Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 13: ------------ Seit die Soldaten Vance abgeführt hatten, saß Craig schweigend an seinem Tisch im Gasthaus Nebelbank und starrte gedankenverloren auf den leeren Bierkrug, den der Dorashen zurückgelassen hatte. Er drehte und wendete das Hackebeil in seinen Händen und fragte sich, ob er es seinem Besitzer je wieder zurückgeben konnte. Vermutlich nicht. Wenn Vance tatsächlich als Mörder verurteilt wurde, dann hatte er keine Gnade zu erwarten. Selbst wenn man ihn nicht hinrichtete, würde er viele Jahre in einem dunklen Kerker verschimmeln. Das konnte unmöglich die richtige Form von Wiedergutmachung sein. Craig wusste genau, dass Mord ein furchtbares Verbrechen war. Er selbst hatte am eigenen Leib erfahren, welches Leid er über Angehörige brachte. Und trotzdem war er davon überzeugt, dass Vance nicht mit einem kaltblütigen Mörder und Verbrecher wie Varim zu vergleichen war. Der Piratenkapitän, der für die Zerstörung seines Heimatdorfs verantwortlich war, wurde bestimmt nicht von einem schlechten Gewissen gequält, obwohl er bestimmt schon oft getötet hatte. Dagegen hatte sich Vances Bericht so angehört, als habe er den Mann im Affekt erschlagen, und dennoch wurde er von seinem eigenen Schuldbewusstsein förmlich aufgefressen. Eigentlich hatte er durch die Vorwürfe, die er sich ständig selbst gemacht hatte, schon genug Buße geleistet. Aber Craig wusste, dass die Angehörigen des Mannes, der durch Vances Hand gestorben war, das ganz gewiss anders sahen. Bestimmt wollten sie ihn unter dem Henkersbeil sehen. Der Waisenjunge konnte dieses Gefühl gut nachvollziehen. Schon oft hatte er sich ausgemalt, wie er Varim eines Tages zur Rechenschaft ziehen und sich an ihm für alles Rächen würde, was er seiner Heimatinsel und seiner Familie angetan hatte. „Alles in Ordnung bei dir, Junge?“ Craig hob missmutig den Kopf und sah zum Nebentisch. Der glatzköpfige Mann, der Bragi hieß, lehnte sich zu ihm herüber und blickte ihn sorgenvoll an. Offenbar tat Craig ihm leid, wie er da so einsam und verlassen saß. „Komm, setz dich doch zu uns“, schlug Bragi lächelnd vor. Eigentlich war Craig überhaupt nicht nach Gesellschaft zumute, schon gar nicht der Gesellschaft von Soldaten, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatten, jeden, mit dem er Umgang pflegte, auf der Stelle zu verhaften. Aber Bragi wirkte so freundlich und Craig kam sich allmählich dämlich dabei vor, allein an einem Tisch zu sitzen und einen leeren Bierkrug anzustarren, dass er sein Angebot schließlich annahm. Etwas zögerlich setzte er sich neben den glatzköpfigen Mann und warf Rhist dabei einen finsteren Blick zu. Zufrieden stellte er fest, dass das Wirkung zeigte. Das breite Grinsen auf Rhists bärtigem Gesicht verschwand augenblicklich und der stämmige Soldat senkte betreten den Kopf. „Du darfst es den Soldaten nicht übelnehmen“, seufzte Bragi und legte Craig beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir wirklich leid, dass sie deinen Freund festnehmen mussten.“ „Wir machen doch nur unsere Arbeit“, fügte Rhist kleinlaut hinzu. „Schon gut“, brummte Craig verstimmt. „Ich kannte ihn ohnehin kaum. Ich glaube nicht, dass ich ihn als meinen Freund bezeichnen würde.“ „Ihr seid zusammen nach Eydar gekommen, nicht wahr?“ Bragis Augen funkelten listig. Er wirkte mit seinem runden Gesicht so unscheinbar, aber Craig spürte instinktiv, dass unter der Glatze ein messerscharfer Verstand steckte. Mit dem gleichen Blick hatte ihn Hiob manchmal gemustert und Craig war es jedes Mal vorgekommen, als würde ihm der Dunkelelf direkt in die Seele sehen. „Ihr kriegt offenbar eine ganze Menge mit“, entgegnete der Waisenjunge und war darum bemüht, höflich zu bleiben. In dieser Stadt schien man sich ganz schnell Ärger einfangen zu können. Bragi blähte stolz den Brustkorb und grinste breit. „Das will ich meinen!“, tönte er und klang auf einmal wie Rhist. „Schließlich bin ich ein Mitglied der Goldenen Falken! Wir haben unsere Augen und Ohren überall!“ „Wie dieser aufgeblasene Aulus…“, murmelte Craig leise. Für die Mitgliedschaft in diesem Orden musste man wohl ein besonders übersteigertes Selbstwertgefühl haben. Bragi schienen seine Worte nicht im Geringsten zu stören und falls doch, tat er so, als hätte er sie nicht gehört. „Ich würde dich gerne auf ein Bier einladen“, verkündete er lächelnd. Normalerweise nahm Craig so ein Angebot dankend an, aber im Augenblick war ihm der Durst vergangen. Deshalb schüttelte er den Kopf. „Danke, kein Bedarf“, sagte er bedrückt. „Wie wäre es stattdessen mit einer kleinen Mahlzeit?“, fragte Bragi und zwinkerte ihm aufmunternd zu. „Sieh es als kleine Wiedergutmachung für die Festnahme deines Gefährten.“ Craig wollte auch dieses Angebot ausschlagen, doch dann bemerkte er, dass ihm der Magen in den Kniekehlen hing. Seit er nach Eydar gekommen war, hatte er noch nicht einen Bissen gegessen. „Das wäre vielleicht wirklich nicht schlecht“, murmelte er verlegen und wie auf Kommando knurrte sein Magen. Bragi grinste breit. „Rhist, wärst du so gut und würdest unserem Freund hier etwas zu essen besorgen?“, fragte er seinen bärtigen Kameraden. Dieser verzog unwillig das Gesicht, doch Bragi blitzte ihn auffordernd an. Rhist seufzte resigniert und erhob sich. „Meinetwegen“, brummte er und trottete mit stapfenden Schritten davon. Als er an ihm Vorbeiging, erhaschte Craig einen deutlichen Blick auf das Schwert, das er am Gürtel trug. Die Klinge musste deutlich schwerer sein, als Craigs eigene Waffe, und sie war in einem guten Zustand. Offensichtlich kümmerte sich Rhist gut um sein Schwert. An ein paar ausgewetzten Scharten erkannte Craig, dass die breite Klinge schon das ein oder andere Mal im Einsatz gewesen war, und trotzdem glänzte der Stahl noch immer, als sei er gerade erst gehärtet und veredelt worden. „Ist es normal, dass ein Kommandant der Armee den Tag in einem Gasthaus verbringt und Met trinkt?“, fragte der Waisenjunge misstrauisch und deutete auf Rhists leeren Krug. Bragi lehnte sich zurück. Auch er war mit einem Stahlschwert bewaffnet, das jedoch deutlich schmaler und kürzer war. Kunstvolle Verzierungen schmückten den Griff und den Knauf und im Gegensatz zu Rhist schien Bragi noch nicht oft von seiner Waffe gebraucht gemacht zu haben. „Eigentlich ist Rhist ein vielbeschäftigter Mann“, erklärte er nachdenklich. „Jedenfalls war er das früher. Aber der Wind in Eydar hat sich gedreht. Sein Trupp wurde von einem neuen Befehlshaber aus den Generalsrängen übernommen. Seitdem hat Rhist nicht mehr viel zu sagen.“ „Ein General ist hier?“, wiederholte Craig verblüfft. Der Vorposten in Eydar wirkte zwar relativ groß, aber er hatte nicht erwartet, dass die Armee derart hochrangige Mitglieder an diesen entlegenen Ort schicken würde. Er stellte sich vor, wie so ein General wohl war. Bestimmt war es ein harter, aber gerechter Mann in schillernder Rüstung, ein Mann, der schon alle Ecken der Welt gesehen und viele Schlachten geschlagen hatte. Bragi schien seine Gedanken zu erraten. „Das klingt für dich vermutlich, als wäre ein Held in Eydar“, lachte er, aber seine Stimme klang rau und gequält, als hätte er gar keinen Grund, sich zu freuen. „Aber die Realität sieht anders aus. Ich hoffe, du musst den Brigadegeneral niemals persönlich kennenlernen. Das ist nämlich eine Erfahrung, auf die ich selbst gerne verzichtet hätte.“ Bragis Gesicht verfinsterte sich und Craig musste unwillkürlich schlucken. Das klang, als sei dieser General ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse. Rhist kam zurück. Unter seinem Bart war sein Gesicht rot und er sah aus, als würde er sich gewaltig über etwas ärgern. In der einen Hand hielt er eine Holzschüssel, die mit einem noch dampfenden Gemüseeintopf gefüllt war, in der anderen einen neuen Krug Met. „Dieser Halsabschneider“, knurrte er wütend. „Ein Goldstück hat er mir dafür abgeknöpft! Der Fraß ist noch nicht mal drei Kupferlinge wert!“ Lieblos stellte er die Schüssel vor Craig ab. Etwas von dem Inhalt schwappte über den Rand und hinterließ braune Klekse auf dem Tisch. „Lass es dir schmecken“, lächelte Bragi und ignorierte den Ärger seines Kameraden. Rhist setzte sich neben ihn und ließ sein gerötetes Gesicht hinter dem Metkrug verschwinden. Craig tauchte den Holzlöffel in den Eintopf und probierte. Er war ziemlich heiß, schmeckte aber ganz passabel. Und vor allem sättigte er enorm. Schon nach wenigen Löffeln hatte Craig seinen Hunger gestillt. Sein Bauch rumorte nicht mehr länger, aber es gab noch eine Sache, die ihm quer im Magen lag. „Sagt mal…“, fing er zögerlich an. „Welche Strafe wird Vance…also der Mann von vorhin…welche Strafe erwartet ihn?“ „Das kommt ganz darauf an“, antwortete Bragi und grinste noch immer. „Was hat er denn angestellt?“ „Er hat jemanden umgebracht.“ Sofort war Bragis Lächeln wie weggewischt. Er tauschte nervöse Blicke mit Rhist und atmete dann tief durch. „Nun, natürlich müssen die genauen Umstände noch geklärt werden…“, murmelte er und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Aber ich an deiner Stelle würde mich darauf einstellen, ihn nie wiederzusehen. Es sei denn, du besuchst ihn im Kerker. Tut mir wirklich leid, Junge.“ Craig ließ den Löffel in die halbleere Schüssel fallen. „Das dachte ich mur schon“, flüsterte er leise. Damit hatte sich seine Hoffnung, an der Seite eines Dorashen durch die Lande zu reisen, endgültig erledigt. Er schob Rhist lustlos die Schüssel mit dem restlichen Eintopf zu und der Kommandant langte beherzt zu. Der Waisenjunge spürte, wie Bragi ihn forschend ansah und wieder versuchte, seine Gedanken zu erraten. Diesmal lächelte er nicht. „Warum habt Ihr mir eigentlich eine Mahlzeit spendiert?“, fragte Craig vorsichtig. Rhist blickte von der Schüssel auf. In seinem struppigen Bart klebten ein paar Kartoffelstückchen und eine Karottenscheibe. „Du meinst wohl, warum hat er es auf mich abgewälzt, dir eine Mahlzeit zu spendieren!“, korrigierte er mit vollem Mund und machte sich wieder über den Eintopf her. „Das wüsste ich nämlich auch gerne!“ Bragi sah Craig fest in die Augen. Der Waisenjunge fühlte sich dabei überhaupt nicht unwohl, sondern auf eine seltsame Art und Weise sicher und geborgen. Trotzdem konnte er Bragis Blick nicht lange standhalten und senkte verlegen den Kopf. „Du sahst so verloren aus“, erklärte Bragi mit ruhiger Stimme. Craig kam der Gedanke, dass der Glatzkopf bestimmt ein guter Geschichtenerzähler war. „Und ich wollte dir zeigen, dass wir, die Diener des Kaisers, nicht böse und ungerecht sind. Es ist unsere Aufgabe, den Frieden zu bewahren und für Recht und Ordnung zu sorgen. Vieles, was wir tun, mag hart und unfair erscheinen, doch alles hat seine Berechtigung. Ich möchte, dass du das weißt, auch wenn wir dir deinen Freund genommen haben.“ „Nicht zum ersten Mal“, erwiderte Craig und spürte, wie ihm etwas die Kehle zuschnürte. „Ich danke Euch für den Eintopf, aber ich glaube, ich muss mir jetzt ein wenig die Beine vertreten. Auf Wiedersehen.“ Der Waisenjunge stand auf und neigte den Kopf vor Bragi, der ihn noch immer nachdenklich ansah. Von der Seite ertönte Rhists gieriges Schmatzen. „Pass auf dich auf“, sagte der Glatzkopf zum Abschied. Craig hielt das zunächst nur für eine Floskel, doch während er sich umdrehte und die Treppe hinunterstieg, wurde er das Gefühl nicht los, dass sich Bragi tatsächlich um die einfachen Bewohner von Eydar sorgte. Eine Weile schlenderte er ziellos durch die Stadt. Er überlegte sich, ob er im Kerker vorbeischauen sollte, aber er entschied sich dagegen. Stattdessen ging er zum Hafen. Er hatte die leise Hoffnung, Gilroy zu treffen und sich ein wenig mit dem eigenbrötlerischen Dunkelelfen unterhalten zu können, aber der Strand, an dem er am Vormittag noch seine Netze geflickt hatte, lag verlassen da. Vermutlich war er in seinem Boot hinaus aufs Meer gefahren, um zu fischen. Also setzte sich Craig auf die Kaimauer und ließ die Beine baumeln. Er blickte aufs Meer hinaus, zählte die Schiffsmasten, die im Hafenbecken aufragten und beobachtete ein paar Fische, die sich nahe der Anlegestelle herumtrieben, bis er auch das satt hatte. Weil er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte, machte er sich auf den Rückweg zu Aglirs Gasthaus. Davor traf er zu seiner Überraschung Tyra. „Ach, der Knirps!“, rief sie, als sie ihn bemerkte. „Na, rennen wir diesmal keine fremden Leute über den Haufen?“ So wie sie das sagte, klang es wie ein Witz, aber sie lachte nicht. Sie grinste noch nicht einmal. „Jemand hat mir gesagt, dass es hilft, wenn man die Augen aufmacht“, erwiderte Craig in der Hoffnung, ihr wenigstens den Anflug eines Lächelns ins Gesicht zu treiben. Tyras Mundwinkel zuckten kaum merklich nach oben. „Scheint eine sehr clevere Person gewesen zu sein“, stellte sie fest und nestelte an ihrem Schulterriemen herum. „Ich habe vorhin gesehen, wie ein paar Soldaten deinen Kumpel abgeführt haben. Der sah eigentlich gar nicht so aus, als hätte er Dreck am Stecken.“ „Er ist ganz in Ordnung, schätze ich“, murmelte Craig. „Mach dir nichts draus“, fuhr Tyra fort und strich prüfend über die Klinge eines der vielen Messer, die sie am Körper trug. „Du wirst schon sehen, man kann auch alleine bestens klarkommen. Ich habe das nie anders gemacht.“ Craig sah sie nachdenklich an. Alleine war er ja nicht. Immerhin hatte er noch Knack und einen besseren Gefährten konnte er sich ohnehin kaum vorstellen. Trotzdem war es ein verlockender Gedanke gewesen, zusammen mit Vance Abenteuer zu erleben. Preman hätte Augen gemacht, wenn er erfahren hätte, dass Craig die Gesellschaft eines Dorashen genossen hatte. „Also gut, ich muss dann mal los“, rief Tyra und wandte sich um. „Es ist schon viel zu spät.“ „Gehst du etwa in die Düstermarsch?“, fragte Craig überrascht und sofort schlug sein Herz schneller. Tyra blieb stehen und blickte sich verstohlen um, als ob sie etwas Verbotenes täte. „Ist das so offensichtlich?“, wunderte sie sich. „Ich will mich dort draußen mal ein wenig umsehen.“ Craig scharrte unruhig mit den Füßen. „Hättest du was dagegen, wenn ich dich begleite?“, fragte er nervös. Tyra musterte ihn von oben bis unten und der Waisenjunge zuckte zusammen, als er sah, wie sie skeptisch eine Augenbraue hob. „Ich hoffe, dein Schwert ist nicht nur Dekoration“, murmelte sie und wirkte nicht besonders begeistert, doch dann zuckte sie mit den Schultern. „Meinetwegen kannst du mitkommen. Aber steh mir nicht im Weg rum, verstanden?“ Craigs Herz machte vor Begeisterung einen Satz. Von Tyra konnte er bestimmt eine Menge über das Leben als Abenteurer lernen. Er musste einen Jubelschrei unterdrücken und fühlte sich auf einmal federleicht. Die Sorgen um Hiob und Vance waren auf einmal wie weggeblasen und seine Schritte waren lang und beschwingt, als er Tyra zur Stadtmauer folgte. Die beiden Wachen am Tor machten ihnen nur widerwillig den Weg frei. „Viel Glück!“, rief ihnen einer der Soldaten zu. „Ihr werdet es brauchen.“ Tyra quittierte die Worte des Wächters nur mit einem höhnischen Lächeln. Offenbar ließ man Zivilisten nicht gerne passieren und Craig musste zugeben, dass das aufgrund der Tatsache, dass vor der Stadt immer wieder Leute spurlos verschwanden, durchaus nachvollziehbar war. Er selbst verspürte angesichts einer möglichen Herausforderung ein ekstatisches Kribbeln. Die mächtigen Bäume der Düstermarsch wuchsen keinen Steinwurf von den Toren Eydars entfernt in den Himmel. Der Wind trug den würzigen Geruch von vermoderndem Holz an Craigs Nase und das Surren zahlloser Insekten an sein Ohr. Er spürte, wie der Sumpf nach ihm rief und er wollte ihn nicht länger warten lassen. Staunend folgte er Tyra und das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker, doch als er die ersten Bäume erreichte, hatte er augenblicklich den Eindruck, dass die Welt um ihn herum einige Nuancen dunkler wurde, und das beschwingende Gefühl der Vorfreude wurde unter dem dichten Blätterdach sofort erstickt. Die Luft in der Düstermarsch war feucht und dick. Craig kam es zunächst so vor, als würde er gegen eine unsichtbare Mauer aus Watte ankämpfen müssen. Auf einmal wirkte auch Tyra angespannt. Craig sah selbst durch ihre Lederrüstung, wie sie die Schultern straffte. „Du kommst aus Isenheim, nicht wahr?“, fragte er und versuchte damit, die bedrückende Atmosphäre zu vertreiben. Tyras brauner Schopf wippte zur Antwort auf und nieder. „Wie lange bist du schon fort aus deiner Heimat?“, erkundigte sich Craig weiter. „Weiß ich nicht genau“, gab Tyra zurück. „Ich schätze, es dürften inzwischen vier oder fünf Jahre sein.“ Craig blieb die Spucke weg. Sie musste jünger gewesen sein als er, als sie ihre Heimat verlassen hat. „Da warst du ja noch ein Kind!“, entfuhr es ihm und er konnte seinen Respekt nur schwer verbergen. „Ansichtssache“, brummte Tyra. „Für euch Milchtrinker aus dem Süden mag man in dem Alter noch ein Kind sein, aber bei uns im Norden sieht das anders aus. Dort gilt man mit zwölf Jahren als erwachsen und muss selbst zusehen, wie man über die Runden kommt.“ Craig kratzte sich nachdenklich an dem Narbengewebe an seiner Wange. Gäa schien eine ganze Menge Kinder hervorzubringen, die einen Großteil ihres Lebens ohne richtige Eltern verbringen mussten. Er hatte sich immer als Einzelfall gefühlt, als tragischen Waisenjungen, der sein hartes Los wacker ertrug. Aber kaum hatte er seine Heimat verlassen, musste er feststellen, dass es viele Leute gab, die ein schwereres Schicksal zu erdulden hatten. Zum Beispiel Vance. Oder Tyra. Obwohl sie nicht besonders unglücklich wirkte. „Und wie bist du über die Runden gekommen?“, fragte er. Seine Stimme klang krächzend und er spürte, wie ihm das Atmen bei jedem Schritt schwerer fiel. „Ich war die Gesellin eines Gerbers“, antwortete Tyra. „Dabei habe ich viel gelernt. Meine Rüstung habe ich persönlich hergestellt.“ In ihrer Stimme klang Stolz. Craig konnte ihr das nicht verübeln. Er stellte sich vor, wie die Abenteurerin die Wölfe, deren Schädel nun ihre Schultern zierten, selbst erlegt hatte. Craig wollte der jungen Frau weitere Fragen stellen, doch er bemerkte, dass er sich seinen Atem besser sparen sollte. Inzwischen schwitzte er am ganzen Körper. Die unangenehme Wärme drückte auf seinen Schädel und verursachte hämmernde Kopfschmerzen. Tyra schien es nicht viel besser zu gehen. Unter ihrer fellbesetzten Rüstung musste sich ihr Körper anfühlen, wie in einem Backofen. Sie waren noch nicht weit gekommen, da mussten sie bereits eine erste Pause einlegen. Craig war froh, dass der Vorschlag zur Rast von Tyra kam. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte ihr offenbar mehr zu schaffen, als ihr Stolz es zugeben wollte. Sie war im hohen Norden geboren und aufgewachsen, wo fast das ganze Jahr über Eis und Kälte herrschten und war die warmen Bedingungen in Shalaine nicht gewohnt. Dieses Klima musste für sie vollkommen unverträglich sein, wenn die drückende Hitze sogar Craig, der in den warmen Gefilden des Binnenmeeres aufgewachsen war, zu schaffen machte. Die Abenteurerin nahm auf einem Baumstumpf Platz und nahm einen kräftigen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche. Ihr braunes Haar klebte feucht an der vor Schweißperlen glänzenden Stirn. Auch Craig trank gierig und stöhnte erschöpft. Der schwere Geruch des vor sich hin rottenden Holzes schien seine Sinne zu betäuben. Er nahm sich die Zeit, um seine Atmung an die dicke, warme Luft der Düstermarsch zu gewöhnen, als Tyra plötzlich aufstand und anfing, sich aus ihrer Rüstung zu schälen. Craig verschluckte sich fast an dem Wasser, das er gerade trank. Die Abenteurerin nahm ihren Waffenrock aus Pelz ab und legte ihn sorgfältig auf den Baumstumpf. Auch ihren ledernen Brustpanzer zog sie aus und zuletzt streifte sie sich die schweißgetränkte Tunika über den Kopf. Kurz blieb sie wie versteinert stehen und atmete tief ein, ehe sie ihre Rüstung und den Waffenrock wieder anlegte. Die völlig durchnässte Tunika band sie an ihrem Gürtel fest. „Was glotzt du denn so?“, brummte sie missgestimmt, als sie bemerkte, dass Craig sie anstarrte. „Unter der Rüstung gehe ich ohnehin schon ein, da brauche ich nicht auch noch einen Unterrock. Und ich will bestimmt nicht auf Schutz verzichten.“ Craig hoffte, dass Tyra nicht auffiel, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Zum Glück waren seine verbrannten Wangen von der Hitze und durch den ganzen Schweiß ohnehin schon gerötet. Tyras Arme waren nun frei und konnten einen Teil der überschüssigen Körperwärme abgeben. Sie sah direkt weniger erschöpft aus, auch wenn das grobe Leder ihres Brustpanzers, den sie nun auf ihrem nackten Torso trug, unangenehm an der Haut scheuern musste. Aber das war allemal besser, als bei lebendigem Leibe gedünstet zu werden. Craig erhob sich und stellte erleichtert fest, dass seine Kopfschmerzen allmählich nachließen. Die Trinkpause hatte ihren Zweck erfüllt und offenbar gewöhnte sich sein Körper langsam an die hohe Luftfeuchtigkeit. Als er Tyra folgte, als sie ihren Weg fortsetzte, kam er viel besser voran, als vor seiner Verschnaufpause. Auch in den Schritten der Abenteurerin lag wieder deutlich mehr Kraft. Das Blätterdach der Düstermarsch war so dicht, dass es das Tageslicht beinahe vollständig abschirmte. Nur stellenweise brach die Sonne durch die Baumwipfel und sandte ihre Strahlen, in denen unzählige Staubpartikel tanzten, hinab zum schlammigen Waldboden. Tyra suchte sich einen Weg durch das Labyrinth aus Tümpeln und Craig folgte ihr vorsichtig, wobei er genau darauf achtete, keinen falschen Schritt zu machen. Falls es hier jemals eine ausgebaute Straße gegeben hatte, waren ihre Pflastersteine längst im Morast des Marschlandes versunken. Die Bewohner der Düstermarsch waren nicht zu sehen, doch von überallher erschallte das Zirpen von Insekten und das Zwitschern von Vögeln. Bisweilen durchschnitt ein schauerliches, aber weit entferntes Heulen die schwere Luft der Sümpfe. Tyra blieb wachsam und hielt mit einer Hand den Griff eines ihrer Messer umklammert. Im Zwielicht des Waldes wirkte jeder Schatten wie eine Bedrohung und jedes verdächtige Geräusch ließ Craig aufhorchen. Seine Abenteuerlust war ungebrochen, doch inzwischen hatte sich ein beklemmendes Gefühl eingestellt. Er verstand immer besser, weshalb die Bewohner von Eydar dieses Gebiet mieden wie die Pest. Tyra suchte unentwegt nach Hinweisen auf die verschwundenen Leute, doch sie fand nichts Nützliches. An einigen Stellen war der Schlamm von zahlreichen Stiefeln zertreten, doch die Fußabdrücke verloren sich alle in den Tümpeln des Sumpfes. Nach mehreren Stunden war sie immer noch keinen Schritt weiter. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie zog ihr Schwert ein Stück aus dem Gürtel und lauschte in den Wald, als hätte sie das Gefühl, dass ihnen jemand folgte. Craig konnte regelrecht sehen, wie sie die Ohren spitzte, und er hielt die Luft an. „Was ist los?“, flüsterte er atemlos. Tyra regte sich eine ganze Weile nicht. Regungslos wie einer der riesigen Bäume, die sie umgaben, stand sie da und hielt ihre Klinge bereit. Dann, nach einer Zeit, die Craig schier endlos vorkam, entspannte sich ihre Körperhaltung und sie schob ihr Schwert zurück in den Gürtel. „Ich dachte, ich hätte etwas gehört“, murmelte sie und seufzte dann resigniert. „War wohl Einbildung. Diese Hitze macht mich noch ganz wahnsinnig. Lass uns eine Pause machen und dann nach Eydar zurückkehren. Hier kommen wir nicht weiter.“ Craig nahm das Angebot dankbar an. Seufzend lehnte er sich an den moosbewachsenen Stamm eines mächtigen Baumriesen, von dessen Ästen Lianen herabhingen, die so dick wie seine Arme waren. Mit dem Handrücken wischte er sich über die schweißnasse Stirn und öffnete seine Feldflasche. In der schwülen Hitze der Düstermarsch war sein Wasserverbrauch deutlich höher, als er erwartet hatte. Prüfend schüttelte er die Flasche und zog eine Grimasse. Seine Vorräte gingen sogar noch schneller zur Neige, als auf dem Binnenmeer. Viel war nicht mehr übrig. Die Entscheidung, nach Eydar zurückzukehren, kam keine Sekunde zu früh. Bei aller Erleichterung fand Craig es dennoch seltsam, dass er und Tyra, abgesehen von tückischen Schlammlöchern, bislang noch keinen wirklichen Hindernissen begegnet war. Sie waren weder von einem wilden Tier angegriffen, noch von Banditen überfallen worden. Irgendetwas Vergleichbares musste den Vermissten schließlich zugestoßen sein. Sie hatten sich wohl kaum in Luft aufgelöst. Craig genehmigte sich noch einen Schluck Wasser und blickte auf den schmalen Pfad, der sich durch den Flickenteppich aus bodenlosen Schlammlöchern schlängelte. Plötzlich hörte er, wie Tyra ihr Schwert aus dem Gürtel zog. Er wirbelte herum und erstarrte auf der Stelle. Kaum einen Steinwurf entfernt brach ein Warg aus dem toten Unterholz der Sumpfwälder. Das mächtige Raubtier war so groß wie ein Stier. Seine Vorderläufe waren deutlich kräftiger und länger, als die Hinterbeine und verliehen dem hundeartigen Ungetüm in Verbindung mit seinen muskelbepackten Schultern einen merkwürdig aufrechten Gang. Sein schlammbraunes Fell war kurz und struppig und hob sich kaum von der Umgebung ab. Hinter ihm pendelte ein buschiger Schwanz unruhig hin und her. Der Hals des Wargs war kurz, aber kräftig und aus seinem Maul, in das ein Menschenschädel passte, ragten mächtige Reißzähne, die in der Lage waren, auch dickste Knochen zu zermalmen. Von den Lefzen troff schaumiger Speichel und im Brustkorb des Untiers polterte ein bedrohliches Knurren. Die rotglühenden Augen waren klein und fast blind und das Monstrum presste seine Schnauze an den Boden, um gierig Witterung aufzunehmen. Dann hob es ruckartig den Kopf und starrte Craig und die kampfbereite Abenteurerin hungrig an. Es konnte die beiden mit seinen schlechten Augen zwar nicht richtig erkennen, doch seine feine Nase verriet ihm genau, wo sich seine Beute befand. Das Monstrum scharrte mit seinen kurzen Hinterläufen, ließ seinen Schwanz über den Boden peitschen und riss in einem markerschütternden Brüllen sein fürchterliches Maul auf. „Nicht schon wieder“, stöhnte Craig vor Entsetzen und bewegte sich langsam und vorsichtig rückwärts, bis er auf gleicher Höhe mit Tyras Schwert stand. Seine erste Begegnung mit einem Warg war erst wenige Stunden her und er hatte sie noch längst nicht verdaut. Und diesmal war kein Meer in der Nähe, in das er sich mit einem verzweifelten Hechtsprung retten konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)