Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 14: ------------ Lexa war Craig und Tyra den ganzen Nachmittag über gefolgt, ohne dass sie es bemerkt hatten. Bragi hatte sie darüber informiert, dass die Abenteurerin aus Isenheim Wind von den Vermisstenfällen bekommen hatte und nun entschlossen war, dieses Mysterium im Alleingang aufzuklären. Ihr Kollege hatte Lexa gebeten, sich an Tyras Fersen zu heften und unbemerkt auf sie aufzupassen. Davon, dass die abenteuerlustige Frau in der Gesellschaft eines blonden Jungen unterwegs war, hatte Bragi allerdings nichts erwähnt. Zum Glück blieben Craig und Tyra die ganze Zeit über beieinander, sodass es Lexa deutlich einfacher fiel, beide gleichzeitig im Auge zu behalten. Die Späherin der Goldenen Falken war eine Meisterin darin, sich ungesehen fortzubewegen, und in der Düstermarsch gab es mehr als genug Möglichkeiten, sich vor neugierigen Augen zu verbergen. Sie hatte sich hinter Felsen und Baumstämmen versteckt oder sich im Unterholz verborgen, während sie die beiden Abenteurer beobachtet hatte. Dabei war sie in ständiger Alarmbereitschaft gewesen, denn sie hatte fest damit gerechnet, dass Craig und Tyra die Opfer eines Angriffs oder Überfalls wurden. Doch es war nichts dergleichen geschehen. So blieb es ihr erspart, die beiden verteidigen zu müssen, doch gleichzeitig blieb das Rätsel um die verschwundenen Leute ungelöst. Die Späherin konnte zusehen, wie Tyra von Minute zu Minute immer frustrierter wurde. Nur einmal wurde die junge Abenteurerin misstrauisch, als Lexa auf einen ausgetrockneten Farnwedel trat, der unter ihrem Stiefel knirschend zerbröselte. Es war kein lautes Geräusch, aber Tyra wurde sofort darauf aufmerksam. Wie angewurzelt blieb sie stehen, griff nach ihrem Schwert und lauschte in den Wald hinein. Lexa verfluchte innerlich den Spürsinn der Abenteurerin und hielt den Atem an, bis sich Tyras Verdacht zerstreute. Lexa war den beiden so nah, dass sie ihr Gespräch belauschen konnte. Erleichtert hörte sie, dass sie eine kurze Pause einlegen und dann nach Eydar zurückkehren wollten. Es grenzte schon an Wahnsinn, die Düstermarsch aller Warnungen zum Trotz zu betreten, aber auch noch die Nacht in den Sumpfwäldern verbringen zu wollen, war schlichtweg lebensmüde. Da trat plötzlich der Warg aus dem Unterholz trat und Lexa riss erschrocken die Augen auf. Sie wusste genau, dass die hundeartigen Monster die mit Abstand gefährlichsten Raubtiere in der Düstermarsch waren. Die Späherin verfluchte sich innerlich dafür, dass sie nur auf Craig und Tyra geachtet hatte, ohne sich nach Gefahren umzusehen. Doch die vergangenen Stunden waren derart ereignislos verlaufen, dass Lexa nachlässig geworden war. Sie zögerte, doch als der Warg schließlich zum Sprung ansetzte, verließ sie ihre Deckung, zog ihr Kurzschwert und lief los, um den beiden Abenteurern zu Hilfe zu eilen. Craigs Gesicht wurde aschfahl und plötzlich wurde ihm schmerzlich bewusst, was Hiob und Preman damit gemeint hatten, als sie davon gesprochen hatten, dass ein friedliches und behütetes Leben auch seinen Reiz hatte. Nicht ein einziges Mal war er auf Notting einem wilden Tier begegnet, das ihm ans Leder wollte, abgesehen von ein paar jungen Bluthechten, die versucht hatten, in seine Zehen zu beißen, wenn er seine Füße ins Wasser gehalten hatte, um zu entspannen. Und nun war er noch nicht einmal einen Tag in einem fremden Land und begegnete schon zum dritten Mal einer Bestie, die offenbar Heißhunger auf Menschenfleisch hatte. Die ersten beiden Male hatte er Glück gehabt, aber jetzt war Knack viel zu weit weg, um zu wittern, dass Craig in der Klemme steckte. Vermutlich schlief er weit draußen in der Felsnische bei den Klippen und erholte sich von der anstrengenden Überquerung des Binnenmeers. Tyra schien überhaupt keine Angst zu haben. Sie hielt ihr Schwert fest in der Hand und tastete nach einem der scharfen Messer, die sie in ihrem Schultergurt trug. Es wunderte Craig, dass sie ihren lederbespannten Schild scheinbar nicht nutzen wollte, aber der Anblick ihrer Klinge erinnerte den Waisenjungen daran, dass er auch nicht unbewaffnet war. Er zog sein Schwert aus dem Gürtel und hielt es fest in beiden Händen. Seine Arme zitterten so sehr, dass er bezweifelte, seine Waffe sinnvoll einsetzen zu können. Er musste sich schon sehr konzentrieren, sie nicht aus seinen verschwitzten Fingern rutschen zu lassen. Dann passierte plötzlich so viel gleichzeitig, dass Craig überhaupt nicht mehr wusste, wie ihm geschah. Der Warg duckte sich knurrend zum Sprung und ging mit einem gewaltigen Satz auf Tyra los. Hinter Craig raschelte es und obwohl er vor Angst fast wie gelähmt war, wirbelte er herum und sah, wie eine dunkelhäutige Frau, deren Gesicht im Schatten einer weiten Kapuze lag, mit blankem Schwert aus dem Dickicht brach. Noch bevor er herausfinden konnte, ob die Frau auf ihrer Seite stand oder ein weiterer Feind war, stieß ihn Tyra heftig zur Seite. Das Schwert glitt ihm aus den Händen und flog im hohen Bogen in einen Tümpel. Craig verlor das Gleichgewicht, purzelte eine Böschung hinunter und fiel bäuchlings in das gleiche, stinkende Schlammloch, in dem schon sein Schwert gelandet war. Panisch hob er den Kopf und starrte hinauf zu dem Pfad durch den Sumpf, auf dem sich Tyra dem Warg unerschrocken entgegenstellte. Die Abenteurerin aus Isenheim schien die fremde Frau, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, durchaus zu bemerken, aber sie ignorierte sie einfach und konzentrierte sich auf ihren Gegner. Der Warg sprang zähnefletschend auf sie zu und Tyra reagierte blitzschnell. Mit einem flinken Ausfallschritt entging sie den zuschnappenden Kiefern des Raubtiers und schlug mit seinem Schwert nach dem kurzen, wuchtigen Hals des Untiers. Der Warg jaulte auf, als ihn die Klinge aufschlitzte, und wollte sich unbeholfen um die eigene Achse drehen, um Tyra erneut anzugreifen. Doch die junge Abenteurerin ließ es gar nicht so weit kommen. Sie stieß dem riesigen Wolf das Messer zwischen die Rippen und der ganze Körper des Monsters erzitterte. Heulend vor Wut und Schmerz warf der Warg seinen Kopf herum und riss geifernd sein Maul auf. Tyra zückte reaktionsschnell ein zweites Messer. Ohne Rücksicht auf Verluste rammte sie es der Bestie mitten in den Rachen und bohrte es geradewegs ins Gaumendach. Der Warg konnte nicht einmal mehr zuschnappen. Er erstarrte sofort in seiner Bewegung, ehe seine roten Augen brachen und sein Körper erschlaffte. Das Ungetüm kippte leblos zur Seite und landete im Schlamm. Tyra zog mit einem Ruck ihre beiden Messer aus der Flanke und dem Rachen des Kadavers. Sie wischte ihre Klingen am borstigen Fell des Wargs blank. Dann steckte sie die Waffen zurück in den Lederriemen und seinen Gürtel. Unbeeindruckt klopfte sie sich die behandschuhten Hände ab, drehte sich mit finsterem Gesichtsausdruck zu der fremden Frau um, die wie angewurzelt stehengeblieben war, und musterte sie misstrauisch. „Wer seid Ihr?“, fragte sie barsch. „Das würde mich auch interessieren!“, meldete sich Craig zu Wort und kämpfte sich fluchend aus dem Tümpel. Sein Schwert zog er hinter sich her und die sonst so glänzende Klinge, war über und über mit Schlamm bedeckt. Craig selbst sah nicht viel besser aus und er stank wie eine Kloake. Als er es endlich zurück auf den Pfad geschafft hatte, warf er einen ungläubigen Blick auf den Kadaver des Wargs. Er hatte schon damit gerechnet, das Tyra einiges auf dem Kasten hatte, aber dass sie es mit einer solchen Bestie aufnehmen konnte, hatte er ihr nicht zugetraut. Sie hatte mehr als eindeutig bewiesen, dass sie kämpfen konnte. Die fremde Frau schien ähnlich überrascht zu sein. Sie steckte ihr Kurzschwert zurück in die Scheide und streifte sich ihre Kapuze aus dem Gesicht. Darunter kam pechschwarzes, gescheiteltes Haar zum Vorschein. „Sieht so aus, als hätte mein Versteckspiel ein Ende“, seufzte sie. „Mein Name ist Lexa.“ „Dann habe ich mir das vorhin doch nicht nur eingebildet“, stellte Tyra angesäuert fest. „Seid Ihr uns etwa den ganzen Weg von Eydar aus gefolgt?“ Craig starrte Lexa überrascht an, als diese langsam nickte. Sie musste eine wahre Meisterin darin sein, sich ungesehen fortzubewegen. Er hatte nicht bemerkt, dass sich jemand an ihre Fersen geheftet hatte. „Und was soll das Ganze?“, wollte Tyra misstrauisch wissen. „Haben Euch Bragi und Rhist auf mich angesetzt? Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen!“ Lexa schluckte. Craig erkannte an ihrem Gesichtsausdruck sofort, dass Tyra mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Sie trug nicht die Rüstung der Armee, sondern einen schlichten Lederbrustpanzer, an den eine weite Kapuze aus schwerem Stoff angenäht war. Wenn sie also keine Soldatin war, gehörte sie vermutlich dem Geheimdienst des Kaisers an. „Gehört Ihr etwa auch zu diesen Goldenen Falken?“, fragte Craig verblüfft. „Wir haben dasselbe Ziel“, sagte Lexa, ohne seine oder Tyras Frage zu beantworten. „Aber es ist sinnlos. Ich suche schon nach den Vermissten, seit die erste Person in der Düstermarsch verschwunden ist. Und bislang habe ich nicht einmal den kleinsten Hinweis entdeckt.“ „Dann habt Ihr Euch wohl nicht ausreichend angestrengt“, entgegnete Tyra kühl. „Redet keinen Blödsinn. Ihr seid doch selbst noch keinen einzigen Schritt weitergekommen.“ Tyra knurrte verärgert. Lexa hatte ihren Stolz empfindlich getroffen, indem sie die ernüchternde Wahrheit ausgesprochen hatte. „Ich werde trotzdem nicht aufgeben“, zischte sie trotzig, aber nicht besonders überzeugend. „Wenn Ihr unbedingt helfen wollt, dann verbündet Euch mit den Soldaten. Alleine ist es viel zu gefährlich“, rief Lexa, doch Tyra wollte davon nichts wissen. „Ich will niemandem helfen“, erwiderte sie grimmig. „Ich bin nur auf der Suche nach Herausforderungen.“ Er deutete mit dem Daumen auf den Kadaver des Wargs. „Aber wenn diese zu groß geratenen Wölfe das einzige sind, was dieser Sumpf zu bieten hat, dann bin ich hier wohl doch falsch. Vielleicht sind diese Biester des Rätsels Lösung. Bestimmt haben sie die vermissten Leute angegriffen, getötet und mit Haut und Haaren verschlungen.“ „Glaubt, was Ihr wollt“, sagte Lexa und wandte sich ab. „Auf alle Fälle solltet Ihr besser nach Eydar zurückkehren, bevor die Nacht hereinbricht. Im Dunkeln findet Ihr nie und nimmer den Weg aus den Wäldern.“ Tyra verschränkte verstimmt die Arme vor der Brust. Mit einem Blick auf ihre Feldflasche, deren Inhalt sich dem Ende neigte, schien sie mit einem resignierten Seufzen doch zu dem Entschluss zu kommen, Lexas Ratschlag zu befolgen. Craig war das nur recht. So ungern er es auch zugab, die Sumpfwälder waren ihm unheimlich. Und seine Bewohner schienen nicht besonders freundlich zu sein. Er warf einen kurzen Blick auf den Kadaver des Wargs. Der Geruch des Todes hatte inzwischen weitere Bewohner der Sumpfhöhen angelockt. Die ersten Raben hüpften auf dem leblosen Körper des Ungetüms herum und pickten mit ihren scharfen Schnäbeln kleine Fleischhäppchen von den Knochen. „Das war wirklich fantastisch!“, rief er beeindruckt. „Kinderspiel“, erwiderte Tyra achselzuckend, als hätte sie nichts Besonderes geleistet. „Das Vieh war vielleicht groß und fett, aber die Eiswölfe, mit denen wir es in Isenheim ständig zu tun haben, sind wesentlich zäher.“ Die junge Abenteurerin imponierte Craig immer mehr. Vor allem bewunderte er, wie geschickt sie ihr Schwert geschwungen hatte. Ihre Waffe war bestimmt nicht viel leichter, als seine eigene Klinge, doch sie hatte sie locker in einer Hand gehalten, während Craig sich selbst mit beiden Händen noch abmühen musste, um einen vernünftigen Schwertstreich ausführen zu können. Dabei wirkte Tyra mit ihrem schlanken Körper und den drahtigen Gliedmaßen nicht einmal besonders kräftig. Das Dickicht ringsum fing an zu rascheln. Farnwedel und Zweige knickten unter den Bewegungen zahlreicher Riesenratten, die das Blut des toten Wargs gewittert hatten. Ihre roten Augen leuchteten deutlich in den Schatten der Büsche und Sträucher. Die ersten Biester wagten sich aus ihrer Deckung und näherten sich vorsichtig dem Kadaver, wobei sie gehässig in Craigs und Tyras Richtung zischten. Der Waisenjunge verzog beim Anblick der räudigen Aasfresser angewidert das Gesicht. „Lass uns von hier verschwinden“, schlug Tyra grimmig vor. „Bevor uns diese ekligen Mistviecher noch zu nahe kommen. Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Krankheiten die mit sich rumschleppen.“ „Ausgezeichnete Idee“, stimmte Craig erleichtert zu und heftete sich eiligst an Lexas Fersen, die bereits zwischen den Farnwedeln verschwunden war. Zusammen mit Tyra holte er die Späherin der Goldenen Falken rasch ein, obwohl sie keine sichtbaren Anstalten machte, auf die beiden Abenteurer zu warten. Kaum war Lexa vor ihren Augen wieder aufgetaucht, da drosselte Tyra auch schon wieder ihr Tempo und Craig passte sich ihrer Geschwindigkeit an. Während des gesamten Rückwegs nach Eydar blieben die beiden auf Abstand, aber stets in Sichtweite. Lexa drehte sich ihrerseits nicht einmal zu ihren unfreiwilligen Begleitern um. Keiner sprach ein Wort. Schweigend und zielgerichtet suchten sie sich ihren Weg durch die Sümpfe. Nur ab und zu stieß Tyra einen gedämpften Fluch aus, wenn sie in ein Schlammloch trat oder mit dem Stiefel in einer Dornenranke hängenblieb. Jedes Mal riss sie sich wütend los und hackte mit ihrem Schwert auf Schlingpflanzen und Sträucher ein, die ihr den Weg versperrten. Das leise Schmatzen ihrer Schritte im Schlamm begleitete sie eine ganze Weile, bis die Nacht hereinbrach. Dann stimmten die Zikaden im Unterholz ein ohrenbetäubendes Konzert an, das alle anderen Geräusche der Sumpfwälder überdeckte. Es wurde dunkler und kühler unter den Baumkronen, doch die Luft war noch immer schwer von Feuchtigkeit. Craig war schwindelig und bei jedem Schritt zitterten seine Beine. Sein Kopf schien zu explodieren und das schrille Zirpen und Surren der Insekten, das ihm in den Ohren klang, besserte seinen elenden Zustand nicht im Geringsten. Jeder Muskel tat ihm weh und der Schweiß fühlte sich für ihn inzwischen an wie eine zweite Haut. Endlich, nach einer Zeit, die Craig schier endlos vorkam, erreichten sie zu dritt den Waldrand. Der Waisenjunge mobilisierte seine letzten Kräfte und kämpfte sich japsend an Tyra und Lexa vorbei. Als er zwischen den Bäumen hervortrat, umfing ihn die Nacht mit angenehmer Kühle und dem silbernen Licht der drei Monde, die bereits hoch am dunklen Himmel standen. Er entdeckte das Stadttor, seufzte erleichtert und füllte seine Lungen mit einem tiefen Atemzug gierig mit frischer Luft, die nicht so dick und drückend war, dass er das Gefühl hatte, von ihr erstickt zu werden. Sofort ging es ihm wieder ein bisschen besser und die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen, aber die Schwäche steckte ihm noch immer in den Gliedern. Tyra fluchte leise und durchtrennte mit ihrem Schwert eine Liane, die sich auf Bauchhöhe von einem Baum zum anderen quer über den Weg spannte. Ihre Beine waren bis zu den Knien mit Schlamm bedeckt und sie sah abgekämpft aus, aber lange nicht so erschöpft wie Craig. Der Waisenjunge konnte kaum noch aufrecht gehen. Am Tor hielten noch immer die gleichen Soldaten Wache, denen sie bereits begegnet waren, als sie Eydar gegen Mittag verlassen hatten. Als sie die beiden Wanderer und Lexa in ihrer Begleitung erkannten, kam sofort Bewegung in sie. Craig konnte hören, wie sie sich aufgeregt unterhielten. Dann ließen sie das Tor öffnen und die eisenbeschlagenen Flügel schwangen unter lautem Knarzen auf. "Habt Ihr heute wieder Heilkäuter gefunden, Lexa?", fragte einer der Soldaten. Craig, der sich dankbar auf die Stadtmauer zuschleppte, wunderte sich, dass er offenbar nicht wusste, dass die Frau zum Orden der Goldenen Falken gehörte. "Diesmal nicht“, antwortete die Späherin und deutete mit dem Daumen hinter sich. "Dafür bin ich auf diese beiden wagemutigen Abenteurer gestoßen." Tyra durchquerte das Tor mit beschwingten Schritten. „Und ich habe kein Glück gebraucht!“, zischte sie den Soldaten triumphierend zu und klopfte im Vorbeigehen vielsagend auf den Knauf ihres Schwertes. Einer der Wachmänner murmelte etwas Unverständliches und kaum hatten Craig, Tyra und Lexa die Hafenstadt betreten, da schlossen er und sein Kollege das Tor wieder. „Ich glaube, ich habe mir den ein oder anderen Krug Met verdient“, rief die Abenteurerin aus Isenheim und stieß Craig an. Sie lächelte zwar nicht, aber für einen Moment sah ihr Gesicht nicht grimmig aus. „Willst du dir nicht auch einen Schluck genehmigen?“ „Ich hab kein Geld“, erwiderte Craig stöhnend vor Erschöpfung. „Außerdem bin ich hundemüde.“ „Tja, dein Pech“, gab Tyra ungerührt zurück und drehte sich dorthin, wo sie Lexa vermutete. „Richtet Bragi und Rhist einen schönen Gruß von mir aus“, rief sie spottend, doch die Späherin der Goldenen Falken war spurlos verschwunden. So plötzlich sie in der Düstermarsch aufgetaucht war, so schnell hatte sie sich nun in Luft aufgelöst. „Seltsames Weib“, brummte Tyra und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann winkte sie Craig zum Abschied zu. „Vielleicht trifft man sich ja irgendwann doch noch bei einem Krug Met!“ Der Waisenjunge war zu müde, um zu antworten. Er hob nur wortlos und die Hand und trottete dann davon, um sich einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Lexas Ziel war das Hauptgebäude des Außenpostens der Goldenen Falken. Meister Syndus erwartete sie bereits in seinem Amtszimmer. Adria und Aulus waren bei ihm und auch Bragi war anwesend. Syndus hatte sämtliche in Eydar stationierten Mitglieder der Goldenen Falken versammelt. „Sie leben“, verkündete Lexa erschöpft, als sie die Kammer betrat und die erwartungsvoll angespannten Gesichter sah. Sie ließ sich müde in einen Stuhl fallen, streifte sich ihren Gürtel samt Schwert ab und hängte ihn über die Lehne. „Die beiden sind sicher nach Eydar zurückgekehrt.“ „Die beiden?“, wiederholte Bragi verblüfft. „Hatte Tyra etwa Gesellschaft?“ „Sie war in Begleitung eines blonden Jungen mit einem Gesicht voller Narben“, erklärte Lexa und strich sich mit einem Finger über die Wangen und den Nasenrücken. „Das ist der Junge aus dem Gasthaus…“, murmelte Bragi nachdenklich. „Doch nicht etwa dieser freche Kerl, der mir im Hafen so impertinent Widerworte geleistet hat?“, entrüstete sich Aulus. Syndus beschwichtigte den aufgebrachten Novizen mit einer Handbewegung und wandte sich wieder Bragi zu. „Würdet Ihr mich bitte aufklären?“, forderte er ungeduldig. „Aber selbstverständlich!“, rief der Glatzkopf hastig. „Der Junge war ein Gefährte des Mannes, den Feldwebel Praharin auf Hinweis unseres neuen Novizen festgenommen hat.“ Er deutete auf Aulus, der das Gespräch aufmerksam verfolgte und sich dabei gedankenverloren über das stoppelbärtige Kinn strich. „Nach der Verhaftung seines Freundes habe ich mich ein wenig mit ihm unterhalten, aber er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass er vorhat, die Düstermarsch zu erforschen.“ „An einem Tag kommen drei Fremde nach Eydar und alle machen sie Ärger“, murmelte Syndus leise. „Was diesen Abstecher in die Düstermarsch angeht, ist ja nochmal alles gutgegangen“, warf Lexa beruhigend ein. „Beide sind unversehrt, der Junge ist nur ein wenig erschöpft. Ich glaube, so schnell wird er keinen weiteren Ausflug mehr vor die Tore der Stadt unternehmen.“ „Euer Wort in Solas Ohr“, seufzte Syndus. „Das würde mir einige Sorgenfalten ersparen.“ „So ein Glück!“, rief Bragi erleichtert. „Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, dass Tyra meinetwegen in den Tod rennt. Ich wollte sie lediglich auf die Gefahren der Düstermarsch aufmerksam machen. Wenn ich geahnt hätte, dass sie meine Warnung als Anlass nimmt, in die Sümpfe aufzubrechen, hätte ich ihr nie etwas von den Vermissten erzählt.“ „Nun, was Tyra betrifft, bin ich mir alles andere als sicher, dass wir unsere Sorgen los sind“, gab Lexa zu Bedenken. „Sie hat mir gegenüber bereits angekündigt, auch in Zukunft Streifzüge in die Düstermarsch zu unternehmen.“ Syndus runzelte argwöhnisch die Stirn. „Euch gegenüber?“, fragte er skeptisch. „Habt Ihr Euch den beiden etwa zu erkennen gegeben?“ „Es ließ sich nicht vermeiden“, erklärte Lexa sichtlich zerknirscht. „Sie wurden von einem Warg angefallen und ich wollte sie retten. Tyra ist mit der Bestie zwar alleine zurechtgekommen, aber ich habe meine Deckung verlassen. Sie haben mich natürlich entdeckt und sofort erkannt, dass ich den Goldenen Falken angehöre. Es hat Tyra gar nicht geschmeckt, dass Ihr mich auf sie angesetzt habt, Bragi.“ „Das habe ich erwartet“, brummte der Glatzkopf. „Dann wissen die beiden also, dass Ihr für uns arbeitet“, fasste Syndus zusammen. „Das ist nicht gut, aber es ändert nichts an unserer Situation. Ihr sagtet, sie wurden von einem Warg angegriffen. Könnten diese Bestien vielleicht doch der Grund für das Verschwinden der Leute sein?“ „Das denke ich nicht“, erwiderte Lexa und schüttelte den Kopf. „Falls das der Fall wäre, hätten wir es längst bemerkt. Der Angriff eines Wargs hinterlässt deutliche Spuren. Was immer für das Verschwinden der Leute verantwortlich ist, es verwischt seine Fährten so gut, dass selbst ich noch keine Hinweise entdecken konnte. Ein wildes Tier tut so etwas nicht. Dahinter steckt etwas, das mit Intelligenz und Kalkül vorgeht.“ „Räuber?“, fragte Adria und rollte einen Federkiel zwischen ihren Fingern hin und her. „Allmählich halte ich diese Möglichkeit für wahrscheinlich“, antwortete Lexa und verzog verzweifelt das Gesicht. „Irgendwo in der Düstermarsch müssen sie sich verstecken. Aber dieses Gebiet ist so groß und unübersichtlich, dass es Wochen dauern könnte, bis wir ihren Unterschlupf aufgestöbert haben.“ In der Kammer von Meister Syndus wurde es bedrückend still. Lexa rieb sich ihre Fußknöchel, die von ihrem Streifzug in die Düstermarsch in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Aulus saß stumm auf seinem Platz, hatte die stoppelbärtige Wange auf seine Hand gestützt und musterte die Späherin mit neugierigen Blicken. Bragi hielt sich den kahlgeschorenen Kopf und schien sich das Hirn zu zermartern. Adria kaute nervös auf ihrem Daumennagel herum und blickte hilfesuchend zu Syndus. Ihr Meister faltete nachdenklich die Hände und beugte sich in seinem Stuhl nach vorn. „Habt Ihr einen Vorschlag, wie wir mit unserer jungen Abenteurerin verfahren sollen, Lexa?“, fragte er schließlich. „Sie wird nicht aufgeben und es wieder versuchen, da bin ich mir sicher“, antwortete die Späherin. „Ich kann versuchen, sie weiterhin zu beschatten, aber nachdem ich mich ihr heute zu Erkennen gegeben habe, glaube ich, dass sie zukünftig noch misstrauischer und aufmerksamer sein wird, als sie es ohnehin schon war. Und dass sie sich von mir beschützen lässt, halte ich für ausgeschlossen.“ „Ich verstehe“, murmelte Syndus. „Vielleicht müssen wir tatsächlich zu drastischeren Maßnahmen greifen. Wir könnten die Tore der Stadt verschließen.“ „Ihr wollt eine Ausgangssperre verhängen?“, meldete sich Aulus verwundert zu Wort. „Ist das Euer Ernst?“ „Warum nicht?“ fragte Syndus und sah den Novizen so lange an, bis dieser verlegen die Augen niederschlug. „Wenn das der einzige Weg ist, um die Bewohner von Eydar zu schützen, sollten wir ihn möglicherweise beschreiten.“ „Ich bezweifle, dass uns das weiterhilft“, warf Lexa ein. „Es gibt zu viele Möglichkeiten, Eydar auf anderem Wege zu verlassen. Allein den Seeweg können wir unmöglich abschotten. Wenn jemand die aus der Stadt die Düstermarsch unbemerkt betreten will, dann wird es ihm auch gelingen.“ Syndus stieß ein langgezogenes Seufzen aus. „Wir sind also weiterhin machtlos und können nur auf die Vernunft der Leute hoffen, sich von den Wäldern fernzuhalten“, stellte er ernüchtert fest. „Vielleicht ist es doch gar nicht so schlecht, wenn reisende Abenteurer auf unser Problem aufmerksam werden“, rief Aulus. „Wenn sie sich auf die Suche nach Hinweisen begeben, könnte das sehr hilfreich für uns sein. Warum lassen wir nicht einfach jeden in die Sümpfe gehen, der dieses Rätsel lösen will? Die Soldaten von Brigadegeneral Loronk gehen auf ihren Patrouillen doch viel zu laut vor. Die verjagen mit ihrem stümperhaften Auftreten jeden Räuber im Umkreis von drei Meilen. Aber diese Abenteurer kommen uns wie gerufen! Sie sind freiwillige und vor allem kostenlose Helfer und gehen noch dazu viel effizienter vor, als gewöhnliche Soldaten. Sie sind alleine und unauffällig und wenn alle von ihnen so begierig darauf sind, nach den Vermissten zu suchen, wie diese Tyra, dann werden sie die Düstermarsch in kürzester Zeit einmal vollständig umgekrempelt haben. Früher oder später werden sich schon Ergebnisse einstellen.“ „Aber bis dahin verschwinden noch mehr Leute in der Düstermarsch“, murmelte Syndus finster. „Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da vorschlagt, Aulus? Ihr wollt Dutzende fahrlässig in den Tod schicken! Das kann nicht die Lösung sein. Wenn selbst Lexa keine Hinweise findet, dann werden irgendwelche dahergelaufenen Abenteurer mit Sicherheit auch scheitern.“ „Aber diese Abenteurer wollen es doch nicht anders!“, beharrte der Novize. „Sie sind doch ganz scharf darauf, den Löffel abzugeben. Warum sollen wir ihnen ihren Willen verbieten, wenn wir doch von ihnen profitieren könnten?“ Syndus sah seinen Schützling streng an. „Weil es unsere Aufgabe ist, die Bevölkerung zu beschützen“, wies er Aulus zurecht. „Und dazu gehören auch Abenteurer, so wagemutig sie auch sein mögen. Wir dürfen nicht von unseren Pflichten abweichen, auch wenn es dadurch schwerer wird, den Vermissten auf die Spur zu kommen.“ „Wir Ihr meint, Meister“, murmelte der Novize unterwürfig und deutete eine Verbeugung an. „Verzeiht mir meine Ehrlichkeit, aber ich muss Euch widersprechen, Meister“, rief Bragi verbittert. „Wir sind nicht für die Sicherheit jedes dahergelaufenen Heißsporns zuständig. Eure Aufgabe als Befehlshaber dieses Außenpostens ist es, Eydars Zivilisten zu schützen. Und Ihr werdet ihr gerecht. Die Bevölkerung der Stadt ist sicher. Die Angst vor der Düstermarsch ist viel zu groß, keiner der Einwohner wagt sich freiwillig vor die Tore der Stadt. Von ihnen wird niemand verschwinden. Alles andere liegt nicht in Eurer Verantwortung. Es steht ohnehin nicht in unserer Macht, jeden Reisenden aufzuhalten, der die Düstermarsch durchqueren will. Also bleibt uns wohl oder übel nichts anderes übrig, als auf diese Abenteurer zu vertrauen. Alles, was wir noch tun können, ist jeden ausdrücklich vor den unbekannten Gefahren zu warnen, die in diesem Gebiet lauern. Sollte das nicht abschreckend genug sein, liegt es nicht länger in unserer Verantwortung, wenn weiterhin abenteuerlustige Hitzköpfe blindlings in ihr Verderben rennen.“ Syndus war anzusehen, dass ihn Bragis ehrliche Worte hart trafen. Der Meister des Außenpostens wusste genau, dass der glatzköpfige Agent die Wahrheit sagte, aber er hoffte noch immer, dass er dem rätselhaften Verschwinden der Leute endlich beikommen konnte, ohne weitere Verluste in Kauf nehmen zu müssen. Er stützte seine Stirn auf die gefalteten Hände und kniff die Augen zusammen. „Die Bevölkerung ist sicher…“, wiederholte er Bragis Worte gedehnt. „Sicher und gefangen in einem Käfig aus Angst. Das ist doch kein angenehmes Leben.“ „Gewiss nicht“, erwiderte das kahlköpfige Ordensmitglied. „Aber immerhin ist es ein Leben. Auch wenn es letztlich die Angst ist, die Eydars Bewohner schützt. Solange wir nicht genau wissen, wer oder was dort draußen sein Unwesen treibt, sollten wir uns glücklich schätzen, dass es keiner der Bewohner wagt, die Stadt zu verlassen. Belasst es vorerst dabei.“ Syndus vergrub das Gesicht in den Händen. Bragi und die anderen Mitglieder der Goldenen Falken sahen ihn mitleidig und zugleich erwartungsvoll an. Nur Aulus konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Er schien sehr zufrieden damit zu sein, dass Bragi seinen Vorschlag verteidigt hatte, nachdem Syndus ihn zunächst so vehement abgeschmettert hatte. Als der alte Befehlshaber schließlich seinen Kopf hob, wirkten die Falten in seinem Gesicht mit einem Mal deutlich tiefer und seine ergrauten Haare noch eine Nuance weißer. Seine Augen waren glasig und lagen unter schweren Lidern. „Lexa“, sagte er mit rauer Stimme. „Ihr behaltet die Abenteurerin aus Isenheim weiterhin im Auge. Folgt ihr wieder in die Düstermarsch, sollte sie erneut aufbrechen. Versucht, Euch so unauffällig wie möglich zu verhalten. Und bitte passt auf Euch auf!“ „Mir wird nichts geschehen“, versicherte Lexa. „Ich gebe mein Bestes.“ „Sehr gut“, fuhr Syndus müde fort. „Ansonsten halten wir uns an Bragis Vorschlag. Jeder Reisende, der nach Eydar kommt, wird von uns oder den Soldaten eindringlich davor gewarnt, die Düstermarsch zu durchqueren.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)