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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Im Licht der Morgensonne kamen die Gestade rasch näher. Craig erkannte bald einen kleinen Gebirgszug, der über dem Binnenmeer thronte, und eine gut ausgebaute Straße, die an der Küste entlangführte. Einzelne Bäume wuchsen in die Höhe und schwache Wellen schlugen sanft gegen das glatte, felsige Ufer. Craig blickte sich nach beiden Seiten um. Weiter im Westen entdeckte er eine schmale Langzunge, auf der ein hohes Gebäude in den Himmel ragte, das er als Leuchtturm identifizierte. Offenbar befand sich dort eine Hafensiedlung und der Waisenjunge atmete erleichtert auf. Nach dem Sturm hatte er kurzzeitig befürchtet, für immer auf dem Binnenmeer verschollen zu sein.

Vance hatte kein Wort mehr gesagt, seit die Küste in der Morgensonne aufgetaucht war. Sein Gesicht hatte wieder etwas an Farbe zurückgewonnen, aber bei jeder Welle, die gegen die Bordwand des Segelboots schlug, warf er einen skeptischen Blick auf die Wasseroberfläche, als fürchtete er, dass sich das Meer jeden Augenblick wieder in ein tosendes Ungetüm verwandeln konnte. Doch das Wetter blieb ruhig und am Himmel, der immer mehr vom Licht der aufgehenden Sonne überflutet wurde, hingen nur ein paar einzelne Wolkenfetzen.

Craig entschied sich, Knack nicht sofort auf den Leuchtturm zusteuern zu lassen. Vorher wollte der Waisenjunge aber noch kurz an Land gehen, um dem Knucker eine kurze Ruhepause zu ermöglichen, und er war sich sicher, dass er auch Vance damit einen Gefallen tat. Seine Arme zitterten vor Vorfreude, als er sich weit über den Bug des kleinen Segelboots hinauslehnte, als könne er dadurch Knacks Schwimmtempo beschleunigen. Der Knucker war erschöpft und mühte sich sichtlich ab, zog aber weiterhin tapfer an der Leine, an dem er das Segelboot hinter sich herschleppte.

Schließlich schrammte der Kiel der Nussschale über den felsigen Uferboden und Craig sprang sofort von Bord und streckte seine Arme. Zum ersten Mal in seinem Leben betrat er Boden, der nicht zu seiner Heimatinsel gehörte. Für Craig war das ein äußerst feierlicher Moment und er blieb kurz stehen, um die Eindrücke dieses fremden Landes auf sich wirken zu lassen.

„Na endlich!“, freute er sich und drehte sich zu Knack um, der sich keuchend an Land schleppte. „Du warst großartig! Ohne dich wären wir aufgeschmissen gewesen!“

Der Knucker hechelte erschöpft und gab ein freudiges Glucksen von sich. „Ruh dich kurz aus“, sagte Craig mitfühlend.

Auch Vance ging an Land. Seine Knie zitterten kaum merklich, als er aus dem Boot kletterte. Es war ihm anzusehen, dass er heilfroh war, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. „Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte er sich.

„Ich sehe mich nur schnell ein wenig um, bis sich Knack erholt hat“, antwortete Craig. „Dort drüben habe ich einen Leuchtturm entdeckt. Vielleicht befindet sich dort eine Hafensiedlung.“

Vance schien abzuwägen, ob er lieber den Landweg wählen sollte. „Warte hier und pass auf das Boot auf, während ich weg bin!“, rief Craig ihm zu. „Vielleicht finde ich hier in der Nähe einen kleinen See oder einen Fluss, an dem ich meine Feldflaschen auffüllen kann.“

Knack knurrte zustimmend und rollte sich am Ufer zu einem Kreis zusammen. Vance nickte unwillig, band das Segelboot aber trotzdem an einem großen Felsen fest und setzte sich unweit der Gezeitenlinie in den Sand, während Craig den steilen Hang zur Straße emporstapfte.

Der Handelsweg war breit und gepflastert und obwohl Craig meilenweit sehen konnte, entdeckte er nicht einen einzigen Reisenden, der auf dieser Strecke unterwegs war. Er wunderte sich, denn die Straße war so gut ausgebaut, dass er damit gerechnet hatte, dass sie eine der wichtigsten Verbindungswege in diesem Teil von Shalaine darstellte. Offenbar hatte er sich geirrt. Er zuckte mit den Schultern und sah sich in der Gegend nach einer frischen Trinkwasserquelle um. Da er in nächster Umgebung weder einen See, noch einen Fluss entdecken konnte, merkte er sich die Stelle, an der sein Segelboot vertäut lag, und schlenderte suchend die Straße entlang. Im Osten wurde die Gegend zusehends bergiger und unübersichtlicher, deshalb entschied sich Craig, nach Westen zu gehen. Dort verdichteten sich die einzelnen Bäume zu einem kleinen Wäldchen.

Er war noch nicht weit gekommen, da entdeckte er etwas abseits der Straße einen schmalen, unscheinbaren Trampelpfad, der sich durch die Felsen schlängelte. Dahinter lag am Fuße der Ausläufer eines kleinen Berges und im Schatten einiger Bäume ein kleiner See und Craigs Herz machte vor Glück einen Satz, als er das frische Wasser erblickte. Jegliche Vorsicht vergessend rannte er los und ließ sich am Ufer des Sees erleichtert auf die Knie fallen. Er tauchte seine Arme so tief ins Wasser, dass die hochgekrempelten Ärmel seines Hemds nass wurden. In dem Wissen, dass er nicht mehr so streng auf die Einteilung seiner Vorräte achten musste, trank er gierig und benetzte sein salzverkrustetes Gesicht mit dem kühlen Nass. Es war eine wahre Wohltat nach der trostlosen Nacht auf dem Binnenmeer endlich wieder von Wasser umgeben zu sein, das er trinken konnte und Craig hätte noch Stunden an dem kleinen See verbringen können. Schließlich rief er sich wieder in Erinnerung, dass er nicht nach Wasser gesucht hatte, um darin zu planschen. Hastig füllte er seine Feldflasche randvoll und wollte sich gerade auf den Rückweg zu seinem Segelboot machen, als ihn ein Geräusch innehalten ließ.

Hinter einem gewaltigen Felsen rutschte irgendetwas Großes einen mit Schotter bedeckten Hang hinunter. Craig sah ein paar kleine Steinchen, die über den Boden rollten und ins Wasser plumpsten. Instinktiv machte er einen Schritt zurück. Dann schob sich ein riesiges Ungetüm hinter dem Felsen hervor. Es sah aus wie ein Wolf, hatte aber die Größe eines ausgewachsenen Rindes.

Beim Anblick des riesigen Monstrums erstarrte Craig vor Schreck. Obwohl er noch nie einen gesehen hatte, wusste er, dass es sich bei dieser Bestie um einen Warg handelte. Er wusste, dass die Orks von Darkenfell bekannt dafür waren, diese Ungetüme zu zähmen und auf ihnen in die Schlacht zu reiten. Und er wusste, dass Warge gefährliche Raubtiere waren, für die ein Mensch eine willkommene Zwischenmahlzeit war.

Das Wolfsmonster bewegte sich mit schwankenden Schritten auf den See zu und gab dabei ein hungriges Knurren von sich. Seine fast blinden, roten Augen blinzelten in die Sonne und Craig bemerkte erleichtert, dass der Warg ihn nicht entdeckt hatte.

Das Ungetüm senkte seinen Kopf und fing an, gierig zu trinken. Das Wasser verhinderte, dass der Warg Craigs Witterung aufnehmen konnte und während das Monster seinen Durst stillte, bewegte sich der Waisenjunge vorsichtig rückwärts. Sein Schwert hatte er in seinem Boot liegen lassen und ohnehin glaubte er nicht, dass er mit einem hungrigen Warg aufnehmen konnte. Das Vernünftigste war, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen.

Craig entfernte sich rückwärtsgehend langsam von dem See. Dabei konzentrierte er sich mehr auf jede Bewegung des Wargs, als auf den Weg, und stieß mit der Ferse gegen einen kleinen Stein, der sich löste und polternd dem Trampelpfad hinabrollte. Der Warg riss sofort den Kopf in die Höhe und bleckte die mörderischen Zähne. Seine zusammengekniffenen Augen fixierten Craig und dann riss das Ungetüm mit einem furchterregenden Brüllen seinen Kiefer auf.

Der Waisenjunge drehte sich sofort um und rannte los. Hinter sich hörte er, wie der Warg mit langen Sätzen das Ufer des Sees umrundete und hinter ihm herjagte. Craig flüchtete sich zurück auf die Straße und zwischen den Felsen verlor ihn sein Verfolger kurz aus den Augen. Der Warg blieb stehen, nahm schnuppernd Witterung auf und sprintete wieder los.

Craig rannte so schnell es seine Beine ermöglichten, doch das unheilvolle Knurren des riesigen Wolfs kam immer näher. Der Waisenjunge wusste, dass er dem Ungetüm zu Fuß niemals entkommen konnte und mit einem gehetzten Blick über seine Schulter, bei dem er mit Schrecken feststellte, dass der Warg ihn fast eingeholt hatte, verließ Craig mit einem verzweifelten Satz die Straße. Er stolperte den felsigen Hang zur Küste hinab und mit einem spitzen Schrei stürzte er sich kopfüber ins Meer. Der Warg bremste scharf ab und blieb schlitternd am Ufer stehen. Die fürchterlichen Krallen seiner Vorderpfoten zerkratzten den Felsen, auf dem er stand. Wütend starrte er auf Craig hinab, der sich schwimmend über Wasser hielt. Der Waisenjunge drohte dem Monstrum mit einer Faust. „Verzieh dich, du Drecksköter!“, rief er dem Warg entgegen. Das Ungeheuer tigerte noch eine Weile frustriert am Ufer auf und ab, doch dann gab es auf und verschwand mit ein paar kraftvollen Sprüngen auf der Küstenstraße.

„Netter Empfang“, brummte Craig und ließ seinen Blick die Gezeitenlinie entlang schweifen. Er entdeckte nicht weit entfernt sein Boot und Knacks Schwanzspitze, die hinter einem Felsen hervorlugte. Da er sich nicht sicher sein konnte, dass sich der Warg endgültig entfernt hatte, hielt er es für besser, den Rest des Rückwegs schwimmend zurückzulegen. Mit gleichmäßigen Armzügen glitt er durchs Wasser und warf dabei immer wieder nervöse Blicke den Hang hinauf, doch der Warg blieb verschwunden.

Vance hob verwundert den Kopf, als sich Craig neben ihm aus dem Wasser schob. „Wo kommst du denn jetzt her?“, fragte er.

„Frag nicht“, brummte Craig. „Ich hatte eine nicht besonders spaßige Begegnung mit einem Eingeborenen. Komm, die Straße ist nicht sicher. Wir sollten zusehen, dass wir wieder von hier verschwinden.“

Er weckte Knack und der erschöpfte Knucker knurrte unwillig. Craig blieb aber hart, löste energisch das Tau, mit dem er sein Segelboot festgemacht hatte, und trieb seinen Freund zur Eile an. „Komm schon, das ist kein guter Ort für ein Nickerchen“, rief er drängend. „Vertrau mir. Sobald wir den Hafen im Westen erreicht haben, kannst du dir ein ruhiges Plätzchen suchen und schlafen, so viel du willst.“

Knack grummelte leise und hievte sich langsam auf seine kurzen Beine. Der Knucker riss sein Maul auf und gähnte herzhaft. Dann stellte er plötzlich aufmerksam die Fortsätze an seinem Hinterkopf auf, als in der Ferne das unheilvolle Heulen eines Wargs erklang. Vance griff nach seinem Hackebeil.

„Glaub mir, ihr wollt nicht wissen, was das ist“, brummte Craig und kletterte an Bord des kleinen Segelboots. Vance folgte ihm, ohne die Uferböschung aus den Augen zu lassen. Knack hob neugierig seinen Kopf und nahm Witterung auf, doch als Craig ihn erneut rief, machte er kehrt und glitt ins Wasser. Der Waisenjunge wusste, dass sein Partner erschöpft und ausgelaugt war, aber er wollte nicht, dass Knack als Mittagessen für einen Warg endete. Prüfend streckte er einen Finger in die Luft. Es wehte nur eine leichte Brise, aber sie kam aus Osten.

„Komm an Bord“, rief er Knack zu. „Dann kannst du dich ein wenig ausruhen. Der Wind wird uns in die richtige Richtung tragen.“

Der Knucker ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprang aus dem Wasser, schlug seine Krallen in die Planken des kleinen Segelboots und hievte die Hälfte seines schlangenartigen Körpers mit einem angestrengten Ächzen an Bord, wo er hechelnd liegen blieb. Sein Schwanz hing noch immer ins Wasser, aber Knack schloss einfach die Augen und fing wenige Atemzüge später bereits zu schnarchen an.

Craig schmunzelte und strich seinem treuen Begleiter über den Kopf. Dann setzte er das Segel des kleinen Boots und ließ sich langsam nach Westen treiben.

Während sie an der Küste entlang segelte, behielt Craig die Straße im Auge, doch diese wirkte noch immer verlassen. Er war sich sicher, dass die Warge der Grund dafür waren, dass dieser Handelsweg nicht so hochfrequentiert war, wie er eigentlich erwartet hatte, doch er entdeckte auch keine wilden Tiere entlang der Straße. Wahrscheinlich war seine Begegnung mit dem Wolfsmonster nur ein unglücklicher Zufall gewesen, denn das Küstengebiet schien fast vollständig unbewohnt zu sein.

Schließlich segelten sie an dem kleinen Wäldchen vorbei, dass Craig bereits bei seinem kurzen Landgang entdeckt hatte. Die Bäume waren alt und moosbewachsen, doch trotz ihrer imposanten Größe war der Hain, den sie bildeten, nicht besonders dicht. Craig erkannte weiter im Landesinneren allerdings noch höhere Wipfel, deren Blätter im Wind rauschten. Nach Norden hin wurde aus dem lichten Wäldchen offenbar ein großer, dichter Forst.

Dann tat sich vor Craigs Augen eine natürliche Bucht auf, die von hohen, glatten Klippen gesäumt war. Mächtige Mauern grenzten die friedliche Lagune vom Festland ab und an der Küste lag eine große Hafenstadt. Craig erkannte ärmliche Fischerhütten aus verwittertem Holz und massive, aus Stein errichtete Gebäude mit Strohdächern. Auf den ersten Blick erinnerte ihn die Stadt an Notting, bevor die Piraten vor neun Jahren einen Großteil der Insel geplündert und niedergebrannt hatten. Augenblicklich fing das alte Narbengewebe in seinem Gesicht an zu pochen, als würde sich auch die Verletzung an den Überfall der Seeräuber erinnern. Craig rieb sich den Nasenrücken und die verbrannten Wangen. Dieser Hafenstadt schien ein solches Schicksal bislang erspart geblieben und der Waisenjunge bezweifelte, dass sie jemals von einem Piratenüberfall derartig in Mitleidenschaft gezogen werden konnte, wie Notting. Die Bucht mit ihren hohen Klippen bot natürlichen Schutz und von dem Leuchtturm aus, der auf einer weit ins Binnenmeer hineinragenden Landzunge erbaut worden war, konnte man feindliche Schiffe bereits aus meilenweiter Entfernung entdecken. Außerdem war die Anwesenheit der Kaiserlichen Armee an diesem Ort mehr als deutlich zu erkennen. Wimpel mit dem goldenen Löwenkopf flatterten im Wind und an einem besonders großen Gebäudekomplex aus massivem Stein hingen mächtige Banner mit demselben Motiv.

Mit offenem Mund steuerte Craig sein kleines Segelboot in die Bucht hinein und auf den Hafen zu. An den Landungsbrücken lagen mehrere Schiffe unterschiedlichster Größen vor Anker und die Hütten der Fischer erstreckten sich an der gesamten Küstenlinie entlang bis zu der Landzunge, auf der der Leuchtturm thronte, und den hohen Klippen, die die Bucht einrahmten. Vance schien dieser Anblick überhaupt nicht zu beeindrucken. Teilnahmslos saß er im Heck des Boots und schien es gar nicht erwarten zu können, die schwankenden Planken wieder gegen festen Boden austauschen zu können.

Craig weckte Knack. Der Knucker knurrte missgestimmt ob der Tatsache, dass er bereits zum zweiten Mal an diesem Tag um seinen Schlaf gebracht wurde. „Tut mir leid, Kumpel“, entschuldigte sich Craig kleinlaut. „Aber du weißt ja, wie das mit den Einwohnern ist. Wir können nicht wissen, wie die Leute auf dich reagieren.“ Er sah sich um und deutete schließlich auf die Klippen, die westlich der Landzunge aufs Meer hinausragten. „Du wirst nochmal schwimmen müssen“, stellte er fest. „Aber jenseits der Klippen findest du bestimmt ein ungestörtes Plätzchen, an dem du dich ausruhen kannst. Dort findet dich niemand. Ich werde dann später nach dir suchen.“

Knack gähnte müde und blinzelte Craig zögernd an. Er schien dem Jungen nicht von der Seite weichen zu wollen. „Komm schon“, drängte Craig. „Das erspart uns eine Menge Ärger. Was soll mir schon passieren? Ich bin ja nicht allein.“ Er warf Vance einen kurzen, verstohlenen Blick zu.

Knack protestierte quäkend, doch letztendlich ließ er sich über die Reling des Segelboots gleiten und tauchte ins Wasser. Craig sah dem rostroten Schatten nach, der sich mit gleichmäßigen Schlangenbewegungen entfernte und dann langsamer wurde. Knack streckte noch einmal den Kopf aus den Wellen und starrte Craig mit seinen großen Augen unsicher an. Doch der Waisenjunge hob nur den Arm und deutete auf die Klippen im Westen. Knack zögerte einen Moment, doch letztlich wandte er sich um, schloss seine Nasenlöcher und verschwand unter der Wasseroberfläche.

Craig wartete nicht länger, sondern manövrierte sein kleines Boot in Richtung der Anlegestellen. Er fand einen Platz, an dem er seinen Kahn vertäuen konnte, und betrat den Steg zusammen mit Vance.

„Ich danke dir“, sagte der Dorashen. „Du hast uns beide zwar fast umgebracht, aber du hast mich auch von dieser Insel weggebracht. Ich schulde dir was.“

„Was hast du jetzt vor?“, fragte Craig neugierig. Insgeheim hoffte er, dass sich Vance auf einen Streifzug ins Landesinnere begeben würde, auf dem er ihn begleiten könnte. Craig konnte sich nichts aufregenderes vorstellen, als mit einem Dorashen durch ferne Länder zu reisen.

Aber Vance musste ihn enttäuschen. „Ich werde mich hier nach Arbeit umsehen“, erklärte er achselzuckend. „Und wenn ich lange genug hier war, werde ich weiterziehen.“

Craig dagegen hatte nicht vor, lange in der Stadt zu bleiben. Er war zwar durchaus neugierig, sie bis in ihre abgelegensten Gassen zu erkunden, aber er konnte sich nur schwer vorstellen, dass das Leben hier viel ereignisreicher als auf Notting sein würde. Vor allem der kleine Bezirk mit den ärmlichen Fischerhütten erinnerte ihn stark an seine Heimatinsel.

Neben ihm kniete ein dunkelelfischer Fischer, der gerade seinen Fang inspizierte. In seinem Netz zappelten ein paar kleine Silberbarben und Meerbrassen und der Dunkelelf schien nicht besonders zufrieden zu sein.

„Kein guter Fang heute?“, erkundigte sich Craig.

Der Dunkelelf blickte auf. Schwarzes, strähniges Haar hing ihm wirr in die Stirn, die von einer waagerechten, blassen Narbe durchzogen wurde. Seine schwarzen Augen blitzten für einen Sekundenbruchteil wütend auf, doch dann entspannten sich die Gesichtszüge des Mannes. „Es könnte besser sein. Es war aber auch schonmal schlimmer“, antwortete er brummig und wandte sich wieder seinen Netzen zu. „Es reicht, um zu überleben.“

Craig stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Hafen um. Hier gab es keine Häuser, bis auf das große Gebäude mit den Bannern des Kaisers. Die eigentliche Stadt begann erst dahinter, wenn man von den maroden Fischerhütten am Rande des Hafens absah.

„Was ist das hier für eine Stadt?“, erkundigte sich Craig.

Der Dunkelelf ließ von seinem Fang ab und starrte den Jungen ungläubig an. „Das weißt du nicht?“, wunderte er sich. „Dann musst du zufällig hierhergekommen sein. Ziemlich mutig von dir, das Binnenmeer mit so einer Nussschale zu durchqueren.“ Er nickte in Richtung des kleinen Segelbootes, das Craig an der Anlegestellte festgebunden hatte. „Diese Stadt hier ist Eydar, das Tor zur Halbinsel Adamas“, fuhr der Dunkelelf fort. „So wird sie jedenfalls von diesen verfluchten Soldaten genannt.“

Craig entging nicht, dass in den Augen des Dunkelelfen Hass aufblitzte. „Du magst die Soldaten wohl nicht besonders, was?“, fragte er zögernd.

Der Dunkelelf zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich sollte ich ihnen dankbar sein“, brummte er missmutig. „Sie haben Eydar zu dem gemacht, was es heute ist. Bevor sich die Armee hier niedergelassen hat, war das nur eines von vielen Fischerdörfern an der Küste, die ständig den Raubzügen der Banditen und Plünderer aus dem Landesinneren zum Opfer gefallen ist. Seit die Soldaten hier sind, wagt es keine Räuberbande mehr, die Stadt zu überfallen. Mit ihnen kam die Sicherheit nach Eydar und mit der Sicherheit der Reichtum. Wobei Reichtum relativ ist. Die einen schwimmen im Geld, die anderen haben gerade genug, um zu überleben. Aber das ist trotzdem mehr, als wir hatten, bevor die Armee hier aufgekreuzt ist.“

„Lebst du schon lange hier?“, wollte Craig neugierig wissen.

Der Dunkelelf kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Du stellst ganz schön viele Fragen, weißt du das?“, sagte er misstrauisch. „Vielleicht solltest du dich erst einmal vorstellen, bevor du mich weiter löcherst.“

„Oh, Verzeihung“, rief Craig verlegen und streckte dem Dunkelelfen hastig die Hand entgegen. „Mein Name ist Craig.“

Der Dunkelelf deutete mit einem Kopfnicken auf Vance, der teilnahmslos danebenstand. „Und wer ist das?“, wollte er wissen.

„Ach, niemand Wichtiges“, erwiderte Craig und grinste nervös. „Weißt du, das ist alles neu für mich. Es ist nämlich das erste Mal, dass ich meine Heimatinsel verlassen habe.“ Noch immer hielt er dem Mann die Hand hin. Er hatte schon das Gefühl, dass seine Begrüßung einfach ignoriert werden würde, aber schließlich klopfte sich der Dunkelelf die schmutzigen Finger ab und stand auf.

„Du gehst wohl auf große Wanderschaft, was?“, brummte er und schüttelte Craigs Hand. Seine Arme waren dünn, aber sein Griff kräftig. „Hab ich auch mal versucht, war aber nicht mein Fall. Ich bin Gilroy. Und um deine Frage zu beantworten: Ja, ich lebe schon eine Weile hier, aber Eydar ist nicht meine Heimat. Ich komme ursprünglich vom Festland von Shalaine.“

„Das Festland von Shalaine“, wiederholte Craig ehrfurchtsvoll und erinnerte sich daran, wie Hiob ihm von seiner Heimat erzählt hatte. „Wie ist es da so?“

„Heiß“, antwortete Gilroy knapp.

Craig wartete kurz in der Hoffnung, dass Gilroy die Erzählung von seiner Heimat noch etwas ausführen würde, doch der Dunkelelf ging wieder in die Knie und fing an, die Fische, die er gefangen hatte, aus dem Netz zu nehmen und in eine Holzkiste zu legen. Seine Herkunft schien nicht das liebste Gesprächsthema von Gilroy zu sein, aber Craig kam ohnehin nicht dazu, weiter nachzufragen, denn ein brünetter Mann mit eitel in die Luft gereckter Nase kam den Steg entlang stolziert und steuerte direkt auf Craigs Boot zu.

„Aus dem Weg, Gilroy!“, rief er barsch und stieß dem Dunkelelfen im Vorbeigehen heftig das Knie gegen die Schulter. Gilroy verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorne und musste sich mit einem Arm abstützen, um nicht umzufallen.

„Aulus!“, zischte er gehässig. „Was soll das, du aufgeblasener Fatzke?“

Aulus drehte sich schwungvoll um und sein Pferdeschwanz fiel ihm über die Schulter. „Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“, forderte er hochnäsig. „Sonst klage ich dich der Beamtenbeleidigung an. Und du weißt, dass Brigadegeneral Loronk die Zügel deutlich strenger angezogen hat.“ Gilroy drehte sich knurrend weg und hantierte an seinem Netz herum.

Aulus stemmte triumphierend die Hände in die Hüften und wandte sich Vance zu. „Nun zu dir!“, rief er anklagend. „Gehe ich recht in der Annahme, dass dies dein Boot ist?“

Vance blinzelte Aulus verwirrt an.

„Wer bist du denn?“, mischte sich Craig argwöhnisch ein.

Aulus reckte wichtigtuerisch die schmale Brust vor. „Ich kann mich nicht erinnern, dich angesprochen zu haben“, sagte er schnippisch und wandte sich wieder Vance zu, den er offenbar noch immer für den Besitzer des Segelboots hielt. „Ich bin Aulus, Novize des Ordens der Goldenen Falken. Seit Neuestem bin ich dafür verantwortlich, dass im Hafen alles seinen geregelten Gang geht. Und im Zuge meiner Aufgabe muss ich dich darüber informieren, dass diese Anlegestelle kostenpflichtig ist.“

„Halt mal die Luft an!“, rief Craig empört. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er vollkommen ignoriert wurde, nur weil er kleiner war als Vance. „Das ist mein Boot.“

„Ach wirklich?“, erwiderte Aulus und rümpfte die Nase. „Nun gut, dann wirst eben du die Hafensteuer entrichten. Im Grunde ist es ja auch egal, wer bezahlt.“

„Ich bin neu hier und wusste nicht, dass man für diese Anlegestelle bezahlen muss“, verteidigte sich Craig und bereute plötzlich, dass er sich so forsch eingemischt hatte. „Und leider habe ich überhaupt kein Geld bei mir.“

„Was ist mit deinem Schwert?“, fragte Aulus und seine Augen glänzten gierig. „Das sieht wertvoll aus. Ich denke, es würde als Bezahlung genügen.“

„Vergiss es“, sagte Craig entschieden. „Von meinem Schwert trenne ich mich nicht. Wenn es so ein großes Problem ist, dass ich mein Boot hier festgebunden habe, dann bringe ich es eben irgendwo dort drüben am Strand unter.“

„Dafür ist es zu spät!“, rief Aulus überheblich. „Du hast hier angelegt, ohne dich bei der Hafenmeisterin zu melden. Es ist ein Verbrechen, wenn du die Gebühr nicht entrichtest.“

„Ich hatte doch noch gar keine Gelegenheit, mich irgendwo zu informieren!“, protestierte Craig.

„Das ist mir doch egal!“, entgegnete Aulus schnippisch und stapfte energisch mit dem Fuß auf. „Du kannst nicht bezahlen, also wirst du deine Schuld auf andere Art und Weise begleichen müssen!“

„Und du willst mich dazu zwingen?“, fragte Craig spöttisch und der selbstgefällige Ausdruck auf Aulus‘ Gesicht erstarb augenblicklich. Hektisch blickte er sich um, doch es waren keine Wachen in der Nähe, die er zu Hilfe rufen konnte. Er wich einen Schritt zurück, dann räusperte er sich und fuhr mit einer Hand über seinen Pferdeschwanz.

„Du kannst froh sein, dass ich heute so nachsichtig gestimmt bin“, verkündete er großspurig. „Ich lasse dir deinen Frevel ausnahmsweise durchgehen, weil du ein ahnungsloser Fremder bist. Aber solltest du erneut negativ auffallen, bekommst du gewaltigen Ärger, verstanden? Und jetzt schaff deine Nussschale hier weg!“ Er machte auf dem Absatz kehrt, bevor er feststellen konnte, dass seine Worte keine besonders einschüchternde Wirkung auf Craig hatten. Mit langen Schritten entfernte sich der Novize wieder von der Anlegestelle.

„Was war das denn für ein Aufschneider?“, wunderte sich Craig. Gilroys Blick verfinsterte sich. „Aulus ist ein Wichtigtuer, da magst du recht haben“, bestätigte er. „Aber er gehört zum Orden der Goldenen Falken und mit denen legt man sich besser nicht an.“

Craig blies grimmig die Backen auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mir doch egal, zu welchem Orden dieses aufgeblasene Großmaul gehört. Die machen mir keine Angst.“

Gilroy schüttelte ungläubig den Kopf. „Du scheinst dir hier wirklich schnell Freunde zu machen“, erwiderte er zynisch.

„Und wenn schon“, gab Craig ungerührt zurück und zuckte mit den Schultern. „Ich bin ja auch nicht hierhergekommen, um mich beliebt zu machen.“



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