sich das Königshaus von Shalaine dem Einfluss des Kaiserreichs beugen müssen. Geschadet hatte dieser Pakt den Dunkelelfen beileibe nicht und in Eydar waren die positiven Folgen des Abkommens besonders deutlich zu sehen. Aus einem kleinen Dorf, bestehend aus wenigen heruntergekommenen Fischerhütten, war durch die Anwesenheit der Kaiserlichen Armee eine wohlhabende Hafenstadt geworden. Seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten befanden sich in Eydar ein befestigter Stützpunkt der Truppen des Kaisers und ein Außenposten der Goldenen Falken, dem Kaiserlichen Informationsnetzwerk. Normalerweise arbeiteten Letztere im Geheimen, doch in Eydar war ihr Einfluss nicht zu übersehen. Ihre Aufgabe war es, die Bewohner der krisengeschüttelten Halbinsel zu beschützen. Adamas galt als Hochburg des Schmuggels und die Handelsstraßen im Landesinneren wurden von zahlreichen Räuberbanden heimgesucht. Die meisten Siedlungen waren Plünderern zum Opfer gefallen, doch die Dörfer und Städte entlang der Küste wurden von den Kaiserlichen Soldaten gesichert. Die hügeligen Gebiete weiter landeinwärts waren zu zerklüftet, um die Banditen aufzustöbern und auszumerzen, doch immerhin war es der Armee gelungen, die Bewohner der Küstenregionen vor der Bedrohung zu schützen. Den Landweg wählten Handelskarawanen und Reisende trotz gut ausgebauter Straßen kaum noch, stattdessen hatten sich verschiedene Seerouten etabliert, auf denen Kaufleute ihre Güter an der Küste von Adamas entlang verfrachten konnten. Ohnehin war das Hinterland von Eydar zu unwegsam und tückisch, um es gefahrlos durchqueren zu können. Wenige Meter vor den neuen Mauern der Stadt erstreckte sich die Düstermarsch, ein weites Waldgebiet voller tückischer Tümpel und bodenloser Schlammlöcher. Vor Jahrhunderten war dieses Gebiet von den Dunkelelfen besiedelt worden, doch ihre Versuche, den Sumpf urbar zu machen, waren gescheitert und die Natur hatte sich ihren Raum wieder zurückgeholt. Inzwischen zeugten nur noch von Schlingpflanzen überwucherte und halb im Schlamm eingesunkene Ruinen von der einstigen Besiedelung der Düstermarsch. Die neuen Bewohner dieser Gegend waren alles andere als gastfreundlich. Die fetten Riesenratten waren noch die harmlosesten Geschöpfe, die sich in den Wäldern herumtrieben. Obwohl sie bisweilen die Größe kleiner Hunde erreichten, wagten sie es nur in den seltensten Fällen, über lebendige Beute herzufallen. Sie waren Aasfresser und wenn irgendwo in der Düstermarsch ein Tier verendete, versammelten sich die Riesenratten in Scharen, um über den Kadaver herzufallen. Unter der Bevölkerung waren sie deshalb weniger als gefährliche Raubtiere, sondern eher als Überträger etlicher Krankheiten gefürchtet. In den Tümpeln warteten Sumpfspinnen, riesige, langbeinige Krabben, auf unvorsichtige Opfer, die sich zu nahe an ein Schlammloch heranwagten. Auch sie stellten im Grunde keine Gefahr für das Leben eines arglosen Reisenden dar, aber ihre Scheren waren kräftig und scharf, sodass eine Begegnung mit einer Sumpfspinne schnell einen Arm oder einen Fuß kosten konnte. Die tödlichsten Bewohner der Düstermarsch waren aber die blutrünstigen Warge. Glücklicherweise waren es meist nur Einzelgänger, die sich aus den Bergen in die Sümpfe verirrten, denn ein ganzes Rudel Warge war dazu in der Lage, einen Trupp bis an die Zähne bewaffneter Soldaten in Sekundenschnelle in Fetzen zu reißen. Die Düstermarsch grenzte im Norden und Osten an die Ausläufer der Wolkenberge, einer Mittelgebirgskette, die sich bis an die Küste erstreckte. Dort befand sich, an der Mündung des Flusses Maldocan, die Hafensiedlung Khaanor, die wie Eydar unter der Kontrolle des Kaisers stand. Die Wolkenberge waren ein noch lebensfeindlicheres Gebiet, als die Düstermarsch. Es gab dort kaum Vegetation und an den kahlen Berghängen nisteten Harpyien, die sich aggressiv auf jedes Lebewesen stürzten, das sich in ihr Territorium wagte. Schon als Einzelgänger waren die riesigen Vögel tödliche Raubtiere, doch in den Wolkenbergen brüteten sie in ganzen Kolonien. Die Luft war erfüllt von ihrem heiseren Krächzen, das wie eine schauerliche Warnung von den Berghängen zurückgeworfen wurde. Dennoch gab es zahlreiche Reisende, die den beschwerlichen und gefährlichen Weg durch die Wolkenberge auf sich nahmen, um die Wolkenspitze zu erklimmen. Dort, auf dem höchsten Gipfel des Gebirges, lebte in einem mächtigen Tempel eine kleine Gruppe von Mönchen, die sich dem Studium der Magie der Blitze widmeten. Die talentiertesten Sturmmagier ihrer Zeit hatten ihre Fähigkeiten durch Meditation auf dem Berggipfel erlangt. Es war nur wenigen Pilgern vergönnt, die altehrwürdigen Gemäuer betreten zu dürfen und an den Übungen der Mönche teilzunehmen. Der Vorsteher des Tempels war der Hochmagier Ascor, ein mürrischer Dunkelelf, der eine tiefe Abneigung gegen andere Völker hegte. Das Kaiserreich duldete den Lehrmeister des Ordens, denn obwohl er zweifellos mächtige und zerstörerische Magie beherrschte, sah man ihn nicht als Gefahr für den Frieden an. Ascor schien keinerlei Interesse daran zu haben, von der Wolkenspitze herunterzusteigen und Khaanor mit seinen Blitzen dem Erdboden gleichzumachen. Noch nie hatte jemand erlebt, dass der Hochmagier seinen Tempel verlassen hatte. In den Reihen der Kaiserlichen Armee konzentrierte man sich voll und ganz darauf, in Adamas für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Verbindungsachse zwischen Khaanor im Norden und Eydar im Süden stellte für die Kontrolle der Westküste der Halbinsel einen grundlegenden Faktor dar. Die Gefahr, die auf den Straßen herrschte, würde aufgrund des unwegsamen Geländes in der Düstermarsch zwar nur schwer zu bannen sein, aber dafür hatten die Kaiserlichen Truppen die Gestade zwischen Eydar und Khaanor fest im Griff. Die jeweiligen Befehlshaber standen miteinander in engem Kontakt und arbeiteten Hand und Hand, um die Küstengebiete zu sichern. In Eydar hatte schon seit Jahren Syndus Elagabal das Sagen. Er war ein Abkömmling eines verarmten Adelsgeschlechts aus Ganestan und ein Veteran aus dem Weltenkrieg. Nachdem der Frieden in Gäa wiederhergestellt worden war, hatte man ihn auf seine alten Tage ehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen und ihn in die oberen Ränge der Goldenen Falken aufgenommen. Als solchem unterstanden ihm neben den anderen Agenten auch die in Eydar stationierten Truppen des Kaisers. Obwohl Syndus für den Kampf ausgebildet war, zog er Diplomatie roher Gewalt seit jeher vor. Er war inzwischen in die Jahre gekommen, doch trotz seines fortgeschrittenen Alters zeichnete sich unter dem weiten Stoff seiner Robe noch immer ein gestählter, sehniger Körper ab. Er hatte kaum von seiner früheren Kampfkraft und Agilität verloren, aber an Weisheit dazugewonnen. Bei den Soldaten war er beliebt und selbst die in Eydar heimischen Dunkelelfen, die dem Einfluss des Kaisers gemeinhin immer mit Abneigung begegneten, respektierten den alten Befehlshaber. Syndus unterstand ein Bataillon von schlagkräftigen Soldaten, angeführt von zwei fähigen Kommandanten. Hinzu kamen weitere Mitglieder der Goldenen Falken, denen unterschiedliche Aufgabengebiete zugeteilt worden waren. Unter dem Schutz dieser Leute war Eydar zu einer Bastion herangewachsen, an der sich sämtliche Horden der Plünderer aus dem Gebirge oder der Düstermarsch die Zähne ausgebissen hatten, während Syndus selbst einen eingefleischten Zirkel seiner treuesten Gefährten um sich geschart hatte. Einer von ihnen war Gancielle. Er stammte aus Kaboroth und war an der Akademie einer der besten Rekruten seines Jahrgangs gewesen. Er entstammte einer langen Ahnenreihe großer Feldherren und Generäle und den Abkömmlingen seiner Familie lagen Autorität und Ehrgeiz im Blut. So war Gancielles Vater in die Generalsränge aufgestiegen und sein jüngerer Bruder machte in Kaboroth Karriere als Hauptmann der Wache. Gancielle selbst war ein noch verhältnismäßig junger Soldat, hatte aber schon den Rang eines Kommandanten erreicht und führte eine Hälfte der Truppen von Eydar an. Er zeichnete sich durch eine gesunde Mischung aus Loyalität und Eigenständigkeit aus und war ein geborener Anführer, der es verstand, seine Untergebenen zu motivieren und zu Höchstleistungen anzutreiben. Gerechtigkeit und die Sicherheit der Zivilbevölkerung standen für ihn an oberster Stelle und durch sein junges Alter brachte er noch den nötigen Elan mit, um seine Soldaten mitzureißen. Die andere Hälfte der Truppen stand unter dem Kommando von Rhist. Er war einige Jahre älter als Gancielle und stammte aus Isenheim, einer immer wieder krisengeschüttelten Region im Norden von Ganestan. Die dort lebenden Barbaren fielen regelmäßig durch Aufstände und Überfälle negativ auf, aber die abgehärteten Bewohner des eisigen Landes waren geborene Krieger und nicht wenige von ihnen hatten den Weg in die Reihen der Kaiserlichen Armee gefunden. Rhist war einer von ihnen und der war Rasch in den Rang eines Kommandanten aufgestiegen. Neben seiner Funktion als Stabsoffizier und Truppführer, war er auch der Quartiermeister der Kaserne von Eydar. In seiner Heimat Isenheim hatte er lange als Gehilfe eines Waffenschmieds gearbeitet, weswegen er sich darauf verstand, Rüstungen auszubessern und Klingen zu schärfen. Allein Rhists äußerliches Erscheinungsbild verlieh ihm den Respekt einer Autoritätsperson. Auf seinen großgewachsenen Körper verteilten sich dicke Muskeln und es war bekannt, dass er rein körperlich der stärkste in Eydar stationierte Soldat war. Mit seinem buschigen Bart und den Kriegszöpfen in seinem blonden Haar wirkte er äußerlich wie ein Wilder, doch er hatte die Disziplin eines Kaiserlichen Soldaten längst verinnerlicht. Gelegentlich konnte er sein heißblütiges Temperament aber nicht zügeln und agierte bisweilen etwas kopflos. Dieses Verhalten sorgte immer wieder für Reibereien zwischen Rhist und dem durchdacht und analytisch vorgehenden Gancielle. Die beiden waren selten einer Meinung und ihre Rivalität war innerhalb der Truppen längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem hielten die beiden Kommandanten die in Eydar stationierten Streitkräfte zusammen und unter ihrer Führung war aus den Soldaten eine eingespielte Gruppe geworden, die ihre Befehlshaber geradezu abgöttisch verehrten. Sie sorgten für Recht und Ordnung auf den Straßen und waren der Schild, der sich an den Mauern von Eydar dem verbrecherischen Gesindel aus dem Inland entgegenstellte. Syndus hatte schon oft betont, dass er sich zu seiner Unterstützung keine besseren Kommandanten hätte aussuchen können. Doch auch innerhalb seines Ordens hatte er zuverlässige Helfer. Als er nach dem Weltenkrieg nach Eydar versetzt worden war, hatte man Syndus einen jungen Novizen namens Bragi zur Seite gestellt. Er stammte wie Rhist aus Isenheim und war von einem ehemaligen Schüler zu einem hochrangigen Agenten der Goldenen Falken aufgestiegen. Seine Haarpracht war in dieser Zeit verschwunden, nicht aber sein wacher Verstand. Seit Jahren bildete er mit Syndus ein unerschütterliches Zweiergespann und war zum wichtigsten Berater seines alten Meisters geworden. Bragi unterstützte Syndus nach Kräften dabei, die Fäden zu ziehen, die den Frieden auf der Halbinsel sichern sollten, und als langjähriges Mitglied des Geheimdienstes genoss auch er hohes Ansehen unter den Soldaten. Er war ein Mann des Volkes und hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen der gemeinen Bürger. Es war zu großen Teilen sein Verdienst gewesen, dass Syndus sich das Vertrauen der Einwohner von Eydar hatte erarbeiten können. Der Respekt, den man der Kaiserlichen Armee und insbesondere den Goldenen Falken entgegenbrachte, war Bragi zu verdanken. Seine Volksnähe hatte der glatzköpfige Agent dabei nie verloren, auch wenn er in der Hierarchie des Nachrichtendienstes weit aufgestiegen war. Syndus‘ persönliche Assistentin und Schülerin war Adria, eine hochveranlagte junge Frau mit einem scharfen Verstand und einer noch schärferen Zunge. Ihr wurde eine vielversprechende Zukunft vorausgesagt und zu ihrer Fortbildung hatte man sie Syndus anvertraut. Inzwischen hatte sie den Status als Lehrling längst überschritten und auch wenn ihre offizielle Beförderung noch auf sich warten ließ, war sie schon ein festem Mitglied von Syndus‘ engem Beraterstab. Ihre Fortschritte hatten sich mittlerweile bis nach Kaboroth herumgesprochen und da man wusste, dass sie nicht mehr lange die Schülerin Syndus‘ bleiben würde, hatte man reagiert und einen neuen Novizen nach Eydar geschickt, der an ihrer Stelle ausgebildet werden sollte. Aulus war erst seit ein paar Wochen in Eydar stationiert und Syndus hatte noch nicht die nötige Zeit gefunden, um sich eingehend mit seinem neuen Schützling zu befassen. Dennoch war ihm bereits aufgefallen, dass der junge Mann ähnlich wie Adria über einen bemerkenswerten Scharfsinn verfügte. Soweit Syndus wusste, stammte Aulus von einem niederen Adelsgeschlecht ab und benahm sich noch entsprechend überheblich. Sein Ehrgeiz war nicht zu übersehen und so schoss er bei den gewöhnlichen Aufgaben, die man ihm übertrug, gerne über das Ziel hinaus. Syndus hatte bereits den Entschluss gefasst, den ehrgeizigen Burschen ein wenig zurechtzustutzen, denn unter seiner arroganten Fassade sah er großes Potenzial in ihm schlummern. Der alte Meister war überzeugt davon, dass Aulus es einmal weit bringen konnte, wenn er sein hochmütiges Gehabe bleiben ließ und sich auf seine Aufgaben konzentrierte. Das letzte Mitglied der Goldenen Falken in Eydar war Lexa, eine Späherin aus Grimhagen. Während die meisten ihrer Landsleute als große Feldherren oder Seefahrer in die Geschichte eingegangen waren, war sie keine große Kriegerin, doch was ihr an Kampfkraft fehlte, machte sie durch List und ihre schnelle Auffassungsgabe wieder wett. Sie zog es vor, im Hintergrund zu agieren und war somit die einzige Agentin der Falken in Eydar, die tatsächlich im Verborgenen arbeitete. Nur die anderen Mitglieder des Ordens und ein paar ausgewählte Soldaten wie Gancielle und Rhist wussten von ihrer wahren Identität. Sie gab sich als Kräutersammlerin auf, die Heilpflanzen auf dem Martk verkaufte, doch ihre eigentliche Aufgabe war es, die Düstermarsch auszukundschaften und das Gebiet zu kartografieren. Leider ging dieser Prozess nur sehr langsam vonstatten, da die zahlreichen Gefahren der Wälder sie immer wieder dazu zwangen, ihre Streifzüge abzubrechen. Seit einigen Wochen jedoch war Lexas Aufgabenbereich um einen weiteren Punkt ergänzt worden. In letzter Zeit kam es vermehrt dazu, dass Bewohner der Stadt oder reisende Abenteurer, die Eydar passierten, auf mysteriöse Art und Weise in der Düstermarsch verschwanden. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand in den Wäldern zu Tode kam, doch die Vorfälle hatten sich in den letzten Wochen besorgniserregend gehäuft. Man hatte die Sümpfe schon immer gemieden, so gut es ging, doch nun tuschelte man in den Gassen von Eydar von dunklen Mächten, die in der Düstermarsch am Werk waren, die jeden, der das Gebiet unvorsichtigerweise betrat, verschlangen. Um den Gerüchten ein Ende zu setzen war Lexa von Syndus mit der Aufgabe betraut worden, bei ihren Streifzügen durch die Sümpfe nach Hinweisen auf die verschwundenen Personen Ausschau zu halten, doch sie hatte bislang nicht die kleinste Spur gefunden. Man hatte sich auch mit den Befehlshabern in Khaanor in Verbindung gesetzt. Auch dort waren immer wieder Bewohner oder Reisende in den Sümpfen verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Vor ein paar Wochen waren drei Abgesandte des Katzenvolkes der Pardel nach Khaanor gekommen. Statt mit dem Schiff nach Eydar zu reisen, bestanden die Katzenmenschen darauf, ihre Reise auf dem Landweg fortzusetzen. Sie waren nie in Eydar angekommen und auch von ihnen fehlte jede Spur. Inzwischen traute sich niemand mehr vor die Tore der Stadt und Abenteurer, die nach Eydar kamen, wurden eindringlich davor gewarnt, ihren Weg durch die Düstermarsch fortzusetzen. Die meisten ignorierten die Ratschläge jedoch und verschwanden wie ihre Vorgänger. Das Rätsel um das Verschwinden der Leute hatte Syndus schließlich dazu veranlasst, einen Bericht über die besorgniserregende Lage in Eydar nach Kaboroth zu schicken. Das Kaiserreich hatte reagiert und kurzerhand ein bemanntes Kriegsschiff ausgesandt, um die Soldaten in Eydar zu unterstützen. Doch die Situation hatte sich seither eher verschlimmert. Hauptverantwortlich dafür war Brigadegeneral Loronk. Der Ork war der Befehlshaber der nach Eydar ausgesandten Sondertruppen und durch seinen Rang war er Syndus vorgesetzt. Er hatte widerspruchslos das Kommando über die in Eydar stationierten Soldaten übernommen und damit geprahlt, die Verschwundenen in kürzester Zeit zu finden. Zunächst hatte er mit seinen Leuten in aller Regelmäßigkeit die Düstermarsch durchkämmt, doch nach jedem Streifzug war Loronk nur wieder mit leeren Händen zurückgekehrt, bis er schließlich sogar selbst einen Verlust hinnehmen musste. Während einer weiteren Erkundungsmission in die Wälder verschwand sein Fähnrich Yarshuk spurlos. Keiner der anderen Soldaten hatte gesehen, wie oder wann der Ork von der Gruppe getrennt worden war. Seitdem hielt sich selbst Loronk mit Ausflügen in die Düstermarsch zurück und man war keinen Schritt weitergekommen. Stattdessen hatten Syndus und seine Leute nun den Brigadegeneral am Hals und dieser hatte sich als äußerst ungemütlicher Zeitgenosse entpuppt. Loronk war ein hünenhafter Ork mit einem fassförmigen Brustkorb, muskelbepackten Armen und breiten Schultern. In seinem kantigen Gesicht blitzten zwei schwarze Augen unter buschigen Brauen hervor und aus seinem Mund mit den wulstigen Lippen ragte auf der linken Seite ein langer Eckzahn. Der Zahn auf der anderen Seite war schon vor Jahren abgebrochen. Tiefe Falten durchzogen die hohe Stirn des Orks und seine schwarzen Haare waren an den Schläfen zu Kriegszöpfen geflochten worden. Loronk trug die vergoldete Rüstung eines Generals voller Stolz und die Waffe seiner Wahl war eine mit Dornen gespickte Kriegskeule, die er unter Einsatz seiner kräftigen Hände mit zerstörerischer Wucht durch die Luft zu schwingen verstand. Syndus mochte ihn nicht, aber er war zu friedliebend, um seine Abneigung offen zu kommunizieren. Der alte Befehlshaber hatte noch immer die törichte Hoffnung, dass sich das Rätsel um die Verschwundenen Leute von alleine lösen und Loronk mit seinen Truppen einfach wieder abziehen würde. Gancielle und Rhist taten ihren Widerwillen dem Ork gegenüber schon etwas deutlicher kund. Die beiden Kommandanten waren ausnahmsweise einer Meinung und auch wenn Loronk ihnen vorgesetzt war, hatten sie aufgrund ihres eigenen hohen Ranges keine direkten Konsequenzen zu befürchten, wenn sie seine Befehle infrage stellten. Loronk schien egal zu sein, was seine Untergebenen von ihm hielten. Er führte seine Soldaten mit eiserner Hand und duldete keinen Ungehorsam. Deshalb waren Gancielle und Rhist dem Ork ein Dorn im Auge, doch die beiden waren ein Problem, das sich nur schwer lösen ließ. Ihre eigenen Soldaten hielten noch immer treu zu ihren Kommandanten und es hatte längst einen Bruch zwischen den Truppen in Eydar und Loronks eigenen Rekruten gegeben. Syndus schlug die angespannte Situation in der Hafenstadt schwer aufs Gemüt. Die Streitigkeiten zwischen den Kommandanten und dem Brigadegeneral waren alles andere als zielführend. Er hatte stets gepredigt, man möge sich angesichts der bedrohlichen Lage zusammenreißen, doch Syndus war die Kontrolle über den Außenposten seit Loronks Ankunft immer mehr entglitten. Der Ork hatte nun die Fäden in der Hand und er führte ein hartes Regiment, das nicht nur seine direkten Untergebenen zu spüren bekamen. Auch die Bevölkerung litt unter dem neuen Befehlshaber, denn Loronk ließ selbst das kleinste Vergehen hart bestrafen. Außerdem hatte er sämtliche Abgaben erhöht und stellenweise absurde Steuern eingeführt. Er verteidigte diese Maßnahmen mit der Behauptung, die Suche nach den Vermissten sei kostspielig, doch der Brigadegeneral unternahm kaum noch Expeditionen in die Sümpfe und insgeheim kursierte das Gerücht, dass er einen Großteil der Abgaben in seine eigene Tasche wirtschaftete. Nun fürchtete die Bevölkerung, dass sich Loronk dauerhaft in Eydar niederlassen wollte. Syndus waren die Hände gebunden. Da ihm auf der Suche nach den Vermissten ebenfalls wenig Zählbares gelungen war, hatte er kein Recht, Loronks Rückversetzung nach Kaboroth zu beantragen. Die einzige Möglichkeit, den Brigadegeneral wieder loszuwerden, bestand darin, das Rätsel um das Verschwinden der Leute zu lösen, doch Syndus und seine Gefolgsleute standen in dieser Angelegenheit noch ganz am Anfang. Und die Zeit drängte, denn der Unmut der Bevölkerung nahm mit jedem Tag zu. Viele der heimischen Dunkelelfen sahen sich in der Annahme bestärkt, dass dem Kaiserreich Unterdrückung und Willkür folgten. Syndus musste hilflos zusehen, wie alles, was er in den vergangenen Jahren für ein friedliches Miteinander zwischen Menschen und Dunkelelfen getan hatte, unter Loronks Tyrannei einfach zerquetscht wurde. Sein Verantwortungsbewusstsein für die Bewohner von Eydar ging längst über seine Tätigkeit als Befehlshaber des Außenpostens hinaus. Er kannte jeden einzelnen Bewohner der Hafensiedlung und hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, was die Bevölkerung dazu veranlasst hätte, Abneigungen gegen ihn zu hegen. Und nun kam dieser Brigadegeneral daher und trat seine Bemühungen mit Füßen. Er fühlte sich ein wenig wie ein Schafhirte, der nichts dagegen tun konnte, dass sich ein hungriger Wolf an seiner Herde gütlich tat. Syndus fürchtete sogar, dass Loronks herrisches Auftreten den labilen Frieden zwischen dem Kaiserreich und Shalaine empfindlich stören könnte. Seit er in Eydar lebte, hatte er sich eingehend mit der Kultur und Lebensweise der Dunkelelfen beschäftigt. Er wusste genau, dass selbst die Untersten ihres Volkes den Stolz hatten, für den die Bewohner Shalaines in ganz Gäa berühmt waren. Selbst wenn sie nur arme Fischer waren, so taten sie ihre Arbeit doch mit erhobenem Haupt und sahen sich als wichtiges und vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft. Keinem von ihnen wäre es jemals in den Sinn gekommen, ein Leben als Bettler zu fristen. Die Dunkelelfen hatten es noch nie toleriert, dass sich jemand über sie stellte, der nicht ihrem Volk angehörte. Sie hatten sich schon schwer getan, Syndus als neuen Magistraten zu akzeptieren. Und nun wurden sie von einem Ork unterdrückt. Syndus ahnte, dass sein Guthaben bei den Einwohnern von Eydar, das er sich in langen Jahren mühsam erarbeitet hatte, durch Loronks Einmischen beinahe verbraucht war. Der in die Jahre gekommene Befehlshaber saß in seiner Kammer und massierte sich angestrengt die Nasenwurzel. Seit Loronks Ankunft marterten ihn unentwegt fürchterliche Kopfschmerzen und inzwischen wusste er nicht mehr, was er ohne seine treuen Berater tun würde. Adria saß an ihrem Pult, an dem sie so oft Syndus‘ Lektionen gelauscht hatte, und war damit beschäftigt, einen ganzen Stapel von Zetteln und Dokumenten zu lesen und zu sortieren. Das Rascheln der Blätter und das leise Kratzen der Schreibfeder beruhigte ihren alten Lehrmeister und er sah verstohlen zu ihr herüber. Er konnte kaum glauben, dass sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch seine unerfahrene Schülerin gewesen war. Nun war sie es, die in diesen Krisenzeiten Haltung und einen kühlen Kopf bewahrte, während er vor Kummer kaum noch klar denken konnte. „Eine Nachricht aus Khaanor“, meldete Adria beiläufig und Syndus wandte ertappt den Kopf ab. „Ein seltsames Paar hat die Stadt auf der Suche nach den verschwundenen Abgesandten der Pardel erreicht. Es handelt sich bei den beiden um eine junge Eismagierin und einen großgewachsenen Krieger mit einer Streitaxt, der seiner Hautfarbe nach zu urteilen aus Grimhagen stammt. Man hat ihnen gesagt, dass die Diplomatinnen in der Düstermarsch verschwunden sind. Sie ließen sich trotz aller Warnungen nicht aufhalten und haben sich auf den Weg in die Wälder gemacht. Wir sollen die Augen nach ihnen aufhalten.“ Syndus entglitt ein gequältes Stöhnen. „Ich rechne nicht damit, dass wir sie je zu Gesicht bekommen werden“, seufzte er. „Ich lasse den Wachen am Tor trotzdem den Befehl geben, den Rand der Düstermarsch im Auge zu behalten. Vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder und jemand kommt wieder lebend aus diesem Sumpf heraus.“ Adria ließ ihre Schreibfeder los und blickte auf. Syndus konnte die Sorge in ihren Augen erkennen. Es war nicht weiter verwunderlich, dass sein Zustand sie bekümmerte. Seit sie in Eydar war, hatte sie ihren Meister noch nie so niedergeschlagen und ratlos erlebt. Sein einstmals haselnussbraunes Haar war ebenso wie sein gepflegter Bart in kürzester Zeit ergraut und an einigen Stellen bereits schlohweiß. Das Alter schien Syndus lange nichts anhaben zu können, doch nun schlug es erbarmungslos zu, fast als wollte es seine Versäumnisse der letzten Jahre im Eiltempo nachholen. „Wir werden dem Verschwinden der Leute auf die Schliche kommen“, versuchte Adria ihren Meister aufzuheitern. „Habt noch ein wenig Geduld. Es wird sich alles zum Guten wenden.“ Syndus faltete seine sehnigen Hände und bettete sein Kinn darauf. „Das hoffe ich sehr“, erwiderte er müde. „Das ist die schlimmste Krise seit dem Weltenkrieg, die ich erlebe. Ich verstehe nicht, wie in diesen verdammten Sümpfen auf einmal fast jeder spurlos verschwinden kann, der sie betritt. Wenn es das Werk der Warge wäre, würden wir wenigstens Blut oder Leichenteile entdecken, aber dort draußen findet sich nicht einmal der kleinste Hinweis.“ Syndus wischte mit einer verzweifelten Armbewegung ein Tintenfass von seinem Pult und vergrub das Gesicht in den Händen. Trotzdem konnte er Adrias unschlüssigen Blick deutlich spüren. Seine junge Assistentin erhob sich von ihrem Stuhl, hob das Tintenfass behutsam auf und stellte es wortlos zurück auf den Tisch. Syndus ließ seine Hände sinken und starrte geistesabwesend auf die Tintenflecke, die das Fass auf dem Boden und seinem Pult hinterlassen hatte. „Vielleicht haben die Leute recht“, murmelte er nachdenklich. „Vielleicht haben wir es tatsächlich mit dunklen Mächten zu tun.“ Adria runzelte vorwurfsvoll die Stirn. In diesen Tagen fragte sich Syndus oft, ob es nicht inzwischen er selbst war, der von seiner Schülerin etwas lernen konnte, und nicht andersherum. Die junge Frau nahm wieder Platz und griff nach ihrer Schreibfeder, doch ihr Blick war weiterhin auf ihren Meister gerichtet. „Ihr glaubt doch nicht etwa das Geschwätz der Bevölkerung?“, fragte sie ungläubig. „Das sind doch nur Ammenmärchen.“ „Mag sein“, erwiderte Syndus schwach und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster der Kammer. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er die Baumwipfel der Düstermarsch entdeckte, die hinter der Stadtmauer emporragten. „Aber Fakt ist, dass sich dort draußen etwas herumtreibt, von dem wir bislang noch nichts wissen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)