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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Prolog

Seit je her begab es sich, dass in den Familien der größten und tapfersten Krieger ein Kind am Jahrestag eines Gottes geboren wurde, das seine Mutter oder seinen Vater an Stärke, Geschick und Intelligenz um ein Vielfaches übertreffen sollte. Gesegnet durch die Götter, denen ihre Eltern ihre Taten gewidmet hatten, sollten jene Kinder zu ihren erwählten Streitern werden, geboren als Krieger, auserkoren im Namen ihres Gottes zu handeln. Sie sollten mit unbändigem Willen ihr Schwert gegen ihre Feinde führen, von denen sie in einem fairen Zweikampf niemals zu besiegen sein sollten. Jene Kinder wurden kaum passender Dorashen genannt, was in der alten Sprache "Streiter der Götter" bedeutete.

Alsbald wurden die Fähigkeiten jener, die durch den Segen der Götter als Übermenschen geboren worden waren, von sämtlichen Kaisern der verschiedenen Zeitalter als Werkzeuge in Kriegszeiten genutzt. Der Ruhm der Dorashen wuchs mit jeder Schlacht, die sie zugunsten ihrer Herrscher wendeten, und mit jedem Jahr im Zeichen des Friedens, das durch ihre Klingen zustande gekommen war.

Doch was den Göttern gefiel, schürte die Angst und den Neid der Menschen, die von allen Völkern des Lichts am ehesten von verderbten Gefühlen heimgesucht werden konnten, und mit dem Ruhm der göttlich Berührten wuchs auch die Furcht und die Abneigung, die ihnen zuteilwurde. Einfache Bürger fürchteten die Macht der Dorashen, der einflussreiche Adel, der um das unglaubliche Potenzial der Gesegneten wusste, neidete ihnen ihr Ansehen bei den Imperatoren, und eines schlimmen Tages wurde selbst einer jener Kaiser von der Angst vor der Macht der Gottesstreiter übermannt.

Livar der Rechtschaffene, so wurde jener Herrscher ironischerweise genannt, der solch unsägliches Leid über die Erwählten der Götter bringen sollte. Die falschen Zungen seiner eifersüchtigen Berater versetzten den Kaiser in Unruhe, ebenso wie die zahlreichen Proteste des niederen Volkes. Denn was die einfachen Bürger nicht verstanden, erfüllte sie mit Schrecken, und was sie schreckte, das versuchten die Menschen seit jeher zu vernichten.

So begab es sich, dass Livar der Rechtschaffene der erste Kaiser der Reiche war, der den Dorashen nicht mit der Würde seiner Vorgänger entgegentrat. Und ein jeder Kaiser, der ihm folgte, führte seine Abneigung gegen die Gottesstreiter fort. Immer seltener schenkte ihnen der Herrscher seine Dankbarkeit, immer erbärmlicher wurde ihr Leben, in das sie gezwungen wurden, und immer selbstverständlicher wurde es, dass ihre Herren sie behandelten wie austauschbares Nutzvieh. Bald waren sie nichts weiter als die Geheimwaffe der Kaiser, die ein jeder Herrscher nur noch in Zeiten größter Not entblößte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld den Sieg für ihre Herren errangen, dann lebten sie ebenso unwürdig, wie es die Bettler in den Gossen der Städte taten. Sie waren verflucht zu einem Leben zwischen ewigem Kämpfen und ewigem Leiden.

So geschah es, dass sich in Zeiten, in denen die Kaiser sich kaum noch der schändlichen Taten ihres Vorgängers bewusst waren, die ersten Dorashen von ihrem Herrscher abwandten und ihn im Stich ließen. Ein Dorashen nach dem anderen folgte dem Beispiel der Abtrünnigen und bald waren sie in alle Himmelsrichtungen zerstreut.

Fortan wurden sie als Verräter geächtet und dazu gezwungen, ein Leben als ausgestoßene Vagabunden zu führen. Nicht wenige zogen als Räuber und Briganten durch die Lande, überfielen Handelskarawanen und stahlen, was sie zum Überleben benötigten, und mit jedem ihrer Verbrechen wuchs der Hass der Bevölkerung mehr. Schließlich blieb dem Kaiser keine Wahl mehr. Die Unruhen in seinem Volke waren zu groß, als dass er das Treiben der Dorashen hätte tolerieren oder jene gar um Vergebung für die Ungerechtigkeiten seiner Vorgänger hätte bitten können. Man ließ sie suchen und nicht wenige verblendete Dorashen-Jäger, hatten sich zum Ziel gesetzt, alle Gottesgesegneten vom Antlitz der Welt zu tilgen. Und obwohl die Dorashen unzähmbare Krieger waren, so waren ihnen die Soldaten und Patrouillen des Kaisers doch hundert zu eins überlegen. Die Helden von einst waren zu Feinden geworden.

Nach diesen Geschehnissen wurden nur noch sehr wenige Dorashen geboren und diejenigen, die noch auf freiem Fuß waren, mussten ein Leben voller Ungerechtigkeit ertragen, ein Leben als ständig gejagte Ausgestoßene, die von Ort zu Ort ziehen mussten, ein Leben als Räuber, ein Leben derer, gegen die sie einst zu Felde gezogen waren, ein Leben, das nur noch einem Zweck diente: Dem Überleben.
 

Der Junge war erst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, doch er war von solch kräftiger Statur, dass er schon hätte Mitte zwanzig sein können. Er lebte auf der Straße, seine Eltern hatte er, soweit er sich erinnerte, noch nie gesehen und ein Haus hatte er erst wenige Male in seinem Leben betreten. Er saß jeden Tag, unabhängig von den Launen des Wetters, am Rande der Straße, und ließ den leeren Blick seiner tiefschwarzen, ausdruckslosen Augen in den Himmel schweifen.

Der Junge hatte unglaubliche Kräfte, denen allein er es zu verdanken hatte, noch am Leben zu sein. Man achtete und verachtete ihn gleichermaßen hier in diesem Dorf, in dem er angeblich geboren wurde, ohne dass er selbst die leiseste Erinnerung an eine Familie hatte. Für einen kräftigen jungen Mann, wie er einer war, hatte man im Fürstentum von Vingrat immer Arbeit. In den weiten Ebenen wurde Getreide angepflanzt und auf den sanft geschwungenen Hügeln wurde Weinbau betrieben. Jede noch so niedere Arbeit, die man von ihm verlangte, erledigte der Junge gewissenhaft und besser, als es die meisten Knechte der ansässigen Landwirte taten, und dennoch wurde ihm nur ein mickriger Lohn ausgezahlt, der ihn gerade so am Leben erhalten konnte. Und obwohl es Zeiten gab, in denen der Hunger ihn beinahe den Verstand kostete, konservierte sein Körper seine beachtlichen Muskeln Jahr ein, Jahr aus.

Für die vielen Landwirte und Winzer war er ein interessanter Tagelöhner. Es gab niemanden, der ihn hier mochte und so beschwerte sich auch niemand, wenn man dem Jungen einen erbärmlichen Lohn gab. Er wurde verachtet, gehasst und im Stich gelassen. Er selbst wusste kaum etwas über sich, weder wer seine Eltern waren, noch woher die kreuzförmige Narbe an seiner Wange stammte oder warum sie nicht richtig verheilte, wie seine anderen Verletzungen. Er wusste lediglich seinen Namen und dass in seinen Adern besonderes Blut floss.

Der Junge war ein Dorashen.

Es war nichts anderes als die Furcht seiner Mitmenschen, die Furcht vor etwas Übernatürlichem, die ihn in sein unwürdiges Leben zwang. Er wusste, dass er froh sein konnte, einer der wenigen Dorashen zu sein, die noch nicht vertrieben worden waren und von Ort zu Ort ziehen mussten.

Das Dorf, in dem der Junge sein Leben fristete, seit er denken konnte, lag ganz im Norden des Fürstentums und trug den Namen Narinfen. Die Bevölkerung strotzte nicht gerade vor Reichtum, doch eigentlich fehlte es ihr an nichts, außer ein wenig Abwechslung. Deshalb bereitete es beinahe jedem Bewohner Narinfens ein diebisches Vergnügen, den jungen Dorashen zu schikanieren. Er war das perfekte Opfer. Obwohl er die Hoffnung längst aufgegeben hatte, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und den Dorfbewohnern je bessern würde, ließ er sich nur schwer aus der Ruhe bringen. Er saß oftmals einfach nur schweigend und regungslos da, auch wenn seine Mitmenschen ihn mit faulem Obst, Gemüse oder gar mit Steinen bewarfen.

So saß er auch an jenem Herbsttag, an dem es für diese Region ungewöhnlich kalt war, verloren und alleine auf der Straße. Hinter ihm, am Fuße eines sanft abfallenden Hanges, rauschte der Fluss Mirisa, der durch den Regen immer reißender wurde. Es war ein wirklich ungemütliches Wetter, stoßweise pfiff ein scharfer Wind durch die Gassen des beinahe menschenleeren Dorfes und wirbelte die vom Himmel fallenden Regentropfen wild durcheinander. Nur wenige Bewohner wagten sich bei diesen widrigen Bedingungen freiwillig aus ihren behaglichen Häusern und Hütten.

Der Junge hatte ohnehin keine Wahl, er hatte kein Obdach, doch das machte ihm längst nichts mehr aus. Er hatte schon eine Hand voll eisiger Winter auf der Straße überstanden und mehr als doppelt so viele brütend heiße Sommer. Sein Körper war durch die Wettereinflüsse gestählt worden und weder Hitze noch Kälte konnten ihm so schnell etwas anhaben. Seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt und von der Sonne gebräunt, seine Kleidung, kaum mehr als Lumpen, war zerfetzt und löchrig und als Gürtel für die viel zu große, flickenbesetzte Hose diente ihm lediglich ein altes Seil. Das einzige Werkzeug und zugleich die einzige Waffe, die er besaß, war ein verwittertes Hackebeil, das ihm einmal der örtliche Fleischer anstelle einiger Münzen als Lohn überlassen hatte. Er benutzte es für alles, wofür er seine Hände nicht verwenden konnte, rationierte damit seine seltene und meist spärlich ausfallende Verpflegung, stutzte sich die langen Haare auf dem Kopf und die spärlich sprießenden Bartstoppeln an seiner Wange und hatte sich damit schon mehr als einmal ein paar hungrige Wölfe oder streunende Hunde, die sich zu nahe an ihn herangewagt hatten, vom Leib gehalten. Das schlichte Metzgerwerkzeug war für ihn längst eine Verlängerung seines Armes geworden, ein Teil seines Körpers, der ebenso wenig wegzudenken war wie seine Hand.

Das einzige, was der Junge an diesem Tag zu essen hatte, war ein halber Laib Brot, der bereits schimmelte. Er hatte nie gelernt, wählerisch zu sein und stattdessen rasch begriffen, dass es ratsam war, jedes bisschen Nahrung so gut wie irgend möglich einzuteilen. Der Wind pfiff durch seine schwarzen Haare, ließ seine lose Kleidung wild um seinen Körper flattern und rüttelte heftig an den Weizenhalmen, die der Junge im Mundwinkel trug und auf denen er gedankenverloren herumkaute. Gerade als er eine dünne Scheibe Brot abschnitt, um sie sich einzuverleiben und seinen schimpfenden Magen zu beruhigen, kamen die Winzer aus ihren Weinbergen zurück ins Dorf. Der Einbruch der Nacht und der einsetzende Regen hatten sie dazu veranlasst, ihre Arbeit für den heutigen Tag zu beenden. Angeführt wurden sie von den Brüdern Padros und Valpen. Padros, der Ältere der beiden, war der Besitzer des größten Weingutes in der Grafschaft Vingrat und belieferte sogar den Kaiserlichen Hof. Er war der mit Abstand reichste Mann in Narinfen und verachtete den jungen Dorashen zutiefst.

Sein jüngerer Bruder Valpen dagegen schien ihm nicht wirklich mit Abscheu zu begegnen, denn er gehörte zu den wenigen Bewohnern Narinfens, die dem jungen Vagabunden ab und zu etwas Proviant in Form einer Weintraube oder eine Flasche Wasser überließen.

Padros hatte fürchterliche Laune. Das wechselhafte Wetter hatte seine Arbeiter ausgebremst und die Weinlese war an diesem Tag nicht so weit fortgeschritten, wie er es sich erhofft hatte. Als Padros den Dorashen erblickte, schnaubte er verächtlich durch die Nasenflügel. Für ihn war der junge Stadtstreicher genau das richtige Opfer, um seiner Wut freien Lauf zu lassen.

"Passt mal auf!", rief er seinem Bruder und den anderen Winzern zu. "Jetzt werde ich dem kleinen Teufelssohn da drüben mal ein paar Takte erzählen." Mit festen Schritten stapfte Padros auf den Dorashen zu, trat gezielt auf den halben Laib Brot und zerdrückte ihn unter seiner dicken Sohle zu Brei.

"Oh nein. Habe ich etwa gerade Eure Tagesration zertreten, oh mächtiger Krieger?", höhnte er. Erst jetzt hob der Junge hob den Kopf und blickte den Mann ausdruckslos an. Der Wind wehte ihm die Strähnen seines schwarzen Haares in die Stirn.

"Nicht meine Tagesration“, gab er tonlos zurück. „Das ist mein Vorrat für die ganze Woche.“

Padros erwiderte den ausdruckslosen Blick seines Gegenübers verächtlich und schob den zertretenen Laib Brot mit der Stiefelspitze in eine Schlammpfütze.

"Kann ich mir denken, dass du armer Schlucker wieder mal am Hungertuch nagst“, knurrte er wütend. „Aber mach dir nichts draus. Das Zeug war ohnehin schon verschimmelt. Ich habe dir nur einen Gefallen getan.“

Der Dorashen antwortete nicht. Stattdessen streckte er die Hand aus und griff nach dem zertretenen Laib. Ohne auf Padros zu achten, schnitt er sich eine weitere Scheibe ab und schob sich die schlammige Masse in den Mund, die einmal Brot gewesen war.

Als er bemerkte, dass seine Grausamkeit einfach ignoriert wurde, schwoll Padros‘ Zorn ins Unermessliche an. Er ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen und starrte voller Hass und Abscheu auf den Jungen herab.

„Du widerlicher, kleiner Penner“, grollte er. „Mach, dass du wegkommst!“

Padros trat dem Dorashen vor die Brust und dieser kippte etwas unbeholfen nach hinten um. Er betastete prüfend seine geschundenen Rippen und setzte sich wieder auf. "Ich werde hierbleiben“, erwiderte er. "Denn dies ist meine Heimat."

Die ruhigen Worte und der ausdruckslose Blick des Jungen machten Padros nur noch wütender. Er hörte die anderen Winzer in seinem Rücken tuscheln und beschloss, seinem Gegenüber dessen nichtssagenden Blick persönlich aus dem Gesicht zu wischen.

„Heimat! Von wegen!“, brüllte er und zog ein Messer aus seinem Gürtel. „Ihr Dorashen habt es nicht verdient, in unseren Dörfern geduldet zu werden! Ihr seid nur eine Bande von verfluchten, kleinen Halunken! Eine Ratte wie du hat in Narinfen nichts verloren! Ich schlag dich tot!“ Padros holte weit aus, doch bevor er zustoßen konnte, mischte sich Valpen ein.

"Padros, beruhige dich!“, rief er seinem Bruder eindringlich zu und packte ihn beim Arm. „Ich lasse nicht zu, dass du zum Mörder wirst." Seine Worte durchdrangen die dunkle Wolke aus Hass, die Padros umgab. Er ließ das Messer fallen und zögerte für einen Moment. Doch dann trafen seine Augen wieder den leeren Blick des Dorashen und etwas in Padros‘ Innerem schien zu zerbersten. „Misch dich da nicht ein!“, brüllte er seinen Bruder an und riss sich los. „Ein Mann, der einen Dorashen tötet, ist ebenso wenig ein Mörder wie ein Jäger, der einen Hirsch erlegt!“ Valpen stolperte zurück und purzelte mit einem erstickten Aufschrei den Hang hinunter, wo er in der aufziehenden Dunkelheit der Dämmerung verschwand. Padros würdigte seinen stürzenden Bruder nicht eines Blicks, sondern schlug dem Jungen die Faust ins Gesicht. Die Wucht des Treffers streckte den Dorashen zu Boden und Padros fiel wie rasend über ihn her. Er prügelte in blinder Wut auf sein Opfer ein, das sich unter seinen brutalen Schlägen zusammenrollte und seinen Körper mit den Armen schützte. Ein widerliches Knacken ertönte, als er dem Straßenjungen einen letzten, heftigen Tritt gegen den Kopf verpasste. Padros ließ kurz von dem Burschen ab und sah gehässig zu, wie er wegrobbte und sich mit einer Hand ins Gesicht fasste. Er tastete nach seiner malträtierten Nase und starrte fassungslos auf das dunkle Blut an seinen Fingern.

Padros knurrte verärgert und wollte erneut auf den Dorashen losgehen, doch als er bemerkte, dass sich der Gesichtsausdruck seines Gegenübers plötzlich veränderte, hielt er einen Augenblick lang inne.

„Ihr habt mich verletzt“, murmelte der Junge wie in Trance. Er war es gewohnt, mit faulem Obst und Steinen beworfen zu werden, doch noch nie hatte ihm einer der Bewohner Narinfens eine Verletzung zugefügt, die blutete. Der Schmerz in seiner gebrochenen Nase und der Anblick seines eigenen Blutes an seinen Fingern entfachten in der Brust des Dorashen ein überwältigendes Gefühl, das er bislang nicht gekannt hatte. Heiß und brodelnd kochte es in ihm hoch und fuhr in jede Sehne und jeden Muskel seines Körpers.

Padros‘ Zorn kehrte zurück. „Fein erkannt“, zischte er wütend, dann schlug er erneut zu.

Mit einem Mal schienen die sonst so leblosen Augen des Dorashen regelrecht aufzulodern. Seine Hand schoss blitzschnell nach oben und packte Padros derart heftig an der Kehle, dass es ihm den Atem verschlug und er erschrocken nach Luft schnappte. Dann erhob sich der Dorashen und schleuderte Padros, der nur noch ein ersticktes Gurgeln von sich geben konnte, mit einer einzigen Armbewegung zu Boden. Padros überschlug sich, rollte den Hang zum Fluss hinab und wurde, wie sein Bruder kurz zuvor, von der Dunkelheit verschluckt.

Doch anders als bei Valpen, folgten zwei Geräusche, zunächst ein dumpfer Aufprall, dann ein erstickter Schreckensschrei, beides gerade laut genug, um das Tosen der von Wind und Regen aufgewühlten Wellen des Mirisa zu übertönen. Der junge Dorashen, der sich eben noch rasend wie ein Berserker verteidigt hatte, erstarrte und der Glanz seiner Augen erlosch. Einer unguten Vorahnung folgend, stieg er mit unsicheren Schritten den Hang hinab und starrte in die Dunkelheit. Das Rauschen des Flusses wurde lauter und er konnte bereits die ersten Wellen erkennen, die vom Wind und den nachdrängenden Wassermassen immer weiter angepeitscht wurden.

Dann entdeckte er am Ufer eine zusammengesunkene Gestalt, die über einem ausgestreckten Körper kauerte. Der Dorashen näherte sich vorsichtig und erstarrte dann vor Schreck zu Stein.

Padros lag reglos am Boden und in seinen ausgebreiteten Gliedmaßen steckte nicht einmal mehr der kleinste Hauch von Leben. Der locker im Erdreich steckende Stein, an dem sein Schädel aufgeplatzt war wie eine überreife Melone, war über und über mit Blut bedeckt. Valpen kauerte über seinem Bruder und die Tränen rannen ihm über das Gesicht. Als er den Dorashen bemerkte, hob er den Kopf und sah dem jungen Mann direkt in die Augen.

"Du hast ihn umgebracht.“, hauchte er zitternd. Die gedämpften, unruhigen Stimmen der Winzer, die noch ratlos auf der Straße oben am Hang standen, brachten wieder Leben in die gelähmte Zunge des Jungen.

"Das...das wollte ich nicht.“, stammelte er und erst im nächsten Moment schien er zu begreifen, was Valpens verbittert hervorgestoßener Satz bedeutete. Mörder. Wie ein Pfeil bohrte sich das Wort in seinen Körper und er griff sich an die Brust, als hätte es sein Herz durchstoßen.

Valpen sah ihn tränenüberströmt an und es war unmöglich zu sagen, welche Gefühle außer Trauer sich in seinen Augen noch spiegelten.

"Nur wenige Dorashen wollten das, was sie taten“, flüsterte er mit bebender Stimme. "Du solltest besser von hier verschwinden, bevor es zu spät ist.“

Der Junge starrte ins Leere, als hätte er einen Geist gesehen. „Geh schon!“, rief Valpen drängend. „Du hast einen der einflussreichsten Männer aus Vingrat getötet. Man wird dich suchen! Verschwinde endlich!“

Der Schock hatte den jungen Mann für den Moment völlig verwirrt und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber Valpens Worte rissen ihn aus seiner Starre. Er wusste nicht, ob er sich bei ihm bedanken oder entschuldigen sollte. So drehte er sich einfach ohne ein Wort um und lief davon. Und wieder übermannte ihn ein Gefühl, doch diesmal fühlte es sich nicht heiß und brodelnd an wie zuvor. Dieses Gefühl war bitterkalt und glitt wie ein Eiswürfel seinen Rücken hinab.

Der Junge war gerade einen Steinwurf weit gekommen, als er hinter sich einen langgezogenen Aufschrei und wilde Flüche und Drohungen hörte. Er lief wie ein Besessener, weg von den Hütten und Häusern Narinfens, wo er sein ganzes armseliges Leben verbracht hatte, ohne jemals wissentlich ein Dach über dem Kopf gehabt zu haben. Er wagte nicht zurückzublicken und rannte mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, immer am Fluss entlang, bis er hinter sich plötzlich das Getrappel von Hufen vernahm.

"Sie haben die Pferde geholt!", schoss es ihm durch den Kopf. Die heiseren Schreie derjenigen, die hinter ihm her galoppierten, wurden mit jedem Schritt lauter, der ihn von Narinfen forttrug. Die Ebenen von Vingrat boten ihm keinerlei Deckung oder Sichtschutz und die drei Monde durchbrachen die dunkle Wolkendecke am Himmel und tauchten das Flachland verräterisch in ihr silbernes Licht. Der Junge leistete sich für einen Sekundenbruchteil den Luxus, froh darüber zu sein, dass seine Verfolger nicht mit Bögen oder Armbrüsten bewaffnet waren, doch die Gewissheit, dass sie ihn einholen würden, war dennoch so erdrückend, dass er in seiner Angst den letzten, verzweifelten Ausweg wählte, der ihm noch blieb. Er blickte zurück, sah, dass die Reiter, die ihn jagten, erschreckend nah gekommen waren, und stürzte sich dann mit einem heiseren Aufschrei in den Fluss.

Wind und Regen hatten den Mirisa zu einer reißenden Todesfalle werden lassen. Die ungebändigte Macht der tosenden Wellen traf den Jungen wie ein Rammbock und warf seinen Körper wie eine Puppe hin und her. Die gewaltige Kraft des Wassers verängstigte ihn mindestens ebenso sehr wie das immer lauter werdende Schnauben der Pferde in seinem Rücken zuvor. Seine Verfolger zügelten ihre Rösser und blieben am Flussufer stehen. Der Junge konnte sich vorstellen, welche Drohungen sie ihm hinterherriefen, die im Tosen der Wellen untergingen. Die Welt um ihn herum wurde ein einziger Strudel und aus dessen Mitte breitete sich eine undurchdringliche Schwärze aus, die ihn vollständig umfing.
 

Es dauerte mehrere Minuten, bis der Junge registrierte, dass er Uferschlamm auf seiner Haut spürte. Langsam und flatternd öffneten sich seine Lider und er blickte in einen Sternenhimmel, der klarer hätte kaum sein können. Das Unwetter war vorbei und der Fluss hatte ihn an Land gespült. Mühsam richtete er sich auf und beförderte in einem Hustenanfall eine beträchtliche Menge Wasser aus seinen Lungen zu Tage. Erschöpft blickte er sich um und stellte fest, dass er die Orientierung verloren hatte und nicht wusste, wo er sich befand. Dafür hatte das Hackebeil, sein einziger Besitz, den unfreiwilligen Ausflug in den Fluss überstanden und ruhte noch immer fest verstaut im Gürtel des Jungen. Seine Muskeln brannten, als er sich ächzend die Uferböschung hinaufschleppte, aber er war entkommen und am Leben.

Plötzlich spürte er wieder den stechenden Schmerz in seiner gebrochenen Nase und sofort waren die Erinnerungen an die letzte Stunde zurück, Padros‘ Tod und die Flucht aus Narinfen, und mit ihnen eine grausame Erkenntnis, die ihn wie ein Hammerschlag traf. Er war nun ein Ausgestoßener und ihm wurde bewusst, dass es dieses lodernde Gefühl gewesen war, dass ihn zu einem Mörder und Ausgestoßenen gemacht hatte. Nie wieder wollte er sich von seinen Gefühlen übermannen lassen, und er spürte, wie ihm dieser Entschluss einen kalten Panzer um sein Herz legte.

Der Junge befühlte seine malträtierte Nase. Seine Regenerationskräfte als Dorashen sorgten dafür, dass der Knochen bereits wieder zusammenwuchs, aber es würde eine unheilbare Narbe in seiner Seele zurückbleiben, die ihn für immer daran erinnern würde, dass er einen Menschen getötet hatte. Er streckte den Arm aus und pflückte zwei Grashalme, die an der Uferböschung wuchsen. Geistesabwesend schob er sie sich in den Mund, kaute darauf herum und erhob sich langsam. Silbernes Licht beschien die befestigte Straße, die sich durch die schier endlosen Felder der Ebenen von Vingrat schlängelte, als wollten die Monde ihm den richtigen Weg weisen, und der Junge setzte sich in Bewegung.

Nach Osten.



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