Zum Inhalt der Seite

Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Obwohl die Insel Notting zum Herrschaftsbereich des Dunkelelfenkönigs Sard gehörte, bildeten die Menschen einen Großteil der Bevölkerung. Die Bewohner lebten fast ausschließlich vom Fischfang und fristeten ein bescheidenes Leben. Die Insel war aufgrund ihrer vielen Sonnenstunden ein angenehmes Fleckchen Land inmitten des Binnenmeeres, wenngleich deutlich sichtbar war, dass sie schon bessere Zeiten erlebt hatte. Besonders der einstmals prächtige Hafen war längst vor die Hunde gegangen und bestand inzwischen nur noch aus einem schmalen Anlegeplatz, an dem nicht mehr als zwei Schiffe gleichzeitig ankern konnten. Große Mauerreste, die halb im Meer versunken waren, zeugten noch von den Ausmaßen, die der Hafen in früheren Zeiten angenommen hatte.
 

Einer der Bewohner Nottings war Craig, ein blonder Waisenjunge von siebzehn Jahren, der sein Leben in einem kleinen Lager am Fluss fristete und damit vollauf zufrieden schien. Er brauchte nicht viel und das Nötigste konnte er sich selbst beschaffen. Da es selbst im Winter selten kalt wurde, war sein weites Hemd die perfekte Bekleidung für das angenehme Klima auf der Insel. Um über die Runden zu kommen, hatte er sich über die Jahre ein kleines Arsenal hilfreicher Werkzeuge zugelegt. Mit Hammer und Nägeln besserte er seinen aus Brettern und Schiffsplanken gezimmerten Unterstand aus, falls ein seltener Sturm ihn derartig beschädigt hatte, dass er den noch selteneren Regen nicht aufhielt, mit einer Säge schnitt er Treibholz auf die richtige Größe zu, um es zur Reparatur verwenden zu können, und seine alte Angel taugte noch genug, um den einen oder anderen dicken Fisch aus dem Wasser ziehen zu können.

Obwohl die alten Brandnarben auf seinem Nasenrücken und seinen Wangen die Geschichte einer schweren Vergangenheit erzählten, war Craig ein fröhlicher und lebenslustiger Zeitgenosse. Er war beliebt bei den anderen Bewohnern der Insel, da er stets tatkräftig mitanpackte, wann immer man ihn um etwas bat. Er verlangte nie etwas als Gegenleistung für seine Hilfe und nicht wenige seiner Mitmenschen schüttelten immer wieder verständnislos den Kopf, wenn er eine Bezahlung ablehnte. Sie konnten nicht verstehen, dass er alles, was er brauchte, eigentlich schon besaß.

Natürlich war der hochgewachsene Junge immer froh, wenn er umsonst ein paar Vorräte bekam. Es kam immer wieder vor, dass ihm der Fisch, den er für gewöhnlich an seinem kleinen Lager am Fluss angelte, zum Hals heraushing, und so freute er sich immer, wenn ihm einer der Inselbewohner ein Stück Räucherschinken oder ein wenig Gemüse überließ. Für die gesamte Bevölkerung Nottings war er schon so etwas wie ein Familienmitglied, das kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte. Allerdings hielt er sich mit Besuchen in den Wohnhäusern dezent zurück. Der einzige Ort, den er regelmäßig aufsuchte, war die Taverne der Insel.

Das einzige, was dem Craig wirklich fehlte, waren Abenteuer. Das Leben auf der Insel war eintönig und in seinem jugendlichen Tatendrang sehnte er sich danach, mit seinem Schwert loszuziehen und die Welt zu erkunden. Die Waffe, deren Griff und Heft mit Silber veredelt waren, war sein einziger wirklich wertvoller Besitz und er würde sich niemals davon trennen. Er verwahrte es sicher in einer Truhe in seiner Hütte, holte es aber immer wieder hervor, um es zu betrachten. Dann strich er andächtig über den meisterhaft geschmiedeten Stahl, drehte und wendete das Schwert in seinen Händen und sah zu, wie seine Klinge das Licht der Sonne blitzend reflektierte. Immer wieder malte er sich aus, wie er, mit der Waffe in seiner Hand, die größten Heldentaten vollbrachte, und er übte regelmäßig, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Er gab ein komisches Bild ab, wenn er das Schwert, das er nur mit beiden Händen führen konnte, gegen unsichtbare Feinde schwang und damit die Luft zerschnitt. Trotzdem fühlte er sich wie einer der Helden aus den alten Geschichten, die ihm seine Eltern immer wieder erzählt hatten, als sie noch am Leben gewesen waren. Eines Tages, das sagte er sich immer wieder, würde er seine Heimatinsel verlassen, um auf dem Festland das Abenteuer zu suchen, nachdem er sich sehnte. Doch bislang hatte er es noch nicht gewagt, zu seiner großen Reise aufzubrechen, und so tauschte er sein Schwert noch immer regelmäßig gegen seine Angel.

So hatte er auch an diesem Morgen die Rute ausgeworfen und wartete mit knurrendem Magen darauf, dass sich die Schnur spannte. Leider wollten die Fische nicht so recht beißen. Seit mehreren Stunden hielt Craig die Angel bereits ins Wasser und hatte bislang lediglich eine kleine Silberbarbe an Land ziehen können. Offenbar hatten sich ein paar Bluthechte aus dem offenen Meer in den Fluss verirrt, die sich nun über die heimischen Speisefische hermachten.

Craig verzog das Gesicht beim Gedanken an die Raubfische. Die Biester wurden im Normalfall gut zwei Meter lang, doch im offenen Meer erreichten sie in Ausnahmefällen sogar eine Körperlänge von bis zu fünf Metern. Craig hatte auch schon Schauermärchen von einigen Seeleuten gehört, die beim abendlichen Stelldichein in der örtlichen Taverne von Riesenviechern erzählten, die so lang waren, wie ein kleines Kriegsschiff der Armee. Craig glaubte nicht daran und selbst wenn die Geschichten wahr sein sollten, würde sich ein solches Ungetüm wohl kaum in diesen Fluss verirren. Dafür war das Wasser viel zu seicht. Vermutlich waren es nur Jungtiere, die hier Jagd auf andere Fische machten.

Bluthechte schreckten nicht vor Attacken auf Menschen zurück. Ein solcher Angriff endete zwar selten tödlich und wenn doch, dann waren meist mehrere ausgewachsene Raubfische daran beteiligt. Trotzdem waren sie alles andere als ungefährlich, denn ihre Zähne waren rasiermesserscharf und eine Begegnung mit ihnen führte in den meisten Fällen zu üblen Bisswunden. Im Normalfall waren sie Einzelgänger, da sie sich auch kannibalisch ernährten, aber ab und zu taten sie sich zu kleineren Schwärmen zusammen. Die Jungtiere waren eine Ausnahme. Sie lebten ausschließlich in Gruppen und hatten noch keine richtigen Zähne. Das machte sie jedoch nicht minder gefährlich, denn sie waren wie übergroße Blutegel, die sich im offenen Meer an den Körper ihrer wesentlich größeren Opfer hafteten und sich solange mit deren Blut vollpumpten, bis entweder kein Tropfen mehr übrig oder der Hecht ausgewachsen war. Riss man sich die schmarotzenden Fische vom Körper, resultierte das in schlimmen Fleischwunden und die Gefahr, sich eine schwerwiegende Infektion einzufangen, war enorm hoch. Craig hielt vorsichtshalber großzügigen Abstand zum Wasser. Schon oft hatte er davon gehört, dass sich Bluthechte sogar ein paar Meter über das Ufer robben konnten, um ihr nichtsahnendes Opfer zu packen und ins Wasser zu zerren oder ihm einen Brocken Fleisch aus dem Körper zu reißen.

Craig war in Gedanken völlig bei plötzlichen Angriffen von Bluthechten, als etwas laut prustend durch die Wasseroberfläche brach und sich direkt neben ihm ein länglicher Körper an ans Ufer hievte. Der Waisenjunge bekam einen Riesenschreck, schnellte aus der Hocke in die Höhe, rutschte im feuchten Gras aus und landete schmerzhaft auf dem Hinterteil. Für einen Augenblick blieb sein Herz fast stehen und er glaubte, tatsächlich von einem Bluthecht angefallen worden zu sein, doch statt rasiermesserscharfer Zähne an seiner Kehle spürte er eine speicheltriefende Zunge, die ihm über die vernarbte Wange leckte.

„Aufhören!“, beschwerte sich Craig und hob schützend seine Arme vor das Gesicht. Vor ihm kauerte ein schlangenartiges Reptil, das auf seinen Befehl hin wie ein Schoßhund den Kopf schieflegte und den Waisenjungen aus roten Augen treuherzig anglotzte. In seinen Mundwinkeln auf beiden Seiten jeweils ein langer, spitzer Fangzahn aus seinem Oberkiefer hervor. Statt Ohren wuchsen zwei flossenartige Auswüchse aus seinem Hinterkopf, die neugierig zuckten. Craig wischte sich mit dem Handrücken über seine triefnasse Wange und sah das rostrot geschuppte Wesen angeekelt an. „Du hast mich erschreckt, Knack“, schimpfte er und das ungewöhnliche Tier ließ traurig die Fortsätze an seinem Kopf hängen. „Ich habe schon gedacht, dass du ein Bluthecht bist, der mir das Bein abreißen will.“ Wie auf Kommando wuchtete das Reptil seinen langen Körper herum und verschwand mit lautem Platschen wieder in den sanften Wellen des Flusses.

Knack war ein jugendliches Exemplar eines Knuckers. Bei diesen Wesen handelte es sich um eine Unterart der Drachen, die sich nahezu perfekt an ein Leben im Wasser angepasst hatten. Im Gegensatz zu ihren geflügelten Vettern, die kaum ein lebender Mensch je zu Gesicht bekommen hatte, konnten sie kein Feuer speien, dafür verfügten sie über Giftzähne mit einem lähmenden Toxin, das für kleinere Lebewesen tödlich sein konnte. Ihren schlangenartigen Körper bewegten die Knucker mit zwei kurzen, aber kräftigen Beinen vorwärts, wobei Hinter- und Vorderläufe so weit voneinander entfernt waren, dass ihre Körpermitte ständig über den Boden schleifte. Sie waren nicht geschaffen, an Land längere Strecken zurückzulegen, umso wohler fühlten sie sich im Wasser. Über ihren Schultern wuchsen kleine, verkümmerte Flügel, die viel zu schwach waren, um ihre schweren Körper in die Lüfte heben zu können. Stattdessen wussten die Knucker sie sehr geschickt als Flossen einzusetzen.

Als Craig Knack vor drei Jahren gefunden hatte, war dieser noch ein Jungtier gewesen. Später hatte Craig erfahren, dass sich erwachsene Knucker nicht um ihren Nachwuchs kümmerten. Die Weibchen legten ein oder zwei Eier und brüteten, aber sobald die Jungen schlüpften, wurden sie von ihren Eltern ihrem Schicksal überlassen. Ein paar Möwen hatten in Knack leichte Beute gesehen und den frisch geschlüpften Drachen mit ihren scharfen Schnäbeln traktiert. Als Craig aufgetaucht war und die Vögel verscheucht hatte, war der Knucker bereits mehr tot als lebendig. Der Waisenjunge hatte Knack mitgenommen und ihn wieder aufgepäppelt. Seither lebte der Knucker hier am Flussufer. Craig hatte beschlossen, Knack von den anderen Inselbewohnern fernzuhalten, da er nicht genau wusste, wie sie auf einen lebendigen Drachen reagieren würden, auch wenn Knack mit seinen großen, treuen Hundeaugen nicht besonders furchterregend wirkte. Das Risiko, dass die Bevölkerung den Knucker für eine potenzielle Gefahr hielt, war Craig einfach zu groß. Hier am Fluss gab es ohnehin genug Platz für Knack und es bestand kaum die Möglichkeit, dass ihn jemand zufällig entdeckte.

Craig sah zu, wie der Knucker knapp unter der Wasseroberfläche als verschwommener, roter Streifen seine Kreise zog. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung seines langen Schwanzes, katapultierte er sich regelrecht in das Dickicht aus Tang und Algen in Ufernähe und tauchte Sekundenbruchteile später direkt vor Craig wieder auf. In seinen Kiefern zappelte ein ausgewachsener Bluthecht.

„Da ist ja ein toller Fang“, brummte Craig wenig begeistert. Knack gab ein zufriedenes Glucksen von sich und brach dem sich noch immer windenden Bluthecht in seinem Maul mit einem kräftigen Biss das Rückgrat. Als er seine Kiefer öffnete, fiel der glitschige Körper des Fisches zu Boden und landete neben der Silberbarbe im Gras. Craig musste mit Ernüchterung feststellen, dass Knacks Beute mehr als zehnmal so lang war, wie der von ihm geangelte Fisch. Diese Tatsache beleidigte seinen Stolz als Überlebenskünstler. Er gab es nur ungern zu, aber Bluthecht schmeckte ausgesprochen lecker. Noch dazu knurrte sein Magen nun schon seit Stunden und die Silberbarbe allein würde seinen Hunger mit Sicherheit nicht stillen können. Knack sah ihn an, wie ein Hund, der gestreichelt werden wollte. „Also gut“, seufzte Craig und fing an zu grinsen. „Das hast du wirklich nicht übel gemacht. Das ist ein richtiges Festmahl, was du mir da aus dem Wasser gefischt hast! Aber erschreck mich nicht wieder.“ Knack gluckste glücklich und wippte eifrig mit dem Kopf, bis Craig ihn unter dem Kinn kraulte.
 

Kurze Zeit später hingen der Bluthecht und die Silberbarbe auf Stöcken aufgespießt über einem prasselnden Feuer. Craig lief beim Anblick der Fische das Wasser im Mund zusammen, während sich Knack wie eine Schlange zusammengerollt hatte und döste. Der Knucker war ein Selbstversorger und hatte im Fluss weitere Fische gefangen, mit denen er sich den Bauch vollgeschlagen hatte, während sich Craig auf die Suche nach Feuerholz begeben hatte. Als der Waisenjunge der Meinung war, dass sein Mittagessen lange genug gebraten worden war, nahm er die Stöcke vom Feuer und fing an, die beiden Fische mehr schlecht als recht mit einem kleinen, viel zu stumpfen Messer zu filetieren. Die Gräten warf er achtlos beiseite und stürzte sich schließlich mit Heißhunger auf das übriggebliebene Fleisch. Die beiden Fische waren im Nu vertilgt und Craig legte sich gesättigt neben Knack ins Gras. Zufrieden tätschelte er seinen vollen Bauch. „Das hat wirklich ausgezeichnet geschmeckt“, lobte er sich selbst und streichelte die glatten Schuppen des Knuckers. „Danke für den Hecht. Der war echt lecker.“ Knack gab ein wohliges Knurren von sich. Er genoss die Streicheleinheit sichtlich. Craigs Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an.

„Mal angenommen, ich würde diese Insel verlassen wollen…“, wandte er sich wieder an den Knucker. „Würdest du mich dann begleiten?“ Er war überzeugt davon, dass der Wasserdrache ihn verstehen konnte. Knack bewegte seinen Kopf und sah Craig mit großen Augen an. „Ja, das würdest du“, gab sich der Waisenjunge selbst eine Antwort auf seine Frage. „Du würdest mit mir durch dick und dünn gehen.“ Craig ließ seinen Blick sehnsüchtig aufs Meer hinaus schweifen. Bei besonders gutem Wetter konnte man jenseits des Binnengewässers das Festland von Shalaine erkennen. Allein der Name der Heimat der Dunkelelfen klang verführerisch nach Abenteuern.

„Träumst du schon wieder, Craig?“

Die Stimme riss den Waisenjungen aus seinen Gedanken und er sah sich erschrocken um. Durch die Binsen an der Uferböschung kam ein großgewachsener Dunkelelf auf ihn zu. Obwohl die Falten in seinem Gesicht und die grauen Strähnen in seinem schwarzbraunen Haaren von seinem fortgeschrittenen Alter zeugten, war er eine große und stattliche Erscheinung. Selbst die einfache Tunika, die er trug, tat seinem eindrucksvollen Auftreten keinen Abbruch. An seinen spitzen Ohren hingen mehrere Messingringe und seine linke Gesichtshälfte wurde in der Vertikalen von einer langen, hässlichen Narbe geteilt. Dort, wo sich eigentlich ein Auge befinden sollte, klaffte ein dunkles Loch.

„Verdammt nochmal, Hiob!“, beschwerte sich Craig, dem schon zum zweiten Mal an diesem Tag beinahe das Herz stehen geblieben wäre. „Muss mich heute denn wirklich jeder zu Tode erschrecken?“

Der Dunkelelf kicherte wie ein kleiner Junge. „Aber Craig“, sagte er. „Ein Held lässt sich doch nicht so einfach erschrecken.“

Craig verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und wandte sich von Hiob ab. „Bist du nur hergekommen, um dich über mich lustig zu machen?“, fragte er den Dunkelelfen. Seit dem Tod seiner Eltern war Hiob wie ein Vater für ihn. Er hatte ihm alles beigebracht, was er heute wissen musste, um über die Runden zu kommen. Er hatte ihm gezeigt, wie man einen Unterstand baute, hatte ihm die besten Stellen zum Angeln verraten und ihn sogar ein paar Lektionen im Schwertkampf erteilt.

Hiob war auch dabei gewesen, als Craig Knack gefunden hatte. Er hatte dem Jungen geholfen, den Knucker wieder auf die Beine zu bringen. Craig konnte sich noch gut daran erinnern, wie er mit großen Augen dabei zugehört hatte, wie ihm Hiob von der Lebensweise der Knucker erzählt hatte. Der Dunkelelf war auch derjenige gewesen, der Craig den Ratschlag gegeben hatte, Knacks Existenz vor dem Rest der Inselbewohner zu verheimlichen.

Und zu guter Letzt stammte auch das Schwert, das der Junge hütete, wie seinen Augapfel, von Hiob. Craig wusste nicht, wie die wertvolle Waffe in seinen Besitz gelangt war, denn es war auf der ganzen Insel bekannt, dass der Dunkelelf kein Geld besaß. Hiob sah sich selbst als großer Dichter, aber tatsächlich war er ein hoffnungsloser Fall. Sein Talent und seine Begeisterung für Lyrik standen in keinem Verhältnis zueinander. Deshalb half er gelegentlich am Hafen beim Be- und Entladen von Handelsschiffen, um sich seine wenigen Münzen zu verdienen, die er benötigte, um am Leben zu bleiben. Ein Schwert wie jenes, das er Craig geschenkt hatte, überstieg das Fassungsvermögen seines Geldbeutels um Längen. Hiob hatte immer behauptet, es sei ein Erbstück von Craigs Vater gewesen, das er aus den Trümmern seines Hauses hatte retten können, nachdem dieses abgebrannt war. Aber der Waisenjunge konnte sich nicht erinnern, das Schwert jemals in den Händen seines Vaters gesehen zu haben.

„Ich wollte einfach mal nach dir sehen“, erklärte Hiob und setzte sich neben Craig ins Gras, wobei er Knack, der inzwischen eingenickt war, beiläufig über den Kopf strich. „Du hast dich schon seit zwei Tagen nicht mehr in der Taverne blicken lassen. Beißen die Fische so gut?“

„Sie werden gebissen“, erwiderte Craig lakonisch.

Hiob lachte und warf einen Blick auf Knack. „Du hast es echt gut, weißt du das?“, fragte er. „Es hat nicht jeder einen zahmen Knucker, der beim Fischfang hilft.“

Craig antwortete nicht, sondern starrte stumm aufs Meer hinaus. Hiob sah ihn eine Weile von der Seite an, dann richtete auch er seinen Blick in die Ferne. So saßen sie schweigend nebeneinander. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und ließ die Oberfläche des Binnenmeeres glitzern, wie den Goldhort eines Drachen. Am Horizont konnte Craig das Festland erahnen.

„Erzähl mir von deiner Heimat“, forderte er Hiob auf und durchbrach so die Stille.

Der Dunkelelf legte verwundert die Stirn in Falten. „Notting?“, fragte er. „Was soll ich dir denn darüber erzählen, was du noch nicht weißt?“

„Nein, nicht Notting“, erwiderte Craig und schüttelte energisch den Kopf. „Ich meine deine richtige Heimat. Die Heimat der Dunkelelfen. Die Heimat deines Volkes.“

Hiob lehnte sich nachdenklich zurück. „Shalaine“, murmelte er schließlich. „Es ist ein vielfältiges Land. An manchen Orten ist es rau und unwirtlich, an anderen fruchtbar und friedlich. Es gibt Gebirge, deren höchste Gipfel bis in die Wolken ragen, weite Ebenen, in denen riesige Herden von Weidetieren grasen, heimtückische Sümpfe voller stinkender Schlammlöcher und blutsaugender Insekten und tiefe Wälder mit erhabenen Bäumen, die wie Türme in den Himmel ragen. Und es gibt das Land im Osten, wo die Welt noch jung ist und ihr kochendes Blut an die Oberfläche speit. Die Dunkelelfen von Shalaine sind ein stolzes Volk. Sie mögen keine Fremden und brüsten sich mit ihrer vielgerühmten Tapferkeit. Das sind Überbleibsel längst vergangener Zeiten, als ihr Menschen noch eine Randerscheinung in Gäa wart und die Dunkelelfen noch mit den Lichtelfen um die Vorherrschaft gekämpft haben, lange bevor die Fünf über den Horizont kamen und diese Welt aus den Klauen der Alten Götter befreiten. Jetzt ist von dem einst so gewaltigen Reich der Dunkelelfen nur noch Shalaine übrig und trotzdem gibt es unter meinem Volk noch immer viele, die sich für die rechtmäßigen Herrscher Gäas halten. Diese Einstellung hat mein Heimatland seit jeher gespalten.“ Hiob sah Craig mit seinem gesunden Auge an. „Du kennst den Roten Kult, nehme ich an?“

Der Junge nickte geistesabwesend. „Ja, das sind die Anhänger der Alten Götter“, antwortete er. „Die Fanatiker, die Gäa in seinen Urzustand zurückversetzen wollen. So, wie es war, als die Dunkelelfen noch geherrscht haben. Bevor die Fünf die Alten Götter verbannt und den Menschen ihre Freiheit geschenkt haben.“

„Nicht nur den Menschen“, schmunzelte Hiob. „Auch den Waldelfen, den Zwergen und den Orks. Alle Völker Gäas haben unter der Knechtschaft der Dunkelelfen gelitten. Aber seitdem sind Jahrhunderte vergangen. Die Welt hat sich verändert und ein Großteil der Dunkelelfen hat den Alten abgeschworen. Der Rote Kult ist nichts weiter als ein Geschwür jenseits des Schattenwehrgebirges. Und das heutige Königreich von Shalaine ist die Bastion, die den Kult von Gäa fernhält.“

„Und trotzdem ist es ihnen beinahe gelungen, die Alten zu befreien und Gäa wieder ins Chaos zu stürzen“, stellte Craig verbittert fest. „Und das hat den Weltenkrieg ausgelöst. Den Konflikt, in dessen Wirren ich geboren worden bin.“

Hiob sah nachdenklich aus. Er strich sich durch seinen Pferdeschwanz und die Messingringe in seinen spitzen Ohren klirrten leise. „Das waren die Taten eines Einzelnen“, erwiderte er ruhig. „Und Shraic Nachtwandler ist gescheitert. Der Krieg ist lange vorbei.“

„Aber wer sagt denn, dass er nicht wieder versuchen wird, die Alten zu befreien?“, rief Craig und ballte die Fäuste. „Shraic Nachtwandler lebt noch. Da habe ich doch Recht, oder?“

„Tja, wer weiß das schon?“, murmelte Hiob und ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Vielleicht ist er wirklich noch irgendwo da draußen. Aber genug davon! Ich habe dir schon viel zu viel erzählt. Jetzt schläfst du heute Nacht am Ende noch schlecht.“ Der Dunkelelf knuffte Craig grinsend in die Schulter und der Waisenjunge musste einmal mehr schmerzhaft feststellen, dass in Hiobs alten Muskeln noch eine ganze Menge Kraft steckte. Er rieb sich die Schulter und starrte auf die feuchten Grashalme zwischen seinen nackten Zehen.

Knack ließ ein leises Schnarchen ertönen. Der Knucker war eingeschlafen und hatte seinen Kopf auf seinen schlangenartig zusammengerollten Körper gebettet. Seine lange Zunge hing ihm aus dem halb geöffneten Maul und die Fortsätze an seinem Hinterkopf zuckten im Traum.

„Ich glaube, ich werde Notting verlassen“, sagte Craig schließlich.

Hiob hob verblüfft die rechte Augenbraue. „So?“, fragte er überrascht. „Und wo willst du hin?“

„Weiß ich noch nicht“, antwortete Craig achselzuckend. „Nach Shalaine. Keine Ahnung. Irgendwohin, wo es mir auch etwas nützt, ein Schwert zu besitzen.“

„Ach, Craig“, seufzte Hiob und legte dem Jungen einen Arm um die Schulter. „Ich habe dir eine Waffe gegeben, damit du dich im Ernstfall verteidigen kannst. Warum willst du unbedingt kämpfen? Trotz allem, was mit deinen Eltern geschehen ist.“

In Craigs Kehle bildete sich ein Kloß. Bei dem Gedanken an den gewaltsamen Tod seiner Eltern brannten die alten Narben auf seinen Wangen, als habe er sich erst vor Kurzem das Gesicht versengt. „Ich will doch gar nicht kämpfen“, murmelte er leise. „Ich will nur nicht mein ganzes Leben auf dieser abgeschiedenen Insel verbringen.“

„Warum denn nicht?“, fragte Hiob. „Du hast hier deinen Frieden. Lyneas Geschenk ist unbegreiflich wertvoll. Du solltest es nicht so einfach fortwerfen.“

„Aber das ist langweilig!“, entgegnete Craig störrisch und sprang auf. „Es muss doch noch mehr geben, als den ganzen Tag Bluthechte zu angeln und sich altkluge Sprüche von einäugigen Dunkelelfen anzuhören. Mehr als ein Leben in einer Hütte am Fluss.“

„Ein friedliches Leben“, fügte Hiob hinzu und deutete auf das Binnenmeer hinaus. „Du hast keine Ahnung von der Welt dort draußen.“

„Wie denn auch?“, entfuhr es Craig. „Ich habe in meinem ganzen Leben ja noch nichts anderes gesehen, als diese verdammte Insel!“

Hiob schloss sein gesundes Auge. „Entschuldige“, bat er sanft. „Ich wollte dich nicht verärgern. Du bist längst alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und ich kann dich nicht mehr davon abhalten, deinen Weg zu gehen.“ Der Dunkelelf winkte Craig zu sich heran. Ein wenig zögerlich nahm der Waisenjunge wieder neben ihm im Gras Platz.

„Uns bleibt jedenfalls nicht mehr viel Zeit gemeinsam“, sagte Hiob geistesabwesend.

Craig blinzelte den Dunkelelfen verwundert an. „Wie meinst du das?“, fragte er überrascht.

Hiobs Lippen verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln. „Damit meine ich, dass du dich noch mal in der Taverne blicken lässt, bevor du Notting verlässt“, antwortete er.

Und Craig hatte das Gefühl, dass der Dunkelelf wieder einmal mehr wusste, als er ihm sagte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück