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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Die Segel der Küstenklinge waren schon hinter dem Horizont verschwunden und es war bereits Abend, als Craig aus seiner Schockstarre erwachte. Der Dorashen war fort und es war lautes Geschrei, das ihn aus seiner Trance riss.

„Hau ab, du Mistvieh! Lass den Jungen in Ruhe!“

Der Waisenjunge sah sich um. Neben ihm hockte Knack und knurrte angriffslustig. Ein Stein kam angeflogen und landete polternd auf dem staubigen Verbindungsweg zwischen Dorf und Anlegestelle. Craig schüttelte sich und stand auf.

„Craig! Sieh zu, dass du von dort verschwindest!“

Blinzelnd wandte der Waisenjunge den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein gutes Stück den Weg hinauf hatten sich drei Dorfbewohner versammelt. Zwei warfen aus sicherer Entfernung mit Steinen nach Knack, der dritte hielt dem Knucker entschlossen einen langen Schiffshaken entgegen. Craig brauchte eine Weile, bis er verstand, was vor sich ging. Knack war ihm nicht von der Seite gewichen, seit die Soldaten Hiob mitgenommen hatten. Die drei Dorfbewohner hatten ihn auf dem Weg zur Anlegestelle entdeckt und da er sich nicht gerührt hatte, waren sie davon ausgegangen, dass er von dem Knucker angefallen worden war. Nun versuchten sie den Drachen zu vertreiben, wagten es aber nicht, ihm zu nahe zu kommen.

Ein Stein traf Knack direkt am Kopf. Der Knucker fauchte wütend, doch als er sah, dass Craig wieder zu sich gekommen war, verstummte sein aggressives Knurren. Er schüttelte seinen Kopf und glitt mit schnellen Bewegungen seiner kurzen Füße davon, wobei sein langer, schlangenartiger Körper von einer Seite zur anderen pendelte. Die beiden Steinewerfer folgten ihm ein Stück, bis der Knucker in den Binsen am Flussufer verschwunden war.

„Hört sofort auf!“, rief Craig wütend. „Lasst ihn in Ruhe!“

Der Dorfbewohner mit dem Schiffshaken ließ seine behelfsmäßige Waffe fallen und eilte zu dem Jungen hinüber.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich besorgt. „Bei den Göttern! Wenn ich gewusst hätte, dass sich so ein Ungetüm auf unserer Insel herumtreibt, wäre ich niemals so sorglos spazieren gegangen. Hat dich das Biest verletzt?“ Die beiden Steinewerfer kehrten zurück. Sie schienen sehr zufrieden damit zu sein, den Drachen vertrieben zu haben.

Craig wehrte sich heftig gegen den Mann, der ihn offenbar stützen wollte. Er hielt ihn an beiden Schultern fest und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen. „Mir geht es gut“, maulte er und wand sich aus dem Griff des Mannes. Dann stand er ohne Hilfe auf, drehte sich um und lief davon, der Bresche folgend, die Knack in die Binsen geschlagen hatte. Die Dorfbewohner sahen ihm verwundert nach.
 

Craig fand Knack bei seinem Unterstand. Die Schuppen des Knuckers hatten verhindert, dass er durch den Stein ernsthaft verletzt worden war. Jetzt saß er zusammengerollt am Ufer und beobachtete den Waisenjungen, der sich ihm näherte.

„Du hast auf mich aufgepasst, nicht wahr?“, fragte er den Drachen. Dieser wippte zur Bestätigung mit dem Kopf. „Du bist wirklich ein treuer Freund.“ Craig strich dem Knucker mit einem glücklichen Lächeln über den Kopf und Knack ließ ein wohliges Knurren ertönen.

Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen und im Norden braute sich mit dunklen Wolken ein Sturm zusammen. Vermutlich würde er nur über dem Binnenmeer toben und Notting verschonen. Nur ein warmer, auffrischender Wind kündete von dem fernen Unwetter. Craig blickte nachdenklich in die Ferne.

„Glaubst du, du kannst mich über das Binnenmeer führen?“, fragte er Knack. Der Knucker hob den Kopf, folgte Craigs Blick aufs Meer hinaus und nickte dann erneut. Der Waisenjunge konnte noch immer nicht akzeptieren, dass Hiob ein gesuchter Dieb sein sollte, aber nun, da sein Ziehvater und Mentor fort war, hielt ihn überhaupt nichts mehr auf seiner Heimatinsel. Vielleicht war das der Beginn des Abenteuers, nach dem er sich immer gesehnt hatte, auch wenn er sich das ganz anders vorgestellt hatte. Knack würde ihm folgen und mit dem Knucker an seiner Seite fühlte sich Craig nahezu unbesiegbar. Alle Zweifel der letzten Tage waren mit einem Mal wie weggeblasen. Mit grimmiger Entschlossenheit fing der Waisenjunge an, sich aus seinem Unterstand die wichtigsten Dinge zusammenzusuchen, die er auf seiner Reise benötigen würde. Er füllte einen großen Lederrucksack mit einigen nützlichen Werkzeugen, drei Feldflaschen voll Trinkwasser, einem Feuerstein samt Schlagring und ein paar Wundsalben, die Hiob hergestellt hatte. Außerdem rollte er eine warme Decke aus Lammfell zusammen, die in kalten Nächten unerlässlich sein würde, und band sie mit einem Strick an den Trageriemen des Rucksacks. Um Nahrungsmittel machte er sich noch keine Gedanken. Er hatte nicht vor, länger als einen halben Tag für die Überquerung des Binnenmeeres zu brauchen. Außerdem waren die Gewässer voll von Speisefischen und er hatte Knack bei sich. Craig konnte also getrost auf eine Angel verzichten. Der Knucker war im Wasser ein hervorragender Jäger und würde sie beide mit ausreichend Futter versorgen. Es graute dem Waisenjungen nur ein wenig davor, den Fisch im Notfall roh essen zu müssen. Auf dem Meer gab es schließlich kein Feuerholz. Vorsichthalber packte er noch eine Dose mit Salz ein, um den rohen Fisch ein wenig genießbarer zu machen.

Zum Abschluss öffnete Craig die Truhe, in der sein teuerster Schatz lag. Das Schwert war in schnödes Tuch eingewickelt, doch als der Waisenjunge den Stoff entfernte, leuchtete die Klinge in der Abendsonne wie pures Gold. Andächtig ließ der Waisenjunge seinen Blick über die makellose Waffe schweifen und schob sie schließlich, als er sich an ihrem Anblick sattgesehen hatte, vorsichtig in seinen Gürtel.

Craig schulterte den Rucksack, griff nach einem dicken Tau und gab Knack einen Wink. Der Junge und der Drache begaben sich gemeinsam zur Küste. Sie folgten nicht dem Weg, denn die Begegnung mit den Dorfbewohnern hatte Craig gezeigt, dass Hiob mit seinen Bedenken immer Recht gehabt hatte und die Bevölkerung der Insel Knack besser nicht zu Gesicht bekommen sollten. Bevor die beiden die Anlegestelle erreichten, glitt der Drache ins Meer und tauchte unter der Wasseroberfläche zum Landungssteg. Dort lag das alte Segelboot von Craigs Vater am Ufer. Der Waisenjunge war damit in ein paar seltenen Ausnahmefällen aufs Meer hinausgefahren, wenn die Fische am Fluss überhaupt nicht beißen wollten. Besonders weit hatte er sich in der Nussschale aber nie von der Küste der Insel entfernt. Die meiste Zeit lag das Boot mit dem Kiel nach oben verwahrlost am Strand. Craig hatte es nie für nötig befunden, den kleinen Kahn instand zu halten. Wind und Wetter hatten das Boot inzwischen halb mit Sand zugeschüttet. Der Waisenjunge mühte sich ab, um den Rumpf wieder auszugraben. Mit bloßen Händen schaufelte er den grobkörnigen Sand zur Seite und hatte sich die Finger in kürzester Zeit wund geschuftet, als sich das gesamte Boot auf einmal wie von alleine aus dem Sand erhob. Craig hob ungläubig den Kopf und starrte in das ausdruckslose Gesicht des Dorashen, der den Rumpf mühelos mit einer Hand aufstellte und umdrehte.

„Verlässt du diese Insel?“, fragte er.

Craig blinzelte den Fremden verwirrt an, doch dann rief er sich wieder zurück ins Gedächtnis, dass der Mann keinen Finger gerührt hatte, um Hiob zu helfen, obwohl er zweifelsfrei die Kraft dazu besaß. „Möglich“, brummte der Junge abweisend. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Kannst du mich mitnehmen?“, fragte der Dorashen ungerührt und schien den feindseligen Tonfall in Craigs Stimme gar nicht zu bemerken.

„Wie bitte?“, rief der Junge entrüstet. „Ist das dein Ernst? Warum sollte ich dir helfen? Du hast ja auch keine Anstalten gemacht, mir beizustehen.“

„Ich kann dir ein bisschen Geld dafür geben“, erwiderte der Dorashen. „Der Wirt wollte keine Bezahlung für sein Bier.“

„Das habe ich mitbekommen“, grummelte Craig. „Aber deine lausigen Münzen kannst du behalten.“

„Verstehe“, murmelte der Dorashen und kratzte sich am Hinterkopf. Wie er so unschlüssig dastand, tat er Craig irgendwie leid. Der Waisenjunge seufzte und beschloss, ein kleines bisschen weniger ruppig zu sein. „Warum willst du denn ausgerechnet mit mir segeln?“, fragte er vorsichtig.

„Ich bleibe nicht gerne lange am selben Ort“, erklärte der Dorashen. „Und offenbar kommen selten Schiffe auf diese Insel, die bereit sind, einen Passagier mitzunehmen. Da schien mir dein Boot eine willkommene Gelegenheit zu sein.“

Craig besah sich seinen kleinen Kahn. Das alte Holz roch süß und modrig und war von einem schmierigen Film aus Algen überzogen. Für ihn sah das Boot nicht nach einer willkommenen Gelegenheit aus, sondern vielmehr, als würde es schon bei der ersten Welle einfach in sich zusammenfallen. „Wo willst du denn überhaupt hin?“, erkundigte er sich und versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen.

Der Dorashen zuckte die Schultern. „Ich habe kein Ziel“, antwortete er kühl. „Ein Ort ist so gut, wie jeder andere.“

„Klingt nicht, als wärst du besonders wählerisch“, stellte Craig fest und verengte seine Augen zu misstrauischen Schlitzen. „Du bist ein Dorashen, nicht wahr?“

Der Fremde zuckte zusammen und zum ersten Mal, seit Craig ihm in Premans Taverne begegnet war, sah er in seinem Gesicht den Anflug einer Regung. Seine sonst so glanzlosen Augen leuchteten für einen Sekundenbruchteil und in ihnen flackerte etwas auf, das Craig am ehesten als Angst bezeichnet hätte.

„Woher weißt du das?“, fragte der Mann und seine Stimme klang rau und keuchend, als würde ihm etwas den Brustkorb zuschnüren.

„Man hört halt so Gerüchte“, gab Craig zurück und spürte ein Kribbeln in seinem Bauch. Es gab vermutlich nicht viele Leute, die in den Genuss kamen, gemeinsam mit einem Dorashen zu reisen. Einen besseren Begleiter konnte man sich nicht aussuchen, wenn man sich in ein Abenteuer stürzen wollte. Craig war auf einmal sogar bereit, zu vergessen, dass er dem Fremden eine Mitschuld an Hiobs Festnahme gab. Und tief in seinem Inneren wusste er selbst, dass der Mann ihn nur davor bewahrt hatte, sich in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Wahrscheinlich sollte er ihm sogar dankbar sein. „Also gut“, murmelte er schließlich und machte eine auffordernde Handbewegung. „Meinetwegen kannst du mitkommen.“

„Danke, du hilfst mir damit wirklich sehr“, erwiderte der Mann, ohne dass man ihm seine Dankbarkeit angesehen hätte. Sein Gesicht war wieder ausdruckslos wie eine Maske und das kurzzeitige Leuchten in seinen Augen war längst von der tiefen Schwärze seiner Iriden geschluckt worden.

Craig fragte sich, ob alle Dorashen so merkwürdig waren. „Ich bin übrigens Craig“, stellte er sich vor und streckte dem Mann eine Hand entgegen. Sein Gegenüber ergriff sie und drückte sie kräftig. „Mein Name ist Vance“, sagte er tonlos.

„Also gut, Vance“, rief Craig. „Dann hilf mir mal, die Nussschale zu Wasser zu lassen.“ Er drehte sich um, stemmte sich mit beiden Füßen in den Sand und fing an, das Boot schnaufend vor Anstrengung auf die Gezeitenlinie zuzuschieben. Als Vance dazu kam, um ihm zu helfen, machte der Rumpf plötzlich einen Satz nach vorn. Der Widerstand ließ nach und Craig landete bäuchlings auf dem weichen Boden. Fluchend spuckte er Sand aus und sah dann, wie der Dorashen das Boot in aller Seelenruhe vor sich herschob. In kürzester Zeit hatte er den Strand überquert und stieß den kleinen Kahn mit einem sanften Schubs in die Wellen.

Craig rappelte sich hastig auf und klopfte sich den Sand von seiner zerschlissenen Hose. Rasch lief er zum Ufer, watete durch das seichte Wasser und schwang sich an Bord. Das Boot schwankte unter seinem Gewicht bedenklich und Craig hielt sich vorsichtshalber an dem kleinen Mast fest, um nicht ins Wasser zu fallen. Das Segel würde er vorerst nicht setzen müssen, immerhin hatte er Knack als Zugpferd. Erst, wenn der Knucker zu erschöpft war, um sich weiter vor das Boot zu spannen, würde sich Craig dem Wind und den Wellen überantworten. Vance stieß den kleinen Kahn noch tiefer ins Wasser und kletterte dann ebenfalls an Bord. Der Brandungsrückstrom erfasste die Nussschale und zog sie langsam aber sicher aufs Meer hinaus.

Der alte Fischer saß noch immer an der Anlegestelle und flickte seine Netze. Als sie an ihm vorbeikamen, hob er überrascht die dichten Augenbrauen. „Fahrt ihr so spät noch aufs Meer hinaus?“, rief er ihnen besorgt zu. „Passt bloß auf euch auf! Es wird bald dunkel und da draußen braut sich ein Sturm zusammen.“ An der Küste war die Wasseroberfläche, abgesehen von den sanften Brandungswellen, noch spiegelglatt, doch der wolkenverhangene Himmel kündete von den Naturgewalten, die über Binnenmeer tobten.

„Ich segele in ein Abenteuer“, antwortete Craig strahlend und fühlte sich in diesem Augenblick so frei, wie noch nie zuvor. „Richte Preman bitte Grüße von mir aus, wenn du ihn triffst. Wir werden uns eine ganze Weile nicht sehen.“

Der Fischer blickte verwundert von seinen Netzen auf. Er verstand kein Wort von dem, was Craig sagte. Der Waisenjunge störte sich nicht weiter an den verwirrten Blicken des Alten. Mit einem doppelten Knoten befestigte er das Tau am Bug seines Segelboots und warf das lose Ende ins Wasser. Knacks schuppiger Kopf tauchte aus dem Meer auf. Der Knucker beäugte Vance misstrauisch, doch als ihm Craig beruhigend zunickte, nahm er das Seil in den Mund, schlug einmal kräftig mit seinem langen Schwanz und zog das Schiff auf das Binnenmeer hinaus.

Craig machte es sich in dem Boot gemütlich. Verträumt blickte er zu seiner Heimatinsel zurück, die unter Knacks Einsatz rasch immer kleiner wurde. Dieses Mal gab es keinen Rückzieher. Ein wehmütiger Seufzer entglitt der Kehle des Waisenjungen. Vance, der ihm gegenübersaß, beobachtete ihn aus seinen dunklen Augen.

„Verlässt du deine Heimat zum ersten Mal?“, fragte er.

Craig nickte langsam. „Was ist mit dir?“, wollte er wissen. „Woher stammst du?“

„Narinfen“, erwiderte Vance und seine ohnehin schon ausdruckslosen Augen bekamen plötzlich einen seltsam abwesenden Blick. „Das wird dir nicht viel sagen. Es ist ein kleines Dorf im Süden von Ganestan.“

„Und wann hast du deine Heimat verlassen?“, fragte Craig neugierig. Er vergaß immer mehr, dass er gegen Vance ursprünglich einen Groll gehegt hatte.

Der Dorashen knetete seine Hände. „Vor ungefähr fünf Jahren“, antwortete er. „Ich schätze, ich war damals sogar noch ein wenig jünger als du.“

Craigs Blick wanderte verträumt in den Himmel, der immer dunkler wurde. Er fragte sich, wie viele Abenteuer er wohl schon erlebt haben würde, wenn er fünf Jahre lang auf Reisen gewesen war, und ob er bis dahin jemals wieder zurück nach Notting gekommen sein würde.

Eine größere Welle streifte das Boot und ließ es schwanken. Craig wandte sich um und konzentrierte sich auf das, was vor dem Bug lag. Knack steuerte mit dem Segelboot im Schlepptau genau auf den Sturm zu, der sich über dem Binnenmeer zusammenbraute. Eine dicke, schwarze Wolkenfront verdeckte den Himmel und obwohl der Knucker trotz seiner Last schnell vorankam, war die Sicht in der Abenddämmerung so schlecht, dass von der Küste von Shalaine nichts mehr zu sehen war.
 

Als die Nacht hereinbrach, stiegen die Wellen höher und warfen das Boot hin und her. Craig sah, wie sich Vance krampfhaft an der knarzenden Reling festhielt. „Das ist nichts, weswegen wir uns Sorgen machen müssten“, rief er dem Dorashen grinsend zu. „Du wirst doch nicht etwa seekrank?“

„Das nicht“, entgegnete Vance, auch wenn sein Gesicht kreidebleich war. „Aber ich mag die Kombination aus Wind und Wasser nicht besonders.“

„Wir werden schon nicht untergehen“, sagte Craig optimistisch, aber seine Zuversicht war nicht von langer Dauer. Je dunkler es wurde, desto höher wurden die Wellen. Der Sturm traf das Segelboot nicht mit voller Wucht, aber er wühlte das Meer dennoch zu einem brüllenden Durcheinander aus salziger Gischt und kaltem Wasser auf. Die Sterne am Nachthimmel wurden von einer alles erdrückenden Schwärze verschluckt.

Knack kämpfte verzweifelt gegen die Naturgewalten an. Jedes Mal, wenn er sich mit ein paar kräftigen Schwanzschlägen voran arbeitete, wurde er von einer mächtigen Woge zurückgeworfen, die das Boot, das er trug, erfasst und heftig hin und her warf. Craig rief dem Knucker über das Tosen des Sturms hinweg immer wieder aufmunternde Worte zu, doch schließlich musste auch er einsehen, dass der Kampf des Wasserdrachen vergebens war. In dem fauchenden Unwetter war keine Navigation mehr möglich und Craigs Herz sank in seiner Brust, als er erkannte, dass sie den Elementen schonungslos ausgeliefert waren. Er beugte sich über den Bug, so weit er sich traute. „Lass das Tau los!“, brüllte er. „Aber bleib in unserer Nähe!“ Knack reagierte sofort. Er öffnete seine Kiefer, die sich krampfhaft um das Seil geschlossen hatten. Craig holte die Leine sofort ein, während der Kopf des Knuckers noch einmal zwischen den Wellenbergen erschien, ehe Knack in die Tiefen des Binnenmeeres abtauchte, wo das Wasser weit weniger aufgewühlt war.

Prasselnder Regen setzte ein, der von den heftigen Sturmböen fast waagerecht über die Amok laufende Wasseroberfläche getrieben wurde. In kürzester Zeit waren Craig und Vance bis auf die Knochen durchnässt. Das Meer glich einem sich ständig bewegenden Gebirge mit tiefen Schluchten und hoch aufragenden Klippen aus Salzwasser. Selbst in der Dunkelheit konnte Craig genau sehen, wie sich die Wellen immer höher auftürmten, brachen und donnernd in die Tiefe stürzten.

Das Segelboot wurde zum Spielball der Natur. Ein gewaltiger Brecher rollte längsseitig über den kleinen Kahn hinweg und Craig duckte sich tief auf die Planken, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Der Mast knarrte und quietschte unter der erdrückenden Macht der Welle, doch er hielt stand. Craig schluckte einen Schwall Meerwasser und bekam einen heftigen Hustenanfall. Das Salz brannte in seinen Lungen und auf seiner Haut, doch als er in Vances aschfahles Gesicht blickte, wusste er, dass der Dorashen noch schlimmer litt. Der schwarzhaarige Mann klammerte sich noch immer verzweifelt an die Reling und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden.

Die Erkenntnis, dass auch ein Gottesstreiter die Naturgewalten fürchtete, schenkte Craig neue Kraft. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er sich inmitten eines Sturms besser halten würde, als ein Dorashen, und obwohl ihn die Macht der tobenden Elemente noch immer ängstigte, fühlte er einen gewissen Stolz, der seine Brust schwellen ließ.

Die ganze finstere Nacht lang heulte und tobte der Sturm. Nässe und Kälte trieben mit jeder Welle, die das Segelboot rammte, mehr und mehr das Gefühl aus Craigs klammen Fingern. Regen und Wind peitschten sein Gesicht und rissen an seinem Hemd, aber der Waisenjunge hielt eisern stand. Nicht ein einziger Klagelaut entrang sich seiner Kehle. Stattdessen kniete er standhaft wie eine Gallionsfigur am Bug und trotzte dem wütenden Sturm.

Eine weitere Welle rollte Gischt spuckend über das Segelboot hinweg und dann war es plötzlich still. Das Heulen des Unwetters erstarb und der Regen ließ nach. Das Meer beruhigte sich und der Kahn wippte nur noch auf ein paar kleinen Wellen auf und ab. So vernichtend der Sturm auch über sie hereingebrochen war, so plötzlich hatte er wieder aufgehört.

Vance rollte sich zitternd zur Seite und übergab sich über die Reling. Craig wischte sich die Gischt aus dem Gesicht und rieb sich die vor Salz brennende Nase. Die Sterne waren noch immer hinter der Wolkendecke verborgen, aber der Himmel wirkte nicht mehr ansatzweise so dunkel und bedrohlich, wie während des Sturms.

Vance richtete sich stöhnend auf und legte sich eine Hand an die nasse Stirn. „Was machen wir jetzt?“, fragte er und klang ziemlich hoffnungslos. „Du hast die Orientierung verloren, nicht wahr?“

„Wir warten auf Knack“, erklärte Craig und bemerkte, dass er vor Kälte zitterte. Fröstelnd schlang er sich die Arme um den Körper. Seine Lammfelldecke war vollkommen durchnässt und konnte ihm in diesem Zustand unmöglich Wärme spenden. „Und dann müssen wir wohl oder übel ausharren, bis es wieder hell wird. Ohne die Sternbilder kann ich unmöglich sagen, ich welche Richtung wir segeln müssen.“ Vance kommentierte seine Worte nicht. Der Dorashen saß einfach nur da und starrte finster vor sich hin.

Die Stunden nach dem Sturm zogen sich endlos in die Länge und Craig wurde kälter, je mehr Zeit verging. Sein Rachen brannte von dem Salzwasser, dass er geschluckt hatte, und die erstem beiden Feldflaschen waren in Windeseile leer.

Der Waisenjunge wusste nicht, wie lange sie schon auf den Sonnenaufgang gewartet hatten, als direkt neben dem Boot Knacks Kopf aus dem jetzt wieder spiegelglatten Wasser auftauchte. Der vertraute Anblick des treuen Knuckers zauberte Craig ein Lächeln auf die Lippen, obwohl er erbärmlich fror. Der rostrote Wasserdrache wirkte erschöpft und die lange Zunge hing ihm hechelnd aus dem halb offenen Maul. Craig konnte nur ahnen, wie anstrengend es für den Knucker gewesen sein musste, stundenlang im Meer zu treiben und gegen die Wellen anzukämpfen.

Auffordernd klopfte er auf die Reling. „Komm an Bord und ruh dich ein wenig aus“, schlug er vor. Knack ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schlug seine Klauen in den Rumpf des Bootes und hievte sich ächzend aus dem Wasser. Der Kahn bekam Schlagseite und Vance fuhr erschrocken zusammen, als sich ein Schwall Meerwasser über die Bordwand ergoss. Knack rollte sich zwischen Craig und dem Dorashen zusammen und war schon kurz darauf eingeschlafen. Der vertraute Klang seines leisen Schnarchens ließ Craig schläfrig werden und schließlich nickte auch er ein.
 

Als er wieder aufwachte, war es noch immer dunkel. Craig schreckte sofort hoch. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte er hastig. Vance saß unbeweglich am Heck und blickte aufs Meer hinaus. „Weiß nicht. Ein paar Stunden vielleicht“, erwiderte der Dorashen.

Craig rieb sich die Augen. Seine Kehle fühlte sich schon wieder an wie ausgedörrt. Er kramte in seinem völlig durchnässten Rucksack nach der letzten Feldflasche und benetzte seine trockenen Lippen mit einem Schluck klaren Wassers. „Warst du die ganze Zeit wach?“, fragte er den Dorashen und streckte ihm die Feldflasche entgegen. Vance lehnte das Trinkwasser dankend ab und bejahte Craigs Frage mit einem Kopfnicken.

Der Waisenjunge fragte sich, wo sie sich wohl befanden. Er ließ seinen Blick ebenfalls über das dunkle Binnenmeer schweifen und suchte nach Anhaltspunkten. Der Himmel war noch immer bedeckt und die kaum sichtbaren, aber zweifelsfrei vorhandenen Strömungen konnten sie in den letzten Stunden nahezu überallhin getrieben haben.

Da entdeckte er am Horizont ein schwaches Licht, nicht mehr, als ein schmaler Silberstreifen, der Himmel und Meer dennoch deutlich voneinander trennte. Und je länger Craig dorthin starrte, desto breiter und heller wurde der Schein. „Der Tag bricht an“, stellte er erleichtert fest. „Da drüben ist also Osten.“

Die Dunkelheit der Nacht zerriss langsam unter den Strahlen der aufgehenden Sonne, die noch träge über den Horizont krochen. Und dann fiel Craig noch etwas ins Auge. In der Richtung, die er für Norden hielt, zeichnete sich vor dem immer heller werdenden Himmel ein dunkler Schatten ab.

„Land in Sicht!“, schrie er voller Begeisterung und die vorangegangen Stunden der Kälte und Erschöpfung waren vergessen. Er sprang überschwänglich auf, setzte sich aber sofort wieder hin, als das Boot unter seinen Bewegungen heftig schwankte. Knack wachte auf und hob neugierig den Kopf.

„Komm schon!“, rief Craig dem Knucker zu. „Es ist nicht mehr weit!“

Knack gähnte und wippte zustimmend mit dem Kopf. Dann glitt sein schlangenartiger Körper ins Wasser und Craig warf ihm das lose Ende des am Bug verknoteten Taus zu. Der Knucker biss beherzt zu und zog das Boot mit energischen Schwanzschlägen auf die Küste zu, die am Horizont aufgetaucht war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  NaruOnIce
2019-01-18T07:41:29+00:00 18.01.2019 08:41
Besteeeees ich liebe die Interaktionen zwischen Craig und Vance hier!!!! So so süß auch wie knack wieder den Hund raushingen ließ UND DER STURM SO GUT GESCHRIEBEN


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