Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 21: ------------ Die Abendsonne hing grell und orange über dem Horizont und die länger werdenden Schatten leiteten allmählich den Anbruch der Nacht in Kaboroth ein, als das Läuten der Hafenglocke die Ankunft eines Schiffes verkündete. Aus den Tavernen der Kaiserstadt stolperten ein paar Betrunkene, die der Lärm neugierig gemacht und angelockt hatte und auch die Dockarbeiter, die entlang des Piers ihren Pflichten nachgingen, hielten in ihrer Beschäftigung inne und blickten interessiert auf. Der Hafen füllte sich in wenigen Augenblicken mit zahlreichen Schaulustigen, als sich die Küstenklinge einem der zahlreichen Anlegestege näherte. Kapitän Sason und seine Crew hatten mit ihrem Schiff gute Fahrt gemacht und der Hauptmann war froh, dass es ihm so problemlos gelungen war, seinen Auftrag auszuführen. Es kam nicht jeden Tag vor, dass der Kaiser persönlich ihn für eine Mission auswählte. Beim Anblick seines Heimhafens entglitt Sason ein leises, zufriedenes Seufzen. Wie immer lockte das Geläut der Glocke die neugierigen Bürger an und wenn sich ein Schiff der Kaiserlichen Armee näherte, konnte sich dessen Crew im Jubelsturm der Bevölkerung sonnen. Die Einwohner von Kaboroth feierten die Soldaten wie Helden, selbst wenn sie nicht aus einer Seeschlacht zurückkehrten. Kein Ort in ganz Gäa war so sicher wie die Kaiserstadt und jeder Bürger wusste, dass der Luxus des Friedens durch die Armee gesichert wurde. Auch in diesem Fall erwartete die Küstenklinge ein begeistertes Empfangskomitee. Das schiefe Grölen einiger Betrunkener ging in den lauten Jubelrufen der Zivilisten unter, die sich an der Hafenmauer versammelt hatten. Sason verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen. Obwohl die Fahrt von Eydar nach Kaboroth ohne nennenswerte Hindernisse vonstattengegangen war, hatte er kaum geschlafen. Als Kapitän kam ihm große Verantwortung zu und er hatte selten die Möglichkeit, sich ein wenig auszuruhen. Nun war er müde und wollte sich vom Lobpreis der Bevölkerung nicht davon abhalten lassen, sich so schnell wie möglich in seinem Bett zu verkriechen. Sparva ging es ähnlich. Lustlos stand sie am Steuerrad und manövrierte die Küstenklinge unter den Anweisungen ihres Kapitäns vorsichtig in den durch Ölfackeln erleuchteten Hafen. Sie würde die erste sein, die sich in ihrer Hängematte verkroch, sobald das Schiff sicher vertäut war. Dagegen platzte Cedric fast vor Stolz. Er winkte den Schaulustigen mit glühenden Wangen zu, die Zeugen ihrer Rückkehr wurden. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und sich feiern zu lassen. Während Sason weiterhin das Anlegemanöver der Küstenklinge koordinierte, fiel ihm ein Trupp Soldaten auf, der im Gleichschritt in Richtung Hafen marschierte. Im flackernden Licht der Laternen erkannte der Hauptmann, dass die Patrouille von Brigadegeneral Legis angeführt wurde. Die umstehenden Bürger raunten ehrfürchtig und machten respektvoll Platz, als die Soldaten sich entlang des Piers in Reih und Glied aufstellten. Sason stieß Cedric mit dem Ellbogen an. „Sieh mal, wir werden offenbar von höchster Stelle empfangen“, schmunzelte er. „Dann wollen wir die Herrschaften nicht lange warten lassen. Bring den Langfinger an Deck!“ Cedric salutierte dienstbeflissen. „Wie Ihr wünscht, Hauptmann!“ Hastig eilte der Feldwebel davon und kehrte mit dem Gefangenen wieder zurück, als die Küstenklinge gerade mit einem Ruck stehenblieb. Mehrere Besatzungsmitglieder kletterten über eine Strickleiter von Bord des Schiffes und banden es mit dicken Tauen an den Hafenpollern am Pier fest. Als die Seile stramm gezurrt waren, salutierten sie in Richtung ihres Kapitäns und auf einen Wink Sasons wurde die Plankenrampe ausgefahren. Mit einem kurzen Seitenblick auf Hiob vergewisserte sich der Hauptmann, dass sein Gefangener die Reise unversehrt überstanden hatte. Der Dunkelelf erfreute sich bester Gesundheit und wirkte angesichts seiner bevorstehenden Verurteilung nicht einmal verzweifelt. Viel eher lag auf seinem Gesicht ein entspannter, fast schon heiterer Ausdruck. Sason runzelte die Stirn. Hiobs merkwürdiges Verhalten war völlig untypisch für einen Gefangenen und versetzte den Kapitän immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Es war ihm nur recht, dass ihm der seltsame Dunkelelf abgenommen wurde, denn ganz wohl fühlte er sich in seiner Gegenwart nicht. Sason ging flankiert von seinen beiden Feldwebeln an Land, wobei Cedric Hiob mit einer Hand am Unterarm festhielt, und stellte sich vor Legis in Positur. „Zu Euren Diensten“, rief er und führte die Hand zur Stirn. Cedric und Sparva folgten seinem Beispiel mit gegensätzlichem Elan. Legis nickte der Besatzung der Küstenklinge zu. Der Blick des Brigadegenerals traf für einen Augenblick den des gefangenen Dunkelelfen, ehe er Sason fest in die Augen sah. „Gute Arbeit, Hauptmann“, lobte er zufrieden. „Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Überfahrt.“ „Ich kann mich nicht beklagen“, erwiderte Sason. „Es lief alles vollkommen reibungslos ab.“ Legis trat einen Schritt vor und packte Hiob bei der Schulter. Cedric ließ den Dunkelelfen los und trat ehrfürchtig einen Schritt zurück. „Es freut mich, das zu hören“, verkündete der Brigadegeneral. „Ich denke, Ihr und Eure Mannschaft habt Euch eine zusätzliche Prämie verdient. Der Kaiser wird von Eurem Erfolg erfahren. Nehmt Euch die nächsten beiden Tage frei, ruht Euch aus und erholt Euch von Eurer Mission. Ich werde veranlassen, dass Euer Sold erhöht wird und wer weiß…vielleicht wartet schon bald eine Beförderung auf Euch und Eure Mannschaft.“ „Wie schön“, erwiderte Sason, aber er konnte nicht verbergen, dass ihm die Aussicht auf einen höheren Rang nicht unbedingt gefiel. „Vielen Dank, Brigadegeneral.“ Die freien Tage kamen ihm zwar ganz gelegen, aber eine Beförderung brachte größere Verantwortung mit sich und der Hauptmann war mit den Privilegien seines jetzigen Ranges vollkommen zufrieden. Er wusste, dass es Sparva ähnlich ging. Cedric dagegen strahlte über das ganze Gesicht. „Ich habe zu danken“, erwiderte Legis und schien es auf einmal eilig zu haben. „Ihr habt uns mit Eurem Einsatz einen wichtigen Dienst erwiesen. Ab hier übernehme ich.“ „Tut Euch keinen Zwang an, Brigadegeneral“, sagte Sason und führte die Hand zur Stirn. Legis gab mit einem stummen Kopfnicken das Zeichen zum Abmarsch und sein Trupp setzte sich in Bewegung. Sason sah zu, wie sich die Soldaten in Richtung Kaiserpalast entfernten. Sein Kopf platzte noch immer vor Fragen, aber er bezweifelte, jemals aussagekräftige Antworten zu erhalten. Für den Moment war es wohl am besten, wenn er sich einfach auf die versprochene Belohnung für seinen erfolgreichen Auftrag freute. „Ihr habt es gehört“, brummte er Cedric und Sparva müde zu. „Sieht so aus, als hätten wir wieder ein wenig Zeit, die Füße hochzulegen.“ Die Soldaten führten Hiob bis vor die mächtigen Tore des Kaiserpalastes, in dessen unterirdischen Gewölben das Hochsicherheitsgefängnis von Kaboroth lag. Legis ließ seinen Trupp mit einer einfachen Handbewegung Halt machen. „Ihr dürft Euch entfernen!“, verkündete er energisch und festigte seinen Griff um Hiobs Handgelenk. „Ich kümmere mich um den Rest.“ Die Soldaten nickten zögerlich und kamen seiner Anforderung nach. Legis wartete mit steinerner Miene, bis sie verschwunden waren, ehe er den Wachen befahl, das Tor zu öffnen. Die mit vergoldeten Schnitzereien verzierten Flügeltüren schwangen knarrend auf und der Brigadegeneral betrat den Palast zusammen mit seinem Gefangenen. In den Gemäuern mit dem marmornen Fußboden war es kühl und jeder Schritt hallte wie das Fußgetrappel eines ganzen Bataillons. Hinter Legis und Hiob fiel das mächtige Tor mit einem lauten Donnern wieder ins Schloss. Der Brigadegeneral sah sich in den weiten Gängen der kaiserlichen Residenz um und versicherte sich, dass niemand in der Nähe war. Dann tippte er sich mit dem Zeigefinger auf das linke Auge. „Ist das bei dem Überfall vor neun Jahren passiert?“, fragte er mit gedämpfter Stimme. „So ist es“, antwortete Hiob. „Aber welchen Wert hat schon ein Auge? An diesem Tag haben zahlreiche Leute viel wichtigere Dinge verloren.“ Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Dunkelelfen und er starrte trübsinnig auf den Marmorboden des Kaiserpalasts. Dann ließ er die Schultern kreisen und hob den Kopf. „Wollt Ihr mich nicht endlich von diesen elenden Stricken erlösen? Die stören mich schon die ganze Zeit.“ Legis schürzte die Lippen. „Eigentlich gefallt Ihr mir mit gefesselten Händen ganz gut“, höhnte er. „Außerdem hättet Ihr Euch doch jederzeit selbst befreien können. Oder hat Euch die Zeit auf dieser Insel so schlecht bekommen? Früher habt Ihr derlei Seile mit Leichtigkeit zerrissen.“ „Das stimmt“, erwiderte Hiob. „Aber das ist weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit für derartige Kraftdemonstrationen. Wenn ich also bitten dürfte…“ „Schon gut.“ Legis zückte einen Dolch und durchtrennte damit die Fesseln des Dunkelelfen. Hiob steckte die zerschnittenen Stricke in seine Hosentasche und rieb sich die Handgelenke, auf denen das Seil wundgescheuerte Druckstellen hinterlassen hatte. „Viel besser“, seufzte er zufrieden. „Im Übrigen hätte ich es vorgezogen, wenn man einen etwas angenehmeren Weg gewählt hätte, um mich nach Kaboroth zu bringen. Abgesehen davon, dass es nicht gerade schön ist, wenn man wie ein Gefangener behandelt wird, halte ich es für nicht besonders unauffällig, gleich ein Kriegsschiff zu entsenden.“ „Das war die schnellste Möglichkeit, um Euch in den Palast zu bringen“, verteidigte sich Legis. „Und die mit den meisten Mitwissern“, brummte Hiob. „Wir können froh sein, wenn Hauptmann Sason nicht misstrauisch wird.“ „Keine Sorge, ich habe ihn genau aus diesem Grund für diese Mission ausgewählt“, verkündete Legis stolz. „Sason ist ein fähiger Soldat, vor allem, weil er nie zu viele Fragen stellt.“ „Da bin ich ja beruhigt“, erwiderte Hiob trocken. „Aber falls ich eines Tages wieder nach Kaboroth gerufen werde, überlasst Ihr mir, wie ich die Stadt betrete, habt Ihr verstanden? Ich weiß ganz genau, welche Wege ich gehen muss, um unerkannt von einem Ort zum andern zu kommen. Immerhin bin ich ein Meisterdieb, oder habt Ihr das schon vergessen?“ Legis verdrehte genervt die Augen. „Ich hab ja schon verstanden“, stöhnte er und zog einen Zettel unter seinem Umhang hervor, den er Hiob unter die Nase hielt. „Könnt Ihr mir unterdessen erklären, was das hier soll?“ Hiob starrte mit seinem gesunden Auge stirnrunzelnd auf das gefaltete Stück Papier. „Was ist das?“, fragte er tonlos. „Eine Nachricht von Ordensmeister Syndus aus Eydar“, erklärte Legis und entfaltete den Zettel. „Ein Botenfalke überbrachte sie gestern Nacht. Syndus hat uns über die Festnahme eines gesuchten Verbrechers informiert. Dieses Schriftstück enthält seine wichtigsten Daten. Der Ordensmeister bittet außerdem um die Überführung des Gefangenen nach Kaboroth.“ „Und wer ist dieser Verbrecher?“, erkundigte sich Hiob. „Doch nicht etwa dieser Dorashen?“ „Sein Name ist Vance“, gab Legis zurück, während er seine scheuen Augen über die Zeilen wandern ließ. „Hieß so nicht auch der Mann, den ihr auf Notting entdeckt habt und wegen dem ihr Eure Rückkehr nach Kaboroth angefordert habt?“ „Eydar..“, murmelte Hiob leise. „Sie haben ihn also erwischt. Ich gebe zu, mit dieser Wendung habe ich nicht gerechnet. Fünf Jahre lang war er wie vom Erdboden verschluckt. Aber diese Entwicklung hat auch etwas Positives. Immerhin wissen wir jetzt ganz genau, wo er sich aufhält. Meine Rückkehr nach Kaboroth war also überflüssig.“ „Nicht ganz“, rief Legis und ließ den Zettel mit einer geschickten Handbewegung wieder unter seinem Umhang verschwinden. „Der Kaiser will Euch trotzdem sprechen.“ Kaiser Hilmandir war schon lange der Herrscher des Reiches Ganestan. Seit über hundert Jahreszeiten saß er bereits auf seinem Thron in der Goldenen Halle des Palastes von Kaboroth und regierte mit harter, aber gerechter Hand. Der Kaiser war bei seinem Volk hoch angesehen, doch der mächtige Herrscher wurde langsam alt, sein Bart und seine langen, einst golden glänzenden Haare waren längst weiß geworden. Seine Haut war ebenso gealtert, wie der Rest seines Körpers und nur der mitfühlende und gleichzeitig strenge Blick in seinen blauen Augen war noch so strahlend wie am ersten Tage seiner Herrschaftszeit. Er hatte sein Volk während des Weltenkrieges durch eine Katastrophe geführt, die alles zu zerstören gedroht hatte, und er hatte diese Krise überwunden. Unter seiner Führung hatte sich das Kaiserreich dem neuen Herrscherhaus der stolzen Dunkelelfen angenähert und endlich schien Ganestan seinen Frieden erreicht zu haben. Doch Hilmandir sah weit über die Grenzen seines eigenen Landes hinaus. Für ihn war Gäa in seiner Gesamtheit ein Kontinent, der über alle Maßen schützenswert war. Deshalb beobachtete er mit Verdruss, wie die Barbarenstämme von Isenheim plündernd und brandschatzend durch die Nordlande zogen, wie sich die Orks von Darkenfell trotz des Friedensabkommens mit Ganestan nicht davon abbringen ließen, Sklavenhandel zu betreiben, und wie sich die Dünenmenschen von Vanashyr mit den Pardeln eifersüchtig um das Wüstenland stritten. Doch das, was dem Kaiser wirklich Sorgen bereitete, lag weit im Osten, jenseits des Schattenwehrgebirges im feuerspeienden Land der ursprünglichen Dunkelelfen. An jenem Abend saß der Kaiser am Fenster seines Gemachs und blickte nachdenklich auf das dunkle Binnenmeer hinaus, über dessen spiegelglatter Oberfläche sich bereits der Schleier der Nacht gelegt hatte. Jenseits des friedlichen Gewässers, am anderen Ende von Shalaine, schwärte die unheilbare Wunde des Hasses auf alle jungen Völker. Dort hatte der Weltenkrieg seine Ursprünge gehabt, als die alten Dunkelelfen das Tor in eine Welt voller Dämonen aufgestoßen hatten, deren Herrschaft über Gäa einer fernen, düsteren Vergangenheit angehörte. Eine Wiederholung dieser Katastrophe musste unter allen Umständen vermieden werden, doch was sich auf der anderen Seite des Schattenwehrgebirges abspielte, entzog sich der Kenntnis des Kaisers. Hilmandir wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen, als einer seiner Diener an die Tür klopfte und das Gemach zögerlich betrat. „Eure Majestät, Brigadegeneral Legis lässt Euch ausrichten, dass er eine wichtige Mitteilung für Euch hat“, verkündete er unterwürfig. „Soll ich ihn fortschicken?“ „Lasst gut sein“, erwiderte der Kaiser gutmütig. „Ich habe bereits auf eine Nachricht des Brigadegenerals gewartet. Zieht Euch bitte zurück, ich werde ihn persönlich empfangen.“ „Wie Ihr befehlt, Eure Majestät“, sagte der Diener und verließ das Gemach des Kaisers buckelnd und rückwärtsgehend. Hilmandir erhob sich von seinem Platz am Fenster und ging gebeugt zur Tür zu seinem Thronsaal. Es bereitete ihm große Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. Die Sorge um das Treiben der Dunkelelfen im Osten schien seinen Altersprozess zu beschleunigen und er spürte jedes seiner vielen Jahre deutlich in seinen Knochen. Legis und Hiob erwarteten den Kaiser bereits. Als sie sahen, wie er die Goldene Halle betrat und sich langsam dem Thron näherte, wo er sich schließlich mit einem leisen Stöhnen niederließ, sanken die beiden ehrerbietig auf die Knie. „Ich sehe, Ihr habt meinen Auftrag ausgeführt, Brigadegeneral“, sprach Hilmandir bedächtig und sah dabei Hiob an. „Gut gemacht. Ihr dürft Euch nun entfernen. Alles Weitere werde ich mit unserem Gast persönlich besprechen.“ „Wie Ihr wünscht, mein Kaiser.“ Legis erhob sich und machte mit wehendem Umhang kehrt. Hilmandir und Hiob schwiegen, bis der Brigadegeneral den Thronsaal verlassen hatte. Als er fort war, beugte sich der Kaiser nach vorn. „Letztlich zahlen sich die Jahre des Wartens also aus“, sagte er abwesend und musterte den Dunkelelfen mit seinen blauen Augen. „Ihr habt den Mann gefunden, den wir schon so lange suchen.“ Hiob wich dem Blick des Kaisers aus. „Ihr wisst mit Sicherheit schon, dass er festgenommen wurde, nicht wahr?“, flüsterte er leise. Hilmandir atmete hörbar aus und faltete die Hände. „Ja, ich wurde umgehend darüber informiert“, bestätigte er nachdenklich. „Ist auch jeder Zweifel ausgeschlossen, dass es der Mann ist, den wir suchen?“ Hiob fuhr sich mit dem Zeigefinger über das Gesicht und zeichnete ein unsichtbares Kreuz auf seine Wange. „Ich bin mir absolut sicher. Er hat das richtige Alter und ich habe seine Narbe mit eigenen Augen gesehen.“ Der Kaiser nickte bedächtig. „Dann haben wir ihn also“, murmelte er kaum hörbar. „Wie sollen wir Eurer Meinung nach mit ihm verfahren? Er ist des Mordes angeklagt. Es wäre mir am liebsten, wenn er schnellstmöglich nach Kaboroth überführt wird, wo wir ihn im Auge behalten können. Er ist eine zu große Bedrohung, um ihn frei herumlaufen zu lassen. Auch Noson teilt diese Einschätzung.“ Hiob presste die Lippen aufeinander. Noson war seit dem Weltenkrieg der oberste Berater des Kaisers. Er war ein Dunkelelf und mitverantwortlich für die Friedensverhandlungen zwischen Ganestan und Shalaine. Sein Wort hatte längst großes Gewicht im Kaiserlichen Palast, aber in diesem Fall war Hiob davon überzeugt, dass Noson sich irrte. „Ich möchte Euch und Eurem ehrwürdigen Berater nur ungern widersprechen, mein Kaiser“, sagte der einäugige Dunkelelf betont zurückhaltend. „Aber wir sollten in dieser Angelegenheit nichts überstürzen. Niemand weiß um sein wahres Potential und dafür werden wir auch weiterhin sorgen. Und er ist nicht nur eine Bedrohung, sondern gleichzeitig auch der mächtigste Schild gegen Gäas alte Herren. Aber noch ist er nicht so weit. Ich habe ihn beobachtet. Ich konnte spüren, dass ihn Schuldgefühle und Reue quälen. Er muss erkennen, dass er für diese Welt und seine Bewohner Großes vollbringen kann. Er muss erkennen, dass er eine Verantwortung für ganz Gäa auf seinen Schultern trägt. Und wir müssen ihm eine Chance geben. Er ist nur einer von vielen, die eine Katastrophe heraufbeschwören können, aber vermutlich der Einzige, der eine weitere Weltenverschmelzung aufhalten kann.“ Hilmandirs buschige brauen schoben sich misstrauisch zusammen und er bettete sein Kinn auf die gefalteten Hände. „Was schlagt Ihr also vor, Hiob?“, fragte er skeptisch. Der Dunkelelf holte tief Luft. „Begnadigt ihn!“ Der Blick des Kaisers verfinsterte sich. „Das kann nicht Euer Ernst sein“, erwiderte er grimmig. „Ich kann nicht grundlos einen Mörder freisprechen. Und schon gar nicht einen Dorashen. Wie sollen wir den Angehörigen des Opfers seine Begnadigung erklären? Wenn das bekannt würde, wären Unruhen unvermeidbar. Ich bin froh, dass sich die Situation innerhalb der Grenzen von Ganestan wieder stabilisiert hat. Diesen Frieden möchte ich nicht aufs Spiel setzen. Und selbst wenn die Proteste weniger drastisch ausfallen würden, als ich befürchte, besteht immer noch die Gefahr, dass dieser Mann einem Anhänger des Nachtwandlers oder des Roten Kults in die Hände fällt, solange er sich frei bewegen kann. Das wäre gleichbedeutend mit dem Ende. Das Risiko ist viel zu groß. Es ist sicherer, wenn er im Kerker bleibt. Für ihn und für uns. Für ganz Gäa.“ „Dieser Mann braucht eine Bewährungsprobe“, beharrte Hiob. „Wenn er in einer Zelle versauert, wird er nie seinen eigenen Wert erkennen. Und dann sind wir den Alten schutzlos ausgeliefert, wenn sich wieder ein Tor in die Terramorphen öffnen würde.“ Hilmandir starrte den Dunkelelfen durchdringend an. „Diese Entscheidung könnte über das Schicksal der ganzen Welt entscheiden.“ Nun erwiderte Hiob den Blick des Kaisers. „Ich weiß“, entgegnete er entschlossen. „Aber ich bin davon überzeugt, dass es der richtige Weg ist.“ Hilmandir schloss für einen Moment nachdenklich die Augen. „Dieser Mann braucht also eine Bewährungsprobe“, murmelte er leise. „Also gut, er soll sie bekommen. Vielleicht ist Euch schon zu Ohren gekommen, dass unser Außenposten in Eydar mit einigen Problemen zu kämpfen hat. Dort verschwinden immer wieder Personen in den angrenzenden Sumpfwäldern. Der Dorashen soll mit der Aufgabe betraut werden, dieses Mysterium aufzuklären. Sollte er in Erfahrung bringen, wer oder was hinter den Vermisstenfällen steckt, bin ich dazu bereit, ihn von seiner Schuld freizusprechen. Unter diesen Umständen könnten wir eine Begnadigung angemessen verteidigen. Wenn es ihm aber nicht gelingt, diesen Gemeinschaftsbeitrag zu leisten, werde ich ihn umgehend wieder inhaftieren lassen. Und dann wird er nach Kaboroth überführt. Morgen werde ich unverzüglich ein Schreiben mit diesen Anweisungen nach Eydar entsenden. Ist das so zu Eurer Zufriedenheit, Hiob?“ Der einäugige Dunkelelf nickte hastig und verbeugte sich tief vor dem Kaiser. „Ich kann Euch für Euer Vertrauen nicht genug danken!“, rief er erleichtert. „Schon gut“, erwiderte Hilmandir und sein Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf. „Ihr habt mich noch nie enttäuscht. Dankt mir einfach, indem Ihr mich diese Entscheidung nicht bereuen lasst.“ Hiob neigte den Kopf noch ein wenig weiter. „Bitte, richtet Euch auf“, sagte der Kaiser ruhig. „Sonst endet Ihr eines Tages noch so gebrechlich wie ich.“ Der Dunkelelf stand auf, hielt den Kopf allerdings immer noch gesenkt. Da erschien auf Hilmandirs faltigem Gesicht ein warmherziges Lächeln. „Es tut gut, Euch nach all den Jahren wiederzusehen, alter Freund“, schmunzelte er. Hiob stand auf, hielt den Kopf allerdings noch immer gesenkt. „Die Freude ist ganz meinerseits“, gab er zurück. „Wie es scheint, haben wir beide etwas verloren, seit wir uns zuletzt unterhalten haben“, stellte der Kaiser fest. „Ihr musstet Euch von Eurem Auge trennen und ich mich von meiner Kraft und Energie.“ „Dafür habt Ihr Eure jungen Soldaten, die Euch treu ergeben sind“, erwiderte Hiob, ohne sich wieder aufzurichten. „Eure Weisheit aber ist noch immer unangetastet.“ „Ihr schmeichelt mir, mein Freund“, lächelte der Kaiser und lehnte sich in seinem Thron zurück. „Ob sie nun richtig oder falsch ist, ohne Euch hätte ich diese Entscheidung niemals getroffen. Was werdet Ihr nun tun? Kehrt Ihr nach Notting zurück?“ Der Dunkelelf schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, dort gibt es nichts mehr, was mich zu einer Rückkehr bewegen würde“, antwortete er und sein Gesicht bekam einen seltsam abwesenden Eindruck. „Es ist allmählich an der Zeit, dass ich wieder meinen Posten als Großmeister der Goldenen Falken beziehe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)