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Eine Geschichte

Als ich aus der Dusche kam, mit nassen Haaren, konnte ich Joey erkennen, wie dieser den Stift beiseitegelegt hatte. Er begutachtete sein Werk eingehend.
 

„Schon fertig?“ Ich war ein wenig verwundert. In der Zeit hätte nicht einmal ich einen Aufsatz fertiggebracht. Joeys Fähigkeiten in Englisch waren deutlich niedriger als meine – dementsprechend länger hätte es bei ihm dauern müssen.
 

„Nein, ich lese mir gerade noch einmal deine Geschichte durch. Meine Ideen habe ich bereits wieder irgendwo vergraben. Ich kann sie nicht zu Papier bringen. Ist das die Ganze?“ Die rehbraunen Augen meines Freundes ruhten auf mir, erfüllt von Neugier.
 

„Wenn ich ehrlich sein soll: Nein.“ Ich zog mir ein frisches T-Shirt über und schlüpfte in die Trainingshose, welche ich aus dem Bad mitgenommen hatte. „Warum fragst du?“
 

Sein Blick verhieß nichts Gutes und ich seufzte bereits innerlich. Er würde sicherlich nachbohren – wie jeder andere auch. Ihm ging es dabei nicht um die Geschichte hinter Andir, sondern um mich, meine Geschichte. Er würde, wie alle anderen auch, den Kopf schütteln, mich belehren und dann meine Fehler ankreiden.
 

„Wo hast du den Rest?“ Auf diese Frage hin schrägte ich verwundert den Kopf. Ich hatte mit einer ganz anderen Frage gerechnet. So ging ich zu meinem Bücherregal und zog eine blaue Mappe hervor. Diese war mit einigen Stickern versehen – hauptsächlich Figuren aus Computerspielen. Wortlos hielt ich Joey die Mappe hin und setzte mich neben ihn. Dieser öffnete den Ordner auch sogleich und blätterte den Papierstapel grob durch.
 

„Das jetzt zu lesen ist mir zu langwierig. Wie kommt es überhaupt, dass du so viel geschrieben hast? Das müssen mindestens 100 Seiten sein, wenn nicht mehr.“ Ich beantwortete seine Frage mit einem Schulterzucken. Ich hatte ab einem gewissen Grad begonnen, meine Gedanken in einer Geschichte zu verarbeiten. Vieles ist mir dadurch leichter gefallen. Es hat Spaß gemacht und zumindest in dieser fiktionalen Welt, konnte ich selbst entscheiden, was mit meinem Charakter passierte.
 

„Kannst du mir mal einen groben Umriss geben? Also nur über deinen Hauptcharakter?“ Ich nickte und zog die Mappe in die Mitte, so dass wir beide darauf spähen konnten. Langsam blätterte ich zum Deckblatt zurück. „Die Geschichte von Sir Andir Lancley“ prangte in Großbuchstaben auf gelbem Papppapier. Seite 1 war mit einer Zeichnung versehen worden. Eine Bleistiftskizze eines jungen Mannes, Anfang der 20er Jahre. Er trug kurzes Haar, welches links und rechts etwas länger gelassen worden war, sodass ihm einige Strähnen ins Gesicht hingen. Die Farbe war mit dem Bleistift eingeschwärzt worden. Hohe Wangenknochen lugten unter der Haarpracht hervor. Eine gerade Nase fügte sich perfekt ins Bild ein. Die Augen waren halb geschlossen während Andir lächelte.
 

Eine athletische Figur wurde von einer Weste mit Stickereien und Knöpfen im Brustbereich verdeckt. Die Hose war dem Oberteil angepasst. Hohe Schnürstiefel komplettierten das Bild eines jungen Mannes von Stand. Die Hände hatte er in die Hosentasche geschoben.

Stumm blätterte ich auf die nächste Seite um. Diese zeigte einen riesigen, humanoid anmutenden Wolf auf zwei Beinen. Seine Ohren waren angelegt. Die Augen besaßen nur ganz schmale, dünne Pupillen. Der Wolf trug eine pechschwarze Plattenrüstung. An seiner rechten Seite baumelte ein Schwert, während am Rücken ein riesiger, rechteckiger Schild hervorlugte. Das Maul hatte die Bestie ein Stück weit geöffnet. Speichelfäden benetzten ansatzweise die rasiermesserscharfen Zähne im Gebiss des Monsters. Seine Hände waren zu Klauen verformt – die Füße zu Pfoten, welche unter den Ausläufern der Beinschienen ungeschützt hervorlugten.
 

„Bevor du fragst – das hat eine Freundin von mir gemalt. Sie kann gut zeichnen und wollte mir eine Freude machen.“
 

Joey begutachtete die Zeichnungen eingehend, blätterte ab und an nach vorne und wieder zurück, um schlussendlich zu nicken. „Mh, sie hat wirklich Talent. Ist er das? Also Andir?“
 

„Ja, das ist Andir. Er wurde in einem kleinen Walddorf südlich der Hauptstadt des Königs geboren. Seine Eltern sind ein verkrüppelter, pensionierter Offizier der Armee und eine Schankmaid aus der örtlichen Taverne.“ Ich hielt inne, als Joey mich auf seinen Schoß zog. Mein fragender Blick wurde mit einem Kuss in die Halsbeuge quittiert. Seine Hände ruhten auf meinem Bauch. „Erzähl weiter.“
 

„In dem Walddorf hausen Monster. Geister, Untote, Werwölfe, ein Hexenmeister und so weiter. Andir wurde von klein auf gedrillt, in die Armee einzutreten, um seinem Vater nachzufolgen. Dieser war streng und unbarmherzig. Das hat ihn sehr geprägt. Seine Mutter war hingegen liebevoll und zärtlich mit ihrem Sohn. Sie brachte ihm das Lesen bei, gab ihm Gesangsunterricht, ermutigte ihn zum Schreiben – kurzum das Gegenteil seines Vaters.“
 

Joey hörte aufmerksam zu. Sein Blick war sanft und zärtlich. Ich konnte spüren, wie er sein Kinn auf meiner Schulter bettete. „Mh, und wie ist er ein Werwolf geworden?“
 

„Das Dorf hat so eine Art Miliz oder Bürgerwehr. Diese versucht das Dorf einigermaßen zu beschützen. Im Wald wachsen nämlich einige Pflanzen, welche für den Königshof unerlässlich sind. Außerdem gibt es einen Steinbruch in der Nähe – deshalb ist das Ganze auch so verlockend für die Leute. Sonst wären sie sicher längst weggezogen. Jedenfalls hat Andirs Vater ihn in diese Bürgerwehr hineingezwungen. Dort hat er dann einem Kameraden das Leben gerettet und ist dafür von einem Werwolf angefallen worden. Der Dorfalchemist hat ihm dann eine Medizin eingeflößt, die es Andir einigermaßen ermöglicht, sein tierisches Ich zu kontrollieren.“
 

„Dein Vater war demnach streng mit dir, während dich deine Mutter vergöttert hat?“ Joeys Auffassungsgabe war durchaus bemerkenswert, wenn man bedachte, wie er sonst manchmal auf der Leitung stand.
 

„Ja und Nein. Ich kenne meinen wirklichen Vater gar nicht. Dieser hat meine Mutter bereits vor der Geburt verlassen. Mit ungefähr vier Jahren hat meine Mum meinen Stiefvater geheiratet. Der hat sich sehr ambivalent verhalten, als ich noch ein Kind war. Einerseits habe ich viel Liebe erfahren, und wurde oft mit Geschenken überhäuft, dann war er wieder unfassbar grob, fast schon grausam. Meine Mutter war da anders.“ Ich hielt in der Erzählung inne und biss mir auf die Lippen. Sollte ich die Wahrheit wirklich aussprechen?
 

„Inwiefern anders?“ Joey streichelte mir über den Bauch und schmiegte sich an mich. Ich konnte seine Haare an meinem Hals spüren. Er war so nahe, dass ich mein Duschgel, welches er benutzt hatte, riechen konnte.
 

„Meine Mum ist ein Alki, Joey. Einer von der schweren Sorte. Sie stapft manchmal durchaus Haus, zerlegt die Bude, pöbelt alle an, und lügt, dass sich die Balken biegen. Dann ist sie wieder lieb und nett – ich glaube, sie bereut manchmal, was sie so im Suff anstellt, wenn sie wieder klar im Kopf ist.“ Entgegen meiner Erwartungen verkrampfte Joey sich nicht. Auch die Streicheleinheiten hörten nicht auf. Einzig ein sanfter Druck auf meine Bauchgegend signalisierte mir, dass er zugehört hatte.
 

„Ich wollte Andir nicht komplett mir nachbilden. Das hätte mich damals, mit fünfzehn, sechzehn Jahren, auch zu viel Kraft gekostet. Heute kann ich ganz anders darüber sprechen. Ich bin es gewohnt geworden, mit ihr auszukommen.“
 

„Und dein Vater? Was sagt der dazu?“ Joey hob den Kopf und sah mich mit einem neutralen Gesichtsausdruck an.
 

„Wir können alle nichts machen. Ich weiß nicht, wie die Rechtslage hier in Japan ist, aber bei uns zuhause kann man eigentlich nichts unternehmen. Sie möchte sich nicht helfen lassen, und wir wollen sie nicht gänzlich fallen lassen. Gerade meine Oma leidet sehr unter der Situation, weswegen ich versuche, sie abzulenken und zu trösten.“
 

„Mh. Das tut mir leid zu hören. Sowas ist immer schwer, zumal wir alle wissen, wie sehr du an deinen Großeltern hängst. Ich glaube, du bist ihnen eine große Stütze, so wie mir.“ Mit diesen Worten konnte ich seine Lippen in meinem Nacken spüren. Mein ganzer Körper zitterte und ich bekam eine Gänsehaut. Eigentlich war ich immer ein wenig niedergeschlagen, wenn jemand von der Story erfuhr – dieses Mal jedoch erstaunlicherweise nicht.
 

„Halb so schlimm, ich habe mich daran gewöhnt. Außerdem – wie bin ich dir denn eine Stütze?“ Würde er jetzt mit der Sprache rausrücken? Dass sein Vater auch ein Alki war? Einer von der brutalen Sorte? Dass er ihn schlug, sich nicht unter Kontrolle hatte?
 

„Indem du da bist. Es ist anders mit dir, als sich mit Tristan oder Yugi zu unterhalten. Die zwei sind schwer in Ordnung, aber du bist einfach noch nicht so lange dabei. Du kannst etwas objektiver in die Sachen hineinschauen – außerdem liebe ich dich.“ Gerade der letzte Satz ließ mein Herz einen Sprung machen. Wie vier Wörter so schön sein konnten?
 

„Welche Sachen denn, Joey? Ich weiß eigentlich herzlich wenig über dein Umfeld. Du hast eine kleine Schwester, oder?“ Meine Frage wurde mit einem Nicken quittiert.
 

„Ja, Serenity. Sie ist zwei Jahre jünger als wir und einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich würde sie mit meinem Leben beschützen, wenn es notwendig wäre, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie belastet andere nicht gerne und frisst ihren Kummer oft in sich hinein. Mir gegenüber öffnet sie sich aber.“
 

Ich musste lächeln. Joeys Augen hatten ein Glitzern bekommen, eine Mischung aus Sehnsucht und Liebe. „Kann ich gut verstehen. Wenn du nur halb so ein guter Bruder wie Kumpel bist, dann hat sie einen Glücksgriff gemacht.“
 

Joey schob seine Finger in die freien Räume zwischen den Meinen und verwob sie miteinander. „Ich wünschte ich hätte mehr tun können. Im Königreich der Duellanten habe ich für sie gekämpft – um ihr die Augenoperation zu ermöglichen. Der Eingriff war schweineteuer; nur das Preisgeld hat ihr Augenlicht retten können.“
 

Joeys Stimme begann zu bröckeln. Sanft drückte ich seine Hände und lehnte mich zurück, meinen Kopf an seine Brust legend. „Du klingst wehmütig, Joey. Was ist?“
 

„Unsere Eltern haben sich getrennt, als wir noch klein waren. Meine Mutter hat Serenity mitgenommen, während ich bei meinem Vater blieb. Sie lebt jetzt in Amerika und hat dort ihren Lebensmittelpunkt. Wir telefonieren oft, schreiben miteinander, solche Dinge eben. Sowas kann aber nie physischen Kontakt ersetzen.“
 

War es vielleicht das? Sehnsucht nach seiner Schwester? Darum war er manchmal so niedergeschlagen, so abwesend, so komisch? Ich beugte mich nach oben und küsste ihn ganz sanft in seine Halsbeuge hinein. Danach schmiegte ich mich wieder an ihn und schloss die Augen. „Hat die Operation geklappt?“
 

Kurz herrschte Stille. Ich konnte spüren wie Joey sich verkrampfte. „Ja, hat sie. Serenity sieht wieder blendend. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie mir fehlt. Ich würde sie gerne einmal besuchen, oder umgekehrt.“
 

„Was ist das Problem? Ich meine du bist 17 Jahre, fast volljährig. Du kannst dich in einen Flieger setzen und in die Staaten fliegen? Einen Pass hast du ja wohl, oder?“ Ich öffnete die Augen und konnte erkennen, wie er glasig in Richtung Fernseher starrte.
 

„Meine Mutter will nicht, dass wir uns treffen, genauso wie mein Vater.“ Hastig löste er eine Hand aus unserer Verschränkung, als er bemerkte, wie ich ihn beobachtete. Mit dem Handrücken wischte er über die Augen und murmelte etwas von „im Auge haben“.
 

Sanft löste ich mich aus der Umarmung nur um mich dann verkehrt auf seinen Schoß zu setzen, sodass sich unsere Gesichter beinahe berührten. Beide Hände drapierte ich auf seinen Wagen und schüttelte den Kopf. „Joey, du darfst weinen, Gefühle zeigen, mal schlecht drauf sein. Vor allem mir gegenüber. Ich liebe dich, weil du so bist wie du bist. Du musst deine Regungen nicht unterdrücken.“ Um meine Worte zu unterstreichen küsste ich meinen Freund. Ich spürte, wie Joey sich augenblicklich entspannte. Langsam löste ich mich wieder von ihm, nur um mich an seinen Wangen hochzuküssen, und jene Tränen mit den Lippen aufzufangen, welche sich aus den Augenwinkeln verirrt hatten.
 

„Uns fällt schon etwas ein, versprochen, Joey. Ich bin für dich da, und ich stehe hinter dir, egal was du tust. Du musst vor mir weder Geheimnisse haben, noch irgendwie auf starken Mann machen. Das tut dir nicht gut, und besorgt mich unnötigerweise. Versprichst du mir das?“
 

Eilig nickte Joey und zog einmal geräuschvoll seine Nase nach oben. Dann griff er mir unter die Beine und hob mich in die Höhe.
 

„Ehm, wohin gehen wir, Joey? Nicht, dass ich diese Art der Fortbewegung anprangern möchte.“ Ich konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken, zumal Joey wieder grinste.
 

„Siehst du gleich.“ Damit steuerten wir auch schon mein Schlafzimmer an.



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