Der Abgrund starrt zurück von ElCidIV (Traumtagebuch der anderen Art) ================================================================================ Kapitel 6: Dora --------------- Dora war nervös. Nicht erst seit sie in der Kutsche saß. Schon seit diese Fahrt anstand, bewegte sich der Gedanke daran wie ein nagender kleiner Teufel in ihrem Nervenkostüm. Ihre besten Sachen, hauptsächlich weiße Spitze und viele seidene Rüschen, waren fast schon vom Angstschweiß durchtränkt. Schon wieder war ihr Erscheinungsbild dahin. Sie hasste pompöse Kleidung und sie hasste die Farbe Weiß. Beides zusammen bedeutete Lüge und Heuchelei. Dazu noch dieser lächerlich große Hut mit dem Gesteck und dem Schleier dran. Sie wirkte wie eine gebrochene Mischung aus Braut und Witwe zugleich. In jeder Hinsicht ein Opfer auf der Fahrt ins Unglück. Es war gut, dass sich der Himmel während der Fahrt bewölkt zeigte. Sie zupfte an ihren cremefarbenen Handschuhen, die ihre heruntergekauten Nägel verbargen. Während die Kutsche vor dem kleinen Haus hielt, fürchtete sie so sehr vor einen Herzinfarkt, dass sie leicht erschrak, als dieser nicht einsetzte. Sie öffnete die Kutschentür und machte sich daran in den für sie ungewohnt hochhackigen Schuhen die kleinen Trittleisten hinunterzusteigen. „Wird das heute noch was, oder brauchst du einen Tritt in den Arsch, du Schlampe?“, knurrte der Kutscher böse. Derselbe Kutscher, der zwei Stationen zuvor einer hübschen Dame geholfen hatte, ihren Koffer zu tragen, nachdem er ihr die Tür aufgehalten und sie an der Hand hinunter geführt hatte, ein sonniges Lächeln im Gesicht, um keine geschickte Verbeugung verlegen. Dora wusste, sie durfte nun auf keinen Fall Blickkontakt aufnehmen, denn Menschen wie er durchschauten, was sie war. Auch wenn sie es hinter Schminke uns Seide verbarg. Es war wie ein widerlicher Gestank, der sich weder abschütteln noch überdecken ließ. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, ihren Koffer aus der Tür zu wuchten, da schrie der Kutscher auch schon unwirsch und die Pferde setzten sich ruckartig in Bewegung. Länger als nötig sah sie dem Vehikel hinterher, dann ging sie zur Haustür und läutete. Ein dürrer Mann mit struppigen Haaren öffnete. Dora verzog das Gesicht zu der üblichen Grimasse, die immer dann erschien, wenn sie zu lächeln versuchte. Sie fühlte sich dabei, als würde eine groteske Schnittwunde ihr Gesicht zerteilen. „Hallo“, sagte sie mit brüchiger Stimme. Der Mann brauchte eine Weile um seine Augen an die Helligkeit zu gewöhnen. Dann lächelte er. Ein ehrliches Lächeln für Dora, sie wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. „Mensch, was bist du fein herausgeputzt!“, rief er. „Sind die anderen schon da?“, fragte Dora. Die anderen – das war im Grunde nur eine Person. „Nein. Noch keiner da“, sagte der Mann. Sie begaben sich durch die dunkle Diele ins schlichte Wohnzimmer. Holz dominierte die Ausstattung. Eine Weile saßen sie sich gegenüber und schwiegen. „Alles in Ordnung?“, fragte er schließlich besorgt, „Sonst redest du doch immer wie ein Wasserfall.“ Sonst – das war vor fast achtzehn Jahren. Das Reden hatte man ihr lange schon ausgetrieben. Der Grund, weshalb sie schweigsam blieb, war die blanke Angst, vor dem, was noch passieren würde. Er hingegen wusste über Belanglosigkeiten zu reden, wie es alle Leute mit reiner Weste taten, die in sich ruhen. Auch wenn Dora sich innerlich freute, ihren Vater nach all den Jahren wiederzusehen, konnte sie es nicht zum Ausdruck bringen. Sie beschloss, diesen Moment wie aus der Ferne zu beobachten, ihn sich einzuprägen und daheim wieder vor den Augen ablaufen zu lassen. Ein kleiner Beutel voll Glück, in den sie in finsteren Zeiten einen Blick hineinwerfen konnte. Das Läuten der Tür brach schließlich den Bann. Während ihr Vater zur Tür eilte, griff sie sich nervös an die Kehle. Bald würde es vorbei sein. Sie hörte, wie ihr Vater draußen mit jemandem redete. Seine Stimme klang unbeschwert wie immer, die des Besuchers gelangweilt und schleppend. Dann stellte der Besucher eine Frage, wobei sich seine Tonlage gegen Ende argwöhnisch hob. Ihr Vater gab seufzend Antwort. Dann herrschte einen Moment Stille. Die Luft war plötzlich wie von einem elektrischen Summen erfüllt. Dann brach das Gezeter los. Der Besucher schrie abgehakt und wütend, spuckte die Worte heraus, als wären sie zähe Schleimbrocken. Sein Geschimpfe steigerte sich zu einer schrillen Kanonade aus Flüchen. Dieses wurde dumpfer, als ihr Vater die Haustüre anlehnte und erneut seufzend zu ihr ins Wohnzimmer zurückkehrte. „Muss sich erstmal eine Weile beruhigen“, sagte er grinsend, „Du weißt ja, wie er ist. Ihr wart euch ja selten einig.“ Ja, Dora wusste, wie es damals war. Als sie klein waren, da war es mit ihr noch auszuhalten. Nach ihrer Einschulung ging es dann immer weiter bergab, als würde sich ein schwarzer Fleck in ihr ausbreiten, von dem jeder wusste, dass er zum Morast auswachsen würde, der alles um sich herum mit sich zog. Zuerst bemerkten es die Lehrer, dann die Nachbarskinder. So gerne die Familie sie auch hatte, es ließ sich nicht leugnen, dass sie eine zu große Belastung war. Während sich ihre Mutter passiv von ihr abnabelte, hatte ihr Bruder immer mehr Mühe, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Immer öfter mussten die Eltern einschreiten, damit unter den Geschwistern kein Mord geschah. Soweit wollten sie sich von dem Unglück, das ihnen widerfahren war, nicht beeinflussen lassen. Da sie den Schaden irgendwie wieder gutmachen mussten, räumten sie ihm sämtliche Privilegien eines Einzelkindes ein. Dora war dies nur recht, wenn ihre Beziehung dadurch auch nur ansatzweise wieder ins Reine käme. Darauf hatte jedoch nichts einen Einfluss. Der Hass ihres Bruders schien parallel zu seinen Zugeständnissen zu wachsen. Den Eltern blieb nichts anderes übrig, als Dora fortzuschicken, damit nicht auch noch ihr Sohn zu Schaden käme. Auf ihrer Reise hatte Dora immerhin weitere Ausgestoßene kennengelernt. Anfangs war sie sehr erfreut darüber gewesen, da diese Leute ihr zunächst arglos begegneten. Doch schon bald stellten sie fest, dass sie auch unter ihnen mit der Zeit Abscheu auslöste. Letztendlich gab es, wohin sie auch floh, kein Entkommen vor ihr selbst. Alles was ihr sonst blieb, waren die Gelegenheitsjobs, in denen sie nicht mit Menschen zu tun hatte. Allein aus eigenem Antrieb konnte sie dennoch nicht existieren. So war sie auf das Geld ihrer Eltern angewiesen, was diese ihr auch anstandslos zukommen ließen, solange sie dafür ihre Besuche auf ein Minimum reduzierte. Dies änderte sich lediglich, als ihre Mutter schwer erkrankte. Ab da war sie öfter zu Gast gewesen, insofern kein Besuch da war, da ihr Bruder damals bereits ausgezogen war. Nun, da ihre Mutter verstorben war, konnte sie nur noch ihren Vater besuchen und dies war mit Schwierigkeiten verbunden, da an diesem Tag der letzte Wille ihrer Mutter verlesen wurde und ihr Bruder daher auch anwesend sein musste. Nachdem sie und ihr Vater eine Weile schweigend am Tisch gesessen hatten, wurde die Tür ruckartig aufgerissen und ihr Bruder trat ein. Sein Blick schweifte umher, als hätte er einen Raum voller Bewaffneter erwartet. Viel hatte sich nicht an ihm verändert. Sein Gesicht war lediglich stärker vor Wut und Abscheu verzerrt, als es ihm in seiner Kindheit möglich gewesen war. Er setzte sich neben seinen Vater und starrte auf seine Hände, bis er ihm ein heißes Getränk eingeschenkt hatte. Doras Bruder nippte an dem Getränk, schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf, knallte den Becher auf den Tisch und funkelte sie böse an. „Ich frage dich, Dora“, begann er leise und immer lauter werdend, „Was zum Teufel willst du hier? Hat es dir nicht gereicht, uns wie ein Parasit die Atmosphäre zu verpesten und immer mehr Geld dafür in den Rachen geworfen zu bekommen? Du warst es doch, die unsere Mutter ins Grab gebracht hat! Jetzt kommst du auch noch hier her, hältst die Hand auf und willst uns noch den letzten Willen unserer Mutter madig machen!“ Er hieb mit beiden Händen auf den Tisch. „Warum? Warum quälst du uns so? Warum sterben alle um uns herum – nur du nicht? Alle Menschen, die wir lieben, gehen fort! Nur deine Fratze, die bleibt uns erhalten!“ „Ich bin nicht wegen des Geldes hier“, beschwichtigte ihn Dora, auch in dem Wissen, dass dies nur zum Teil stimmte, „Ich bin hier, weil es sich so gehört.“ „Weil es sich so gehört!“, äffte er sie nach, „Wenn du wüsstest, was sich gehört, würdest du endlich von uns wegbleiben! Ernsthaft, Dora! Du glaubst doch nicht wirklich, dass meine Mutter das gewollt hätte, dass du dich nach ihrem Tod an unsere Fersen heftest.“ Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Dann beschloss der Vater, das Testament vorzulesen. „Meine lieben Kinder, wenn ihr diese Worte vernehmt, weile ich bereits nicht mehr unter euch. Nun sollt ihr erfahren, was ich euch zu hinterlassen gedenke. Dirk, mein einziger Sohn, dir vermache ich sowohl mein Vermögen, als auch meine Verpflichtungen von absoluter Dringlichkeit. Doch dazu später. Dora, meine Tochter, über Jahre hinweg habe ich mich von dir abgekapselt, da ich es nie über mich brachte, dir zu sagen, was ich für dich empfinde. Mein Erbe an dich soll hiermit also die Wahrheit sein. Ich konnte dich bereits von Anfang an nicht mit vollem Herzen lieben. Bei deinem Bruder war es anders. Er war so vollkommen. Bei ihm konnte ich voller Stolz sagen – das ist ein Teil von mir. Doch bei deiner Geburt war es anders. Nicht, dass du mir Schmerzen bereitet hättest – nein, es war viel mehr ein Gefühl, als ob du dich in mir drin von meiner Lebensspanne ernähren würdest. Als du dann da warst, schien alles schief zu gehen. Ständig wurde jemand von uns krank und sobald du im Raum warst, schien sämtliches Glück aus dem Zimmer zu verschwinden. Für die Geburt deines Bruders erhielten wir zahlreiche Glückwünsche. Bei dir blieben sie aus, mehr noch, unsere Freunde wandten sich von uns ab. Als du dann mit anderen Kindern in Kontakt kamst, ließ sich nicht mehr leugnen, dass etwas mit dir nicht stimmte. Auch dein Bruder, der wie du weißt, sehr sensibel ist, wollte dich nicht mehr unter uns dulden. Erinnerst du dich an dem Tag, an dem du am Gartenteich standst und er dich von hinten packte und versuchte, dich zu ertränken? Ich schritt ein, weil weder er noch ich es ertragen hätten, einen Mörder in der Familie zu haben. Sei ihm deswegen nicht Gram. Er wollte lediglich die Familie schützen und das war etwas, wozu mir damals schlichtweg die Kraft fehlte. Dich fortzuschicken erschien uns als die beste Lösung, auch wenn unser Ruf kurzfristig darunter zu leiden hatte. Dennoch versichere ich dir, hatten wir in deiner Abwesenheit eine schöne Zeit – es war fast schon wieder wie damals, als wir nur mit deinem Bruder zusammenlebten. Die Familienfeiern wurden von deiner Abwesenheit zwar überschattet, doch war dies erträglich, da es Freudentage waren. Als ich jedoch todkrank wurde, änderte sich auf einen Schlag alles. Mir ging es zu dieser Zeit so schlecht, dass ich Dirk nicht damit belasten konnte. Und so zählte ich auf dich. Ob mein Zustand sich aufgrund deiner Anwesenheit verschlechterte, kann ich dir nicht mit Sicherheit sagen. Letztlich zähl nur – selbst wenn du die Schuld für meinen Tod tragen solltest, entbindet dies unsere Familie nicht von unserer Verpflichtung, für deine Existenz aufkommen zu müssen. Ich fragte mich bis zu meinem Ende hin, was unsere Vorfahren verbrochen haben mussten, um ein derartiges Martyrium über uns zu bringen. Und so muss ich diese Last nun schweren Herzens auf die Person übertragen, die ich über alles liebe. Dirk, du wirst von nun an für deine Schwester aufkommen. Du wirst sie finanziell unterstützen und sie zu Familienfeiern einladen. Dies geht mit der Erbschaft meines Vermögens einer. Ich weiß, es ist unfair, doch ich habe mein Bestes getan um dir bis dato ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Ich hoffe, dass du es dennoch fertig bringst, ein guter Mensch zu bleiben, denn das ist es, was unsere Familie ausmacht – wir sind gute Menschen. Lebt also wohl und wendet mein Erbe mit Sorgfalt und bestem Gewissen an. Eure euch auf ewig liebende Mutter.“ Noch bevor sein Vater den Brief sinken lassen konnte, war Dirk schon aufgesprungen und in die Diele gestürmt. Sein Schluchzen war jedoch noch im Wohnzimmer zu hören. Sein Vater ging ihm nach um ihn zu trösten. Dora blieb sitzen und fragte sich, warum sie sich so taub fühlte und gar nichts empfand. Sie hatte während der Hinfahrt fest damit gerechnet, dass sie bei Mutters letzten Worten durchdrehen würde, sich die Hände auf die Ohren pressen und schreien würde. Doch der einzige der nun schrie, war ihr Bruder. Einige Sätze wehten zu ihr herüber. „Es ging um sie! Es ging immer nur um sie! Über die Hälfte des Briefes war an sie gerichtet! Und ich muss sie jetzt auch noch mitversorgen!“ Als sein Vater ihn tröstete, weinte er wieder und er klang aufrichtig verzweifelt. „Was ist, wenn sie nicht stirbt? Was ist wenn sie nicht sterben kann? Wird mein Sohn sich dann um sie kümmern müssen? Meine Enkel?“ Vater meinte daraufhin nur, er denke zu viel darüber nach. Er solle lieber überlegen, wie er das Erbe seiner Mutter sinnvoll nutzen kann und die kleineren glücklichen Momente seines Lebens genießen. Sie blieben noch eine ganze Weile da draußen sitzen und führten ihr Vater-Sohn-Gespräch. Da Dirk sich inzwischen beruhigt hatte, war seine Stimme kaum noch zu hören. Dora legte den Kopf in den Nacken und starrte auf die Holzverkleidung an der Decke, wie sie es schon als kleines Kind immer getan hatte. Irgendwann schlief sie schließlich ein. Wer hatte die Decke über sie ausgebreitet? Nur ihr Vater kam infrage und dieser Verdacht bestätigte sich, als der ihr erklärte, dass ihr Bruder längst aufgebrochen war. Er hatte das Wohnzimmer nicht mehr betreten wollen, aus Furcht davor, ein böser Mensch zu werden. Daraufhin meinte Dora, sie wolle nun ebenfalls gehen. Das stimmte zwar absolut nicht, aber sie hatte ihren Vater nie böse erlebt und wollte es auch an diesem Abend nicht. Als sie aus dem Haus ins Freie trat und die Sterne über ihr blinzelten, fiel ihr ein, dass sie sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie sie wieder nach Hause kommen sollte. Seltsamerweise störte sie das nicht. Sie überquerte die kleine Straße und wanderte einen der langen Feldwege entlang, die aus dem Ort hinausführten, den sie nie hätte verlassen sollen, weil es besser ist, an einem Ort zu bleiben, an dem man gehasst wird, als in die Welt hinaus zu ziehen und dabei festzustellen, dass man überall gehasst wird. Die ewige Milchstraße über sich, den ewigen Pfad unter sich. Er führt ins Land des Glücks, nach Hause, wie es sich herausstellt. Das Gras ist grün, die Nacht ist dunkel, der Nebel streicht über das Land. Das Glück wartet auf die, die ihn durchschreiten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)