Ein Austausch mit Folgen von SuperCraig ================================================================================ Kapitel 10: Verborgene Talente ------------------------------ Entgegen Joeys Vorhersage wurde ich wach, bevor Mokuba uns wecken konnte. Der Blick auf den digitalen Wecker neben mir verriet, dass es erst sechs Uhr war. Dementsprechend dunkel bzw. dämmrig war es draußen noch. Ich konnte meinen schlafenden Freund dennoch genau begutachten. Im Schlaf hatte er sich wohl von der Decke befreit und ließ mich eingehend seinen Körper mustern. Dieses Mal nicht nur bloß flüchtig und grob. Etwas in mir regte sich bei Joeys Anblick. Ich musste dem Drang wiederstehen ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Er döste so friedlich vor sich hin – ich konnte mich gar nicht genug an diesem Bild sattsehen. Seine sehnige, drahtige Figur, die Brustmuskeln, der Sixpack, die breiten, definierten Schulterblätter. Wäre ich ein Mädchen gewesen, ich hätte alles dafür getan, mit ihm ein Date zu bekommen. Mein Blick wanderte seinen Körper entlang und blieb knapp über dem Hüftbereich stehen. Die Trainingshose war ihm ein wenig verrutscht. Das ausgeprägte, trainierte V von gestern war nun noch deutlicher zu sehen. Wie bedauerlich, dass ich heute auch nicht mehr zu sehen bekam. Ich schüttelte energisch meinen Kopf und versuchte meine Gedanken in eine andere Bahn zu lenken. Meine Augen wanderten zu Joeys Gesicht und verfingen sich in seinen Lippen. Er hatte den Mund wieder nur einen Spalt breit geöffnet. Verärgert biss ich mir auf die Unterlippe. Warum sehnte ich mich plötzlich so danach, ihn zu küssen? Seine weichen, zarten Lippen auf den meinen zu spüren. Leise seufzend ließ ich mich ins Kissen zurücksinken und schloss meine Augen. Das war nicht normal, dessen bin ich mir in diesem Moment bewusst geworden. Das passte eigentlich überhaupt nicht zu mir. Ich wollte Kinder haben, mindestens eins, ein hübsches Mädchen als Freundin, ein großes Haus, einen guten Job, eine Familie. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, das Gleiche mit einem Jungen aufbauen zu wollen. Was würden meine Eltern sagen? Meine Großeltern? Vor allem: Was würde Joey sagen? Langsam öffnete ich wieder die Augen und lugte zu Joey hinüber. Dieser schlief noch immer tief und fest. Er sabberte sogar ein wenig auf seine Schulter. Sanft strich ich mit dem Zeigefinger über den Speichelfaden, welcher sich zwischen seinem Mund und dem Schulterblatt gebildet hatte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Ich hatte Angst, dass er davon wach werden würde. Mein Brustkorb drohte zu zerspringen. Sollte ich weitermachen? Ihn berühren? Erneut biss ich mir auf die Lippen. Vielleicht würde ich ja aufhören so zu denken, wenn ich mich weiterwagte? Könnte Abneigung entstehen? Ein großes Risiko, doch andererseits machte es mich beinahe wahnsinnig, so neben ihm zu liegen. Mit zitternden Fingern berührte ich Joeys Halsbeuge. Seine Haut war so unendlich weich und zart. Langsam strich ich über sein Kinn, die Wange entlang und entfernte mit einem weichen Lächeln auf den Lippen die störende Haarsträhne aus seinem Gesicht. So friedlich, so unbeschwert wie jetzt wirkte er selten. Auch wenn ich seine chaotische, warmherzige Art mochte, manchmal hatte ich das Gefühl, er würde uns etwas vorspielen, eine Maske tragen. Das hier war aber der echte Joey. Behutsam und vorsichtig legte ich meine Hand an seine Stirn und streichelte mit dem Daumen darüber. Was war nur los mit ihm? Machte ich mir zu viele Sorgen? Einen Kopf, wo keiner nötig war? Ich war bisher nie dazu gekommen, Tristan zu fragen, warum Joey bezüglich seines Zuhauses so abgeblockt hatte. War es das, was ihn so belastete? Streit mit seinem Vater? War die Wohnung so baufällig, dass er sich schämte, Freunde einzuladen? Der Blondhaarige zuckte kurz und räusperte sich, nur um dann ruhig weiterzuschlafen. Ein Glück; mir war gerade das Herz in die Hose gerutscht. Wie sollte ich ihm denn erklären, was ich da machte? Aufhören konnte ich aber auch nicht. Zärtlich strich ich seinen Arm entlang, über den harten, trainierten Bizeps, den definierten Unterarm, bis ich an seiner Hand angelangte. Behutsam drapierte ich meine auf seiner, und musste unwillkürlich lächeln. Es war so ein schönes Gefühl, Joey so nah zu sein. War das Liebe? Wenn einem kurz das Hirn stehen blieb, weil man jemanden berührte? Konnte Liebe denn falsch sein? Vor allem, wenn sie sich so anfühlte? Leise seufzend löste ich meine Hand wieder von der Seinen. An Schlafen war jetzt sowieso nicht mehr zu denken. Im Nachhinein schalt ich mich einen Dummkopf, Joey gebeten zu haben, dass er bei mir schlafen möge. Das raubte mir den letzten Nerv, zumindest jetzt, wo ich einigermaßen ausgeruht war. Mein Blick fiel stattdessen auf ein quadratisches Etwas, welches sich rechts von mir auf dem Nachttisch lag. Bemüht leise griff ich danach. Es war hart und fühlte sich wie ein Heft oder eine Mappe an. Ich zog das Objekt in den Mondschein und erkannte einen gewöhnlichen Ringblock, mit Pappe versehen. Groß war darauf „Joey Wheeler“ zu lesen. Sollte ich einen Blick hineinwagen? Zeichnete Joey? Schrieb er? Tausende Fragen schossen mir durch den Kopf, teilweise vermengt mit den wildesten Thesen. Vielleicht war es sogar sein Tagebuch? Die Neugierde übermannte mich schlussendlich; mit spitzen Fingern blätterte ich durch die einzelnen Seiten. Als Erstes bestaunte ich eine Bleistiftzeichnung, welche mehr als nur exakt ausgearbeitet war. Yugi und Bakura grinsten mir entgegen, jeder so, als wäre er gerade vor mir. Beide hatten sich die Arme um die Schultern gelegt und strahlten um die Wette. Bei mir, der grafisch komplett untalentiert war, erzielte die Zeichnung eine dementsprechende Wirkung. Die nächste Seite zierte Tristan auf seinem Bike, wie er gerade über einige Reifen sprang. Das Motorrad, Tristan in seinem Anzug samt Helm, sogar die Bretter der Schanzen – der Moment war perfekt eingefangen worden. Joey besaß in meinen Augen außerordentliches Talent. Mir war das im Kunstunterricht nie aufgefallen – dort kritzelte mein Freund meist nur lustlos auf seinem Papier herum. Tea beim Tanzen, Duke wie er gerade zwei Würfel warf, dann Kaiba, welcher lächelnd hinter Mokuba stand (zumindest das musste einer reinen Fantasie Joeys entsprungen sein – Kaiba hatte ich noch nie lachen gesehen), das ganze Grüppchen vor einem Weihnachtsbaum; jede einzelne Seite barg eine detaillierte Szene, fein säuberlich ausgearbeitet und trotz fehlender Farben prägte sich das jeweilige Bild perfekt ins Gedächtnis ein. Mir wurde sogar ein Blick auf Joeys kleine Schwester Serenity gewährt. Die Zeichnung offenbarte ein Mädchen von gut 15, höchstens 16 Jahren, mit schulterlangen Haaren und einem zuckersüßen Lächeln. Dem gleichen Lächeln, welches ich so an Joey mochte. Ihre Augen waren halb geschlossen, ich vermutete aber, dass sie die Irisfarbe ihres Bruders geerbt hatte. Insgesamt ein äußerst hübsches und süßes Mädchen. Zuhause hätte ich sie sicherlich zu einem Kaffee eingeladen. Ob sie wohl auch so gut zeichnen konnte wie Joey? Gedankenverloren blätterte ich durch die nächsten Szenerien bis ich an einer angelangte, welche mich vollkommen in den Bann zog. Auf der einen Seite stand Kaiba, in der Schuluniform der Domino High. Er hatte eine Duel Disk am Arm. Dieses selbstsichere, amüsierte Grinsen auf seinen Zügen – auch das hatte Joey perfekt eingefangen. Sein Blick war genauso stechend wie in echt. Vor ihm bäumte sich ein Weißer Drache mit eiskaltem Blick auf. Die Schuppen brachen das Licht der Sonne und warfen es wieder zurück. Die Klauen des Drachen waren gespreizt, wie auch seine Flügel. Im zahnbewehrten Maul wuchs bereits ein weißer Lichtblitz. Ich erinnerte mich an die Szene gut, hatte ich sie doch selbst miterlebt. Mein Augenmerk fiel auf die andere Figur, welche Kaiba gegenüberstand. Sie war kleiner als er, trug aber genau die gleiche Uniform. Zwei Knöpfe waren am Kragen oben geöffnet und entblößten ein Hemd mit einem mir wohlbekannten Logo: Zwei Bögen, welche sich ineinander verschlangen – genau die Shirts, die ich trug. Tatsächlich, Joey hatte mich gezeichnet! Mein grafisches Konterfei hatte ebenfalls eine Duel Disk am Arm. Sogar die Adern an meinem Handrücken waren zu erkennen. Die Uniform flackerte ein wenig im Wind, welcher mir das Haar zerzauste. Die Szene wirkte noch realer als die vorherigen. Er hatte alles an mir eingefangen, das Muster meiner Sneakers, wie ich die Finger krümmte, die eine Haarsträhne, welche ich nie ganz geglättet bekam… Vor meinem gezeichneten Ich türmte sich der Schwarze Rotaugendrache auf. Im Gegensatz zu seinem weißen Kontrahenten schluckten die Schuppenplatten meines Monsters das Sonnenlicht und gaben es nicht mehr her. Beide Drachen waren gleich groß, hatten die gleiche Haltung eingenommen – sogar an das Power Up der Drachenklauen war gedacht worden. Im Maul meines Beschützers blitzte auch ein Energieball. Wahnsinn! Auch die nächste Zeichnung drehte sich um mich. Ich hatte meinen Mund sperrangelweit offen, während mir eine fremde Hand mittels zwei Stäbchen Reis eingab. Die Szene im Krankenhaus. Eingehend begutachtete ich mein Gesicht: Einige Schrammen waren zu erkennen. Mein Haar war unfrisiert und die Spitzen verdeckten das Muttermal auf meiner rechten Stirnhälfte. Hatte ich wirklich so glücklich gewirkt? Auf dem Bild strahlte ich förmlich. Da hatte ich Joey und Co gerade mal einen halben Tag gekannt. Oder war es ein ganzer? Gedankenverloren blätterte ich um. Auf dem Papier prangten Joey und ich, er als Flammenschwertkämpfer, ich als Schwarzer Magier. Wir beide hatten unsere Helme abgenommen; unsere Haare wirkten zerzaust und unordentlich. Auch unsere Waffen fehlten komplett. Stattdessen hielt mich Joey in den Armen. Augenscheinlich schmiegte ich mich an seine Brust. Meine Hände waren auf den seinen drapiert, welche knapp über meinem Bauch ruhten. Ich krümmte meine Finger ein wenig und es wirkte so, als würde ich über Joeys Handrücken streicheln. Mein Freund blickte von oben auf mich herab, sein Kinn auf meinem Hinterkopf gebettet. Er lächelte dabei glücklich, die Augen halb geschlossen. Ich für meinen Teil hatte den Kopf an ihn gedrückt und erwiderte das Lächeln. Unsere Blicke kreuzten sich eindeutig. Über den beiden Figuren war noch etwas zu erkennen. Ich brauchte einige Momente um zu realisieren, was er da gemalt hatte: Zwei Drachen. Einer davon war eindeutig der Schwarze Totenkopfdrache, der andere der Schwarze Rotaugendrache. Beide berührten sich jeweils mit einem Flügel, welche im Zusammenspiel ein Herz bildeten. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Fingern über das Bild strich. Was war nur los mit mir, mit uns? Warum hatte Joey das gezeichnet? Wir wirkten beide so glücklich, so frei. Gerade er, dieses ehrliche Blitzen in seinen Augen. Langsam wanderte mein Blick zu meinem Freund hinüber, welcher sich zu mir herumgedreht hatte. Seine Wange war auf seinen Händen gebettet und er döste friedlich vor sich hin. Sollte ich ihn wecken? Joey darauf ansprechen? Fühlte er ebenfalls so? Würde er sauer werden, weil ich in seinem Block herumgeschnüffelt hatte? Wäre es nicht besser, zuerst mit Tristan zu sprechen? Der war schließlich sein bester Freund. Oder mit Yugi? Andererseits – wie würden sie reagieren? Hirngespinste? Falsche Hoffnungen? Ich war mir in dem Moment total unsicher. Die Zeichnung war eindeutig, in meinen Augen zumindest. Konnte man so etwas in den falschen Hals bekommen? Warum sagte er nichts? War Joey schüchtern? Das konnte ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Leise legte ich den Block wieder an seine vorherige Position und ließ mich ins Bett sinken. Genervt rieb ich mir die Augen. Warum war das alles so kompliziert? Warum fühlte ich so? In der letzten Stunde hatte ich mich eigentlich nur mit Fragen gequält, auf die ich sowieso keine Antwort erhalten würde. Im Stillen entschied ich mich, Tristan einmal beiseite zunehmen. Er war Joeys bester Freund und würde mich sicher beruhigen. Ich mochte Tris gerne. Er war ein wenig ruhiger, organisierter als Joey, aber gerade wenn es ums Zocken ging, stand er seinem blonden Counterpart in nichts nach. Gerade als ich wieder wegdösen wollte, riss jemand unsanft die Tür auf. Ein unangenehmer Druck auf meinem Bauch, in Kombination mit einem schrillen „Aufstehen! Guten Morgen“ ließ mich innerlich aufstöhnen. Mokuba hatte wirklich ein Talent, wenn es um ungünstige Zeitpunkte ging. Joey schien wohl gleich zu denken, denn im Gegensatz zu mir stöhnte er hörbar. „Mann, Mokuba, wie oft habe ich dir gesagt, dass ein Wecker voll und ganz ausreicht. Du musst nicht selbst Radau machen.“ Mit einem breiten Grinsen warf sich der Kleine jeweils über mich und Joey und machte so eine Bewegung schwer bis unmöglich. „Du bist so ein Morgenmuffel Joey! Wie geht es dir David? Alles okay? Hast du gut geschlafen?“ Seufzend beantwortete ich jede seiner Fragen. Innerhalb von fünf Minuten waren sowohl Joey als auch ich hellwach. Gemeinsam entledigten wir uns des kleinen Störenfriedes indem wir ihn in die Bettdecke rollten und uns dann grinsend frisch machten. Sollte er sich doch alleine freikämpfen! Minuten später, nach dem Zähne putzen und anziehen, war unser Bett verwaist. Mokuba war wohl schon zum Frühstück gegangen „Na dann wollen wir mal.“ Joey nickte grinsend nach unten. Ich beobachtete ihn, wie er ganz beiläufig, nach seinem Block griff und diesen in seine Schultasche schmiss. „Hast du keinen Hunger, oder was?“ Sollte ich etwas sagen? Nein, oder? „Natürlich, einen Bärenhunger. Beeilen wir uns, bevor Mokuba vor lauter Schmollen alles alleine verputzt.“ Kichernd machten wir uns auf den Weg in Richtung Esszimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)