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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Ratford erwachte mit schmerzendem Kopf und bemerkte als erstes, dass ihm fürchterlich kalt war. Er lag auf feuchtem Steinboden und durch das Dröhnen in seinen Ohren konnte er das hallende Geräusch von Wassertropfen hören, die in regelmäßigen Abständen zu Boden fielen. Außerdem vernahm er aus der Ferne das rhythmische Klopfen von Metall auf Stein.

Stöhnend richtete sich der bullige Krieger auf. Ihm wurde auf der Stelle schwindelig und als er eine kalte Felswand in seinem Rücken spürte, lehnte er sich sofort dagegen. Blinzelnd sah er sich um. Er befand sich in einer großen Höhle, die von flackerndem Fackelschein erhellt war. Seine Axt und seine Rüstung hatte man ihm abgenommen und er trug nur noch seine zerschlissene Tunika, die schmutzige Leinenhose und seine Lederstiefel. Sein Körper schien äußerlich unverletzt zu sein, aber er hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Ein unsichtbares Gewicht drückte auf seinen Kopf und machte ihn benommen.

In das Gestein war ein massives Gitter eingelassen, das den Weg versperrte. Dahinter gabelte sich die Höhle in zwei Gänge. Das metallische Klopfen kam aus dem linken Tunnel und die Fackeln warfen tanzende Schatten an die Felswände.

Ein Zittern durchlief Ratfords Körper und er schlang die muskelbepackten Arme um seinen Torso, um sich aufzuwärmen, doch seine Haut fühlte sich ebenso kalt an, wie der felsige Untergrund, auf dem er aufgewacht war. An den Handgelenken trug er schwere Metallschellen, die im schwachen Licht der Fackeln merkwürdig glänzten. Seine Füße waren mit den gleichen Fesseln aneinandergekettet. Ratford hatte keine Ahnung, wo er war oder wie lange er geschlafen hatte, aber allmählich kehrten seine Erinnerungen zurück. Er griff sich mit der Hand in den Nacken. Ihm war fast, als würde er den Pfeil in seinem Genick immer noch spüren.

Erst jetzt entdeckte er Lazana. Die blonde Frau lag etwas abseits auf einem Haufen verschimmelten Strohs. Auch ihr hatte man Metallfesseln angelegt und ihrem ohnehin schon blassen Gesicht fehlte die Farbe. Sie sah aus, wie eine Tote, doch Ratford erkannte, dass sich ihre Brust im Rhythmus ihres schwachen Atems langsam hob und senkte. Ihr Stab war wie Ratfords Axt verschwunden und ihre weiß glänzende Tunika war schlammbespritzt, von Wasser durchtränkt und zerrissen. Ansonsten schien sie aber unversehrt zu sein.

Unsicher taumelte Ratford zu seiner Partnerin herüber. Die Fesseln an seinen Füßen beeinträchtigten ihn enorm und er konnte nur kleine Schritte machen. Weitere Schwindelanfälle befielen ihn. Obwohl Lazana nicht weit entfernt war, stolperte er mehrmals über die Ketten und fiel auf den harten, feuchten Steinboden, schlug sich die Ellbogen auf und kam jedes Mal nur langsam und stöhnend wieder auf die Beine. Als er Lazana endlich erreichte, fiel er erschöpft vor ihr auf die Knie. Sanft tätschelte er ihre totenbleiche Wange und versuchte so, sie aufzuwecken. Es dauerte eine Weile, doch dann flatterten ihre Augenlider und sie sah ihren Gefährten verschlafen an.

„Ratford?“, flüsterte sie kaum hörbar. „Bist du das?“

„Ja, ich bin es. Geht es dir gut?“

Die Eismagierin setzte sich vorsichtig auf und fasste sich an den Kopf. „Ich bin jedenfalls nicht verletzt“, stellte sie fest. Ihre Stimme klang noch immer schwach und erschöpft. „Aber ich fühle mich so kraftlos. Wo sind wir hier?“

Ratford wollte sich aufrichten, doch er kippte unbeholfen zur Seite und blieb dann doch sitzen. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, knurrte er. „Aber ich habe nicht vor, besonders lange hierzubleiben. Diese Mistkerle aus dem Sumpf haben uns hier eingesperrt.“

„Ach ja…“, erinnerte sich Lazana. „Der Überfall.“ Die junge Frau schien plötzlich einen Geistesblitz zu haben. „Denkst du, dass Ahravi und ihre Leibgarde ebenfalls angegriffen wurde? Vielleicht wurden sie ebenfalls hierher verschleppt.“

„Möglich“, erwiderte Ratford grimmig. „Aber das können wir später herausfinden. Jetzt müssen wir erstmal hier raus! Ich will meine Axt wiederhaben.“

„Mein Stab fehlt auch“, bemerkte Lazana.

„Ich weiß“, brummte Ratford. „Aber das muss jetzt auch ohne Stab funktionieren. Kannst du mit deiner Magie ein Loch in das Gitter dort drüben schlagen?“

Lazana taxierte die Barriere und nickte anschließend schwach. „Das könnte schwierig werden, dürfte aber zu schaffen sein.“

„Das ist mein Mädchen!“, freute sich Ratford. „Dann hol uns mal hier raus!“

Lazana breitete ihre Arme aus, soweit es ihr ihre Fesseln ermöglichten, und konzentrierte sich. Ratford erwartete, dass die Luft jeden Augenblick beträchtlich kälter wurde, dann das Wasser an der Höhlenwand gefror und sich schließlich zwischen den Händen seiner Gefährtin ein kleiner Eiskristall bilden würde, den die Magierin nach Belieben zu einem gefrorenen Speer oder einem ausgewachsenen Schneesturm umformen konnte. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen leuchteten die Metallfesseln an Lazanas Handgelenken in einem stechenden Hellblau auf und die junge Frau runzelte verwundert die Stirn. „Es geht nicht“, sagte sie verdrießlich.

„Was soll das heißen, es geht nicht?“ Ratford schob argwöhnisch die Brauen zusammen. „Versuch es noch mal!“

Lazana nickte wenig hoffnungsvoll. Sie schloss die Augen, um sich voll und ganz auf ihre Magie zu konzentrieren, doch erneut geschah nichts. Nur die dicken Fesseln an ihren Handgelenken fingen wieder an zu glühen. Erschöpft und geknickt ließ die junge Frau ihre Hände wieder sinken. „Zwecklos“, konstatierte sie verzagt. „Ich kann keine Zauber wirken.“

„Jetzt ist nicht der Augenblick für Spielchen“, rief Ratford und rang verzweifelt die Hände.

„Das sind keine Spielchen“, beteuerte Lazana. „Irgendetwas hemmt meinen Zauber. Ich denke, es sind diese Fesseln. Vermutlich bestehen sie aus Schleierstahl. Wahrscheinlich fühle ich mich deshalb auch so schwach.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, stöhnte Ratford entsetzt. Schleierstahl war zauberkundig bearbeitetes Metall, das bei Berührung magische Kräfte unterdrückte. Deshalb war es Gang und Gäbe in den Kerkern von Ganestan, Fesseln und Ketten aus genau diesem Material herzustellen, um magiekundigen Gefangenen jede Flucht unmöglich zu machen.

Ratford ballte wütend die Fäuste und stand schwankend und zähneknirschend auf. „Na gut, dann reiß ich dieses verdammte Gitter eben mit bloßen Händen raus!“ Der bullige Krieger packte die massiven Eisenstäbe und rüttelte wie ein Verrückter daran, doch das Gitter rührte sich keinen Zentimeter. Stattdessen wurde ihm wieder schwarz vor Augen und er sank erschöpft zurück auf den feuchten Steinboden.

Lazana sah traurig dabei zu, wie ihr Partner seiner Wut freien Lauf ließ, bis ihn die Kräfte verließen. Dann näherte sie sich ihm auf allen Vieren und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Das hat doch keinen Sinn. Spar dir deine Kräfte lieber, vielleicht wirst du sie noch brauchen.“

Ratford fasste sich mit einer Hand an den Kopf. Er konnte die kalten Schweißperlen spüren, die sich an seiner Stirn bildeten. „Verdammt, was haben diese Mistkerle nur mit uns vor?“, krächzte er schwach. „Und warum wird mir ständig schwindelig? Ich beherrsche keine Magie, also kann es nicht an diesen verfluchten Fesseln liegen.“

„Das Gift der Veilchenfische“, ertönte eine spöttische Stimme. „Es lähmt die Gliedmaßen und trübt die Sinne. Das Schöne daran ist, dass es so lange wirkt. Die Veilchenfische benutzen es nur, um sich zu verteidigen, dabei bietet es so viele andere Möglichkeiten.“

Ratford hob den Kopf. Auf der anderen Seite stand die alte Dunkelelfe mit dem Blasrohr und grinste höhnisch. Hinter ihr stand etwa ein Dutzend zerlumpter Dunkelelfen. Die meisten von ihnen trugen Spitzhacken, während einige wenige den Höhlengang mit Fackeln erleuchteten.

„Sag mal…“, brummte Ratford mit gedämpftem Zorn. „Das sind doch die Mistkerle, die uns überfallen haben, nicht wahr?“

Lazana entdeckte neben der alten Dunkelelfe den Magier, der ihren Eiszauber mit seinem Feuerball zerschlagen hatte, und nickte finster. „Ja, das sind sie.“

Ratford sprang zornentbrannt auf, packte die Gitterstäbe erneut und rüttelte mit beängstigender Kraft daran. Das ohrenbetäubende Scheppern hallte dutzendfach von den Felswänden zurück und dröhnte bis in die hintersten Gänge des Höhlensystems.

„Ihr elenden Bastarde!“, brüllte Ratford und übertönte damit sogar den Lärm, den er durch das Rütteln verursachte. „Ihr dreckigen Feiglinge! Wenn ich euch in die Finger kriege, dann brech ich euch sämtliche Knochen im Leib! Lasst mich hier raus und ich wisch mit euch den Boden auf, ihr verdammten…ihr verdammten…Mistkerle…“ Ratfords Gebrüll erstarb ihm auf die Lippen, als ihm erneut schwindelig wurde. Er ließ das Gitter los und taumelte von den Eisenstäben zurück. „Nicht schon wieder…“, stöhnte er und stützte sich gegen die Felswand der Höhle, um nicht zu stürzen. Entkräftet sank er zu Boden.

Die alte Dunkelelfe trat an das Gitter heran. Auf ihrem faltigen Gesicht lag ein selbstgefälliges Grinsen, als sie auf den erschöpften Krieger hinabblickte. „Mach hier doch nicht so einen Lärm“, rief sie höhnisch. „Du lenkst damit nur die anderen Arbeiter ab. Außerdem tut dein Geschrei fürchterlich in den Ohren weh.“

„Ich reiß dir deine elenden Spitzohren gleich ab, wenn du mich nicht sofort hier rauslässt!“, entgegnete Ratford trotzig, aber seine sonst so grollende Stimme klang nicht mehr besonders furchteinflößend. Sein Atem ging stoßweise und er zitterte am ganzen Körper.

Das spöttische Grinsen der Dunkelelfe wurde noch breiter. „Fühlst du dich schwach?“, höhnte sie. „Ist dir vielleicht schwindelig? Dieses Gefühl der Kraftlosigkeit wird dich noch eine ganze Weile begleiten, also übernimm dich nicht. Es wäre doch wirklich schade, wenn so ein stattlicher Bursche wie du irgendwann einfach aus den Latschen kippt und sein Leben aushaucht, findest du nicht?“

Lazana sah Ratford besorgt an. Der bullige Krieger hatte nicht einmal mehr die Kraft, um der alten Dunkelelfe weitere Beleidigungen oder Drohungen an den Kopf zu werden. Er hockte auf dem kalten Boden und lehnte sich gegen die Felswand. Ab und zu drang ein gedämpftes Stöhnen aus seiner Kehle.

Lazana erkannte, dass sie den Banditen hilflos ausgeliefert waren. „Was wollt ihr von uns?“, fragte sie zaghaft.

Die Alte stolzierte vor dem Gitter auf und ab. „Zunächst einmal möchte ich mich und meine Begleiter vorstellen“, erklärte sie und genoss ihre Machtposition sichtlich. Sie deutete auf die junge Dunkelelfe, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, und den Feuermagier. „Das sind meine Tochter Vela und mein treuer Gehilfe Balam. Mein Name ist Mola und ich bin von jetzt an eure Vorgesetzte.“

„Du hast doch den Arsch offen“, meldete sich Ratford stöhnend zu Wort. Er wollte den Kopf heben und der alten Dunkelelfe einen wütenden Blick zuwerfen, doch sein Kinn fiel ihm sofort wieder auf die Brust zurück.

Mola zog ihren Säbel und schlug mit der flachen Klinge scheppernd gegen die Gitterstäbe. „Jetzt werd mal nicht frech!“, rief sie herrisch. „Sonst werde ich mir ernsthaft überlegen müssen, ob ich tatsächlich Verwendung für einen ungehobelten Flegel wie dich habe!“

Lazana begriff die volle Bedeutung dieser Drohung und robbte zu Ratford herüber. Sie strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Bitte reiß dich zusammen!“, flüsterte sie flehend. „Du kannst ja kaum noch die Augen offenhalten. Es wäre besser für uns, wenn wir uns ruhig verhalten, bis die Wirkung dieses Gifts nachlässt.“

Ratford hatte Schwierigkeiten, Lazana direkt in die Augen zu sehen. Immer wieder glitt sein Blick zur Seite, doch schließlich nickte er. „Meinetwegen“, murmelte er leise. „Auch wenn es mich anwidert, vor diesem Gesindel buckeln zu müssen.“

Lazana atmete erleichtert auf. Sie strich ihrem Gefährten über die stoppelbärtige Wange, ehe sie sich zu Mola umdrehte und sich wieder dem Gitter näherte. „Du bist unsere Vorgesetzte? Was meinst du damit?“, fragte sie vorsichtig.

Mola wirkte sehr zufrieden, dass Ratford endlich Ruhe gab. Sie steckte den Säbel zurück in ihren Gürtel und stemmte beide Hände in die Hüften. „Ihr beiden Hübschen werdet ab heute für mich arbeiten“, verkündete sie. „Ist das nicht schön?“

„Von was für einer Art Arbeit sprichst du?“, wollte Lazana wissen.

„Kindchen, was für eine Frage! Ihr seid hier in einer Höhle und meine Leute bringen euch Spitzhacken. Glaubt ihr, dass ihr für mich putzen werdet? Ihr habt die Ehre, für mich nach Sturmerz zu schürfen.“

„Sturmerz?“ Ratford hob langsam den Kopf. Nun war ihm klar, worum es sich bei dem fernen Klopfen von Metall auf Stein handelte. Es waren die Geräusche der anderen Unglücksraben, die den Banditen in die Hände gefallen waren, und in den Tiefen der Höhle mit ihren Spitzhacken die Felswände bearbeiteten. Ratford starrte Mola feindselig an, aber seine Stimme war ruhig und neutral. „Was wollt ihr denn damit?“

„Ihr sollt schürfen und keine Fragen stellen“, erwiderte die alte Dunkelelfe kühl.

„Und was ist, wenn wir da nicht mitmachen?“

Mola zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Dann könnt ihr hier meinetwegen verschimmeln. Das ist euch überlassen.“

Ratfords Knöchel wurden weiß, als er erneut die Fäuste ballte, doch er konnte sich beherrschen. Resigniert sah er Lazana an. „Uns bleibt wohl nichts anderes übrig“, murmelte er kleinlaut. Für den Augenblick mussten sich er und Lazana der alten Dunkelelfe geschlagen geben. „Meinetwegen. Gib mir eine Spitzhacke und ich nehme den ganzen Berg auseinander.“

„Ich wusste, dass ihr zur Vernunft kommen würdet.“ Mola lachte triumphierend. „Und jetzt bleibt zurück!“

Ratford und Lazana zogen sich widerwillig in den hinteren Teil der Gefängnishöhle zurück. Einer der Dunkelelfen trat nach vorn und öffnete die schwere Tür, die in das Gitter eingelassen war. Dann zogen die Schurken ihre Waffen.

„Kommt her!“, rief Mola ihren beiden Gefangenen zu. „Und macht ja keine Dummheiten.“ Sie zog betont langsam ihr Blasrohr aus dem Gürtel und tätschelte es vielsagend. Lazana erhob sich zögerlich und auch Ratford kam, wenn auch schwankend und taumelnd, auf die Beine. Der Krieger stützte sich mit einer Hand gegen die Felswand und arbeitete sich langsam, Schritt für Schritt vorwärts. Die Ketten an seinen Sprunggelenken klirrten drohend und kurz bevor er das Gitter passierte, stolperte er und fiel der Länge nach hin. Er konnte sich nicht rechtzeitig abfangen und prallte ungebremst auf den feuchten und unnachgiebigen Boden, wo er sich die Nase aufschlug.

„Du siehst jämmerlich aus!“, höhnte Mola und die anderen Dunkelelfen lachten schallend.

Lazana beugte sich zu ihrem Gefährten herab und half ihm auf. Sie spürte, wie Ratford vor Wut kochte, während das Blut von seiner Nase auf den Fels tropfte. Noch immer zitterte sein ganzer Körper, teilweise vor Erschöpfung, teilweise vor Zorn. Doch es gelang ihm wieder, seinen Ärger zu zügeln. Schwankend stand er da und wischte sich mit dem Arm das Blut unter der Nase weg.

Die Horde der zerlumpten Banditen erwartete sie mit erhobenen Waffen. Die beiden Gefährten sahen sich einem Dutzend schartiger Klingen gegenüber und warteten unruhig auf Anweisungen Molas.

Diese ließ sich nicht lange bitten. Auf einen Wink von ihr warfen zwei der Gauner den beiden Gefährten jeweils eine Spitzhacke vor die Füße. „Sollen wir etwa direkt mit der Arbeit beginnen?“, fragte Lazana empört. „Wir können uns doch kaum auf den Beinen halten!“

Mola gackerte gehässig. „Jetzt habt euch nicht so!“, spottete sie. „Dein Begleiter hat vorhin noch so große Töne gespuckt, jetzt kann er beweisen, dass er dazu fähig ist, ebenso große Taten folgen zu lassen. Außerdem wird die Wirkung des Gifts nicht ewig anhalten. Ein bisschen Bewegung wird euch sicherlich guttun.“

Ratford knirschte vor Zorn mit den Zähnen. Als er sich nach der Spitzhacke bückte und den Griff mit beiden Händen umschloss, war er für einen Augenblick versucht, herumzuwirbeln und den Pickel dem nächstbesten Dunkelelfen in den Schädel zu treiben. Doch er wusste, dass er für ein solches Manöver im Augenblick viel zu schwach war und tot sein würde, noch bevor er seinen Angriff durchführen konnte. Also atmete er tief durch und verhielt sich ruhig. Im Augenblick waren ihm und Lazana im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden, doch vielleicht würde sich schon bald eine Möglichkeit zur Flucht bieten.

Mola stieß den Krieger mit dem Knauf ihres Säbels an. „Vorwärts!“, befahl sie barsch. Ratford gehorchte. Mit gesenktem Haupt trottete er voran und gab sich alle Mühe, nicht über seine gefesselten Beine zu stolpern. Der Schmerz in seiner Nase und der Geschmack des Blutes, das über seine Lippen und in seinen Mund rann, erinnerten ihn deutlich an die Folgen eines Sturzes. Lazana folgte mit der ganzen Schurkenbande im Schlepptau. Die Banditen trieben ihre beiden Gefangenen, begleitet vom Rasseln der Ketten, in den Höhlengang, der nach links abzweigte. Das rhythmische Klopfen der Spitzhacken auf Stein wurde immer lauter. Zweimal zweigten Nebengänge ab, doch Mola trieb Ratford und Lazana unerbittlich weiter geradeaus.

Schließlich erreichten sie einen schmalen, von Holzbalken gestützten Stollen. Die Sklaven der Banditen hatten schon eine Menge Gestein abgetragen und sich tiefer ins felsige Erdreich vorgearbeitet. Als Ratford um eine Windung des Ganges bog, tat sich vor ihm ein größerer Hohlraum auf. Das Gestein der Wände und Decken war dunkelgrau, fast schwarz; und wurde von feinen, bläulich glänzenden Adern durchzogen.

„Sturmerz“, murmelte Ratford. Er wusste nicht viel darüber, außer, dass es ein seltenes Metall war, das für seine Härte und Widerstandskraft bekannt war. Da es nicht häufig zu finden war, dämmerte es Ratford allmählich, dass seine und Lazanas Gastgeber Schmuggler waren, die das Sturmerz im Geheimen abbauten und dann irgendwo in Gäa auf dem Schwarzmarkt verkauften. Und offenbar führten diese Gauner hier ein größeres Projekt durch. Anders konnte sich Ratford nicht erklären, weshalb sie zur Sturmerzförderung sogar arglose Reisende überfielen, gefangen nahmen und für ihre Zwecke arbeiten ließen. Der Krieger grunzte verbittert. Man hatte ihn und Lazana eindringlich davor gewarnt die Düstermarsch zu betreten. Nun hatten sie das Rätsel um die verschwundenen Leute gelöst, teilten gleichzeitig aber auch ihr Schicksal.

Im hinteren Teil der Höhle schufteten die Sklaven der Schmuggler. Ratford zählte über ein Dutzend ausgemergelter Gestalten, die mit gekrümmten Rücken und schwieligen Händen immer und immer wieder ihre Spitzhacken niederfahren ließen. In ihren trüben Augen lag nichts als Hoffnungslosigkeit und es war einzig die Angst vor dem Tod, die sie dazu trieb, weiterhin ihre Spitzhacken zu schwingen, obwohl sie vor Anstrengung und Erschöpfung stöhnten. Die Sklaven wurden von aufmerksamen Dunkelelfen bewacht, die nicht weniger zerlumpt und zwielichtig aussahen, als die Schurken, die Ratford und Lazana in den Sümpfen überfallen hatten. Wann immer sich ein Brocken Sturmerz aus der Wand löste, wurde er von einem der Schmuggler eingesammelt und in einer Kiste oder einem Sack verstaut. Die Ausbeute der Gauner war beachtlich. Ratford entdeckte in einer Ecke der Höhle mehrere bis zum Rand gefüllte Kisten, deren dunkler Inhalt bläulich schimmerte.

Die meisten der Sklaven waren einheimische Dunkelelfen, doch unter den abgemagerten, blasshäutigen Gestalten entdeckte Ratford drei Arbeiter, die nicht zum Rest passten. An der rückwärtigen Wand der Höhle mühten sich drei Pardelfrauen ab. Die schlanken und athletischen Körper der Katzenmenschen waren mit einem dünnen Pelz bedeckt und ihre scharfen, großen Augen waren verärgert auf das Gestein gerichtet, dass sie mit wuchtigen Hieben ihrer Spitzhacken bearbeiteten. Ihre langen, biegsamen Schwänze zuckten unruhig hin und her und an ihren Fingern blitzten scharfe Klauen.

Ratfords Blick verfinsterte sich. Er hatte es befürchtet. Die drei Katzendamen waren Ahravi, die Abgesandte des Pardelkönigs, und ihre beiden Leibwachen Kidhara und Banashi, nach denen er und Lazana die Düstermarsch abgesucht hatten. Somit hatten sie den ersten Teil der Aufgabe, mit der sie Cord betraut hatte, erfüllt. Sie hatten die vermisste Pardelbotschafterin gefunden. Der zweite Teil des Auftrags dagegen würde sich unter diesen Umständen als schwierig erweisen. Bislang hatte Ratford keine Fluchtmöglichkeit ausgemacht. Die Schurken, die hier Wache hielten und auf die Gefangenen aufpassten, waren zwar nicht besonders gut bewaffnet, aber viel zu viele, um sich mit ihnen anzulegen. Und Ratford konnte nur erahnen, wie viele Gauner sich noch in den abzweigenden Höhlengängen dieses Tunnelsystems versteckten.

„Steht hier nicht faul rum und glotzt!“, rief Mola herrisch und versetzte dem Krieger einen rüden Stoß in den Rücken. Ratford stolperte vorwärts und verfing sich in seinen Ketten. Geschwächt wie er war, konnte er einen weiteren Sturz nur mit Mühe verhindern, und als er sich stöhnend fing, stieg wieder diese fürchterliche Wut stieg in ihm hoch. Er wirbelte herum, aber besann sich dann doch noch rechtzeitig, bevor er sich auf Mola stürzen konnte. Verächtlich rümpfte er die blutige Nase und starrte die alte Dunkelelfe herausfordernd an.

„Du hast immer noch einen Rest Energie“, stellte Mola boshaft grinsend fest. „Und das obwohl ich dir eine ordentliche Dosis Gift in die Blutbahn gejagt habe. Beeindruckend. Aber spiel dich hier besser nicht auf. Du wirst schon noch sehen, dass die Arbeit in der Mine viel kraftraubender ist, als mein Gift.“

Aus der Gruppe der wachhabenden Dunkelelfen löste sich ein Mensch. Es war ein in Leder gekleideter Mann mittleren Alters mit schmächtigem Körperbau und einem stoppelbärtigen, in die Länge gezogenem Gesicht. In der Hand trug er eine zusammengerollte Peitsche und in seinem Gürtel steckte ein scharfes Kurzschwert. Ratford fühlte sich beim Anblick der kleinen, spitzen Nase an eine Ratte erinnert.

„Bringst du uns neue Arbeiter, Mola?“, fragte der Mann mit nasaler Stimme und beäugte Ratford und Lazana gierig aus listig funkelnden Augen.

Die Dunkelelfe drehte sich gelangweilt zu ihm um. „So ist es, Ratz. Sieh zu, dass sie ordentlich was zu tun bekommen. Aber nimm sie vorerst nicht allzu hart ran. Die Ärmsten sind noch geschwächt von ihrer Wanderung durch die Düstermarsch.“

Ratz kicherte. Es war ein hohes, fast fiepsendes Geräusch, dass Ratford in seinem Vergleich mit einer Ratte zusätzlich bestärkte. „Du hast ihnen dein Schlaflied wohl etwas zu intensiv gesungen. Aber das macht nichts. Ein paar Peitschenhiebe haben noch jeden munter gemacht.“

Er entrollte seine Knute und ließ sie drohend knallen. Einige der Sklaven im hinteren Teil der Höhle zuckten erschrocken zusammen. Ratford erkannte an den frisch verheilten Striemen auf ihren gebeugten Rücken, dass sie schon oft Bekanntschaft mit Ratz‘ Peitsche gemacht hatten. Der stoppelbärtige Mann schien so etwas wie der Oberaufseher zu sein. An seinem Gürtel klimperte ein Schlüsselbund. Vermutlich konnte man mit einem davon die Fesseln an den Handgelenken und Füßen der Gefangenen lösen. Ratford behielt diese Entdeckung vorerst im Hinterkopf.

Ratz baute sich vor dem Krieger auf, aber das war kein besonders beeindruckender Anblick. Ratford überragte den Aufseher um einen ganzen Kopf, aber offenbar fühlte sich Ratz mit seiner Peitsche deutlich überlegen. „Dann wollen wir mal“, rief er gehässig. „Ran an die Arbeit mit euch, sonst knallt es!“ Ratford hätte den feigen Wichtigtuer am liebsten mit seiner eigenen Peitsche erdrosselt, aber er beherrschte sich und ließ den Aufseher wortlos stehen. Er nickte Lazana zu und die beiden begaben sich mit ihren Spitzhacken zu den anderen Sklaven. Sie suchten sich eine Erzader in der Nähe der Pardelfrauen und fingen an, das Gestein mit gleichmäßigen Schlägen zu bearbeiten. Obwohl ihnen die Wirkung des Gifts noch immer zu schaffen machte, ließen sie sich nichts anmerken. Sie wollten Ratz keine Gelegenheit bieten, seine Peitsche an ihren Rücken zu testen.

Während sie auf die unnachgiebige Felswand einschlugen, sah sich Ratford unauffällig um. Abgesehen von Ahravi und ihren beiden Leibwachen, fiel ihm noch ein weiterer Gefangener auf, der nicht zu den übrigen Sklaven passte. Weit abseits von allen anderen Arbeitern stand ein junger, drahtiger Mann mit wirrem, aschblondem Haar, das er zu einem hohen, buschigen Zopf zusammengebunden hatte. Auf den Wangen seines wutverzerrten Gesichts sprossen Bartstoppeln und die weiße Tunika, die er trug, war am Rücken zerfetzt und hing in zerrissenen, blutigen Streifen von seinen Schultern. Ganz offensichtlich war er das Lieblingsopfer von Ratz, doch die entzündeten Striemen auf seinem Rücken schienen den jungen Mann gar nicht zu interessieren. Mit nimmermüder Kraft ließ er seine Spitzhacke niederfahren und Ratford konnte in seinen Augen lesen, dass er sich vorstellte, dass der Stein, den er bearbeitete, Ratz‘ Schädel war.

Der offensichtlich unbeugsame Wille des jungen Mannes imponierte dem erfahrenen Krieger. Bei Gelegenheit wollte er sich mit ihm unterhalten, doch für den Moment hatten die Pardelfrauen Vorrang. Unauffällig rückte Ratford ein Stück näher an die schuftenden Katzendamen heran.

„Pst…“, flüsterte er. „Ahravi.“

Die Pardelfrau hob überrascht den Kopf. Das feine Fell in ihrem Gesicht war ermattet vor Staub, doch in ihren großen Augen glänzte noch Überlebenswillen. Zunächst starrte sie den Krieger unverwandt an, doch schließlich erkannte sie ihn. „Ratford?“, hauchte sie ungläubig. „Was tut Ihr denn hier?“ Sie linste über die breiten Schultern des Mannes und entdeckte Lazana, die ihr müde zulächelte.

Ratford erwiderte den Blick der Katzenfrau grimmig. „König Cord schickt uns. Wir sollten nach Euch suchen und Euch sicher nach Vanashyr zurückbringen.“

„Cord? Warum sollte der König der Dünenmenschen so etwas tun?“ In Ahravis Stimme schwang Misstrauen mit und sie kniff skeptisch ihre Augen zusammen.

„Vermutlich, um Euch sturen Katzenmenschen zu zeigen, dass die Dünenmenschen nicht Eure Feinde sind!“, zischte Ratford gereizt. Die Pardel waren für ihren Argwohn und ihre Dickköpfigkeit weithin bekannt, aber es war nicht der richtige Augenblick, um sich gegenseitig zu misstrauen. Im Moment saßen sie alle im selben Boot.

„Es ist ein Zeichen seines guten Willens“, fügte Lazana mit gedämpfter Stimme hinzu. „Die Friedensverhandlungen kommen nicht wirklich voran. Cord erhofft sich von dieser Aktion, den Graben zwischen den Pardel und den Dünenmenschen endgültig zuschütten zu können.“

„Ein edles Ansinnen“, stellte Ahravi nüchtern fest. „Aber Ihr habt Eure Aufgabe wohl vermasselt, andernfalls wärt Ihr wohl kaum in Ketten hier.“

Ratford kratzte sich gequält an der Wange. Die Worte der Katzenfrau waren wie Salz in der Wunde, die der gelungene Überfall der Schmuggler in seinem Stolz hinterlassen hatte. Er war sich sicher, dass er und Lazana die Schurken bezwungen hätten, wenn Mola nicht so hinterhältig gewesen wäre und ihr Gift eingesetzt hätte.

„Zugegeben, das war tatsächlich nicht so geplant“, gestand er kleinlaut. „Aber nichtsdestotrotz haben wir Euch gefunden! Jetzt müssen wir Euch nur noch hier rausholen.“

Ahravi ließ die Spitzhacke sinken und sah ihn an. Ratford war sich nicht sicher, ob sich in ihren Augen Spott oder Hoffnungslosigkeit spiegelte. „Und wie stellt Ihr Euch das vor? Es sind so viele von diesen Schurken. Hinter jeder Biegung lauern ihre Wachen. Selbst wenn wir bewaffnet wären, hätten wir keine Chance. Unsere einzige Hoffnung ist, dass uns jemand von der Oberfläche zu Hilfe kommt. Aber die einzigen Leute, die nicht zu den Schmugglern gehören und in dieser Höhle auftauchen, betreten sie in Ketten.“

„He, Mieze!“, ertönte Ratz‘ schrille Stimme. „Sofort weiterarbeiten!“ Noch bevor der Aufseher seine Peitsche entrollen und sie schwingen konnte, hob Ahravi wieder ihre Spitzhacke und schlug wuchtig auf einen Brocken Sturmerz ein. Das Metall splitterte und rollte in kleinen Klumpen über den Höhlenboden. Sofort sprangen ein paar magere Dunkelelfen herbei, um das abgetragene Sturmerz einzusammeln.

Ratford verfluchte Ratz in Gedanken. Der Aufseher war aufmerksam wie ein Luchs. Selbst den kleinsten Fluchtversuch würde er sofort bemerken und entweder mit seiner Peitsche oder seinem Alarmgeschrei im Keim ersticken.

Ihm wurde wieder schwindelig, doch diesmal nicht wegen der Wirkung des Gifts. Es war die erdrückende Erkenntnis, dass Ahravi recht hatte, die ihm schwarz vor Augen werden ließ. Es war nicht möglich, ohne Hilfe von außerhalb aus dieser Höhle zu entkommen.



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