Welt ohne Grenzen von SoraNoRyu ================================================================================ Prolog: Morgenlicht (Ignis Scientia) ------------------------------------ Da ist er wieder, dieser Traum. Hier bin ich wieder, nass bis auf die Haut, im eisigen Keller von Zegnautus. Es ist dunkel hier, das einzige Licht ist das des Kristalls. Ein warmer violetter Schein, unwirklich in dieser so kalten, mechanischen Welt. Hier gehört er nicht her… hier will er nicht sein. Ich spüre seine Macht, ebenso die des Rings in meiner Hand. Ich weiß, was ich tun muss, was ich tun kann. Ich habe diesen Traum jede Nacht, seit nunmehr zwanzig Jahren. Seit ich den Ring in Altissia angelegt habe geht mir nicht mehr aus dem Kopf dass es vielleicht noch einen anderen, besseren Weg gegeben hätte. Dass ich Ardyns Vorschlag folgen und mit ihm nach Zegnautus gehen hätte sollen. Dass ich die Möglichkeit, nein, die Macht gehabt hätte, etwas zu ändern, hätte ich den Ring hier, im Licht des Kristalls angesteckt. Mit all der Macht von Lucis hätte ich das Schicksal vielleicht noch ändern können. Um das Schicksal zu ändern braucht es ein Opfer. Nimm meine Sinne. So fängt es an, jede Nacht. Ich spüre den Schmerz, als die Macht des Ringes mir die Augen ausbrennt. Die Wunden sind lange verheilt, aber in meinem Traum ist der Schmerz frisch. Jedes mal wieder stellen mich die alten Könige und der Kristall vor die Wahl, und jedes Mal ist meine Entscheidung gleich. Für Noctis… für meinen König, meinen Bruder. Aufgeben ist keine Option, mein Leben vielleicht gerade wertvoll genug, das seine zu retten. Ich sehe Ardyn vor mir, überrascht vielleicht, aber nicht besorgt. Noch nicht. Heute Nacht werde ich ihn besiegen. Blitze zucken durch mein Sichtfeld, Zeichen und Symbole. Ich weiß, dass ich nur durch Magie noch sehen kann, meine Augen sind längst zerstört, gerade noch in der Lage, hell und dunkel zu unterscheiden, aber durch die Macht des Rings ist mein Sichtfeld klar. Ich fasse meine Dolche in beiden Händen und stürze auf Ardyn zu. Wie jede Nacht… aber heute verliere ich nicht. Er mag unsterblich sein, aber ich habe diesen Kampf schon so oft gekämpft dass ich genau weiß, wie ich handeln muss. Jede Nacht seit zwanzig Jahren… jede Nacht sterbe ich hier. Es ist grausam, schmerzhaft. Ich jage Ardyn durch den Raum, spring über Hindernisse, wechsle zwischen den Elementen, versuche seine Angriffe abzufangen und zu kontern. Ein Fehler und alles ist vorbei. Es ist nur ein Traum, aber die Schmerzen sind echt. Auch die Angst… und die Kälte meiner nassen Kleidung. Zwanzig Jahre… siebentausenddreihundert Nächte. Siebentausenddreihundert Mal bin ich hier unten gestorben, nass, ausgebrannt, einsam. Ich will nicht allein sterben. Die Kraft des Ringes lässt nach. Um das Schicksal zu ändern ist ein größeres Opfer vonnöten. Nimm meinen Körper. Der Schmerz zerreißt mich, als die Kraft des Rings in meine Glieder fährt. Ich höre mich schreien, sicher habe ich wieder das ganze Haus aufgeweckt. Die Szene flackert, aber ich halte daran fest, kämpfe weiter. Ich kann jetzt nicht aufgeben… heute gewinne ich den Kampf. Für Noct… für ihn halte ich durch. Ardyn lacht, aber es klingt weniger sicher als vorhin. Er weiß, dass ich ihn besiegen kann. Unsterblich vielleicht, aber nicht unbesiegbar… ich werde Ardyn zu Fall bringen und ich werde einen Weg finden dafür zu sorgen, dass er stirbt ohne Noct mitzunehmen. Ich kann das Schicksal ändern. Ich muss. Weil ich es kann. Meine Bewegungen werden sicherer, mein Timing besser. Es geht schneller als sonst, Ardyn lässt nach. Meine Strategie geht auf, meine Angriffe sitzen, eine Riposte nach der anderen trifft ins Schwarze. Ich sehe nur durch die Macht des Rings, kann mich nur durch sie bewegen, aber solange ich den Ring trage verfüge ich über ungeheure Kraft. Nicht nur die Kraft der alten Könige, nein, auch die des Kristalls… genug Kraft, diesen Kampf für mich zu entscheiden. Wieder flackert das Bild, wieder spüre ich die Kraft schwinden. Es macht mir keine Angst, ich weiß, was kommt… so weit bin ich schon oft gekommen. Aber diesmal war es leichter, diesen Punkt zu erreichen. Heute gelingt es mir, das weiß ich. Heute Nacht werde ich das Schicksal ändern. Die Kraft lässt nach. Und das Schicksal zu ändern ist ein größeres Opfer nötig. Nimm mein Leben. Ab jetzt läuft die Zeit. Die Schmerzen sind unerträglich. Meine Sinne, mein Körper, mein Geist, alles steht in Flammen. Mehr tot als lebendig stemme ich mich hoch, die Energie des Kristalls zerreißt meinen Körper, als sie ihn mit unfassbarer Macht füllt. Drei Minuten… in drei Minuten ist es vorbei. Aber diesmal wird Ardyn vor mir sterben. Ich stürze mich auf ihn mit Feuer, Blitz und Eis, mein Körper nur noch ein brennender Spielball der Geister, die ich beschworen habe, mein Fokus allein auf dem Kampf. Mein Herz schlägt nicht mehr. Aber das muss es auch nicht. Noch zwei Minuten. Ardyn wirkt langsam verzweifelt, seine Angriffe werden immer heftiger, immer unkontrollierter und flächendeckender. Ein einziger davon genug mich zu töten, und doch werfe ich mich direkt hinein, blocke und werfe sie zurück. Einen nach dem anderen. Ich habe keine Angst, ich bin bereits tot. Ardyn strauchelt, schreit. Noch eine Minute. Ein letzter Angriff mit brennenden Klingen und der Gegner ist besiegt. Es ist vorbei… ich habe gewonnen. Endlich… nach all den Jahren habe ich das Schicksal bezwungen. Ich falle zu Boden, spüre, wie mein Körper sich in Rauch auflöst. Es wird dunkel. Es wird still. Ich habe erreicht was ich wollte, die Macht des Rings verlässt mich. Zurück bleibt nichts. Ich habe alles gegeben, alles geopfert. Zumindest im Traum ist mir gelungen, was ich vor zwanzig Jahren schon hätte tun müssen. Eine einzelne Träne rinnt über mein Gesicht. Ob die anderen wohl gekommen wären, um mich zu finden? Ich will nicht allein sterben… aber ich hätte es für ihn in Kauf genommen, jederzeit. Unter meinen Händen ist Sand. Ich kann ihn nicht fühlen, all meine Sinne sind fort, aber ich weiß, dass er da ist, der Sand. Feiner Sand, wie am Meer. Heller, weißer Sand, leicht rosa in der tiefstehenden Sonne. Möwen fliegen im zartblauen Himmel, ich kann nicht hören, aber ich weiß, dass sie kreischen. Noch einmal rapple ich mich auf, stolpere auf das Meer zu, dessen warme Wellen über den Sand waschen, stetig, ruhig. Auf dem Steg steht ein Mann, mit dem Rücken zu mir, und hält eine Angel ins Wasser. Die Gestalt ist mir vertraut. Ich fühle mich glücklich. Meine letzte Kraft verlässt mich, ich falle zu Boden. Ich spüre die Planken unter meinem Körper nicht, sehe sie nicht, aber weiß, dass sie da sind. Eine merkwürdige Welt. Friedlich. Auch meine Schmerzen sind fort. „Du solltest nicht hier sein, Ignis. Es ist viel zu früh.“ Noctis beugt sich über mich, legt eine warme Hand auf meine Schulter. Es ist sein Geist, der mich berührt in dieser unwirklichen Welt. Ich brauche keinen Körper, keine Sinne um hier zu sein… hier bei ihm. „Geh wieder zurück. Ich habe nicht um dieses Opfer gebeten.“ „Noctis…“ „Geh. Du gehörst hier noch nicht her.“ „Komm mit mir zurück.“ Noctis schweigt. Seine Hand streichelt mein Gesicht, sanfte Finger berühren meine geschlossenen Augen. Ich kann seine Wärme spüren, seine Zuneigung. So viel Liebe… ich will hier bei ihm bleiben. Ich habe so hart gekämpft… ich will Noct nicht wieder verlieren. Bitte… bitte lasst ihn mit mir kommen. „Geh Ignis.“ Die Welt verblasst. Ich will daran festhalten, aber ich kann nichts tun. Der Sand, das Meer, der Himmel… alles verblasst, verschwindet wieder in der Dunkelheit, die mich seit zwanzig langen Jahren gefangen hält. Ich spüre das Bett unter mir, die schweißnassen Laken, das harte Brett am Kopfende. Tränen auf meinem Gesicht aus Augen, die zu nichts anderem mehr nutze sind. „Wir sehen uns wieder, wo wir uns verabschiedet haben“, höre ich eine leise Stimme. Weit weg, von der anderen Seite, dann nur noch meinen Wecker mit der morgendlichen Radiosendung. Sieben Uhr, Sonntag früh. Das Bett neben mir ist leer, sicher ist Clara schon in der Arbeit. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich heute Nacht nicht geweckt hat. Vielleicht hat es nichts gebracht, aber… …aber ich habe Noct getroffen. Einen kurzen Moment nur, aber ich konnte ihn sprechen. Ein paar Wörter, eine kurze Berührung. Ich vermisse ihn so sehr. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass nach langer Zeit zum ersten Mal wieder die Sonne aufgegangen ist. Damit besteht der Frieden nun fast auf den Tag genauso lange wie die Nacht, die ihm voraus ging, gedauert hat. Naja, wenn man von Frieden sprechen kann in der momentanen Situation… aber immerhin geht jeden Morgen die Sonne auf. Selbst, wenn ich davon nicht mehr mitbekomme als dass es tagsüber ein wenig heller wird. Es reicht nicht, um sich zu orientieren, aber es ist ein schönes Gefühl zu sehen, wie das Licht vor meinen Augen der Welt eine Art Gestalt gibt. Heute allerdings ist es mehr als nur das. Verwirrt blicke ich über das Waschbecken an die Wand, in dessen glatter Oberfläche ich seit Jahren einen Spiegel vermute. Es war mir beim Aufstehen noch nicht recht aufgefallen, aber jetzt, nach einer gründlichen Dusche… da sind Farben. Das Bild vor meinen Augen ist unscharf wie eh und je, aber in die vagen Schlieren von Hell und Dunkel haben sich, ganz nebenbei, Farben gemischt. Ich taste nach dem Glas vor mir und wische mit zitternden Fingern das Kondenswasser von der Oberfläche. Fast glaube ich, einzelne Finger ausmachen zu können, dahinter ein Bild, das, wenn auch unscharf, mein eigenes blasses Gesicht sein könnte. Ich glaube, ich muss mich erstmal setzen. Zitternd lasse ich mich auf den Badezimmerboden sinken und vergrabe mein Gesicht in beiden Händen. Erstmal einfach nur atmen… einfach ruhig atmen. Nach all der Zeit, die ich mich jetzt schon im Dunkeln bewegt habe – zwanzig Jahre, fast die Hälfte meines Lebens – erinnere ich mich kaum noch daran, was ich mit visuellen Reizen anfangen soll. Sicher, an besonders hellen Tagen habe ich schon mal mein Gesicht in die Richtung gedreht, in der ich die Sonne vermuten konnte, und einfach die Wärme auf meiner Haut und das Wissen um den hellen Tag genossen, aber richtige Bilder zu sehen… das ist etwas, woran ich schon zu lange nicht mehr gedacht habe. Ich nehme meine Hände von den Augen und blicke auf die zitternden Finger, unschlüssig, was ich mit der Information anfangen soll. Ich weiß, wo meine Hände sind. Das ist zumindest eines der Dinge, deren ich mir immer sicher war, meine Hände finde ich auch ohne zu sehen. Was also soll ich mit der Flut an visuellen Reizen, die da plötzlich über mich hereinfallen? Das Bild wird mit jedem Augenblick schärfer. Ich erkenne immer mehr Details und schließe eilig wieder die Augen, um mich der Flut an Eindrücken zu entziehen. Farben, Spiegelungen, die einzelnen Wassertropfen auf den Fliesen und das verwirrende Bild hinter den vielen Spiegeln, die meine Frau hier aufgehängt hat. Mir ist beinahe schlecht vor Überforderung. Viel wichtiger noch: Warum? Und warum jetzt? Ich atme tief ein und aus um mich zu sammeln und meine Gedanken zu sortieren. Sehen, wenn auch lang vergessen, ist etwas was ich schon einmal gekonnt habe, und ich werde mich bald wieder daran gewöhnen. Mit geschlossenen Augen richte ich mich auf und beende meine Morgentoilette. Erstmal fertig kämmen, rasieren und anziehen, dann vielleicht noch ein kleines Frühstück. Und dann auf zur Zitadelle. Kapitel 1: Der Ring der Lucischen Könige ---------------------------------------- „Wir sollten nicht hier sein“, gebe ich etwa zum hundertsten Mal zu bedenken, aber Gerald winkt einfach nur ab.   „Sei nicht so ein Weichei, Nyx“, stichelt er, „Wird schon nichts passieren.“   „Unser Held ist ein Feigling“, stimmt Cindy zu, und ihre Schwestern kichern.   „Bin ich nicht“, entgegne ich, „Ich will nur nicht geschimpft kriegen. Papa gibt mir drei Monate Hausverbot, wenn er mich nochmal in der Zitadelle erwischt…“   Gerald prustet belustigt. „Dein Vater ist blind, der sieht’s eh nicht.“   Ich verbeiße mir die Bemerkung, dass Papa auch ohne zu sehen viel zu viel mitbekommt – teilweise sogar mehr als die meisten gesunden Menschen – und folge meinen Freunden tiefer in das verbotene Gebäude.   Ganz unfreiwillig bin ich hier ja ehrlich gesagt auch nicht… Papa hat mich schon zu oft hier drinnen erwischt, denn die Zitadelle ist schon echt cool. Allein der Gedanke, dass in den alten Ruinen mal echte Könige gelebt haben hat schon einen Hauch von Abenteuer an sich. Dazu das Licht, das durch die kaputten Buntglasfenster fällt und den Staub zum Funkeln bringt, die alten Teppiche, die mit jedem Schritt kleine Wölkchen aushusten und die goldbestickten Banner… ich stelle mir gerne vor, wie das hier früher ausgesehen haben könnte, vor dem Krieg, als alles noch heil war. Papa hat hier gewohnt und gearbeitet, aber er erzählt nie davon. Er erzählt überhaupt nie irgendwas von früher.   „Iiih!“, Mindys schriller Schrei reißt mich aus meinen Gedanken.   Sie hat eine Tür aufgemacht und dahinter liegt ein Skelett. Vermutlich einer der Wachen von der Königsgarde, der damals im Kampf gefallen ist… total gruselig und eklig, aber irgendwie auch interessant. Was der Soldat wohl im Schrank gemacht hat? Sicher hat er sich versteckt um die Angreifer aus dem Hinterhalt zu besiegen und wurde erwischt.   „Nyx, komm da weg, das ist voll gruselig!“, ruft Cindy und ich beeile mich, die anderen einzuholen.   Irgendwem muss ich sagen, dass da noch ein toter Soldat liegt, aber wie, ohne zuzugeben, dass ich in der Zitadelle war? Ich will keine drei Monate Hausarrest, aber ich will auch nicht schuld sein, dass der arme Mann hier weiter liegen muss.   „Ich komme schon, wartet doch!“, rufe ich meinen Freunden hinterher.   Mitten im Gang liegt eine umgestürzte Säule, über die ich drüber klettern muss. Gerald kann solche Hindernisse einfach überspringen und die Mädchen passen unten durch, aber ich bin dafür zu groß und noch nicht stark genug. Die anderen lachen nur und rennen weiter, als ich auf der anderen Seite unsanft in den staubigen Teppich plumpse. Ich rapple mich hoch und beeile mich, wieder aufzuschließen – immerhin laufen kann ich schon ziemlich schnell.   „Tolle Freunde seid ihr“, beschwere ich mich, als ich keuchend hinter den anderen her trabe.   „Pfft, Freunde“, lacht Gerald, „Wir hängen doch nur mit dir rum weil unsere Eltern wollen, dass wir nett zu dir sind.“   „Ja, weil dein Vater ein Held ist“, ergänzt Mindy.   Cindy und Sandy kichern lautstark. „Held…“, murmelt Cindy, als wäre es ein Schimpfwort.   „Ich verstehe nicht…“   „Dein Vater ist kein Held, Nyx“, erklärt Gerald grinsend, „Er ist nur ein Krüppel.“   „Ja, ein blinder Krüppel“, ergänzt Sandy.   „Das ist doch dasselbe“, meint Mindy.   „Mein Vater ist kein Krüppel!“, wehre ich mich, „Und er ist sehr wohl ein Held! Papa hat bis zum Schluss mit gekämpft, damit der Krieg aufhört!“   „Lügner“, schimpft Gerald und schubst mich so doll, dass ich auf den Hintern falle, „dein Vater ist blind, der hat niemals noch gekämpft.“   „Ja, er wäre den echten Helden doch nur im Weg gewesen“, ist sich Cindy sicher.   „Gar nicht wahr, Papa ist niemandem im Weg!“   Ich sehe meinen Vater jeden Tag und weiß, wie er sich bewegt. Sicher, er reagiert oft anders als die anderen und merkt manche Sachen nicht, weil er sie nicht sehen kann, aber er bekommt alles mit und kann fast alles machen. Wenn man ihm ein bisschen hilft, kocht er sogar besser als Mama. Nur Auto fahren kann er nicht.   „Vergiss es, Nyx“, winkt Gerald ab, „dein Papa ist nur ein Krüppel und ein Angeber. Die Erwachsenen sagen nur, er wäre ein Held, weil er mit den Amicitias befreundet ist.“   „Ja, und das sind ECHTE Helden“, stimmt Mindy zu, „Mit denen will sich keiner anlegen.“   „Ich bin auch mit einer Amicitia befreundet“, schmolle ich und weiß gleichzeitig, dass das vielleicht gar nicht mehr so wahr ist. Seit Crowe mit ihrer Familie nach Galahd gezogen ist, habe ich sie nicht mehr gesehen…   Und wir können sie auch nicht besuchen, weil Mama im Restaurant arbeiten muss und Papa nicht Auto fahren darf. Weil er nichts sieht… der Gedanke, dass Gerald doch Recht haben könnte, tut weh, aber ich schlucke die Tränen tapfer herunter und folge den anderen weiter in die Zitadelle hinein.   Das Licht, das durch die hohen Fenster in den mit altem Teppich ausgelegten Gang fällt sieht wunderschön aus und die Vorhänge wehen mit einem geheimnisvollen Flüstern, aber im Moment habe ich keinen Sinn für den Hauch des Abenteuers, der in jeder Ritze des alten Gemäuers steckt.   Papa wird schimpfen, wenn er hört, dass ich hier war, und die Freunde, die mich zu diesem Abenteuer überredet haben, sind gemein zu mir. Und vielleicht gar nicht wirklich meine Freunde… auch der Gedanke tut weh.   Ich muss tapfer bleiben, rede ich mir ein, immerhin bin ich der Sohn eines Helden, egal was die anderen sagen. Und ich trage den Namen eines noch viel größeren Helden, und das kann mir keiner nehmen. Nyx Ulrich, der letzte der Gleven, der letzte Mann, der in Insomnia gekämpft hat, damit die Menschen noch fliehen können. Der letzte große Held der alten Zeit und einer der wenigen, die den mächtigen Ring der Könige anlegen durften, ohne sofort zu sterben.   Für ihn und meinen Vater muss ich stark bleiben.   „Schaut mal, wie cool ist das denn?“   Mindys Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. Wir sind im Thronsaal angekommen, aber es ist nicht der Raum selbst mit seinen hohen Stühlen und den aufwändigen Verzierungen, der Mindy so in Aufregung versetzt hat.   Vor dem Thron liegen hunderte weißer Blumen auf den Stufen, Kerzen, Geschenke. Ich erkenne sofort, dass es ein Altar für den toten König ist, eine Gedenkstätte für diejenigen, die ihn geliebt haben und vermissen. Papa geht jeden Sonntag in die Zitadelle, und jetzt verstehe ich auch, wieso – er kommt genau hier her. Die Blumen sehen alle frisch aus, der ganze Altar ist so ordentlich und sauber hergerichtet wie alles, was Papa mit seinen Händen erreichen kann, immer ist.   „So schöne Blumen“, quietscht Cindy, greift sich einen der Kränze, bevor ich sie aufhalten kann, und setzt ihn sich auf den Kopf: „Schaut mal, ich bin eine Prinzessin!“   „Leg das zurück!“, fordere ich, „Das ist eine Gedenkstätte für den König!“   „Pfft“, macht Sandy abschätzig und sucht sich selbst die schönsten und frischesten Blumen heraus, „Der König ist tot, den stört dass doch nicht.“   „Das ist trotzdem respektlos“, versuche ich zu erklären, „sowas macht man nicht, das ist, das… das ist Grabschändung!“   „Du immer mit deinen großen Wörtern“, brummt Gerald und wühlt selbst zwischen den Blumen herum, „Streber.“   Er zieht einen glitzernden Fischköder aus der Sammlung an Geschenken, betrachtet ihn in einem der Lichtstrahlen, die durch die zerbrochene Decke fallen, und wirft ihn achtlos über die Schulter.   „Ramsch“, urteilt er, „Was will ein König denn mit so einem billigen Ding?“   Ich beiße die Zähne zusammen vor Wut, absolut ohnmächtig gegenüber der Gleichgültigkeit, mit der meine angeblichen Freunde das Andenken an Papas geliebten König zerstören.   „Hört auf“, fordere ich, „Hört sofort auf, ich erzähl das unseren Eltern!“   „Ja, und kassierst Hausarrest für den Rest des Jahrhunderts, weil du hier rein gegangen bist“, erinnert mich Mandy, „Du sagst das keinem.“   „Tu ich doch!“   Hausarrest hin oder her, so geht man nicht mit einem Toten um. Schon gar nicht mit dem König, der gestorben ist, um uns alle zu retten… ohne den es vielleicht keinen von uns gäbe.   „Hört jetzt endlich auf!“, schreie ich nochmal und packe Gerald am Arm, als er gerade einen Stapel alter Fotos durcheinander bringt.   „Hey, Pfoten weg, Nyx!“   Gerald ist viel größer und schwerer als ich. Er wirft mir die Fotos ins Gesicht und stößt mich mitten in die Blumen. Der Duft und der Staub bringen mich zum Husten, als ich versuche mich aufzurappeln. Ich kann hören, wie die Mädchen schimpfen, dass ich die schönen Blumen nicht zertrampeln soll, da ruft Gerald plötzlich freudig auf, als hätte er unter den Andenken endlich etwas Wertvolles gefunden.   „Ein Ring!“, jubelt er und hält etwas Kleines und Schwarzes ins Licht, „Ganz schön alt das Teil und total angelaufen, aber vielleicht wird der ja Silber, wenn man ihn poliert?“   „Oooh!“, staunt Cindy, „glaubst du das ist der Ring vom König?“   „Der Zauberring? Das wäre cool!“   „Aber stirbt man denn nicht, wenn man den anzieht?“, gibt Sandy zu bedenken.   „Das wäre natürlich doof“, überlegt Gerald, und auf seinem Gesicht macht sich ein fieses Grinsen breit. „Oi Nyx, komm mal her!“   Er will doch nicht etwa? Mir bleibt die Luft weg vor Angst und ich unternehme einen verzweifelten Versuch, abzuhauen. Allerdings scheinen den Mädchen ihre Blumen jetzt egal zu sein, sie springen einfach hinein, halten mich fest und drängen mich zu Gerald, damit der meine Hand packen kann.   „Bitte nicht!“, flehe ich, „Bitte hört auf!“   Der Ring, den Gerald gefunden hat ist fast sicher der Ring der Lucischen Könige – er sieht genauso aus wie Papa ihn mir beschrieben hat und ich bilde mir fast ein, seine Macht bis hierhin spüren zu können. Die Angst gibt mir Kraft zu einem letzten verzweifelten Aufbäumen, ich reiße meine Hand los und versuche zu fliehen, aber die Mädchen werfen sich auf mich und Gerald hat mein Handgelenk sofort wieder fest im Griff.   „Halt endlich still, kleiner Held. Dann sehen wir ja, ob du deinen Namen Wert bist…“   „Bitte hört auf!“   Zu spät. Gerald steckt den Ring auf meinen Finger und die Welt vor mir geht in Flammen auf.         Die zerstörte Gedenkstätte um mich ist verschwunden. Der ganze Thronsaal ist verschwunden. Gerald, Cindy, Mindy und Sandy sind verschwunden.   Einen Moment lang gibt es nur mich, den Ring, und diese unglaubliche Macht, die durch jede Faser meines Körpers strömt, als wollte sie mich von innen zerreißen. Seltsame Zeichen blitzen um mich herum auf, Farben, die ich in der echten Welt nie gesehen habe und für die ich keinen Namen weiß. Und dann sind da die Stimmen. Keine echten Stimmen wie die von Gerald oder Cindy. Magische, tiefe Stimmen, die mit jeder Silbe tausendfach wiederhallen und wie endlose Echos in meinem Kopf dröhnen, als wäre ich von tausend flüsternden Geistern umgeben, deren Stimmen sich zu einem ungeheuren Lärm aufbauen.   Ich schreie, aber meine eigene Stimme höre ich nicht.   „Schon gut Junge, hab keine Angst.“   Ich öffne meine Augen und sehe Schatten vor mir. Farbige Schatten, die genauso leuchten wie die Zeichen, die vor meinen Augen und durch meinen Kopf zucken und mich schwindelig machen. Vierzehn riesige Gestalten in langen Gewändern. Zwei Frauen, zwölf Männer, einer davon kniet sich tröstend zu mir herunter. Die alten Könige…   „Ich wollte den Ring nicht nehmen“, entschuldige ich mich, „Es tut mir so Leid, bitte…“   „Hab keine Angst“, wiederholt der Geist, der vorhin gesprochen hat.   Er scheint der jüngste der Geister zu sein und weil er mir am nächsten ist, kann ich seine Gestalt halbwegs erkennen. Er hat wuschelige Haare und einen kurzen Bart. Seine Augen sehen freundlich aus, wie die von Papa. Das gibt mir Mut.   „Seid ihr König Noctis? Mein Vater hat mir von euch erzählt.“   „Du bist Ignis‘ Junge, nicht wahr?“, fragt der König. Auch seine Stimme hallt grausam in meinem Kopf nach, aber es tut nicht mehr so weh. Überhaupt tut nichts mehr so weh. „Wie ist dein Name?“   „Nyx. Nyx Scientia.“   Einer der anderen Könige lacht. „Wie passend…“ Auch seine Stimme klingt nett.   „Bitte, ich will nicht sterben“, flehe ich, „Ich wollte den Ring nicht nehmen, und ich wollte auch niemanden wütend machen, bitte… bitte, ich will heim zu meinem Papa…“   Und weg von den ‚Freunden‘ die so gemein sind. Die einfach das Grab eines Königs zerstören und mir einen Ring anziehen um zu sehen, ob man davon stirbt. Ich hab Angst… Angst zu sterben, aber noch mehr Angst, zurück in der Zitadelle zu sein. Papa… ich will zu meinem Papa…   „Hab keine Angst, Nyx.“, wiederholt der junge König.   Die schattenhafte Gestalt kommt näher. Ich schließe ängstlich die Augen, bevor der Schatten mich berührt, aber er fühlt sich nicht an wie ein Geist. Im Gegenteil, seine Arme fühlen sich echt und kräftig an, und sein Körper ist warm, als er mich schützend an seine Brust drückt.   „Den nehme ich wieder an mich“, flüstert er und ich kann fühlen, wie sanfte Finger über meine schmerzende Hand fahren und den glühenden Ring mit sich nehmen.         Mit einem Mal ist die Welt wieder normal. Die Schatten, die Muster und die Stimmen sind verschwunden, dafür ist der Thronsaal wieder da. Staubige Lichtstrahlen fallen durch die Löcher in der Decke auf die kaputten Blumen, die Fotos, die Gerald vorher gehalten hat, liegen verstreut und zerknittert dazwischen.   Ich atme zitternd ein und lehne mich in die Umarmung des Königs, der mich immer noch fest im Griff hält. Der Ring sitzt jetzt an seiner großen Hand, und ich kann die gefährliche Macht nicht mehr spüren.   Ich blicke hoch und sehe direkt in Geralds Gesicht. Er ist bleich wie ein Gespenst und seine Augen sind weit aufgerissen, ebenso die der Mädchen, die sich hinter ihm versteckt haben. Einen Moment sehen wir uns direkt an, ich zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen, er vor Angst erstarrt. Dann dreht er sich schreiend um, stößt die Mädchen beiseite und rennt davon wie ein gejagtes Tier.   Cindy, Mindy und Sandy folgen ihm kreischend und weinend. Cindy hat immer noch den Grabkranz auf dem Kopf.   Ihre eiligen Schritte verklingen schnell auf dem staubigen Boden, während um mich herum Asche zu Boden rieselt bricht alles, was in den letzten Stunden passiert ist über mir zusammen und ich fange haltlos zu weinen an.   „Alles gut Nyx, alles gut…“   Die Stimme des Königs ist tief und unglaublich sanft. Ohne das scheußliche Echo klingt sie sogar angenehm beruhigend, wie von einem echten Menschen. Ich lasse zu, dass er mich tröstend an seine Brust drückt und schluchze in seine Jacke. Der dunkle Stoff muss mal sehr teuer gewesen sein, aber jetzt ist er alt, zerrissen, und voller Asche, die mein tränennasses Gesicht ganz schwarz färbt.   „Du brauchst keine Angst mehr zu haben Nyx. Ich bin jetzt bei dir… ich beschütze dich. Versprochen.“   Ich nicke tapfer in die schmutzige Jacke und sehe hoch in das Gesicht des Königs, dass ich jetzt viel klarer erkennen kann als vorhin, als er ein Geist in dieser seltsamen Welt war. Seine blauen Augen funkeln freundlich unter den zerzausten Haaren, und er ist ganz voller Asche und Staub. Überhaupt ist hier alles voller Asche… beinahe, als hätte es gebrannt, aber nicht wie normalerweise mit einem Feuer, sondern nur da, wo jetzt der König ist.   Vorsichtig befreie ich mich aus der Umarmung und teste meine Beine. Sie zittern furchtbar, aber ich kann stehen und mich wieder halbwegs zusammenreißen. Auch der König steht auf, aber seine Beine zittern nicht. Dafür rieselt noch viel mehr frische Asche von seiner Kleidung als er sich streckt, als hätte er lange Zeit geschlafen. Er blinzelt einmal und blickt auf das Chaos zu unseren Füßen, dass mal so eine ordentliche Gedenkstätte war.   „Tut mir Leid“, sage ich eilig, „meine Freunde haben… ich konnte sie nicht aufhalten…“   „Das sind nicht deine Freunde, Nyx. Freunde tun einem nicht weh und laufen dann einfach weg. Richtige Freunde tun sowas hier.“   Er hebt eines der Fotos hoch, die auf dem Boden liegen und reicht es mir. Es zeigt eine Gruppe junger Leute, die neben einem Steg im Wasser stehen und einen riesigen Fisch hochhalten.   „Sie helfen einander, wenn einer allein etwas nicht schaffen kann, halten zusammen und beschützen sich gegenseitig. Und wenn doch einer stirbt legen sie ihm Blumen und Fotos ans Grab um zu zeigen, dass sie noch an ihn denken.“   Irre ich mich, oder sind das Tränen, die eine saubere Spur durch König Noctis‘ verrußtes Gesicht ziehen? Aber Erwachsene weinen doch nicht, oder? Erst recht keine Helden, oder Könige… Der Mann blinzelt und jetzt bin ich sicher dass es Tränen sind, die da im einfallenden Licht glitzern, während er die Fotos einzeln aufhebt und ansieht. Sie zeigen alle die gleichen vier Männer, und alle lächeln sie in die Kamera. Bei uns zu Hause sind nur Fotos die Mama gern anschaut, oder Bilder, die ich gerne mag. Papa hat keine Fotos… aber wenn er welche hätte, wären es vielleicht dieselben, die der König jetzt vom Boden aufliest. Einer der Männer auf dem Foto mit dem Fisch könnte mein Papa sein… zumindest die Haare sind ähnlich. Und der mit den schwarzen Haaren sieht aus wie der Papa von Crowe.   „Lass uns gehen“, sagt der König schließlich, nachdem er alle Fotos eingesammelt und in seine Jacke gesteckt hat, und hält mir die Hand hin. Ich hebe noch schnell den glitzernden Köder auf, den Gerald vorhin weggeworfen hat und gebe ihn dem König, bevor ich mich wieder auf den Arm heben lasse.   „Danke, Nyx. Den hätte ich fast übersehen. Aber jetzt lass uns los, dein Vater macht sich bestimmt große Sorgen.“   Ich nicke still. Die drei Monate Hausarrest kommen mir im Moment sogar recht attraktiv vor… wenigstens muss ich dann Gerald und die Mädchen nicht mehr sehen.   „Ihr seid ganz schmutzig, euer Hoheit“, murmle ich und versuche, den Staub und die Asche aus seinen verstrubbelten Haaren zu kämmen.   „Ja, da hast du wohl recht“, lacht der König, „Ignis wird ganz schön schimpfen wenn er mich so sieht.“   Irgendwie klingt es so, als würde er sich darauf freuen. Kapitel 2: Der König kehrt zurück (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------------------- Es ist schön, wieder am Leben zu sein.   Die Luft in der Zitadelle fühlt sich wunderbar frisch an, und das Licht, dass durch die Fenster fällt, ist ein lang entbehrter Luxus. In einem der kaputten Stützbalken hat sich eine Familie bunter Vögel eingenistet, das Zwitschern klingt wie Musik in meinen Ohren.   Einen Moment blicke ich zurück auf die Blumen vor dem Thron – selbst zertrampelt wie sie sind hat der Anblick der weißen Lilien im Sonnenlicht etwas Magisches an sich. Beinahe kann ich die Liebe und Zuneigung spüren, die meine Freunde an diesen Ort getrieben hat um meiner zu gedenken. Selbst jetzt wo ich weiß, dass man im Tod nichts mehr von der Welt der Lebenden mitbekommt, rührt mich der Gedanke, dass man mich in all den Jahren nicht vergessen hat.   Ich drücke das Kind in meinen Armen an mich und seine Wärme ist tröstend. Der kleine Mann sieht Ignis zum Verwechseln ähnlich – kurze, ordentlich frisierte blonde Haare, strahlend grüne Augen und eine Haltung, die von guter Erziehung und einigem Ehrgeiz spricht.   „Wie lange wart Ihr denn jetzt eigentlich tot, König Noctis?“, fragt er vorsichtig.   „Weiß nicht genau. Wie alt bist du denn?“   „Acht Jahre.“   „Dann war ich wohl mindestens neun Jahre tot. Eher mehr.“   Immerhin war Ignis noch Single, oder zumindest nicht verheiratet, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Und aus dem Nichts kommt so ein Kind ja auch nicht, wenn ich recht informiert bin. Und mein Sexualkundelehrer hat mich sehr gut auf meine Pflichten im Hinblick auf die Thronfolge aufgeklärt… besser, als es mir damals Recht war, ehrlich gesagt.   „Wenn Ihr gestorben seid, als die Lange Nacht zu Ende gegangen ist, dann müssen es zehn Jahre sein.“   „Oje, so lange schon?“   Großartig, damit habe ich jetzt offiziell die Hälfte meines Lebens verschlafen. Ich hör Gladio jetzt schon lästern.   „Ja. Papa hat Euch sehr vermisst… er hat oft im Schlaf Euren Namen gerufen, wenn er schlecht geträumt hat. Dann hat er oft gesagt, es sei seine Schuld. Dass er nicht genug getan hat, dass er das Schicksal hätte ändern können, wenn er sich nur mehr angestrengt hätte.   Stimmt das?“   „Nein, das ist Unsinn“, wehre ich ab, „Niemand kann das Schicksal ändern, egal, wie sehr er sich anstrengt. Dein Papa hat wirklich mehr als genug für mich getan… schlimm genug, dass er deswegen blind ist. Er denkt nur immer, er muss alles perfekt schaffen, da sieht er manchmal gar nicht mehr, wie gut er es eigentlich schon hinbekommen hat.“   „Mama sagt auch, es ist nur ein dummer Albtraum. Und, dass das vom Krieg kommt, dass Papa so weint, wenn er aufwacht.“   „Da hat deine Mama Recht.“   Den Albtraum, den der Junge da erwähnt, hat Ignis, seit wir Altissia verlassen haben… seit er blind ist. Er hat uns gegenüber behauptet, er würde sich nicht mehr an alles erinnern, aber ich glaube er wusste, was die Götter mir vorherbestimmt hatten… dass ich sterben muss, um Ardyn zu besiegen. Sicher hat er nicht nur gekämpft, um mich an Ort und Stelle zu beschützen sondern auch, um gegen das Schicksal anzukämpfen. Ein unmögliches Unterfangen, natürlich, aber Ignis wäre nicht Ignis wenn er es nicht zumindest versucht hätte.   Wie mit den Süßigkeiten aus Tenebrae… auch da ist er erstaunlich weit gekommen mit seiner unnachgiebigen Haltung. Aber manche Dinge lassen sich eben nicht mit Geduld lösen.   „Glaubt Ihr, Papas Albtraum geht weg, jetzt, wo Ihr wieder da seid, Hoheit?“, fragt Nyx hoffnungsvoll.   „Besser wär’s“, meine ich, „Im Zweifelsfall erzählen wir ihm einfach ich wäre zurückgekommen, weil er die Götter doch noch weich gekriegt hat. Ist vielleicht nicht mal gelogen…“   Zumindest bilde ich mir ein, Ignis‘ Stimme gehört zu haben, bevor der Junge den Ring berührt hat. Irgendjemand hat mich bewusst gerufen, und derjenige muss bei den Göttern einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Ich hoffe nur, dass sie dafür kein zu großes Opfer verlangt haben… Wenn auch nur einer meiner Freunde für meine Rückkehr leiden muss mach ich Bahamut persönlich die Hölle heiß.   Der alte Teppich staubt furchtbar mit jedem Schritt, und ich bin mir nicht sicher ob ich mehr Staub an meine Schuhe bekomme als ich Asche auf dem Teppich verteile oder umgekehrt. Die Spuren der Kinder sind jedenfalls deutlich im Staub zu sehen.   „Spielt ihr hier öfter?“, frage ich neugierig.   Nxy blickt ziemlich ertappt drein und ist mir damit sofort sympathisch. Da spielt wohl noch jemand gern, wo’s die Eltern nicht erlauben… macht aber auch am meisten Spaß, wenn man das Kindermädchen erstmal losgeworden ist.   „Eigentlich dürfen wir hier gar nicht spielen“, gibt er zu.   „Kann ich mir vorstellen. Ist ja ganz schön baufällig das alles, da tut man sich schnell mal richtig weh.“   Oder Schlimmeres. Der Boden unter der umgestürzten Säule ist ganz schön rissig und bricht zum Teil weg, als ich auf die falsche Stelle trete. Ich mache schnell einen Ausfallschritt zurück, als Teile des Bodens wegbrechen, und blicke durch das Loch im Teppich nicht nur ein, sondern gleich zwei Stockwerke nach unten. Nyx schluckt hörbar. Wenn ich die Spuren im Staub richtig deute ist eines der Kinder genau hier vor nicht allzu langer Zeit hingefallen… das war knapp.   Vorsichtig, das Kind immer noch fest im Arm, klettere ich über die umgestürzte Säule.   „Ich weiß ja, dass verbotene Orte am coolsten sind“, gebe ich zu, „aber hier spielt ihr besser echt nicht mehr.“   „Versprochen“, versichert mir Nyx und klammert sich ängstlich an meine Schultern.   Ich teste meine Kräfte aus, in dem ich erst einen einfachen Dolch und dann eine kleine Flamme in meiner Hand erscheinen lasse und es beruhigt mich, wie leicht mir beides fällt. Im schlimmsten Fall sollte ich in der Lage sein, mich mitsamt dem Kind in Sicherheit zu warpen. Schon komisch, dass die Zitadelle in den letzten zehn Jahren nicht repariert wurde. Auf der anderen Seite gab es ja auch keinen König mehr, also war das Gebäude wohl einfach nicht mehr wichtig?   Noch ein paar Treppenfluchten runter, möglichst nicht auf die losen Stufen treten – ich frage mich langsam echt, wie die Kinder hier lebend rein gekommen sind. Oder bin ich einfach zu schwer für die brüchigen Steine? Andererseits sind Ignis und die anderen ja auch irgendwie bis zum Thronsaal und wieder zurück gekommen.   Im Erdgeschoss angekommen fühle ich mich dann doch etwas sicherer, hier scheint der Boden auch nicht so angegriffen wie in den oberen Stockwerken. Vorsichtig setze ich Nxy wieder am Boden ab, halte aber weiter seine Hand, um ihn notfalls mit in den Warp ziehen zu können, wenn unter uns etwas wegbricht.   Es ist erstaunlich leicht sich in der Ruine zu orientieren. Es ist vieles zerstört und Teile des alten Gemäuers fehlen ganz, aber die Zitadelle ist immer noch mein Zuhause. Meine Füße finden den Weg zum Vordereingang fast schon von selbst… oder sie würden es, müsste ich mich nicht stetig dazu ermahnen, jeden einzelnen Stein auf seine Trittfestigkeit zu prüfen. Nicht weit von Eingang höre ich plötzlich Schritte, die uns entgegen kommen. Ich bleibe stehen um zu lauschen, und tatsächlich erkenne ich das Geräusch – genau diese Schritte haben mich schon fast mein ganzes Leben lang begleitet.   „Ignis!“   „Noctis“, die vertraute Stimme klingt erstaunlich gelassen, gerade so, als wäre Ignis kein bisschen überrascht, mich hier zu treffen. Trotzdem werden seine Schritte etwas schneller, bis er den Torbogen erreicht hat und wir uns endlich direkt gegenüber stehen. Nyx geht vorsichtshalber hinter mir in Deckung.   Um den Jungen nicht im Stich zu lassen bleibe ich bei ihm stehen und breite lediglich einladend die Arme aus, bevor mir einfällt, dass Ignis das vermutlich gar nicht sehen kann. Aber der kommt zum Glück trotzdem auf mich zu und umarmt mich wie einen Bruder.   Die Wärme seines Körpers fühlt sich unglaublich gut an, er riecht nach Gewürzen und dem fruchtigen Shampoo, dass er so gerne benutzt und er stört sich kein bisschen daran, dass ich Asche und Staub und Dreck auf seiner saubere Kleidung verteile. Die tröstende Nähe tut unglaublich gut und mir kommen schon wieder die Tränen. Ich versuche noch, mich zusammenzureißen, aber Ignis hat längst gespürt, wie sehr ich zittere, und drückt mich fester an sich. Ich kann nichts weiter tun als in seine Schulter zu weinen bis der ganze Stress und die Anspannung endlich von mir abfallen und Ignis lässt es sich wortlos gefallen, hält mich fest, streichelt mir über die Haare und spricht beruhigend auf mich ein, wie er es immer getan hat, wenn es mir schlecht ging.   „Meine Güte, wie du wieder aussiehst…“, schnurrt er, „du kommst daheim gleich unter die Dusche, aber ohne Widerrede.“   Ich sehe trotzig hoch in sein Gesicht und mache mich bereit, zu widersprechen – ich bin kein Kind mehr, zumindest waschen kann ich mich selbst, die üblichen Proteste eben – da fallen mir zwei wichtige Dinge auf: Ignis weiß, wie dreckig ich gerade aussehe, und seine Augen sind genauso klar und strahlend grün wie früher.   „Du kannst wieder sehen?“, frage ich erstaunt.   „Seit etwa heute Morgen, ja. Ich bin noch ein klein wenig überfordert nach all der Zeit, aber immerhin lag ich richtig mit der Vermutung, dass das noch das kleinste Wunder des heutigen Tages sein würde.“   Ich weiß nicht, was ich darauf noch erwidern soll und bleibe einfach nur mit offenem Mund stehen, während Ignis einen Kamm aus der Tasche zieht und sich an meinen Haaren zu schaffen macht. Es ziept furchtbar und mir fällt ein, dass ich noch gar keinen Spiegel gesehen habe unterwegs… und vielleicht will ich auch gar nicht wissen, wie ich gerade aussehe. Wahrscheinlich wie der letzte Penner, der in ‘nem Kohleschacht geschlafen hat.   „Deine Haare sind ganz schön lang geworden“, fällt Ignis auf und ich brumme genervt, „Allerdings wesentlich weniger lang als man nach zehn Jahren vermuten würde.“   „Wie auch immer“, wehre ich ab, „Ich bin mir sicher, du bekommst das schon wieder hin.“   „Natürlich, dafür bin ich ja da.“   Ich würde gerne weiter schmollen, aber im Moment bin ich einfach zu glücklich, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Ich bin wieder zu Hause, Ignis kann wieder sehen, ich werde betüddelt wie ein kleines Kind und muss mich auf keine dunkle Zukunft mehr einstellen. Es ist wieder wie früher, nur, dass da jetzt noch ein kleines Kind mit im Raum ist, das den Austausch zwischen mir und seinem Vater mit absolutem Unglauben verfolgt.   Ich kenne die Art, wie Ignis den Kleinen gerade ignoriert, und weiß nur zu gut, dass da einiges an Ärger auf den jungen Mann zukommt, wenn er nicht genau die richtigen Knöpfe drückt… Jahrelange Erfahrung hat mir beigebracht, wie ich Ignis nach jeder Schandtat gnädig stimmen kann, aber ob der Junge das in seinem zarten Alter auch schon so gut hinbekommt ist ungewiss.   „Ich hatte mir eigentlich ein größeres Empfangskomitee erwartet“, gebe ich zu, um noch ein wenig abzulenken.   „Ah, ja. Gladiolus und Prompto sind leider Momentan nicht in der Stadt. Ich hab sie auf meine Ahnung aufmerksam gemacht aber… nun, es ist etwas schwierig im Moment.“   „Inwiefern schwierig?“, hake ich nach. Die Formulierung, und Ignis‘ reservierte Haltung dabei, versetzen mich in Alarmbereitschaft. „Ihr habt euch aber nicht zerstritten, oder?“   Ignis weicht meinem Blick aus und beißt getroffen die Zähne zusammen. „Zerstritten würde ich es jetzt nicht nennen“, wendet er ein, „es ist nur… es war nicht leicht in den letzten zehn Jahren. Dein Tod hat uns alle ziemlich hart getroffen, obwohl wir wussten, dass es so kommen musste.“   Ignis seufzt tief und streicht abwesend, und völlig erfolglos, über die Ascheflecken auf meiner Jacke.   „Mit dem Schmerz geht einfach jeder anders um. Prompto wollte darüber reden, ich konnte genau nicht darüber reden und Gladio ist bei jeder Erwähnung des Themas in die Luft gegangen wie eine schlecht gesicherte Munitionskammer. Da sind einige Wörter und Sätze gefallen, die man nicht mehr so leicht zurücknehmen kann, verstehst du? Letztendlich… letztendlich war es das Beste, erstmal ein wenig Abstand zu einander zu suchen, bis die Wunden ein wenig verheilt sind.“   Ich blicke traurig zu Boden bei dem Gedanken, dass meine besten Freunde sich meinetwegen so in die Haare bekommen haben. Mir fallen die Blumen wieder ein, die vor dem Thron gelegen haben, und mir wird jetzt erst richtig klar, wie viel Schmerz damit verbunden gewesen sein muss, sie dort für mich abzulegen.   Ignis lacht leise und ich blicke verwirrt zu ihm hoch.   „Es ist alles nicht so schlimm, wie es sich vielleicht gerade anhört, Noct. Wir haben uns am Ende schon wieder vertragen, es hat uns nur ein wenig auseinander gezogen. Und dann sind da Dinge passiert die… nun, darüber reden wir besser später. Wir sind immer noch ein gutes Team, und wir nehmen einander nicht übel, was im Streit gesagt wurde. Hast du den kleinen Altar gesehen, den Prompto für dich aufgebaut hat?“   Ich schlucke heftig. „J… ja, also“ nun bin ich es, der irgendwie abwiegeln muss. Ich seufze tief und entscheide mich, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. „Was davon noch übrig ist. Die Kinder… und damit meine ich nicht Nyx, sondern die Drecksgören, die ihn hier reingeschleift haben, haben sich leider ziemlich daneben benommen.“   Die Sache mit dem Ring behalte ich mal lieber für mich, das zumindest muss Ignis nicht unbedingt wissen… oder jedenfalls nicht von mir.   „Aber die Fotos zumindest sind heil geblieben. Ich hab mich sehr darüber gefreut.“   Der letzte Satz kommt mir schwer über die Zunge, denn schon wieder drängen sich Tränen an die Oberfläche. Der Gedanke, wie Prompto sich gefühlt haben muss, ganz allein da vor dem leeren Thron mit den ganzen alten Fotos aus einer Zeit, in der wir noch alle zusammen glücklich waren… Ignis‘ Hände auf meinen Schultern sind beruhigend, und ich habe mich schnell wieder unter Kontrolle.   „Ich bin sicher er wird sich freuen, das zu hören“, versichert mir Ignis, und in seiner Stimme schwingt etwas mit, was mir Sorgen macht. Meine Hand tastet nach den Fotos in meiner Brusttasche und mir wird einen Moment lang fast übel vor Angst.   „Kommt jetzt, alle beide. Wenn ihr vor dem Essen noch baden wollt – und da bestehe ich darauf – sollten wir uns langsam beeilen. Clara muss ja nicht unbedingt erfahren, wo ich unseren Jungen wieder erwischt habe, nicht wahr Nyx?“   Nyx schluckt hörbar und stimmt eilig zu. Anscheinend ist es wohl doch eher die Mutter, die die großen Strafen anordnet, und nicht Ignis selbst. Hätte ich mir fast denken können, denn so sehr Ignis oft schimpft, er ist doch immer derjenige, der am Ende einfach seufzend hinnimmt, wenn man mal wieder das Gemüse nicht isst. Ich kann echt froh sein, ihn zu haben.   Entsprechend gerne lasse ich zu dass Ignis seinen Arm um mich legt und mich sicher aus der Zitadelle heraus schiebt. Nxy greift seine freie Hand und beeilt sich, Schritt zu halten. Der arme Junge sieht auch ganz schön fertig aus, sicher ist er erleichtert, dass sein Vater die Schimpftirade stecken gelassen oder vielmehr vertagt hat. Ich sollte später wohl auch der Mutter gegenüber ein gutes Wort für den Kleinen einlegen, damit er nicht zu viel Ärger bekommt… er hat genug erlebt, um weitere Abenteuer erstmal unattraktiv zu machen.   Ignis lebt anscheinend nicht weit von der Zitadelle in einem kleinen Appartement. Diese Gegend hat schon früher zu den eher besseren Orten der Stadt gehört, und sie scheint auch fast vollständig wiederhergestellt worden zu sein; von den Schrecken des Krieges ist kaum noch etwas zu sehen, nur die Bäume auf den Grünanlagen sind zierlicher und deutlich jünger als früher.   Das Apartment selbst ist angenehm groß, ordentlich bin hin zu pedantisch, dabei aber hell und offen. Im Gegensatz zur Zitadelle ist der einzige Staub hier der, den wir gerade herein tragen, und ich fühle mich plötzlich erst richtig schmutzig. Selbst Ignis‘ vorher so saubere Kleidung ist inzwischen ganz schwarz vor Ruß, aber das scheint ihn gar nicht zu stören.   „Willst du zuerst unter die Dusche, Nyx?“, fragt Ignis und der Junge nickt eifrig.   „Sehr schön, dann können wir Großen uns nachher etwas Zeit lassen. Clara müsste bald zurück sein, vielleicht kannst du ihr von unserem Gast erzählen und dann beim Kochen helfen?“   „Ja, gute Idee“, stimmt Nxy zu und eilt ins Bad. Immerhin hat so auch er in der Hand, ob er seiner Mutter den Ausflug in die Zitadelle beichten will oder lieber nicht.   „Clara also, ja?“, spreche ich nun doch endlich die Frage aus die mir auf dem Herzen legt, seit ich den Mini-Ignis zum ersten Mal gesehen habe.   Am liebsten würde ich mich auf das bequeme Sofa fallen lassen, aber ich bin immer noch voller Ruß und das helle Wildleder sieht nicht aus, als sollte ich es im Moment anfassen… also bleibe ich trotz der langsam einsetzenden Erschöpfung stehen und bemühe mich, meinen Dreck nur auf den Parkettboden rieseln zu lassen.   „Ja, Clara“, Ignis schmunzelt etwas, fast, als wollte er konkretere Fragen provozieren, lässt sich dann aber doch zu einer ausführlicheren Antwort herab: „Die Tochter der Palastköchin in Tenebrae. Ich habe sie während der langen Nacht in Leide kennen gelernt, sie hat mir damals sehr geholfen, das Kochen neu zu lernen.“   „Du hast uns nie von ihr erzählt“, werfe ich ihm vor.   „Ja, das kann sein. Irgendwie gab es immer etwas Wichtigeres zu besprechen als mein Liebesleben. Zumal ich mir damals selbst nicht erlaubt habe, mir diese Gefühle einzugestehen, bevor meine Pflicht erledigt und die Welt gerettet ist.“   „Keine Zeit glücklich zu sein solange andere leiden, was? Typisch Ignis…“   Ich klopfe meinem alten Freund liebevoll gegen die Brust und ernte nur ein verlegenes Lächeln dafür.   „Und dann habt ihr gleich geheiratet und dieses süße Kind in die Welt gesetzt, was? Der kleine sieht dir total ähnlich.“   „Ja, das sagen eigentlich alle, die ihn sehen. Und sie haben wohl Recht, auch wenn ich das heute zum erstem Mal selbst wirklich bestätigen kann.“   Muss grausam sein, blind durch eine Welt zu gehen, in der alle anderen sehen können. Da bekommt man gleich viel mehr Respekt für Ignis‘ Entschlossenheit, trotzdem für einen neuen Tag zu kämpfen, damit für alle außer ihn wieder die Sonne scheinen kann.   Nyx kommt, in einen flauschigen bunten Bademantel gewickelt, zurück ins Wohnzimmer und Ignis nimmt das zum Anlass, dafür mich ins Bad zu schieben. Mir fällt auf, dass er die Augen die meiste Zeit über geschlossen hält, fast so, als könnte er sich in seinem zu Hause blind besser orientieren als mit sehenden Augen. Als er die Tür hinter uns abschließt macht er die Augen kurz auf um dann wie geblendet zurück zu schrecken. Kein Wunder – der ganze Raum ist voller Spiegel, ein Kabinett von optischen Täuschungen, mit denen sich sein Gehirn seit Jahren nicht mehr auseinander setzen musste.   „Alles okay?“, frage ich besorgt und berühre vorsichtig seinen Arm.   „Ja, mir ist nur etwas schwindelig. Ich muss mich wohl erst wieder an diese optischen Reize gewöhnen…“   „Lass dir Zeit. Diesmal zumindest kannst du ja einfach die Augen schließen, wenn dir die Alternative zu viel wird.“   „Das ist in der Tat eine Stufe einfacher als andersherum, ja“, lacht Ignis und streichelt mir über den Kopf. Faszinierend, wie treffsicher er inzwischen geworden ist… ich frage mich, ob die Schärfe seiner anderen Sinne irgendwann wieder nachlässt, wenn er seine Augen wieder nutzen kann. Sicher wird sein Gehirn wieder einige Kapazität auf die Auswertung der optischen Reize verwenden müssen, und diese Bereiche fehlen dann wieder den anderen Sinnen… wäre ja sonst auch echt unfair uns normalen Menschen gegenüber.   Ignis stellt mir einen kleinen Korb hin, in den ich meine Taschen leeren kann, bevor meine Klamotten im Wäschekorb landen. Ich lege die Fotos und den Angelköder hinein und krame zur Sicherheit noch alle anderen Taschen durch… Ein paar Heiltränke, vor Jahren abgelaufen natürlich, eine zerknitterte Phönixfeder, eine Kaktorfigur, die ich eigentlich mal Talcott geben wollte, Spielmünzen aus Altissia, die ich vergessen hatte einzulösen… was man nicht alles findet wenn man mal in den alten Klamotten gräbt. In den Tiefen meiner Hosentasche findet sich sogar noch ein rostiger Chocobo-Poppeck, von dem der Angelhaken abgebrochen ist. Warum habe ich den eigentlich nie weggeworfen? Ich zucke die Schultern und lege ihn trotzdem zu den anderen Sachen in den Korb, bevor ich Ignis erlaube, mir die Jacke von den Schultern zu ziehen.   Eigentlich lege ich schon einen gewissen Wert darauf, dass ich, selbst als König, in der Lage bin mich wie ein normaler Mensch selbst zu waschen und umzuziehen. Im Moment allerdings ist es einfach ganz angenehm, sich dem Luxus hinzugeben und Ignis einfach machen zu lassen… nicht, weil ich mich unbedingt faul zurücklehnen will, sondern auch um ihn die Chance zu geben, zumindest ein wenig der verlorenen Zeit nachzuholen.   „Die Asche ist ja sogar IN der Kleidung“, stellt er entrüstet fest und ich muss lachen.   „Ja, das Zeug kommt überall hin. Das passiert wohl, wenn man wie Phönix aus der Asche wieder aufersteht…“   Ignis stimmt in mein Gelächter mit ein und wirft die schmutzige Jacke in den Wäschekorb. Ob es sich wirklich lohnt, das alte Ding nochmal zu reinigen ist die andere Frage… und der Rest meiner Kleidung sieht auch nicht viel besser aus. Da steht wohl demnächst eine ausgedehnte Shoppingtour an.   „Fürs erste kann ich dir etwas von meinen Sachen leihen, das sollte zumindest für heute Abend genügen“, überlegt Ignis, während er die Wassertemperatur prüft, „Wird nicht ganz perfekt passen aber es ist besser als nichts.“   „Und besser als die alten Lumpen“, stimme ich zu, „Ich brauch dringend neue Sachen.“   Insbesondere, wenn der Rest der Welt mitbekommt, dass ich zurück bin. Die werden ihren König sicher nicht in seiner zwanzig Jahre alten, gut genutzten Kampfuniform sehen wollen… bäh.   Ignis öffnet wieder kurz die Augen um seine eigene Kleidung zu prüfen, runzelt die Stirn und wirft Hemd und Hose auch gleich in den Wäschekorb, bevor er mich zu sich unter die Dusche zieht. Das Wasser ist erschreckend angenehm und verfärbt sich fast sofort pechschwarz, als es über meine Haut auf den Boden rinnt.   „Da haben wir ja was vor“, meint Ignis tapfer, und der altbekannte Tonfall bringt mich schon wieder zum Lächeln. Seufzend schließe ich die Augen und genieße das Gefühl, wie Ignis Hände die Seife auf meinem Körper verteilen, bis langsam der Duft des Duschgels den penetranten Geruch nach Ruß verdrängt. Die sanfte Massage tut gut, ich hatte vorher gar nicht gemerkt, wie verspannt ich eigentlich war. Seufzend lehne ich mich gegen Ignis Brust, lasse mich wieder im Arm halten während er mir die Haare wäscht, ganz wie früher, als ich noch ein kleines Kind war. Wir haben oft zusammen gebadet damals. Ich weiß gar nicht mehr wann ich angefangen habe, dagegen zu protestieren. Und warum, vor allem.   „Du bist ja richtig anhänglich heute“, bemerkt Ignis, während er mir vorsichtig den Schaum aus den Haaren wäscht.   „Mja… hab halt Nachholbedarf.“   Und ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn und die anderen so lange alleine gelassen habe. Aber das sage ich lieber nicht laut… Ignis weiß auch so, dass er mir wichtig ist, und ich möchte ihn nicht unbedingt darauf aufmerksam machen, dass ich gemerkt habe, wie sehr er meine Nähe sucht. Als würde ich wieder verschwinden, wenn er mich zulange loslässt.   „Ich bin auch froh, dass ich dich wieder habe“, gibt Ignis schließlich ganz von selbst zu und drückt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, „Ich hab dich wirklich vermisst, kleiner Bruder.“   Die Worte treffen mich direkt ins Herz und ich erwidere die Umarmung stürmisch. Mich so zu nennen hat Ignis sich nicht mehr getraut, seit wir ganz klein waren… seit eines meiner Kindermädchen ihn darauf aufmerksam gemacht hat, dass mein Vater es sicher anders gemeint hat, als er sagte, Ignis solle sich wie ein großer Bruder um mich kümmern.   Ich erinnere mich noch genau, wie enttäuscht ich damals war. Ich hätte gerne einen großen Bruder gehabt. Natürlich war mir immer klar, dass trotzdem ich König werden und regieren müsste, weil Ignis und Vater nicht wirklich verwandt waren, aber in allen anderen Belangen wäre es ja trotzdem schön gewesen, mal ein wenig Verantwortung anzugeben und einfach nur das verwöhnte Kind sein zu dürfen. Immerhin das hat mir Ignis aber auf jeden Fall gegeben, und zwar bis zuletzt. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sicher auch an meiner statt mit dem Ring gegen Ardyn gekämpft und wäre für mich gestorben. Kein schöner Gedanke. Aber jetzt ist ja alles gut.   Einen kurzen Moment kann ich die feste Umarmung noch genießen, dann klopft Ignis mir sachte auf die Schulter und ich muss loslassen, damit er mich abtrocknen kann. Schade eigentlich, aber langsam wird es tatsächlich etwas kalt.   Ignis Kleidung passt erstaunlich gut, etwas eng um die Hüfte, dafür um Meilen zu lang, aber ansonsten ganz passabel. Und außerdem natürlich warm, sauber und ohne unnötige Löcher. Inzwischen scheint auch die Dame des Hauses anwesend zu sein und wir erreichen das Esszimmer gerade rechtzeitig zum Essen. Und wie gut das duftet! Besser könnte es eigentlich nur sein, wenn Ignis gekocht hätte, aber seine Frau hat auch Talent. Natürlich schmeckt es auch nochmal um einiges besser, wenn man in einer geschlossenen Wohnung an einem richtigen Tisch isst, was in einer richtigen, gut ausgestatteten Küche entstanden ist anstatt über dem Lagerfeuer. An die Stadt könnte ich mich schon schnell wieder gewöhnen. Muss ja nicht gleich die Zitadelle sein, nur einfach mal kein Zelt.   „Wolltest du nicht noch den anderen Bescheid sagen, dass ich zurück bin?“, fällt mir ein, als ich mich ausreichend vollgefressen habe. Ignis entsperrt wortlos sein Handy und schiebt es mir zu.   Das Modell ist neu – schön zu sehen, dass die Technik nach dem Krieg wieder Fortschritte macht, die nichts mit Waffen zu tun haben – aber ich finde mich trotzdem in den wichtigsten Funktionen zurecht. Ignis scheint das Gerät hauptsächlich über die Sprachsteuerung bedient zu haben, auch seine Chatverläufe bestehen nicht aus Textnachrichten, sondern aus kurzen Sprachaufnahmen. Die letzte hat er heute Morgen verschickt.   Seine Stimme zittert dabei, er muss sie aufgenommen haben, kurz nachdem er bemerkt hat, dass er wieder sehen kann. Die Sätze sind verworren und abgehakt, aber die Nachricht ist deutlich – kommt heim, kommt zu Zitadelle, ich traue mich nicht zu sagen was ich hoffe, aber da passiert etwas Großes.   Dass er wieder sehen kann hat er mit keinem Wort erwähnt. Trotzdem sollte allein der Klang seiner Stimme eigentlich reichen, um unseren Freunden deutlich zu machen, dass etwas Wichtiges passiert. Klar regt Ignis sich leichter mal über Kleinigkeiten auf als über Dinge, die normalen Menschen Angst machen würden, aber in diesem Fall…   Gladio hat nur eine kurze Nachricht zurückgeschickt. Bin gerade unterwegs, ist grad schlecht, meld‘ dich nochmal, wenn du was Konkretes sagen kannst. Der Tonfall ist ungewohnt ruppig, beinahe ablehnend. Sagte Ignis nicht, der Streit wäre vom Tisch? Ich will gerade fragen, da spüre ich seine Hand auf meinem Arm.   „Denk dir nichts dabei, Gladio steht im Moment unter großem Stress“, beruhigt er mich.   Sicher hat er aus den Worten unseres Freundes um einiges mehr herausgehört, alle Nuancen, die ein sehender Mensch eher im Gesicht als im Tonfalls seines Gegenübers suchen würde. Ganz abgesehen von den zehn Jahren Kontext, die mir fehlen.   „Gladiolus hilft noch beim Wiederaufbau in Galahd, nicht wahr?“, mischt sich Clara ein, „Sicher ist er einfach nur sehr beschäftigt. Ein kräftiger Kerl wie er wird bestimmt hart rangenommen, wenn es irgendwo etwas zu Heben und zu S chleppen gibt. Wenn er hört, dass sein König zurück ist, lässt er bestimmt alles stehen und liegen.“   „Und fährt unterwegs vermutlich noch ein paar Blitzer um, fürchte ich“, seufzt Ignis.   Trotzdem nehme ich mir heraus, eine Nachricht zu schreiben. Schön ganz in Großbuchstaben und ohne Zeichensetzung, damit auch ja klar ist, dass der Text nicht von Ignis stammt: DER KÖNIG IST ZURÜCK   Einfach mal absenden und sehen, was passiert.   An Prompto hat Ignis dieselbe Nachricht geschickt, aber der Chatverlauf mit ihm sieht komplett einseitig aus. Ich muss ganze vier Monate zurückgehen, bis Promptos letzte Nachricht auf dem Bildschirm erscheint, obwohl Ignis ihm recht regelmäßig eine kurze Sprachnachricht geschickt hat.   Irgendwas stimmt nicht mit Prompto.   Der Gedanke, der mir schon in der Zitadelle kam, als Ignis plötzlich gemauert hat, drängt sich wieder nach vorne. Und mit ihm die Angst. Trotzdem, und um den Gedanken zu verdrängen, dass Prompto die Nachrichten vielleicht gar nicht mehr bekommt, schreibe ich auch ihm einen kurzen Text: Noct ist zurück. Machen uns alle Sorgen um dich.   Ich schiebe Ignis das Handy wieder zurück.   „Du wolltest mir vorhin noch etwas erzählen… wegen Prompto.“   Ignis wirft einen schnellen Blick in Richtung seines Sohnes, der uns verwirrt ansieht.   „Ignis Kleidung ist dir ein wenig zu groß, nicht wahr, Noctis?“, fällt Clara auf, und ihr Tonfall lässt vermuten, dass sie nur vom Thema ablenken will, „Wie wäre es, wenn ich mit Nyx in die Stadt fahre und ein paar schöne Sachen kaufe?“   „Gute Idee, Clara“, stimmt Ignis zu, und auch seine Stimme hat diesen lass-dir-vor-dem-Kind-nichts-anmerken-Tonfall in sich, „Wir beide bleiben derweil einfach hier und machen es uns ein wenig bequem, wenn es dir nichts ausmacht.“   Er steckt sein Handy wieder zu sich und macht sich daran, den Tisch abzuräumen, während seine Frau den Jungen in den Flur scheucht. Keiner hat nach meiner Kleidergröße gefragt. Ich schnappe mir eilig selbst einen der dreckigen Töpfe und folge Ignis in die Küche. Nicht unbedingt, um beim Abwasch zu helfen – ich will ihn nur nicht wieder ausweichen lassen.   Leider muss ich dafür wirklich das Geschirr abtrocknen, während wir reden.   „Tut mir Leid, dass ich das Thema aufgeschoben habe“, entschuldigt sich Ignis, während er mir einen nassen Teller reicht, „Es ist nicht ganz einfach das alles zu erklären, und Nyx weiß nicht viel davon.“   „Worum geht es genau? Was ist passiert in den letzten zehn Jahren?“   Ignis seufzt tief und schrubbt verdächtig lange an einem bestimmten Fleck herum. Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass er endlich mit der Sprache rausrückt, aber ich weiß, dass ich ihm Zeit lassen muss, die richtigen Worte zu finden. Auch, wenn es schwerfällt.   „Es ist schwer zu erklären“, gesteht er, „Hauptsächlich, weil es so schwer zu verstehen ist, selbst für uns, die wir die ganze Zeit dabei waren. Zuerst mal geht es mit der Politik los: Wir haben – oder hatten – keinen König mehr in Lucis. Da bleibt natürlich die Frage, wer jetzt die wichtigen Entscheidungen trifft, gerade nach dem Krieg, wo niemand wirklich wusste wer nun gewonnen hat. Es gab noch einige kleinere Schlachten, Niflheim wurde in die alten Grenzen zurückgedrängt und man hat sich über lange Diskussionen darauf verständigt, die Gebiete wieder so zu sortieren, wie sie lagen, bevor Niflheim seinen Siegeszug angefangen hat.“   „Das dürfte denen dort nicht gefallen haben“, vermute ich.   „Mag sein, aber letztendlich waren auch die Niflheimer froh, dass der Krieg vorbei ist. In den eroberten Gebieten hat es sich wohl ohnehin nicht so gut gewohnt, alles voller Rebellen, alles zerbombt, überall Soldaten und Kasernen… das gemeine Volk hatte nicht viel davon. Dass die Ressourcen aus anderen Ländern erbeutet statt erkauft wurden hat vielleicht kurzzeitig die Steuern gesenkt, aber das wurde schnell wieder geändert, um Geld für das Militär abzuzweigen.“   „Und jetzt wo Frieden herrscht gibt es auch wieder freien Handel?“   „Ja, und soweit ich weiß ist der neue Kaiser auch ein recht anständiger Mensch. Aranea zumindest scheint ihm zu vertrauen. Sie hat im Übrigen den Posten des Kanzlers übernommen.“   „Dann kann er ja so schlecht nicht sein. Klingt also, als wäre zumindest Niflheim schon mal ganz in Ordnung.“   „In der Tat.“   Wieder diese mauernde Haltung. Mir schwant übles.   „Accordo ist immer noch unter der Regierung von Camelia Claustra. Sie wird nicht jünger, aber sie weiß was sie tut und hat die Stadt fast vollständig wieder aufgebaut. Sie profitiert im Moment am meisten vom Frieden, der offene Handel mit allen drei Reichen schwemmt ordentlich Geld nach Altissia. Und Touristen, die mal was anderes sehen wollen als die heimischen Ruinen… da lohnt ein Besuch in der Stadt des Wassers.“   „Kaum vorzustellen nach der Zerstörung, die wir da hinterlassen haben.“   „Premierministerin Claustra ist eben eine sehr tüchtige Frau“, meint Ignis, „und sie nimmt uns nicht übel, was damals passiert ist. Wie gesagt, der Frieden mit seinen Bequemlichkeiten kommt ihr und der Stadt sehr gelegen, dafür ist sie dankbar.“   Ich trockne weiter schweigend das saubere Geschirr ab während Ignis eine weitere Pause einlegt, um den Topf vernünftig auszuspülen.   „Tenebrae hat es schwerer gehabt“, fährt er fort, „Ohne Ravus und Lunafreya war vom Königshaus nicht mehr viel übrig, die Regierung hat also eine Weile gestrauchelt, bis sich ein Ersatz gefunden hat. Anscheinend haben sie es dort mit einer demokratisch gewählten Regierung versucht und das scheint ganz gut funktioniert zu haben. Der Kanzler scheint seine Sache gut zu machen, der Aufbau geht, wenn auch langsam, voran und die Menschen zeigen sich recht zufrieden.“   „Demokratie, hm?“, frage ich. Das Wort kenne ich noch aus den alten Büchern, die ich in meiner Ausbildung als Kronprinz wälzen musste, „das ist ja ein ziemlich veraltetes System.“   „Ja, und es ist in der Vergangenheit auch schon mal schief gegangen. Aber wenn es funktioniert ist es sehr gut, die Bürger fühlen sich mit einbezogen und es ist ein recht sicheres System, das einer Machtergreifung, wie beispielsweise in einer Diktatur, entgegen wirken soll.“   „Außer man macht es wie der erste niflheimer Kaiser und ruft den Notstand aus, um künftige Wahlen ‚vorübergehend‘ außer Kraft zu setzen und die nächsten Generationen eine schöne Alleinherrschaft zu führen. Bis irgendwann alle vergessen haben, dass der Kaiser ursprünglich vom Volk gewählt wurde statt von den Göttern.“   Ignis seufzt. „Jedes politische System kann scheitern“, meint er, „Und zumindest jetzt und in Tenebrae scheint die Demokratie zu funktionieren. Zumal wohl eine Floskel eingebaut wurde, dass der gewählte Kanzler im Falle einer Rückkehr der Kannagi, oder dem Auftauchen einer neuen Kannagi, mit sofortiger Wirkung zurücktritt.“   „Das heißt, wenn Luna auch wieder am Leben wäre, wäre sie sofort wieder an der Macht?“   „Ja. Bei uns sieht es da, fürchte ich, etwas anders aus.“   Ah, kommen wir also doch endlich zum interessanten Teil.   „Wie anders?“   Ignis seufzt tief und kratzt weiter an seinem Topf herum. „Die Menschen hier waren… sagen wir mal, etwas überfordert. Niflheim hat seine Niederlage ganz gut weggesteckt, vermutlich, weil Aranea schon vorher wusste, dass es so kommen würde. Tenebrae wurde seit Jahren unterdrückt und hat sich leicht wieder aufgerappelt, der Tod der Kannagi, und der ihres Bruders, lagen auch schon weit genug zurück um sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Die Leute hier waren, gelinde gesagt, überrumpelt vom Tod ihres Königs. WIR wussten dass du sterben würdest, aber die Mehrheit der Menschen hat sich keine Gedanken gemacht.“   Endlich reicht mir Ignis den Topf zum Trocknen, wenn auch nur, um im Spülwasser nach der nächsten Ablenkung zu suchen.   „Als in Tenebrae die Idee mit der Demokratie aufkam und umgesetzt wurde hat man hier das gleiche versucht, nur mit weniger natürlich gewachsenem Vorlauf und mit weit auseinander gehenden Meinungen und Zielen der einzelnen Parteien. Anstatt, wie in Tenebrae, einen Kanzler zu wählen, der das ganze Land vertritt, hat man hier in den einzelnen Bezirken aus einer Auswahl von Parteien ausgewählt, die dann jeweils aus ihren Reihen einen Vertreter gewählt haben der dann seine Partei in die eigentliche Regierung innerhalb der Stadt zu wählen versucht. Da dabei keine eindeutige Mehrheit zustande kam wurde von jeder Partei, die mindestens zehn Prozent aller Stimmen bekommen hat, ein Kanzler ausgewählt, und diese Kanzler haben dann unter sich wiederum einen Regenten.“   „Ich glaub, bei der Sache mit den Bezirken hast du mich verloren“, gestehe ich, „klingt auf jeden Fall irrsinnig kompliziert.“   „Irrsinnig trifft es ganz gut“, seufzt Ignis und kratzt mit einem Schwamm in der Pfanne herum.   „Also… haben wir jetzt mehrere Kanzler, die zusammen regieren, und das Volk bestimmt demokratisch, oder…?“   „Nein. Wir haben mehrere Kanzler, die demokratisch untereinander abstimmen, was gemacht werden soll und wer offiziell als regierender Kanzler auftritt, und das Volk hat die Vertreter gewählt, die diese Kanzler über drei Ecken ausgesucht haben.“   „Ah. Toll. Klingt ja effektiv.“   Ich beginne zu verstehen, warum mitten in meiner Stadt eine baufällige Ruine steht, in der Kinder zu Schaden kommen können. Ignis seufzt wieder.   „Der Beginn der Wahlen war damals der Aufhänger, dass Gladio, Prompto und ich uns wieder zusammengerauft haben. Wir haben eine Partei der Königstreuen gegründet mit dem Anspruch, so zu regieren, wie es die Könige seit jeher im Sinne des Volkes getan haben, den Kristall zu schützen und, sollte ein neuer König nach Lucis kommen, diesem die Stadt Insomnia und die umliegenden Länder in einem Zustand zu übergeben, auf den die alten Könige stolz gewesen wären. War ein netter Versuch und Monica hatte als Kanzlerkandidatin einige Anhänger, aber wir haben die zehn Prozent nur ganz knapp geschafft und wenn sich die anderen Parteien in einem einig sind dann darin, dass sie grundsätzlich gegen uns sind. Bei den Neuwahlen vor drei Jahren sind wir dann mit wehenden Fahnen untergegangen.“   In Ignis‘ Worten liegt eine Menge Ärger und mir wird klar, wie viel Energie er in diese Partei gesteckt hat in dem Versuch, Lucis vor einer politischen Katastrophe zu schützen.   „Und das ist noch nicht mal das Schlimmste“, murmelt er, „Kaum, dass Monica aus dem Rat raus war hat der Wahnsinn mit dieser Maschine angefangen…“   „Was für eine Maschine?“, frage ich und wittere langsam die Wurzel allen Unheils.   „Eine… wahnwitzige Idee, die aus reißerischer Propaganda entstanden ist“, erklärt Ignis, und die Worte gehen ihm nur schwer über die Lippen, „Sieben Jahre… sieben Jahre lang war schon Frieden, aber einige Parteien haben nicht aufgehört, Angst zu schüren. Du musst dir das mal vorstellen, Noct. Seit dem Ende des Krieges hat niemand mehr einen Siecher gesehen. Die MI sind alle an Ort und Stelle zusammengefallen, kein einziger hat sich wieder bewegt, wenn nicht ein lebender Mensch daran gerüttelt hat. Sieben Jahre, acht Jahre, zehn Jahre und die Menschen haben immer noch Angst.“   Er wirft einen Blick auf die saubere Pfanne, als wäre sie allein an allem schuld, und taucht sie wieder ins Wasser um noch einmal drüber zu putzen.   „Und dann kam jemand auf die Idee, wir bräuchten einen neuen Wall. Ohne einen König, der die Magie des Kristalls nutzen kann, natürlich ein alberner Gedanke, aber einer der Kanzler – zufällig aus der besagten ‚Partei für Heimat und Ehre‘, hatte bereits Pläne für eine Maschine, die er den ‚Wall der Menschlichkeit‘ genannt hat und die praktisch alle MI aus der Stadt vertreiben und in der Folge fernhalten sollte.“   „Und wie soll das funktionieren? Ich meine, wenn es doch überhaupt keine lebenden MI mehr gibt?“   Ignis Blick verfinstert sich und mir wird plötzlich etwas schmerzhaft bewusst.   „Nicht etwa…?“   „Wir haben uns erst auch gefragt, was eine Maschine tun soll“, meint er mit zitternder Stimme, „Aber wir sind davon ausgegangen, dass sie einen gut sichtbaren Schutzschild aufbauen würde, der eventuell die Funktion des Kristalls nachahmt und sich gegen Plasmodium richtet, wo noch welches zu finden ist. Das wäre jedenfalls logisch gewesen… und weitestgehend vernünftig.“   Ignis wirft einen letzten Blick auf die Pfanne und reicht sie mir. Seine Hände zittern, auch, als er wieder im schaumigen Wasser wühlt.   „Dann hat Prompto angefangen, über Kopfschmerzen zu klagen. Wir haben uns erst nichts dabei gedacht, du kennst ihn ja, er jammert ständig. Irgendwann hat er dann aufgehört zu jammern, das hat uns dann schon Sorgen gemacht. Den Zusammenhang mit der Maschine haben wir aber erst begriffen, nachdem Gladio ihn ein paar Mal aus der Stadt rausgebracht hat.“   „Ich nehme an, da wurden die Kopfschmerzen plötzlich besser?“   „Ganz genau. Je weiter Prompto aus Insomnia raus war, desto besser ging es ihm. Also haben wir ihn erst mal in Hammerhead einquartiert und er ist nur noch nach Insomnia gekommen, um nach dem Altar in der Zitadelle zu sehen. Hat neue Fotos gebracht, damit du auf dem Laufenden bleibst, die Kerzen ausgetauscht, solche Sachen. Meinte, das sei die Schmerzen wert… Irgendwann lief ihm Blut aus den Augen, wenn er zu lange in der Stadt war. Da hat er schon lange nicht mehr gejammert…“   Ignis‘ Stimme zittert und das Messer, dass er gerade abgewaschen hat, fällt glucksend zurück ins Wasser.   „Ich hab… ich hab das erst nicht gemerkt, weißt du? Ich hab das Blut gerochen, aber er meinte nur, das sei nicht so schlimm. Ich hab gespürt, dass sein Gesicht nass ist, aber ich dachte, er weint nur. Letztendlich… war es Gladio, der mich darauf angesprochen hat, wie fertig Prompto aussieht, dass es nicht mehr nur einfache Kopfschmerzen sind, sondern dass er sich praktisch lebendig auflöst, wenn er zu lange in der Stadt ist.“   Ich kann nur schweigend zusehen, wie Ignis wieder nach dem Messer wühlt, während er um Fassung ringt. Die Pfanne tropft mir auf die Arme und ich erinnere mich, dass ich sie trocknen sollte. Prompto… mein bester Freund. Der mit mir zusammen in Insomnia aufgewachsen ist, mit unseren Werten und Geschichten, unserer Sprache, unseren Liedern. Und diese Maschine erkennt ihn als Feind und greift ihn an. Der Gedanke, dass er trotzdem wieder und wieder in die Stadt gekommen ist, nur um ein paar Blumen vor den leeren Thron zu legen, nur für MICH, ist unerträglich.   „Ich musste Prompto versprechen, dass ich mich um den Altar kümmere“, erzählt Ignis weiter, „dass ich jede Woche, jeden Tag dorthin gehen und mit dir sprechen würde, damit er sicher in Hammerhead bleibt. Wir haben Cidney eingespannt, damit sie auf ihn aufpasst.“   „Aber es hat nicht gereicht?“   „Eine Weile schon. Eine Zeit lang ging es gut, Gladio ist regelmäßig nach Hammerhead gefahren, hat sich Fotos und Blumen für dich mitgeben lassen und sie zu mir in die Stadt gebracht, dafür hat er Prompto mit meinem Essen versorgt und nach dem Rechten gesehen. Und dann ging es wieder los mit den Kopfschmerzen. Weil die Maschine einfach so ihren Radius vergrößert hat. Ohne Warnung, ohne Ankündigung, aber als wir bei der Partei nachgefragt haben hieß es, dass sei so gewollt, dass die Maschine letztlich ganz Lucis schützen sollte.“   „Also habt ihr Prompto weiter raus gebracht?“   „Ja. Gladio hat sein Zelt eingepackt und hat Prompto losgeschickt. Die erste Zeit ist er noch mit dem Auto gefahren, hat eine Weile in Lestallum gewohnt und uns beiden regelmäßig Nachrichten geschickt. Gladio war ständig dran, ist ihm immer wieder nach, hat ihm Essen und Geld mitgebracht, Potions, was man halt so braucht, wenn man plötzlich nur noch von der Jägerzentrale bezahlt wird, anstatt in der Stadt zu arbeiten. Du hast den Chatverlauf gesehen… hör ruhig mal rein, Promptos Nachrichten klangen immer recht fröhlich, trotz der Situation.“   „Aber irgendwann hat er nicht mehr geantwortet.“   „Ja. Irgendwann war plötzlich Stille. Und bis dahin… sagen wir mal, er war nicht der Einzige. Der Kristall hat das Miasma, das Plasmodium, diese ganze Krankheit vernichtet und damit auch alle echten MI. Aber es gab noch mehr Kinder wie Prompto… besonders nach dem Fall des Imperiums konnten einige Kinder aus den diversen Einrichtungen gerettet werden. Uninfizierte Kinder. Und dann ist uns klar geworden, wie die Maschine ihre Ziele findet.“   „Die Barcodes?“, rate ich.   „Schlimmer. Die DNS“, korrigiert Ignis, „Alle Magitech Soldaten wurden aus Besithias eigener DNS gezogen, teilweise bis zu hundert aus einer einzigen von ihm befruchteten Eizelle. Keine Klone in dem Sinne, aber genetisch identisch, wenn sie aus derselben Reihe stammen, und Besithia hatte nicht viel Auswahl an Eizellenspendern, deswegen sind fast alle MI Voll- oder zumindest Halbgeschwister. Die Maschine greift bewusst Menschen an, deren DNS den gegebenen Parametern ähnelt.“   „Aber das ist doch Irrsinn“, wende ich ein, „Das funktioniert vielleicht, wenn es wirklich alles Klone wären, und selbst dann trifft es die Menschen, die zu MI hätten werden sollen, und nicht die eigentlichen MI. Und wenn du nur die Mütter austauschst hast du schon wieder so viel Abweichung drin dass es auch Menschen treffen könnte, die überhaupt nichts mit den MI zu tun haben!“   „Das tut es, Noct, das tut es. Cidney ist anfällig, und selbst ich fange langsam an, den Einfluss zu spüren… tendenziell schein es vor allem Menschen zu treffen, die blond, blauäugig oder beides sind. Und der Einfluss erstreckt sich inzwischen weit über Lucis hinaus, selbst Niflheim ist betroffen… dort sind die Verluste natürlich am schlimmsten. Und in Lestallum ist erst kürzlich ein Kind gestorben, dass man mit starkem Blutverlust ins Krankenhaus gebracht hat – keiner hat verstanden, warum das alles nur schlimmer gemacht hat, bis man den Barcode auf dem Arm des Kindes entdeckt hat. Es ist kurz nach Kriegsende als Baby aus dem Labor geborgen worden und wurde seitdem liebevoll aufgezogen. Ein normales Kind, genau wie Prompto.“   „Warum schaltet man die Maschine dann nicht ab? Spätestens wenn sowas in die Presse geht…“   „Propaganda, Noct. Das Kind hatte einen Barcode am Arm, es war definitiv ein MI. Kanzler Rashin kann verdammt gut reden wenn es darum geht, Leute auf seine Seite zu ziehen.“   „Und was ist mit den Leuten, die keine MI sind? Leute wie Cidney, oder du?“   „Elektrosmog“, meint Ignis und reicht mir das saubere Messer, Griff voraus wie es sich gehört, „Das hat nichts mit der Maschine zu tun, das sind die bösen Handys und Fernseher und überhaupt dieser ganze neumoderne Schrott. Zu viele Medien, zu viel Informationen. Die Politik von Insomnia wiegelt das ganz geschickt ab und die meisten Menschen glauben das.“   „Aber nicht in Niflheim, nehme ich an?“   „Eine Delegation von dort wird heute Abend hier eintreffen, ebenso der Kanzler von Tenebrae und die Premierministerin Accordos. Wenn die Gespräche schlecht laufen, gibt es einen neuen Krieg. Niflheim will den Frieden halten nach seiner letzten Niederlage, aber dort sind eine Menge Menschen gestorben, allen voran Kinder und Senioren. Das werden sie so nicht hinnehmen.“   „Also fordern sie, dass Lucis die Maschine abschaltet. Glaubst du, die Regierung geht darauf ein?“   „Besser wäre es. Aber ich fürchte, das wird sie eher nicht tun.“   Ich blicke auf das Messer in meiner Hand. Ein schlichtes Küchenmesser, scharf, aber schwer, gemacht um zu schneiden, nicht um zu töten. Keine Waffe, sondern ein Haushaltsgegenstand. Ich wische mit dem Geschirrtuch über die Klinge und sehe das Spiegelbild meines Gesichts darin. Noctis Lucis Caelum, der König des Lichts. Ich weiß, warum ich hier bin.   „Meinst du, wir sind auch zu der Party eingeladen?“   Ignis grinst. „Ich denke, Gladio wird uns schon reinbringen, wenn es nötig ist.“ Kapitel 3: Gebrochener Schild (Gladiolus Amicitia) -------------------------------------------------- „Tut mir Leid, falls das jetzt irgendwie aus dem Nichts kommt, und wenn ich brabble, ich bin im Moment etwas überfordert und ich weiß nicht… ich weiß nicht mal genau, wie ich das erklären soll. Es ist alles ziemlich viel auf einmal und ich kann das meiste nicht am Telefon sagen… ich bin mir nicht mal sicher, ob ich Recht habe mit dem, was ich… ich weiß selbst nicht was hier gerade passiert, aber es ist wichtig, da zumindest bin ich mir sicher, und wenn ich Recht habe… ich muss in die Zitadelle, ich muss sehen, ich… irgendwas passiert da und ich habe die Hoffnung… egal, Gladio, komm nach Hause, das ist wichtig. Prompto, falls du das noch hört, halt durch, es wird besser. Alles wird besser. Und wir kommen dich holen, alle zusammen, also halt nur noch ein bisschen durch und ich melde mich nochmal, wenn ich mehr weiß, wenn ich überhaupt wieder weiß wo mir der Kopf steht und… und wenn ich mir sicher bin. Ich melde mich nochmal.“ Ignis‘ Stimme klingt völlig daneben, so aufgelöst habe ich ihn in meinem ganzen Leben nicht gehört. Kommt schon mal vor, dass ich nur sinnloses Gesabbel verstehe, wenn er wieder in seinen Interlektuellenjargon verfällt oder Strategien erklärt, die über zuhauen und einstecken hinausgehen, aber das hier… das klingt als hätte ihm einer den Kopf gegen die Wand gehauen. Egal wie oft ich mir die Nachricht anhöre, ich verstehe kein Wort. Nur dass ich ‚nach Hause‘ kommen soll, also wohl zurück nach Insomnia, zu ihm, und dass es wichtig ist. Aber er scheint nicht direkt in Gefahr zu sein, nur ziemlich verwirrt. „Hat er sich denn inzwischen nochmal gemeldet?“ Talcotts Frage reißt mich aus den Gedanken und ich checke noch einmal das Handy in meiner Hand. Seit ich die Nachricht das letzte Mal abgespielt habe hat sich nichts getan, keine neue Nachricht. Hoffe, meine Antwort war nicht zu pampig… ich wollte Ignis nicht verletzen, aber in dem Moment war ich einfach zu durch um mich um kryptisches Gesabbel zu kümmern. Das Bild des zerrissenen Zeltes hab ich immer noch vor Augen. „Nein, hat er nicht.“ Hoffentlich ist er nicht doch in Gefahr. Wenn ihm nun was passiert ist, wenn er mich gebraucht hätte… Ach wem mache ich was vor? Ich bin doch eh nutzlos. Ein toller Schild, der nicht mal seinen König beschützen kann. Kein Amicitia in der ganzen Geschichte unserer Familie ist je nach seinem König gestorben. Keiner. Und doch bin ich hier und Noctis ist tot. Ich konnte nichts tun außer zuzusehen und nett zu lächeln, als er sich verabschiedet hat. Und jetzt auch noch Prompto… „Soll ich gleich nach Insomnia durchfahren? Iris hat sicher Verständnis, wenn du dir Sorgen um Ignis machst.“ „Iris schon“, seufze ich, „aber Crowe eher nicht.“ Talcott lacht leise. „Ah ja, dann müssen wir natürlich zum Mittagessen daheim sein. Ignis geht es bestimmt gut, er hätte es sicher nochmal versucht, wenn er Hilfe gebraucht hätte.“ „Und ich wäre eh nie rechtzeitig da gewesen, um noch was zu reißen“, brumme ich, „Selbst wenn ich am Steuer säße.“ „Wenn ich dich ans Steuer lassen würde, kämen wir nie irgendwo an“, belehrt mich Talcott dreist, „Nichts für Ungut, Meister Gladiolus, aber dein Fahrstil ist im besten Falle lebensgefährlich und verbraucht mehr Tank als wir unterwegs reinpumpen können. Deinen Führerschein hat man dir ja auch nicht ohne Grund abgenommen…“ „Alter, du klingst genau wie Ignis. Außerdem war der letzte Blitzer reine Schikane, so schnell war ich gar nicht. Nächste Woche hab ich den Wisch wieder.“ „Falls du den Deppentest bestehst, meinst du.“ Ich schnaube. Der blöde Test ist mein geringstes Problem… und mich von meinem Buttler rumfahren zu lassen ist ja auch okay, wenn der nur endlich mal etwas Gas geben würde. Das Auto ist ja nicht umsonst eines der besten Modelle Insomnias, das kann schon deutlich mehr als ein bisschen bergab rollen. Hier draußen in der Pampa wird eh nicht geblitzt. Mir geht es einfach nur elend, weil ich lebe und Noct nicht. So funktioniert die Welt einfach nicht. So darf sie nicht funktionieren. Klar, ich stehe trotzdem jeden Tag auf, putze mir die Zähne und mache mich nützlich. Ich hab eine Frau, eine süße Tochter, meine Schwester und unseren Buttler - der wahrscheinlich heimlich die besagte Schwester vögelt - und eine Aufgabe. Nicht mehr lange und Galahd sieht wieder aus wie eine richtige Stadt mit Häusern, in denen man trocken bleibt und nachts gut schlafen kann. Und trotzdem… trotzdem fühle ich mich nutzlos. Ein Schild, der nichts beschützen kann, das nutzloseste Stück Dreck in der Geschichte. Eine Schande für meine Familie. Was nützt mir all meine Kraft, wenn ich im entscheidenden Kampf nur daneben stehe und warte bis die Sonne aufgeht? Was bin ich für ein Mann, wenn ich meinen besten Freund nicht retten kann? Und es ist nicht nur Noctis… ich war für Prompto verantwortlich. Ich hätte auf ihn aufpassen sollen, und jetzt… „Wir finden ihn schon wieder“, beruhigt mich Talcott, „Du wusstest bisher immer, wo er war, oder?“ „Ja, weil er einen scheiß Peilsender in seinem Handy hat“, fluche ich, „In diesem Handy.“ Ich ziehe das zerschmetterte Stück Elektroschrott aus der Tasche und halte es Talcott ins Gesicht, dass er beinahe in den Graben fährt. „Wow, vorsicht, Großer. Wir finden ihn trotzdem, alles gut. Prompto ist ja nicht irgendwer, der wird sich schon durchschlagen.“ Ich lasse mich seufzend wieder in meinen Sitz fallen. Klar, Prompto ist nicht so schwach wie er aussieht. Aber da war Blut auf dem Zeltplatz, viel Blut. Dazu das kaputte Handy und die Einzelteile der Motorklinge, die Cid für ihn modifiziert hat… das war nicht die Maschine, da hat ein Kampf stattgefunden. Prompto steckt in genug Schwierigkeiten wenn er sich am falschen Ort aufhält, der kann zusätzlichen Ärger im Moment echt nicht brauchen. Ich hätte öfter nach ihm sehen sollen. Oder gleich bei ihm bleiben. Das ist doch der ganze Ärger, oder? Hier sitze ich jetzt, auf dem Beifahrersitz meines Autos, und lamentiere darüber, dass ich niemanden beschützen kann, aber die Wahrheit ist… die Wahrheit ist, dass ich genauso gut bei Prompto hätte sein können. Ich hätte ihn beschützen können. Aber ich hab ihn allein gelassen, weil mein bescheuertes, verletztes Ego seine aufgesetzte Fröhlichkeit nicht ertragen hat. Weil ich es nicht ausgehalten habe, dass er ständig über Noct redet, als würde es nicht wehtun, auch nur an ihn zu denken. Redet einfach über ihn als wäre Noct nur mal eben zur Tanke gefahren. Weißt du noch, als wir…? Ja, weiß ich noch. Will nur nicht dran denken, weil es scheiße weh tut. Halt einfach die Fresse, Prompto. War das echt das letzte, was ich zu ihm gesagt habe? Vermutlich ja. Ich hab ihn dauernd nur angeschrien in der letzten Zeit, fast jedes Mal, wenn ich nach ihm gesehen habe. Dabei hat Prompto sich echt bemüht, mich nicht aufzuregen. Hat brav den Mund gehalten, soweit er eben konnte, Noct’s Namen vermieden, mir nicht mal in die Augen gesehen. Als wäre ich ein Behemoth, der beim ersten Blickkontakt zubeißt. Was bin ich nur für ein Freund… Ich drücke noch einmal mein eigenes Handy an, aber Ignis hat sich immer noch nicht gemeldet. Hat wahrscheinlich auch grad keinen Bock, sich von mir anbrüllen zu lassen. Kann ich verstehen. Würde ich mir selbst ja auch nicht antun wollen. Ich spiele seine letzte Nachricht nochmal ab, aber sie ergibt fast noch weniger Sinn als die letzten fünf Mal. Alles, was ich raushören kann, ist, dass Ignis völlig aufgelöst ist und dass ich kommen soll. Stattdessen sitze ich hier im Auto und muss mich von Talcott auffordern lassen, auszusteigen, weil wir schon längst da sind. Müde stemme ich mich aus dem Wagen und schleppe mich an den Mittagstisch. Edna hat aufwändig gekocht, es gibt wieder die Nudeln, die Crowe so gerne isst, und rote Soße dazu, vermutlich aus den Bohnen, die sie hier anbauen. Kein schlechter Ort, Galahd, aber wenn wir hier fertig sind will ich doch wieder in die Stadt zurück. Oder in ein Zelt irgendwo in der Pampa wo ich mich einrollen und alles vergessen kann, bis ich Noct auf der anderen Seite wieder sehe. Schicksal, pah… ich bin sein Schild, ich hätte nie zulassen dürfen, dass er vor mir stirbt. Edna fragt, ob mir die Nudeln schmecken und ich muss lügen, um sie nicht zu beleidigen. Dabei kocht sie gar nicht schlecht, es liegt an mir… alles, was ich esse, schmeckt irgendwie nur noch nach Pappe. Aber es macht satt und gibt Kraft, die ich brauche, um nützlich zu sein. Wenn ich das nicht mehr schaffe, bin ich gar nichts mehr. „Wollen wir nach dem Essen eine Runde Fangen spielen?“, fragt Iris munter, um die trübe Stimmung zu brechen. „Nein.“ Meine Antwort verwirrt sie, normal rede ich nicht beim Essen. Generell rede ich wenig zur Zeit, wenn ich nicht gerade brülle. „Wir fahren nach Insomnia.“ „Wieso denn?“, fragt Crowe, und ich kann mich gerade noch beherrschen, das Kind nicht anzuschreien. „Ignis hat heute Morgen eine Nachricht geschickt“, beeilt sich Talcott zu erklären, „War ein bisschen unverständlich alles, aber es klang dringend. Wir machen uns ein wenig Sorgen um ihn. Aber wenn ihr Fangen spielen wollt macht ruhig, ich kann Gladio auch allein in die Stadt fahren.“ „Oder so“, grummle ich und stochere weiter in meinem Essen rum. Mein Appetit lässt heute wirklich zu wünschen übrig. Gerade überlege ich, wie ich mich vom Tisch zurückziehen kann, ohne meine Frau zu beleidigen, da vibriert das Handy in meiner Hose. Das muss die Nachricht von Ignis sein. Ich werfe die Gabel achtlos auf den Teller und ziehe das Gerät heraus, um die neue Nachricht abzuspielen, aber es ist gar keine Sprachnachricht. Ungläubig starre ich auf den Text vor mir. DER KÖNIG IST ZURÜCK Es dauert einen Moment bis mein Gehirn sich herablässt, den Buchstaben einen Sinn zu entlocken. Und den dann auch noch zu glauben. „Planänderung“, meint Talcott, der über meinen Schultern lehnt um ebenfalls das Display zu sehen, „Wir fahren alle nach Insomnia. Und zwar sofort. Ab ins Auto, jetzt.“ Wie in Trance lasse ich mich von dem Jungen aus meinem Stuhl ziehen und Richtung Auto schubsen. Talcott ist weder besonders groß noch besonders stark, aber es reicht, um mir die nötigen Impulse zu geben, bis ich wieder im Beifahrersitz hocke. Ganz der brave Buttler bemüht sich Talcott sogar noch um meinen Sitzgurt, stellt sicher, dass die Damen auf der Rückbank ebenfalls gut gesichert sind und schwingt sich wieder hinter den Lenker. Seine Form lässt mangels entsprechender Schule zu wünschen übrig, aber er hat die richtige Einstellung, um seinen Großvater stolz zu machen. DER KÖNIG IST ZURÜCK Ich kann derweil immer noch nicht glauben was da auf meinem Handy steht. Eines jedenfalls ist sicher: Ignis hat das nicht geschrieben. Der ist allergisch gegen Capslock. Und er schreibt auch nie nur einen Satz, wenn er einem ganze Romane ins Handy tippen kann – typisch Interlektueller, das ganze Universum analysieren kann er, aber der Sinn von Kurznachrichten erschließt sich ihm nicht. Ganz abgesehen davon dass man wohl sehen können muss, um zu schreiben. Außer man nutzt die Sprache-zu-Text-Erkennung, aber so buggy die auch sein mag, Capslock nutzt der Computer auch nicht. DER KÖNIG IST ZURÜCK Ich sehe den blöden Text, aber ich begreife ihn nicht. Ungefähr so muss sich Ignis gefühlt haben, als er heute Morgen diesen wirren Quatsch in der Nachricht gebrabbelt hat. Wichtige Info, Hirn Matsch, Hoffnung noch zu vorsichtig, um die ganze Wahrheit verarbeiten zu können. War es das, was er mir mitteilen wollte? Das Noct… vielleicht eventuell möglicherweise… ich traue mich nicht mal, den Gedanken zu beenden, zu groß ist die Angst, dass ich falsch liege. „Was ist denn mit Papa?“, flüstert Crowe ihrer Mutter zu. „Willst du nicht mal blinzeln?“, fragt Iris direkt mich und wedelt mit der Hand zwischen meinen Augen und dem Handy herum, „Dir fallen sonst noch die Augen aus dem Gesicht.“ Ich blinzle, schlucke und schiebe Iris‘ Arm aus meinem Blickfeld, bis ich endlich soweit Herr meines Körpers bin, das Handy auszuschalten und wegzustecken. Vor meinen Augen schwimmt immer noch der Schatten der großen Buchstaben. DER KÖNIG IST ZURÜCK Noct ist zurück. Vielleicht. Hoffentlich. Mir springt beinahe das Herz aus der Brust. „Kannst du nicht schneller fahren?“, flehe ich Talcott an und meine Stimme klingt heiser. „Tut mir Leid, das ist der Verkehr hier… heute Abend steigt so ein politisches Event, in der Stadt muss die Hölle los sein.“ „Fahr einfach schneller.“ „Da sind drei Autos vor mir, was soll ich machen? Drüber hüpfen?“ „Hup halt einfach.“ Talcott rollt nur mit den Augen. „Davon geht’s auch nicht schneller. Im Ernst, genau deswegen hast du keinen Führerschein mehr.“ „Reine Schikane.“ „Ach ja?“, fragt Iris, „Und warum genau musstet ihr damals den Regalia nach Hammerhead schieben?“ „Da ist Prompto gefahren. Außerdem kann ja keiner wissen, dass die Karre gleich so viel Sprit frisst, nur weil man mal kurz aufs Gas tippt…“ „Mal kurz.“ „Halt einfach die Fresse, Iris.“ „Gladio, doch nicht vor der Kleinen!“, schimpft Edna, aber im Moment ist mir das egal. Lernt das Kind halt ein paar Schimpfwörter, dann kann sie sich später auch mal verbal durchsetzen. Als ob sie im Kindergarten nicht schon viel Schlimmeres gehört hätte. Sie kann eh froh sein, dass mich der Hinweis auf unsere erste Spritztour mit dem Regalia gerade so kalt lässt. Heute Morgen noch wäre ich ausgetickt, aber jetzt… jetzt ist da ein Funken Hoffnung in dem ganzen Schmerz. „Wieso bleiben wir stehen?“ „Die Ampel ist rot.“ „Fahr trotzdem.“ „Vergiss es.“ Wenn Talcott nur mal endlich Gas geben würde… ich halte diese Ungewissheit nicht mehr lange aus. „Warum stehen wir jetzt wieder?“ „Rückstau vor der nächsten Ampel.“ „Wieso sind hier so viele Ampeln?“ „Tja, das ist die gute Nachricht: Wir sind in der Stadt.“ „Und die schlechte Nachricht ist was?“ „Die Hauptstraße ist wegen hohem Besuch gesperrt, da muss irgendein Würdenträger mit seiner Staatskarosse durch. Kann dauern, bis wir bei Ignis ankommen, die Umgehungsstraßen sind total verstopft und überall parken hier irgendwelche Idioten quer!“ Endlich drückt Talcott doch auf die Hupe, aber nur, weil ein verirrter Reporter mitten auf der Straße steht um Fotos von den teuren Autos zu machen. Der Depp kann von Glück reden dass ich nicht aussteige und ihn persönlich entferne. „Fahr endlich zu.“ „Geht nicht, der vor mir steht auch.“ „Hup noch mal.“ „Bringt nichts, die kommen alle nicht weiter.“ „Schatz, reg dich bitte nicht so auf, du weißt doch, was der Arzt über deinen Blutdruck gesagt hat…“ „Ja, dass ich weniger Fertignudeln essen soll und mehr buntes Gemüse. Deswegen kochst du ja jetzt extra für mich, oder?“ Langsam schlägt meine Ungeduld wieder in Frustration und Wut um. Noct ist – vielleicht, eventuell, möglicherweise – irgendwie von den Toten auferstanden und ich stehe hier im Stau, weil irgendwelche großköpfigen Vollpfosten den ganzen Verkehr aufhalten. Als ob auch nur ein einziger von denen so wichtig wäre wie mein König. Vier Ampeln, zwölf verirrte Fußgänger und einen dreisten und dann sehr verschüchterten Falschparker später stehen wir endlich vor Ignis‘ Haustür und ich habe die Ehre, den Klingelknopf in die Wand zu drücken. „Mach nicht so doll, der geht noch kaputt“, mahnt Crowe, als hätte sie mit ihren sechs Jahren schon Ahnung von der Welt. Ich halte die Klingel weiter gedrückt bis endlich – ENDLICH die Tür aufgeht. Ignis hat die Vernunft, sofort zur Seite zu springen und mich durchzulassen, und ich stürme ins Wohnzimmer auf die Couch zu, wo Noct ganz entspannt sitzt und mich geradezu auffordernd anblickt. Ich will vor ihm stehen bleiben, mich verbeugen, irgendwas, was der Situation angemessen zumindest einen Hauch von Haltung, Ehre und Selbstbeherrschung zeigt aber ich kann nicht. Ich stürme einfach auf meinen Freund zu, hebe ihn hoch wie ein kleines Kätzchen und drücke ihn fest an mich. Noct wehrt sich nicht. So sehr er sonst schimpft, wenn ich ihn hochhebe, diesmal lässt er es einfach zu, legt sogar die Arme um meine Schultern um die Umarmung zu erwidern und lässt sich einfach so von mir halten. Leicht ist er, viel zu dünn und zierlich für die Last, die er sein ganzes Leben hat tragen müssen. Ignis‘ Klamotten sind viel zu lang für ihn und ohne den Bart sähe er wohl immer noch aus wie ein großes Kind. Ich hätte ihn nie allein da rein gehen lassen dürfen. Ich hätte ihn beschützen müssen, mein Leben für seines geben müssen, wenn es nur irgendwie geholfen hätte, ich schwöre, ich hätte es getan. „Du… kannst mich dann langsam wieder runter lassen, Gladio. Ich freu mich auch total dich zu sehen, aber…“ „Schon gut, tut mir Leid“, entschuldige ich mich schnell und setze Noct vorsichtig wieder auf den Boden, „Ich wollte nicht…“ „Ist okay. Ich hab dich auch vermisst.“ Noct klopft mir freundschaftlich mit der Hand auf die Brust und lächelt, als wäre er wirklich nur mal eben etwas länger bei der Tanke gewesen. Als wären die letzten zehn Jahre nur ein übler Traum, der sich langsam im Morgengrauen auflöst. Leider war es das nicht ganz. Einen Moment gönne ich mir noch, drücke Noct noch einmal schützend an mich und streichle seine seidig weichen Haare, dann wende ich mich zu Ignis um, der gerade den Rest meiner Familie ins Esszimmer scheucht. „Ich hab… schlechte Nachrichten, was Prompto angeht“, presse ich heraus. „Das hatte ich befürchtet“, kommt mir Ignis entgegen, „Er antwortet schon länger nicht mehr auf meine Nachrichten.“ Ich seufze tief und ziehe das zerstörte Handy aus meiner Tasche. „Konnte er auch nicht, das Ding ist schon ne Weile hinüber. Talcott kann der Speicherkarte vielleicht noch ein paar Fotos entlocken, aber...“ „Aber Prompto ist weg, nicht wahr?“, fragt Ignis. Zu meiner Überraschung blickt er das Handy direkt an und mir fällt auf, dass er seine Sonnenbrille nicht trägt. Seine Augen sind auch nicht mehr milchig weiß, sondern klar und grün, wie früher. Der Anblick überrascht mich erstaunlich wenig – das alles hier kommt mir ohnehin schon zu sehr wie ein Traum vor. „Ich hab nach ihm gesehen“, berichte ich, „aber zu spät. Das Zelt ist zerstört, die Ausrüstung zum Teil auch, und Prompto ist weg. Ich… gehe mangels Beweisen zum Gegenteil davon aus, dass er noch lebt aber… das sah schon echt mies aus da draußen.“ Ich kann spüren wie sich Noct hinter mir anspannt und blicke schuldbewusst zu Boden, aber er rügt mich nicht. Stattdessen legt er mir tröstend die Hand auf den Arm. „Es wird ihm schon gut gehen, Prompto ist stark.“ Will er mich damit trösten oder sich selbst? Ein bisschen zumindest wirkt es. „Fürs erste ist er ohnehin am sichersten, je weiter er von besiedeltem Gebiet weg ist“, meint Ignis, „hierher kommen kann er jedenfalls nicht. Nicht, bevor diese Maschine abgeschaltet wird.“ „Und wie wollt ihr das hinbekommen?“, frage ich, sicher, dass Ignis bereits einen grandiosen Plan hat. Er grinst nur, natürlich hat er einen. Prompto mag unserer Truppe fehlen, aber zu dritt können wir auch schon einiges erreichen. Langsam fängt das alte Feuer in mir wieder zu brennen an. „Wir sind wieder da!“, die helle Stimme schreckt mich auf, noch mehr der spitze Schrei, mit dem meine Tochter den Ausruf quittiert: „Nyx!“ Ignis' Sohn sieht angemessen überrumpelt aus, als ihm meine Tochter an den Hals springt, und seine Mutter schafft es gerade so, ihm noch rechtzeitig die Einkaufstüten abzunehmen. Keine Lebensmittel allerdings, die Tüten sehen eher nach einem der besseren Modegeschäfte aus. „Hast du meine Nachricht noch rechtzeitig bekommen, Clara?“, fragt Ignis, und seine Frau nickt nur. „Ja, war ganz schön schwierig, mit so wenig Vorlauf etwas zu finden, was dem Anlass angemessen ist. Normal werden solche Anzüge nur maßgeschneidert verkauft aber ich konnte dem Inhaber versichern, dass es eilt und wir notfalls selbst über die nötigen Fähigkeiten verfügen.“ „Wenn die Zeit dafür noch reicht, sicher.“ Ignis zieht ein edles Gewand aus einer der Tüten. Ein Anzug, wie ihn König Regis zu großen internationalen Anlässen getragen hat… teurer Stoff, teure Stickereien, teurer Designer. Die Kinder balgen wild durchs Haus, während Ignis Noct den Anzug anlegt um die Maße zu prüfen und gegebenenfalls nötige Änderungen vorzunehmen, und mir dämmert langsam, was sein Plan beinhaltet. „Wir gehen auf diese Party, wegen der der ganze Verkehr stockt, oder?“, vermute ich, „Die mit den ganzen ausländischen Bossen?“ „Das ist ein internationaler Rat, Gladio, und unsere letzte Gelegenheit, den Kaiser von Niflheim davon zu überzeugen, dass diese Maschine keine Kriegserklärung ist. Wir haben die Befürchtung dass Kanzler Rashin einer Abschaltung nicht zustimmen wird, deswegen braucht Lucis einen Vertreter vor Ort, der mehr Ansehen hat und die Vertreter der anderen drei Länder davon überzeugt, dass wir auch an einer Lösung des Problems interessiert sind.“ „Noct ist kaum einen ganzen Tag da und schon wieder der König, der alles richten muss, was?“, seufze ich. Noct zuckt nur die Schultern und hält brav still, während Ignis an ihm rumfummelt. „Ich bin inzwischen daran gewöhnt“, meint er nur, „und ich hatte mir schon gedacht, dass die Götter mich nicht aus reiner Nächstenliebe zurückgeschickt haben. Wenn die ohne mich hier nicht klar kommen…“ „Tun wir nicht. Wir brauchen dich hier.“ Noct lächelt. Irgendwie ansteckend. „Ach ja, Talcott“, fällt ihm ein, als Ignis endlich von ihm ablässt, um die frisch angepassten Sachen entsprechend umzunähen, „Fast hätte ich es wieder vergessen, das hier habe ich in meiner Jackentasche gefunden. Weiß nicht, ob du noch Interesse dran hast, das hatte ich mal für dich aufgelesen und vergessen abzugeben bevor alles den Bach runter ging.“ Er zieht eine winzige Kaktor-Figur hervor und ich kann sehen, wie Talcott um Fassung ringt. „Ein Mythril-Kaktor!“, jubelt er, „Genau so einer hat mir noch gefehlt! Danke Noctis, du bist der Beste!“ „Immer gerne“, lacht Noct und lässt sich tatsächlich zum Dank umarmen, „Schön zu sehen dass du dich freust.“ „Das auf jeden Fall. Ich mach mich auch gleich dran, die Speicherkarte aus dem Handy zu prüfen, vielleicht hilft uns das, Prompto zu finden wenn die Maschine abgeschaltet ist. Er freut sich bestimmt auch total, dass du wieder zurück bist.“ „Das hoffe ich doch.“ Ich klopfe Noct liebevoll auf die Schulter und ziehe ihn noch einmal in meine Arme. Vielleicht, um ihn ein wenig zu ärgern, vielleicht, weil es einfach gut tut zu spüren, wie wunderbar warm und lebendig er sich anfühlt. „Das tut er bestimmt. Prompto hat nie aufgehört, an dich zu denken. Wenn er hört, dass du zurück bist, ist er bestimmt ganz außer sich vor Freude.“ Und im Gegensatz zu mir und Ignis steht ihm keine gute Erziehung im Weg, das auch zu zeigen. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass wir den armen Kerl im Moment nicht erreichen können, es wäre ihm sicher schwer gefallen, der Stadt fern bleiben zu müssen, wenn Noct hier ist und ihn sehen will. „Dann sollten wir zusehen, dass wir diese Maschine schnell aus dem Weg räumen. Dazu müssen wir erst mal auf diese Party, zu der wir nicht eingeladen sind… Gladio, Ignis meinte, du kennst vielleicht jemanden von den Jungs, die dort die Wache stellen? Wäre schön, wenn uns jemand einfach so rein lassen könnte.“ „Kann sein, ich telefonier mal ein bisschen rum“, verspreche ich, „da sind ein paar frühere Gardemitglieder in der Polizei gelandet, obwohl man uns Könisgtreue da eigentlich nicht haben wollte… ich schau mal, ob einer von denen heute Abend eingeteilt ist. Die schulden mir fast alle noch nen Gefallen oder zwei.“ Die Aussicht darauf, endlich etwas tun zu können, selbst, wenn es nur die Anwesenheit auf einer langweiligen Politiker-Party ist, erfüllt mich mit neuer Energie. Der König ist zurück, und er braucht seinen Schild. Ohne Prompto sind wir noch einer zu wenig, aber Noct, Ignis und ich sind schon eine starke Kraft im Gefüge der Welt. Zeit, diesen neuen Krieg im Keim zu ersticken. Zeit, in Aktion zu treten. Kapitel 4: Gipfel der Riesen I (Noctis Lucis Caelum) ---------------------------------------------------- Der Anzug, den Ignis‘ Frau für mich gekauft hat, passt nach den minimalen Änderungen wie angegossen und ich blicke fasziniert in den mannshohen Schlafzimmerspiegel. Der Mann, der zu mir zurückblickt sieht meinem Vater fast ähnlicher als mir… stolz, aufrecht, und ohne jeden Zweifel von edler Abstammung. Ich hätte jetzt bitte gerne meine Anglerjacke zurück, danke. Aber für heute Abend ist der teure Anzug gerade gut genug, um nicht aufzufallen. Nadelstreifen, Samtkragen mit feinen Stickereien, Goldknöpfe. Einen sehr ähnlichen hat Vater auch immer getragen, wenn er zu wichtigen Anlässen gefahren ist. „Fertig?“, fragt Ignis. Auch er sieht einwandfrei aus, nur, dass das für ihn eigentlich fast der Normalzustand ist. Der schwarze Anzug erinnert ein wenig an einen Bodyguard, insbesondere mit der dunklen Sonnenbrille dazu. „Ja, fertig. Wo ist Gladio?“ „Der telefoniert noch. Hat anscheinend einen Freund gefunden, der bei der Party Dienst hat und uns ins Hotel lassen kann. Mit einer der Wachen für den Prunksaal diskutiert er gerade noch, der scheint seinen Job wohl nicht ganz so bereitwillig riskieren zu wollen.“ „Hoffen wir, dass Gladio ihn noch überzeugen kann.“ „Schon geschehen“, kündigt Gladio erfreut an. Er lehnt leger im Türrahmen, wie Ignis in einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug gekleidet. „Fahren wir los, damit wir nicht zu spät kommen.“ Ignis nickt knapp und führt uns in die Tiefgarage unter dem Apartmentkomplex. Wir müssen einige Stockwerke mit dem Aufzug hinunter, also noch mehr Gelegenheit, sich nervös im Spiegel zu betrachten. Steht mir der Bart? Ignis hat ihn tatsächlich nicht abrasiert, als er mich zurechtfrisiert hat, nur etwas getrimmt. Sieht eigentlich recht ordentlich aus… auch meine Frisur ist wieder ziemlich ansehnlich. Ich sehe gut aus, wenn auch wesentlich älter als das letzte Mal, dass ich lebendig war. Der Jahreszahl auf der digitalen Anzeige des Aufzugs nach müsste ich jetzt etwa vierzig sein… ugh. „Schade, dass wir den Regalia nicht mehr haben“, meint Gladio, „Stell dir vor, wir würden in der alten Kutsche vorfahren… das wär’s doch.“ „Wir haben etwas Besseres“, meint Ignis, gerade als der Aufzug das Untergeschoss erreicht. Neugierig folge ich meinem Hofmarschall durch die Reihen der Autos. Ich traue fast meinen Augen nicht als ich das Fahrzeug sehe, dessen Tür er für mich öffnet. „Mein Audi!“ Den ‚Star of Lucis‘ hatte die Firma mir seinerzeit zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt. Ich bin ihn höchstens ein paar Mal gefahren, bis Vater mich im Regalia aus der Stadt geschickt hat. Ich war eigentlich fast sicher davon ausgegangen, dass mein Auto der Zerstörung der Stadt zum Opfer gefallen wäre, aber bis auf ein paar gut restaurierte Kratzer an der Beifahrerseite ist der Wagen absolut unversehrt. Am liebsten würde ich mich ans Steuer setzen, aber ich erinnere mich durchaus noch an unsere Mission und nehme brav hinten Platz. Auch Gladio setzt sich nach hinten. „Geiler Sound“, raunt er mir zu, als Ignis den Motor anlässt. „Ich liebe dieses Auto“, flüstere ich zurück. Einige Köpfe wenden sich zu uns um, als der Wagen aus der Garage rollt. Ignis lässt ihn vorsichtig warm laufen, gibt erst richtig Gas, als wir auf der Hauptstraße sind und nimmt es dann wieder zurück, als das Caelum Via in Sicht kommt. Kurz vor der Einfahrt lässt er den Motor noch einmal deutlich aufheulen – um Eindruck zu schinden oder als Signal an Gladios Freund? Tatsächlich nimmt es eine der anwesenden Wachen zum Anlass, ihre männlichen Kollegen beiseite zu schieben um uns persönlich zu überprüfen. „Gladio’s Freunde?“, flüstert sie durchs Fenster. „Höchstpersönlich“, antwortet Ignis. Die Frau wirft einen kontrollierenden Blick auf ihre Liste, nickt knapp, und winkt uns an die Treppe, wo Ignis aussteigt um mir die Tür aufzuhalten. Ich steige aus, innerlich nervös, aber äußerlich so gefasst, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan, als solchen langweiligen Partys beizuwohnen. Dabei war die letzte davon mein eigener zwanzigster Geburtstag… das hätte genauso gut in einem anderen Leben gewesen sein können. Das Hotel macht einigen Eindruck: Frisch restaurierte Wände und Säulen, reichlich neue Gemälde im alten Stil und ein herrlich sauberer, roter Teppich unter meinen Füßen. Jeder hier verbeugt sich, als ich mit meinen Leibwächtern den altbekannten Weg nach oben antrete. Hoch auf die opulente Dachterrasse, wo alle großen politischen Anlässe gefeiert werden. Kurz vor dem Ziel ist der Gang noch einmal mit roten Stricken abgetrennt. Gladio lotst mich subtil zu dem Durchgang, an dem ein großgewachsener blonder Mann in seinem Alter steht, vermutlich ein ehemaliger Schulfreund. Der Mann wirkt nervös bei unserem Anblick. „Und ihr wollt auch sicher nur ans Buffet? Ich krieg echt Ärger wenn da drin was passiert…“ „Ganz sicher. Wir machen keinen Ärger und lassen die großen Köpfe da drin schön in Frieden“, verspricht Gladio ruhig, „Nur mal wieder ein bisschen Kaviar essen. Den alten Luxus schnuppern, den wir früher jeden Tag hatten… wir benehmen uns auch ganz artig, sind ja aus gutem Hause, meine Jungs und ich.“ Zumindest das ist nicht mal gelogen, an guter Erziehung und gehobener Etikette mangelt es keinem von uns dreien. Vielleicht doch gut, dass Prompto nicht mit dabei ist, auch wenn mir seine Nähe gut getan hätte in dieser stickigen Atmosphäre. Aber er sieht eben selbst in den feinsten Klamotten einfach immer noch fehl am Platz aus so allein unter uns ganzen Adligen… „Also gut, Gladio. Aber echt nur weil du’s bist.“ „Danke Dan, hast was gut bei mir.“ Der bleiche Soldat – oder ‚Polizist‘ wie das heute wohl heißt – blickt noch einmal auf seine Namensliste und winkt uns dann höflich herein, als hätten wir drauf gestanden. Die Dachterrasse selbst wirkt fast noch teurer und luxuriöser als früher, und der Platz ist voll mit Männern in teuren Anzügen und Frauen in langen, unbequemen Kleidern. Einen Augenblick lang genieße ich den altbekannten Anblick. Das große Aquarium, das Gemälde der Göttin Etro in seinem Inneren, umgeben von riesigen, exotischen Fischen. Die große freie Fläche, auf der Luna mir das Tanzen beigebracht hat, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, die Buffettische, die Galerie, die vielen kleinen, runden Tische und vor allem die Tatsache dass man von hier, dem Dach des höchsten Turms in Insomnia, die ganze Stadt sehen kann. Ein herrlicher Anblick, wenn abends die Lichter der Stadt angehen… So zerbombt die Zitadelle auch noch immer ist, der größte Teil der Stadt sieht von hier oben tatsächlich wieder ganz ansehnlich aus. Einige Viertel liegen noch in Trümmern und die Statuen der früheren Könige sind teilweise sehr weit von ihren angestammten Plätzen entfernt, aber zumindest das Stadtzentrum, der Park und die meisten der Wohnviertel scheinen gut wiederhergestellt worden zu sein. Gemäß unserem Versprechen gegenüber Gladios Freund Dan steuere ich zunächst auf das Buffet neben dem großen Aquarium zu und nehme unterwegs meinen Begrüßungssekt entgegen. Die Tische sind schwer beladen mit winzigen Portiönchen teuren Essens aus aller Welt, ein Häppchen kleiner und exklusiver als das andere. Das meiste ist mir von meiner Reise noch bekannt, ich habe ein gewisses Vertrauen, dass Ignis mir alles, was ich von hier will, mit den richtigen Zutaten in einer Größe nachkochen kann, die satt macht. Muss ja nicht jedes Stückchen Kuchen gleich mit echtem Blattgold belegt sein, wenn man nicht gerade vor dem Rest der Welt angeben will. So viel Geld, das man stattdessen in die Renovierung der kaputten Stadtteile hätte stecken können. Um mir die Verschwendung von Staatsgeldern nicht weiter ansehen zu müssen schlendere ich weiter in Richtung Treppe und erklimme die Stufen auf die Galerie, von wo aus ich einen guten Überblick über das Getümmel an reichen Leuten habe. Lässig auf das Geländer gestützt sehe ich aus wie einer von vielen. „Würdenträger aus allen vier Ländern“, murmelt Ignis, und er hat Recht, hier treffen sich die Größten der Großen. Die Riesen der Politik… diejenigen, in deren Händen das Schicksal der Welt liegt. Ich muss dem Drang widerstehen, nervös mit meiner Magie zu spielen und nippe stattdessen lieber an meinem Sekt. Hoffe, wenigstens der ist aus der Gegend und nicht teuer eingeflogen worden… Ich lasse meinen Blick weiter über die Menschen im Saal schweifen, die meisten sind mir gänzlich unbekannt, die alten Adeligen aus Lucis anscheinend komplett aus den oberen Etagen vertrieben. Premierministerin Claustra aus Altissia erkenne ich dagegen sofort; die letzten zwanzig Jahre haben ihrem Teint nicht gut getan, aber sie hält sich mit der Würde einer Frau, der weder Krieg noch Zeit etwas anhaben können. Auch Aranea fällt mir ins Auge, trotz der an ihr so ungewohnten Ballkleidung. Ein eng anliegendes Kleid aus rotem Samt, verboten tief ausgeschnitten und so lang, dass es noch ein Stück weit hinter ihr über den Boden schleift. Die linke Seite ist dafür fast bis zur Hüfte hoch aufgeschlitzt, um den Blick auf ihre wohlgeformten Beine und die hochhackigen Stiefeletten freizugeben. Und wer weiß, vielleicht auch, damit sie im Notfall besser springen kann. Als einzige im Raum sieht sie direkt zu mir hoch, und ich schüttle kaum merklich den Kopf. Aranea nickt und wendet ihre Aufmerksamkeit ab. „Der Mann neben Aranea muss der neue Kaiser der Niffen sein. Kain oder so ähnlich…“, raunt Gladio mir zu, „Ganz schön mutig, hier in voller Rüstung zu erscheinen.“ „Vielleicht muss er das, so nah an der Maschine?“, mutmaße ich, „Hoffen wir, dass es niemand als Provokation auffasst.“ „Siehst du den Mann da im weißen Anzug?“, lenkt Ignis meine Aufmerksamkeit auf einen untersetzten Herren am Buffet, „Das ist Kanzler Rashin. Der aktuelle Regent des ehemaligen Königreiches Lucis.“ Ich fasse den Mann ins Auge, kann aber nicht viel Bemerkenswertes an ihm feststellen. Mit den Gepflogenheiten zu Hofe zumindest scheint er sich vor seiner Wahl nicht befasst zu haben, eher wirkt er wie ein großer Firmenchef. Mir graut dabei zuzusehen, wie der Mann sich mit nackten Händen am Buffet bedient. Hoffentlich legt er im Gespräch mit den anderen Politikern mehr Feingefühl an den Tag. „Das da muss Kanzler Populus von Tenebrae sein“, meint Gladio und zeigt auf einen älteren Mann mit blassblonden Haaren. Der Mann wirkt etwas geschafft, möglicherweise leidet auch er unter den Auswirkungen der Maschine. Aber er hält sich tapfer und scheint, im Gegensatz zu unserem gewählten Oberhaupt, auch ein klein wenig im höfischen Verhalten geschult zu sein. Zu meiner Freude versammeln sich die vier Oberhäupter am Aquarium direkt unter der Treppe – nicht zufällig, vermutlich hat Aranea den Platz absichtlich so gewählt, dass ich gut und unauffällig mithören kann. Ich danke ihr im Geiste und spitze die Ohren. „Ziemlich gewagt, hier als Kaiser in voller Rüstung zu erscheinen“, leitet Kanzler Rashin das Gespräch ein und leckt sich Reste der Fischsoße von den Fingern, „Ich hoffe doch, dass ich das nicht als Drohung gegen mein Land auffassen muss?“ „Eine reine Vorsichtsmaßnahme, das versichere ich Ihnen.“ Die Stimme des Kaisers ist durch die Rüstung verzerrt, aber ich bilde mir ein, dass sie einen eher sanften Klang hat. Ignis hat wieder die Augen geschlossen, sicher sieht er so mehr als wir, vielleicht auch unter den Helm des Kaisers selbst. „Erwarten sie denn einen Angriff, hier bei uns in der Stadt?“ Rashin lacht, als hätte er einen lustigen Witz gemacht. Mir stellen sich die Haare auf. „Ich denke, es geht um diese Maschine, über die wir gesprochen haben“, mischt sich Kanzler Populus aus Tenebrae ein. Selbst von hier oben kann ich das Glas in seiner Hand zittern sehen, der Mann leidet deutlich. „Wir hatten seit deren Aufbau einige ungewöhnlich Tode zu beklagen, gerade Menschen niflheimischer Abstammung scheinen unter dem neuen Schild Insomnias zu Schaden zu kommen.“ „Das ist auch der Grund unseres Treffens hier“, erinnert die Premierministerin, „Es sind auch in Accordo Menschen gestorben. Kinder, um es noch schlimmer zu machen. Wir bitten darum, diese Maschine abzuschalten.“ Kanzler Rashin lacht nervös und tupft sich Schweiß von der Stirn. „Ich fürchte, da liegt ein Missverständnis vor. Der Wall der Menschlichkeit ist eine schützende Einrichtung, die keinem echten Menschen schaden würde. Im Gegenteil, sie hält Siecher und Klonsoldaten fern.“ „Und alle, deren DNS der der Magitech ähnlich ist“, ergänzt Kain, „Die Kinder und die Alten zuerst, weil sie schwach und anfällig sind. Hundertfünfzig Tote allein in den letzten vier Wochen, und das nur innerhalb der Hauptstadt. Ich bestehe darauf, dass die Maschine abgeschaltet wird. Wenn das die Todesfälle nicht stoppt, könnt ihr sie gern wieder einschalten.“ „Ihr verlangt viel von uns, Kaiser. Einfach den Wall zu deaktivieren… und das in der angespannten Lage, da wären wir ja vollkommen schutzlos…“ „Muss ich also davon ausgehen, dass Lucis die Maschine nicht abschalten wird?“ Die Stimme des Kaisers klingt drohend, und auch die anderen Staatsoberhäupter scheinen Rashins Worte als klare Anfeindung zu verstehen. „Kanzler Rashin“, versucht es Premierministerin Claustra gefasst, „Ich verstehe doch richtig, dass zwischen unser aller Ländern Frieden herrscht. Die Plage ist von der Welt genommen, es gibt keine Siecher mehr. Wovor, frage ich mich, will Lucis sich mit diesem Wall schützen?“ Eine gefährliche Frage. Ich drücke mein fast volles Glas einem vorbeilaufenden Pagen in die Hand und blicke konzentriert auf die vier Menschen am Fuß der gewundenen Treppe. Die Anspannung jedes einzelnen der Anwesenden ist fast körperlich spürbar. „Die Angst“, windet sich Rashin heraus, „nach fast zweihundert Jahren Krieg, ja, nach dem Fall des Königs, da fühlen sich die Menschen hier einfach schutzlos ohne den Wall von Insomnia. Und wir, als gewählte Vertreter…“ „Menschen leiden unter dem Wall, Kanzler Rashin“, wendet der Mann aus Tenebrae ein. Das Taschentuch, mit dem er sich die Augen tupft, färbt sich langsam etwas rot, „Schalten sie sie ab, unser aller Bürger zu Liebe.“ „Verzeiht, werter Kollege, das kann ich nicht tun.“ „Lucis wird die Maschine also nicht abschalten?“ „Nicht unter solchen Drohungen, Kaiser.“ „Doch, die Maschine wird abgeschaltet“, unterbreche ich das Gespräch und spüre mit einem Mal alle Augen im Saal auf mir. „Und Sie sind?“, fragt Rashin verwirrt. „Ah, verzeiht, dass ich es nicht für notwendig hielt, mich vorzustellen“, entschuldige ich mich und steige langsam die Treppe hinunter zu den anderen Politikern, „Noctis Lucis Caelum, König von Lucis.“ Die Worte schlagen ein wie eine Bombe. War es vorher noch so still im Raum, dass man den Kanzler von Tenebrae angestrengt keuchen hören konnte, hört man im nun aufbrausenden Gemurmel sein eigenes Wort nicht mehr. Ich suche Blickkontakt zu jedem der mir ebenbürtigen Regenten und trete in den kleinen Kreis. „Ich weiß, dass die neue Verfassung des Königreiches Lucis meine Rückkehr nicht vorgesehen hat“, wende ich mich an Rashin, „Ihr werdet mir trotzdem erlauben, die Verantwortung wieder an mich zu nehmen. Ich möchte, dass diese Maschine abgeschaltet wird. Sie schadet den Menschen mehr, als dass sie ihnen nützt.“ Das zumindest scheint Rashin in arge Verlegenheit zu bringen. Er stottert, diskutiert, verhandelt, alles ungeachtet der Tatsache, dass er nur noch ein einfacher Bürger in der Gesellschaft großer Regenten ist. „Ich fürchte, Herr Rashin, des Königs Befehle sind indiskutabel“, übersetzt Ignis, was mein Blick allein dem Mann hätte sagen können. Schließlich tritt eine Frau vor, die eine ähnliche Kanzlerscherpe trägt wie er – sicher das Oberhaupt einer anderen regierenden Partei, und hoffentlich weniger gegen den alten Adel als ihr höherrangiger Kollege. „Das Problem ist“, gibt sie zerknirscht zu, „Dass es uns rein technisch gar nicht möglich ist, die Maschine abzuschalten. Sie… hat sich sozusagen verselbstständigt.“ Rashin wirft der Frau einen vernichtenden Blick zu, doch sie hält stand. Mein Auftritt scheint einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen zu haben. Auch die drei anderen Vizekanzler von Lucis scheinen meine Anwesenheit eher hoffnungsvoll als feindselig aufzunehmen. „Mit anderen Worten, wir haben eine menschgemachte Tötungsmaschine in der Stadt, die wahllos unbescholtene Bürger in der ganzen Welt umbringt, und anstatt etwas zu unternehmen verteidigt ihr euer Nichtstun?“, entfährt es Gladio. Ich habe beschwichtigend den Arm, bevor er der armen Frau den Kopf abschrauben kann. „Danke, dass Sie den Mut hatten, das zuzugeben. Es ist spät, für viele zu spät, aber mit ein wenig Glück können wir jetzt zumindest weitere Tode verhindern.“ „Wie wollt ihr das tun, Majestät?“, fragt Kanzler Populus mit zitternder Stimme, „Wenn man die Maschine nicht abschalten kann…“ „Vertraut dem König von Lucis, Populus“, rät Premierministerin Claustra, „Er ist ein mächtiger Mann.“ Sie nickt mir zu und ich erwidere die Geste, bevor ich mich wieder den ehemaligen Kanzlern von Lucis zuwende. „Wo finde ich diese Maschine?“ „In den Tunneln unter der Stadt. Etwa auf Höhe der Zitadelle. Aber dorthin vorzudringen ist nicht so einfach, die Maschine hat einige Wälle aufgebaut, die man nicht durchbrechen kann. Sie lässt sich nicht mehr abschalten. Eventuell könnte man noch durch die Kanalisation zu ihr durchdringen, aber die Ratten dort sind… grausam mutiert.“ „Das werden wir sehen“, winke ich ab, „Ich werde mich gleich auf den Weg machen.“ „Ganz allein, euer Majestät?“ Die Frage überrascht mich, mehr noch, dass gerade der Kaiser von Niflheim sie gestellt hat. „Ich bin niemals allein, Kaiser. Meine Freunde begleiten mich.“ „Ah ja, davon habe ich gehört. Die legendären Helden von Lucis, nicht wahr? Aber wenn ich mich nicht irre fehlt in euren Rängen der Vierte.“ „Bedauerlicherweise ist das so.“ „Ich würde euch gerne begleiten, aber schon hier und selbst im Schutze meiner Rüstung fällt mir das Atmen schwer. Ich würde seiner Majestät jedoch gern meine treue Kanzlerin Aranea Highwind an die Seite stellen, wenn mir die Dreistigkeit erlaubt ist.“ „Keine Dreistigkeit, mein Freund, vielmehr ein willkommenes Angebot“, entgegne ich lächelnd, „Die Kanzlerin wird mir eine wertvolle Hilfe sein.“ Wenn auch nicht unbedingt in dem langen Kleid, das sie gerade trägt, aber ich werde mir wohl auch noch gerade so viel Zeit nehmen, wie es braucht, vernünftige Kampfkleidung anzulegen. Ich brauche den Preis meines Anzugs nicht zu kennen um zu wissen, dass ich darin nicht durch die Kläranlagen schwimmen will. Wir verlassen die Party zu viert, trennen uns jedoch kurz vor dem Hotel wieder von Aranea mit dem Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen vor dem Stadttor. In passender Kleidung und voll bewaffnet. Die Rückfahrt zu Ignis' Appartement nutze ich, um online unseren Vorrat an Heilmitteln aufzustocken. Die Bestellung können wir unterwegs an der Tankstelle auflesen. „Dein Auto ist echt klasse, Noctis, aber dieser Spritverbrauch… da werden wir auf der Fahrt zu den Tunneln glatt nochmal tanken müssen“, schätzt Gladio. „So schlimm ist es auch nicht“, widerspricht Ignis, „Solange wir nicht dich fahren lassen, wird diese Tankfüllung reichen. Mach dich lieber nützlich und sortier unsere Einkäufe gleich so, dass wir sie später schnell einstecken können. Denkt daran, das muss alles in die Taschen unserer Kleidung passen und im Kampf leicht griffbereit sein.“ „Ja Mutti, wir machen das nicht zum ersten Mal.“ Ignis blickt Gladio reichlich perplex an, zuckt dann aber doch nur mit den Schultern und hängt den Zapfhahn zurück. Zahlen geht auch er, ich habe aktuell keine gültige Kreditkarte. Bin ja, rein offiziell, als tot gemeldet. „Irgendwie war’s lustiger, als Prompto noch für die Witze zuständig war“, seufzt Gladio. „Ja, sehen wir einfach zu, dass wir diese Maschine los werden, und holen ihn zurück“, entgegne ich. Es ist einiges Wühlen nötig, unter den neu gekauften Klamotten etwas zu finden, was der Kanalisation Insomnias würdig ist, aber letztendlich treffe ich meine Auswahl nach der Kampftauglichkeit. Stabile Jeans, Lederstiefel, ein etwas dickeres T-Shirt und eine Jeansjacke. Im schlimmsten Fall wird Ignis schon alles waschen können. „Na, seine Majestät endlich fertig mit Umziehen?“, neckt Gladio, als ich endlich in die Tiefgarage nachkomme, „wäre vielleicht doch besser gewesen, du hättest Ignis helfen lassen.“ „Halt einfach die Klappe, Gladio.“ Ich stecke mir die Menge an Heilmitteln ein, die in meine Taschen passt und lasse mich in den Sitz fallen. Ignis hat den Wagen schon eine Weile laufen lassen, der Motor ist schön warm und wir schießen gleich mit ordentlich Tempo auf die Straße. Aranea wartet bereits, sie trägt jetzt eine leicht überarbeitete Version ihrer alten Rüstung. „Versteht das nicht falsch, euer Majestät“, grüßt sie mich, „Die Sachen habe ich immer dabei. Alte Gewohnheit, keine Vorbereitung auf einen Kampf.“ „Schon gut, Aranea“, winke ich ab, „Und nenn mich ruhig weiter Noctis. Ich hätte mich nicht auf die Party eingeschlichen wenn wir nicht befürchtet hätten, dass Kanzler Rashin einen Krieg provoziert. Ob ihr vorher nochmal heimfliegt, um eine Armee zu holen oder schon eine dabei habt, war eher zweitrangig.“ Aranea seufzt tief. „Niflheim will keinen neuen Krieg. Weder mit Lucis noch innerhalb der eigenen Wände. Aber diese Maschine… Menschen sterben, seit es sie gibt. Und auf grausamste Weise. Diese Rüstung, die mein Bruder trägt… selbst in Niflheim ist er ohne sie zum Tod verdammt.“ „Dein Bruder?“ Aranea blickt mich auf meine Frage hin verwundert an. „Kain Highwind ist mein kleiner Bruder, ja“, klärt sie mich auf, „Wusstet ihr das etwa nicht?“ „Wir wussten nur, dass der neue Kaiser dein Vertrauen genießt“, gibt Ignis zu, „Nicht aber, dass ihr verwandt seid.“ „Nun, dann wisst ihr es jetzt“, winkt Aranea ab, „Er ist ein kluger Mann und er hat ein gutes Herz. Aber er ist auch bereit, für seine Leute zu kämpfen, wenn es anders nicht geht.“ Und anders geht es vielleicht wirklich nicht. Menschen sterben unter dem Einfluss der lucischen Maschine, das Volk fordert ein direktes Handeln. Wenn der Kaiser das Unheil nicht anders stoppen kann, gibt es Krieg, entweder unter seiner Führung gegen Lucis, oder als Revolte der Bürger, die sich nicht ausreichend verteidigt fühlen. Wenn selbst Aranea mich mit Titel anspricht muss die Lage wirklich ernst sein. „Ich freue mich in jedem Fall, dass er dich mitgeschickt hat“, gestehe ich, „Legen wir also los.“ Der Eingang zur Kanalisation liegt direkt vor dem Stadttor. Ein klein wenig außer Sichtweite der Straße geht es die Treppen hinunter, bis der eigentliche Zugang kommt. Gladio hebt den schweren Deckel von der runden Öffnung und wir blicken alle vier hinein. „So… wer zuerst?“, fragt Aranea. „Ladys first“, entgegnet Gladio grinsend und kassiert ein dreifaches Augenrollen dafür. Aranea zuckt nur mit den Schultern und springt trotzdem als erste in das Loch – die einfache Metallleiter ignoriert sie dabei komplett. Eine Weile lauschen wir auf das Zischen der aufgewühlten Luft, dann endlich ist ein Aufprall von Stahl auf Stein zu hören. „Perfekte drei-Punk-Landung“, kommentiert Ignis, „und wir werden weit klettern müssen, um sie wieder einzuholen. Ich rate davon ab, den Sprung nachzuahmen.“ „Euch beiden würde ich das auch nicht raten“, entgegne ich und lasse einen meiner Dolche in das Loch fallen. Knapp über dem Boden sammle ich ihn wieder ein und lande perfekt neben der Dragonerin. „Gladio und Ignis werden etwas länger brauchen“, warne ich, „Irgendwas Interessantes hier unten?“ Aranea richtet ihre Taschenlampe in den Raum. „Beton, Wasser und Ratten.“ „Sehen aber normal aus, die Tierchen. Und recht niedlich, nicht mutiert, soweit ich sehen kann.“ Prompto hätte sicher ein paar Fotos gemacht, besonders von der gescheckten Ratte, die aussieht, als wäre sie aus einem Zoogeschäft entkommen. „Wenn ich mich nicht irre müsste die Zitadelle etwa in dieser Richtung liegen“, schätze ich und deute Stromaufwärts, „Dummerweise führt da kein direkter Weg hin.“ Hoffentlich hatte Ignis die Voraussicht, sich einen Lageplan zu besorgen, sonst haben wir ein Problem. Ich hab nämlich mal wieder nicht soweit vorausgedacht. Langsam kommt Ignis auch in Sicht, im Gegensatz zu mir und Aranea muss er aber gut aufpassen, dass er nicht abrutscht – der Einstiegstunnel ist tief und die Griffe sehen rutschig aus, vor allem, wenn man wie Ignis grundsätzlich Schuhe ohne tiefes Profil trägt. Gladio folgt ihm in einigem Abstand, vermutlich, damit niemand ohne seinen Schutz zurückbleibt. In engen Tunneln übernimmt Gladio oft die Nachhut, um einem Hinterhalt vorzubeugen, wenn er nicht direkt vorausgehen kann. „So, wo sind wir?“, fragt Ignis, unten angekommen, und zieht zu meiner Erleichterung tatsächlich einen Plan aus der Tasche, den er mit dem GPS seines Handys abgleicht. Auch er blickt Stromaufwärts auf das Abfanggitter, meine Vermutung bezüglich der Richtung war also korrekt. „Wo lang?“, fragt Gladio, als er auch endlich wieder Boden unter den Stiefeln hat. „Ignis hat die Karte“, entgegne ich. „Erst mal ein Stück stromabwärts, dann bei der ersten Gelegenheit nach rechts. Mit etwas Glück gibt es einen Übergang, der hier nicht eingezeichnet ist, ansonsten müssen wir durchs Wasser. Ist zum Glück ja nur etwa knietief hier.“ Nur etwa knietief, ja, aber dreckig ohne Ende. Und nass. Eigentlich wäre ich schon gerne noch so lange wie möglich trocken geblieben. Die anderen sind wohl meiner Meinung, und so gehen wir soweit es eben geht auf dem Beton weiter. Aranea und ich können das Wasser an der Abzweigung bequem überspringen, Ignis und Gladio schaffen es nur mit Mühe, bleiben aber auch noch trocken. „Schade“, murmelt Aranea mit zu, „Ich hätte jetzt gern einen fallen sehen.“ Ich muss lachen, widerspreche aber dennoch: „Sei froh dass nicht, am Ende wären wir nur auch nass gespritzt geworden.“ Die Tunnel sind dunkel, feucht und dreckig. An den Stellen, an denen ein wenig Sonnenlicht einfällt, wächst Moos an den Wänden, wo nicht, macht sich Schimmel breit. Der Geruch ist ein wahres Fest für die Sinne, zumindest, wenn man auf Horror steht. In manchen der Auffanggitter hängen noch Leichen des Krieges herum, oder Teile davon. Ich wende mich schaudernd ab und nehme mir vor, bei erster Gelegenheit einen Bergungstrupp hier runter zu schicken. Egal ob Bewohner Insomnias oder Soldat Niflheims, niemand hat es verdient, in der Kanalisation von den Ratten gefressen zu werden. Der Weg zur Zitadelle ist weit, zumal wir hier alles zu Fuß laufen und einige Umwege in Kauf nehmen müssen. Selbst mit dem Auto fährt man, bei flüssigem Verkehr, ein bis zwei Stunden vom Tor zur Stadtmitte… Mir graut bei dem Gedanken, hier unten campen zu müssen. Zwei Stunden und gefühlt tausend Tunnel weiter müssen wir schließlich doch durchs Wasser waten, sogar einen schrägen Auslass hinunter rutschen. Das Wasser ist an dieser Stelle zum Glück nicht ganz so widerlich dickflüssig, aber dennoch fern von sauber. Immerhin riecht es mehr nach Chlorreiniger und künstlicher Zitrone als nach was auch immer das andere Wasser gerochen hat. Bäh. Meine Hose saugt sich langsam voll und ich zweifle an der Klugheit meiner Entscheidung, ein weißes T-Shirt anzuziehen. Dass meine Stiefel wasserdicht sind, war auch nur so lange von Vorteil, bis die ersten Wellen von oben hinein geschwappt sind… Turnschuhe wären vielleicht doch besser gewesen. Mir ist kalt. Es stinkt. Sind wir bald da? Ugh, sogar Promptos Gejammer fehlt mir… ich will nicht derjenige sein müssen, der ausspricht, was alle denken. Also stapfe ich tapfer weiter durch das grünliche Nass, in der Hoffnung, vielleicht hinter der nächsten Kurve endlich eine Erhöhung zu finden, damit wir wieder auf trockenem Beton laufen können. Als dann endlich eine kommt, müssen wir schwimmen, um sie zu erreichen. „Okay, jetzt bin ich offiziell komplett nass“, beschwere ich mich, aber gleichzeitig ist damit auch der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr jammern muss – erst mal komplett nass, hat man nichts mehr zu verlieren. Jetzt brauche ich mich wirklich nicht mehr zu scheuen, ins Wasser zu treten. Ignis führt uns weiter zielsicher mit Karte und GPS Richtung Innenstadt. Dank seines unfreiwilligen Trainings muss er nicht mal aufsehen, um sich in den Tunneln zu orientieren – wenn ich so konzentriert auf die Karte blicken würde, würde ich von einer Wand zur nächsten rennen und dabei zehnmal stolpern. Weitere zwei Stunden später fange ich langsam doch an, quengelig zu werden. Und weil Prompto leider immer noch nicht bei uns ist, bin es nun doch ich, der für alle jammern muss: „Sind wir bald da~?“ Wir sind seit vier Stunden unterwegs, ich bin nass bis auf die Haut, mir ist kalt, ich bin müde, und meine Beine tun weh. Ich fühle mich ALT. Vierzig sein ist kein Spaß, wenn man sich zum letzten Mal mit dreißig bewegt hat. „Die Hälfte ist geschafft“, versichert mir Ignis, „Vielleicht sollten wir eine kurze Pause einlegen?“ „Wenn wir keine Pause machen, muss Gladio mich tragen“, drohe ich. „Mich auch“, schließt Aranea sich an, „Ich habe übrigens seit heute Morgen nichts mehr gegessen außer ein paar von diesen Mini-Häppchen auf der Party.“ „Nun, dagegen sollten wir natürlich etwas tun. Hat jemand Feuer?“ Ich fülle ein leeres Heiltrankfläschchen mit ein wenig Magie, das ich noch in mir hatte. Es ist nicht viel, aber zum Kochen wird es reichen. Eigentlich hatte ich gehofft, unterwegs noch mehr Stellen zu finden, an denen ich Magie abzapfen kann, aber bis jetzt sieht es karg aus. Nicht mal Strom fließt hier unten… Während Gladio die mobile Kochstation aus seinem Rucksack aufbaut – würde mich nicht wundern, wenn der Kerl auch sein Zelt da rein gequetscht hätte – suche ich mir ein halbwegs sauberes Fleckchen zum Hinsetzen. Erst mal die Beine ausruhen… Und ein bisschen an die Wand lehnen. Laut der neuen Armbanduhr an meinem Handgelenk ist es inzwischen Mitternacht. Gut, dass es keine Siecher mehr gibt… aber hier unten wäre es ohnehin jederzeit dunkel genug für die Biester. Ich bin so müde, dass Ignis mich mit dem Essen wecken muss. Zu meiner Erleichterung gibt es keine gegrillte Ratte, dafür aber dummerweise recht viel Gemüse für das bisschen Brot mit Schinken. Zum Glück ist Aranea so hungrig, dass sie mir den Kram ohne viel zu Fragen abnimmt. Gladio hat‘s, hoffe ich, nicht gesehen. „Wollen wir’s für heute Nacht gut sein lassen?“, fragt er mit einem Blick auf die Uhr seines Handys, „Ich hab aufblasbare Isomatten und ein paar Decken dabei.“ „Dein Rucksack ist auch irgendwie innen größer als außen, was?“ Popkulturreferenzen fallen jetzt wohl auch in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich vermisse Prompto. „Camping, Noct. Da geht es genau darum, möglichst viel möglichst transportabel dabei haben zu können.“ Prompto hätte den Hinweis auf die Tardis sofort verstanden. Ich gähne, um meine Konzentration wieder zu finden, und setze mich etwas aufrechter hin. „Ich würde diese Maschine lieber heute als Morgen abschalten“, gestehe ich, „Aber ich bin müde, und es kann sein, dass wir bald kämpfen müssen. Vier oder fünf Stunden Schlaf sollten da schon drin sein, denke ich.“ „Ich stelle den Wecker auf halb sechs“, schlägt Ignis vor, „Dann laufen wir morgen weiter. Wenn wir das heutige Tempo halten können, sollten wir die Zitadelle gegen Mittag erreichen.“ Gladio richtet unser provisorisches Nachtlager in einer halbwegs geschützten Ecke ein und ich rolle mich sofort in der leichten Decke zusammen. Fast wie früher… nur ohne Zelt und dafür mit Modergestank. Naja, ganz zum ersten Mal bin ich auch nicht im Abwasser unterwegs… es ist nur das erste Mal, dass ich in der Kanalisation schlafen muss. Trockene Kleider hat leider keiner von uns dabei, aber immerhin war Ignis so umsichtig, in einer wasserfesten Tasche ein paar Handtücher mitzubringen, so können wir wenigstens halbwegs trocken schlafen, wenn auch, bis auf die Decken, nackt. Aranea stört sich erstaunlich wenig daran. „Hab schon mit hässlicheren Kerlen geduscht“, winkt sie ab und rollt sich ebenfalls fest in ihre Decke ein, „Mmmh… duschen wäre jetzt schön. Mit warmem, sauberem Wasser…“ „Mhm“, stimme ich zu, „Und mit Seife.“ Viel Seife. Und Desinfektionsmittel. Und irgendwas gegen den Gestank… Kapitel 5: Gipfel der Riesen II (Noctis Lucis Cealum) ----------------------------------------------------- Ich habe kaum die Augen geschlossen da rüttelt Ignis mich auch schon wach. Einen Moment brauche ich, mich zu orientieren, dann schlüpfe ich ergeben wieder in meine nasskalten Klamotten. „Tut mir Leid, ich hätte daran denken sollen, etwas zum Wechseln einzupacken“, entschuldigt sich Ignis, aber ich winke direkt ab. „Schon okay. Wenn ich gewusst hätte, dass wir heute Abend hier schlafen, hätte ich den ganzen Tag über schon Magie gesammelt. Hat das bisschen Feuer zum Kochen gereicht?“ „Gerade so, fürchte ich. Ich hätte es gern noch zum Trocknen unserer Kleidung verwendet, aber es war wirklich nicht viel.“ „Eh ein Luxus, diese Magie“, meint Aranea, „In Niflheim müssen wir Steine aneinander reiben, um Feuer zu machen, und das dauert noch Stunden.“ „Nun, so viel Zeit haben wir nicht“, meint Ignis, „Ich habe ein kaltes Frühstück vorbereitet, das sollte uns etwas Energie für den Tag geben.“ Das besagte Frühstück besteht ebenfalls aus Brot und Schinken, diesmal aber immerhin ohne Grünzeug. Leider auch ohne den Schmelzkäse, aber immer noch besser als gar nichts. Mit vollem Magen ist es zumindest ein bisschen wärmer in der nassen Kleidung… und nach der ersten Runde Schwimmen ist das klamme Gefühl eh wieder der Resignation gewichen. Nass. Alles nass. Langsam fühle ich mich fast wie ein Fisch… ein stinkender Fisch in stinkendem Wasser. Hier würde ich nicht angeln wollen, wer weiß, was da alles anbeißt… Ratten, Leichenteile… besser nicht dran denken. Ignis führt uns weiter mit blinder Sicherheit durch die Tunnel, und ich bin froh, ihm einfach hinterher trotten zu können. Zehn Ecken weiter kommt endlich ein wenig Strom aus der Wand, gerade genug, um eine Flasche Blitzra abzufüllen. Hoffentlich bringt es wenigstens was… Unser Gegner ist eine Maschine, da stehen die Chancen gut, dass er schwach gegen Strom ist. Dummerweise ist es ebenso möglich, dass er ganz immun dagegen ist, also sollte ich besser weiter die Augen aufhalten, ob ich nicht auch noch Feuer oder Eis finde. So kalt wie mir gerade ist, sollte Eis zumindest zu finden sein, aber ich finde nur mehr Strom. Wäre das hier ein Rollenspiel, würde es wohl sicher auf eine Schwäche des Endbosses hindeuten. Und wenn Prompto hier wäre, hätte er genau das jetzt gesagt. So verhallt seine Stimme in meinem Kopf, ohne, dass es die anderen mitbekommen. „Meint ihr, ich könnte diese Magie auch benutzen?“, fragt Aranea interessiert. „Solange du auf meiner Seite stehst ließe sich das einrichten“, überlege ich, „Allerdings braucht es etwas Übung, und dafür habe ich, fürchte ich, im Moment nicht die nötigen Ressourcen.“ „Verstehe. Ist nicht so einfach wie es aussieht, was?“ „Wenn man Talent hat, ist es gut machbar. Der Rest ist Training“, erklärt Ignis, „Ähnlich wie mit deiner Magitechlanze, vermute ich… die würde ich auch gerne mal ausprobieren, wenn du erlaubst und sich die Möglichkeit mal bietet.“ „Auch nicht so einfach, wie es bei mir aussieht“, gibt Aranea schnippisch zurück, „Aber mit so einem adretten Typen wie dir würde ich mir so eine Trainingseinheit schon mal ansehen, schätze ich. Die nassen Haare sehen übrigens ziemlich süß aus.“ Ignis fasst sich verlegen an den Schopf und wendet sich errötend ab. „Kaum zu fassen, dass der ne Frau hat“, raunt mir Gladio zu, „der flirtet mit der Eleganz einer Steinmauer.“ „Soll ja Frauen geben, die sowas attraktiv finden“, schätze ich. „Und seit wann kennst gerade du dich da so gut aus, eh?“, lästert Gladio und nimmt mich spielerisch in den Schwitzkasten. „Lass das!“ „Wüsste ja nur zu gern, wann du Klemmi mal mit Frauen zu tun hattest.“ „Man kann sich Wissen auch theoretisch aneignen, Gladio“, hilft mir Ignis aus und lenkt Gladio damit genug ab, dass ich mich freistrampeln kann, „Zumindest, wenn man ein bisschen mehr im Kopf hat als du.“ „Hey, ich weiß selbst, dass ich nicht der Klügste bin, okay? Das musst du mir nicht extra sagen.“ Beleidigt scheint er aber nicht zu sein deswegen. Nur die üblichen Sticheleien, ganz wie früher. Trotzdem mache ich mir Sorgen… Die Jungs waren in meiner Abwesenheit zerstritten, Ignis hat selbst gesagt, dass Worte und Sätze gefallen sind, die keiner zurücknehmen kann. Ich habe Angst, dass die Leichtigkeit, mit der meine beiden Freunde reden, vielleicht nur aufgesetzt ist. Vor lauter Gegrübel wäre ich jetzt auch noch fast in Ignis reingelaufen. „Was ist, warum bleiben wir stehen?“ „Ich hab was gehört“, meint Ignis, und der Rest von uns hält schlagartig die Luft an. Ich höre nichts, aber Ignis legt mit geschlossenen Augen den Kopf schief und macht ein paar winzige Schritte in verschiedene Richtungen, als wollte er ein Signal orten. „Im Tunnel zu unserer Rechten bewegt sich etwas. Klingt nach Krallen auf Beton, ähnlich den Ratten vorher, aber es muss größer sein.“ „Wir wurden vor mutierten Ratten gewarnt“, erinnere ich mich, „Müssen wir da lang?“ „Nicht direkt“, erkennt Ignis mit Blick auf die Karte, „Aber seid trotzdem vorsichtig. Wir scheinen uns langsam in den Einflussbereich der Maschine zu begeben.“ „Schon Kopfweh?“, forscht Gladio nach. „Ein wenig. Aber noch kann ich mich gut davon ablenken.“ „Wenn es schlimmer wird, sag bitte Bescheid“, flehe ich, „Du musst nicht bis zum Ende mitkommen, wenn es dir Schmerzen bereitet.“ Wenn ich etwas nicht sehen will, dann, dass meine Freunde leiden. Aber Ignis lächelt nur und ich weiß genau, dass er bis zum Schluss bei mir bleiben will, egal was kommt. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich ihn trotzdem weg schicken. Er hat meinetwegen wirklich schon genug gelitten. „Bist du nicht hier geboren?“, fragt Aranea nach, „Ich dachte, diese Maschine soll die Bewohner von Lucis‘ schützen.“ „Die Maschine soll vor allem MI vernichten“, erklärt Ignis seufzend, „Und anstatt sich auf Plasmodium zu konzentrieren dachte der Erbauer wohl, er könnte einfach die DNS der Klone suchen lassen. Die ist allerdings doch ein wenig diverser als er dachte, und irgendwann hat die Maschine ihren Suchradius gewaltig erweitert, sowohl lokal, als auch im Hinblick auf die gesuchten Gene. Soweit wir bisher ermitteln konnten, trifft es hauptsächlich Leute die blond und blauäugig sind, was hier in Insomnia selten, aber auch nicht ganz ungesehen ist.“ „Prompto ist jedenfalls nie groß aufgefallen“, füge ich hinzu, „Weder wegen seiner Haarfarbe noch sonst irgendwie.“ „Also greift diese Maschine auch ganz normale Leute hier in der Stadt an und keiner beschwert sich?“ Aranea ist so außer sich, dass sie tatsächlich stehen bleibt, um Ignis ungläubig anzustarren. „Oh, wir haben uns beschwert, so ist es nicht. Die Regierung ist nur leider nicht halb so demokratisch wie sie tut, und auf uns ehemaligen Adel hört eh niemand. Die niederen Bürger haben sich mit einer Presseerklärung zu gefährlichen Handystrahlen zufrieden gegeben.“ „Man muss allerdings dazu sagen“, ergänzt Gladio, „Dass hier in Insomnia noch niemand gestorben ist. Hauptsächlich, weil wir die Leute aus der Stadt gebracht haben, bevor es zu schlimm wurde, aber…“ „Aber so schlimm wie in Niflheim war die Trefferquote hier nie.“ „Schon komisch, oder?“, überlege ich, „Ich meine, der Effekt der Maschine wird schlimmer, je näher man ihr ist, trotzdem reicht der Einfluss bis ganz in den Westen von Eos, und ist da noch stark genug, um Menschen zu töten, deren DNS nicht mal komplett mit der der MI übereinstimmt? Da kann doch was nicht stimmen… Nicht, dass diese Maschine irgendwelche Ableger in die anderen Städte gepflanzt hat oder so…“ „Das… wäre in der Tat möglich“, überlegt Ignis, „Und es würde erklären, wie die Wellen sich so ruckartig Stadt für Stadt ausgebreitet haben. Wir haben das ja einigermaßen mitbekommen, solange wir Prompto noch im Blick hatten…“ „Aranea, ist dir in Niflheim etwas aufgefallen? Zum Beispiel, dass die Menschen in einem bestimmten Gebiet besonders betroffen waren?“ Aranea verschränkt die Arme und blickt an die tropfende Decke über sich. Jetzt da wir still stehen, wird mir direkt wieder kalt, gleichzeitig ist mir innerlich fast heiß vor Wut und Sorge. „Im Stadtzentrum war es am Schlimmsten“, meint Aranea schließlich, „Etwa um das Regierungsgebäude herum. Dort steht zufällig auch das größte und am besten ausgestattete Krankenhaus, weswegen wir die meisten Opfer in den kleineren Kliniken weiter auswärts versorgen mussten.“ „Also sehr wahrscheinlich, dass es einen Ableger gibt… möglicherweise ist es in den anderen Städten genauso.“ „Verdammt.“ Ich beiße mir auf die Lippe und scharre auf dem schleimigen Boden herum. Wenn diese Maschine Ableger hat… Ableger herstellen und ausschicken kann, reicht es nicht, eine zu zerstören. Wir müssen alle finden und möglichst relativ zeitgleich unter Kontrolle bringen. Also… „Gladio“, fällt mir ein, „Als du vorhin gesagt hast, ihr hättet Leute aus der Stadt gebracht, meintest du nicht dich und Ignis, oder? Wer alles ist ‚wir‘?“ Gladio grinst breit. „Was meinst du wohl, wenn wir meinen, wenn wir von ‚den Königstreuen‘ sprechen? Die Garde und die Gleven halten noch zu großen Teilen zusammen. Cor, Libertus und ich geben die Befehle, wenn irgendwo etwas zu tun ist.“ „Kannst du Cor von hier aus anrufen? Nein, warte, gib am besten gleich mir das Handy oder mach auf Laut.“ Gladio gehorcht, und nach ein paar Verrenkungen hat er auch den nötigen Empfang für sein Mobiltelefon gefunden. „Gladio, gut dass du anrufst. Hier reden alle davon, dass der König zurück wäre…“ „Guten Morgen Cor“, grüße ich betont fröhlich, „Tut mir Leid, dass ich dir nicht gleich Bescheid gesagt habe, es ging alles etwas schnell.“ „Noctis?!“ „Genau der. Hör mal, ich würde echt gerne sagen, ich hätte nur aus Höflichkeit angerufen, aber ich brauch deine Hilfe. Und deine Armee, wenn du eine zusammentrommeln kannst.“ „Ihr greift die Maschine an, richtig? Wo soll ich hinkommen?“ „Nicht hierhin. Wir haben die Befürchtung, dass die Maschine Ableger in den anderen Städten hat. Weitere Maschinen, oder zumindest sowas wie einen Signalverstärker. Ich brauche Leute, die diese Dinger finden, beobachten und nach Möglichkeit zerstören, während wir uns hier unten um das Hauptproblem kümmern. Wenn die Vertreter der anderen Länder noch da sind, fragt dort vielleicht um Beistand, ansonsten erbittet einfach die Erlaubnis, auf deren Terrain zu agieren. Hab gehört, Monica hätte ein wenig politisches Geschick bewiesen, vielleicht kann sie das Reden übernehmen?“ „Die Leute aus Niflheim und Accordo sind noch hier, ja. Nur den Kanzler von Tenebrae mussten wir raus bringen, er ist anfällig. Was sollen wir denen sagen?“ „Die Wahrheit. Dass wir vermuten, die Maschine hätte selbstständig Ableger ausgeschickt, und dass diese gefunden und zerstört werden müssen. Diese Ableger oder Signalverstärker finden sich vermutlich da, wo es den Menschen am schlechtesten geht. Wir brauchen noch zwei bis drei Stunden, um das Original zu erreichen, länger, wenn wir auf Widerstand stoßen. Haben hier unten dummerweise keinen Funk dabei, also müsstet ihr halbwegs autark handeln.“ „Alles klar, Mission verstanden. Verlasst euch auf uns, euer Majestät, wir werden diese Dinger finden und abschalten. Kann ich zurückrufen, wenn es Erfolge oder unerwartete Komplikationen gibt?“ „Ich bitte darum, kann aber nicht garantieren, dass wir Empfang haben hier unten.“ „Verstanden. Ich trommle sofort meine Leute zusammen. Und…“ „Ja?“ „Willkommen zurück, Noctis.“ „Danke, Cor. Ich verlasse mich auf dich.“ Ich lege auf und Gladio steckt sein Telefon weg, nicht, ohne vorher den Ton anzustellen, damit wir einen eventuellen Rückruf sofort mitbekommen. „Dann mal weiter“, meint Ignis, „Ich höre schon wieder potentielle Angreifer kommen – diesmal leider direkt auf unserer Strecke.“ „Gut, dann haben wir wenigsten mal was zum Aufwärmen“, gebe ich zurück. Wir sind keine viertel Stunde lang gestanden und ich bin schon wieder ganz steif gefroren. „Immer besser, erst mal die Muskeln zu lockern, bevor es an den Endboss geht.“ Ich klinge wirklich langsam wie Prompto. Aber einer muss ja, sonst fehlt er komplett. Zwei Gänge und eine Treppe weiter kommen wir noch unbehelligt voran, dann steht uns das erste Monster im Weg. Es ist, wie erwartet, eine mutierte Ratte. Auf den Hinterbeinen stehend ist sie fast so groß wie Gladio, und ihre Krallen sind so groß und scharf, dass sie sich wohl schon einige ihrer eigenen Finger abgetrennt hat damit. Das Monster quietscht schrill und springt mit einem mächtigen Satz auf uns zu, den Gladio sofort mit seinem Schild abfängt. Ich ducke mich hinter ihm weg, werfe mein Schwert in die gegenüberliegende Wand und warpe mich hin, um der Ratte gleich darauf mit einem zweiten Warp in den Rücken zu springen. Einen Treffer kann ich landen, da ist das flinke Tier auch schon zu Seite gesprungen. Ich setze mit meinen Dolchen nach, und diesmal ist Ignis bereits auf der anderen Seite und schneidet dem Tier die Flucht ab. So zwischen unseren Klingen gefangen geht das Monster zum Angriff über, springt wieder auf Gladio’s Schild zu – und kracht mitten im Sprung zu Boden. „Ganz schön eng hier drin“, beschwert sich Aranea und zieht ihre Lanze aus dem Kadaver, „Hätte mir fast den Kopf gestoßen.“ „Ich hätte mich hier drinnen überhaupt nicht zu springen getraut“, gibt Ignis zu. „Ich auch nicht“, pflichte ich bei. Gut, dass Aranea auf unserer Seite ist, mit der mutierten Ratte hätte ich nicht tauschen wollen. Etwas vorsichtiger als bisher folgen wir weiter Ignis‘ Karte, und nun werden die mutierten Ratten immer häufiger und immer größer. Zu unserem Glück sind diese Mutationen eher unausgereift, viele der Ratten haben sich bereits selbst verstümmelt oder sind unkoordiniert und hilflos in ihren Bewegungen, wenngleich eindeutig aggressiv. Eine Ratte ist sogar so groß, dass sie in einem Durchgang feststeckt. Gladio erlöst das arme Tier mit einem gut gezielten Schwerthieb, dafür sind wir einige Zeit damit beschäftigt, den Kadaver weiter zu zerteilen um uns den Weg frei zu machen. „Widerlich“, beschwere ich mich, als wir die hintere Hälfte des toten Tieres in den nächsten Gang schieben, wo sie platschend ins morastige Wasser fällt. „Ja, aber schneller, als den Umweg zu nehmen“, meint Ignis und klappt die Karte wieder auf. Diese Seite an ihm ist mir, ehrlich gesagt, ein wenig unheimlich… auch Ignis hätte ich ungern zum Feind. Wir laufen weiter, und bald lässt sich eine deutliche Veränderung an den Ratten feststellen. Sie bewegen sich kontrollierter, sind stärker, und einige tragen Maschinenteile am Körper, die wie ein Panzer wirken. Ich teste einen kleinen Blitzzauber und stelle erfreut fest, dass die Technik sich dadurch gut zerstören lässt. „Das sollte unsere Mission leichter machen, sehr schön.“ „Glaubt ihr, dass die Maschine sich so verbreitet?“, fragt Aranea, „Dass die Ratten Teile aus der Stadt transportieren?“ „Gut möglich“, vermutet Ignis, „Das würde die Mobilität erklären. Die Tiere wirken ferngesteuert, vielleicht agiert die Maschine durch sie.“ „Glaubst du, wir müssen jedes einzelne Teil zerstören, oder reicht es, wenn wir die Maschine und ihre größeren Ableger erwischen?“, frage ich. Ignis überlegt einen Moment. „Ich vermute anhand der Baupläne, die man mir freundlicherweise unter etwas Druck zur Einsicht anvertraut hat, dass die Maschine über eine künstliche Intelligenz verfügt. Die einzelnen Komponenten an sich sind sicher nicht gefährlich, aber wenn es sich bei den Ablegern in den anderen Städten um mehr als nur Signalverstärker handelt, könnte sie einen Teil ihres Codes dorthin kopiert haben. In dem Fall müssten wir durchaus sicherstellen, ob nicht noch irgendwo ein Speicherchip mit dieser KI herumwandert. Wahrscheinlicher ist aber, dass die KI nur in der Hauptmaschine ist, die die Ableger als Signalverstärker nutzt oder mit ihnen kommuniziert. Genaueres kann ich leider nicht sagen, bevor Cor und die anderen neue Informationen haben.“ „In jedem Fall sollten wir also erst mal diese Maschine zerstören“, überlege ich, „Und die Ableger. Damit müsste das Gröbste geschafft sein, der Rest ist dann Feinarbeit, die wir im Nachhinein detailliert angehen können.“ Unsere Unterhaltung wird von weiteren Ratten unterbrochen. Wegen der vielen Kämpfe kommen wir jetzt langsamer voran, entsprechend genervt bin ich, als Ignis ein paar Gänge weiter plötzlich unvermittelt stehen bleibt. „Was?“ „Da ist eine Wand.“ „Ich sehe keine.“ Ignis blickt auf und blinzelt. Vor ihm ist nichts. Trotzdem… hat er wohl eine Wand gespürt. Ich trete neben meinen verwirrten Freund und strecke die linke Hand aus. Die Luft hält stand, es fühlt sich an, als wären meine Finger auf eine glatte Glasplatte getroffen. „Du siehst besser als der Rest von uns“, gebe ich zu. Als ich auch die rechte Hand gegen die Wand drücke habe ich das Gefühl, als würde vor mir etwas zerbrechen, und der Weg ist frei. Ich blicke auf den Ring an meiner Hand, dessen Anwesenheit ich schon fast vergessen hatte. „Scheint, als wären wir stärker. Lasst uns weiter gehen. Ignis, nach dir. Wenn uns eine Wand im Weg steht, kann ich sie mit dem Ring zerbrechen.“ Insofern wäre es sicher am besten, ich ginge vor, aber ich will weder wie ein Zombie mit ausgestreckten Armen herumlaufen noch habe ich Lust, gegen unsichtbare Wände zu rennen. Je weiter wir gehen, desto mehr Wände stellen sich uns entgegen, und jede neue Barriere ist stärker als die letzte – während die erste noch bei bloßer Berührung zersprungen ist, spüre ich jetzt deutlich, dass ich mehr und mehr Kraft in den Ring legen muss, um weiter zu kommen. „Schlaucht langsam ganz schön“, murre ich. Gladio klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Wird schon. Wir kommen dem Ding immer näher“, beruhigt mich Ignis, „Hinter der nächsten Ecke müsste es sein.“ „Hörst du die Maschine schon?“, frage ich. Ich weiß nicht, ob es am Ring liegt, aber langsam habe ich etwas Kopfweh. Vielleicht auch einfach die miese Luft hier unten, langsam kommt vor lauter Moder gar kein Sauerstoff mehr an. „Schon seit einer Weile, ja. Sie gibt ein ziemlich grausiges Pfeifsignal ab…“ Ignis massiert sich die Schläfen mit beiden Händen, er sieht furchtbar kaputt aus. Seine Augen sind gerötet und er ist, trotz der Kälte hier unten, ganz verschwitzt. „Wenn es zu viel wird dreh um“, fordere ich noch einmal, „Oder nimm zumindest mal einen Heiltrank. Nicht, dass du mir nachher umkippst.“ Ignis wendet sich ab und ich fürchte fast, er will widersprechen. Zu meiner Erleichterung zieht er dann aber doch einen Heiltrank heraus und zerbricht die Flasche in seiner Hand. „Besser?“, frage ich. „Ja, besser.“ Ignis sieht immer noch blass aus, aber seine Augen sind etwas weniger rot und seine Haltung wirkt auch entspannter. Meine eigenen Kopfschmerzen kann ich noch eine Weile ignorieren… bilde mir eh ein, dass frische Luft da mehr für mich tun würde als Medizin. Die letzte Wand stellt mir einiges an Power entgegen. Ich muss beide Hände dagegen stemmen und meine Magie bewusst auf den Ring konzentrieren um sie zu brechen. Belohnt werde ich mit einem zufriedenstellenden Scheppern und dem Gefühl, dass mein Kopf gleich mit zerspringt. „Noct, alles okay?“, Gladios Stimme und seine Hand auf meiner Schulter rufen mich wieder zur Besinnung. „Ja, nur Kopfweh“, keuche ich, „geht schon wieder.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich in die Knie gegangen bin, aber ich lasse mich gern wieder hochziehen. Gladio blickt mich prüfend an, klopft vorsichtig meine Kleidung ab und scheint zu überlegen, ob man mir nicht auch einen Heiltrank aufdrängen sollte. Ich schüttle den Kopf, um den Schmerzen entgegen zu wirken und es wird tatsächlich etwas besser. Inzwischen kann auch ich das Pfeifen hören, das Ignis erwähnt hat. „Leuchten seine Augen immer so rot, wenn er den Ring einsetzt?“, fragt Aranea, „Das sieht ja echt brutal aus…“ „Ist aber in der Tat normal“, beruhig sie Ignis, „Mit ein Grund, warum die Magie der Luci so gefürchtet ist… Und damit meine ich nicht die regulären Elementarzauber.“ „Ist aber auch recht anstrengend“, gebe ich zu, „Lohnt sich manchmal für kleinere Siecher, weil ich denen Energie absaugen kann, aber alles andere… Gegen die Maschine wird mir der Ring vermutlich keine große Hilfe sein.“ Dafür verteile ich die Magieflakons, die ich mit Blitzenergie gefüllt habe. Gerade genug für uns vier, wobei ich die stärkeren Zauber mir und Ignis vorbehalte. Aranea blickt das kleine Fläschchen interessiert an. „Und da sind jetzt mächtige Zauber drin, ja?“ „Nein, nur ein simpler Blitzzauber“, gestehe ich, „war der Rest der Energie, die ich noch übrig hatte. Nimm die Flasche ruhig in die Hand, spürst du was?“ Aranea gehorcht und schließt konzentriert die Augen. „Nicht so recht“, gibt sie zu, „es ist ein bisschen wärmer, weil du es in der Hand hattest. Fühlt sich ein bisschen wie eine Batterie an, als könnte ich einen Schlag bekommen, wenn ich es falsch anfasse?“ „Guter Ansatz“, lobe ich, „Wenn du den Zauber einsetzen willst, halt den Flakon fest in der Hand und konzentrier dich darauf, diesen ‚Schlag‘ oder die Batterieladung, in den Gegner fahren zulassen. Die Menge reicht nur für drei Angriffe und wenn du dir nicht sicher bist, bleib lieber bei deinen bekannten Waffen. Zauber können auch uns treffen, wenn wir zu nah dran stehen… aber die Menge, die du da in der Hand hast, wird uns vermutlich nicht groß schaden.“ Wenn Ignis oder ich daneben treffen sieht es aber wieder anders aus, dann wird es schnell unangenehm. Aranea steckt den Blitzzauber mit deutlichem Respekt ein und greift dafür ihre Lanze fester. „Legen wir los, wir sind ganz nah dran.“ Eine rostige Leiter führt uns aus der Kanalisation hoch in den U-Bahnschacht und von da in einen großen Raum. Einige alte Züge liegen hier, rostig und zertrümmert, und über ihnen steht etwas, was wie eine riesige Spinne aussieht. Eine mechanische Spinne. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Das Ding ist groß, fast so hoch wie der Raum selbst, was Aranea und Ignis die Sprungattacken erschweren dürfte. Acht mechanische Beine bewegen sich zwischen den Wracks, treffen den Boden mit unglaublichem Gewicht oder brennen sorgfältig einzelne Teile aus den alten Waggons. Eine der tausend mutierten Ratten zu ihren Füßen gibt einen alarmierenden Pfeifton von sich, und das Ding wendet sich mit viel zu rasanter Geschwindigkeit zu uns um. Acht Monitore, wo eine normale Spinne die Augen hätte, blinken warnend rot auf. [Eindringlinge gefunden. Vernichtung einleiten] Ich eröffne den Kampf mit einem gut gezielten Blitzra. Die Maschine zuckt getroffen zurück und ich werfe mein Schwert auf den größten Monitor. Mein Kopf platzt beinahe vor Schmerz, als ich mich hinterherwarpe und das Schwert in den Bildschirm schlage. Die Scheibe bricht, aber das grausame Pfeifen wird nur noch schlimmer. Einer der vorderen Arme schlägt nach mir aus, ich rolle mich zur Seite, weiche auch dem zweiten Bein aus und versuche, wieder in Angriffsposition zu kommen, als das dritte Bein von oben auf mich zuschießt. Gerade sehe ich noch, dass es in einer scharfen Klinge endet, da schlägt ein weiterer Blitzzauber ein, der das Ungetüm lang genug erstarren lässt, dass ich mich zur Seite werfen und dem Angriff ausweichen kann. Trotzdem gräbt sich der Fuß nur Zentimeter neben mir in den Boden, groß und scharf wie Gladios Breitschwert und dabei um so vieles schneller. Ich rapple mich auf, werfe mein Schwert in die Wand gegenüber und warpe mich in Sicherheit, bevor die Maschine erneut angreifen kann. Erst mal durchatmen… mein Schädel pocht vor Schmerzen. Inzwischen haben auch Aranea, Ignis und Gladio die Distanz zu der Maschine überwunden und ich fühle mich wieder sicher dabei, in den Kampf zurück zu warpen. Da mein Schwert, außer dem zerbrochenen Bildschirm, nicht viel Schaden anzurichten scheint wechsle ich zu meiner Lanze. Es gibt sich nicht viel, aber so kann ich zwischen die Panzerteile zielen und trotzdem gut in der Luft bleiben. Auch Aranea verfolgt diese Taktik, fluchend, weil die zu niedrige Decke der Hälfte ihrer Manöver im Weg steht, aber doch mit einigem Geschick und Erfolg. Ihre Magitechlanze glänzt auch abseits der großen Sprünge mit einer unglaublichen Durchschlagskraft. Gladio ist an den Boden gebunden, dafür aber stark genug, es mit den Klingenfüßen der Spinne aufzunehmen. Geschickt pariert er die schwingenden Beine, bringt das Monster schließlich sogar so sehr zum Straucheln, dass es niederkniet. Ich blicke Aranea in die Augen und wir springen wie auf Kommando gemeinsam zur Decke, um diese Schwäche auszunutzen. Es gibt einen grässlichen Knall, eine Explosion, und ich höre gerade noch, wie Ignis uns zusammenruft. Gerade noch rechtzeitig, denn die Maschine bäumt sich auf und schickt eine Schockwelle los die uns sicher schwer verwundet hätte, stünden wir nicht im Schutze eines halbwegs intakten Zuges. „Alles okay bei euch?“, fragt Ignis. Er selbst sieht schrecklich aus. Blass und verkrampft steht er da und aus seinen Augen quillt Blut. Zitternd zerbricht er einen weiteren Heiltrank in seiner Hand, aber der nimmt den Schaden nur geringfügig zurück. „Ich kann keine Schwachstellen ausspähen“, gibt er zu, „aber die Schwäche gegen Strom scheint sich zu bestätigen. Noct, lass mich deine Lanze für dich aufladen. Gladios Breitschwert scheint auch viel Wirkung zu zeigen, birgt aber ein großes Risiko, weil die Maschine am Boden sehr wehrhaft ist.“ Ich nicke, gönne mir selbst einen Heiltrank gegen die Kopfschmerzen und das Brennen in meinen Augen und werfe aus der Deckung heraus meinen zweiten Blitzzauber. Ignis legt mit einem der seinen nach, und wir nutzen den Moment der Ablenkung, wieder auf das Monster zuzustürmen. Araneas waffengestützter Sprung macht sie auch in der Waagerechten fast so schnell wie mein Warp, so bin ich dieses Mal nicht lange allein an der Maschine dran. Ignis hat seine Dolche ebenfalls mit Strom gestärkt, seine Bewegungen sind schnell und erratisch, vermutlich der Grund, weshalb ich ihn vorhin nicht im Blick hatte. Die magische Ladung macht meine Lanze wirkungsvoller, endlich scheint sie der Maschine echten Schaden zuzufügen. Gladio schreit wütend auf, und der Schwung seines Breitschwertes schafft es, dem Monster ein Bein abzuschlagen. Diesmal muss ich mich außer Reichweite warpen, um der daraus resultierenden Explosion zu entgehen. Mein Kopf dröhnt, mir brennen die Augen und langsam rebelliert auch mein Magen. Eine Folge des Warps? Aber ich hatte damit noch nie Probleme… vielleicht liegt es auch nur an der modrigen Luft und dem ausgefallenen Mittagessen. Aranea jedenfalls hat weniger Probleme, sie nutzt den größeren Luftraum für weitere Sprungattacken und schafft es, alle Monitore zu blenden. Gladio schlägt derweil ein weiteres Bein ab, langsam kommt er in Fahrt. Da meine Kraft nicht mehr ausreicht, mich an der Wand zu halten, lasse ich mich zu Boden fallen. Aus der klassischen Dreipunktlandung wird jedoch nichts, ich schaffe es gerade so, mich unverletzt abzurollen und hinter einer abgebrochenen Säule in Deckung zu gehen. Ein Heiltrank lindert die Beschwerden und ich verschaffe mir aus der Deckung heraus einen Überblick. Gladio ist voll in Fahrt: Er hat eine der halb zerbrochenen Säulen aus dem Boden gerissen und schlägt damit wie ein Berserker auf die verbleibenden Glieder der Spinne ein. Aranea nutz die Ablenkung für weitere gefährliche Luftmanöver und hat anscheinend einen Weg gefunden, die Decke zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wieder und wieder stößt sie sich davon ab oder läuft gar ein paar Schritte kopfüber, um mit ordentlich Schwung ihre Lanze in den Körper der Maschine zu rammen. Ich blicke mich nach Ignis um und finde ihn, taumelnd an die hinterste Wand gelehnt. Mist. Der größeren Beweglichkeit zu liebe wechsle ich zu meinen Dolchen, warpe mich damit erst an die Wand zur Rechten, von dort aus dann direkt zu Ignis. „Hey, reiß dich zusammen“, rufe ich ihm zu. Ignis rappelt sich wieder auf und nimmt dankend ein Elixier entgegen. Er sieht schrecklich aus und fühlt sich eiskalt an. Neben seinem Gesicht ist auch seine Kleidung von Blut durchtränkt, obwohl ich vorhin keine Verletzung an ihm sehen konnte. Mir brummt schon wieder der Schädel. „Du also auch“, murmelt Ignis, als seine müden Augen mein Gesicht finden. Ich blicke ihn verwirrt an als er die Hand hebt und Blut von meinem Gesicht wischt. „Hab ich gar nicht gemerkt…“, daher also das brennen in den Augen, die Kopfschmerzen, die Übelkeit… Sollte ich als lucischer König nicht der Letzte sein, der mit einem MI gleichgesetzt wird? Auf der anderen Seite wird der König von Lucis seit Generationen mit der Kannagi verheiratet, und die kommt grundsätzlich aus Tenebrae, was ebenfalls auf dem westlichen Kontinent liegt. Und da unsere Blutlinie im Grunde aus zwei Familien und dem umliegenden Adel besteht, ist es mit der genetischen Diversität sicher auch nicht weit her. Gladios warnender Schrei reißt mich aus meinen Gedanken. Die Maschine, nun völlig beinlos, bäumt sich zu einem letzten Angriff auf und steigert ihr tödliches Signal auf ein Level, dass mir völlig den Verstand raubt. Ich beuge mich vorn über und erbreche einen Schwall Blut, kann nicht mehr sehen als den roten Schleier vor meinen Augen und mein ganzer Körper, nichtmehr nur mein Kopf, fühlt sich an, als würde er zerreißen. Trotzdem… in all dem Schmerz spüre ich noch etwas anderes. Macht, und davon nicht wenig. Ein Angebot… Ich stemme die Faust auf den Boden und suche nach der freundlichen Stimme, flehe um Hilfe. Kraft durchströmt mich, konkurriert mit dem Schmerz und scheint ihn fast zu verdoppeln, bis ich schließlich den grollenden Donner über mir hören kann. Ich stehe auf, gelenkt von der fremden Stimme, der Blick meiner glühenden Augen fest auf die Maschine gerichtet. Ich spüre den Einschlag von etwas Großem dicht neben mir noch bevor ich ihn höre, und dann nur noch den gewaltigen Knall, als Ramuhs Blitze den Raum erfüllen. Die Maschine zerbirst, nur noch ein nutzloser Haufen Metall, und ich blicke dankbar auf in das alte Gesicht des Gottes, der uns zu Hilfe gekommen ist. Er nickt mir zu und verschwindet wieder im Himmel. „Nooooct!“ Gladios Arme fangen mich auf, ich hätte gar nicht gemerkt, dass ich falle. „Noct, hörst du mich? Halt durch!“ Ich höre eine Ampulle zerbrechen und kann plötzlich wieder atmen. Gladio zieht mich schützend an seine Brust und der Geruch seines Schweißes ist doch um einiges angenehmer als der Moder des Abwassers, aus dem wir kommen. So müde… „Hey, Noct, bleib bei mir!“ Der panische Ton in Gladios Stimme ruft mich zurück. Der Kampf ist vorbei, ich bin müde, aber meine Freunde machen sich Sorgen und wir sind noch lange nicht zu Hause. Also raufe ich mich nochmal zusammen, stemme mich hoch und sortiere meine Gedanken. „Ignis“, fällt mir ein, „Wo…?“ „Lebt noch“, ruft Aranea mit zu. Die Worte sind passend gewählt, denn viel mehr Positives lässt sich im Moment nicht sagen. Ignis ist definitiv am Ende, selbst die Heilmittel bringen ihn nur langsam wieder auf die Füße. Aranea hebt einen seiner Arme über ihre Schultern und stützt ihn, aber es hilft nur bedingt. Ich nutze Gladios breite Schultern als Hilfe um wieder auf die Beine zu kommen. Dankbar nehme ich den dargebotenen Arm an, lasse mir auf dem Weg zum Rest der Gruppe helfen. Ignis blickt mich schuldbewusst an, er weiß, dass er meine Befehle missachtet hat, indem er sich nicht zurückgezogen hat. Ich lege meine Hand auf seinen Arm und bin einfach nur froh, dass er trotzdem noch lebt. „Euch beide hat es nicht erwischt?“ Gladio schüttelt den Kopf. Er ist erschöpft von der Anstrengung, aber ansonsten unversehrt. „Mir haben gegen Ende ziemlich die Augen gebrannt“, gesteht Aranea, „Und Kopfweh hatte ich auch. Aber so schlimm wie euch hat es mich nicht getroffen.“ Tatsächlich sind ihre grünen Augen etwas gerötet, und ich meine, verwischte Blutspuren auf ihrem blassen Gesicht erkennen zu können. Jetzt wo die Maschine ausgeschaltet ist, scheint sie jedoch komplett fit zu sein. „Mir geht es langsam wieder besser“, stelle ich fest und lasse zögernd Gladios Arm los, „zumindest die Kopfschmerzen lassen nach…“ Meine Augen brennen immer noch vom getrockneten Blut darin, und der Gestank schlägt mir auf den Magen. Ignis schweigt, aber auch er steht inzwischen stabiler. „Ich ruf Cor an, sag ihm, dass wir hier fertig sind“, kündigt Gladio an. Sein Ton klingt geschäftig locker, aber seine Augen sind nach wie vor fest auf mich gerichtet, als könnte ich jeden Moment wieder umkippen. „Mal hören, wie es um die Ableger steht.“ Er stellt das Telefon auf Mithören und eine Weile lauschen wir dem Freiton. Ich würde mich gerne setzen, möchte aber nicht, dass Gladio sich noch mehr Sorgen macht. Außerdem sieht der rußige Boden nicht gerade einladend aus. Gladio drückt die Mailbox weg und wählt nochmal. Ich dagegen richte meinen Blick nach oben. Ramuh hat ein ordentliches Loch in die Decke gerissen, ich kann den Keller der Zitadelle über uns sehen, und darüber die Banner der Eingangshalle und darüber endlich freien Himmel. Die frische Luft, die von dort herunterweht, fühlt sich gut an auf meinem Gesicht, dem Licht nach muss es schon später Nachmittag sein. Beim dritten Versuch hebt Cor endlich ab. „Hey, sorry, musste erst das Team durchheilen“, entschuldigt er sich, „Habt ihr die Hauptmaschine gegrillt?“ „Positiv. Wie steht es um die Ableger?“ „Der in Hammerhead ist gefunden und vernichtet, Monica bekommt die Info von den anderen Teams. Hatten einige Schwierigkeiten am Anfang – das Ding war unverwundbar und sehr wehrhaft – aber dann hat es plötzlich auf Angriffe angesprochen. War vermutlich der Punkt, an dem ihr das Hauptproblem erledigt habt.“ „Irgendwelche Verluste auf eurer Seite?“ „Keine Toten, aber Cidney aus der Werkstatt hier hat’s übel erwischt. Steht jetzt wieder aufrecht, aber die Kleine wollte sich einfach nicht wegschicken lassen. Meinte, sie hätte dem Vieh noch ein paar persönliche Worte zu sagen. Will mich nicht beschweren, gibt nicht viele Leute, die so mit schwerer Maschinerie umgehen können.“ „Cidney hat gesehen wie es Prompto ging“, erklärt Gladio nach dem Auflegen, „Sie selbst konnte in Hammerhead bleiben, hat ein altes Magitech-Exoskellet umgerüstet in dem sie es ganz gut ausgehalten hat. Soweit ich weiß, waren sie und Prompto nicht lange zusammen, aber sie hat ihn wohl immer noch recht gern.“ „Ist ja auch ein süßer Kerl, irgendwie“, überlegt Aranea, zuckt dann aber nur die Schultern. „Wo ist diese Monica?“ „Vermutlich im Caelum Via mit den Regierungschefs, wenn sie wegen der heftigen Angriffswellen nicht ausweichen mussten“, vermutet Ignis. Auch er kann inzwischen wieder frei stehen. Gladio fingert auf seinem Handy herum und es wählt wieder, natürlich hat er auch Monica eingespeichert. „Gladio, schön dass du dich meldest. Nehme an, ihr wart erfolgreich? Noch alle am Leben?“ „Gerade noch so“, brummt Gladio zurück und sieht mich und Ignis scharf an, „Aber die Maschine ist Toast, da rührt sich nichts mehr.“ „Das dachte ich mir schon. Hatte einige Anrufe, die Ableger wären unverwundbar, dann plötzlich Meldungen, das hätte sich geändert. Positive Rückmeldung von allen Teams, ich sammle aktuell unabhängige Berichte, wie es den Menschen in Eos geht. Gab kurz vor Schluss scheinbar noch ein paar heftige Wellen, die aber lokal sehr begrenzt waren, insofern haben unsere Evakuierungsmaßnahmen gut funktioniert.“ „Das hört man gern, hatte mir schon Sorgen gemacht. Die letzte Welle hier unten hätte Ignis fast ins Grab gebracht, und unser König sah auch nicht viel besser aus.“ „Selbst der König? Das ist heftig, da muss die Maschine den Suchradius ja enorm erweitert haben.“ „Ich bin der einzige hier, der gar nichts abbekommen hat.“ „Na wenigstens einer. Wo seid ihr gerade? Ich schicke jemanden zum Abholen.“ „Die Abstellgleise unter der Zitadelle. Könnten ein paar frische Klamotten und was zu Essen gebrauchen.“ „Vorher ein Bad“, mische ich mich ein, „Wenn die Zitadelle noch Wasser hat vielleicht dort?“ „Die Zitadelle hat ihr eigenes Versorgungssystem, das dürfte noch funktionieren“, meint Ignis. Ich kann Monica am anderen Ende der Leitung verhalten lachen hören. „Kommt ihr da selbstständig hoch? Dann schick ich meinen Rettungstrupp mit frischer Kleidung nämlich direkt in die Zitadelle.“ Aranea blickt hoch auf das Loch in der Decke und auch ich schätze die Distanz ab. „Geht“, denke ich, „Wenn das Prunkbad im Keller noch funktionstüchtig ist, findet ihr uns dort.“ „Alles klar, euer Hoheit. Meint ihr, ich darf die anderen Regenten in den Thronsaal einladen?“ „Uhm… vielleicht lieber ins Caelum Via? Nichts für ungut, aber die Zitadelle muss erst mal renoviert werden. Sieht nicht so schick aus im Moment, und ich traue dem Boden nicht.“ „Verstanden. Dann reserviere ich für heute Abend den Ballsaal. Dachterrasse fällt aus, da zieht ein Unwetter auf.“ Nicht verwunderlich… wo Ramuh auftaucht, gibt es meistens erst mal Regen. „Alles klar, Monica. Danke dir.“ „Immer gerne. Und übrigens: Willkommen zurück, Noctis. Schön, dass ich dich auch endlich sprechen durfte.“ „Danke. Ich freu mich schon, dich und die anderen wiederzusehen.“ Gladio legt auf, und Aranea peilt bereits auf den Boden der Zitadelle. Der Sprung reicht bequem aus und ich werfe meine eigene Lanze hinterher, um ihr zu folgen. Anders als beim Weg nach unten muss ich diesmal in der Luft noch einen zweiten Warp ansetzen, um vom Loch auf den Boden zu kommen. Auch Ignis schafft es mit einem mächtigen Satz nach oben, nur Gladio müssen wir eine Leiter runterlassen. Gut, dass der alte Hausmeister sein Equipment nicht weit weg gelagert hat. „So, wo geht’s zum Bad?“, fragt Aranea gut gelaunt, und ich lasse mich gern anstecken. „Mir nach. Ist nicht weit.“ Das alte Prunkbad ist relativ unversehrt bis auf ein paar neue Löcher in der Wand, aber momentan störe ich mich nicht an den zusätzlichen Fenstern. Hauptsache, es gibt sauberes Wasser. Die Seifen und Badezusätze in den alten Auslässen sind größtenteils fest getrocknet, lösen sich aber, als Ignis sie fachmännisch aus den Behältern befreit und einfach so ins Wasser hält. Ich reibe das Schaumbad in meinen Händen wie ein herkömmliches Stück Seife und freue mich wie ein kleines Kind, als das einlaufende Wasser sich langsam mit violettem Schaum anreichert. So herrlich, wie der Duft von Lavendel den Modergestank aus meiner Nase vertreibt. Aranea scheint kein Problem zu haben, sich vor uns auszuziehen und Gladio muss sich sehr angestrengt weg drehen, damit er nachher seiner Frau nichts zu beichten hat. Ich mache mir da weniger Stress, man muss ja nicht gleich mit jeder Frau schlafen wollen, nur weil sie hübsch ist. Das warme Wasser ist im Moment eh um Welten attraktiver als jede Frau es je sein könnte. Mit ein bisschen Überzeugungskraft und Gewalt setzt sich auch der alte Wasserfall in Gange und ich stelle mich darunter, um den ganzen Dreck der letzten Stunden abwaschen zu lassen. Ein Vorteil des Prunkbades: Das Wasser ist immer in Bewegung, Schmutz wandert sofort in die Kanalisation. Zurück, wo er herkommt, sozusagen. Alle Annehmlichkeiten des Badens verknüpft mit den reinigenden Vorzügen einer Dusche. Wie ein echter Fluss, nur in warm und sauber. Ich liebe dieses Bad und ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich es früher als so selbstverständlich genommen habe. Schon heilsam, mal ein paar Monate campen zu gehen. Gladio lässt sich ächzend im größten Becken nieder. Sein Tattoo ist ziemlich verblasst, sicher hat er nach meinem Tod keinen Anlass gesehen, es auffrischen zu lassen. Ich wasche meine Haare gründlich mit dem Schapoo-Klotz aus und schwimme zu meinem Freund hinüber, um ihn auch damit zu traktieren. „Gladio, deine Haare sind echt lang geworden. Wann warst du das letzte Mal beim Frisör?“ „Als meine Frau mich das letzte Mal gezwungen hat“, gibt er zu. Er wehrt sich gegen meine Versuche, ihm die Haare zu waschen, aber der Widerstand ist lächerlich schwach und lässt bald nach, obwohl ich, anders als Ignis, ziemlich grob und ungeschickt dabei bin, die langen Strähnen zu entknoten. Im Gegensatz zu meinen eigenen Haaren sind die von Gladio dick und kräftig, dazu noch leicht gewellt. Ganz schön schwierig, da Ordnung reinzubringen, selbst jetzt, wo er es einfach zulässt. Scheint, als wollte er auch einfach meine Nähe genießen, nun, wo ich wieder zurück bin. „Du siehst ja echt hübsch aus dafür, dass du zehn Jahre weg warst.“ „Ignis‘ Schuld“, gebe ich zu, „als er mich aufgelesen hat sah ich aus wie der Schmutzteufel persönlich.“ Gladio lacht und legt seinen Arm um mich. Einen Moment gönne ich es ihm, lege meinen Kopf auf seine Schuler und genieße das Gefühl, wie ein kleines Kind gehalten zu werden, dann entziehe ich mich seinem Griff und spritze ihn gründlich nass. „Hey!“ Sein erschrockenes Gesicht ist echt Gold wert, trotzdem sehe ich zu, dass ich mich schnell aus dem Staub mache. Gladio ist ein guter Schwimmer und kann hier auch im tieferen Wasser noch sehr gut stehen, aber ich bin doch schneller und schaffe es, mich hinter Ignis in Sicherheit zu bringen. Der ist nicht sehr begeistert davon, in unser Spiel mit hinein gezogen zu werden, schafft es aber, Gladio so gegen die Wand laufen zu lassen, dass er ihm zumindest das Shampoo aus den Haaren waschen kann. „Also wirklich ihr beiden“, mahnt er und zieht auch mich nochmal heran um zu prüfen, ob ich mich erfolgreich abgeschrubbt habe. War anscheinend nicht so gründlich, wie ich dachte, aber immer noch besser als Gladio. Aranea kichert amüsiert, gesellt sich aber nicht zu uns, sondern bleibt in ihrer Ecke und genießt einfach das gründliche Bad. Ist vielleicht auch besser so, wenn man als einzige Frau mit einer Gruppe blödelnder Jungs ein Bad nimmt. Erst recht, da es Edna und Clara sind, die uns mit frischer Kleidung im Gepäck abholen kommen. Gladio muss sich anscheinend einiges anhören, ich verstehe auf die Distanz allerdings nicht genau, ob es an Aranea liegt oder an der Tatsache, dass er sich mit Ignis darum geprügelt hat, ob er nun in der Lage ist sich selbst zu waschen oder nicht. Völlig harmlos, soweit ich das sehe, aber gut… Manche Frauen erwarten anscheinend, dass Männer sich ab einem bestimmten Alter wie Erwachsene benehmen. Ich lasse mich nicht weiter stören und freue mich lieber darüber, dass Clara mir extra warme Kleidung eingepackt hat, darunter ein gefütterter Pulli mit Behemoth-Motiv und warme Turnschuhe. Alles natürlich neu und wunderbar sauber. Als ich mich nach Aranea umblicke ist sie auch bereits vollständig angezogen und nur noch damit beschäftigt, sich einen roten Schal um den Hals zu wickeln. „Was“, raunt sie mir im Vorbeigehen zu, „Enttäuscht?“ Ich schüttle den Kopf und lache. Ich bin… einfach glücklich, wieder mit meinen Freunden Spaß haben zu können. Fehlt nur noch einer. „Schade, dass Prompto kein Handy mehr hat“, meint Ignis, der gerade seine neue Brille aufsetzt, „ich würde ihm gerne sagen können, dass er jetzt gefahrlos heim kommen kann.“ „Vielleicht gibt es da einen Weg“, überlege ich, „Kann jemand das Foto ausdrucken, dass wir drei bei dir zu Hause gemacht haben?“ „Sollte kein Problem sein, wieso?“ „Wirst sehen.“ Kapitel 6: Wo ein Wille ist (Prompto Argentum) ---------------------------------------------- Es ist vorbei. Ziemlich vorbei jedenfalls, denn irgendwie ist doch immer noch Raum für noch einen Atemzug. Nur noch einen. Ein letztes Mal… es tut weh, aber ich kann auch nicht einfach aufhören zu atmen, noch nicht. Ich weiß, dass mein Tod unvermeidlich ist, und ich habe keine Angst, aber es geht nicht schneller, nur weil ich es akzeptiere. Noch einmal atmen. Bald ist es vorbei. So schlimm ist es auch gar nicht, zu sterben. Ich weiß nicht genau, was mich auf der anderen Seite erwartet, aber Noct hat gesagt, wir sehen uns dort wieder. Blut sammelt sich in meinen Lungen, zwingt mich zu Husten, obwohl ich kaum noch die Kraft dazu habe. Meine Rippen fühlen sich gebrochen an, mein Hals ist rau, und ich kann das Blut in meiner Luftröhre gurgeln hören, wenn ich atme. Einmal noch. Einmal geht noch. Ein weiterer Versuch zu Husten. Sicher ginge es leichter, würde ich nicht auf dem Rücken liegen, aber ich habe nicht die Kraft, mich umzudrehen. Es gibt sicher schönere Arten zu sterben, als hier in diesem elenden Loch an meinem eigenen Blut zu ersticken. Wie oft habe ich in feindliche Waffen geblickt, oder in das Maul wilder Tiere? So viele Gelegenheiten, schnell und schmerzlos zu sterben, und jetzt liege ich hier. Seit Stunden… oder Tagen. Schwer zu sagen, weil hier unten kein Licht hereinkommt. Das alte Radio neben mir hat auch kaum Empfang, aber es spielt immerhin ein paar Fetzen Musik, damit ich mich nicht so einsam fühle. Ich will nicht allein sein. Wieder der Hustenreiz, ein letztes Aufbäumen meines Körpers. Noch ein Atemzug, und diesmal kommt wirklich keine Luft mehr durch. Das Radio knackt wieder, ein Sprecher unterbricht das Lied. Eilige Meldung… Lucis… Verhandlungen des niflheimer Kaisers mit den Gesandten… Länderein… König… Noct… zurückgekehrt und… Der Name lässt mich aufhorchen. Ich hole noch einmal Luft, bewusst dieses Mal, bekomme keine und bäume mich auf, um meinen Hals frei zu husten. Irgendwie schaffe ich es, mich auf den Bauch zu drehen und tatsächlich meine Luftröhre soweit frei zu husten, dass wieder etwas durchgeht. Es tut weh. Es tut verdammt weh. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich den Mann im Radio richtig verstanden habe, aber solange auch nur die geringste Chance besteht, dass Noctis auf dieser Seite des großen Flusses ist, kann, darf und werde ich noch nicht sterben. Noch einmal kräftig husten. Mein Hals fühlt sich an als hätte ein Coeurl seine Pfote hineingesteckt und mit ausgefahrenen Krallen wieder herausgezogen. Meine Rippen tun weh, meine Arme zittern unter der Last meines Körpers. Aber mein Kopf klart auf, mit jedem Atemzug, den ich in meine Lungen zwinge. Noct. Noct ist zurück. Ich weiß nicht, ob es wahr ist. Aber solange die Chance besteht, werde ich mich an diesen Gedanken klammern. Ich darf nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Schmutziges Wasser tropft von der niedrigen Decke auf mich herunter. Es stinkt erbärmlich und ist sicher alles andere als gesund, aber es fühlt sich kühl an auf meinem überhitzten Körper. Ein letztes Husten, und meine Atemwege sind fürs Erste frei. Ich muss hier raus. Mit aller Kraft, die ich noch irgendwie aufbringen kann, stemme ich mich hoch. Meine Arme zittern und drohen nachzugeben, aber zum Sitzen reicht es. Das Radio stottert und versinkt vollends im Rauschen, keine Chance, noch einmal zu hören, was der Mann erzählt. Warum er Nocts Namen erwähnt hat. Es ist… unwahrscheinlich, dass er wirklich zurück ist, und mir fallen tausend andere Dinge ein, die der Mann wirklich gesagt haben könnte, aber ich habe mich für die Hoffnung entschieden. Ein Grund zu kämpfen, zu überleben. Für Noct. Für den König, nein… Für meinen allerbesten Freund. Selbst, wenn es nur ein wilder Fiebertraum ist, der Sensenmann muss noch eine Weile warten. Noch kann ich nicht sterben. Ich ziehe meine treue alte Kamera zu mir. Das Display ist zerbrochen und blutverschmiert, das Objektiv in Trümmern und der Deckel schließt auch nicht mehr richtig. Ich unternehme einen letzten Versuch, das Gerät wiederzubeleben, aber erfolglos. Seufzend nehme ich die Speicherkarte heraus und stecke sie in meine Geldbörse. Die Kamera selbst muss ich wohl liegen lassen. In meinem jetzigen Zustand ist sie zu schwer zum Tragen. Schade, dass ich auch mein Handy verloren habe, so kann ich gar keine Fotos mehr machen. Aber gut, was will ich in diesem Drecksloch auch fotografieren? Die Ratten? Die sind immerhin ganz süß, wenn sie nicht gerade mutiert sind. Noch ein paar Mal konzentriert durchatmen, nochmal die Lunge frei Husten und dann der nächste Versuch aufzustehen. Und der nächste. Auf den dritten Anlauf klappt es, ich stehe, wenn auch auf zitternden Beinen. Wenn ich jetzt noch soweit das Gleichgewicht halten könnte, einen Schritt zu wagen, könnte ich fast laufen. Ich versuche es, strauchle, und falle ins schlammige Wasser. Wieder hochstemmen auf protestierenden Armen, nächster Versuch. Es wird leichter, rede ich mir ein. Schritt für Schritt, wie damals beim Joggen. Immer das Ziel vor Augen… Ich werde Noct wiedersehen. Ich werde ihn wiedersehen und mit ihm reden, und er wird sich freuen, mich zu sehen. Nur noch ein Schritt… und dann noch einer. Nur noch einer… und dann der nächste. Zwischendurch atmen, nochmal husten, weiteratmen. Und wenn ich auf dem Zahnfleisch hier rauskriechen muss. Ich gebe nicht auf. Aber vielleicht… bleibe ich einen Moment lang hier sitzen, um wieder Kraft zu tanken. Immerhin zwei Meter hab ich schon geschafft. Wie weit ist es wohl bis zum Ausgang? Und von da bis Insomnia? Vielleicht kommen die anderen mich auch suchen. Das wäre schön. Aber zumindest ein Stück weit muss ich ihnen entgegen kommen, damit sie mich auch finden. Nur ein kleines Stück, einen Schritt noch, und dann noch einen. Bis nach Hause… Bis zurück zu Noct. Noch ein Schritt, noch ein Atemzug. Meine Lunge brennt wie Feuer, meine Arme und Beine zittern, aber langsam spüre ich den Schmerz nicht mehr. Noch ein Schritt bis zur Wand, da kann ich mich festhalten. Die Rohre sind schleimig und glatt, aber ein paar davon sind so dünn, dass ich sie mit der Hand umfassen und mich daran halten kann. Ich fühle mich gerade wie der erste Mensch, der den aufrechten Gang erlernt. Wackelig, unsicher, aber irgendwie größer als vorher, aufrecht und ein wenig stolz. So ist es leichter zu sehen, wo der Tunnel hinführt. Ich blinzle Blut und Tränen aus meinen Augen, fasse das Rohr fest mit beiden Händen und schiebe mich vorwärts. Zwei Schritte, drei, vier bis zum Ende der Wand. Rechts oder geradeaus? Rechts kann ich an der Wand bleiben, das ist leichter. War das nicht auch ein Trick, sich im Labyrinth zurechtzufinden, immer der Wand zu folgen? Vielleicht finde ich so einen Ausgang. Eine Ratte quietscht erschrocken und mir rutscht der linke Fuß weg, beinahe wäre ich wieder umgefallen. Aber ich kann mich halten, und mit dem Erfolg kommt auch ein wenig Stolz. Jetzt, wo ich stehe, bleibe ich auch aufrecht. Ich finde hier raus. Ich gehe nach Hause. Noch ein Schritt, dann noch einer. Meine Beine haben aufgehört zu zittern, jetzt fühlen sie sich nur noch taub an, und kalt. An der nächsten Kreuzung fällt ein schwall Wasser herunter, es sieht verhältnismäßig sauber aus. Einen Moment halte ich inne, genieße die kalte Dusche. Es ist schön, sich den Dreck aus dem Gesicht waschen zu lassen, und es wird leichter, zu sehen. Nur ein bisschen. Ich atme tief durch in der feuchten Luft, ignoriere den brennenden Schmerz in meiner Lunge und den stechenden Schmerz meiner Rippen und werfe mein Gewicht wieder vorwärts. Immer ein Schritt mehr, einen Schritt weiter als vorhin. Immer rechts lang. Das Wasser um meine Füße steigt höher. Es ist kein sauberes Wasser, eher braun und schlammig, ab und zu treibt eine tote Ratte darin oder etwas anderes, will gar nicht genau wissen, was. Lebendige Ratten huschen über die Röhren, eine springt über meine Hände, eine andere beobachtet mich aufmerksam, ob ich nicht doch sterben und zu Futter werden will. Sorry kleiner Freund, heute nicht. Da wartet noch jemand auf mich. Und nicht nur Noct, Ignis und Gladio machen sich bestimmt auch Sorgen. Ich muss mich noch für das kaputte Zelt entschuldigen… und für das Geld, dass die beiden mir geschickt haben, damit ich Essen und Heiltränke kaufen kann, wenn sie mir nicht selbst welche geschickt haben. Meine Freunde… Ja, ich habe Freunde. Gute Freunde, die sich um mich sorgen und die wollen, dass es mir gut geht. Also geht es mir auch gut, und ich komme nach Hause, egal, wie oft meine Beine noch unter mir wegbrechen. Wieder ziehe ich mich hoch, suche nach Halt an den schleimigen Rohren an der Wand, falle doch wieder auf die Knie und gebe mich einem heftigen Hustenanfall hin. Dreckiges Wasser spritzt mir entgegen als ich wieder eine Ladung Blut auswerfe, dann geht es wieder. Meine Arme und Beine zittern, aber es gelingt mir, mich wieder aufzustemmen. Erschöpft lehne ich mich an die kalte Wand, nutze den kurzen Moment, in dem ich frei atmen kann, bis sich neues Blut in meiner Lunge sammelt, dann ziehe ich mich wieder hoch und gehe weiter. Schritt für Schritt, Tritt um Tritt. Das Wasser reicht mir bald bis zu den Knien, aber vorne sehe ich eine Treppe, die mich wieder über Wasser führt. Ein paar Schritte muss ich bis dahin frei schaffen, ohne den Halt der Wand und gegen die Strömung des dreckigen Wassers. Ich fasse mir ein Herz, huste ein wenig Blut aus, atme tief durch und lasse die schützende Wand los. Ein Schritt, zwei, drei, noch ein halber und meine Hände erreichen die Stufen. Erschöpft, aber triumphierend ziehe ich mich an Land, lehne mich gegen die neue Wand und gönne mir einen Moment des Sieges, bevor ich wieder aufstehen muss. Mein Körper ist längst über die letzten Reserven hinaus, ich sollte seit Stunden tot sein. Aber ich bin hier, und ich gehe nach Hause. Lebendig oder nicht, Noct wartet auf mich. Falls er wirklich immer noch tot ist, kann ich später immer noch sterben. Wird er schon verstehen, Noct war immer schon ein geduldiger Kerl. Damals hat er auch auf mich gewartet… jahrelang, bis ich endlich den Mut hatte, wieder auf ihn zuzugehen. Bis ich mich würdig gefühlt habe, sein Freund zu sein. Heute weiß ich, dass es Noct egal gewesen wäre. Dass er mich auch als kleinen Pummel gemocht hätte. Dass ihm sogar egal ist, dass ich aus Niflheim komme, nein, sogar ein im Labor gezogener MI bin. Noct ist trotzdem mein Freund. Gladio und Ignis genauso. Wieder stemme ich mich hoch, und auf dem mäßig trockenen Beton ist es leichter, die Füße zu heben, als unten im Wasser. Meine Kraft ist längst verbraucht, aber mein Wille drängt vorwärts, Schritt für Schritt, ein Fuß vor den anderen, bis mein Körper sich an die alte Routine gewöhnt und einfach funktioniert. Gewicht nach vorne, den Fall abwechselnd mit den Füßen abfangen und weiter nach vorne fallen lassen. Fünf Schritte. Zehn Schritte. Wieder muss ich anhalten, um zu husten. Wenn das so weiter geht, habe ich bald keinen Tropfen Blut mehr im Körper. Ein Elixier täte jetzt gut. Noch sechs Schritte bis zur nächsten Abzweigung. Wieder bleibe ich stehen, wäge meine Optionen ab. Rechts ist am einfachsten und bleibt bei meinem System, aber die Wand dort ist glatt, nur eine Stütze ohne echten Halt. Geradeaus wären wieder Rohre zum Festhalten. Ich lasse mich kurz zu Boden gleiten um nochmal auszuruhen. Langsam macht sich Erschöpfung breit... ich habe viel Blut verloren, wenn ich mich nicht ab und zu hinsetze, kommt nichts mehr in meinem Kopf an. Mir ist schwindelig. Ich bin müde. Am liebsten würde ich mich hinlegen, nur fünf Minuten, damit mein Kreislauf sich beruhigt, aber dann komme ich vielleicht nicht mehr hoch. Aus dem linken Gang dringen Geräusche an mein Ohr. Es klingt wie ein Kampf, ein Mann schreit. Schmerz oder Wut? Stolpern, Straucheln, ein Körper, der ins Wasser fällt. Ein tenebrischer Fluch. Irgendwer wirft etwas, vielleicht einen Stein. Dann Gluckern, Fauchen, noch ein Schrei, diesmal eindeutig verzweifelt. Der Mann braucht Hilfe. Ich fasse an mein Brustholster, stelle erleichtert fest, dass mein Revolver darin hängt und stemme mich wieder hoch. Laden. Entsichern. Ich gehe nach links. Auch hier ist die Wand glatt und noch dazu schleimig vom herunterfließenden Wasser, aber die Schreie und Kampfgeräusche stärken meinen Willen. Zehn Schritte, zwanzig, beide Hände an die Waffe. Dreißig Schritte und ich stehe auf einer Plattform. Ein Mann liegt unten im Wasser und über ihm so ziemlich das Letzte, was ich jetzt brauchen kann: Ein Morbol. Der Gestank hätte mich eigentlich warnen können… Noch wäre Zeit umzudrehen oder zu fliehen, aber als das Monster seinen Tentakel nach dem Mann hebt, tue ich, was ich tun muss: Ich schieße. Feuerzauber wären jetzt echt nett. Überhaupt wären Zauber mal wieder ganz nett. Meine Schüsse treffen, nicht unbedingt in die Schwachstelle, aber gut genug, die Aufmerksamkeit des Monsters auf mich zu lenken. Der Gestank aus seinem offenen Maul raubt mir beinahe den Atem, aber mein Wille ist stärker und ich trage noch immer die Schleife, die mir Cidney als Talisman mitgegeben hat. Erstaunlich, wie einen allein der Gedanke an so eine nette Geste aufrecht halten kann im Angesicht des giftigen Atems. Auch für Cidney muss ich lebend zurück. Ich lade nach und finde in meiner Tasche tatsächlich noch einen alten Magieflakon. Keine Ahnung, warum ich ihn all die Jahre aufbewahrt habe, immerhin war es nur noch eine leere Flasche. Jetzt allerdings fühlt sie sich warm an in meiner Hand. Mächtig. Ich weiß, was das bedeutet. „Danke, Noct“, murmle ich, und schleudere den Zauber in den Rachen der Bestie. Die Hitze ist überwältigend. Ich hatte vergessen, welcher Zauber eigentlich in dem Fläschchen gesteckt hatte, aber er entlädt sich in nicht weniger als fünf kraftvollen Explosionen lodernden Feuers. Das Licht blendet, die Hitze brennt auf meiner Haut und in meiner Kleidung. Als ich die Augen wieder öffnen kann, ist von dem Morbol nur noch ein Häufchen Asche übrig. Der Boden, die Wände, meine Kleidung, alles hier ist plötzlich trocken und warm. Ein gutes Gefühl. Fast meine ich, Noct’s Anwesenheit in der ausklingenden Magie spüren zu können. Ich stecke den nur mehr halbvollen Flakon zurück in meine Jacke und mache ein paar Schritte auf den Mann zu, der unten am Boden liegt. Es ist Ravus. Noch so jemand, der eigentlich tot sein sollte. Ich halte ihm meine Hand hin und er ergreift sie. Seltsamerweise reicht meine Kraft, ihm auf die Beine zu helfen, als hätte der Feuerzauber auch eine heilende Wirkung gehabt. Ich bin nicht gut in Magie, ich nehme einfach nur, was Noct mir gibt, und mache das Beste daraus. Ravus sieht fast so mies aus wie ich, trotzdem zerbricht er das Elixier, das er aus seiner Tasche fischt, über mir anstatt es für sich selbst zu nutzen. Ich beschwere mich nicht, das Heilmittel tut gut. Es ist jetzt leichter, zu atmen und zu stehen. „Danke für deine Hilfe.“ „Bedank dich bei Noct für den Zauber.“ „Er ist auch zurück, nicht wahr?“ In Ravus Gesicht sehe ich keine Spur mehr von seinem früheren Zorn. Er sieht besiegt aus, und seine Züge wirken beinahe sanft. „Muss wohl. Ich will zu ihm, aber ich bin noch nicht weit gekommen. Ist viel passiert in den letzten zehn Jahren.“ „Kann ich mir vorstellen“, erwidert Ravus, „Du siehst fertig aus. Haben sie dich hier unten verhungern lassen?“ Ich schüttle den Kopf. Nein, solange meine Freunde wussten, wo ich war, hatte ich immer genug zu Essen. Oft sogar von Ignis selbst für mich zubereitet… Was täte ich jetzt nicht alles für eine seiner gegrillten Kükatrice-Keulen. Oder Iris‘ selbstgemachte Hühnersuppe. „Ist ne lange Geschichte“, sage ich stattdessen. „Ich schätze, wir haben Zeit“, meint Ravus, „Zumindest, wenn wir ein Stück weit gemeinsam gehen.“ „Ja… weißt du, wo wir hier sind? Ich nämlich nicht so richtig.“ Ravus seufzt. „Ich würde auf die Zegnautus-Festung tippen, wenn mich niemand von dort weggebracht hat. Vielleicht die Kanalisation darunter… ja, ziemlich sicher die Kanalisation unter Zegnautus.“ „Wie lange bist du schon hier?“, frage ich. Ravus scheint zu wissen, wie er sich hier orientieren kann, also laufe ich ihm einfach nach. „Wach? Seit gestern Vormittag, wenn meine Uhr richtig geht. Tot? Keine Ahnung. Hab kein Datum auf der Uhr, nur die Zeit.“ „Zehn Jahre“, wiederhole ich, „für dich wohl zwanzig.“ „Viel passiert in der Zeit, was? Wie geht’s deinen Freunden?“ „Besser als mir, schätze ich.“ Und während wir so durch die Gänge der Kanalisation laufen erzähle ich Ravus, was ich kann. Von der Politik verstehe ich leider nicht viel, das wird er sich selbst zusammen reimen müssen, aber die Maschine macht ihm Sorgen. „Das erklärt dann wohl die Kopfschmerzen“, murmelt er. „Ja, dabei geht es hier unten sogar halbwegs“, überlege ich, „Generell war es, zumindest außerhalb von Lucis, unter der Erde meist etwas erträglicher. Und Zegnautus ist weit weg von Insomnia, das hilft wohl auch.“ Trotzdem brummt mir noch immer der Schädel, und ich muss schon wieder blinzeln, um das Blut aus den Augen zu bekommen. Auch der Husten meldet sich langsam zurück… Elixiere wirken leider nur für bereits angerichteten Schaden. Ein richtiger Schutz wäre schön… Aber ich brauche nicht jammern, im Gegensatz zu Ravus habe ich immer noch beide Arme. Und bei der Menge an Monstern, die uns inzwischen auf den Fersen sind, ist das ein ziemlicher Vorteil – Ravus kann kaum kämpfen, er tut sich schwer mit der Balance, und ein Schwert hat er auch nicht. Mein Notfall-Säbel ist auch eher windig und für einen richtigen Schwertkämpfer wie ihn eigentlich bloß ein großes Messer. Schade, dass ich die Motorsäge nicht mehr habe. Mein Maschinengewehr und der Raketenwerfer sind auch weg. Hab ich noch Leuchtgranaten? Hilft nicht viel, aber im schlimmsten Fall können wir so mal abhauen, wenn es brenzlig wird. Auf der anderen Seite sind wir hier fast sicher unter der Zegnautus Festung. Da wird sich doch wohl ein wenig alte Maschinerie finden lassen. Und tatsächlich, hinter der nächsten Ecke haben wir Glück, ein alter Mech ist durch die Decke der Kanalisation gebrochen und hat einen Teil der Waffenkammer mit runter gebracht. Ich nehme mir, was ich an Waffen und Munition tragen kann, und winke Ravus zu mir. „Zeig mal deine Prothese, vielleicht kann ich da was machen.“ Ravus wirkt etwas befremdet, als ich ihn so einfach anpacke, aber er setzt sich brav hin und lässt mich machen. Der künstliche Arm ist glatt abgeschnitten wie von einem sehr scharfen Schwert, vermutlich Ardyns Werk. Sollte nicht allzu schwer sein, da alle wichtigen Kabel zu finden. Einfach die Enden abisolieren, mit den Kabeln des Magitek-Greifarms verbinden, mit dem Feuerzeug zusammenlöten und ein wenig Isolierband drum. Dann nur noch die äußeren Teile mit Panzertape befestigen – viel Panzertape, dann hält es auch – und ein kurzer Powercheck. Läuft. „Schau mal, ob du ihn bewegen kannst.“ Ravus versucht es, und der Arm funktioniert. „Bisschen ungewohnt, aber der Enterhaken wird sicher noch nützlich. Du bist ganz schön geschickt.“ „Hehe, danke. Hab in Insomnia in der Autoherstellung gearbeitet und zuletzt als Mechaniker in Hammerhead. Da nimmt man schon mal den ein oder anderen Trick mit.“ Vor allem, wenn niflheimer Fabrikate durch fahren. So fortschrittlich die Kriegstechnologie des Landes auch sein mag, seine Autos sind rollender Schrott. Lassen sich dafür aber, im Gegensatz zu den insomnischen Modellen, meist ganz gut mir ein bisschen Panzertape flicken. Ravus testet seinen neuen Arm beim Wühlen in der Waffenkammer und findet dabei tatsächlich ein Schwert, das er nutzen kann. Sieht irgendwie mehr nach Maschinerie als nach Schwert aus, aber es lässt sich schwingen und hat eine große Klinge. „Eine Gunblade“, meint Ravus, „Nicht übel, aber die Handhabung ist gewöhnungsbedürftig.“ „Kannst du damit kämpfen?“ „Ich weiß wie es geht. Werde mich wohl an das Ding gewöhnen.“ „Na dann, weiter geht’s.“ „Kleinen Moment noch, ich will den Greifhaken noch schnell testen.“ Ich zucke mit den Schultern, als Ravus auf den Raum über uns zielt. Der Haken funktioniert gut, er kann sich problemlos ins obere Stockwerkt schwingen und kommt gleich darauf wieder. „Hier, nimm das“, meint er und drückt mir eine große Ladung Tränke und Elixiere in die Arme. Einen Heiltrank gönne ich mir gleich, den Rest verstauen wir in unseren Taschen. „Woher…?“ „In den Waffenkammern sind meistens auch Automaten mit Vorräten“, erklärt Ravus, „Der oben war aufgebrochen, ich hab mitgenommen, was noch drin war. Haltbarkeitsdatum ist eventuell etwas veraltet, aber wenn’s noch gut riecht, wird’s noch gut sein, schätze ich.“ „Keine schlechte Idee. Ich bin froh, dass du diesmal auf meiner Seite bist.“ „Tut mir Leid, dass ich vorher nicht auf eurer Seite war. Ich habe mich blenden lassen…“ „Wer nicht?“, seufze ich, „Wir sind Ardyn alle mindestens einmal auf den Leim gegangen.“ Eine Weile laufen wir schweigend durch die Kanalisation, nur unterbrochen von den gelegentlichen Monstern, die hier aus jeder Ecke kriechen und sich von uns eine Portion Fleisch erhoffen. Nicht, dass an mir noch viel dran wäre, aber Ravus sieht immerhin aus, als könnte man von seinen Muskeln halbwegs satt werden. Ich bin eher so der Knochen zum Abnagen für danach. Inzwischen glaube ich, dick zu sein wäre gar nicht mal die schlechtere Alternative… dann hätte ich zumindest ein paar Reserven, von denen ich jetzt zehren könnte. Wenn ich hier rauskomme geht’s jedenfalls gleich ins erste Krähennest. Und dann mal schauen, ob ich mich Richtung Insomnia wagen kann… Mir läuft schon wieder Blut aus den Augen. An die Kopfschmerzen habe ich mich inzwischen fast gewöhnt, auch wenn mir schon wieder schlecht wird davon. Trotzdem möchte ich nicht gleich wieder einen Heiltrank einsetzen. Zu viele davon können einen auch krank machen, außerdem würde der Vorrat dann viel zu schnell zur Neige gehen. Ein bisschen halte ich noch durch. „Sag mal“, frage ich, um mich abzulenken, „Kannst du als Lunafreyas Bruder eigentlich auch Umbra rufen?“ „Die Emissäre gehorchen nur der Kannagi“, erwidert Ravus, und ich seufze enttäuscht. Ravus blickt mich nachdenklich an, dann lächelt er freundlich. „Aber sie hat Pyrna benutzt, um mit mir im Kontakt zu bleiben. Sie kommt vielleicht, wenn ich sie rufe.“ „Echt jetzt?“ „Ja. Komm hier rein, wir sollten uns die Nacht über etwas ausruhen.“ Der Raum hinter Ravus ist im besten Fall ein feuchtes Kabuff, das dem armen Kerl, der die Kläranlage säubert, als Ruheraum dient. Auf dem Boden liegt eine fleckige Matratze und in einer Kiste ein Sammelsurium an Wertsachen, die aus Versehen hier gelandet sind und die vielleicht jemand vermisst. Es ist trostlos, aber es ist besser als nichts. Ich setze mich erschöpft auf die Matratze, die schon unter meinem geringen Gewicht bis zum Boden durchsackt. Ravus setzt sich neben mich und blickt das Bett abschätzig an. „Nicht sehr groß, aber es wird wohl für uns beide reichen.“ Dann schließt er kurz die Augen. Ein lautes Bellen ertönt, und bevor ich nur die Richtung ausmachen kann, falle ich schon rückwärts auf die Matratze, mein Gesicht komplett unter weißem Fell begraben. „Pyrna!“ „Wuff!“ Eine lange, feuchte Zunge schleckt mir begeistert das Gesicht ab, die beste Dusche, die ich heute bekommen habe. Pyrnas Pfoten drücken schmerzhaft in meine geschundenen Rippen, aber das ist mir egal. Ich bin einfach nur so froh, meine alte Freundin wieder zu sehen. „Hey, das kitzelt…“ „Wuff!“ Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Ravus uns ungläubig ansieht. „So hat sie sich noch nie benommen…“ „Haha, ist schon gut Kleines, ich hab dich auch vermisst. Und ich hab dich lieb.“ „Wuff!“ „Tust du mir einen Gefallen, Pyrna?“ „Wuff?“ Ich rapple mich auf, soweit es mit Pyrna auf meinem Schoß geht, und ziehe meine Geldbörse heraus. „Das hier ist die Speicherkarte aus meiner Kamera“, erkläre ich und halte ihr den Chip hin, „Ich hätte gerne, dass Noct sie bekommt. Ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen kann, und selbst komme ich vielleicht so schnell nicht zu ihm. Kannst du mir da vielleicht helfen?“ Pyrna blickt mich einen Moment lang aus ihren hellen Augen an und legt niedlich den Kopf schief. „Wuff!“ „Ruff.“ Neben Pyrna hat sich ein neues Portal geöffnet. Umbra tritt heraus und beschnuppert seine Schwester, als würden sie heimlich etwas besprechen. Dann wendet sich der schwarze Hund zu mir um. „Hallo Umbra“, begrüße ich meinen alten Freund und halte ihm die Hand hin, damit er seine Pfote hineinlegen kann, „Wie geht es dir? Hat Pyrna dich geholt, damit du mir hilfst?“ „Ruff.“ Umbra gibt brav Pfötchen und reckt den Kopf, wie um seine Umhängetasche zu präsentieren. Ich lege die Speicherkarte vorsichtig hinein, dabei stößt meine Hand auf einen Umschlag. Ein einzelnes Foto liegt darin – Noctis, Gladio und Ignis, wie sie gemeinsam in die Kamera lächeln. Auf der Rückseite sind ein paar handgeschriebene Zeilen zu lesen. Noct ist zurück. Machen uns alle Sorgen um dich. Pass auf dich auf, Prompto, und komm nach Hause. Drei verschiedene Handschriften, alle sind mir gut bekannt. Diesmal sind es Tränen, die mir aus den Augen quellen. „Danke…“ „Ruff.“ Umbra leckt mir zärtlich das Gesicht und ich vergrabe meine Hände in seinem dichten Fell, um mich zu beruhigen. Das Foto verstaue ich sicher in meiner Jacke. „Danke, Umbra. Und dir auch, Pyrna. Sagt Noct, dass ich ihn lieb hab, ja?“ „Wuff.“ „Ruff!“ Pyrna leckt mir noch ein letztes Mal das Gesicht, dann sind beide Hunde verschwunden. Ich lege die Hand über das Foto in meiner Brusttasche, kauere mich zusammen und weine mir endlich den ganzen Schmerz von der Seele, den ich so lange einfach ertragen musste. Noct ist endlich zurück, und alle sind bei ihm. Ich will auch… ich will nach Hause zu meinen Freunden. Ravus legt seine gesunde Hand auf meine Schulter, die Berührung tut gut. Zumindest bin ich nicht allein. Es wird schon alles wieder werden. „Tut mir Leid, dass ich hier so rumheule“, entschuldige ich mich, „Es war einfach echt viel in letzter Zeit und… normal hab ich mich besser unter Kontrolle. Tut mir Leid.“ „Schon in Ordnung“, beschwichtigt mich Ravus, „Versuch ein wenig zu schlafen.“ „Ja, mach ich. Morgen haben wir wieder ordentlich was vor, was? Willst du die Matratze haben? Ich kann zur Not auch auf dem Boden schlafen.“ „Red keinen Blödsinn, das Ding reicht schon für und beide“, meint Ravus und zieht mich zu sich, „Ich hab beim Militär schon mit mehr Leuten auf engerem Raum gepennt.“ Ich weiß nicht, was ich darauf noch sagen soll. Selbst in Gladios Zelt hatten wir immer genug Platz, dass jeder seine eigene Matratze ausrollen konnte. Wenn wir doch mal eng nebeneinander geschlafen haben dann nur, weil wir es so wollten. Hier ist es… eng. Die Matratze ist hart wie der Boden darunter, und der einzige Grund, warum ich in der zugig feuchten Luft hier drin nicht friere ist, dass Ravus direkt neben mir liegt und mich wie einen Teddy an seinen warmen Körper drückt. Sonderlich bequem ist auch das nicht, immerhin ist er mir halb fremd und ich weiß so schon kaum, wie ich mit ihm umgehen soll. Aber es wird gehen… es muss. Immerhin kann ich mich so im Schlaf halbwegs sicher fühlen, dass ich morgen auch wieder lebend aufwache. Und wenn ich nur ganz fest die Augen schließe könnte ich mir auch vorstellen, dass es Gladio ist, der hinter mir liegt und mich schützend im Arm hält. Bei dem Gedanken fühle ich mich gleich sicherer. Ich bin nicht mehr allein. Kapitel 7: Auf Augenhöhe (Ravus Nox Fleuret) -------------------------------------------- Es ist lange her, dass ich Insomnia zum letzten Mal betreten habe, und die Erinnerung ist schmerzhaft. Fast unwillkürlich lege ich die Hand auf meine neue Prothese. Das Metall ist glatt und angenehm, es fühlt sich weniger brutal und böse an als der alte Magitecharm. Fast kann ich die Schmerzen von damals noch spüren, und auch das habe ich verdient. Die Vergangenheit kann ich nicht ändern. Aber die Götter haben mir eine neue Chance gegeben… eine Chance, um Vergebung zu bitten und es besser zu machen. Ich hatte nicht erwartet, dass man mich gerne in die Welt zurücknimmt… im Gegenteil. Aber tatsächlich wurde ich überall mit offenen Armen empfangen und in Tenebrae sofort als neuer König eingespannt. Nach all der guten Arbeit, die Kanzler Populus soweit geleistet hat fühle ich mich dort fast überflüssig, aber die Leute waren erfreut, und meine Rückkehr scheint die Moral im Land deutlich verbessert zu haben. Dabei habe ich in den letzten drei Wochen kaum regiert, nur Hände geschüttelt, gelächelt und gewunken wie eine hübsche Schaufensterpuppe. Haus Fenestala wurde fast schöner neu erbaut als es vorher war, und selbst Lunafreyas geliebte Blumen haben vorsichtig wieder zu wachsen begonnen. Auch Tenebrae selbst ist aus der Asche neu entstanden, die Einflüsse des Imperiums nur noch dort sichtbar, wo sie von Nutzen waren. Die Demokratie scheint gut zu funktionieren in meinem Land, aber wenn das Volk einen König will, bin ich gerne bereit, mit meiner Anwesenheit zur guten Stimmung beizutragen. Insomnia dagegen scheint weniger gut davon gekommen zu sein. Zwischen den frisch restaurierten Appartements, Hotels und Firmengebäuden liegen noch immer ganze Viertel in Schutt und Asche, die Spuren des Krieges haben die Stadt noch nicht verlassen. Immer wieder muss mein Fahrer Umwege in Kauf nehmen, weil die Hauptstraßen zerstört oder gesperrt sind. Schuld zerrt an meinem Herzen, aber ich zwinge mich, hinzusehen. Bis schließlich die Kapelle in Sicht kommt… das alte, einst so stolze Gebäude sieht aus wie eine Ruine. Als hätte man es seit seiner Zerstörung vor zwanzig Jahren einfach dem Zahn der Zeit überlassen. Kein Respekt für den König des Lichts. Die Reifen knirschen auf dem provisorisch gekiesten Parkplatz, mein Fahrer steigt aus und wirft einen eigens mitgebrachten Teppich vor meine Tür, damit ich mir beim Aussteigen die Schuhe nicht dreckig machen muss. Wenn der arme Mann wüsste, dass sein feiner König noch vor drei Wochen wie eine Ratte durch die Kanalisation gekrochen ist… Die Männer des lucischen Königs sind weniger pragmatisch, oder sie haben im Moment einfach größere Probleme; die Uniformen der Palastwachen sehen aus, als würden sie, so an der Tür nichts los ist, beim Beiseiteräumen des Schutts helfen. Ich raffe den Saum meines Mantels hoch und nicke den Männern zu, als ich an ihnen vorbei gehe. Alle verbeugen sich tief vor mir, ein Mann in der Uniform der Königsgleven bietet mir seine Begleitung in den Thronsaal an. Schon die Eingangshalle lässt mich schaudern – ein tiefes Loch klafft in ihrer Mitte, und noch andere Stellen sind mit Absperrband und Warnschildern gesichert, als ob sie ebenfalls jederzeit einbrechen könnten. Der Gleve führt uns sicher an weiteren Warnschildern vorbei, mehrere Stockwerke hoch, und nun bin ich doch dankbar für die Begleitung – unter normalen Umständen hätte ich den Weg in den Thronsaal allein gefunden, aber heute ist er ein Mienenfeld. Zumindest der Thronsaal selbst scheint einigermaßen aufgeräumt, abgesehen von den Löchern in der Decke. Immerhin liegen hier weder Schutt noch Scherben herum… „Seine Majestät, König Ravus Nox Fleuret von Tenebrae“, werde ich angekündigt. Mein Blick fällt auf Noctis, der bis eben eher lässig auf dem Thron gesessen hat, sich nun aber gewandt aufrichtet, um mir ehrerbietend ein paar Schritte entgegen zu kommen. Ich verbeuge mich, hauptsächlich, um seinem Blick auszuweichen, muss mich letztlich aber doch wieder aufrichten und diesen scharfen blauen Augen standhalten. „Euer Majestät“, grüße ich, und versuche, die Gefühle aus meiner Stimme herauszuhalten. „Euer Mejestät“, grüßt er zurück und hält mir lächelnd die Hand hin, „Es ist lange her.“ Ich nicke und ergreife die mir dargebotene Rechte ungeachtet der Furcht, die der Ring daran in mir auslösen will. Aber die Berührung schmerzt nicht – nicht, solange der Ring an der Hand seines wahren Helden ruht. Es war dumm und vermessen zu glauben, dass ich seiner würdig sein müsste. Mit einem kurzen Wink schickt Noctis die anderen Männer im Raum nach draußen, nur zwei der Gleven bleiben zurück. Ich erkenne Ignis Scientia und Gladiolus Amicitia, aber ich hatte erwartet, dass noch einer mehr hier sein sollte. Noctis war immer von drei Männern umgeben. Er bemerkt meinen Blick und lächelt traurig. „Wie du siehst, sind wir nicht ganz vollzählig“, gibt er zu und setzt sich wieder auf seinen Thron zurück. Irgendwie wirkt er plötzlich müde und geschafft. „Prompto ist noch nicht zurück?“, frage ich, in der kleineren Runde endlich fähig, offener zu sprechen. Jeder hier im Raum weiß von meiner Schuld, und abseits fremder Augen können sie es entsprechend zeigen. Trotzdem tun sie es nicht, stattdessen ernte ich verwirrte Blicke. „Ich entnehme deinen Worten“, spricht schließlich Ignis, „dass du von der Maschine erfahren hast, die hier in Insomnia zu unser aller Schande gebaut wurde? Sie hat Prompto vertrieben und wir haben den Kontakt verloren, ja.“ „Umbra hat es einmal geschafft, mit ihm in Kontakt zu treten“, erklärt Noctis, „und uns eine Speicherkarte gebracht. Die Daten waren beschädigt, aber unsere Techniker haben es geschafft, einen Teil der Fotos wiederherzustellen. Leider geben sie bislang keinen Aufschluss, wo wir nach ihm suchen sollen…“ Der König nimmt einen Stapel Papier auf, der neben seinem Thron auf einem kleinen Tisch liegt, und jetzt kann auch ich die Fotos erkennen. Als ich hereingekommen bin, hat er sie gerade erst weg gelegt. „Die meisten sind unscharf, schlecht belichtet oder verwackelt“, gesteht Ignis, „ein sicheres Zeichen für den schlechten Zustand, in dem Prompto die letzten vier Monate gewesen sein muss. Was wir an Geodaten retten konnten weist auf den westlichen Kontinent hin, etwa auf Höhe…“ „… von Zegnautus“, beende ich den Satz, „Ich bin ihm dort begegnet.“ Die Worte verschaffen mir die absolute Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Und sie scheinen zu überraschen. „Deswegen hatte ich auch erwartet, ihn hier anzutreffen“, spreche ich weiter, weil Noctis und seinen Freunden im Moment wohl die Worte fehlen, „Als ich ihn verabschiedete, war er auf dem Weg hierher.“ „Wo, und wichtiger noch, wann genau war das?“, fragt Ignis und hat sofort einen Notizblock in der Hand. „Wie ging es ihm?“, unterbricht Noctis mit der für ihn wichtigeren Frage. „Furchtbar, als wir uns begegnet sind, besser, als das Pfeifen aufgehört hat“, beantworte ich Noctis Frage zuerst, „Er schien mehr durch Willenskraft als Blut am Leben als er mich in den Tunneln aufgegriffen hat, nach ein paar Elixieren ging es ihm aber schnell besser. Zeitweise war er direkt munter, nachdem Umbra ihm das Foto gebracht hat sogar richtig ausgelassen und fröhlich. Zuletzt gesehen habe ich ihn am Bahnsteig von Tenebrae. Der Zug, in den er gestiegen ist, hätte ihn direkt zur Fähre auf den östlichen Kontinent bringen sollen. Cap Shawe, wenn ich mich recht erinnere… von dort wollte er ein Auto mieten um direkt nach Insomnia zu fahren.“ Ich habe die Strecke nicht genau im Kopf, aber recht viel mehr als eine Woche hätte er nicht brauchen dürfen. Ignis, der sich eilig Notizen macht, scheint derselben Ansicht zu sein. „Mit etwas Glück hat der Autoverleih ihm ein niflheimer Modell gegeben und er ist unterwegs nur ein paar Mal liegen geblieben. Gladio, haben wir Gleven in Cap Shawe, die bei den Autovermietern nachfragen können?“ „Wenn nicht schick ich Talcott hin“, antwortet der große Mann und zieht ein Gerät aus der Tasche, in dem er eifrig herum tippt. Etwas scheint es ihm zu sagen, denn er hat sofort eine Antwort: „Monica und Dustin sind vor Ort, um neue Rekruten auszubilden. Sie werden sich umhören.“ Die Erleichterung ist allen dreien anzumerken, sicher haben sie sich große Sorgen um den verlorenen Freund gemacht. „Gibt es etwas womit wir dir helfen können, Ravus, oder bist du nur der Höflichkeit wegen gekommen?“, fragt Noctis schließlich. Seine Stimme ist ungewohnt sanft. Ich blicke hoch in das Gesicht des Mannes, den ich bis zu meinem Tod für einen dummen Jungen gehalten hatte, und erkenne einen König, zu dem ich aufsehen kann. „Ich hatte gehofft…“, beginne ich, aber meine Stimme versagt, zu schwer wiegt die Angst, meine Frage könne anders beantwortet werden als erhofft. Noch einmal atme ich tief ein für den nächsten Versuch: „Ich habe durch Prompto von deiner Rückkehr erfahren, und auch ich selbst bin wieder am Leben. Ich dachte, ich würde meine Schwester in Tenebrae antreffen, aber…“ Aber niemand hatte Lunafreya dort gesehen. Welchen Sinn hätte es gehabt, mich ins Leben zurück zu rufen, wenn nicht auch sie? Lunafreya hat es so viel mehr verdient als ich. Meine Finger zittern bei dem Gedanken, da spüre ich plötzlich eine fremde Hand an meinem Arm. Noctis steht mir direkt gegenüber, und sein Blick ist freundlich. „Sie ist in Altissia“, sagt er schlicht und reicht mir ein Notizbuch. Es sieht neu aus und wie eines der ledergebundenen Hefte voller weißer Seiten, die man selbst füllen kann. Auf der ersten Seite klebt ein Zeitungsausschnitt über die Rückkehr des lucischen Königs. Ich blättere um und finde vier winzige Fotos, wie es sie an den für Touristen so attraktiven Sofort-fotomaten in Altissia gibt. Jedes davon zeigt Lunafreya mit ihren beiden Hunden, ausgelassen lachend vor der gemalten Kulisse der Stadt. In einem der Fotos hält sie eine zerknautscht wirkende Pyrna ins Bild, ein anderes wird dominiert von Umbras breitem Grinsen. Mir fällt ein großer Stein vom Herzen. „Den Zeilen nach, die sie mir geschrieben hat, geht es ihr sehr gut“, meint Noctis und nimmt mir das Heft wieder ab, „Die Leute in Altissia scheinen sie noch nicht recht gehen lassen zu wollen, aber sie genießt die Zeit dort und wie schön alles wieder aufgebaut worden ist. Ich bin sicher, sie wird sich freuen zu sehen, dass auch du wieder zurück bist.“ „Das hoffe ich“, gebe ich zu, „Und werde mich sofort auf den Weg machen.“ „Ich meine, der kürzeste Weg führt über den Galdin-Kai“, informiert mich Ignis, „Es ist allerdings schon etwas spät, wenn du also die Nacht in Insomnia verbringen willst, können wir dir gerne ein Zimmer im Caelum Via anbieten. Die Gästezimmer der Zitadelle sind leider im Moment eher unbewohnbar.“ „Erzähl den Leuten draußen aber nicht unbedingt, dass ihr König noch auf der Couch seines besten Kumpels campen muss“, bittet Noctis mich zwinkernd, „Mein Zimmer ist auch noch im Wiederaufbau… Hier hat sich all die Jahre die Regierung eher selbst im Weg gestanden.“ Und das ist noch nett ausgedrückt, wie ich finde. Selbst jetzt, wo der König zurück ist, wird das Bild der zerstörten Stadt dominiert von Wahlplakaten, voll mit Parolen, die gegen Monarchie hetzen wollen und Politiker anpreisen, die in zehn Jahren nichts erreicht haben. „Ich verstehe. Danke für das Angebot, aber ich wäre lieber früher als später bei meiner Schwester. Und ohne Siecher sollte es auch kein Problem sein, durch die Nacht zu fahren um gleich am frühen Morgen eine Fähre zu erwischen.“ Meine Schuldgefühle beim Anblick der zerstörten Metropole sind schon schlimm genug ohne dass ich die Nacht hier verbringe, und die Sorge um meine kleine Schwester lässt mich ohnehin kaum schlafen. Ich verbeuge mich noch einmal, bevor ich den Raum verlasse. An der Tür wartet bereits der Gleve von vorhin, mich wieder sicher hinauszuführen. Altissia… ich kann es Luna nicht verdenken, dass sie noch eine Weile dort bleiben und von ihrer Hochzeit träumen will, bevor man sie wieder mit Verantwortung und Pflichten belädt. Kapitel 8: Magitech Infanterie (Noctis Lucis Caelum) ---------------------------------------------------- Ich sitze auf dem Beifahrersitz des frisch restaurierten Regalia und könnte mich kaum weniger darüber freuen. Das ist Promptos Platz… das war es immer. Und er verdient es, hier zu sitzen, zumal er Cidney maßgeblich bei der Reparatur des alten Wagens geholfen hat, als er in Hammerhead Zuflucht vor der Maschine gesucht hat. Ein ganzes Jahr lang war er dort, hat versucht sich nützlich zu machen und mit seiner guten Laune für Stimmung gesorgt, obwohl er selbst am meisten gelitten hat. Ich will ihn einfach nur schnell finden und wieder mit nach Hause nehmen. Als wäre es gestern gewesen erinnere ich mich an das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Damals, in der dunklen Zitadelle, auf meinem sicheren Weg in den Tod… Promptos Augen waren bis zuletzt auf mich gerichtet. Selbst als die anderen wegsehen mussten, hat er weiter nach oben gesehen. Ich hätte ihn nie zurücklassen dürfen. Ihn nicht, die anderen nicht, und das ganze Land nicht. Aber was hätte ich tun sollen? Vorher war es auch nicht besser als jetzt. Da opfert man sein eigenes Leben, um der Welt endlich Frieden zu bringen, und dann fangen die Leute einfach einen neuen Krieg an. Gegen einander, gegen unschuldige Kinder. Aus Angst? Sicher nicht. Im Autoradio spielt der Mambo de Chocobo und niemand singt mit. Es tut weh. „Schalt um, Ignis“, befehle ich, und mein Freund gehorcht. Statt Musik gibt es nun Nachrichten… nicht viel besser, aber immerhin eine Ablenkung. Gerade widerholen sie das Interview, dass ich letzte Woche gegeben habe. Ob ich noch Interesse an einer Hochzeit mit Lunafreya hätte, wenn sich die Möglichkeit ergäbe. Was soll man darauf antworten? Dass ich das lieber mit Luna persönlich besprechen würde, bevor ich mich öffentlich äußere? Dass ich sie liebe, dass ich sie gerne bei mir habe? Unsere Hochzeit stand seit Generationen fest. Schicksal, Tradition, Politik. Wen interessieren meine Gefühle? Wenn ich mit Luna durchbrennen würde um irgendwo auf einer Farm eine kleine Familie zu gründen und Karotten zu ziehen wäre das ein Skandal. Die Leute wollen von uns keine Hochzeit aus Liebe. Sie wollen den Frieden, den die Verbindung zwischen Lucis und Tenebrae festigt, mehr nicht. Also ja, natürlich habe ich gesagt, dass es mich freuen würde wenn, Lunafreyas Zustimmung vorausgesetzt, die Hochzeit nachgeholt werden würde. Gerne auch wie geplant in Altissia, um ein weiteres Reich in den Friedensbund mit einzubeziehen. Es ist seltsam, meine eigene Stimme im Radio zu hören. Ich klinge tatsächlich überzeugter und weit weniger nervös, als ich es vor der Kamera tatsächlich war. Ich lasse mich im Sitz zurücksinken und versuche, etwas zu schlafen. Nicht mehr weit, und wir sind da, wo die Autovermietung Promptos Leihwagen wieder abgeholt hat. Eigentlich wollten sie noch Überziehungsgebühren von uns fordern, aber anscheinend hat er den Wagen unterwegs so gut instand gesetzt, dass man ihm die verpasste Rückgabe vergeben hat. ‚Läuft fast wie ein lucisches Modell‘... nicht schlecht, Prompto. Nicht schlecht. Nur gefunden haben wir ihn noch nicht. Die Stimme im Radio schwenkt um, der neue Sprecher klingt ernst. „Schon wieder Magitech Soldaten?“, fragt Ignis und zieht die Augenbrauen zusammen. „Rashin feiert wahrscheinlich gerade ne Partie“, grummelt Gladio hinter mir, „Kaum ist seine tolle Maschine aus, kriechen Magitechsoldaten aus allen Löchern. Dass das nicht die sind, die sein Spinnending umgelegt hat, will keiner hören…“ „Ich frage mich trotzdem, woher sie kommen“, gibt Ignis zurück, „Im besten Fall sind es diesmal reine Roboter, aber wenn sie etwas Vergleichbares wie damals das Plasmodium gefunden haben… nicht auszudenken, wenn der Welt eine neue Seuche droht.“ „Ich will auch nicht wissen was Rashin dazu sagen würde wenn raus kommt, dass der König hier durch die Gegend fährt anstatt seine Stadt vor der neuen Bedrohung zu schützen. Schlechte Propaganda ist jetzt das Letzte was wir brauchen.“ „Gut, dass die Menschen wegen der Hochzeit mit Luna abgelenkt sind“, entgegne ich, „Außerdem weiß kaum jemand, dass ich unterwegs bin, und diese neuen MI sind nicht gefährlicher als die alten. Jeder mit ein paar Dolchen kann die bequem auseinander nehmen. Die Stadt wird von der Garde geschützt, die Außenbereiche von den Gleven, da kommt kein MI an die Leute ran.“ Außer Prompto, aber der zählt nicht. Prompto ist kein MI, jedenfalls nicht in meinen Augen. Er ist ein Kind Insomnias, mein bester Freund und Teil meiner persönlichen Leibgarde. Und wir holen ihn nach Hause. Ignis zieht auf den Parkplatz, auf dem Promptos Wagen gefunden wurde. Wir steigen aus und suchen nach Spuren. Hinweise, irgendwas, was uns hilft herauszufinden, wo Prompto hin sein könnte. Warum er den Wagen hier stehen gelassen hat. Warum er nicht nach Hause gekommen ist. Aber alles, was ich sehen kann, ist Sand. Sand und Staub und Felsen und die Straße, auf der wir gekommen sind. Bis nach Leide hatte er es schon geschafft… was ist nur auf diesen letzten paar Metern passiert? Nur noch ein paar dutzend Kilometer und er hätte die Brücke nach Insomnia erreicht, den ehemaligen letzten Stützpunkt Niflheims. Ich lehne mich Schutz suchend an den Regalia, dessen Motor von der langen Fahrt noch siedend heiß ist. Gladio sucht mit seinem Feldstecher die umliegende Wüste ab, als ob das etwas bringen würde, während Ignis mit langen Schritten den Parkplatz auf und ab läuft, als wollte er jeden Zentimeter des Bodens vermessen. Ab und an geht er in die Knie, um etwas genauer anzusehen, gerade so, als hätte er in den Sandwehen noch Spuren von vor zwei Wochen gefunden. Spuren, die nicht vom Abschleppteam stammen. In mir macht sich langsam Verzweiflung breit. Die Hoffnung, Prompto so einfach wieder zu finden, weicht einer Leere die der der Wüste um uns herum gleich kommt. In der Ferne schreit irgendein Vogel, streitet vielleicht mit einem anderen Tier um ein Stück Futter. Und ich… ich ziehe die Fotos aus der Tasche, die ich von Prompto habe. Die schönen Fotos aus der Kapelle von unseren Abenteuern und welche, die er später für mich aufgenommen hat, um mich auf dem Laufenden zu halten. Schöne Fotos, gestochen scharf, mit den passenden Filtern und der ein oder anderen Anmerkung in seiner Handschrift auf der Rückseite. Fotos die, gestellt oder nicht, eine schöne Zeit zeigen. Dazu die Fotos von der kaputten Speicherkarte… was bin ich erschrocken als Umbra mir das Stück Plastik gebracht hat, kaum zwei Zentimeter lang und doch so voller Blut. Die Fotos, die Talcott noch retten konnte, sind von einer ganz anderen Qualität. Fast durchweg verwackelt, als wäre die schwere Kamera zu viel für die Hände, die sie hielten, unscharf, zu dunkel oder zu hell. Manchen sieht man an, dass die Dateien beschädigt waren, andere erwecken den Eindruck, als wären vor der Aufnahme schon deutliche Blutschlieren auf der Linse gewesen. Wie oft habe ich zugesehen, wie Prompto das Objektiv gründlich, stundenlang poliert hat? Er muss schon sehr geschwächt gewesen sein wenn ihm das nicht mehr aufgefallen ist. Ein paar Selfies sind auch dabei, und obwohl Prompto sich immer noch bemüht, unbeschwert zu grinsen, ist ihm die Anstrengung deutlich anzusehen. Dünn ist er geworden… nur noch Haut und Knochen unter der lockeren Kleidung. Tiefe dunkle Ringe unter den blutunterlaufenen Augen, die er in den späteren Bildern fast durchweg geschlossen hält. Seine Haare sind strähnig, mit Blut und Schlamm durchzogen und hängen kraftlos herunter. Ich möchte ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles wieder gut wird. Dass es vorbei ist, dass wir bei ihm sind. Ich will, dass es Prompto wieder gut geht. „Hier wurde geschossen“, stellt Ignis schließlich fest. „Woran siehst du das?“, erkundigt sich Gladio, während ich schnell meine Tränen herunterschlucke um wieder einsatzfähig zu sein. „An den Kugeln hier in der Leitplanke.“ Ignis deutet auf mehrere winzige Projektile im rostigen Metall. Viele davon müssen noch vom Krieg stammen, aber einige sind deutlich frischer. „Ein paar davon könnten aus Promptos Revolver stammen, aber die meisten sind imperiale Munition.“ „Magitech?“, frage ich laut, „Meinst du, er wurde angegriffen?“ „Sehr wahrscheinlich. Und er ist vom Auto weg auf die offene Fläche gerannt. Da lang.“ Ich frage nicht, woher Ignis das weiß; ich bin ihm einfach dankbar. Wir folgen den Spuren, die wir ohne Ignis‘ scharfe Beobachtungsgabe nie gesehen hätten, bis zu einer steilen Felswand. Hier sind deutlichere Kampfspuren zu sehen, unter anderem hat jemand einen mächtigen Feuerzauber losgelassen. Ich wusste nicht, dass Prompto noch einen Magieflakon bei sich hatte… würde mich aber nicht wundern, dass er zehn Jahre lang ein nutzloses Fläschchen mit sich rumschleppt, in das ich mal Magie gefüllt habe. Eher wundert mich, dass es nach all den Jahren einfach wieder funktioniert, als wäre ich nie weg gewesen. „Ars Quintae mit Vita-Effekt“, erkennt Ignis, „Nicht schlecht. Und ich hab ihn noch gefragt, wozu er das staubige Fläschchen überhaupt noch behält…“ „Als Andenken, vermute ich. Zumindest, bis er gespürt hat, dass es wieder funktioniert…“ Jetzt braucht er kein Andenken mehr, er weiß, dass ich lebe. Eine kurze Suche, und das leere Fläschchen taucht unter einem Stein auf. Jetzt ist es wirklich staubig und nutzlos… „Hier sind Reifenspuren!“, ruft Gladio uns zu und blickt wieder durch seinen Feldstecher, „Führen zu der Basis da vorn. Sieht neu aus, auch nicht wirklich nach einer von den Niffen…“ „Meinst du, sie haben Prompto dahin gebracht?“, frage ich und nehme Gladio das Fernglas ab, um selbst hindurch zu sehen. „Sieht aus wie ein Militärcamp.“ Was diese neuen MI wohl mit Prompto vorhaben? Jedenfalls macht der Anblick der Spuren Mut. Prompto war hier, vielleicht ist er in der Basis. Und wenn er noch dort ist, holen wir ihn raus. Und zwar jetzt. Zum Glück muss ich diese Entschlossenheit nicht gegen meine Freunde verteidigen, Gladio und Ignis denken genauso wie ich. „Wie kommen wir da rein?“, fragt Ignis. „Im Notfall durch den Vordereingang“, knurre ich. „Genau“, meint Gladio, „wir schlagen da auf, im Namen des Königs von Lucis, und hauen so fest auf den Putz, dass die ihn freiwillig gehen lassen.“ Ignis scheint wenig angetan von der Idee. „Ich wäre dafür, wir schleichen uns an, spähen die Basis aus und entscheiden dann, ob wir wirklich die Tür eintreten oder uns vielleicht doch lieber hinten rum einschleichen.“ „Langweiler“, neckt Gladio, aber wir befolgen Ignis‘ Plan und nutzen die felsige Gegend, um unbemerkt näher an die Basis zu kommen. Ignis hat Gladio den Feldstecher abgenommen um gleich Schwachstellen und Wachen zu analysieren, er späht hinter jedem Felsen erstmal hervor, um sicher zu gehen, dass niemand in unsere Richtung sieht. Mir geht das alles zu langsam, aber ich will unsere Chancen auch nicht durch unüberlegtes Vorgehen schmälern. Immerhin geht es hier um Prompto. Ich hab ihn schon einmal verletzt weil ich nicht genug aufgepasst, nicht gründlich nachgedacht habe. „Seltsam“, murmelt Ignis, als wir schon recht nahe dran sind, „Da sind keine Wachen zu sehen, und aus dem Hinterhof steigt Rauch auf.“ Er wirkt angespannt. Ich ahne Schlimmes. „Was heißt das?“ „Das heißt, wir gehen jetzt doch nach eurem Plan vor“, beschließt Ignis und steht auf, „Nur etwas sachte, bitte.“ Er geht vor, und wir folgen ihm. Aufrecht und gut sichtbar schreiten wir auf das Haupttor des flachen Gebäudes zu, wobei Gladio sehr darauf bedacht ist, mich mit seinem Körper vor eventuellen Angriffen zu schützen. „Aufmachen“, brüllt er und schlägt mit der Faust gegen das Stahltor, dass es im ganzen Korridor wiederhallt, „Im Namen des Königs!“ Ich bin mir nicht sicher, ob er das so betonen sollte, aber im Moment trage ich, der Tarnung halber, wie er und Ignis die Uniform der Königsgleven. Dass ich den anderen beiden Befehle geben darf kann ich immer noch mit meinem höheren Rang erklären, obwohl es eigentlich keine Stufe über meinen persönlichen Leibwächtern gibt. Muss ja keiner wissen, das System ist eh schon schwer zu durchschauen. „Sofort aufmachen!“, wiederholt Gladio, und gerade, als er uns auffordert, einen Schritt zurückzutreten, damit der das Tor mit Gewalt eintreten kann, öffnet es sich doch von selbst. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; eine feindliche Armee vielleicht, Kanonenschüsse, Scharfschützen. Aber ganz sicher keinen halbwüchsigen Jungen, der mit zitternden Händen allein das große Tor aufschiebt. Gladio lässt sofort das halb beschworene Breitschwert verschwinden, sein Zorn ist praktisch verraucht. Das Kind sieht aus, als stünde es komplett unter Schock. „Was ist passiert, Junge?“, fragt Ignis mit ruhiger Stimme, und kniet sich zu dem Kleinen nieder. Der Junge ist kaum älter als Nyx, sicher noch keine zehn Jahre alt. Seine kurzen schwarzen Haare trägt er ordentlich gescheitelt und er hat saubere Kleidung an, wie man es von einem Kind des gehobenen Mittelstandes erwarten würde. Seine großen Augen blicken in die von Ignis und scheinen etwas Halt darin zu finden. Er nimmt meinen Freund bei der Hand und zieht ihn in die Basis. Gladio und ich sehen einander an, dann folgen wir den beiden. Es ist fürchterlich still. Der Junge führt Ignis in ein Büro, in dem eine Menge Unordnung herrscht. Ein Mann, vielleicht der Vater des Jungen, sitzt zusammengesunken am Tisch. Er ist voll mit Schweiß und Ruß, seine Jacke riecht nach Benzin, die Ärmel sind versengt. In seiner rechten Hand liegt eine Schusswaffe, sein Kopf trägt ein dazu passendes Loch. Die Zeilen auf dem Block vor ihm sprechen von Reue und Unmenschlichkeit, Experimenten, die er nie hätte durchführen dürfen und einem großen Fehler. Die Worte MI, Reprogrammierung und Monster sind mehrfach zu lesen, aber der Rest des Textes ist wirr. In der Wand hinter dem Mann sind etwa dreißig unbeschriftete Kartons, in einem davon fällt mir etwas ins Auge: Promptos Armband. Eilig zieh ich den Karton aus der Wand und finde ihn voll mit Promptos Sachen: Kleidung, Schmuck, sein Revolver… auch das Foto, mit dem ich Umbra zu ihm geschickt habe. Es ist abgegriffen, zerknittert, blutverschmiert und sieht aus, als wäre es mindestens einmal von Tränen durchweicht worden, aber das Motiv ist noch gut zu erkennen. Meine Hände zittern, als ich es aus der Kiste hebe. „Er ist hier.“ „Geht ihn suchen“, empfiehlt Ignis, „Ich bleibe hier und sehe, was ich herausfinden kann.“ Ich nicke knapp, lasse die Kiste stehen und winke Gladio zu, mit mir in den Gang zurück zu gehen. Das Gebäude wirkt trostlos, ein Schnellbau aus nacktem Beton. Hier im Gang sind noch weitere Bürogebäude, Ein Schlafraum, wohl für das Kind und seinen Vater, ein karges Bad. Außerdem gibt es eine Art kleine Bibliothek, einen Aktenraum, Ordner, die mit MI Codes versehen sind. Eine weitere schwere Stahltür führt in den eigentlichen Kasernentrakt, der es tatsächlich schafft, noch karger und trostloser auszusehen. Hier gibt es nichts persönliches, kein Bild an der Wand, keine kindlichen Kreidezeichnungen, keine einsame Blume in irgendeinem Glas. Nur Stockbetten aus rostigem Metall mit dünnen, einheitsgrauen Laken. Je zehn Betten pro Zimmer, im letzten davon liegt ein totes Kind. Blond, etwa zehn bis zwölf Jahre alt. Es macht den Eindruck, als hätte es in viel zu kurzer Zeit viel Gewicht verloren, ist aber immer noch etwas mollig. Auf den rechten Unterarm ist ein Barcode gedruckt. Ich erinnere mich an einen Moment vor langer Zeit, damals, auf dem Hinterhof der Mittelschule. Mir dreht sich der Magen um. „Scheint, als wäre er schon seit ein paar Stunden tot“, stellt Gladio fest, „hat sich wohl mit den Ketten erwürgt, mit denen er hier gefesselt ist. Armes Kind…“ Ich verdränge den Gedanken an Prompto. „Das muss einer der MI sein, die nach… oder noch während der langen Nacht aus Besithias Labor gerettet wurden“, überlege ich. „Ja, und aus irgendeinem Grund hat es ihm hier wohl nicht gefallen“, murrt Gladio. Kann mir gar nicht vorstellen warum. Wer wäre nicht gerne in so einem kargen Zimmer an ein rostiges Bett gefesselt, zusammen mit neun anderen in dünner Kleidung? Hier sieht es aus wie in einem Gefängnis… selbst das Militär hat höhere Standards. Gladio nimmt eine hauchdünne Decke von einem der Betten und legt sie über die Leiche des Kindes. Die Fesseln hat er ihm geöffnet, die Hände vor der Brust verschränkt. „Das muss reichen, bis ihn jemand abholen kann. Sicher vermisst den armen Jungen auch schon jemand.“ „Natürlich. Jedes Kind wird vermisst, wenn es nicht zu Hause bei seinen Eltern ist.“ Ich hasse den jammernden Tonfall meiner Stimme, aber ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Dieses Kind… der Junge war doch kaum älter als zehn und sah schon keinen anderen Ausweg mehr als diesen. Und keinen interessiert es. Keinen außer uns. Ich kann Gladios Arme um meine Schultern spüren und lehne mich einen Moment an ihn, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe. Seine Wärme tut gut. „Wenn es dir zu viel ist können wir das hier Cor überlassen“, schlägt er vor, „Wenn die überlebenden MI hier sind…“ „Ist okay“, wehre ich ab, „Ich pack das. Lass uns Prompto finden.“ Denn egal wie ähnlich er seinem früheren Ich sieht, der Junge auf dem Bett ist nicht Prompto. Prompto lebt, ganz bestimmt. Er weiß, dass wir auf ihn warten… er hält durch, bis wir bei ihm sind. Ganz sicher. Der neugefasste Mut vergeht mir schlagartig, als wir auf den Hof treten. Direkt mir gegenüber an der Wand hängt ein Mann, etwa zwanzig Jahre alt, mit zwei gekreuzten Schwertern in der Brust. Seine leeren blauen Augen sind direkt auf mich gerichtet, und auch er sieht genauso aus wie Prompto. Mir zieht es den Boden unter den Füßen weg. Nicht Prompto, rede ich mir ein, Prompto ist jetzt älter. So alt wie ich… um die vierzig. Ich rufe mir die Fotos von der kaputten Speicherkarte ins Gedächtnis, Fotos, die Promptos jetziges, vierzigjähriges Gesicht zeigen, aber es hilft nichts. Der junge Mann an der Wand sieht aus wie er. Und da ist so viel Blut… Ich wende den Blick ab, aber es hilft nichts. Der ganze Hof ist voller Leichen, eine schlimmer zugerichtet als die andere. Das Alter variiert, aber alle sehen aus wie Prompto. Alle blond, alle dasselbe Gesicht. Alle tot. Alle. Prompto war hier, und alle sind tot. Gladio packt mich, hebt mich hoch wie einen nassen Hund und trägt mich zurück in den Gang. Ich höre die Tür zuschlagen, aber das Bild hat sich in mein Gehirn gebrannt. Der zwanzigjährige Prompto, wie er mit den gekreuzten Schwertern an die Wand geheftet hängt. Die vielen Promptos auf dem ganzen Hof, verstümmelt, erstochen, aufgehängt. Der Miniprompto in seinem Bett mit der dünnen Kette um den Hals. Alle tot. „Reiß dich zusammen, Noct!“, ruft Gladio, und seine Stimme kommt von weit weg. Ich bin mir vage bewusst, dass er mich an beiden Schultern packt und schüttelt, aber es dauert eine Weile, bis ich wieder zu mir finde. Bis sich die Schockstarre löst und ich endlich anfangen kann zu weinen. „Das war nicht Prompto, okay? Nicht unser Prompto“, wiederholt Gladio, „Der war viel zu jung und einer von den Magitech-Assassinen. Prompto ist Scharfschütze, schon vergessen?“ „Aber die sind alle tot…“, weine ich, „Alle…“ Gladio zieht mich tröstend auf seinen Schoß und hält mich fest im Arm. Ich will mich zusammenreißen, will aufstehen, will irgendwas tun, irgendwas ändern, irgendeinen Beweis finden, dass es noch Hoffnung gibt, dass Prompto nicht unter den Leichen auf dem Hof liegt, dass es nicht zu spät ist. Stattdessen sitze ich hier im kalten Gang auf Gladios Schoß und heule wie ein kleines Kind, das mit der Welt nicht mehr fertig wird. Meinen eigenen Tod konnte ich akzeptieren, aber das? Das ist zu viel. Ich bin doch nicht zurückgekommen um hilflos zuzulassen, dass mein bester Freund stirbt. Schon gar nicht an so einem Ort… Es vergehen ein paar Stunden, die Gladio mich einfach nur tröstend im Arm hält und ich bin dankbar für die Geduld, die er dabei aufbringt, einfach mit mir hier zu sitzen und meine Haare zu streicheln. Dass er nicht mit mir schimpft, nicht von mir verlangt, einfach aufzustehen und weiter zu machen, wie damals bei Luna. Aber was gibt es jetzt auch schon zu tun? Es ist alles vorbei, ich habe versagt… Eine Hand berührt sachte meine Schulter, Ignis hat zu uns aufgeschlossen. Ich vergrabe mein Gesicht in Gladios nasser Jacke, kann jetzt niemanden ansehen, nicht so. „Noctis“, Ignis Stimme ist sanft und voller Verständnis, sicher weiß er längst Bescheid, „Ich war draußen auf dem Hof und habe mir alles angesehen. Meinst du, du schaffst es, mir zuzuhören?“ Ich muss einen Moment überlegen. Ignis kann, gerade wenn es um das analysieren einer Situation wie dieser geht, eiskalt und ziemlich grausam sein. Sein Tonfall jetzt ist mitfühlend, aber das wird er nicht bleiben, wenn er über die Hinweise und Zeichen redet, die er gefunden hat. Trotzdem nicke ich entschlossen, stütze mich hoch und setze mich aufrecht neben Gladio. Zumindest ein klarer Abschluss… ich kann jetzt nicht einfach wegrennen. Ignis hat noch immer den kleinen Jungen im Schlepp, der uns die Tür aufgemacht hat. Das Kind sieht immer noch blass aus, wirkt jetzt aber gefasster. Im Gegensatz zu mir hat er nicht geweint. „Soweit ich aus den Berichten im Büro und in den Akten schlussfolgern kann, wurden in dieser Einrichtung alle noch überlebenden alten MI gesammelt“, beginnt Ignis seinen Bericht, „Anscheinend besteht die Möglichkeit, jeden einzelnen davon über seinen Barcode zu orten, sofern er mit diesem in die Nähe eines funktauglichen Scanners gerät.“ „Das wenn wir mal vorher gewusst hätten“, brummt Gladio, „Dann hätten wir Prompto einfach auflesen können und fertig.“ Seine Stimme klingt bitter. Ich kann sehen, wie die kräftigen Muskeln unter der Jacke angespannt sind, auch er kämpft mit den Tränen. „So einfach ist es leider auch nicht. Die Technik, die man braucht, um so ein Signal aufzufangen, auszulesen und zu orten ist schon recht fortschrittlich. Die Barcodescanner aus Insomnia können die MI-Codes erfassen, geben aber nur die zugehörige Nummer aus. Diese besteht aus zwei Teilen, einem, der die Klassifizierung bestimmt – beispielsweise N-iP01357 für die Scharfschützen – und einer individuellen Seriennummer, bestehend aus nochmal acht Ziffern. Leider werden die wohl bei Ausgabe zufällig generiert, es gibt also keine Möglichkeit, anhand der Nummer beispielsweise ein Geburtsdatum abzuleiten.“ „Heißt das, wir können Prompto vielleicht nicht mal identifizieren?“, frage ich verzweifelt. Ignis seufzt nur. „Ich fürchte ja, zumal die fünf Scharfschützen auf dem Hof bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind. Da gab es wohl ein reichlich heftiges Feuer, wenn nicht sogar eine Detonation.“ Daher also der Rauch, den wir gesehen haben. „Die Barcodes scheinen erstaunlich beständig zu sein, die waren noch lesbar. Ein Zahnabgleich könnte mit etwas Glück bei mindestens einer der Leichen auch noch möglich sein. Die DNS konnte ich ebenfalls abscanen, das ist aber eine Sackgasse. Von den fünf Scharfschützen bekomme ich drei Treffer auf Promptos DNS, die anderen haben auch eine Übereinstimmung von über sechzig Prozent.“ „Schätze, das trifft auch auf die anderen Klassen zu?“, überlege ich in einem verzweifelten Versuch, mich an Ignis‘ abstraktes Denkmuster zu halten. Nur nicht persönlich werden, nicht an Prompto denken. Es funktioniert eher mäßig. „Ja. An der DNS scheint sich die Spezialisierung nicht bemerkbar zu machen. Die Abweichungen der MI untereinander sind minimal und weisen darauf hin, dass Besithia tatsächlich Eizellen von nicht mehr als drei Frauen benutzt hat, um dann vermutlich aus jeder Eizelle mehrere Duzend Kinder zu ziehen – so viel eben ging, damit die Zellteilung den Rückstand noch aufholen und wachsen kann.“ „Und damit er genug Menschen für seine MI Farm hat.“ Gladios Worte klingen, als müsste er sie ausspucken, und ich erinnere mich an den Raum in der Zegnautusfestung, in dem die überschüssigen MI gelagert wurden. Hundertausende von Robotern, jeder einzelne davon begann sein Leben als Mensch. Und dazu Promptos Gesicht, als er uns beichten musste, dass er einer davon hätte sein können… wäre Besithia nicht schon lange tot, ich würde ihn umbringen für das, was er getan hat. Aber das eigentliche Problem ist hier und jetzt. „Was ist hier passiert, Ignis? Wofür hat man diese Leute hergebracht?“ Ich will sie nicht MI nennen. Alle diese Jungs und Männer hier… das sind Menschen, denen ein Schicksal als leicht kontrollierbare Siecher erspart geblieben ist. Die eine Zeit lang Mensch sein durften, bevor man sie hier hingerichtet hat. „Soweit ich aus den Unterlagen entnehmen kann, sollten sie reprogrammiert werden. Cleos Vater hatte den Auftrag, die alten MI zusammenzusuchen, von ihrer ‚vorgetäuschten Menschlichkeit‘ zu befreien und sie wieder zu funktionalen Kampfmaschinen zu machen, die die neuen MI anführen können. Gleichzeitig sollte erforscht werden, wie sich ihre Kraft ohne Plasmodium steigern lässt, um möglichst schnell eine Armee wie damals die der Niffen auf die Beine zu stellen.“ Ignis atmet tief durch, auch ihm scheint das ganze nahe zu gehen. „Den Männern wurden alle persönlichen Sachen genommen – was wir in den Kisten gefunden haben wurde aufbewahrt, um später erforschen zu können, wie die MI sich als Menschen ‚getarnt‘ und angepasst haben und ob sich das zu Spionagezwecken nutzen lässt. Anscheinend hat da jemand nicht so ganz begriffen, dass er hier echte Menschen vor sich hat.“ Nun ist auch Ignis deutlich anzumerken, dass er gerne jemanden schütteln würde, möglicherweise den toten Mann im Büro. „Die angeblichen MI wurden daraufhin hier trainiert, mit dem Ziel, ihnen jedwede Individualität auszuprügeln und sie wieder zu reinen Kampfmaschinen zu machen. Ich möchte an der Stelle betonen, dass viele der Männer hier vorher noch nie eine Waffe gehalten haben.“ „Und jetzt sind alle tot… Warum? Weil der Mann gemerkt hat, dass er einen Fehler gemacht hat, und durchgedreht ist?“ Der Mann hatte nach Benzin gerochen, seine Kleidung war nass, verrußt und voller Blut… nicht nur dem seinen, „Also hat er alle hier umgebracht, und dann sich selbst erschossen?“ „So sieht es aus. Alle außer seinem Sohn, und…“ Ignis lächelt und hält mir eine Liste hin, auf der insgesamt dreißig Barcodes vermerkt sind. Außer einem sind alle durchgestrichen. Die fehlende Nummer geht mit N-iP01357 los, dem Code für die Scharfschützen. „Hier sind sechs Scharfschützen verzeichnet, gefunden habe ich nur fünf. Einer muss diesen Bunker vor dem Amoklauf verlassen haben.“ „Das ist Sanni!“, ruft der Junge, der bis jetzt geschwiegen hat, und greift sich die Liste. „Sunny?“, wiederholt Gladio perplex, „Wie kommt man auf Sunny?“ „Na, die MI wurden hier doch alle bei ihren Nummern angesprochen, und mussten die auch aufsagen. Die meisten haben es geschafft, aber Nummer Zero-Go-Kyu-Go-San-Ni-San-Yon ist immer durcheinander gekommen. Immer an derselben Stelle. Deswegen hab ich ihn Sanni genannt, Drei-Zwei. Dann konnte er sich die Nummer besser merken.“ „Und er ist entkommen?“ „Ja, er wollte unbedingt weg. Er hat nicht gesagt warum genau, nur, dass jemand auf ihn wartet, und dass er nach Hause muss.“ „Hat er dir je seinen richtigen Namen gesagt?“, frage ich hoffnungsvoll. „Nein, nur wenn er den Drillsergant angeschrien hat. Aber ich hab nichts verstanden, Sanni hat einen ziemlich starken Akzent. Den gleichen wie ihr.“ „Also ein lucischer Akzent, ja?“, Ignis Augen leuchten. Sicher berechnet er im Kopf schon die Chancen, wie wahrscheinlich es ist das dieser letzte überlebende Scharfschütze der unsere ist. „Weiß ich nicht genau. Sanni hat immer gesagt, dass er noch jemanden sehen muss, dass er hier raus muss, dass er keine Maschine ist. Sie haben ihm ganz doll wehgetan deswegen, aber er hat nicht aufgehört, sich zu wehren. Deswegen hab ich ihm gesagt, wie er die Ketten abmachen kann, und wo der Lüftungsschacht ist, durch den man hier vielleicht raus kann.“ „Kannst du uns diesen Lüftungsschacht zeigen, Cleo?“ Der Jung nickt und nimmt Ignis an die Hand. In einem Nebengang sind mehrere Kartons verstreut, als hätte sie jemand aufeinandergestapelt und dann umgeworfen. Direkt darüber steht ein Gitter offen, aus dem kalte Luft herabbläst. An dem Gitter klebt Blut. „Hier muss er raus sein“, überlegt Ignis, „Die Kisten sehen nicht sehr stabil aus, aber so abgemagert, wie Prompto zuletzt war, könnten sie ihn getragen haben. Oder jeden anderen leichten MI. War Sanni kräftig, Junge?“ „Nein, er war ganz dünn.“ „Er hat es in jedem Fall hier rauf und in den Schacht geschafft. Fürchte, für uns ist der Weg hier vorbei…“ „Für euch beide schon“, stimme ich zu, „Aber ich passe da durch, wenn Gladio mich hochhebt.“ Ich muss einfach Gewissheit haben, dass in dem Schacht keine Leiche liegt. Wenn dieser letzte Scharfschütze entkommen ist… dann ist noch nicht alles vorbei. Dann besteht noch Hoffnung, dass es in Wirklichkeit Prompto ist. Prompto, der mich unbedingt noch sehen wollte, bevor er stirbt. Der zu uns nach Hause wollte. Gladio nickt und hebt mich auf seine Schultern, Ignis steckt mir noch ein Gerät zu, das wie ein Barcodescanner aussieht. Die Decke ist weit oben, aber ich schaffe es, den Schacht zu erreichen. Es geht ziemlich gerade nach oben und die Wände sind glatt, aber die Blutspuren zeigen deutlich, dass der Aufstieg zu schaffen ist, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Ich stemme meine Hände auf beiden Seiten gegen das Metall und versuche mich hochzuziehen, aber es klappt nicht. „Geht es noch etwas höher, Gladio?“ Ich kann fühlen, wie Gladios Hände mich an den Knöcheln fassen und gewinne nochmal einen halben Meter. Das reicht, um einen Fuß in den Schacht zu bekommen und mich schließlich mit dem ganzen Körper einzustemmen. Jetzt kann ich klettern, eine Hand, einen Fuß nach dem Anderen, immer drei Glieder an der Wand und die Spannung halten. Nach etwa einem Meter macht der Schacht eine Kurve und ich komme wieder in die Waagrechte. Ich ziehe mein Handy heraus, wähle Gladios Nummer und schalte den Lautsprecher ein, um etwas wie ein Funkgerät zu haben. „Ich bin jetzt im Schacht“, gebe ich durch und stecke das Handy in meine Brusttasche, „Hier sind Blutspuren.“ „Der Scaner kann Fingerabdrücke einlesen, wenn du welche findest, die gut sichtbar sind“, erklärt Ignis am anderen Ende, „nützt uns nicht viel, weil wir von Prompto keine Vergleichsproben haben, aber wer weiß, was es später vielleicht bringt.“ Ich finde einen sehr deutlichen roten Abdruck einer rechten Hand und lese ihn mit dem Gerät ein. Der Scaner findet keine Übereinstimmung. Wer weiß, wenn wir irgendwo Abdrücke finden, die eindeutig von Prompto stammen, hilft uns das vielleicht noch. Fingerabdrücke sind selbst bei eineiigen Zwillingen nie ganz gleich, das sollte auch für MI gelten, die zwar künstlich, aber doch auf die gleiche Weise vervielfältigt wurden. Ich folge dem Weg weiter um eine Kurve und meine Hoffnung sinkt schon wieder ins Nichts. „Hier ist ein Ventilator“, funke ich, „Der Gang ist praktisch dicht.“ Unter anderen Umständen würde mir die frische Luft im Gesicht gut tun, jetzt aber sehe ich nur den versperrten Weg und die Blutspuren, die genau auf das Hindernis zugehen. Handabdrücke auf dem Boden… er muss gekrabbelt sein, am Ende seiner Kräfte. Aber eine Leiche liegt hier nicht. Vorsichtig nähere ich mich dem Rotor – zwischen den Blättern könnte ein Mann durchpassen, wenn er schnell ist und im richtigen Moment springt, aber dazu muss man wirklich verzweifelt sein. So verzweifelt wie jemand, der seine allerletzte Chance zur Flucht sieht. „Lässt sich die Lüftung abschalten?“, frage ich, „Ich glaube, er ist hier durch… ich muss sehen, ob er es geschafft hat.“ Der Gedanke, dass auf der anderen Seite des Rotors eine verstümmelte Leiche liegt, quält mich. Ich habe heute schon genug Elend gesehen… bitte, bitte lasst diesen letzten Mann entkommen sein. Und bitte… lasst es Prompto sein und macht, dass es ihm gut geht. „Lüftung ist aus“, informiert mich Gladio, und nur wenig später bleibt der Rotor stehen. Jetzt wo die Blätter sich nicht mehr drehen, sehe ich erst, wie viel Blut daran hängt… Blut und etwas, das wie ein großer Fetzen Haut aussieht. Ich teile den anderen meine Entdeckung mit und Ignis drängt mich, den Scaner auf das zu halten, was er wohl als ‚ausreichend große DNS Probe‘ betrachtet. Ich gehorche. Die DNS stimmt zu siebenundneunzig Prozent mit der von Prompto überein. „Sehr gut“, meint Ignis, „Das ist die höchste Quote, die wir unter den Umständen erwarten konnten. Alles über fünfundneunizig Prozent ist im Grunde eine volle Übereinstimmung.“ „Also könnte es Prompto sein?“, frage ich hoffnungsvoll und schlüpfe zischen den Rotorblättern durch. Hier ist die Blutspur noch deutlicher, es ist klar zu sehen, dass der Mann verletzt ist. Wo ich vorher noch Handabdrücken und verschmiertem Blut gefolgt bin sind hier nun deutliche Tropfen zu sehen, teilweise aus größerer Höhe auf den Boden gefallen. Das Blut ist schon getrocknet… sicher ist es längst ein paar Stunden her, dass derjenige von hier entkommen ist. Zu meinem Entsetzen stehen noch zwei weitere Rotoren im Weg, auch hier klebt an den Flügeln Blut, wenn auch kein Fleisch mehr. Er muss besser geworden sein darin einzuschätzen, wann er springen muss. Ein kurzes Stück weiter muss ich noch einmal direkt nach oben klettern, hier sind die Blutspuren am deutlichsten. Ein letzter Ventilator, dann endlich Sonnenlicht. Ich stehe auf dem Dach des Bunkers. Mein Herz schlägt schnell und heftig, als ich den Blutspuren bis an den Rand des Daches folge, wo sie plötzlich aufhören. Hier muss er gesprungen sein… es ist nicht zu tief, das kann man schon mal überleben, aber unten hören die Spuren einfach auf. Ein paar Spritzer Blut und die Hufspuren einer Herde Mesmerize, wenn ich das richtig deute. Ich rufe Ignis und Gladio zu mir, aber auch mit vereinten Kräften können wir die Fährte nicht mehr aufnehmen. „Können wir nicht nochmal Umbra um Hilfe bitten?“, fragt Gladio verzweifelt. Ich schüttle den Kopf. „Er ist kein Spürhund, weißt du? Das letzte Mal war Glück, er hat Prompto gefunden, weil Pyrna bei ihm war und ihn gerufen hat. Es sind beides Lunas Hunde… nein, Emissäre der Götter. Ihre Macht hat Grenzen.“ Und Fährtenlesen gehört ganz sicher nicht zu den Aufgaben, die die Götter Umbra auferlegt haben. „Wie war das noch mit dem Scanen von Barcodes?“, fällt mir ein, „Wenn er in die Nähe eines Lesegeräts käme, könnten wir ihn dann orten?“ „Schwierig“, gibt Ignis zu, „das Equipment füllt da drin einen ganzen Raum und ist außerdem zerstört. Niflheim könnte uns vielleicht aushelfen, aber ich weiß nicht, ob wir dort um Hilfe bitten wollen. Nein, ich denke, es ist einfacher, ein paar Gleven loszuschicken. Verletzt wie er ist dürfte er nicht weit gekommen sein… wilde Mesmerize sind zahm genug, auf ihrem Rücken zu reiten, aber es sind keine Chocobos. Sie entfernen sich nicht von ihren Weidegründen und lassen sich nicht nach Belieben lenken. Er wird die Herde in Aufruhr versetzt haben, um möglichst viel Abstand zur Basis zu gewinnen. Dann ist er irgendwo abgesprungen und schlägt sich jetzt sicher zu Fuß durch. Ich werde ein paar Suchtrupps losschicken. Wenn es Prompto ist, den wir suchen – und da bin ich mir zu fast achtzig Prozent sicher – wird er sich tendenziell Richtung Insomnia bewegen.“ Ich nicke. Achtzig Prozent sind viel, oder? Wer, wenn nicht Prompto, wäre so entschlossen zu entkommen, dass er all das auf sich nimmt? Die Gleven werden ihn finden, und sie werden ihn sicher zu mir zurück bringen. Ganz bestimmt… und hoffentlich bald. Kapitel 9: Die letzten Meter (MI N-iP01357/05953234) ---------------------------------------------------- Nach Hause. Ich muss nach Hause. Meine Freunde warten auf mich. Ich weiß kaum noch wirklich, wer ich eigentlich bin, aber dieses Gefühl treibt mich vorwärts. Noch einmal raffe ich mich auf, knote das zerrissene Hemd fester um meinen schmerzenden Arm und schleppe mich weiter. Ein Auto, das wär’s jetzt. Zu Fuß ist es so weit… Dabei bin ich schon so weit gekommen. Eine Weile dachte ich fast, ich wäre bald zu Hause… jetzt habe ich gar nichts mehr. Keinen Namen, keine Waffen, nichts. Nur die zerrissene Uniform, die man mir gegeben hat, und eine Nummer. Selbst meine Erinnerungen verblassen. Einzig der Gedanke, dass da noch jemand ist, der mich vielleicht sehen will, jemand, dem ich wichtig bin, treibt mich vorwärts. An diesen Gedanken halte ich mich. Er trägt mich, wenn meine Füße es längst nicht mehr tun. Nach Hause… Zu meinen Freunden. Mein Arm tut weh. Mir ist heiß. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch auf den Beinen halten kann. Hinter einem Felsen finde ich etwas Schatten, ein wenig Schutz vor der Sonne, die unbarmherzig auf meine nackten Schultern brennt. Das Hemd, mit dem ich meinen Arm verbunden habe, ist schon ganz nass vor Blut. Mir ist kalt, dann wieder heiß, und unruhige Schatten tanzen vor meinen Augen. Ich muss durchhalten… nur noch ein bisschen. Ein Schritt nach dem anderen. Ich kann ein Auto heranfahren hören. Es muss etwas größeres sein, vielleicht ein Lastwagen. Erst denke ich, er fährt vorbei, aber dann wird der Motor leiser, Bremsen quietschen, und der Schatten eines Wohnmobils fällt auf mich. Stimmen, Bewegung, eine Gestalt beugt sich über mich. Halblange, schwarze Haare, helle Augen. Etwa so groß wie ich. „Glaubst du, das ist er?“, die Stimme einer Frau. Irgendwie bin ich enttäuscht… hatte ich in der Silhouette jemand anderen erwartet? Schlanke Hände berühren mein Gesicht, meine Schultern. Nehmen schließlich meinen unverletzten Arm hoch. „Da, das muss der Barcode sein. Das ist er.“ Eine Männerstimme brummt im Hintergrund. Unwirsch, abweisend. „Müssen wir ihn mitnehmen?“ „Du kennst unsere Befehle“, fährt die Frau ihn unwirsch an, „Der König will, dass wir den MI zu ihm bringen. Lebend und so gesund wie nur irgendwie möglich.“ Der Mann gibt ein wütendes Schnauben von sich, die Silhouette der Frau beugt sich wieder über mich. Ich kann das Klirren und Brechen von Glas hören, dann ergießt sich der Inhalt einer Heiltrankampulle über meinen Arm. Fast kann ich spüren, wie die Haut sich wieder zusammenfügt. Ich fühle mich etwas besser, kann die Frau vor mir erkennen. Sie ist jung, kaum dem Teenageralter entwachsen, und sieht freundlich aus. „Kannst du mich verstehen?“, fragt sie und legt die Hand auf meine Stirn, als wollte sie meine Temperatur messen, „Wie heißt du?“ Die Frage bewegt etwas in mir. Angst. „I-ich… MI N-iP Null eins drei fünf sieben, Scharfschütze“, antworte ich mit zitternder Stimme, „Seriennummer null fünf neun fünf zw…nein, drei zwei… den Rest hab ich vergessen.“ Ich bilde mir ein ich könnte den verdienten Stromschlag schon spüren, aber er kommt nicht. Die Frau über mir lächelt. „Du bist Sanni, richtig? Darf ich dich Sanni nennen? Mein Name ist Nora.“ „No…“ einen Moment lang rührt sich etwas in meiner Erinnerung, aber der Gedanke verfliegt, bevor ich ihn greifen kann. „Nora. Kannst du Nora sagen?“ Ich kann nicht. Ich kann die Frau nur mit offenen Augen anstarren. Sie erinnert mich an jemanden… einen meiner Freunde? Ich muss nach Hause. Ich muss weiter gehen. „Vergiss es, Nora, er ist nur eine dumme Maschine.“ Ich rapple mich hoch, versuche zu stehen. Das nasse Hemd rutscht von meinem Arm, es fühlt sich schwer und klebrig an. Mir ist immer noch schwindelig, abwechselnd heiß und kalt, und ich bin verwirrt. „Hey, bleib hier! Du hast Fieber…“, Nora hält mich fest, zieht mich zurück. Ich will mich wehren, muss nach Hause… aber ihre Hände sind sanft. „Komm her, Sanni. Komm mit uns, wir kümmern uns um dich.“ „Ich will ihn nicht in meinem Wohnmobil haben.“ „Wir haben Befehle, Callus. Den MI finden und gesund nach Insomnia zum König bringen. Soll er in seinem Zustand etwa laufen? Wenn ich mich recht erinnere lautete der Befehl sogar, wir sollen den MI wie einen Freund behandeln.“ König. Irgendwas sagt mir das. Der König will, dass man mich zu ihm bringt. Sollte mir das Angst machen? Irgendwie tut es das nicht. Nora und ihr böser Freund tragen Uniformen, die mir bekannt vorkommen. Dunkel, aus edlem Stoff. Es gibt einen Namen dazu, aber er fällt mir nicht ein. Es hat etwas mit dem König zu tun… und der langen Nacht. Aber vor allem mit dem König, das ist wichtig. Der König ist wichtig. Nora will mich zu ihm bringen… ich glaube, ich will das auch. Zum König, der zu den schönen Uniformen gehört. Dem König des Lichts. Er hat einen Namen… ich glaube ich kenne seinen Namen, aber er fällt mir nicht ein. Ich will nur zu ihm. Letztendlich gibt Callus klein bei und erlaubt Nora, mich in den Wohnwagen zu schieben. Dort gibt es ein Bett… nichts Luxuriöses, einfach ein kleines Campingbett in einem Wohnwagen. So habe ich oft geschlafen, glaube ich. Es ist warm und trocken, und es riecht gut. Ich kenne diesen Geruch, er erinnert mich an zu Hause. „Den Dreck machst du dann weg“, beschwert sich Callus. „Ja, mach ich. Wir kaufen ihm an der nächsten Tankstelle neue Klamotten. Vielleicht können wir da auch endlich wieder im Motel schlafen, mit einer richtigen Dusche und allem!“ „Was hast du gegen meinen Wohnwagen?“ Der Streit klingt auch ein bisschen nach zu Hause. Meine Sprache, meine Uniform, meine Heimat. Fast schon zu Hause… hier kann ich endlich etwas schlafen, ohne Angst. So wie früher bei meinen Freunden. „Mecker du ruhig weiter, ich rufe jetzt jedenfalls Monica an“, seufzt Nora schließlich, „Und sag ihr, dass wir den MI gefunden haben. Sie wird sicher bestätigen, dass ich recht habe und wir nett zu ihm sein sollen.“ „Und ich halte ihn immer noch für gefährlich.“ Ich bin zu schwach und zu müde, mich in den Streit einzumischen. Das Bett ist weich und warm und es ist nur zu einfach, die Augen zu schließen und für den Moment einfach nur das Gefühl zu genießen, ganz nah an zu Hause zu sein. Als ich wieder aufwache habe ich einen Moment lang das schreckliche Gefühl, wieder ans Bett gefesselt zu sein, doch es sind nur die Gurte, die mich während der Fahrt halten sollen. Trotzdem schnalle ich mich panisch ab und falle unsanft auf den Boden des ruckelnden Fahrzeugs. „Woah, Vorsicht, Sanni!“, mahnt Nora. Auch sie schnallt sich ab und kommt von der Fahrerkabine nach hinten. Ich weiche ihren Versuchen, mich zu fassen, erschrocken aus bis ihre beruhigenden Worte in mein Gehirn vordringen. Alles okay. Dir passiert nichts. Wir passen auf dich auf. „Ich bin eine Freundin, Sanni. Ich tu dir nichts.“ Freundin… bis gestern kannte ich Nora nicht, aber sie ist nett zu mir. Es ist nicht dasselbe… nicht die Art Freundschaft, die mich am Leben hält und nach Hause treibt. Aber es ist etwas Gutes. Ich halte still und lasse zu, dass Nora mich in einen der Sitze neben dem Seitenfenster bugsiert und dort anschnallt. Sie selbst setzt sich mir gegenüber und legt ebenfalls den Gurt an. „Siehst du? Gar nicht schlimm“, beruhigt sie mich und lächelt. „Wir sind bald in Hammerhead, da kaufen wir dir neue Kleidung. Unser Wohnmobil ist leider nicht so schnell wie die Autos der anderen Gleven, aber Callus will sich einfach nicht von dem alten Ding trennen, weißt du? Ich glaube, er hat ein bisschen Angst vor allem, was neuer ist als sein Kopf.“ „Hey, hast du mich gerade alt genannt?!“ „Nein, ich hab nur gesagt, dass du zu alt bist, dich an neue Sachen zu gewöhnen. Wie alt bist du eigentlich, Sanni?“ Ich blicke Nora nur an. Ich… verstehe ihre Wörter gut, auch ihre Frage, aber ich weiß nicht, wie ich darauf antworten soll. Wer ich eigentlich bin. Was soll ich auch sagen? Ich bin nur eine Nummer, einer von vielen MI. Wie alt bin ich? Keine Ahnung. Wie heiße ich? Wenn du mich Sanni nennst, wird das wohl mein Name sein. Kann ich mir besser merken als die Nummer. „Na, sehr gesprächig bist du ja nicht. Aber wirst sehen, sobald wir in Hammerhead sind, bekommst du erstmal eine gründliche Dusche, Medizin gegen das Fieber und was Schönes zum Anziehen. Die haben da ein tolles neues Klamottenlabel gebaut, hast du das schon mal gesehen? Voll süß die Sachen da, und ich brauch unbedingt so einen Mogry-Pulli. Magst du Mogrys? Oder lieber Chocobos?“ Chocobos… ich glaube, ich mag Chocobos. Aber ich erinnere mich kaum. „Ja, du bist glaube ich mehr so der Chocobo-typ. Das Gelb passt sicher auch gut zu deinen Haaren. So ein schönes Blond, wenn man sich den Dreck mal wegdenkt.“ Ja, blond bin ich. Das weiß ich… genau wie all die anderen Nummern. Blonde Haare, blaue Augen, alle das gleiche Gesicht. Alle aus Reagenzgläsern geboren und in Tanks hochgezogen. Oder? Oder hatte ich doch noch ein anderes Leben? Freunde… ich weiß, dass ich Freunde hatte. Irgendwas in mir wehrt sich gegen den Gedanken, nur eine Maschine zu sein. Das bin ich nicht, ich bin ein Mensch… ich will ein Mensch sein, keine Nummer. Ich hatte auch mal einen Namen. Einen richtigen Namen. Der Wohnwagen kommt stotternd zum Stehen, der Wohn und Schlafraum schwankt gefährlich, als es um die Kurve in den Parkplatz geht. Einen Moment bleiben wir noch sitzen, dann schnallt Nora mich ab und führt mich nach draußen. Die Sonne blendet mich, ich muss die Hand heben, um mich zu schützen und schäme mich gleichzeitig dafür, dass man so meinen Barcode sieht. Sieht, was ich bin. „Du kommst erstmal mit mir.“ Die grobe Stimme erschreckt mich, mehr noch, wie rücksichtslos Callus meinen Arm packt. Trotzdem falle ich einfach in den Trott, lasse mich fügsam mitziehen, um weitere Schmerzen zu vermeiden. Der Mann ist groß, breitschultrig, und nur wenig älter als Nora. Seine Haare und Augen sind dunkel, sein Gesicht hart wie Stein. Er macht mir Angst, aber ich wage nicht, mich zu wehren, als er mich in die Waschräume neben der Tankstelle zieht und mir den Rest meiner erbärmlichen Kleidung herunterreißt. Die Wunde an meinem Arm ist verheilt, ebenso die Fesselspuren an meinen Handgelenken und Knöcheln, aber noch sind tiefe Narben zu sehen. Das einzige, was mal wieder unversehrt geblieben ist, ist dieser blöde Barcode… als Kind habe ich mal versucht, ihn mit einem Schürhaken raus zu brennen, aber das hat nichts gebracht außer einem langen Aufenthalt im Krankenhaus. Der Code ist unversehrt, unzerstörbar. Ein ewiges Zeichen dafür, was ich bin. Das Wasser ist kalt, als Callus die Dusche über mir anstellt, und ich schreie erschrocken auf, versuche, mich in die Ecke zu verkriechen, aber er hält mich fest. Zitternd bleibe ich stehen, wo er mich haben will, kneife fest die Augen zusammen und wappne mich gegen den Schmerz. Callus ist grob, aber… aber es ist weniger schlimm, als ich befürchtet habe. „Weiß nicht, was der König mit dir vorhat“, schimpft er, während er mich grob abschrubbt. Die Seife brennt in meinen Augen, aber ich wage es nicht, mich zu beschweren. „Ihr MI habt genug Schaden angerichtet, ich will keinen von euch in meiner Stadt haben. Wie einen Freund behandeln… pah, du bist nicht mal ein Mensch!“ Ich wimmere leise, widerspreche aber nicht. Nein, ich bin kein Mensch. Ich bin ein künstliches Wesen, das jemand im Labor geschaffen hat. Eine Kampfmaschine, oder ein Zuchtgefäß für Plasmodien… ein geborener Soldat und Siecher. Ich sehe nur aus wie ein Mensch. Atme, Esse und fühle wie ein Mensch. Aber eigentlich bin ich nur eine Kreatur, die unter den Menschen nichts verloren hat. Warum habe ich Freunde? Ich habe doch Freunde, oder? Denn wenn nicht… wofür kämpfe ich dann? Für mich selbst etwa? Mein eigenes Leben? Nein, das ist es nicht… ich bin nichts, wofür man kämpft. Freunde… für meine Freunde. Dafür bin ich noch am Leben. Meine Augen brennen, ob vor Tränen oder wegen der Seife weiß ich nicht. Callus reibt mich grob mit einem Handtuch trocken und zieht ein Messer aus der Tasche. „Halt still“, befiehlt er, und ich schließe vor Angst die Augen. Zu scharf, zu nah… viel zu nah an meinem Gesicht. Aber es tut nicht weh. Als er die Klinge wieder wegnimmt, schubst Callus mich vor einen Spiegel. „So, jetzt siehst du wenigstens aus wie ein Mensch. Zufrieden? Ich mag die Befehle meines Königs nicht gut heißen, aber ich achte sie.“ So ruhig wie er sich jetzt präsentiert sieht der Callus im Spiegel gar nicht mehr so böse aus. Grimmig, vielleicht, und sehr ernst, aber nicht mehr böse. Mein eigenes Gesicht ist auch leichter. Der stoppelige Bart der letzten Tage ist weg, auch meine Haare sind wieder gekämmt und sauber geschnitten. Hat er das wirklich alles nur mit seinem Jagdmesser gemacht? Okay, ein bisschen gruselig ist der Mann schon. „Bin fertig, ihr auch?“ Noras Stimme ist ausgelassen und fröhlich, und ich kann nur entsetzt schauen, als sie einfach ins Bad platzt. Ich habe absolut nichts an! „Hey, gut siehst du aus! So schön sauber! Hier, ich hab dir was zum Anziehen gekauft. Ich wusste deine Kleidergröße nicht, aber da du ungefähr so groß bist wie ich, dachte ich, wird dir das hier passen. Probier mal an!“ Nora selbst trägt einen dicken weißen Pulli mit Mogryaufnäher über ihrer Uniform. Einen ähnlichen hat sie für mich mitgebracht, aber in Gelb mit einem Chocobo darauf. Der Aufnäher ist aus einem anderen Stoff und fühlt sich weich an wie echte Chocobo Federn. Ich halte den Pulli in der Hand und starre den Rest der Kleidung an, für den Moment mit der ganzen Situation überfordert. Callus stöhnt und verdreht die Augen. „Nora – raus“, befiehlt er und schiebt seine Freundin aus dem öffentlichen Bad, „Und du komm her, MI.“ Er packt mich am Oberarm und zieht mich auf die Füße, bis ich taumelnd zum Stehen komme, nimmt mir den Pulli weg und zieht stattdessen eine Packung bedruckter Unterhosen aus der Einkaufstüte. Ich kann Nora vor der Tür schimpfen hören, kann mich aber nicht auf ihre Worte konzentrieren. Immerhin muss ich irgendwie die Balance finden, in die Boxershorts zu steigen, und Callus ungeduldige Hilfestellung macht es mir nicht leichter. Die Jeans anzuziehen ist auch nicht gerade leicht, der Stoff ist schwer und steif, ich glaube, normal trage ich eher andere Kleidung. Solche, in der man sich bewegen kann… Mit den Hosen ist aber schon das schwerste geschafft, ein T-Shirt und den Pulli zieht Callus mir einfach so über, ohne dass ich viel mitmachen muss, und Socken und Schuhe darf ich mir schließlich allein anziehen, als wir wieder im trockenen Vorraum sind. Meine Hände zittern, und ich bin froh, nach draußen zu kommen und mich wieder an Nora halten zu können. „Oh, du siehst voll süß aus!“, quietscht sie und umarmt mich. Ich fahre erschrocken zusammen, die Berührung bin ich nicht mehr gewohnt. Aber ich war es mal, fällt mir ein, als sie mich weiter festhält, es war mal normal, so von anderen Menschen berührt zu werden. Liebevoll, und ganz selbstverständlich. Freunde… ja ich hatte ganz sicher Freunde. „Der Pulli steht dir voll. Und ohne den Bart siehst du viel jünger aus!“ Nora packt die Kapuze meines neuen Pullis und zieht sie mir kichernd über den Kopf. Ich wehre mich nicht dagegen, im Gegenteil. Ich fühle mich sogar irgendwie ein bisschen glücklich. „Komm, lass uns shoppen gehen“, schlägt Nora vor und nimmt mich wieder an der Hand. Die Ärmel des Pullis sind so lang, dass der Barcode darunter versteckt ist, so fühle ich mich gleich wohler. „Warst du nicht gerade shoppen?“, fragt Callus aufgebracht und deutet auf noch viel mehr Tüten mit bunter Kleidung, die jetzt wohl er in den Wohnwagen räumen muss, weil Nora mich gerade in die Tankstelle zieht. „Sind doch nur Klamotten!“, ruft sie ihm zu, „Wir brauchen auch wieder Heilmittel. Und Zeug! Was die hier alles haben!“ Sie lässt meine Hand los um in Ruhe stöbern zu können und ich stehe etwas verloren herum. Diese Tankstelle… hier war ich schon mal. Viele Male. Fast wie von selbst zieht es mich zu einem ganz bestimmten Regal. In der Vitrine darüber sind Kameras ausgestellt, teure Kameras mit großen Objektiven. Auch eine brandneue LOKTON LX-X1R… so eine wollte ich immer schon mal haben. Das Preisschild allerdings… puh. Keine Chance. „Ich bin fertig~ was schaust du da, Sanni? Gefallen dir die Kameras?“ Ich blicke Nora an, unschlüssig, wie ich reagieren soll. Sie wirkt immer so fröhlich und munter… so wäre ich auch gern. Wieder fällt mein Blick auf die teure Kamera. „Magst du eine? Die große da ist ja echt teuer… Aber so eine kann ich dir kaufen“, sagt Nora und deutet auf ein günstigeres Modell. Auch von LOKTON, aber kleiner und eher so für einfache Schnappschüsse gedacht als für ernsthafte Fotografie. Trotzdem… trotzdem nicke ich. Der Preis jedenfalls ist deutlich attraktiver. „Gefällt dir auch, ja? Dann komm!“ Und so einfach zieht sie mich vor zum Schalter und drückt mir nur ein paar Minuten später die neue Kamera in die Hand. Das Modell ist super leicht und handlich, gerade recht bei meinem aktuell miesen Trainingsstand. Sie löst schnell aus und die Bildqualität ist, zumindest in der besten Auflösung, gar nicht mal übel. Ich schieße ein paar Fotos von der Katze unter dem Auto neben uns, während Nora sich wieder mit Callus streitet. Ich bin… irgendwie glücklich. Erst recht, als sich die Katze unter dem Auto hervortraut und mir auf den Schoß springt. Ich mache schnell ein Selfie mit dem hübschen Tier, bevor der fremde Autofahrer uns beide verscheucht. Anscheinend ist sein Tank schneller voll als der unsere… oder es gibt ein anderes Problem. „Ganz ehrlich, du gehst hier lustig shoppen, kaufst dem MI noch ne Kamera und lässt ihn hier unbeaufsichtigt rumrennen, und ich darf wieder alles allein machen!“, beschwert sich Callus und stemmt die Motorhaube seines Wohnmobils auf. Dichter Rauch dringt hervor und bringt ihn zum Husten. Ich blicke ihm über die Schulter, die neue Kamera sicher in ihrem Holster an meinem Gürtel verstaut, und sehe sofort, wo das Problem liegt: Irgendwer hat das arme Auto beschossen, und mindestens eine der Kugeln hat den Schlauch für das Kühlwasser getroffen. „Hätte schlimmer kommen können“, meint Nora, „Immerhin sind wir hier in Hammerhead, die haben die beste Werkstatt in ganz Lucis.“ „Ja, wenn sie nicht gerade zu wäre, jedenfalls!“ Schade. Irgendwie hatte mich die Erwähnung der Werkstatt gefreut, als wäre da etwas, oder jemand, der mir wichtig ist. Aber Callus hat Recht, das Rolltor ist heruntergelassen, die Notiz spricht von Urlaub. Ich weiß, dass der alte Besitzer Cid hieß und letztes Jahr gestorben ist. Den Laden leitet jetzt seine Enkeltochter Cidney, und ich glaube sie ist es, die ich kenne. Sicher würde mir mehr einfallen, wenn ich sie sehen würde… Noch fällt es mir schwer, meine Gedanken und Erinnerungen zu sortieren. „Aus persönlichen Gründen geschlossen“ steht auf dem Schild. Der Zettel riecht gut, die Handschrift ist mir vertraut. Ich überlasse Callus und Nora ihrem Streit, lege vorsichtig meinen neuen Pulli ins Wohnmobil zurück, rolle die Ärmel meines T-Shirts nach oben und fische in der Ersatzteil- und Werkzeugkiste, die Callus aufgebaut hat, einen neuen Schlauch heraus. Die Montage ist super einfach bei dem alten Fahrzeug, nur den kaputten Schlauch raus, den neuen rein, sichergehen, dass alles bombenfest sitzt, Kühlwasser nachfüllen, nochmal prüfen ob alles dicht hält, Motor starten. Läuft. Der Motor raucht nicht mehr, der Schlaucht tropft nicht mehr. Dafür kommt Callus auf mich zu und zieht mich fluchend vom Fahrersitz. „Was soll der Scheiß?!“ Ich halte vor Schreck die Luft an, mache mich auf das Schlimmste gefasst. „Hey, ich glaub, er hat den Wagen repariert!“, rettet mich Nora, „Sieh mal!“ Callus hält mich immer noch fest, seine Hand wie einen Schraubstock um meinen schmerzenden Arm zugezogen. Aber er sieht sich den Motorraum an, beißt die Zähne zusammen, brummt anerkennend und lässt mich endlich los. „Geh dich nochmal wachen“, weist er mich an, „und du, Nora, sieh zu dass er dir nicht abhaut. In einer Viertelstunde fahren wir weiter.“ Ich bin froh, dem wütenden Mann einen Augenblick zu entgehen, und lasse mich von Nora zum Bad bringen. Sie ist deutlich netter als er… und sie lässt zu, dass ich mich selbst wasche, auch, wenn ich dafür etwas länger brauche. „Du bist ja richtig geschickt!“, lobt sie, „Und die Fotos, die du gemacht hast, sind so süß! Machst du eines von uns beiden zusammen? Ich kann die Daten auf mein Handy ziehen und dem König schicken, dann weiß er, dass wir dich gefunden haben. Vielleicht freut er sich dann?“ Ich lächle. Es fühlt sich komisch an, weil es schon so lange her ist, aber gleichzeitig irgendwie gut. Ich trockne meine frisch gewaschenen Arme ab, ziehe Nora zu mir und mache ein Foto, wie sie es wollte. Diesmal stört es mich nicht, dass mein Barcode darauf zu sehen ist… schließlich wollte der König, dass man mich holt. Schadet nicht, wenn er gleich prüfen kann, ob ich der richtige MI bin. Die richtige Nummer… Nora jedenfalls freut sich sehr, als ich ihr das Foto zeige. „Wir müssen noch eines machen, wenn du auch deinen Pulli an hast!“, fordert sie, „Dann sind wir im Partnerlook! Das wäre toll. Weißt du, Callus ist schon ein netter Kerl, wenn man ihn erstmal kennt, aber er hat einfach keinen Humor. Also so richtig gar nicht, den hat er sich echt mal rauslasern lassen, glaube ich… Du bist eher jemand, mit dem man Spaß haben kann. Und das, obwohl du sogar älter bist als er!“ Ich erlaube mir, mich ein bisschen von der guten Laune anstecken zu lassen. Zumindest, bis wir wieder im Wohnwagen und im Einflussbereich von Callus‘ zorniger Aura sind. Trotzdem ziehe ich mir den Pulli wieder an und mache noch ein paar Selfies mit Nora, weil sie sich so darüber freut. Zumindest, bis Callus hinter kommt, uns zusammenfaltet, weil wir immer noch nicht angeschnallt sind und uns zwingt, brav auf den Sitzen Platz zu nehmen und da zu bleiben bis zum nächsten Halt. Eine Weile starren wir beide uns still an und versuchen, brav ernst zu bleiben, dann fängt Nora an zu kichern und ich kann nicht anders, als mitzumachen. Callus ist so ein Griesgram… aber Nora hat Recht, bestimmt ist er trotzdem ganz nett. Es ist schön, wieder mit Freunden unterwegs zu sein, so wie früher. Früher… ich erinnere mich an ein edles Cabrio, fast immer mit offenem Dach. An den Wind in meinen Haaren und die drei Männer, die mit mir reisen. Noch ist das Bild sehr unscharf, ohne Namen und Gesichter, aber ich erinnere mich an das Gefühl… das Gefühl, nicht allein zu sein. Das Gefühl, glücklich zu sein, dazu zu gehören. Vertrauen… und Liebe. Ich will diese Freunde wiedersehen. Diese drei… meine besten Freunde. Sie warten auf mich, das spüre ich ganz deutlich. Kapitel 10: Unten am Wasser (Sanni) ----------------------------------- Es regnet. Meine Haare sind nass, mir ist kalt und langweilig. Seufzend spiele ich mit den Filtern meiner neuen Kamera, versuche die richtigen Einstellungen zu finden, um im schwindenden Licht noch gute Fotos zu machen. Hier zeigt sich nun doch der Preisunterschied zu meiner alten LOKTON… das Menü ist eher für den Familienvater im Urlaub ausgelegt als für jemanden, der Ahnung von Verschlusszeit und Belichtungszeit hat. Wir sitzen unter dem ehemaligen niflheimer Kontrollpunkt am Crestholm-Reservoir und Nora hält seit Stunden eine alte Angel ins Wasser. Nicht, dass ich daran zweifeln würde, dass es hier Fische gibt – ich weiß, dass man hier ganz anständig angeln kann, sitze auch nicht zum ersten Mal hier und langweile mich zu Tode. Aber Nora fehlt einfach das Talent oder die Geduld, hier einen Fisch an Land zu ziehen, und langsam habe ich echt Hunger. „Ich hab einen!“ Als sie endlich jubelnd einen Fisch herauszieht, ist es ein winziger Blaukiemling. Ich mache trotzdem ein Foto, und in mir steigen Gefühle auf, die ich nicht zuordnen kann. „Toll, und wie sollen wir drei davon satt werden?“, beschwert sich Callus, „Wir hätten doch in Hammerhead etwas zu Essen kaufen sollen, aber nein, Madamme wollte ja unbedingt Fisch.“ Ich ziehe die Knie an die Brust. Zitternd, aber nicht vor Kälte, vergrabe ich das Gesicht in meinen Armen. Tränen kämpfen sich nach oben, und einen Moment weiß ich nicht, warum ich weine. „Hey, wir haben doch Fisch! Schau mal, der ist doch toll! Und da sind noch viel mehr drin, du hast nur keine Geduld.“ Noras Rücken vor mir auf dem Steg. Ihre halblangen schwarzen Haare in der untergehenden Sonne, das Geräusch der Angelschnur, wenn sie den Köder auswirft. Diese Silhouette mit dem schwarzen Mantel vor dem Wasser, am Steg, immer von hinten. Immer dasselbe Motiv zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Gewässern. Mal ein Fluss, mal ein See, sogar mal am Meer. „Geduld? Ich habe hier seit drei Stunden den Grill an und alles was wir haben ist ein einziger Fisch, und der ist was, zwanzig Zentimeter lang?“ Fische, große und kleine. Vom winzigen Blaukiemling bis hoch zum Albtraum der Angler am Galdin-Kai. Er hat alles gefangen… und er hat sich immer so gefreut. Dieses ausgelassene Lächeln, nur einen Sekundenbruchteil lang, wann immer er einen besonders großen oder seltenen Fisch herausgezogen hat. So hat er sonst nie gelacht… ich habe es insgesamt ein oder zwei Mal geschafft diesen Moment mit der Kamera einzufangen, in all der Zeit, die ich am Steg darauf gewartet habe. Vielleicht hätte ich weniger Kings Knight zocken sollen, aber es dauert einfach immer so lang… „Meine Güte, dann fang ich halt noch einen“, schimpft Nora und stapft wieder an mir vorbei, um die Angel auszuwerfen. Die Schnur surrt, der Köder fliegt und fällt platschend ins Wasser. Viel zu grob, viel zu ungeduldig. Ich schluchze. Langsam kommt alles wieder hoch. Die vielen Stunden, die ich an allen möglichen Angelstegen auf dem ganzen östlichen Kontinent gestanden und mich gelangweilt habe. Ihn beobachtet und fotografiert habe, wie er da steht, die schmalen Schultern entspannt, aber immer aufmerksam, geduldig. Ich blicke durch den Schleier von Tränen auf zu Nora. Sie ist genauso groß wie er, und ihre Glevenuniform flattert genauso im Wind wie seine alte Jacke. Tausend Stunden Langeweile, und ich wünsche sie mir alle zurück. Einfach nur dumm auf einem Steg herumsitzen und auf diesen winzigen Moment warten, wenn der Fisch aus dem Wasser kommt und ich dieses Lächeln sehen kann. Ein winziger Moment des Glücks in einer Zeit, in der es sonst nicht viel Freude gibt. Dazu der Geruch der Grillkohle, das Knistern des Feuers, der Geruch von gebratenem Gemüse, zu dem sich bald der des Fischs gesellt. Tee aus leichten Alutassen, bequeme Campingstühle, die Wärme des Feuers. Einfach zusammensitzen und die Fotos ansehen, die ich den ganzen Tag geschossen habe, essen, lachen, plaudern bis wir alle ins Zelt kriechen. Ich will wieder dorthin zurück… zurück zu meinen Freunden. Ich vermisse sie. „Hey.“ Eine Hand auf meiner Schulter, ich blicke erschrocken auf. Callus steht über mir, seine dunklen Augen haben mich fest im Blick. „Was ist los, tut dir der arme Fisch leid?“ Ich schüttle schnell den Kopf. Wische die Tränen ab und versuche, mich wieder zusammenreißen. Ich bin doch schon fast da… nur noch einmal schlafen, noch ein paar Kilometer fahren und wir sind zurück in Insomnia. Zu Hause. Bei meinen Freunden. Hoffentlich… nein, bestimmt warten sie da auf mich. „Wieso tust du das? Wieso die Tränen? Du bist nicht mal ein Mensch.“ Ich wende den Blick ab von Callus und starre stattdessen auf meinen Barcode. Nicht mal ein Mensch… aber meinen Freunden war das egal. Ich erinnere mich… an die freundlichen Hände auf meinen Schultern, an liebe Worte, den Zusammenhalt unserer Gruppe. Dort unten, tief in Niflheim, am dunkelsten Ort der Welt. Auch damals hatte ich frische Fesselspuren an den Händen. Aber die Schmerzen waren egal. Weil meine Freunde gekommen sind, um mich zu retten. Obwohl ich nur ein MI bin. Obwohl ich geschaffen wurde, um das Land zu vernichten, das meine Freunde beschützen. Ich war einer von ihnen, egal was. Und sie haben mich bis zuletzt als einen der Ihren behandelt. Gladio wird so sauer sein, wenn er sieht, was mit seinem Zelt passiert ist… „Du weinst ja echt, was?“ Callus seufzt tief. „Komm, setzen wir uns rein. Hab keine Lust mich zu erkälten, nur weil Nora bis zum Sonnenaufgang versucht, unser Abendessen zu fangen.“ Er zieht mich grob am Arm hoch und schiebt mich zurück zum Wohnwagen. Unter der provisorischen Veranda stehen drei Stühle, davor ein Grill, gerade so geschützt vor dem Regen. Der Blaukiemling hängt auf einen Stock aufgespießt darüber. Ignis hätte es anders gemacht, aber ich sollte mich nicht beschweren. Ich kann Fisch ja nicht mal richtig zubereiten, wenn er schon fertig aus der Dose kommt. Callus lässt sich schwer in einen der Stühle sinken und starrt den Fisch an, als würde er so größer werden. Jetzt, ohne seine Eingeweide und auf dem Feuer schmorend sieht er sogar noch kleiner aus als vorhin, als Nora ihn aus dem Wasser gezogen hat. Ich wische mir noch einmal mit dem Ärmel über das Gesicht, inzwischen habe ich mich wieder unter Kontrolle. Nur noch kalt und nass vom Regen. „Wieso tust du das?“, fragt Callus erneut, „Wieso die Tränen? Wieso Gefühle zeigen, wenn es dir überhaupt nichts bringt?“ Ich wende mein Gesicht ab und zucke die Schultern. Wie soll ich das erklären? Wie soll ich jemandem, der mich für eine kalte Maschine hält erklären, dass meine Gefühle eben einfach manchmal raus müssen, dass ich mich nicht immer beherrschen kann? Meine Freunde mussten das nie fragen. Die haben gesehen, wie es mir geht, und einfach reagiert wie auf einen normalen Menschen. Meistens ging es mir dann schnell besser… selbst in den letzten zehn Jahren, als oft jedes Wort eines zu viel war und wir dauernd gestritten haben. Meine Freunde haben immer verstanden, dass ich fühle wie ein Mensch. „Ich weiß einfach nicht, warum du dem König so wichtig bist. Warum er dich unbedingt in der Stadt haben will… das ist doch nur ein unnötiges Risiko! Tot verstehe ich ja noch, aber lebendig und gesund? Am Ende verlangt er noch, dass wir dir eine Waffe anvertrauen!“ Ich blicke auf meine Hände und kann irgendwie nicht anders als zu lächeln. Der König… mein König will mich sehen. Lebendig und gesund. Wie denn auch sonst? Wieder kommen mir die Tränen. Nach all der Zeit, die ich mich jetzt schon durchschlage, so viele Wochen nachdem ich diese paar Fetzen im Radio gehört habe und endlich… nur noch ein paar Stunden, dann sehe ich ihn endlich wieder. Zum ersten Mal nach zehn Jahren. Nachdem ich ihn dort an der Zitadelle gehen lassen musste. Allein, mit nichts als einem Foto als Erinnerung an uns. Noctis… Ich vermisse ihn. „Ich hab wieder einen!“ Noras freudiger Ausruf reißt mich aus meinen Gedanken und ich beeile mich, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen. „Hey, hast du geweint?“, fragt sie trotzdem, „Was ist los, war Callus wieder gemein zu dir?“ „Hey, ich bin nicht an allem schuld!“, wehrt sich Callus. Nora scheint ihm nicht recht glauben zu wollen und prüft mich erstmal auf frische Verletzungen, während Callus den ersten Fisch vom Grill nimmt und den neuen darauf steckt. Ein lucischer Leuchtwels dieses Mal, aber auch ein untypisch kleiner Vertreter der Art. Den Blaukiemling schneidet Calluss einfach auf und kratzt mit einer Gabel das Fleisch heraus, um es wie Thunfisch auf ein paar gerösteten Broten zu verteilen. Nora setzt sich zu uns und seufzt. „Was ist? Keine Lust mehr für den dritten Fisch?“ „Keine Schnur mehr“, gibt sie zu, „Alle gerissen… da ist irgendein richtig großer drin, der hat einfach meine Köder geschnappt und abgerissen.“ „Weil du zu ungeduldig bist“, meint Callus, „Du darfst die Schnur nicht so auf Spannung halten.“ „Als würdest du was vom Angeln verstehen.“ „Aber wenn ich jage haben wir wenigstens was zu essen auf dem Tisch.“ „Angeber. Wir haben doch zu essen!“ „Ja, Brot mit ein bisschen Winzfish drauf. Und davon müssen wir auch noch den MI mitfüttern!“ „Jetzt tu mal nicht so, als ob er uns nur im Weg wäre. Du bist derjenige, der ihm keine Waffe geben will! Wer weiß, vielleicht könnte er uns so was jagen? Vielleicht ein Anak aus dem Autofenster abschießen, so im Vorbeifahren, wie ein richtiger Scharfschütze.“ „…du siehst zu viel fern.“ Ich beiße still in meinen Toast. Er ist trocken, der Fisch war viel zu lange über dem Feuer und es fehlt eindeutig Salz, aber ich will mich nicht beschweren. Kann ja nicht jeder so kochen wie Ignis… der hat sich auch nie beschwert, mich mit durchfüttern zu müssen. Im Gegenteil, er war immer nett, auch wenn ich mal nicht ganz mit der Gruppe mithalten konnte. Noch ein bisschen trockener Fischtoast und meine Atmung beruhigt sich wieder. So ein Anaksteak wäre tatsächlich gut jetzt… mit einem anständigen Gewehr hätte ich schon eines schießen können, als wir an der Herde vorbei gefahren sind, vielleicht sogar tatsächlich, ohne anzuhalten, wie Nora es sich vorstellt. Ich hab schon Schwierigeres geschafft. „Nein im Ernst jetzt, Callus, warum hat Sanni geweint?“ „Woher soll ich das wissen, er redet ja nicht!“ „Du könntest auch mal ruhig ein bisschen Einfühlungsvermögen zeigen, weißt du?“, schimpft Nora ihren Freund, dann wendet sie sich mir zu: „War Callus wieder grob zu dir?“ Ich schüttle eilig den Kopf, um ihm keinen Ärger zu machen. Nora rückt ihren Stuhl ein bisschen näher zu mir. „War es wegen der Fische?“ Tendenziell… ja, aber das ist schwer zu erklären. Sicherheitshalber schüttle ich wieder den Kopf, damit sie es nicht falsch versteht. „Oh Mann, raten ist echt schwierig. Ist irgendwas passiert heute?“ Nein. „Hat es was mit mir oder Callus zu tun?“ Auch nein. „Boah, was kann den noch sein? Callus, hilf mir mal.“ „Ich sags nur nochmal: Er ist ein feindlicher Kampfroboter, den wir gefangen genommen haben um ihn unserem König zu bringen. Lebendig, aus irgendeinem Grund. Frag mich bitte nicht, warum er weint.“ „Gah!“ Nora rollt frustriert mit den Augen. „Du bist echt unglaublich, Callus. Ich würde es jedenfalls total verstehen, wenn er wegen dir weinen würde.“ Nora überlegt weiter. „Hat es was mit dem König zu tun?“ Ich zögere, dann nicke ich. Alles andere wäre gelogen. „Hast du Angst, ihn zu treffen?“ Gute Frage. Angst ist es nicht direkt… ich zucke die Schultern. Nervös vielleicht. Ganz sicher nervös. Vielleicht auch ein bisschen Angst, aber weniger vor ihm als… ja, vor was eigentlich? Dass es doch nicht Noct ist? Dass er mich nicht mehr mag? Mir kommen wieder die Tränen. „Glaubst du, der König würde dir wehtun?“ Ich schüttle eilig den Kopf. Nein, nein ganz bestimmt nicht. Nicht Noctis. Er würde mir nie wehtun. Nicht mit Absicht… zumindest nicht mit Absicht. Ich verdränge die Erinnerung an unsere Zugfahrt nach Gralea. Das war alles Ardyns Schuld. Nicht meine, Ardyns. Er hat mit Ardyn gesprochen und nicht mit mir… ihm wollte er wehtun. Zu Recht. Ich sollte damit längst abgeschlossen haben, wie Ignis gesagt hat, aber ich muss einfach vernünftig darüber reden, und keiner will es hören… weil Nocts Tod für alle zu viel war, nicht nur für mich. Weil ich eigentlich mit ihm selbst reden sollte, nicht mit Ignis oder Gladio. „Sanni…“ Nora legt mir die Hand auf die Schulter, nimmt mich zärtlich in den Arm. „Hab keine Angst, Sanni. Unser König ist ein netter Mann, er wird dir bestimmt nichts tun. Im Gegenteil, es ist ihm sehr wichtig, dass wir dich gesund nach Insomnia bringen. Er hat gesagt, wir sollen dich wie einen Freund behandeln, auch, wenn Callus das nicht gern macht.“ Ich muss lächeln. Ja, das klingt nach Noct… ich frage mich, warum er mich nicht selbst holen kommt, aber bestimmt ist er einfach beschäftigt. König sein ist sicher anstrengend… bestimmt kann er nicht so einfach weg, nur weil er selbst das gern möchte. „Geht es dir jetzt wieder besser?“ Ich nicke. Ja, geht schon wieder. Wird schon alles gut… Morgen bin ich zu Hause. Bei Noct, Ignis und Gladio. Dann ist alles wieder in Ordnung. Kapitel 11: Wiedersehen (Noctis Lucis Caelum) --------------------------------------------- Unruhig laufe ich im Thronsaal auf und ab. Ich bin nervös. Nora und Callus wollten heute zurück sein und sie sind seit eineinhalb Stunden überfällig. Ich hatte darum gebeten, mich heute nicht mit anderen Dingen zu behelligen, aber anscheinend ist alles wieder wichtiger, vor allem meine Hochzeit mit Lunafreya und wann sie denn nun genau stattfinden soll. Was weiß ich? Ich habe Luna immer noch nicht gesehen, geschweige denn mit ihr gesprochen. Außer man zählt die Notizen, die wir uns hin und her schreiben, aber da gibt es Wichtigeres zu bereden als eine dumme Hochzeit. Prompto zum Beispiel, und was für Angst ich habe festzustellen, dass er vielleicht doch tot ist. Wenn nun dieser MI, den Nora aufgegriffen hat, nicht er ist… nein, daran darf ich nicht denken. Er muss es einfach sein. „Euer Majestät…“ „WAS?“ Der Buttler zuckt erschrocken zusammen und ich rufe mich zur Mäßigung auf. Kein Grund, hier die Leute anzuschreien… „Entschuldigt. Worum geht es?“ „Nora und Callus sind mit dem MI eingetroffen. Darf ich sie in den Thronsaal…“ „Ja, und bitte sofort.“ Sie sind da. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich würde am liebsten Schreien vor Angst. Nach all der Zeit, die ich nun hier bin… ich habe die Fotos gesehen, die Nora geschickt hat. Ich weiß wie der MI aussieht, aber ich könnte nicht sicher sagen, ob es Prompto ist. Ich will, dass es Prompto ist. Himmel ich hab solche Angst, dass er es nicht ist… „Wenn du weiter so im Kreis läufst, bricht der Boden doch noch ein“, warnt Gladio und schiebt mich zurück auf den Thron. Ich kann jetzt nicht einfach still sitzen. Selbst, wenn er mich festhält halte ich es nicht einfach so aus. Ich muss mich bewegen, am liebsten würde ich auf den Gang raus stürmen und den Gleven entgegen rennen. Ich muss mich beherrschen… das ist das Schlimmste daran. Dass man sich als König immer unter Kontrolle haben muss. Immer… egal, wie schwer es fällt und was auf dem Spiel steht. Dabei ist selbst Ignis unruhig. Er lässt sich wirklich nichts anmerken, aber ich sehe es an der Art, wie er steht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt als müsste er sie dort festhalten. Als wollte auch er vor nervöser Energie aufspringen und irgendwas tun. Irgendwas, um zu beweisen dass der MI mit der Nummer N-iP01357/05953234 wirklich unser Prompto ist. Aber so unfassbar es scheint… wir haben keine Fingerabdrücke zum Vergleich. Und egal wie oft wir die alten Fotos durchgegangen sind, Promptos Barcode ist auf keinem zu sehen. Wenn er mal kein Armband darüber trägt ist es zu dunkel, um etwas zu erkennen, und die Hände des Fotografen sind eh im seltensten Falle im Bild. Es tut weh, es zuzugeben, aber ich weiß nicht, wie ich Prompto erkennen soll. Dabei ist er mein bester Freund. Schritte nähern sich der Tür, Gladio springt zurück an seinen Posten und ich reiße mich mit aller Gewalt zusammen. Sitzen bleiben, aufrecht, nicht aufspringen. Tief in den Bauch atmen. Keine Panik. Keine Gefühle. Haltung wahren. Ich bin der König, ich kann es mir nicht leisten, die Nerven zu verlieren. Ich hasse meinen Job. Nora und Callus treten ein, zwischen ihnen der Mann, den ich schon auf den Fotos gesehen habe. Feine blonde Haare, gerötete Augen. Viel zu dünn, furchtbar geschwächt. Ich halte mich mit aller Willenskraft in meinem Thron, widerstehe dem Drang, aufzuspringen, hinzurennen und… und was? Der Mann sieht mich direkt an, bis Callus ihn grob in eine Verbeugung zwingt, aber ich könnte nicht sagen, ob es Prompto ist oder nicht. Was hatte ich auch erwartet? Dass er hier reinkommt wie immer, mich mit „Hey Noct!“ begrüßt und alles wieder normal ist? „Das ist genug“, sage ich, selbst überrascht, wie ruhig meine Stimme ist und wie gemessen und langsam ich aufstehen kann. „Lass ihn los Callus, er darf stehen. Ihr beide auch… ganz entspannt.“ Ich gehe auf die kleine Gruppe zu, immer noch langsam und würdevoll, obwohl in mir alles schreit. Lege ganz ruhig meine Hände auf die Schultern des blonden Mannes, versuche, ihm in die Augen zu sehen. Er weicht meinem Blick aus. Die blonden Haare hängen ihm weit ins Gesicht, verdecken seine geröteten Augen. Trotzdem kann ich sehen, dass er geweint hat. Seine Schultern zittern vor Angst. „Du brauchst dich nicht zu fürchten“, sage ich ruhig, „Dir wird nichts mehr passieren.“ Ein schwaches Nicken. Nora hatte mich vorgewarnt, dass er nicht spricht… untypisch für Prompto, aber nach allem, was in diesem furchtbaren Lager passiert ist, vielleicht nur zu verständlich. „Zeigst du mir deine Hände?“, frage ich ruhig und der Mann hebt den rechten Arm, um seinen Barcode vorzuweisen. Fast muss ich lachen. „Das meinte ich nicht.“ Der Mann wird rot, lässt aber zu, dass ich seine Hände fasse und festhalte. Prompto hatte ein Tattoo am linken Handgelenk, ein Stern und Stacheldraht. Das Tattoo war immer schon blass und sehr dezent, aber es wäre zumindest eine Möglichkeit, ihn zu identifizieren. Leider sind beide Handgelenke verbrannt, die Narben zu groß und zu breit, um noch zu erkennen, ob da mal etwas war oder nicht. Ich zwinge mich, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Am einfachsten wäre es sicher, nach einem Namen zu fragen, aber erstens wird er schon zu lange ‚Sanni‘ genannt und zweitens… wenn es wirklich Prompto ist, würde ich ihn mit der Frage nur verletzen. Ich schäme mich dafür, meinen besten Freund nicht zu erkennen. Ich hebe sein Kinn mit meiner Hand an, um doch noch den gewünschten Blickkontakt zu erzwingen, aber auch seine Augen sagen mir nichts. Dieser magische Moment, in dem alles klar ist, bleibt aus. „Du kannst hier in der Zitadelle bleiben, wenn du möchtest. Ignis zeigt dir, wo du schlafen kannst.“ Bilde ich mir das nur ein oder wusste er, wen er bei diesen Worten ansehen muss? Vielleicht hat Ignis sich auch nur bewegt, als ich seien Namen genannt habe. Diese Unsicherheit bringt mich noch um den Verstand. Ignis führt den Mann wortlos nach draußen, und jetzt merke ich wieder deutlich, wie viel Kraft ich brauche, um die Enttäuschung nicht nach außen dringen zu lassen. Es tut weh… es tut weh, wenn einem die Realität so in die Magengrube boxt. Wenn man sich eingestehen muss, dass man seinen besten Freund nicht erkennen würde, selbst, wenn er direkt vor einem steht. Prompto ist nur einer von vielen identischen Klonen Besithias. Einer von tausenden. Trotzdem hatte ich mir eingebildet, ich würde ihn erkennen. Vielleicht… vielleicht könnte ich es, wenn der Druck nicht so groß wäre. Wenn nicht ganz so viel davon abhängen würde, dass er ausgerechnet dieser Mann ist. Der letzte… der letzte, der noch lebt. „Nora“, zwinge ich mich zu sagen, „Callus. Danke, dass ihr ihn hergebracht habt.“ „Keine Ursache“, zwitschert Nora und Callus zieht ein Gesicht, als müsste er auf eine Zitrone beißen. „Was passiert jetzt mit dem MI?“, fragt er. „Er wird hier bleiben“, antworte ich, „Wir haben noch… Fragen, auf die wir Antworten brauchen. Er ist verletzt und hat viel mitgemacht, aber wir haben Grund anzunehmen, dass er in Lucis aufgewachsen ist und dass seine Loyalität bei uns liegt. Selbst wenn er nicht der ist, für den ich ihn halte.“ Ich fasse Callus fest ins Auge. „Ich weiß, was deiner Familie und deinen Freunden passiert ist, Callus. Aber das ist nicht seine Schuld. Er ist ein Mensch, kein MI. Er wurde nie mit Plasmodium infiziert und er hat nie für das Imperium gekämpft. Dieser Mann… er ist keiner von denen. Ich kann dich nur bitten, aber ich möchte, dass du das verstehst.“ Callus gibt ein widerspenstiges „Pah“ von sich, aber ich sehe es ihm nach. Ich weiß, wie er fühlt. Und ich weiß, dass er sich beherrschen kann. „Ihr tut Sanni nicht weh, oder?“, fragt Nora. Sie zumindest sieht ernsthaft besorgt aus. „Er hat nicht gesprochen, während er bei uns war, aber ich hab ihn ziemlich gern. Ich glaube, er ist ein netter Kerl.“ Es scheint sie einigen Mut zu kosten, aber Nora gelingt es, mir in die Augen zu sehen, ohne zu zappeln. „Er war nervös gestern Abend, und hat viel geweint. Er schien sich vor dem Treffen mit euch zu fürchten, hat aber ganz energisch verneint als ich ihn gefragt habe, ob er denkt, ihr würdet ihm wehtun. Ich hab ihm versprochen, dass alles gut wird.“ „Danke, Nora. Und keine Sorge, wir werden uns gut um ihn kümmern.“ Nora nickt lächelnd, und der Butler lässt die beiden Gleven wieder hinaus. „Majestät, könnten wir nun über die Hochzeit reden?“ Ich seufze tief und setze mich wieder hin. Nein, können wir nicht. Ich will in mein Zimmer und mir heulend die Decke über den Kopf ziehen. Trotzdem beiße ich die Zähne zusammen, reiße mich zusammen und nicke. Es gibt nichts zu reden. Ja, ich will die Hochzeit. Ja, gerne in Altissia. Nein, morgen ist ein bisschen früh. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, Luna nochmal persönlich sehen zu dürfen, bevor es vor den Altar geht? Dieses ganze ‚er sagt, sie sagt‘ geht mir dermaßen auf den Sack… wie sollen wir uns auch einigen, ob wir lieber in der Arena oder auf der Plaza feiern wollen, wenn wir keine Möglichkeit haben, uns vorher abzusprechen? Ich richte mich gerne nach Luna, aber ich kann schlecht erraten, was sie wählen würde, und die Presse bläst jede Abweichung zwischen unseren Wünschen gleich wieder zu einer Beziehungskriese auf. Bin ich wirklich so unsensibel? Unfähig, meinen besten Freund zu erkennen. Ebenso unfähig die Wünsche meiner Verlobten zu erraten. Warum ist es nur immer so schwer? Früher war es das doch auch nicht… da haben meine Freunde gewusst, dass ich sie schätze, selbst, wenn ich es nicht direkt gezeigt habe. Zumindest dachte ich das… heute ist alles so kompliziert, und ich fühle mich dem nicht gewachsen. Es dauert Stunden, bis ich die Wogen geglättet habe, und wir einigen uns, auf der Plaza zu feiern, wie Luna wohl gesagt hat. Nun kann ich nur hoffen, dass sie nicht das gleiche Problem hat und jetzt mir zu liebe auf die Arena umgeschwenkt hat. Wir sollten darüber wirklich sprechen, aber ich will unser Notizbuch nicht für solchen trivialen Unsinn missbrauchen. Aber ich kann sie auch schlecht hierher einladen, während die Zitadelle noch renoviert wird. Frustriert und müde schleppe ich mich durch die Gänge, zu fertig, auf die Löcher im Boden zu achten. Ein paar Mal verliere ich den Halt unter den Füßen und muss mich ein Stück warpen. Wenigstens ein kleines Ventil für den Stress. Mein Zimmer ist wieder soweit bewohnbar, dass ich hier in der Zitadelle schlafen kann. Das Fenster ist noch mit Folie abgedeckt, aber im Moment ist mir das egal. Ich packe mir einfach ein Kissen, vergrabe mein Gesicht darin, werfe mich aufs Bett und schreie den ganzen aufgestauten Frust aus mir heraus. Es reicht nicht, nicht mal im Ansatz. Wütend werfe ich das Kissen an die Wand, stehe auf, hebe es auf, und schleudere es nochmal durchs Zimmer. „Verdammte SCHEISSE!“ Es tut gut, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ich hoffe, dass die angeschlagenen Wände mir noch die nötige Privatsphäre bieten und trete meinen Stuhl um. Ich hasse es. Ich hasse es, König zu sein, ich hasse es, mich beherrschen zu müssen. Immer die Ruhe, immer die Stimme der Geduld und immer voll Verständnis, auch wenn niemand mich versteht. Ich habe den Stuhl auf und werfe ihn gegen die Wand, das Geräusch ist befriedigend. Ich hasse dieses Gefühl der Ohnmacht. Nichts tun zu können, wenn es darauf ankommt. Ich habe Prompto im Stich gelassen. Wieso? Wieso kann ich nicht einmal da sein, wenn er mich braucht? Wieso tue ich ihm ständig weh? Der Blick aus den geröteten Augen verfolgt mich, wie damals in Gralea. Ob ich mir Sorgen um ihn gemacht hätte… was denkt er denn? Dass ich nein sage? Nachdem ich ihn von einem fahrenden Zug gestoßen habe? Himmel, wie oft hab ich geträumt, ich hätte ihn am Boden aufschlagen sehen… dass er tot ist. Dass ich ihn getötet habe. Weil ich zu dumm war zu merken, dass Ardyn mich reingelegt hat. Und ich hätte es merken können. Die Art, wie Ardyn mit seiner Waffe gespielt hat, wie er über das Schlachtfeld stolziert ist, angegeben hat… das hat Prompto nie getan, so hat er nie geredet. Aber da waren so viele MI, die den Zug angegriffen haben, ich hatte nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Ich war wütend, so wütend auf Ardyn, der Luna umgebracht hat, dass ich meinen besten Freund angegriffen und durch den ganzen Zug gejagt habe. Hätte ich Ardyn nur einmal beim Namen gerufen hätte Prompto zumindest gewusst, dass nicht er gemeint ist… vielleicht wäre dann alles aufgeflogen. Aber ich war wütend, ich war dumm, und ich hätte Prompto beinahe getötet. Weil ich zu blind bin, meinen besten Freund zu erkennen. Ich trete gegen den Schrank, reiße die Schubladen heraus und fluche noch einmal, so laut ich kann. Auf Ardyn. Auf Rashin und seine Maschine. Aber vor allem auf mich, weil ich ein verdammter Versager bin, weil ich egoistisch und überheblich bin, weil alle immer meinetwegen leiden müssen. Noch einmal trete ich gegen den Schrank, fluche, weil er härter ist als meine Zehen und werfe mich heulend aufs Bett. Warum muss das alles heute sein? Warum musste ich auch ausgerechnet heute diesen neuen Bahnhof besichtigen kommen? Dort auf der Brücke zu stehen und auf die Züge hinunter zu blicken, immer dieses Geräusch von Rädern auf Schienen, der Luftzug der vorbeirauschenden Waggons, die endlose Tiefe, wenn man vom Dach stürzt. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, durch dieses Event zu kommen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich mich auf die Toilette entschuldigt habe, und dass Gladio mir die Haare zurückgestrichen hat, als ich mich über die Schüssel beugen musste. Seine beruhigenden Worte… Es wäre einfacher gewesen wenn ich wüsste, dass es Prompto gut geht. Wenn er nur bei mir wäre. Es tut so verdammt weh… Ich strample die Decke vom Bett, schlage mit den Fäusten auf die Matratze, springe wieder auf, reiße ein Regal um und schaffe es gerade noch so, den fallenden Comics auszuweichen. Ich heule, ich schreie, ich schlage alles kurz und klein, was ich mit den Händen erreichen kann und es reicht doch nicht. Es tut so weh… Das ist alles nicht fair. Ich drücke mein Kissen an mich, suche Schutz in dieser Farce einer Umarmung und lasse mich zitternd wieder aufs Bett fallen. Endlich setzt die Erschöpfung ein… endlich kann ich mich in den Schlaf weinen. Ich schluchze, vergrabe das Gesicht in meinem Kissen und rolle mich fest zusammen. Weine, bis der Schlaf mich endlich einholt. Bis es endlich aufhört, so schrecklich weh zu tun. Es ist dunkel… ich kann kaum sehen, aber ich spüre die Bewegung unter meinen Füßen, höre das Rattern der Räder auf den Gleisen, den Wind, der an den Fenstern vorbeipfeift. Es ist kalt… so furchtbar kalt. Ich renne durch die Gänge, ein Waggon, noch einer, jage den Mann, den ich für Ardyn halte, mit gezogener Waffe. „Alter, willst du mich wirklich umbringen?“ Es ist Promptos Stimme, mit der er spricht, trotzdem jage ich ihn unbarmherzig weiter, schwinge mein Schwert nach ihm, getrieben von Wut und Schmerz. „Das ist alles deine Schuld!“ „Was soll das heißen, was hab ich denn getan?“ Kurze Szenen, die wirklich passiert sind. Ich pinne Prompto gegen die Wand, mein Schwert an seinem Hals, schreie ihn an. Diesmal weiß ich, dass es Prompto ist, aber ich kann den Lauf der Dinge nicht ändern. Es ist bereits passiert… ich weiß, was ich getan habe. Sehe ihn wieder vom Dach stürzen. Aber er fällt nicht einfach so, ich habe ihn bewusst gestoßen. Alles meine Schuld. Es geht tief hinunter neben den Gleisen, es ist eiskalt und Prompto trägt wie immer nur seine ärmellose Weste. Ich weiß nicht, ob er den Sturz überleben kann. Weigere mich zu glauben, dass er tot ist, obwohl mein Gehirn nicht müde wird, sich die Landung vorzustellen, bis ich fast selbst glaube, es gesehen zu haben. Wie er da liegt, tief unten im Schnee. Die Glieder verdreht, die Augen leer. So viel Blut… Meine Schuld. Es tut mir so Leid… Die Bilder von seinem Sturz waren damals schlimm genug, aber jetzt, nach dem Besuch in der Kaserne, ist es noch viel schlimmer. So viele tote Männer, alle sehen aus wie er. So viel Blut… ich habe direkt in seine toten Augen gesehen. Wie er da hing, die Schwerter in der Brust. Das hätte auch mein Schwert sein können, damals im Zug nach Gralea. Wenn ich ihn richtig erwischt hätte, hätte ich ihn getötet. Es tut mir so Leid. Ich wollte das doch nie. Ich wollte dir nie wehtun. Bitte verzeih mir… Bitte. „Ist schon okay, Noct.“ Promptos Stimme ist leise. Ich kann seine Hand auf meiner Schulter spüren, seine Wärme neben mir. „Ist okay. Ich habe dir doch längst verziehen.“ „Es tut mir so Leid…“ „Ich weiß, Noct. Ich weiß. Es ist alles gut. Alles gut.“ Ich kann seine Hand in meinen Haaren spüren, und es wird wärmer. Die Geräusche des Zuges verblassen, weichen einer leisen Melodie… ich kenne das Lied, Mutter hat es oft für mich gesungen, als sie noch am Leben war. Schlaf, kleiner Mogry, mach das Licht nicht aus. Bevor die Siecher kommen, sind wir schon zu Haus. Schlaf, kleiner Chocobo, roll dich nur fest ein. Am Morgen kommt die Sonne, lass nur ihr Licht herein. Schlaf, keiner Kaktor, sei ganz wohlgemut. Wenn der neue Tag kommt, geht’s dir wieder gut. Wenn der neue Tag kommt, geht’s dir wieder gut. Kapitel 12: Nacht (Ignis Scientia) ---------------------------------- Es ist zum Verzweifeln. Dabei hätte ich mir eigentlich denken können, dass es nicht so leicht wird. Und damit meine ich ausnahmsweise mal nicht nur die politische Situation Lucis‘ im Allgemeinen und Insomnias im Speziellen, sondern auch noch die Sache mit Prompto. Prompto, von dem wir immer noch nicht ganz genau wissen, was genau mit ihm passiert ist. Ob er nun Nummer 05953234 ist oder eine der neunundzwanzig nicht identifizierten Leichen im Keller der Autopsie. Hatte ich wirklich gehofft, dass ‚San-Ni‘ uns die Arbeit bei seinem Erscheinen abnimmt? Dass er sich eindeutig als Prompto ausweisen würde und alles wäre in Ordnung? Nein, das wäre zu viel verlangt. Der Mann ist traumatisiert, wagt nicht zu sprechen und gebärdet sich wie ein verletztes Reh, gefügig, aber voller Angst. Aber er wäre zumindest sicher im richtigen Alter. Wenn man nur davon ausgehen könnte, dass Prompto der einzige seines Jahrgangs war, der den Tanks entkommen ist… aber leider gibt es diese Sicherheit nicht. Außerdem besteht natürlich auch die Chance, dass meine Schätzung inkorrekt ist. Ich reibe mir die Augen. So sehr ich mich langsam daran gewöhne, wieder sehen zu können, ich sollte es nicht übertreiben. Zu den Dingen, die man am schnellsten vergisst, gehört auch, wie schnell Augen ermüden, wenn man stundenlang auf Papier oder gar auf einen Bildschirm starrt. Über tausend Fotos, und auf keinem einzigen ist Promptos Barcode klar zu sehen. Wir haben keine Fingerabdrücke von ihm, nur die DNS, die mit etwa einem Drittel aller MI identisch ist. Auch mit Sannis. Ein Foto habe ich gefunden, auf dem ich einen Teil des Barcodes ausmachen kann. Die letzten drei Ziffern könnten zwei-drei-vier sein, aber die Zwei ist schlecht zu erkennen und das mittlere könnte ebenso gut eine Acht sein. Oder eine Null? Himmel ist das unscharf bei dieser Vergrößerung, aber besser wird es leider nicht. Frustriert stehe ich auf und reibe mir noch einmal die brennenden Augen. Nicht nur, dass ich Noct nicht den sicheren Beweis liefern kann, der ihn endlich beruhigen würde – ein positiver Beweis wäre natürlich schön – ich fühle mich auch Prompto selbst gegenüber wie ein Versager. Wie oft hat er in den letzten zehn Jahren versucht, mit mir zu reden? Es gab so viel, was ihm aus all den Kämpfen und Schicksalsschlägen noch nachhing, worüber er reden wollte. Reden musste. Und ich habe ihn abgewiesen. Nicht, weil er mich wirklich genervt hätte, oder weil ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Freund wäre… ich konnte es nur nicht hören. Noct, mein Freund, mein König, mein geliebter kleiner Bruder war tot und ich hatte versagt. Hatte immer noch das Gefühl, ich hätte es ändern können, etwas bewirken können, wenn ich nur genug getan hätte. Mehr geopfert hätte als nur meine Augen. Ich wollte nicht mehr über das nachdenken, was passiert ist. Nicht über die schlimmen Dinge, aber auch nicht über die Guten. Ich wollte einfach vergessen, einfach mein Leben so gut es ging weiter führen, für mich selbst, meine Stadt, später auch für meine neue Familie stark sein. Prompto wollte reden und die Vergangenheit aufarbeiten, ich bin weggerannt. Ich will mich gar nicht genau erinnern, was ich ihm alles an den Kopf geworfen habe, wenn es mir gerade schlecht ging. Wie oft ich ihn scharf angefahren habe, damit er endlich aufhört zu reden. Dabei hat Prompto mir unglaublich geholfen in den letzten Jahren. Stand immer wieder vor meiner Tür, hat mir vorgelesen, mir geholfen, mich in der neuen, engeren Umgebung zurecht zu finden und mir den Kleinen abgenommen, wann immer es mir zu viel wurde. Ist mit Nyx zu einem sicheren Spielplatz gegangen, damit ich ungehindert aufräumen konnte und hat danach selbst nochmal drüber gewischt, wo ich den Dreck nicht sehen konnte. Ich bin ihm dankbar. Dankbar für die Hilfe, aber noch mehr dafür, dass er sich nicht hat abwimmeln lassen, egal wie ausfallend und verletzend ich geworden bin. Egal wie mies es ihm selbst ging… Ich hab ihm sicher geraten, mit den Kopfschmerzen zum Arzt zu gehen. Hab ihn mir angesehen, soweit ich es mit den Händen konnte, und ihm Schmerzmittel angeboten. Ich habe gemerkt, dass sich etwas verändert hat, dass er sich abgewendet hat, auf Distanz ging. Mir nicht mehr erlaubt hat, sein Gesicht zu berühren. Ich dachte, er weint… aber es war viel schlimmer. Ich erinnere mich gut, wie wir auf diesem Hausdach standen. Prompto war erschreckend still, zu still. Und er hat sich bewusst von mir weggedreht. Damit ich nicht sehe, wie er weint? Das hatte er noch nie getan, Prompto hat oft geweint in den Jahren davor. Wegen Kleinigkeiten meist, irgendwelchem Unsinn, der ihm einfach zu viel war, eigentlich nur der letzte Strohhalm auf dem Berg unbewältigten Ballasts. Vage erinnere ich mich, dass ich ihn am Arm gepackt habe, um ihm vom Rand des Daches wegzuziehen, unfähig, den Grund für meine Angst zu erkennen. Ich dachte nicht, dass er springen würde, so habe ich ihn nie gesehen. Habe ich das Blut gerochen, das ich nicht sehen konnte? Als ich sein Gesicht berührt habe, dachte ich, er weint nur wieder. Hätte mich fast beruhigen lassen. Wäre Gladio nicht in diesem Moment gekommen… vielleicht wäre Prompto in der Zitadelle gestorben. Ohne ein Wort zu sagen, einfach, weil er uns nicht belasten wollte. Weil er die ganze Zeit Rücksicht auf unsere verletzten Gefühle genommen hat während wir uns eingebildet haben, er käme am besten mit Nocts Tod zurecht. Ich setze mich auf mein Bett und stütze das Gesicht in die Hände. Ich hätte nicht verhindern können, was mit Prompto passiert ist. Aber ich will wenigstens helfen, dieses Kapitel abzuschließen. Sicherheit schaffen, damit Noct wieder ruhig schlafen kann. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt. Aber ich finde einfach nichts, was seine Identität eindeutig beweisen kann, nichts, außer diesem Barcode, zu dem ich kein Vergleichsmaterial finden kann. Weil Prompto fast immer ein Armband darüber getragen hat, aber auch, weil niemand auf die Nummer geachtet hat, wenn er keines trug. So viele Fotos, kein Beweis. So viele Erinnerungen und es ist doch nicht genug, um die Gegenwart zu verstehen. Ich habe Sanni nach oben begleitet, in das Zimmer, in dem Noct ihn haben wollte. Egal ob es Prompto ist oder nicht, fürs erste schläft er auf demselben Gang wie Noct, nicht weit von dessen Zimmer. Ein Vertrauensbeweis, vielleicht auch eine Einladung. In jedem Fall ein Sicherheitsrisiko, das wir der Hoffnung zu Liebe eingehen. Sanni hat den ganzen Weg über geschwiegen, hat sich führen lassen wie ein gebrochener Soldat, der nicht mehr kämpft, sondern nur noch gehorcht. Hat mich nicht angesehen, keine Reaktion auf das edle Zimmer gezeigt. Nur vor sich hin gestarrt und gezittert. So geschwächt, so abgemagert… es ist deutlich zu sehen, dass er sich längst aufgegeben hatte. Nicht mal auf Noct hat er reagiert. Ein schlechtes Zeichen? Oder einfach nur Testament seines schlechten Zustands? Meine Gedanken drehen sich im Kreis, es hat keinen Sinn, hier länger zu sitzen. Auch mein Zimmer liegt auf demselben Gang wie Nocts, theoretisch jedenfalls, denn es ist zu zerstört, um darin zu schlafen. Vielleicht sollte ich Gladio mal nach einem guten Zelt fragen, denn um nach Hause zu fahren reicht mir momentan die Zeit nicht. Ich will in Nocts Nähe sein, falls er mich braucht. Jetzt mehr denn je. Noch bevor ich den Korridor erreicht habe weiß ich, dass ich mich beeilen muss. Selbst ohne die Augen zu schließen kann ich deutlich hören, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass er weint. Fast kann ich seine Verzweiflung spüren. Ich beschleunige meine Schritte, springe achtlos über einen Haufen Schutt und eile in Nocts Zimmer, dessen Tür offen steht. Beim Anblick der Szene springt mir fast von selbst der Dolch in die Hand. Nocts Zimmer sieht aus, als hätte ein Kampf stattgefunden, und damit meine ich nicht das mit Plastikplanen notdürftig geschlossene Loch in der Wand, wo mal Fenster waren. Möbel liegen auf dem Boden. Der Mülleimer ist umgestoßen, sein Inhalt im ganzen Raum verteilt. Ein Regal liegt am Boden, die Comics und Bücher teilweise noch am anderen Ende des Zimmers zu finden. Noct liegt zusammengekrümmt auf dem Bett, über ihm der MI. Ich atme tief in den Bauch. Zwei Dinge passen nicht ins Bild. Erstens: Noct ist zugedeckt. Alles andere liegt überall verstreut, nur die Decke ist ordentlich an ihrem Platz. Zweitens: Sannis Haltung ist nicht aggressiv, eher schützend. Bis eben konnte ich jemanden singen hören… ihn etwa? Ein altes lucisches Schlaflied… aber er kommt ja von hier, so viel wussten wir aus Cleos Erzählung. Ich stecke den Dolch wieder weg und zwinge mich zu einem Lächeln. „Meine Güte, was für ein Chaos“, sage ich, leise, um Noct nicht zu wecken, falls er schläft. Seine Atmung klingt ruhig im Moment, gleichmäßig und langsam, „Hast du unseren König so schön zugedeckt? Das war sehr umsichtig von dir.“ Sanni antwortet nicht. Seine Augen huschen zwischen meinem Gesicht und meinen Händen hin und her, sicher hat er gesehen, dass ich vorhin die Waffen gezogen hatte. Er weicht erst von Nocts Seite, als ich das Bett schon fast erreicht habe, lässt mich aber auch dann nicht aus den Augen. Ich konzentriere mich bewusst darauf, die Decke glatt zu streichen und an den Enden umzuschlagen, damit Noct es schön warm hat. Aus der Nähe sehe ich, dass er ein Kissen an die Brust gedrückt hält, als hinge sein Leben davon ab, nicht loszulassen. Seufzend streichle ich ihm über die Haare und richte wieder ein paar leise Worte an Sanni: „Siehst du hier irgendwo noch ein zweites Kissen liegen?“ Diesmal reagiert der Mann, blickt sich suchend um und zieht schließlich vorsichtig das gesuchte Kissen unter dem Schreibtisch hervor. Ein paar der herumliegenden Schreibutensilien klappern lautstark, als er es aufhebt, aber Noct schläft friedlich weiter. Ich kann Rückstände von Tränen an seinem Gesicht spüren, als ich das Kissen unter seinen Kopf schiebe. „Wir wollen ja nicht, dass der arme König morgen einen steifen Nacken hat“, erkläre ich lächelnd, und Sanni schüttelt zustimmend den Kopf. Nein, will er auch nicht. Ich hatte richtig gesehen, seine Haltung Noct gegenüber ist schützend, nicht aggressiv. „Hilfst du mir noch, hier ein wenig Ordnung zu schaffen?“, bitte ich, und der Mann nickt. Mit seiner Hilfe ist es nicht schwer, das Regal aufzustellen, und er nimmt es auf sich, die Comics wieder ordentlich einzuräumen, während ich den Mülleimer aufstelle und neu befülle. Zu meiner Erleichterung arbeitet er leise. Noct hatte einen unglaublich schweren Tag, er sollte wenigstens ein paar Stunden in Frieden schlafen können. Ich muss irgendwie Klarheit über Promptos Verbleib schaffen… für Noct, wenn schon nicht für mich selbst. So sicher ich mir bin, dass er vorhin gesungen hat, jetzt spricht Sanni wieder kein Wort. Vielleicht, weil ich wach bin und ihn hören, auf seine Worte reagieren könnte? Er muss schwer traumatisiert sein nach den Geschehnissen in der Kaserne. Die Flucht wird auch keine leichte gewesen sein. Morgen früh, oder vielmehr in ein paar Stunden, werde ich ihm mal etwas zu Essen bringen. Damit der arme Kerl wieder etwas Fleisch auf die Rippen bekommt, aber vor allem in der Hoffnung, dass ich so das Eis ein wenig brechen kann. Wenn er erst mal spricht, wird er uns vielleicht selbst sagen können, wer er ist. Bis dahin werde ich wohl weiter nach Hinweisen in der Papierspur suchen müssen. Je mehr der toten MI ich identifizieren kann, desto besser werden unsere Chancen, auch Prompto zu finden. Lieber hier als unten in der Autopsie, aber das Wichtigste ist erst mal Klarheit. Diese Ungewissheit macht Noct noch kaputt. Erschöpft lasse ich mich für ein paar Minuten auf mein Bett sinken, aber es zieht kalt herein durch die offene Wand und beginnt schon wieder, zu regnen. Irgendwann… um die Restaurierung der Zitadelle muss ich mich auch noch kümmern. Ich rechne Noct hoch an, dass er guten Willen zeigen und erst die Häuser seiner Bürger wiederherstellen lassen will, bevor er sich um seinen eigenen Komfort kümmert, aber auf Dauer ist das kein Zustand. Sicher hätten die meisten Menschen im Land auch Verständnis, dass wir die Zitadelle brauchen, sowohl als Symbol der Stadt, als auch um eben regieren zu können, ohne bei jedem Schritt unser Leben zu riskieren. Dummerweise hat Rashin es sich zur Aufgabe gemacht, öffentlich gegen den König vorzugehen, und nutzt sein Redetalent, um das Volk gegen Noct aufzubringen. Für die Demokratie… Dabei lässt Noct gerade eine Abstimmung laufen, welche Teile der Stadt beim Wiederaufbau priorisiert behandelt werden sollen. Viel demokratischer geht es ja kaum… Ich muss noch die Ergebnisse des Online-Fragebogens auswerten und eine Liste der besonders baufälligen Viertel und Einrichtungen erstellen. Dann muss ich daraus ein neues Formular erstellen, mit dem die Leute abstimmen können. So viel Arbeit, die Leute einzubeziehen, aber alles, worauf sich Rashin und die Presse konzentrieren ist, dass Noct, um keine Zeit zu verschwenden, bereits Baufirmen beauftragt hat um den Thronsaal und den Weg dorthin zu stabilisieren und um das große Krankenhaus in der Stadtmitte zu sanieren. Einfach, damit schon mal gebaut wird, bis die Abstimmungen durch sind. Rashin spricht von Diktatur, ich nenne es Effizienz. Man kann den ganzen Tag reden und wählen, man kann aber auch schon mal anfangen. Ich drehe mich auf die andere Seite, um dem kalten Regen zu entgehen. Natürlich könnte ich auch einfach heimfahren und im Trockenen bei meiner Frau schlafen… aber es ist schon nach zwölf und ich muss zeitig aufstehen, wenn ich die Küche nutzen will. Und das muss ich, schließlich will ich Sanni ein Frühstück bringen, und Noct möchte ich auch persönlich bekochen. Vielleicht versuche ich mich auch noch einmal an diesem Gebäck, für das meine Frau mir endlich ein paar Rezepte zuspielen konnte. Hoffentlich muntert ihn das ein wenig auf. Noch einmal drehe ich mich herum, der Schlaf will nicht kommen. Ich habe das beißende Gefühl, dass ich etwas übersehen habe, einen Hinweis, eine Antwort. Im Bezug auf Prompto? In den hinterhältigen Strategien Rashins? Wegen der anstehenden Hochzeit? Gut, das zumindest ist nicht meine Aufgabe, wenn man mal von meiner beratenden, oder eher beruhigenden Funktion absieht. Diese ganze Planung macht Noct völlig fertig. Vielleicht könnte ich Lunafreya einladen, herzukommen? Das wäre im momentanen Zustand der Zitadelle im besten Falle grob unhöflich der Prinzessin gegenüber. Noct nach Altissia, oder besser Tenebrae schicken? Keine Chance, dafür wird er hier zu sehr gebraucht. Frustriert setze ich mich auf, unfähig zu schlafen. Neben all dem innenpolitischen Durcheinander und Gegeneinander sind da dann auch noch die großen Fragen. Diese neuen MI zum Beispiel. Wer hat sie gebaut? Und vor allem warum? Aus Trotz, als Antwort auf die Maschine? Und sind es diesmal wirklich nur Maschinen oder haben wir es mit etwas viel Schlimmerem zu tun? Wenn ja, mit was? Die Berichte von Übergriffen der mechanischen Soldaten werden, gerade in den abgelegeneren Gebieten, immer häufiger. Ich muss mit Monica und Cor darüber sprechen, wie es mit der Ausbildung der neuen Rekruten aussieht, und ob unsere Truppenstärke langsam ausreicht, um jedem Ort mindestens einen Gleven zum Schutz dazulassen. Insomnia selbst scheint noch keine Attacke fürchten zu müssen, aber auch die Königsgarde ist stark unterbesetzt. Immerhin ist der Kristall zurück, und der Ring der Lucii samt dem letzten der großen Könige. Im schlimmsten Fall bleibt also wieder alles an Noct hängen. Um im meinem nervösen Zustand nicht zu viel Lärm zu machen schleiche ich mich wieder hinunter in die Bibliothek. Nochmal zurück an den PC, mit etwas ausgeruhteren Augen. Vielleicht finde ich ja doch noch etwas, was ich übersehen habe, irgendeinen kleinen Hinweis. Das Puzzleteil, das ich brauche, um Prompto sicher zu identifizieren. Nur ein oder zwei Stunden noch, dann kann ich mit dem Frühstück anfangen und mal ein wenig abschalten. Kapitel 13: Tag (Gladiolus Amicitia) ------------------------------------ Zwei Wochen ist es jetzt her, dass Callus und seine kleine Schwester den armen Sunny hier hergebracht haben. Anfangs war kein Pieps aus dem Kerl rauszubringen, die ersten Tage hat er nur reagiert, und das auch nicht besonders schnell oder gut. Ignis hat ihn ein wenig angefüttert, und nach ein paar Tagen habe ich ihn zum ersten Mal beim Joggen erwischt. Nicht besonders gut, aber mehr hätte ich auch nicht erwartet von jemandem, dessen Muskeln praktisch vor Hunger abgestorben sind. Ich hab ihn ein, zwei Mal aufgehalten, um ihn zum Trinken zu überreden, hab ihm ein Ohr abgekaut über Proteine und Muskelaufbau, aber viel kam nicht zurück. Nur Schweigen und dieser hilflose Hundeblick, der einem bei lebendigem Leib das Herz rausreißt. Einmal hat er sich sogar von mir ins Krähennest schleifen lassen, weil er vor Hunger fast umgekippt wäre. Geredet hat er kein Wort, aber ich hatte zumindest den Eindruck, dass er zuhört. Inzwischen glaube ich, seine tägliche Route zu kennen. Ich laufe deutlich schneller als er und in die andere Richtung, je nachdem, wie gleichmäßig er vorwärts kommt und welchen Weg ich laufe begegnen wir uns an immer anderen Stellen. „Morgen Sunny!“, grüße ich, als er mir entgegen kommt. „Guten Morgen.“ Fast wäre ich einfach normal weitergelaufen, da holt mein Hirn mich doch noch ein. „Wowowow, warte mal!“, rufe ich, drehe auf dem Absatz um und beschleunige mein Tempo, bis ich den dürren Blondschopf eingeholt habe, „Du kannst ja sprechen!“ Sunny weicht fast erschrocken zurück und wird etwas rot. Ich passe mein Tempo an um bequem neben ihm zu laufen – bisschen langsam, aber er macht seine Sache nicht ganz schlecht. „Kommst langsam ein bisschen an, was? Schon eingewöhnt hier?“ Ich weiß, dass Noct sich immer noch Stress macht wegen Prompto. Diese ganze Unsicherheit, ob er es nun ist oder nicht… darauf habe ich auch keine Antwort. Ich bin aber auch nicht der Richtige, um über sowas nachzudenken, das müssen Leute wie Ignis machen, die mehr Hirn als Muskeln im Körper haben. In einem sind Noct und ich uns einig: Solange wir nichts sicher wissen, ist Prompto nicht tot. Und solange Prompto nicht tot ist, mache ich mir keinen Stress. Sunny antwortet mir nicht, aber sein ‚Guten Morgen‘ eben war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, damit kann ich arbeiten. Wenn er nicht redet, übernehme eben ich das Blabla. „Du läufst immer dieselbe Strecke, oder? Lust, mal eine von meinen Routen mitzugehen?“ Schweigen, dann ein vorsichtiges Nicken. „Super, dann komm hier lang. Siehste mal was anderes.“ Ich winke ihm, mir zu folgen, und Sunny joggt hinter mir her wie ein braver Hund. Die gewählte Route ist keine Herausforderung, aber bei Sunnys Trainingsrückstand noch anspruchsvoll genug. Wer weiß, wenn er vom Laufen anständig geschafft ist, lockert das vielleicht auch seine Zunge. Und die Gegend ist schön, da sieht man auch was von der Stadt und den neu gepflanzten Grünanlagen. Ich verstehe nicht viel von Politik, aber Noct und Ignis scheinen ihre Sache gut zu machen – die Ruinen werden langsam weniger, es werden Gebäude restauriert, die es dringend brauchen, und die Menschen, denen wir beim Joggen begegnen, sehen zufrieden aus und grüßen uns freundlich zurück, wenn wir ‚hallo‘ oder ‚guten Morgen‘ rufen. Sunny scheint es noch viel Mut zu kosten, aber er schafft es, jeden zu Grüßen, der uns entgegen kommt - manchmal sogar mit einem Lächeln. Und er freut sich sichtlich, dass die anderen zurück grüßen. „Wird langsam hier in der Stadt“, greife ich das Gespräch wieder auf, „Macht unser König schon nicht schlecht. Die Sporthalle ist auch wieder aufgebaut, und wir haben einen coolen neuen Trainingsparcours für die Konigsgleven und die Garde. Lust, dir den mal mit mir anzusehen? Du machst mit Schusswaffen, oder?“ Irgendwas war da jedenfalls von wegen MI Scharfschütze oder so. Sunny nickt, diesmal tatsächlich untermalt von stimmlicher Zustimmung. Der taut ja heute richtig auf. „Gut gefrühstückt hast du ja, oder? Hat Ignis dir was Schönes gekocht?“ Wieder ein Nicken und Brummen. Ich werde ja inzwischen von meiner Frau verköstigt, aber ein wenig neidisch bin ich schon manchmal wenn ich höre, was Noct und Sunny so serviert bekommen… Und da kommt mein Hausarzt noch und meint, ich soll mit dem Cholesterin aufpassen. Bah. Dabei ist mein Blutdruck völlig in Ordnung, seit Noct wieder da ist. Ich plaudere munter weiter, während Sunny langsam die Luft ausgeht, und führe ihn schließlich zu unserem Trainingsplatz. Das hier war kein offizieller Bauauftrag, das war Teamarbeit. Die Männer und Frauen der Garde haben gute Arbeit geleistet, der neue Parcours ist richtig super geworden. Total High Tech, mit Monstersimulationen, Kistenclowns und Ballwerfern, denen man ausweichen muss, um ans andere Ende zu kommen. Für die offensiven Abschnitte gibt es sogar elektronische Punktezähler, und man kann die Aufgabe mit jeder Waffe bewältigen. Perfekt für die Männer des Königs. Sunnylein braucht noch einen Moment, um zu verschnaufen, in der Zeit suche ich ihm eine Waffe aus. Keine echten Waffen – auch die Dinger hier sind elektronisch. Ich wähle eine normale Handfeuerwaffe, wie Prompto sie getragen hat, und ein Maschinengewehr. Mal sehen, was er damit macht, wenn ich ihn erst mal am normalen Stand schießen lasse. Das Ergebnis ist ziemlich ernüchternd – in dem Moment, in dem er das Maschinengewehr in der Hand hat, erstarrt Sunny praktisch zu Stein. Ich kann direkt sehen, wie das Licht aus seinen Augen weicht, als er die Waffe auf die Zielscheiben richtet und abdrückt. Die Trefferquote ist mit beiden Waffen erbärmlich. „So wird das nichts, Hündchen, du schießt ja wie ein MI. Mach dich mal locker!“ Ich packe Sunny an den Schultern und drücke ihn herunter, nicht grob, aber doch so, dass er eigentlich nachgeben müsste. Mann ist der steif… Ein Flashback von der Kaserne? „So triffst du mit hundert Schuss keinen Behemoth, mein Freund. Du bist doch kein Roboter, vorhin sah das besser aus.“ Meine Worte sind gemein, aber eigentlich will ich ihn nur provozieren, sich wieder normal zu bewegen. Seine Schultern geben nur langsam etwas nach, immer noch hält er sich verkrampft an der Waffe fest. Ich lasse meine Hände zu seinen dürren Ärmchen herunterwandern, knete die Muskeln ein bisschen weich und packe ihn schließlich an der Hüfte, um ihn soweit aus der Balance zu bringen, dass er sich selbstständig bewegen muss, um sich aufrecht zu halten. Es funktioniert, Sunny fängt ein wenig an zu zappeln und lässt leise Protestlaute hören. Endlich windet er sich unter meinem Griff und ich fange an, ihn zu kitzeln und in den Schwitzkasten zu nehmen. Er schaffte es, sich freizustrampeln. Ich nutze den Moment seines Triumphes, lobe kräftig und schubse ihn unvermittelt in den Parcours. „Und los!“ Der erste Gegner springt aus seiner Kiste, so unvermittelt plötzlich, dass Sunny vor Schreck fast auf dem Hintern landet. Er fängt sich gerade so, gibt eine Salve aus seinem Gewehr ab und springt weg, als das Monster auf den Weg hinter ihm fällt. „Lauf!“, fordere ich und jogge außerhalb des Parcours mit, um ihn weiter zu beobachten. „Sehr gut, das wollte ich sehen!“ Gemeinerweise habe ich die Schwierigkeit recht hoch eingestellt. Nicht, damit er scheitert – er soll nur nicht nachdenken. Der Trick funktioniert, Sunny bewegt sich. Er ist schnell, treffsicher, und seine Manöver sind die eines Mannes der Königsgarde. Cool, ausgelassen, individuell. Behände wechselt er zwischen beiden Waffen hin und her, springt über Hindernisse hinweg, rollt sich vor Angriffen davon und schießt alles nieder, was der Aufbau an Gegnern zu bieten hat. Am Ziel angelangt muss er die Hände auf die Knie stützen, um wieder Luft zu bekommen. Ich schlage ihm lachend mit der Hand auf den Rücken und er fällt hilflos auf die Matte am Boden. „Sehr gut, volle Punktzahl!“, lobe ich, „Wir sollten dir ne Uniform besorgen, Sunnyboy!“ Sunny lacht, erst leise, dann richtig ausgelassen. Dachte mir doch, dass der Sport ihm gut tut… so mit zerzausten Haaren sieht er fast wirklich aus wie Prompto. Aber ganz im Ernst, nach der Leistung – wer sollte er auch sonst sein. Klar, Prompto ist gesprächiger, aber das wird schon, wenn er erst mal wieder Fuß fasst. Ich war ja auch nicht ich selbst, als Noct nicht da war. Ich stimme in das Gelächter mit ein, schubse Sunny, als er aufseht, um noch ein kleines Wrestlingmatch zu provozieren, bevor ich ihn völlig ausgepowert weiterschicken muss. „Morgen wieder?“, rufe ich ihm noch nach. Sunny lacht heiser und schüttelt den Kopf. „Okay, dann sehen wir uns übermorgen. Selbe Zeit!“ Hat der doch tatsächlich den Nerv, mir den Vogel zu zeigen. Aber er wird kommen. Den hol ich mir schon. Morgen ist erst mal Noct dran, der wird mir langsam dick auf seinem Thron. Bisschen Sport nach dem Frühstück wird ihm gut tun. Kapitel 14: Vom Mut, etwas zu ändern ------------------------------------ Unsicher blicke ich in den Spiegel in meinem neuen Zimmer. Der Mann, der mir entgegen blickt, sieht aus wie jeder andere MI – blond, blauäugig, blass. Die halblangen Haare hängen schlaff herunter und er ist immer noch so dünn, dass man auf zwanzig Meter Entfernung noch alle Rippen zählen könnte. Tatsächlich… sähe mir jeder der anderen MI vermutlich ähnlicher als ich es jetzt tue. Der verhasste Barcode an meinem Arm ist das einzige, woran man mich sicher von den anderen unterscheiden kann, der einzig sichere Beweis, dass ich ich bin, und nicht jemand anderes. Und wenn ich nicht ich bin… Ich seufze und setze mich aufs Bett. Noct hatte mich eigentlich nur gebeten, kurz nach Ignis zu sehen. ‚Hey du‘ hat er mich genannt, denn anders als die anderen weigert er sich, mich Sanni zu nennen. Warum? Bin ich ihm keinen Namen wert? Oder will er nur nicht, dass ich jemand anderes bin als ‚Prompto‘? Ignis Worte spuken mir immer noch im Kopf herum. „Wenn du nicht Prompto bist, ist Prompto tot. Und wenn dem so ist… dann will ich zumindest, dass Noct damit abschließen kann.“ Ignis hat seit Wochen nicht geschlafen. Er hat tiefe Ringe unter den Augen, gefühlt fünfzehn Kilo abgenommen, und bekommt unter Stress keinen Satz mehr zustande, der mehr als drei Wörter hat. Er läuft, obwohl er wieder sehen kann, mit dunkler Sonnenbrille und geschlossenen Augen durch die Gegend, weil er so oder so ständig wogegen rennt. Noct hat ihm befohlen, endlich schlafen zu gehen. Dann hat er mich gebeten, das zu kontrollieren. Und natürlich war Ignis noch wach – er hatte seinen Schlafanzug an und das Bett zerwühlt, saß aber mit dem Laptop auf dem Schoß da und hat Listen und Fotos durchwühlt. Fotos von mir, auf denen man Teile des Barcodes sieht. Fotos der Leichen aus der Kaserne, der ich so knapp entkommen bin. Einer von uns ist Prompto. Und er will herausfinden, wer. Damit Noct nicht mehr leiden muss… denn das tut er. Auch wenn er es tagsüber gut verbirgt, ich weiß, dass er nachts heimlich weint. Ich habe Ignis den Laptop weggenommen, ihn umarmt, meine Stirn an seine gelegt und ihm fest in die Augen gesehen. Habe ihm versprochen, dass ich mich um Noct kümmern werde, dafür sorgen, dass er nicht mehr weinen muss. Zumindest nicht heute… damit Ignis endlich schlafen kann. Und ich werde dieses Versprechen halten oder bei dem Versuch untergehen. Um mir Mut zu machen betrachte ich die Fotos über meinem Spiegel. Eines von jedem Tag, seit ich hier bin. Ich hab Fortschritte gemacht, das Joggen und das Training mit Gladio, dazu Ignis Aufbaukost, machen sich schon bemerkbar. Ich bin immer noch dürr, aber nicht mehr so schlimm wie bei meiner Ankunft. Noch weit weg vom Ziel, aber… die Zeit habe ich nicht. Die Zeit hat vor allem Noct nicht. Ich will ihn nicht wieder drei Jahre warten lassen, bis ich so weit bin. Nicht diesmal. Immerhin mein Bart ist wieder so wie er ihn kennt, und mit einer Bürste und etwas Haarspray funktioniert auch die Frisur. Der Haaransatz wandert langsam nach hinten und in das Blond haben sich ein paar weiße Haare gemischt, aber dagegen kann ich nichts tun. Immerhin noch besser als Gladio... der wird langsam richtig grau. Ich ziehe mir lässige Kleidung aus dem Schrank – bequeme Hosen und ein ärmelloses Shirt, vielleicht noch eine Weste dazu – und blicke noch einmal in den Spiegel, um meine Haltung zu prüfen. Lächeln! Naja, wird schon halbwegs reichen. Besonders überzeugend fand ich mich eh nie, aber irgendwie hat man mir die Nummer doch jedes Mal abgenommen. Noct hat sich heute den Tag von allen Terminen entschuldigen lassen, weil er auch mal Zeit für sich braucht. Keine politischen Diskussionen, keine endlosen Besprechungen, keine Audienz. Einfach mal Zeit, durchzuatmen. Fast hätte ich erwartet, dass er einfach im Bett bleibt, aber er hat sich tatsächlich angezogen und aus seinem Zimmer getraut. Ich sammle noch einmal zusammen, was ich an Mut in mir finden kann, und gehe auf ihn zu. Er sieht mich und schaut gleich wieder weg. Also tue ich einfach so, als hätte ich nicht gesehen, dass er mich gesehen hat, und klopfe ihm freundlich auf die Schulter. „Morgen Noct. Hast du Lust, heute mit mir runter in die Stadt zu kommen? Ich wollte mich mal umsehen und dachte du kommst vielleicht mit, wenn du nichts zu tun…“ Ich spreche schnell, größtenteils vor Nervosität, aber doch nicht schnell genug. Schon sind wieder drei Damen zwischen uns gegrätscht, von der Firma, die die anstehende Hochzeit mit Lunafreya plant. Scheint super wichtig zu sein. „… hast. Uhm.“ Ich weiß nicht, ob Noct es noch hört, rede aber einfach weiter, weil ich Ignis versprochen habe, alles zu versuchen, und jetzt nicht einfach aufgeben kann. „Ich… warte einfach draußen an der U-Bahn auf dich, okay?“ Die Damen drängen mich ab und ich schleiche ungesehen davon. Die ganze Mühe… aber ich bin eben doch nur ein stinknormaler Typ, den man einfach mal wegschubsen kann. Keine Ahnung, ob Noct meine Worte verstanden hat, aber ich hocke mich jetzt trotzdem an die U-Bahnstation und warte da. Gibt immerhin ein paar Tauben, die ich fotografieren kann, und ich habe ein neues Handy, auf dem ich Kings Knight III zocken kann. Zumindest, solange der Akku noch ausreichend voll ist. Ich beschäftige mich gerade mit dem Versuch, eine Taube mitten im Flug abzulichten – nicht so einfach, aber dank Ignis habe ich immerhin wieder eine anständige Spiegelreflexkamera – und überlege, ob ich in die Zitadelle zurückgehen und einen neuen Versuch starten sollte, da kommt Noct plötzlich doch. „Hey“, meint er leise und sieht zu mir runter, „Sorry, dass es etwas gedauert hat. Wartest du schon lang?“ „Gar nicht“, lüge ich mit einem Blick auf die Bahnhofsuhr, „Nur etwa zwei Stunden, zweiunddreißig Minuten und jetzt genau fünfzehn Sekunden.“ Noct blickt schuldbewusst zu Boden. Er hat sich nochmal umgezogen, trägt jetzt betont lässige Kleidung und eine Kappe, die sein halbes Gesicht verdeckt. „Tut mir Leid… die haben mich einfach nicht gehen lassen.“ „Scheint ja wichtig gewesen zu sein“, lenke ich ein. Noct seufzt noch tiefer. „Ging um die Farbe der Servietten für die Hochzeit“, erzählt er, „die hatten ungefähr eine Million Rosatöne zur Auswahl und wollten meine Meinung. Ich hab einfach Lachs gesagt, weil ich mit dem Wort wenigstens was anfangen konnte, aber Luna wollte wohl Rosé, und da musste ich dann natürlich erst mal abwiegeln bis sie mir geglaubt haben, dass ich das auch völlig okay finde, nicht beleidigt bin, sowieso denke, dass Luna von dem Thema mehr Ahnung hat und auch ganz sicher nicht sauer bin. Ganz ehrlich, dass die da jedes Mal so ein Theater machen… Die Farben sehen eh fast gleich aus!“ „Gladio’s Hochzeit wäre an sowas fast gescheitert“, erinnere ich mich, „Obwohl es da glaube ich eher darum ging, dass er zu wenig Interesse für die Details gezeigt hat. Seine Verlobte hat es ihm dann zum Glück doch noch irgendwie verziehen.“ Das zumindest bringt Noct dann wieder zum Schmunzeln. „Kann ich mir lebhaft vorstellen“, meint er, „Wolltest du irgendwo Bestimmtes hin? Hier in der Nähe gibt es einen kleinen Campingplatz, wo man ein bisschen angeln kann, das würde ich gern machen, wenn es dich nicht stört. Mich entspannt das immer… hatte in den letzten Tagen nicht wirklich die Zeit.“ „Kann sein, dass ich da auch schon mal war. Der Campingplatz ist aber eigentlich geschlossen, oder?“ Ich gehe trotzdem schon mal in die Richtung. Noct folgt mir, er sieht zumindest schon ein bisschen entspannter aus. „Zum Campen schon, aber das Gelände ist nicht gesperrt. Der See ist auch ziemlich zugemüllt, aber ab und an beißt schon noch was. Jetzt ist es zehn, mit ein bisschen Glück könnten wir uns zum Mittagessen einen Fisch grillen.“ „Wenn dir drei Stunden dafür reichen“, necke ich und denke an Nora. Noct angelt definitiv besser, auch unter härteren Bedingungen. Noct geht nicht darauf ein, er wirkt abwesend. Vielleicht auch ein bisschen nervös. Ebenso wie ich… ich bin froh, dass er mir am Steg den Rücken zuwendet. Der vertraute Anblick beruhigt mich, ich kann hier einfach stehen, ihm zusehen und Fotos machen, während er geduldig die Angel ins Wasser hält. Er stellt sich deutlich besser an als Nora, aber beißen will hier wirklich nicht viel. Nur winzige Fische, die er wieder zurückwirft. „Die sollen erst mal groß genug werden, um Nachwuchs zu machen“, erklärt er, „Sonst gibt es hier bald gar keine Fische mehr.“ „Satt wird man von denen eh nicht“, stimme ich zu, „Glaub mir, ich hab’s probiert…“ „Hat Nora wieder versucht, zu angeln?“ „Ja, sie meinte, das wäre billiger, als Essen zu kaufen. Bei den ganzen Ködern, die sie verloren hat, dürfte es aber eher andersrum gewesen sein…“ Noct lacht leise. „So hab ich auch mal angefangen…“, erinnert er sich, „Braucht viel Übung, die großen Fische an Land zu ziehen. Die reißen einem ständig die Schnur ab, wenn man nicht ganz genau aufpasst.“ „Ich glaube bei Nora ist es auch die Ungeduld“, überlege ich. Sie hat mich an Noct erinnert, wie sie da am Steg stand, aber jetzt wo ich ihn selbst sehe… kein Vergleich, eigentlich. Allein diese Ruhe, die er ausstrahlt… hier könnten Tage vergehen, Noct würde es nicht mal merken. Nicht, bis er den Fisch hat, den er haben will. Mein Magen knurrt. „Doch schon hungrig?“ „Es ist fast halb eins… kommt da noch ein Fisch?“ „Nein, nur leere Dosen und ein rostiges Fahrrad“, entgegnet Noct, „Die Fische haben heute wohl auch frei.“ Er schickt seine Angelausrüstung zurück in den Äther und sieht mich zum ersten Mal direkt an, wie ich da auf dem Steg sitze. Ich fühle mich ertappt, erwidere den Blick aber. Seine Augen sehen traurig aus… genau wie an dem Tag, als Nora und Callus mich vor ihm abgeliefert haben. Er erkennt mich nicht. Nicht mit der Sicherheit, die er sich wünscht, jedenfalls. „Wollen wir im Krähennest essen?“, fragt er leise. „Klar, gerne!“, entgegne ich so ausgelassen fröhlich wie ich kann und springe auf, „Im Moment kann ich es mir ja leisten…“ Noct schmunzelt. Besser als gar nichts, schätze ich. Zu meiner Schande muss ich ihn vorausgehen lassen, weil ich nicht weiß, wo die nächste Filiale liegt – im Reichenviertel war ich früher eher nicht so oft. Trotzdem fühle ich mich, als hätte ich damit eine wichtige Prüfung vergeigt… Kennys Essen muntert mich aber sofort wieder auf. Egal wo in der Stadt – oder wo in der Welt, wenn man‘s genau nimmt – Kennys Fritten schmecken immer gleich. Und sie sind klasse. Noct nimmt lieber den Lachs, vielleicht, weil weniger Gemüse dabei ist als auf dem Burger, vielleicht, weil er sich schon auf Fisch eingestellt hatte. Ich versuche, eine Unterhaltung aufkommen zu lassen, aber Noct ist so tief an Grübeln, dass er gar nicht richtig zuhört. „Wollen wir nachher in die Spielhalle?“, rege ich an, „Die haben eine neue Version von Justice Monsters, und Dungeon Shooter hat ein Update mit neuen Gegnern bekommen. Da könnte man ein wenig Dampf ablassen und das Zielen üben. Und das sogar ohne gleich auf die Mütze zu bekommen wie in Gladios Traningsparcours! Mir tut jetzt noch alles weh von der Aktion gestern. Jeden zweiten Tag schickt er mich nach dem Joggen durch diese blöde Strecke…“ Noct lacht und verschluckt sich fast an seiner Cola. „Ach, dich auch? Und ich dachte schon, er nimmt nur mich so hart ran…“ „Ich glaube er ist da ziemlich fair. Hab mal gesehen, wie er mit seinen Rekruten umspringt… da kann man noch froh sein, wenn man den Parcours überlebt und sogar noch ein Lob abbekommt.“ Und das gibt’s natürlich nur, wenn man wirklich alles getroffen hat. Ein Fehler und es bleibt bei ‚nächstes Mal konzentrier dich‘… „Tja…“ Noct blickt wieder zu seinem Fisch runter. Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass mein Versuch, ihn aufzuheitern, besonders erfolgreich ist. „Aber klar, lass uns in die Spielhalle gehen. Irgendwas abschießen klingt super im Moment.“ „Sag ich doch. Gibt nichts Besseres als Videospiele, wenn man Stress hat.“ Wieder ein schwaches Lächeln. Noct sieht immer noch traurig aus… Ich hoffe, meine Anwesenheit macht es ihm nicht schwerer. Wenn ich nur irgendwie beweisen könnte… ich blicke auf den Barcode auf meinem Arm. Nutzlos, das blöde Ding. Da könnte man die Seriennummer einmal brauchen, und dann hat keiner einen Vergleich. Wird wohl doch wieder alles an Ignis hängen bleiben. Wir müssen ein ganz schönes Stück laufen, um zu unserer alten Spielhalle zu kommen – von der Schule aus war der Weg definitiv kürzer –aber immerhin steht die Bude. Ich habe den vagen Verdacht, dass die Yakuza das Geld dafür aufgebracht hat, weil sie an den Glücksspielautomaten gut verdienen. Unsere Politiker hatten ja nicht mal den Anreiz, mein altes Wohnviertel wieder hochzuziehen. Ich hätte es den anderen Gegenüber nie zugegeben, aber der Wohnwagen in Hammerhead und später auch Gladios Zelt waren ein eindeutiges Upgrade zu meiner vorherigen Wohnsituation. Schlecht verdient habe ich zwar nicht in der Firma, aber um so ein Haus von Grund auf neu zu bauen hätte ich schon noch ein paar hundert Jahre sparen müssen… und wir armen Leute bekommen unsere Häuser natürlich nicht aus der Staatskasse gebaut. Westend ist ja nicht gerade das Caelum Via. „Wow, ganz schön kaputt, die Straßen hier“, meint Noct und springt über einen tiefen Riss in der Fahrbahn. Autos fahren hier seit dem Krieg nicht mehr. „Ja, deswegen gibt es den Chocobo-Verleih. Mit den Tieren kommt man hier besser durch als mit dem Auto, und die U-Bahn fährt gar nicht mehr. Ich find‘s irgendwie cool, durch die Stadt reiten zu können, auch wenn alle sich über den Gestank und den Dreck beschweren.“ „Chocobos gehören nicht wirklich in eine Stadt“, brummt Noct, „hier sind die Straßen zu eng, und den Mist will auch keiner wegräumen. Warum hat sich hier eigentlich niemand um die Infrastruktur gekümmert? Die Staatskassen sind voll, man hätte nur mal anfangen müssen.“ „Hatten halt keinen König“, antworte ich, „Und die Kanzler haben ihre ganze Energie darauf verwendet, das Volk auf ihre Seite zu ziehen. Insbesondere natürlich das zahlende Volk… wir normalen Menschen interessieren niemanden.“ „Mich schon“, meint Noct wütend. „Ich weiß.“ Irgendwann spreche ich ihn auf das Westend-Viertel an, falls es nicht eh in den Top-Ten der gewählten Sanierungsziele gelandet ist. Aber da bin ich guter Dinge… wir sind nicht reich, aber wir sind recht viele. Und wahlberechtigt. Mir gefällt das neue System, direkt für Entscheidungen zu wählen anstatt für politische Parteien. So weiß man wenigstens, für was man kämpft – konkret, weil man eine Entscheidung für eine Sache trifft, anstatt ein blindverpacktes Komplettpaket zu kaufen. Statt der Kanzler gibt es jetzt bald gewählte Bürgermeister, die die entlegeneren Regionen von Lucis in Insomnia vertreten sollen. Bin mal gespannt, wozu das führt… die alten Kanzler hier jedenfalls haben sich zu etwas zusammengerottet, was Ignis ‚Opposition‘ nennt. Mir ist das zu hoch. Noct lässt mich zuerst an den Dungeon Shooter. Er kennt das Spiel noch aus der ersten Version, da hat sich viel geändert. Rekordhalter bin immer noch ich, weil ich mich in letzter Zeit oft genau hier hin verkrochen habe, um der Zitadelle und den Blicken ihrer Bewohner zu entgehen. Noct übernimmt, und er macht mir gefährlich Konkurrenz. Die Entschlossenheit, mit der er die Monster niederschießt, macht mir fast etwas Angst. „Hey, das Spiel hat ja sogar einen Co-Op Modus dazubekommen!“, fällt ihm auf. „Ja, vor ein paar Jahren schon. Bin leider nie dazu gekommen, ihn mal auszuprobieren.“ Noct blickt mich unschlüssig an, dann auf den Boden. Seine nächsten Worte scheinen ihn viel Kraft zu kosten. „Wollen… wollen wir zusammen spielen?“ „Klar, gerne!“ Ich stelle mich an den Automaten direkt neben ihn und Noct ruft ein Teamspiel aus. Er wirkt nervös, lässt mich den Kampf eröffnen. Seine Konzentration scheint unter der Angst zu leiden, ich muss scharf aufpassen, dass die Monster ihm nicht zu nahe kommen. Sie sind stärker als im Einspielermodus, und die KI ist darauf getrimmt, den schwächeren Spieler zuerst zu plätten. Verliert einer von uns, sind wir beide Game Over. Und selbst wenn dem nicht so wäre… Noct ist mein Freund und mein König, es ist meine Pflicht, ihn zu schützen. „Noct, das war peinlich!“, mahne ich, als er wieder ein Monster übersieht und nur knapp mit dem Leben davon kommt. Noct brummt nur genervt, heilt seinen Charakter und fängt endlich an, sich wieder richtig auf das Spiel zu konzentrieren. Der Unterschied ist spürbar – wenn der Computer wirklich intelligent wäre, hätte er jetzt sicher Angst. Fast fühlt es sich an wie früher. Pass auf. Dort drüben. Schon gesehen. Die Kommunikation läuft wieder. Noct hat endlich aufgehört, nachzudenken, vertraut sich einfach unserem alten Rhythmus an und lässt sich von mir durch das Spiel führen. Wir haben nicht oft genau so gekämpft, weil Noct eher selten Schusswaffen benutzt, aber wenn er es mal getan hat standen wir genauso nebeneinander wie jetzt. In sicherer Deckung hinter einem Felsen vielleicht, den Blick aufs Ziel gerichtet, immer ein Auge auf Gladio und Ignis, die näher ran müssen und vielleicht Hilfe brauchen. Ein Team. Eine Einheit. Keiner bleibt zurück. Schließlich tritt der Endgegner auf den Plan. Es ist ein anderer als im Einzelspiel, deswegen dauert es etwas, bis wir seine Schwachstelle gefunden haben. Aber Noct und ich gemeinsam sind einfach unschlagbar, und das bekommt der Computer jetzt auch zu spüren. Unsere Punktzahl ist fast doppelt so hoch wie die des bislang führenden Teams. „YES! Schlag ein, Noct!“ Ich halte die Hand hoch und Noct schlägt tatsächlich mit seiner dagegen. Einen Moment lang ist die Welt in Ordnung, dann wendet er sich doch wieder ab, als wäre er gedanklich wieder im Jetzt angekommen. Doch wieder unsicher ob ich wirklich der bin, für den er mich hält? Oder habe ich etwas falsch gemacht? Ich versuche, seine abweisende Haltung nicht persönlich zu nehmen, aber auch mir fällt es schwer, damit umzugehen. Hinter uns applaudiert jemand. „Nicht übel, die Herren“, meint der Mann. Er trägt die Kleidung der Meldatio Jäger und sieht ziemlich mitgenommen aus – nicht verletzt, zumindest nicht körperlich, aber erschöpft und abgekämpft. Noct sieht den Mann an, sicher froh über die Ablenkung. „Ihr zwei seid nicht zufällig Jäger, oder?“, fragt der Mann, „Ich bin Tom, ich vertrete hier in der Stadt die Jägerzentrale. Gibt hier nicht viele Leute mit eurem Können, die nicht bei der Garde angestellt sind.“ „Wir… haben mal für die Meldatio gearbeitet“, gibt Noct zu, „Keine richtigen Jäger, nur Headhunter.“ Nocts Stimme ist leise, eher bedrückt. Er ist nicht wirklich mit dem Herzen dabei. „Rang?“ „Neun oder zehn, wenn ich mich recht erinnere.“ Toms Augen leuchten bei der Angabe. Scheint, als hätte er welche wie uns gebraucht… „Hättet ihr Zeit für einen Auftrag? Wir haben hier ein echtes Problem, und mir gehen die Leute aus. Hab schon fünf meiner besten Jäger verloren wegen dem Vieh und weiß immer noch nicht, was es ist.“ „Eine Aufklärungsmission also?“, mutmaße ich. „Ja. Ich will endlich wissen, womit wir es da zu tun haben. Es muss stark sein, stark genug, einen hochrangigen Jäger zu plätten, also lauft weg, wenn ihr es seht – ich will nur wissen, was es ist, damit ich ein Team zusammenstellen kann.“ Sein Blick hängt an der Kamera, die ich um den Hals trage. Ich sehe zu Noct. „Klar, können wir machen“, meint der, „Wo?“ „Auf der Nordseite, hinter der Stadtgrenze. Die Anwohner in der Gegend hören nachts ein Scharren, dann sind tiefe Krallenspuren in der Wand. Wer außerhalb der Stadt unterwegs war, kommt nicht zurück… Die offene Gegend da ist tagsüber frei, aber es gibt nicht weit weg eine Höhle, aus der Geräusche kommen. Da muss drin sein, was nachts raus kommt. Seid vorsichtig.“ „Immer.“ Versichert Noct und geht nach draußen, um uns Chocobos zu rufen. „Hallo Charly, gibt’s dich auch noch?“ Das schneeweiße Tier gibt ein fröhliches „Kweh!“ von sich und schnappt verspielt nach Nocts Kappe. Ich muss lachen und plüsche meinem eigenen Chocobo durch sein goldenes Gefieder. So schön… und der Geruch ist auch toll. Ich werde nie verstehen, wie man den hassen kann. „Äh… ein Problem gibt’s da noch…“, fällt mir ein, bevor wir aufsteigen. „Was wäre das?“ „Ich… bin komplett unbewaffnet. Seit ich aus diesem Bunker raus bin hatte ich keine echte Waffe mehr in der Hand…“ Und anscheinend will mir auch niemand eine anvertrauen. Bin eben doch nur der MI, der vielleicht ein Feind ist… der Gedanke tut weh. Noct sieht mich an, aber auch nicht direkt. Er scheint zu überlegen, beschwört schließlich eine Waffe in seine Hand. Ich erkenne meine alte Lionheart und strecke die Hand danach aus, aber Noct zögert. „Die gehört… die ist mir wichtig. Sei bitte vorsichtig damit.“ „Versprochen. Ich passe gut darauf auf.“ Hat er die Waffe etwas die ganze Zeit bei sich getragen? Ich nehme den Revolver an mich und kann noch immer die Wärme von Nocts Hand daran spüren. Meine treue Lionheart… ich dachte, ich sehe sie nie wieder. Und dann fällt mir ein, dass Noct sie wahrscheinlich im Bunker gefunden hat, zusammen mit meinen anderen Sachen. In demselben Bunker, in dem die anderen MI gestorben sind… Noct war dabei, als Ignis die Leichen entdeckt hat, deren Fotos jetzt auf seinem Laptop liegen. Er muss alles gesehen haben. Live. In dem Wissen, dass ich auch dort drin war… „Wenn du nicht Prompto bist, ist Prompto tot.“ Ignis Worte klingen wieder in meinem Kopf nach. Plötzlich verstehe ich, was er gemeint hat… und wieso es Noct so schwer fällt, mich anzusehen. Ich schlinge mir das Schulterholster um die Brust, ziehe den Gurt ein paar Löcher enger als gewohnt und klettere endlich auf meinen Chocobo. Natürlich nicht, ohne vorher ein Selfie mit dem schönen Tier zu machen. Noch ein Foto von Noct auf Charly und los geht’s. „Die Stadt ist echt ganz schön heruntergekommen“, lamentiert Noct, als wir über eingebrochene Seitenstraßen auf die Nordmauer zu reiten. „Dabei sind die Staatskassen echt voll genug und die Steuern sind auch zweimal erhöht worden in den letzten Jahren. Was haben diese Kanzler eigentlich gemacht in all der Zeit?“ „Geredet und gestritten“, vermute ich, „Und dafür gesorgt, dass die großen Steuerzahler – also Hotels und Firmen und so – schnell wieder auf festem Boden stehen. Für die normalen Leute war kein Geld da, ebenso wenig für Sachen, die mehr Geld kosten, also staatliche Einrichtungen und dergleichen.“ „Aber die Krankenhäuser und Schulen stehen doch fast alle…?“ Ich seufze tief, überlege, wie ich das am besten erkläre. „Die sind… aus privaten Spenden restauriert worden. Wir vermuten… nein, eigentlich wissen wir, dass es die Yakuza sind. Ignis hat glaube ich mit deren Boss gesprochen, weiß nicht genau, worüber, war alles inoffiziell. Aber die haben mehr für die Stadt getan als alle Kanzler zusammen und ich glaube, wir – also die Königstreuen – haben uns dafür aus den Drogengeschäften rausgehalten. War eh Job der Polizei, wir waren mehr so eine geduldete Bürgerwehr.“ „Ich als König kann nicht wegsehen, wenn in meiner Stadt Drogen verkauft werden.“ „Wissen wir. Aber was immer Ignis gesagt hat hat die Typen dazu gebracht, aus eigener Kasse eine Entzugsklinik hochzuziehen. Außerdem kontrollieren die ihren Stoff besser, jedenfalls ging die Zahl der Drogentoten drastisch zurück. Ich glaube… ich glaube das einzige, was wirklich gegen die Drogen hilft, ist, ihm den Markt zu vermiesen. Entweder durch Legalisierung oder indem man das Leid der Menschen auf andere Weise beendet.“ „Zum Beispiel, indem man ihre Häuser restauriert und ihnen eine Zukunft bietet.“ Noct hält seinen Vogel an und blickt über die Stadt, die sich unter der Brücke ausbreitet. Von hier aus ist ein weiteres Zeltlager zu sehen, noch ein Viertel voller Menschen, die kein Zuhause mehr haben in dieser Stadt. Ich weiß, wie es in diesen Lagern zugeht – einmal Regen und das ganze Viertel ist krank. Mittags und abends schart sich alles um die gemeinsame Kochstation. Immer hustet irgendwer, eine Woche ohne Todesfall ist Glück. Ich schieße ein paar Fotos, vielleicht für die Zeitungen, die für die Abstimmung werben. Westend ist nicht das einzige Viertel in Not. „Ich verstehe, wenn da jemand Drogen nehmen will. Nur nicht, woher sie das Geld dafür haben…“ „Diese Menschen gehen ganz normal arbeiten“, erkläre ich, „Sie verdienen nicht mal schlecht, nur… nur so reich, dass sie den Aufbau stemmen könnten, sind sie nicht. Ich hab von meinem Gehalt ein Zelt und regelmäßig Essen gekauft und den Rest gespart. Hätte nie für ein Haus gereicht, aber irgendwann zumindest für ein kleines Auto, in dem ich bei schlechtem Wetter schlafen konnte. Andere haben sich gleich Wohnwägen besorgt, denen ging es dann recht gut.“ „Dann sieht das Westendviertel also auch so aus?“ Noct sieht mich nicht direkt an, aber er blickt zumindest in meine Richtung. Ich nicke. „Ja, ungefähr. Von meinem Haus steht jedenfalls gerade noch der Briefkasten.“ „Davon haben Gladio und Ignis nie etwas erwähnt.“ „Die… wussten auch nichts. Ich meine…“ Ich fahre mir seufzend durch die Haare, weiß nicht, wie viel Noct schon weiß oder wie ich mich erklären soll. „Ich… wollte den beiden nicht zur Last fallen, verstehst du? Wir haben alle ziemlich gelitten nachdem du fort warst und irgendwie… ging es besser, je weniger wir uns gesehen haben. Wenn jeder auf seine Weise mit der neuen Situation klar kommen konnte. Wenn die anderen gewusst hätten, dass ich im Freien schlafen muss, hätten sie mir sicher helfen wollen.“ „Also hast du einfach geschwiegen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich war oft bei Ignis zu Besuch, hab ihm mit dem Kleinen geholfen wenn seine Frau arbeiten war und einfach geredet. Duschen konnte ich auf der Arbeit, er hat also nie was gemerkt. Generell ging‘s mir wegen dem Job ziemlich gut, da sind ein Haufen andere Menschen in diesen Zeltstätten, die viel dringender Hilfe brauchen als ich, die aber keine reichen Freunde haben.“ „Wird Zeit, dass die Wohnviertel wieder aufgebaut werden“, meint Noct, „Aber jetzt lass uns weiter. Ich will in die Zitadelle zurück, bevor es dunkel wird.“ „Klar. Sorry, dass ich so viel rede.“ „Stört nicht, wenn du auch unterwegs reden kannst.“ Ich muss grinsen. Langsam wirkt Noct etwas lockerer im Umgang mit mir. Zumindest ein bisschen. Ganz umsonst ist dieser Ausflug jedenfalls nicht. Wir reiten einen Moment schweigend, während ich versuche, ein gutes Bild von Noct und Charly zu bekommen, auf dem auch noch der Hinterkopf von Sweety drauf ist – nicht so einfach bei dem Gewackel, aber das Ergebnis lohnt die Mühe. Noct drosselt sein Tempo etwas, bis wir auf einer Höhe sind, und ich muss die Kamera wegstecken. „Ignis hat auch erwähnt, dass ihr drei euch gestritten hättet“, meint er. Mich freut, dass die Formulierung praktisch voraussetzt, dass ich ich bin. „Erzähl mir davon… ich will wissen, was da los war, und Gladio und Ignis reden nicht. Meinen nur, jetzt wäre ja alles okay.“ „Ist ja auch alles gut jetzt“, versichere ich und meine es auch so, „Und wir haben nicht wirklich gestritten, jedenfalls nicht in dem Sinne. Wir waren nur… wir waren einfach fertig, alle drei. Die ganze Welt hat den Sonnenaufgang gefeiert, hat uns als Helden gefeiert, und wir standen da und mussten so tun als würden wir uns auch freuen, aber… aber eigentlich wussten wir alle nicht, wie es ohne dich weitergehen soll. Wir… waren uns auch nie besonders ähnlich, wir drei. Und selbst wenn… mit dem Tod eines nahen Freundes geht jeder anders um. Und es ist schwer, ich meine… es war viel schwerer, wenn wir zusammen waren. Einfach, weil wir vorher immer zu viert waren, und dann plötzlich nicht mehr.“ Noct schweigt, hört einfach zu. Ich weiß nicht, ob Ignis und Gladio ihm wirklich nichts gesagt haben, ob er nur meine Version hören will oder sogar kontrolliert, ob ich Dinge weiß, die nur der echte Prompto wissen kann. Es ist mir auch egal, es tut gut, einfach reden zu können. Es tut gut, dass endlich jemand zuhören will. „Irgendwann wurde dann auch deutlich, dass wir einfach alle anders mit dem Verlust umgehen. Ich war… ich war einsam, ich wollte reden. Über dich, eigentlich mit dir, und über alles, was damals passiert ist, gerade die Dinge, die mich fertig gemacht haben, wo in der Situation einfach kein Platz war, in Ruhe zu reden. Ich meine… ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Ich bin nicht wütend, ich bin nicht verletzt, und generell ist alles nur Ardyns Schuld. Aber wenn dann alles vorbei ist und man plötzlich Zeit hat, Fragen zu stellen, dann… also, ich jedenfalls wollte es einfach besser verstehen. In Ruhe über alles reden. Was passiert ist, was gut gelaufen ist, warum mache Sachen nicht so super gelaufen sind.“ „Klingt, als hättest du einen Therapeuten gebraucht.“ „Heh, das hat Ignis auch gemeint. Und ich war in Therapie. Aber… es gibt einfach Dinge, über die kann ich nicht einfach so mit einem Fremden reden. Das hätte er nicht verstanden.“ „Zum Beispiel, dass dein bester Freund dich angegriffen und vom Zug gestoßen hat?“ In Nocts Worten liegt so viel Wut und Schmerz, dass ich beinahe meinen Chocobo angehalten hätte. Ich treibe weiter um den Rückstand aufzuholen. „Ja, zum Beispiel das. Wer da nicht dabei gewesen ist, hätte es nicht verstanden. Und ich weiß, wie ich mich da gefühlt habe… ich hab nur nicht gewusst, wie es dir ging. Wie das passieren konnte… Da hab ich viel drüber nachgedacht, wenn ich allein im kalten Zelt lag. Und bitte, glaub mir wenn ich sage, dass ich dir keinen Vorwurf mache! Ich bin Ardyn auch auf den Leim gegangen, hab genau gemacht, was er von mir wollte. Ich wusste, dass was nicht stimmt, du hattest mich durch den ganzen Zug gejagt, ich hab gesehen, wie Ardyn neben dir gegen die MI gekämpft und dich in die Flugschiffe geschickt hat. Mir war klar, dass da was läuft, und trotzdem… ich hab nicht nachgedacht. Ich bin einfach aufs Dach gestürmt und hab meine Knarre gezogen und Ardyn hat bloß die Hände gehoben. Ich hab genau die Position eingenommen, in der er mich haben wollte. Ich hab nur nie verstanden, warum du meinen Namen gerufen hast, als du mich angegriffen hast.“ Diesmal ist es Noct, der unbewusst seinen Chocobo anhält. Sweety gibt ein entrüstetes „Kweh!“ von sich als er fast in seinen Kollegen rein rennt, weil ich das Bremsen versäumt habe. „Ich dachte du wüsstest…“ Nocts Worte sind leise, aber er sieht mir endlich direkt in die Augen. Einen Moment nur, bevor er sich wieder abwendet. Aber es tut gut. „Ich dachte, du wärst Ardyn, und er du. Dass er dich bedroht, nicht umgekehrt. Ich wollte… ich wollte dich beschützen.“ Ich kann sehen, dass Noct bei der Erinnerung die Tränen kommen. Weil Sweety sich weigert, nahe genug an Charly heranzurücken springe ich ab und lege meine Hand auf Nocts Bein. „Alles gut“, versichere ich ihm, „Ist ja nichts passiert.“ Charlys Zügel zittern in Nocts Händen, ich kann sehen, dass er den Tränen nahe ist. Aber es ist gut… Noct ist wie ich, auch er muss reden, damit es besser wird. Um beide Seiten zu verstehen und zu wissen, dass alles in Ordnung ist. „Tut mir Leid“, murmelt er. „Mir auch. Dass ich damals nicht aufgepasst habe und, dass ich es jetzt wieder ausgrabe. Weißt du… genau das hat Ignis und Gladio gestört. Die beiden… die wollten einfach vergessen.“ Ich klettere wieder auf Sweety und wir reiten weiter, zur Nordmauer und durch das Tor in die Steppe hinter Insomnia. Viel ist hier nicht, nur Boden, Himmel und ein paar Sträucher, bis hin zu den großen Felsen, in denen wohl die gesuchte Höhle liegt. „Gladio war ziemlich wütend“, erzähle ich weiter, „nicht auf mich, nicht wegen dir. Einfach immer. Ich glaube, er war in erster Linie traurig, aber er hat das überspielt indem er auf alles sauer war. Ging, solange er sich mit Arbeit ablenken konnte und er hat irgendwann eine gute Routine gefunden, in deren Rahmen er klar kam. Nur wenn dann irgendwas außer der Reihe war hat er sofort gebrüllt. Und wehe man hat es gewagt, in seiner Anwesenheit laut zu atmen oder gar deinen Namen zu sagen…“ Ich hab das ein paarmal vergessen zu beachten, meistens, weil es mir selbst gerade nicht so gut ging. Hat ziemlich weh getan, aber meistens konnte ich schnell genug rennen. Nur das letzte Mal… das letzte Mal vor Nocts Rückkehr, dass ich Gladio gesehen habe, hat er seinen Zorn runtergeschluckt. Ich muss schon ziemlich mies ausgesehen haben in dem Moment… aber er ist danach auch länger weg geblieben als bisher. Zwei oder drei Wochen… meine Vorräte waren schon ziemlich aufgebraucht, als Nemos Leute mich aufgegriffen haben. Um mir zu helfen… oder, damit ich ihnen helfe, mich an Insomnia zu rächen. Hab mich geweigert und wurde letztlich zum Sterben in der Kanalisation liegen gelassen, weil ich mir nicht helfen lassen wollte. Nicht um den Preis. „Er soll Ignis ziemlich heftig angegangen sein, hab ich gehört.“ Noct sieht mich nicht an bei diesen Worten. Die Antwort scheint ihm jedoch sehr wichtig zu sein. „Das habe ich nicht mitbekommen“, gebe ich zu, „Aber wenn hat Ignis ihm sicher verziehen. Wir waren alle mies drauf in der Zeit, wir wussten, den anderen geht es genauso. Gladio war nur wütend, damit er nicht traurig ist. Hat geschrien, um nicht zu weinen. Da… fallen schon mal Worte, die man so nicht meint. Auch mir gegenüber… das darf man einfach nicht ernst nehmen.“ Noct scheint mir nicht wirklich zu glauben. Wir haben die Höhle inzwischen erreicht, steigen ab, um die Chocobos heimzuschicken. Ich nutze die Gelegenheit um meinen Freund am Arm festzuhalten. „Hey… glaub mir ruhig, ja? Du weißt nicht, wie oft Gladio in der Zeit gesagt hat, dass er mich hasst und mich nie wieder sehen will. Und dann rat mal, wer trotzdem alle paar Wochen mit nem großen Carepaket im Arm bei mir aufgeschlagen ist, als ich ihn gebraucht habe. Hat nicht mal Spritgeld verlangt für die immer längere Strecke, die er bis zu mir fahren musste, und du weißt, Gladio fährt nicht gerade sparsam.“ Das zumindest bringt Noct wieder zum Schmunzeln, zumindest für einen kurzen Moment. „Du bist schnell darin, anderen zu vergeben“, meint er. Ich zucke nur die Schultern. „Kommt drauf an, wem. Und ob es demjenigen Leid tut.“ „Mir tut sehr Leid, was damals passiert ist.“ „Ich weiß.“ Was ich nicht weiß ist, ob ich mich trauen darf, Noct zu umarmen um ihn zu beruhigen. Deswegen halte ich meinen Abstand ein, während er die ersten vorsichtigen Schritte in die Höhle macht. Es ist… groß hier. Geräumig. Tatsächlich ist die Höhle wohl während des Krieges von den Niffen als Luftschiffhangar genutzt worden, noch immer stehen hier die Reste der großen Flieger. Alt, offen und verrostet, aber noch vollständig. Ich frage mich, ob sie jemand ausgeräumt hat. Und, wo das Monster ist, das wir suchen. „Licht an“, befiehlt Noct und ich greife eilig nach der Lampe an meinem Gürtel. Kaum zehn Schritte im Inneren ist es tatsächlich schon notwendig, für extra Licht zu sorgen… wie tief die Höhle wohl ist? „Fast ein Bisschen wie bei Dungeon Shooter, was?“, frage ich und leuchte in den Tunnel, „Nur mit weniger kleinen Monstern.“ „Beschwör‘s nicht“, grummelt Noct und hält sicherheitshalber schon mal sein Schwert bereit. Tatsächlich aber bleibt es still in der Höhle, so still, dass ich bald wieder zu plappern anfange, um nicht nervös zu werden. „Ich glaube auch nicht, dass Ignis allzu nachtragend ist. Was Gladio angeht, meine ich. Er hat ziemlich mies Konter gegeben und die beiden haben sich sicher sehr verletzt, also verbal, aber sie haben sich auch wieder vertragen, wenn es was zu tun gab. Wie gesagt, uns ging es allen dreien nicht gut, und wir wussten alle voneinander, dass keiner meint, was er sagt. Auch wenn’s eben weh tut.“ „Wie bist du mit Ignis klar gekommen? Du meintest vorhin, du hättest mit Nyx geholfen?“ „Manchmal, ein bisschen. Ignis war… nett zu mir. Oder hat es zumindest versucht, wie gesagt, es war schwierig. Er hat irgendwie versucht weiterzugehen, vorwärts zu kommen, ein neues Leben anzufangen. Hat nicht mehr zurücksehen wollen… da kam ich ihm mit meinem Redebedürfnis natürlich gerade recht. Wir… haben uns irgendwie arrangiert. Ich bin in Therapie gegangen, er hat seine Familie gegründet. Solange wir uns nicht zu oft gesehen haben konnte er mir verzeihen, wenn ich doch mal zu viel rede, und ich hab im Gegenzug ihm verziehen, wenn er verbal ausfallend geworden ist. Und er teilt hart aus, das muss man schon dazu sagen… gerade, wenn er verletzt ist. Er hat auch alles furchtbar rational gesehen, teilweise bis zu dem Punkt, wo er absolut gefühlskalt gewirkt hat. Aber ich wusste immer, dass er auch anders kann. Und Gladio sicher auch.“ Noct schweigt, folgt weiter dem Strahl seiner Lampe in den Tunnel. Langsam sind Geräusche zu hören, wie Krallen auf Stein. Ein dumpfes Knurren, noch weit weg. „Da lang“, meint Noct, „Das könnte es sein.“ Ich nicke und lade meine Waffe. „Gladio und Ignis sind nett zueinander“, meint Noctis, während wir uns dem Geräusch nähern, „aber ich habe Angst, dass das nur gespielt ist. Dass sie einander doch wütend sind, und es vor mir nur nicht zeigen wollen.“ „Ach was“, winke ich ab, „Ich bin sicher, das bildest du dir nur ein, weil du gehört hast, wir hätten uns gestritten. Das ist alles Schnee von vorgestern. Jetzt, wo du wieder da bist… jetzt geht’s uns allen wieder gut.“ Wenn mir Gladio jetzt in die Rippen boxt dann nur, weil ich im Training nicht aufgepasst habe. Gut, auch er nennt mich nicht Prompto, aber… aber von allen dreien ist er derjenige, der am wenigsten an mir zweifelt. Ich glaube er weiß längst, wer ich bin, auch wenn er mich noch Sunny-Boy nennt. Auch, wenn ich mich immer noch nicht wirklich zu reden getraut habe vor ihm. Hinter einer Kurve kommt ein riesiger Schatten hervor. Ein Behemoth… ein sehr junges Männchen, um genau zu sein. Noct und ich sehen uns kurz an und nicken. Ich entsichere meine Waffe, er wirft sein Schwert und warpt sich auf das Monster zu. Der Behemoth brüllt wütend, hebt seine Pranke nach ihm und zieht sie sofort wieder zurück, als er sich eine meiner Kugeln einfängt. Noct wechselt mitten im Sprung zu seinem Breitschwert und schlägt dem Monster mit einem Hieb den Kopf ab. Das war… antiklimatisch, um es mal so zu sagen. „Glaub irgendwie nicht, dass der hier fünf Jäger getötet haben soll“, brummt Noct und tritt gegen den abgeschlagenen Kopf, „so einen essen die doch zum Frühstück…“ „Er ist aber noch jung, oder? Vielleicht lebt seine Mutter ja hier.“ „Dafür ist er zu alt. Ein voll ausgewachsenes Männchen würde von seiner Mutter davongejagt oder gefressen. Das sind absolute Einzelgänger außerhalb der Paarungszeit… Lass uns trotzdem weiter suchen, ob hier noch was anderes ist.“ „Ist denn vielleicht gerade Paarungszeit?“ Ich meine, die war normal im Spätsommer, nicht jetzt im Frühling, aber ich könnte mich auch irren. Vielleicht hätten wir Ignis mitnehmen sollen… gerade für eine Aufklärungsmission wäre es praktisch, jemanden dabei zu haben, der den Gegner vernünftig analysieren kann. Aber Ignis soll lieber schlafen, am besten den ganzen Tag. Auch der hintere Teil der Höhle ist voll von Luftschiffen. Alle bereit, beladen und startklar, jedenfalls waren sie das vor zwanzig Jahren. Insomnia hatte nie eine Chance… alles, was Niflheim gebraucht hatte war die Möglichkeit, ins Innere der Stadt zu kommen und den König zu töten. Ohne König kein Wall, ohne Wall keine Chance. Der Friedensvertrag war von Anfang an nur ein Vorwand, eine Farce. Gut, dass wir längst aus der Stadt waren. „Was hast du damals gedacht?“ „Was?“ Nocts Frage verwirrt mich, so völlig aus dem Kontext. „Als ich dich vom Zug gestoßen habe. Was dachtest du, warum?“ Ich sehe Noct eine Weile einfach nur an, unschlüssig, was ich sagen soll. „Erstmal… gar nichts, denke ich. Es war viel zu kalt und ich stand ziemlich unter Schock. Ich hab auch vergessen, was passiert ist, bevor ich am Boden aufgekommen bin, einfach, weil es so… unsinnig war, verstehst du?“ Ich lache heiser bei der Erinnerung, „Als ob mein bester Freund mich angreifen und vom Zug stoßen würde… da konnte ich gar nicht dran denken. Das war einfach nicht möglich. Ich wusste nur, dass ich vom Zug gefallen war und dass es kalt war, also hab ich mir irgendwo warme Kleidung organisiert und versucht, irgendwie wieder auf Kurs zu kommen. Hab‘s nicht geschafft… nicht allein. Ardyn hat mich in das Labor gebracht, in dem ich entstanden bin. Und mir das Armband abgenommen, anscheinend.“ Ich hebe den rechten Arm, so dass Noct den Barcode sehen kann. „Ich hab immer Angst gehabt, dass das jemand sieht. Ich wusste nicht, dass ich ein MI bin, aber dass ich aus Niflheim komme war mir schon klar, als ich noch ein kleines Kind war. Ich hab den Code immer versteckt weil ich dachte, wenn den jemand sieht, weiß er Bescheid. Ich dachte… vor allem, nachdem Ardyn sowas angedeutet hat, ihr hättet es rausgefunden und mich für einen Spion gehalten. Davor hatte ich mein Leben lang Angst… ich glaube, er hat das gewusst.“ „Du glaubst wirklich, wir hätten dich einfach für einen Spion gehalten?“, fragt Noctis. Er klingt direkt bestürzt. „Glauben?“, antworte ich, „Eher nicht. Aber ich hatte Angst.“ Zu meiner Überraschung kommt Noct auf mich zu, greift wortlos meinen Arm und bindet ein etwas darum, so dass man den Barcode nicht mehr sieht. Es ist ein einfaches Taschentuch mit bunten Chocobomotiven darauf, richtig niedlich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Besser so?“, fragt Noct, „Das Tuch ist aus der Spielhalle eben. Ich brauch es nicht, aber wenn du dich so wohler fühlst, trag es.“ „Danke…“ Ich fühle mich wohler. Um nicht zu sagen glücklich. Der Barcode belastet mich schon lange nicht mehr, nicht mehr seit ich weiß, dass es meinen Freunden egal ist. Trotzdem… dass Noct sich Sorgen um mich macht, tut gut. Gerade jetzt, wo die lang vergrabenen Gefühle im Gespräch wieder hoch kommen, ist seine liebevolle Geste viel Wert. Leider wird der rührselige Moment auch sofort wieder unterbrochen, als ein zweiter Behemoth um die Kurve kommt. Er ist etwas größer als der erste und grau statt violett, aber immer noch keine Herausforderung. „Komm mit“, fordere ich Noct auf und wir gehen in einem der verlassenen Luftschiffe in Deckung. Ein wenig Suchen und tadah! Ein Scharfschützengewehr. Was man nicht alles findet… Munition rein, aus der offen Tür zielen, Bestie erledigt. Herrlich, wie einfach das manchmal geht. „Nicht übel“, meint Noct, „Darf ich das Ding auch mal ausprobieren?“ „Gerne, wenn’s dir Spaß macht.“ Ich nehme mir noch ein Maschinengewehr, einen Raketenwerfer und eine Handvoll Leuchtgranaten mit und wir untersuchen den Behemoth. Es ist ebenfalls ein Männchen, gut bestückt, aber nicht viel größer als der andere. Auch er sieht nicht aus, als könnte er einem hochrangigen Jäger gefährlich werden. „Glaubst du, wir suchen ein brünftiges Weibchen?“, fragt Noct. „Gut möglich… wüsste nicht, wie sonst zwei Behemoth-Männchen lebend in derselben Höhle sein könnten. Normal hätte der Größere den Kleineren ja fressen müssen, oder?“ „Oder zumindest tot beißen, aber das hätte er auch vor einem Weibchen getan, um seine Dominanz zu zeigen. Lass uns weiter suchen, zumindest, bis wir die Erkennungsmarken finden.“ „Ja, dann wissen wir wenigstens, wo die Jäger umgekommen sind…“ Und, falls die noch bei ihrem Marken sind, vielleicht auch wie und woran sie gestorben sind. Das ist der Teil, den ich daran hasse, Erkennungsmarken für die Jäger zu suchen… man findet oft auch die Leichen, oder was die Monster davon übrig gelassen haben. Und wenn man keine Leiche findet heißt das nur, dass das Monster auch die Knochen mitfrisst, was selten ein gutes Zeichen ist. Ein Brüllen ist zu hören, und wir springen zurück in die Deckung des imperialen Frachtschiffes. Ich reiche Noct das Scharfschützengewehr. „Weißt du, wie sowas funktioniert?“ Noct nickt und legt auf den Behemoth an, der jetzt um die Ecke stampft. Auch er ist grau, männlich, und wieder ein Stück größer als der letzte. Noct zielt und trifft, aber diesmal scheint eine Kugel nicht zu reichen. Das Tier schreit wütend auf, Blut quillt aus seinem Auge, wo Noct es getroffen hat, aber das Hirn scheint noch zu funktionieren. „Oh verdammt…“ Nocts zweiter Schuss geht daneben, der dritte Schlägt dem Tier einen Zahn aus, während es auf uns zu stürmt. Für das Scharfschützengewehr ist es jetzt zu nah dran. Ich hebe den Raketenwerfer auf meine Schulter, lade durch und drücke ab. Die Explosion wirft den Behemoth so weit zurück, dass ich nachladen kann, ein weiterer Treffer und er steht nicht mehr auf. „Tut mir Leid“, meint Noct, „Ich hätte es gleich dir überlassen sollen.“ „Ach was, du hast gut getroffen. Kann ja keiner wissen, dass so ein Vieh ohne Hirn nicht gleich tot ist…“ Ich spare uns beiden den Seitenhieb auf gewisse Politiker und schleiche mich auf den Kadaver zu, um zu sehen, was da schief gelaufen ist. Nocts Kugel kam wohl doch etwas schräg, vielleicht hat sie das Hirn nur gestreift anstatt es komplett raus zu pusten. „Der war jedenfalls taff. Hat aber auch keine Marken bei sich…“ „Sind mir auf jeden Fall zu viele ausgewachsene Behemoths auf einem Haufen“, meint Noct, „da ist doch irgendwas faul…“ Wir schleichen weiter, inzwischen ernsthaft besorgt, und treffen bald auf den nächsten Behemoth. Ein riesiges rotes Tier mit einem extra Satz Hörnern. Diesmal lege ich gleich mit dem Raketenwerfer drauf an, während Noct einen Magieflakon hervorzieht und die Bestie mit einem Eiszauber niederringt. Einmal bäumt sich die Kreatur noch auf, da trifft sie auch schon mein Geschoss in die Brust und sie sackt zu Boden. Auch dieser Behemoth ist ein Männchen, älter als die anderen und schon etwas kampferfahren. Eine Herausforderung für einen einzelnen Jäger? Vielleicht, jedenfalls eher als die anderen drei. Aber auch hier sind keine Erkennungsmarken zu sehen. Mir wird kalt, vielleicht wegen Nocts Zauber. Ich will gerade vorschlagen, dass wir zurückgehen und Gladio holen sollten, nur so zur Sicherheit, weil ich gerne sein Breitschwert zwischen mir und den Monstern sehe, da rumpelt es weiter hinten in der Höhle. Ich kenne das Geräusch und das Gefühl, das es in mir auslöst. Diese kriechende Dunkelheit… Ich drehe mich um und sehe etwas aus den Tiefen der Höhle aufsteigen. Tiefschwarz, so dunkel, dass es fast schon wieder leuchtet. Es hat die Form eines riesigen Behemoths, vielleicht das Weibchen, das wir hier vermutet haben, und um seine riesigen, mit mannslangen Krallen bewehrten Pranken sammeln sich weitere Männchen, eines größer als das andere, aber alle klein im Vergleich zu ihrer Königin. „Lauf!“ befiehlt Noct und er braucht es nicht zweimal zu sagen. Ich drehe mich um und nehme die Beine in die Hand, ihm hinterher, raus aus der Höhle. Und zwar schnell. Ich kann die donnernden Tatzenschläge hinter mir hören, aber so wendig wie wir kleinen Menschen ist das Monster hier drinnen nicht. Nun bin ich doch froh, dass Gladio mich im Training so gefordert hat – meine Kondition ist gut, ich halte den Sprint locker durch und gewinne ordentlich Abstand zu der Bestie. Kurz vor dem Höhleneingang drehe ich nochmal um und lege die Kamera auf das Biest an. Schnellauslöser einstellen, damit das Ding mit einem Knopfdruck zehn Fotos in schneller Folge schießt, den richtigen Moment abwarten, abdrücken und… „PROMPTO!“ Ein blauer Blitz zuckt durch mein Sichtfeld, dann spüre ich auch schon Nocts Arm um meine Brust und die Welt macht einen gewaltigen Satz weg von mir. Ich blicke gerade noch rechtzeitig über meine Kamera um die Zunge des Monsters zu sehen, lang, spitz und mit knochigen Stacheln besetzt, da zischt es auch schon davon und ich lande relativ unsanft außerhalb der Höhle auf meinem Hintern. „Bist du wahnsinnig jetzt einfach Fotos zu schießen?!“, brüllt Noct mich an und reißt mich unsanft am Arm hoch, „Lauf, verdammt!“ Ich nicke und renne weiter. Ich will mich entschuldigen, sagen, dass ich dachte, der Behemoth wäre noch wesentlich weiter weg, dass ich genug Abstand hätte, aber Noct hat recht: Ich hätte nicht stehen bleiben dürfen. Mein Leben ist mehr wert als ein paar Fotos. Noct hält immer noch meine Hand, als müsste er mich ziehen, dabei bin ich fast so schnell wie er. Die Kamera schwingt mit jedem Schritt unsanft gegen meine Rippen, weil ich sie nicht wie sonst mit der rechten Hand festhalten kann, aber auch das ist im Moment egal. Nur weg hier, bevor das Biest uns wieder einholt. Langsam geht die Sonne unter, auch vor der Höhle liegt ein weites Stück Strecke im Schatten. Hier draußen sieht das Vieh fast noch größer aus. Nicht umdrehen, einfach weiterlaufen. Die Bestie ist schon wieder viel zu nahe… ich kann den Boden unter ihren Schritten beben spüren. Noct wirft wieder sein Schwert und ich schließe eilig die Augen, als er mich wieder mit in den Warp reißt. Ich mag dieses Gefühl nicht… Diesmal reicht der Flug, über ein paar Zwischenstopps, bis auf die Nordmauer. Ich lande unsanft auf dem gepflasterten Rundlauf, stemme mich auf die Arme und übergebe mich erst mal. Kennys Fritten schmecken beim zweiten Mal irgendwie nicht mehr so gut. „Sorry“, entschuldigt sich Noct, „Warpen ist wohl nichts für dich, was?“ „Nein. War aber nötig, in dem Fall.“ Ich rapple mich auf und sehe über die Brüstung in Richtung der Höhle. Dahin, wo das fürchterliche Brüllen herkommt… von so weit weg ist das Biest klein genug, um im Ganzen ins Fotos zu passen. Die kleineren Behemoths kommen drohend auf uns zu, bleiben aber in der Nähe des Weibchens. Sie scheint nicht aus dem Schatten treten zu können, das Licht der untergehenden Sonne versperrt ihr den Weg. Ein Wort kommt mir in den Sinn, eines, das ich seit zehn Jahren nicht mehr fürchten musste… „Siecher“, spricht Noct es aus. Eine Weile starrt auch er auf die Bestie, die sich mit dem Schatten auf Insomnia zu bewegt. Dann… „Der Wall. Ich muss in die Zitadelle und den Wall aufbauen.“ „Klar, sofort. Nehmen wir ein Taxi?“ Das geht von hier aus sicher am schnellsten. Noct nickt erschöpft und wir springen hinunter in die Stadt. Der Taxistand ist direkt am Nordtor, wir müssen nur den Knopf drücken und warten, bis das erste Auto kommt. Ich zittere. Noch vor ein paar Monaten hätte ich mir einen derart schnellen Tod gewünscht… als ich in der Kanalisation im Sterben lag. Bevor ich Nocts Namen im Radio gehört habe. „Alles okay?“ Noct klingt besorgt, legt seine Hand auf meinen Arm. Die Berührung ist warm, ich hatte fast vergessen, wie kalt mir bis eben noch war… immer noch ist. Langsam holen die letzten Minuten meine bewusste Wahrnehmung ein. „Du hast mich Prompto genannt“, fällt mir auf und mir kommen die Tränen, „Du hast… endlich… meinen Namen gesagt. Ich hätte nicht gedacht dass mich das so scheiße glücklich macht.“ Ich wische mir mit der Hand über die Augen, fange die Feuchtigkeit mit dem Tuch auf, das Noct mir über den Barcode gebunden hat. Ein wenig schäme ich mich für die Tränen, gerade weil ich gerade alles andere als traurig bin. Zu meiner Überraschung umarmt Noct mich einfach. Drückt mich fest an sich wie einen großen Hund. „Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat“, murmelt er in meine Schulter, „Ich hab dich vermisst, Prompto.“ „Ich dich auch, Noct“, entgegne ich und erwidere die Umarmung stürmisch, „So sehr…“ Es tut gut, ihn so zu halten. Seine Wärme, seinen Herzschlag zu spüren, wie zum Beweis, dass er wirklich, sicher lebt und dass er mich noch gern hat. Dass ich ihm wichtig bin, trotz allem. Endlich… endlich hab ich ihn wieder. Ein Auto bremst neben uns ab und hupt kurz. „‘N Abend die Herren, wo darf‘s hingehen?“, fragt er munter, „Zum nächsten Love Hotel?“ Ich laufe sofort knallrot an und lasse Noct los, der dagegen lacht nur etwas ertappt. „Nein, zur Zitadelle. So schnell wie möglich, bitte.“ „Kost fünf Taler extra. Oder Gil, wennse von außerhalb sind.“ Wir steigen hinten ein und ich schließe die Tür. „Ich zahl ihnen zehn, wenn sie’s vor neunzehn Uhr schaffen“, bietet Noct an und der Fahrer steigt aufs Gas, noch bevor ich richtig angeschnallt bin. Er scheint sich das Extrageld verdienen zu wollen. Passt uns gut, je schneller der Wall steht, desto besser für die Stadt. Einen Moment schnaufen wir noch durch, dann nimmt Noct meine Hand und lehnt sich doch wieder zu mir herüber. „Hey…“, flüstert er und lehnt seine Stirn an meine, „Ich bin wirklich froh, dass du endlich zurück bist. Willkommen zu Hause, mein Freund.“ Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, also lege ich einfach wieder die Arme um Nocts Schultern und lehne mich in die Berührung. Soll der Taxifahrer doch denken, was er will. Kapitel 15: Siecher (Gladiolus Amicitia) ---------------------------------------- Mühsam versuche ich, meiner Tochter klar zu machen, warum man abends unbedingt ins Bett gehen muss. ‚Nachts kommen die Siecher raus‘ ist kein Argument mehr, war es innerhalb Insomnias eh nie, aber was anderes fällt mir nicht ein. „Papa ist auch müde“, rede ich mich heraus, „Und wir Erwachsenen können erst ins Bett, wenn die Kinder schon schlafen.“ „Warum denn?“ Crowes Stimme ist quengelig, uneinsichtig. Sie hat sich verdächtig schnell daran gewöhnt, dass ihr Papa nicht mehr bei jedem falschen Wort brüllt. „Weil… weil eben!“ Himmel warum will dieses Kind nur unbedingt wach bleiben? Mit Iris hatte ich nie solche Probleme. Gut, wir hatten auch Jared, der sich gekümmert hat. Der gute, alte Jared… sein Enkelsohn steht mir leider nicht zur Verfügung, den hat Iris schon wieder irgendwo hin gezerrt. Ich will nicht wissen was der Junge gerade mit meiner Schwester anstellt. Wahrscheinlich das, was ich mit meiner Frau machen werde, wenn Crowe nur endlich einschläft. Ich setze gerade zu einem neuen Argument an, da tut sich etwas am Himmel. Ein helles, violettes Licht steigt aus der Zitadelle auf und legt sich wie ein Schirm über die Stadt. Ich kenne dieses Licht. Der Wall von Insomnia… er hing über Lucis, als ich geboren wurde und er war noch dort, als ich die Stadt mit den anderen verlassen habe. Bis zu König Regis‘ Tod. Danach nie wieder, denn was gab es auch zu beschützen? Als die Menschen wieder in die Stadt zurückgekehrt sind, gab es keine Feinde mehr, keine Siecher, keine Gefahr. Warum also jetzt der Wall? Das kann mir nur einer beantworten, nur der, der den Wall hochziehen kann. Noctis. „Ich muss los“, sage ich und stehe ruckartig auf, „Crowe, bleib im Bett, ich sag Mama Bescheid. Wenn du aufstehst, gibt es Ärger.“ Ich packe meine Jacke, sage Edna im Vorbeilaufen Bescheid, dass ich weg muss und sie die Kleine ins Bett zu bringen hat, und eile zur Zitadelle. Mit dem Chocobo-Express, weil ich immer noch keinen Führerschein habe. Blöder Verwaltungsaufwand… dabei habe ich den Deppentest längst bestanden. Vor lauter Eile, in die Zitadelle zu kommen, vergesse ich fast, von meinem Vogel abzusteigen. Er verweigert den Eintritt durch das Tor kreischend und ich springe doch noch ab, entschuldige mich und eile in die Eingangshalle, die Treppe hinunter in den eingestürzten Kellerraum, in dem der Kristall wieder aufgetaucht ist. Der Raum ist leer bis auf den riesigen Edelstein, und der gibt ein schwaches Licht ab. Einen Moment fürchte ich, er hätte Noct vielleicht wieder in sein Inneres gesaugt, dann aber drehe ich mich um und hetze hoch in den Thronsaal. Noct sitzt zusammengesunken auf dem großen Stuhl, den Kopf auf der Schulter, die Arme locker im Schoß verschränkt. Er trägt schmutzige Kleidung und hat den Schirm seiner Kappe so tief herunter gezogen, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Zu seinen Füßen, den Kopf an Nocts Beine gelehnt, liegt Sunny, und auch er sieht aus, als hätte er gekämpft. Die Luft stinkt nach Blut, Schweiß und brünftigem Behemoth. „Nooooct!“ Ich kann nicht sehen, ob mein Freund noch atmet, und so eile ich auf ihn zu, packe ihn grob an der Schulter und schüttle ihn wach. Die Kappe rutscht von seinem Kopf und er brummt leise, irgendwas von wegen „Noch fünf Minuten, Ignis“. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Schläft nur… einen Moment lang hatte ich echt Angst. Sunny macht müde die Augen auf, sieht mich verschlafen an und lehnt sich wieder an Nocts Beine. Ich will ihn wach treten, fragen, was passiert ist, aber ich reiße mich zusammen. Der Kerl spricht eh nicht mit mir. Aus dem Gang sind eilige Schritte zu hören und schon steht Ignis im Raum. Sicher hat auch er denn Wall bemerkt… nicht mehr lange und wir haben hier noch mehr Gesellschaft. Iris, Cor, Monica und Dustin sind nicht weit hinter ihm, auch Dave von der Meldatio ist in der Stadt und mit von der Partie. Ich habe irgendwie das Bedürfnis, Noct vor den Augen der anderen zu schützen, aber das bringt nicht viel. Zumindest scheint Ignis im Gegensatz zu mir nicht lange suchen zu müssen, um Hinweise auf das bisherige Geschehen zu finden – um Sunnys Schultern hängt eine Kamera, die er sich nimmt, um die Fotos zu prüfen. Die ersten Bilder sind recht langweilig, nur ein paar Tauben vor dem Bahnhof. Nett, wenn man Tiere mag, vielleicht. Dann ein Bild von Noct, ganz anonym mit Schirmmütze und Anglerkleidung. Gefühlt tausend Bilder von Noct beim Angeln. Ein paar Bilder von der Stadt, beim Essen im Krähennest, noch mehr Stadtansichten, dann die Spielhalle von innen. Noct mit der Spielwaffe in der Hand vor dem Automaten. Noct und Sunny zusammen beim Spielen. Dann wird es interessant, das nächste Bild zeigt einen Jäger, der mit Noct spricht. „Das ist Tom“, klärt uns Dave auf, „er leitet die Abteilung in der Stadt.“ „Meinst du, er hat den beiden erzählt, was du mir berichtet hast?“, fragt Cor. „Worum geht es? Ein Monster in der Stadt?“, frage ich. „Knapp außerhalb“, entgegnet Dave, „Wir haben fünf sehr gute Jäger an das Vieh verloren und wissen noch nicht genau, was es ist.“ Ich atme nochmal den Gestank ein, der in Nocts Kleidung hängt. „Tippe auf Behemoth“, vermute ich und hoffe, dass der Blutgeruch nur von dem Tier stammt. Meine Jungs sehen zumindest äußerlich unverletzt aus. „Was immer es ist könnte den Wall nötig gemacht haben“, schätz Ignis und drückt weiter. Es folgen gefühlte Trillionen Fotos von Chocobos, ein paar Bilder der Stadt, mehrere davon zeigen die Zeltstadt im zerstörten Nordviertel, wieder Chocobos, Chocobos vor der Nordmauer, Chocobos auf der Steppe dahinter, endlich Noct vor einer Höhle. Noct in der Höhle. Selfie vor einem alten niflheimer Schlachtschiff. Endlich eins von einem Behemoth, ein geradezu winziges Exemplar. Derselbe Behemoth nochmal mit abgetrenntem Kopf neben Noct. Ein zweiter Behemoth, etwas größer. Auch tot. Noch ein Behemoth. Nahaufnahme vom Behemothkopf mit Schusswunde. Ein vierter, Rot und recht groß, auch erlegt. Dann, endlich, das eigentliche Monster. Auch das sieht aus wie ein Behemoth, nur riesig, mit zusätzlichen Hörnern, entsetzlich dunkel. Ein zweites Foto, nur Sekundenbruchteile später aufgenommen, aus größerer Nähe. Ich kann eine Leiche erkennen, die auf den Schulterspießen der Bestie hängt. Einer der Jäger vielleicht. Nächstes Foto, noch näher. Ignis klickt die Bilder durch, zehn Fotos für die Spanne einer Sekunde, in der das Monster unglaublich schnell auf den Fotografen zugeschossen ist. Das letzte Bild der Reihe blickt direkt ins offene Maul, zeigt eine grässliche, verhornte Zunge und zwischen den Zähnen hängende Menschenknochen. Ich schaudere bei dem Gedanken daran, wie nah es dem Fotografen gekommen sein muss. Ein allerletztes Foto zeigt die Kreatur aus der Ferne, von der Nordmauer auf die Steppe hinunterfotografiert, endlich im Ganzen. Groß, schwarz, und triefend vor Dunkelheit. Sie wagt sich nicht aus dem Schatten heraus… ein Siecher. Es ist unmöglich, aber ich bin mir fast sicher. Ein Siecher steht vor unserer Stadt. Noct schreit plötzlich und fährt wie getroffen aus dem Schlaf hoch, ich kann ihn gerade so in meinen Armen auffangen. Auch Sunny rührt sich, blickt besorgt zu ihm auf. „Es greift an“, wimmert Noct, „es greift den Wall an.“ Seine Augen sind geweitet, rot leuchtend von der Macht des Ringes und doch voller Angst. Ich erinnere mich, wie der Wall König Regis geschwächt hat, weil er dessen Lebensenergie nutzt, um Angriffe abzufangen. Voller Sorge drücke ich Noct fester an mich, weiß nicht, was ich sagen soll. Er zittert. „Wir müssen etwas tun.“ Cors Stimme ist gebietend, befehlsgewohnt. Alle im Raum sehen ihn an, alle außer Noct, der sich zitternd an meine Weste krallt. Nur langsam beruhigt er sich wieder. „Der König wird denn Wall nicht ewig gegen diese Angriffe halten können. Wir müssen da raus und den Siecher vernichten.“ „Sagt sich so leicht“, wage ich einzuwenden, „Wir sind nicht mehr so jung wie damals… und massiv unterbesetzt. Die meisten Gleven und Garden, die in der langen Nacht gekämpft haben, lecken seit zehn Jahren ihre Wunden, sind invalid oder in Rente. Die jungen Rekruten sind vielversprechend, haben aber seit ihrer frühen Kindheit keinen Siecher mehr gesehen, geschweige denn je gegen einen gekämpft.“ „Ja, und das da draußen ist nicht gerade einer von der kleinen, anfängerfreundlichen Sorte.“ Sunny rappelt sich hoch und setzt sich anständig hin. Mit fällt auf, dass er Waffen trägt… die meisten davon Niflheimer Fabrikate, aber auch Promptos alte Lionheart. Das und die Fotos… ich glaube, zumindest eine Frage hat sich geklärt. „Glaubst du wir könnten es mit dem Siecher aufnehmen? Zusammen?“, fragt Iris. Sunny zögert. „Weiß nicht… also wir sind jedenfalls nur gerannt. Mit Gladio und Ignis wär’s vielleicht gegangen… ein anständiges Paket Heilmittel und eine stärkende Mahlzeit natürlich vorausgesetzt. Aber… ich weiß nicht.“ Er sieht Noct an, der sich langsam beruhigt. Nur hin und wieder zuckt er, als müsste er einen kräftigen Schlag abfangen. Ich streichle meinem König beruhigend über Kopf und Rücken, unfähig, ihn vernünftig zu beschützen. Nicht von hier… nicht, wenn ich nicht zwischen dem Vieh und dem Wall stehe. „Ich gehe“, beschließe ich, „Und ich nehme jeden mit, der mir helfen kann und will.“ Cor nickt und wendet sich zu Dave um. „Hast du noch Jäger, die uns beistehen können? Wir brauchen jeden Mann und jede Frau, die Erfahrung im Umgang mit Siechern hat. Libertus und ich werden zusammensuchen, was an Garde und Gleven vom alten Team noch zu finden ist, eventuell ein paar junge Rekruten als Heiler.“ „Die Heiler kann ich anführen“, bietet Iris an, „Wir sorgen dafür, dass es an Tränken nicht mangelt.“ „Ich komme auch mit raus“, Nocts Worte überraschen mich, mehr noch, dass er sich aus meinen Armen hochstemmt um sich aufrecht in den Thron zu setzen. Es sieht nach viel Arbeit aus. „Entschuldigt meinen Zusammenbruch, das ist das erste Mal, dass ich selbst den Wall stütze. Ist doch schwerer, als es bei meinem Vater ausgesehen hat…“ Er öffnet und schließt mehrfach seine rechte Hand, blickt dabei nachdenklich auf den Ring. „Ich werde hinter dem Wall bleiben und euch mit meiner Magie unterstützen. Magie solltet ihr auch nutzen können… Zusammen werden wir es schaffen.“ Ich will protestieren, aber Noct sieht mich direkt an. „Keine Sorge, ich bleibe hinter dem Wall und in Sicherheit. Ich will nur nicht hier sitzen und mir Sorgen machen müssen… Ich spüre ohnehin, wenn der Siecher denn Wall angreift. Ich will nicht mit jedem Schlag fürchten müssen, er hätte euch getötet.“ „Nun, wenn dem so ist“, meint Ignis gelassen, „Sollte ich mich wohl auf den Weg in die Küche machen und dafür Sorge tragen, dass für alle ein anständiges Essen bereitet wird. Noct, Prompto, ihr beide nutzt die Zeit am besten für ein entspannendes Bad und ein wenig Ruhe, ich komme euch dann holen.“ Prompto, eh? Ich habe das Gefühl, was verpasst zu haben, aber anscheinend hat sich diese Frage nun tatsächlich geklärt. Aber das besprechen wir besser in einer privateren Runde, nur wir vier bei einem Glas Wein, wenn der Siecher aus der Welt geschafft ist. „Gladio, wir beide trommeln unsere Leute zusammen. Nur ein kleines Team vielleicht, und nur die Besten“, meint Cor. Ich stehe auf und folge ihm mit Iris, Monica und Dustin, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Cor wird auch nicht jünger… er kämpft in der Königsgarde seit er dreizehn war, ist mit fünfzehn als jüngstes Mitglied seit Menschgedenken in die Leibgarde des Königs aufgenommen worden. Noct ist der dritte König dieser Blutlinie, dem er dient, und langsam sind die schwarzen Haare weiß geworden. Trotzdem… Cor geht noch immer aufrecht, ohne Stock, und hat bessere Werte im Training als die meisten Zwanzigjährigen. Ich bin froh, ihn gegen den Siecher in meinem Team zu haben. Monica und Dustin werden wohl die jungen Rekruten anführen, gegen die kleineren Behemoths zu kämpfen, damit wir von der alten Elite uns auf den eigentlichen Siecher konzentrieren können. Iris übernimmt mit ein paar anderen die Versorgung mit Heilmitteln und Vitazaubern. Alles zu besprechen macht Mut und gibt Ruhe, aber vor allem lenkt es mich davon ab, mir Sorgen um Noct zu machen. Einen Moment lang… als ich ihn dort liegen gesehen habe dachte ich fast, er wäre tot. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass er mir noch einmal stirbt. Und auch Prompto… diesmal werde ich meine Freunde beschützen, um jeden Preis, egal, gegen was. Dieser Siecher wird noch bereuen, je aus der Erde gekrochen zu sein. Mit einem kleinen, aber leistungsstarken Trupp stehen wir schließlich im großen Speisesaal, wo das Küchenteam unter Ignis Leitung ein wahres Festessen auf den wackeligen Tisch gestellt hat. ‚Nur‘ ein Eintopf, eigentlich, aber was für ein Eintopf! Allein der Geruch macht einen um zehn Level stärker. Leidener Kartoffeln, Behemothfleisch, Caemkarotten und alles, was sonst noch so richtig schön stark macht und dabei wunderbar warm und leicht verdaulich im Magen liegt. Und es ist genug da, dass jeder noch zweimal nachholen kann. Cor und Ignis langweilen alle mit ihren komplizierten Einsatzplänen, damit nachher auch jeder weiß, wo auf und vor der Nordmauer er stehen und was er tun soll. Ich brauche fast nicht zuzuhören, ich weiß, wo mein Platz ist: Direkt vor dem König, als Schild zwischen dem Wall und dem Siecher. Angreifen, sobald sich die Möglichkeit bietet. Nicht im Weg stehen, wenn die großen Magier angreifen. Ignis und Prompto werden mit Noct hinter dem Wall bleiben und aus der Distanz mit schwerer Maschinerie sowie Feuer und Heilzaubern eingreifen. Cor kämpft an meiner Seite gegen den Siecher, unterstützt nach Möglichkeit von Monica und Dustin, während Callus und Nora die Leitung im Kampf gegen die normalen Behemoths inne haben. Ich lasse meinen Blick über die neue Generation an Garden und Gleven schweifen. Alles Kinder, aber als wir damals nach Altissia aufgebrochen sind, waren wir genauso jung. Eines Tages wird meine Tochter auch mal Uniform tragen und dem König als Schild dienen, als Älteste Amicitia dieser Generation. Schwer vorstellbar, aber an den Gedanken, dass meine süße kleine Schwester ein vollwertiges Mitglied der Königsgarde ist, habe ich mich ja auch irgendwann gewöhnt. Nur der Gedanke, dass sie auf dem Schlachtfeld neben dem Siecher herumhüpfen soll, gefällt mir noch nicht. Aber sie ist stark, und sie kämpft mit den jungen Rekruten und als mobiler Weißmagier. Und Talcott ist ja auch dabei. Solange die Kinder dem Siecher nicht zu nahe kommen, wird schon alles gut gehen. Mein Schwert ist scharf, mein Schild stark, und ich kämpfe an der Seite von Cor, dem Unsterblichen. Die Nervosität vor dem Kampf ist das Schlimmste. Noct zumindest sieht besser aus. Er zuckt noch immer regelmäßig zusammen, als müsste er einen Angriff blocken, aber die Bewegung ist viel subtiler, als würde er sich langsam daran gewöhnen, es zu verbergen. Er trägt jetzt saubere Kampfkleidung mit den Abzeichen des Königshauses, und sein Anblick gebietet tatsächlich Ehrfurcht. Ein richtiger König, eben. Doch noch was geworden, das freche Kind. Irgendwie macht es mich richtig stolz, ihn so zu sehen. Das Küchenpersonal räumt den Tisch ab und wir werden in den teuersten Autos zur Nordwand gefahren. Ignis fährt Noct, Prompto und mich im Star of Lucis, und endlich sind wir vier wieder unter uns. Noct döst, Promptio zappelt, und Ignis hat seine Augen fest auf der Straße… ich fühle mich glatt zwanzig Jahre zurückversetzt. „So“, fange ich schließlich an, „Seit wann wissen wir jetzt, dass Sunny-Boy unser Prompto ist?“ „Seit ich endlich ein wenig geschlafen habe“, gibt Ignis zu, „Ich wusste die ganze Zeit, dass ich etwas übersehen haben muss, dass da eine ganz offensichtliche Lösung direkt unter meinen Fingern liegt, aber ich war zu müde und zu überfordert, um den Gedanken zu fassen.“ „Ich sag ja, du hättest einfach ins Bett gehen sollen“, brummt Noct, aber er klingt nicht wütend. „Verzeiht mir“, entschuldigt Ignis sich trotzdem. „Und was war‘s nun?“, fragt Prompto ungeduldig, „Also diese einfache Lösung?“ „Der lucische Spion, der dich damals aus der Fabrik gerettet hat, hat einen ausführlichen Bericht, ja fast schon ein Tagebuch, geführt. Er war so umsichtig, deinen Barcode zu dokumentieren, damit man das gerettete Kind jederzeit von den feindlichen Soldaten unterscheiden könnte.“ „Und den Bericht gab‘s noch?“ „Ja. Ich musste ein wenig suchen, aber die Bibliothek ist zum größten Teil unversehrt und der Bericht gut erhalten. Es lagen sogar Fotos und Unterlagen von deiner Adoption dabei und ein paar spätere – anscheinend hat der Mann sich Sorgen gemacht und dich so lange beobachtet bis er sicher sein konnte, dass es dir gut geht bei uns.“ Prompto schweigt. Er wirkt nachdenklich, sicher ist die Information neu für ihn. „Ich kann dir den Bericht später gerne kopieren, wenn du willst. Der Spion ist leider inzwischen verstorben, aber die Zeilen, die er über dich geschrieben hat, waren sehr liebevoll. Anscheinend hat er seine Mission abgebrochen, weil er es nicht über sich gebracht hat, weiter involviert zu werden… er musste zumindest ein einziges Kind retten um mit intaktem Gewissen aus der Sache herauszukommen. Er hat auch beschrieben, dass du ganz still und brav warst, und erst außer Hörweite der Niffen zu weinen begonnen hast. Dann aber warst du wohl untröstlich, und der Rest des Kapitels liest sich wie das Tagebuch eines jungen, völlig überforderten Vaters, der noch nie vorher ein Baby in der Hand hatte.“ „Der Mann wäre sicher stolz wenn er wüsste, dass dieses Baby jetzt die Uniform der Königsgleven trägt und seinen König beschützt“, meint Noct. Prompto wird rot und verkrümelt sich verlegen in seinem Sitz. „Wir sind jedenfalls alle heilfroh, dass du wieder hier bist, Prompto. War nicht dasselbe ohne dich.“ „Genau, hast uns gefehlt, Kleiner“, stimme ich zu und lehne mich über den Sitz vor mir, um Prompto ein wenig zu ärgern. Er wehrt sich eher so halbherzig, scheint sich noch zu sehr zu freuen, dass wir wieder normal mit ihm umgehen. Der arme Kerl hat viel zu viel mitgemacht. „Wir sind da“, meint Ignis schließlich und hält den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Nordtor. Eine alte Steintreppe führt hoch auf den Rundlauf, hier trennen sich erst mal unsere Wege – drei nach oben auf die Mauer, ich raus durchs Tor. Nochmal die Waffe prüfen, auf Cor und die anderen warten, tief durchatmen und los. Auf in den Kampf. Auf dieser Seite des Walls ist es noch ruhig, beinahe friedlich, wenn man es nicht besser weiß. Ich hebe das Breitschwert über meine Schulter, nicke Cor zu, und auf einen Wink von ihm stoße ich das Tor auf und trete hindurch. Der Wall lässt uns ungehindert passieren, ein weicher Vorhang aus freundlicher Energie, wie damals, als er noch von König Regis gehalten wurde. Es fühlt sich an, als würde ich durch ein Portal in eine andere Welt gehen. Draußen ist es kalt, und mit einem Mal kann ich das donnernde Gebrüll von tausend Behemoths hören, rieche den Gestank der paarungsbereiten Männchen, Blut, und den unverkennbaren Mief der Dunkelheit. Promptos Fotos haben einen winzigen Einblick geboten, aber selbst als wandhohe Projektion im Besprechungsraum werden sie der Realität nicht gerecht. Dieser Siecher ist riesig, einer der größten, die ich in meinem Leben gesehen habe. Turmhoch, mit mannslangen Krallen und Zähnen, die fast nicht mehr in sein aufgerissenes Maul passen wollen steht er da und dreht langsam, witternd, die Augen in unsere Richtung. Eine lange, dornenbewehrte Zunge schnellt heraus und schnalzt wieder zurück, dann wendet sich das Vieh mit seinem ganzen Körper um und schlägt seinen mächtigen Schwanz gegen den Wall, statt wie vorher seine Krallen zu nutzen. Eine Pranke rast direkt auf uns zu, als wollte sie uns alle mit einem Schlag zerquetschen. „Ausschwärmen!“, befiehlt Cor und ich stürme vorwärts, Schild in der Linken, Schwert in der Rechten. Der Vorderlauf fährt knapp hinter mit in den Boden, ich wende mich schwungvoll um, lasse meine Breitschwert durch die Luft sausen und nutze die Energie der Bewegung, um sie mit aller Kraft im Lauf der Bestie zu versenken. Die Klinge prallt beinahe nutzlos an der schuppigen Haut ab, aber ich setze unbeirrt nach, noch ein Schlag, drei, vier, ausweichen. Keine Chance, die Tatzenhiebe zu blocken, dafür ist das Tier zu riesig, mein Schild zu schwach. Wieder donnert die Rute des Monsters mit Gewalt gegen den Wall. „Wir müssen weg von der Stadt!“, brülle ich. Ich weiß nicht, ob mich jemand im Schlachtgetümmel hört und kann kaum sehen, wo die anderen sind. Cor ist als einziges noch in meiner Nähe, auch er versucht, ein Stück aus der rechten vorderen Tatze zu schlagen, um den Siecher zu Fall zu bringen. Kein leichtes Unterfangen, wenn das Tier die Pranke andauernd hebt, um uns zu verscheuchen wie zwei lästige Fliegen. Und wieder donnert sein Schwanz gegen den Wall, mehrfach diesmal, und mir reißt der Geduldsfaden. Ich werfe mein Schwert, springe hinterher, um es als Kletterhilfe zu nutzen und arbeite mich so auf den Rücken des Siechers hoch, wo ich ihm die Klinge in den kräftigen Nacken ramme. Nicht tief, aber irgendwo da unter der stinkenden Mähne findet mein Schwert Halt und verursacht genug Schmerz, um das Monster in Raserei zu versetzen. Buckelnd und springend versucht es, mich abzuwerfen, aber ich kann mich halten und schaffe es, das Tier außer Reichweite der Stadtwand zu lenken, bevor es sich zu Boden wirft um mit beiden Vorderpfoten nach der Schmeißfliege in seinem Nacken zu krallen. Ich kann mit knapper Not ausweichen, rolle mich unter der Bestie weg und renne noch weiter fort von der Stadt, während ich wilde Haken schlage um nicht doch unter den stampfenden Pfoten zu landen. Jeder Schlag hinterlässt deutliche Spuren im Boden, die Erdbeben machen es schwer, beim Laufen das Gleichgewicht zu halten. Ein Blitzschlag fährt aus Richtung des Walls in den Rücken der Kreatur und lähmt sie lange genug, dass ich wieder zum Angriff übergehen kann. Es ist nicht leichter als vorher, aber langsam bilde ich mir ein, im rechten Vorderlauf des Monsters oberflächliche Klingenspuren sehen zu können, einige der festen Schuppen sind angekratzt oder gar abgesplittert. Ich schicke mein Schild in den Äther, um das Breitschwert mit beiden Händen zu fassen und entfessle eine Angriffsserie auf das Bein, die das Monster zumindest für einen kurzen Moment zu Straucheln bringt, bevor es sich wieder aufbäumt und sein schreckliches Gebrüll hören lässt. Donnernd fahren beide Vorderpranken wieder in den Boden und ich muss mich konzentrieren, um im resultierenden Erdbeben nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine Welle Heilmagie wäscht über mich und ich danke wem immer sie geschickt hat, bevor ich mich wieder auf die geschwächte Pranke stürze. Aus einem der Kratzer dringt schwarzes Blut, dahinter kann ich eine Dunkelheit sehen, die so tief ist, dass sie beinahe wieder leuchtet. Das Innere des Siechers… ein Fortschritt. Cors Klinge drängt tief in die neu geschaffene Schwachstelle. Ich kann nicht verstehen, was er mir zuruft, habe aber keine Zeit, zu fragen und kann es mir eh denken. Gemeinsam dreschen wir auf die Wunde ein, vergrößern den Schaden, bringen den Siecher zum Straucheln und Fallen, um zumindest ein paar Treffer in sein hässliches Gesicht landen zu können. Es schnappt nach uns, die monströsen Zähne reißen tiefe Furchen in den Boden, wo wir gerade noch gestanden haben, im nächsten Moment schlägt die dornige Zunge nach uns. Der Gestank ist betäubend, einen Moment lang bin ich versteinert – unfähig, mich zu rühren, unfähig, einen Gedanken zu fassen, wenn auch den Göttern sei Dank nicht verwundbar. Noch in der Starre kann ich sehen wie meine kleine Schwester auf mich zustürmt, zwischen den gefährlichen Krallen hindurch, als das Vieh sich wieder hochstemmt. Sie wirft etwas nach mir, eine glänzende, goldene Nadel, und die Starre bricht genau rechtzeitig, um Iris aus dem Weg zu stoßen, als die Pranke nach ihr greift. Die scharfen Klauenspitzen klirren gegen mein Schild und ich muss mich kräftig gegen den Boden stemmen, um nicht umzufallen. Iris verschwindet und ich gehe wieder zum Angriff über. Wir machen kaum Schaden, nur winzige Fortschritte. Meine Kraft schwindet viel schneller als früher, ich zähle die Heiltränke nicht mehr, deren Fläschchen ich schon in meiner Hand zerbrochen habe. Ein einziger guter Treffer des Monsters kann mich direkt ins Grab schicken, tausende der unseren öffnen einen kleinen Riss in seiner Haut. Ein aussichtsloser Kampf, aber einer, den wir dennoch gewinnen werden. Für Lucis. Für Insomnia. Für den König! Ich lege meinen gesamten Frust und all meine Wut in den nächsten Angriff, all die Jahre, die ich mich schwach und nutzlos und als Versager gefühlt habe, alles, alles Ardyns Schuld, alles wegen dieser verdammten Siecher. Wut, Angst, Hass, Verzweiflung… wenn es darauf ankommt, ist all das meine Waffe. Niemand wird mich je wieder hindern, meinen König zu beschützen. Niemand wird je wieder wagen, Hand an ihn zu legen. Niemals… niemals werde ich wieder nutzlos daneben stehen, wenn er leidet. Ich lasse Noct nicht noch einmal sterben. Nie wieder. Ein letzter Hieb und mein Schwert sinkt tief in das Bein des Siechers. Dunkelheit quillt aus der Wunde, wäscht über mich wie eine ätzende Flüssigkeit, aber ich bin ein Krieger des Lichts, ein Recke des Königs, und ich halte stand. Ziehe mein Schwert zurück um erneut auszuholen und es dem Monster ins Auge zu stoßen, blind vor Wut, so voller Kraft, dass es mir gelingt. Das Vieh baumt sich auf, brüllt, stößt seinen widerwärtigen Atem in die Luft und ich halte mich mit aller Kraft am Griff meines Schwertes, ziehe mich hoch auf die Stirn der Kreatur und schlage mit meinen bloßen Fäusten zu. Stirb. Stirb. Stirb endlich, du verdammtes Biest! Wieder peitscht eine krallenbewährte Pranke an mir vorbei, verfehlt mich um Millimeter. Es knallt, es pfeift, und ein Raketengeschoss saust nur knapp unter mir in den Hals des Tieres, lässt rußige Spuren darauf zurück und macht dabei kaum mehr Schaden als ich und Cor mit unseren Klingen. Von hier oben kann ich die ganze Stadt sehen, die winzigen Menschen auf der Mauer hinter dem Wall, Lichtblitze, wann immer Promptos Waffen zünden und ein stetes Leuchten, wo mein König ist. Die Macht der Lucii… die Macht des Lichts. Ich fühle ungeahnte Kräfte in mir, reiße mein Schwert aus der klaffenden Wunde, wo mal ein Auge war, und stoße erneut zu, tiefer dieses Mal, und nochmal, bis das Monster den Kopf herumwirft und mich aus dem Gleichgewicht bringt. Wie viele Meter bis zum Boden? Die Antwort will ich nicht wissen, aber der Fall ist vermutlich lange genug, um darüber nachzudenken. Dreißig Meter? Fünfzig? Sicher ragt der Kopf des Siechers weit über das Dach des Caelum Via hinaus. Viel zu tief, um zu überleben. So will ich nicht sterben. So sterbe ich nicht. „Flieg!“, befiehlt Nocts Stimme in meinem Kopf, und als hätte ich nie etwas anderes getan werfe ich mein Schwert nach dem Siecher, wie ich es dem kleinen Prinzen hundertmal erklärt habe, sehe, wie es sich in den verletzten Vorderlauf gräbt und strecke die Hand aus, um es wieder zu fangen. Es funktioniert. Ich halte den Griff der Waffe fest, stemme meine Beine gegen die schuppige Haut, als das Biest sich wieder auf alle viere fallen lässt, ziehe knapp über dem rettenden Boden die Klinge heraus und sprinte außer Reichweite. Es ist… peinlich, aber erst mal muss auch ich mich auf die Vorderläufe fallen lassen um mich herzhaft zu erbrechen. Jetzt weiß ich, warum die Gleven so ungern warpen… was für ein beschissenes Gefühl. Mit ausreichend geleertem Magen rapple ich mich wieder auf und verschaffe mir einen Überblick. Die Steppe hinter Insomnia ist ein Schlachtfeld, überall Behemoths und Leute, die versuchen, sie zu überwältigen, Jäger, Garden, Gleven, ein höllisches Durcheinander in deren Zentrum die Mutter aller Behemoths wütet. Riesengroß, ungeheuerlich stark, aber inzwischen immerhin auf nurmehr drei Beinen. Ein Feuerzauber kracht in die Flanke der Bestie, gefolgt von einem weiteren und einer Salve aus dem Raketenwerfer. Das Tier strauchelt, brüllt, bäumt sich wieder auf und will auf den Wall zustürmen, wo die Angriffe herkommen. Cor allein kann sie nicht stoppen, aber dafür bin ich jetzt da, springe dem Monster zwischen die Hinterläufe, schwinge mein Schwert, um es zu Fall zu bringen und muss eilig beiseite hüpfen, um nicht zertrampelt zu werden. Dennoch – die Aufmerksamkeit des Siechers ist wieder bei mir, weg vom Wall, weg von Noct, Ignis und Prompto. Du rührst meine Freunde nicht an, Biest… Nicht, solange ich hier stehe! „Stirb endlich!“, brülle ich und hacke auf den Hinterlauf ein, wie ich es schon mit der vorderen Pranke getan habe. Cor holt mich ein und hilft mit, dass wir das Biest gemeinsam zu Fall bringen. Nicht mehr viel… die Hinterläufe sind anatomisch bedingt kürzer und schlanker als die vorderen, dienen nur der Fortbewegung statt dem Kampf. Hier ist es einfacher, Schaden anzurichten – und gleichzeitig bedeutet ein Erfolg, dass sich das Monster nicht mehr aufbäumen kann. Über uns schlagen donnernd Zauber und Raketen ein, um uns Gebrüll, Schreie, Kämpfe, aber hier unter dem Leib des Siecher fühle ich mich, als würde ich gegen die stählerne Säule eines großen Raumes kämpfen, zu hart für mein Schwert, aber doch gerade verletzlich genug, mit Kraft und Mühe Kratzer um Kratzer zusammenzufügen zu einem Riss, einem Spalt, einer klaffenden Wunde die groß genug ist, das Schwert hineinzustoßen. Mit all meiner Kraft stemme ich die Klinge in das Fleisch des Siechers, rüttle daran, drehe das Schwert, ziehe es schließlich heraus und springe beiseite, um nicht unter dem Gegner begraben zu werden. Die Erde bebt unter dem Gewicht des verletzten Monsters. Ich lasse ihm keine Zeit, sich hochzustemmen, springe auf seinen Rücken, grabe meine Klinge in die von Feuermagie weichgekochte Flanke und reiße noch im Laufen eine tiefe Wunde die ganze Seite hoch auf meinem Weg vor zum Kopf. Weiter… nur noch ein bisschen. Ich kann spüren, wie die Kraft des Siechers nachlässt während die meine beständig von Zaubern und Tränken regeneriert wird, spüre Noct’s Kraft, die Liebe meines Königs in jedem seiner Heilzauber. Ihr nehmt ihn mir nicht nochmal weg. Nie wieder. Ein letzter Sprung bringt mich zurück auf den Kopf des Siechers. Ich schwinge mein Schwert hoch über meinen Kopf in die blutende Augenhöhle, arbeite mich weiter dahin vor, wo bei einem lebenden Wesen das Gehirn wäre. Der Siecher brüllt, bäumt sich auf, soweit es seine verletzten Beine zulassen, schwankt, schlägt mit der heilen Vordertatze nach mir. Diesmal lasse ich nicht los, bohre mein Schwert nur tiefer in die Wunde mit aller Kraft, die ich aufbieten kann. Für den Frieden. Für das Licht des Tages. Für alle, die mir etwas bedeuten muss dieses Monster aus der Welt verschwinden. „Du hättest bleiben sollen, wo Noct dich hingeschickt hat“, höhne ich und halte dem giftigen Atem stand, der aus dem Maul unter mir quillt, „Ihr Siecher habt lang keinen Platz mehr in dieser Welt.“ Aber noch ist es nicht vorbei. Der Siecher wirft seinen Kopf herum um mich abzuschütteln, rammt ihn schließlich mit den Hörnern voraus in den Boden. Ich muss loslassen und abspringen, um nicht zerquetscht zu werden, als das Monster versucht, mein Schwert aus seinem Gesicht zu bekommen, indem es die blutende Augenhöhle gegen den Boden reibt. Noch einmal hebt es den hässlichen Kopf, ekliger Atem schlägt mir ins Gesicht und ich hebe meinen Schild während ich versuche, nicht zu atmen. Die Zunge des Monsters schnellt hervor und kracht mit so viel Wucht gegen das Metall, dass ich kaum gegenhalten kann. Ich taumle zurück, sehe die dornenbewährte Zunge nun auf Iris zuschießen und werfe mich dazwischen. Ich weiß noch im selben Moment, noch bevor der Schlag trifft, dass ich einen Fehler gemacht habe. Der Winkel stimmt nicht, so kann ich den Schlag nicht vernünftig abfangen. Ich spanne die Muskeln an, bereite mich auf das Schmerz vor, aber der kommt nicht, nur ein dumpfes Krachen und das leise Knacken eines Knochens. Ich kann sehen, wie mein Schild klappernd zu Boden fällt, habe kein Gefühl mehr in den Fingern. Mein linker Arm hängt nutzlos herunter, ein neues Gelenk an einer Stelle, wo keines hingehört, aber Iris ist unverletzt. Der Siecher brüllt noch einmal entsetzlich, aber diesmal prallt sein Atem an uns ab, als hätte Iris einen schützenden Zauber gewirkt. Mit einem kläglichen Wimmern gräbt der Siecher sein verletztes Gesicht ein letztes Mal in den Boden bevor er endgültig in den selbigen zurücksinkt. Besiegt, tot, nur noch ein normales Behemothweibchen. Mein Breitschwert fällt klirrend zu Boden, stumpf und verdreht. Ich werde ein neues brauchen. „Gladdi, dein Arm!“, ruft Iris entsetzt. Ich muss lachen. „Ja, der ist wohl hinüber…“ schade, dass Heilzauber und Tränke keine Knochenbrüche heilen. Ich hab grad so keinen Bock auf Krankenhaus und wochenlang Stillsitzen… Das ist in vierzig Jahren das erste Mal, dass ich mir etwas gebrochen habe. Hatte ich mir schmerzhafter vorgestellt, aber vielleicht ist das auch nur das Adrenalin. „Bei euch alles gut soweit?“ Mir fällt jetzt erst auf, warum Iris überhaupt so nah an den Siecher herangekommen ist. Cor sitzt in einer recht unbequemen Haltung am Boden, im Gegensatz zu mir scheint er schlimme Schmerzen zu haben. „Nur der Rücken“, grummelt er, „Hab mir wohl ne Bandscheibe rausgehauen. Peinlich sowas…“ „Wirst halt doch langsam alt mit deinen fünfundsechzig Jahren, was?“, scherze ich. „Klappe, Grünschnabel. Im Gegensatz zu dir muss ich mir wenigstens keinen Anfängerfehler vorwerfen lassen.“ „Autsch, das tat weh.“ Langsam kehrt auch ein wenig Gefühl in meinen kaputten Arm zurück. Kein sehr angenehmes, leider… Aber in der Tat nicht so schmerzhaft wie die Tatsache, dass Cor Recht hat. Solche Fehler sollte ich längst nicht mehr machen, auch nicht nach zehn Jahren Frieden. Ich setze mich neben Cor auf den Boden, vorsichtig, meinen Arm nicht zu bewegen. Noch ist es stockdunkel… aber die normalen Behemoths haben größtenteils die Flucht ergriffen, nachdem der Oberboss gefallen ist, einige fangen an, sich gegenseitig zu töten. Der Wall über der Stadt steht noch, aus dem Tor kommen blinkende Lichter auf uns zu. Krankenwägen… die muss Dustin gerufen haben, ich habe ihn vorhin telefonieren sehen. Ob Noct mich im Krankenhaus besuchen kommt? Langsam muss ich mich mit dem Gedanken anfreunden, blöd im Bett zu liegen und mich über Blümchen zu freuen, weil sie Besuch ankündigen. Aber den Arm brauch ich noch, also werde ich wohl brav tun, was der Notarzt von mir will. Seufzend und jammernd, aber eine Wahl habe ich ja nicht. Immerhin… diesmal habe ich es geschafft. Wir haben gewonnen, haben keinen aus unseren Reihen verloren. Ein paar Verletzte, aber nichts Schlimmeres als mein Arm. Mein Stolz als Schild des Königs ist wiederhergestellt. Mein Leben hat wieder einen Wert. Kapitel 16: Die Ganze Welt (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------------ So müde… Am liebsten würde ich einfach schlafen. Ich bin froh, dass meine Freunde mir den Mangel an Haltung nicht übel nehmen. Vor ihnen zumindest kann ich mich endlich ein wenig gehen lassen. Der Tisch in Vaters altem Audienzzimmer ist nicht so bequem wie ein echtes Bett, aber der Stuhl ist gut gepolstert und meine verschränkten Arme gerade gut genug, den Kopf abzulegen. Eigentlich könnte ich genauso gut wieder ins Bett gehen und dort weiterschlafen. Eigentlich… aber ich will bei meinen Freunden sein. Es ist nicht dasselbe wie früher beim Campen. Es gibt kein Lagerfeuer, keine Sterne über uns, kein Bier. Stattdessen hat jeder von uns ein Glas Wein vor sich stehen, wir sitzen in bequemen Sesseln um einen edlen Tisch und lauschen der Musik aus dem neuen Radio. Es ist friedlich. Zumindest das ist wie früher. Nur wir vier. Ich bin zu müde, um Kings Knight zu zocken, zu müde, um Karten zu spielen, aber niemand stört sich daran. Ignis hat wieder seinen Laptop aufgeklappt, scheint sich um die Abstimmung zu kümmern, die gerade läuft. Vielleicht sollten wir für den Job einen Bürgerlichen als Verwalter wählen lassen. Irgendeinen hauptberuflichen Bürokraten, der den ganzen Tag nichts anderes macht, als Formulare auszuwerten, Abstimmungen zu organisieren und Ergebnisse vom Notar beglaubigen zu lassen. Das ist ein Vollzeitjob, den Ignis momentan zusätzlich macht. „Wie sieht’s aus?“, fragt Gladio. Ich blicke kurz auf und sehe, dass der gerade sein Buch weggelegt hat. Seinen Arm haben die Ärzte wieder gut hinbekommen, fest verschraubt, damit er ihn bald wieder vorsichtig bewegen kann. Trotzdem wird Gladio sich in der nächsten Zeit ordentlich langweilen müssen. Und viel lesen. „Es zeichnen sich langsam gewisse Tendenzen ab“, entgegnet Ignis, „Vor Ende der Zeit lässt sich nichts sagen, aber die U-Bahn steht recht hoch auf der Liste, ebenso die Wohngebiete im Norden und Westen der Stadt, wo die Menschen aktuell in Zelten leben.“ „Wenn wir nicht abstimmen müssten, wäre das eh das erste…“, murmle ich und denke an die armen Menschen in ihren Zelten. Den Regen hält der Wall nicht auf… ich kann spüren, wie das Wasser durch die Barriere fließt und lasse es passieren. Ein angenehmes Gefühl. Generell ist es gar nicht so schlimm, den Wall zu halten, solange niemand dagegen schlägt. Vielleicht kann ich ihn ein bisschen größer machen. Die Menschen waren wütend, früher. Wütend, dass mein Großvater den Wall verkleinert hat, bis irgendwann nur noch die Hauptstadt geschützt war. Vorher ging der Wall über ganz Lucis… bevor die Niffen mit ihren Magitech angegriffen haben. Als der Wall uns nur gegen die Siecher geschützt hat. Es ist schwer, aber… bis Galahd oder Hammerhead sollte ich schaffen. Ein Stück weit nur… die Barriere wird dünner, je weiter ich sie strecke, aber uns greift ja niemand an. „Ja, erst mal die Wohnviertel und die Infrastruktur“, stimmt Ignis zu, „Das haben wir auch gefordert, als wir als Partei noch aktiv waren. Leider haben dann doch die großen Lobbys gewonnen und es wurden eher die gewinnbringenden Ziele bevorzugt.“ Industrie und Hotels. Die großen Firmen… Wie Rashins Elektrokonzern. „Ich finde es lächerlich, dass diese Kanzler es in zehn Jahren nicht geschafft haben, die ganze Stadt zu restaurieren. Zehn Jahre! Altissia stand in zwei“, empört sich Prompto. „Accordo hat ja auch eine fähige Regentin“, wendet Ignis ein. „Und bei uns wurde beständig derselbe Clown ins Amt gewählt“, grummelt Gladio, „Der es im Übrigen immer noch nicht schafft, den Strom für die Nachtbeleuchtung zu liefern. Saublödes Timing, kaum tauchen die Siecher auf, fallen bei ihm die Kraftwerke aus. Erst das Stadtbild verschandeln mit dem Klotz, aber wenn man den Strom dann mal wirklich braucht, kann er nicht liefern.“ „Ja, echt Pech, dass die Anlage gerade jetzt ausfällt“, stimmt Prompto zu, „Aber am Wall kann’s nicht liegen, oder? Ich meine, ich versteh nicht viel von Erdwärme und so, aber…“ „Der Wall behindert nichts“, versichere ich, „Weder Wärme noch Regen. Nur feindliche Angriffe und die Dunkelheit werden blockiert.“ Ich bin immer noch müde, aber ich richte mich etwas auf. „Immerhin haben wir innerhalb des Walls trotz Stromausfall nichts zu befürchten“, meint Ignis, „Und die Gebiete außerhalb der Stadt beziehen ihren Strom notfallmäßig aus Lestallum. Monica hat bereits Boten in die anderen Länder geschickt. Hat sich politisch bedeckt gehalten, damit keine Panik aufkommt, aber erwähnt, dass in der Nähe von Insomnia ein Siecher gesehen und bekämpft wurde, der Wall nur deshalb errichtet werden musste und man nachts das Licht anschalten möge. Vermutlich läuft das erneut auf einen internationalen Kriesengipfel hinaus.“ „Und der wird wieder hier stattfinden müssen“, gebe ich zu bedenken, „Ich kann nicht weg, solange ich den Wall halten muss.“ „Dafür wird sicher Verständnis da sein.“ Kein Verständnis herrscht allerdings für die Grenzen des Walls. Im Radio ist schon wieder eine politische Diskussion am Laufen, Rashin macht ordentlich Wind gegen mich. Dass ich wieder nur die Hauptstadt schützen würde… nur mich selbst in Sicherheit bringen, während der Rest der Welt den Siechern ausgeliefert bleibt. Der soll sich mal lieber um seine eigene Baustelle kümmern. Wenn wir hier Licht hätten wäre der Wall wenigstens wirklich nur noch Luxus. Lestallum zumindest liefert Strom. Ob ich den Wall noch bis dorthin stecken kann? So müde… aber ein paar Kilometer schaffe ich noch. Vielleicht nicht mehr heute… aber irgendwann wird der Wall wieder ganz Lucis bedecken. Zumindest mein eigenes Land sollte ich im Ganzen schützen können. Hoffentlich verzeiht man mir, dass es nicht für die ganze Welt reicht. Ich hatte Prompto versprochen, eine Welt ohne Grenzen zu schaffen, wenn alles vorbei ist. Jugendliche Naivität… im Moment spüre ich meine Grenzen nur zu deutlich. Die Götter haben die Welt nicht umsonst in vier Reiche geteilt. Alles, was ich tun kann, ist, den Frieden zwischen diesen vier Reichen zu wahren. Kein Krieg, nur Freundschaft. Aber wenn ich mir Rashins Aufruf im Radio anhöre bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt auch nur den Frieden in meinem eigenen Land wahren kann. „Die Abstimmungen gehen morgen zu Ende, oder?“, fragt Prompto, „Wie lange dauert es dann noch, bis die Bauarbeiten anfangen?“ „Ich habe die nötigen Aufträge bereits vorbereitet“, erklärt Ignis, „es liegt alles bereit. Sobald der Notar das Ergebnis rechtskräftig ausgewertet hat, gehen die entsprechenden Aufträge raus. Die zuständigen Firmen stehen praktisch schon in den Startlöchern.“ „Das ist gut… ich war gestern wieder im Westviertel, nach meinen alten Nachbarn sehen, und die Zustände da sind schlimm. Die Menschen sind krank… im Norden sieht es auch nicht viel besser aus.“ „Das Krankenhaus im Stadtzentrum ist inzwischen vollständig restauriert und kann die Leute aufnehmen“, entnimmt Ignis seinen Unterlagen, „ich kann, auf Geheiß des Königs, anregen, die Menschen aus den Zeltstädten dort aufzunehmen oder zumindest gründlich zu untersuchen und zu behandeln. Kostenfrei, wenn es die Staatskasse zulässt.“ „Das weißt du besser als ich“, nuschle ich in meine Arme, „also mach ruhig. Für Menschen in Not ist immer Geld da.“ „Da war Rashin auch anderer Meinung“, brummt Gladio und nippt an seinem Wein, „Der hat Flüchtlinge aus dem Umland auch eiskalt abgewiesen… und jetzt redet er groß, WIR würden alles außerhalb Insomnias im Regen stehen lassen.“ Der besagte Regen trommelt derweil sein beruhigendes Lied gegen die Fenster der Zitadelle. Rashin behauptet, wir wären so egoistisch, das Regierungsgebäude zuerst zu restaurieren, aber tatsächlich habe ich erst mal nur das Krankenhaus und ein Schulgebäude in Auftrag gegeben. Die Reparatur der Zitadelle war ein Angebot der Baufirma… kostenlos, nur für das Prestige. Und wir brauchen die Zitadelle. Das Caelum Via zu mieten ist auch nicht billiger. „Du wohnst aktuell in Galahd, oder, Gladio?“, fragt Prompto munter. „Aktuell bin ich wieder in meiner alten Wohnung neben der Zitadelle“, entgegnet Gladio ebenso gut gelaunt, „Aber meine Frau stammt aus Galahd und wir haben ein Haus dort. Neu gebaut, wie fast alles in der Gegend… war nicht mehr viel da nach dem Krieg. Und ja, ich hab da mit der ganzen Familie gewohnt und beim Wiederaufbau geholfen, aber jetzt wo Noct wieder da ist, werde ich hier gebraucht.“ „In deinem jetzigen Zustand kannst du gern wieder zu deiner Familie gehen“, wende ich ein, „zumindest die paar Wochen, bis der Arm wieder richtig verheilt ist.“ „Schickst du mich gerade ernsthaft aus der Stadt, Noct? Raus aus dem Schutz deines Walls?“ Gladio gibt sich arg Mühe, verletzt zu klingen, aber der scherzhafte Tonfall verrät ihn. „Aus der Stadt, ja, aber den Wall musst du nicht verlassen“, beruhige ich ihn, „Sollst dich ausruhen, nicht kämpfen.“ „Seit wann liegt Galahd innerhalb des Walls?“, fragt Gladio. Ich lächle müde. „Verstehe“, meint Ignis, und ich kann seine Hand auf meinem Rücken spüren, „Deshalb also bist du so geschafft… aber übernimm dich bitte nicht, Noctis.“ „Ich doch nicht…“ „Nah, Noct überarbeitet sich schon nicht so leicht“, stimmt mir Gladio zu, „der schläft doch lang vorher ein.“ Lachen. Das hab ich vermisst. Einfach zusammensitzen und lachen, selbst wenn der Witz auf meine Kosten geht. So schön… zwei Monate bin ich nun schon wieder am Leben und heute ist der erste Abend, den ich wieder so verbringen kann. Mich einfach mal entspannen. Wenn ich nur nicht so müde wäre… Ich kann spüren, wie Ignis eine Decke über meine Schultern legt, aber meine Augen wollen sich nicht öffnen, um nachzusehen. Ich murmle ein Dankeschön in meine Arme aber ich glaube nicht, dass er es hört. Die Decke ist schön warm. Ich öffne die Augen wieder und blicke verwirrt auf das Innere eines Zeltdaches. Müde bin ich nicht mehr, aber der Dunkelheit um mich herum nach zu urteilen muss es mitten in der Nacht sein. Neben mir schnarcht jemand… Gladio, vermute ich. Er schnarcht fast immer, wenn er auf dem Rücken liegt, und das muss er mit dem gebrochenen Arm wohl. Warum ein Zelt? Ach ja, genau. Der Wohntrakt der Zitadelle wird heute renoviert. Wollten wir nicht alle in Ignis‘ Wohnung schlafen? Gut, etwas zu weit, um einen schlafenden König zu tragen, vor allem, wenn der einzige, der die Kraft dazu hat, verletzt ist. Also campen wir wohl heute im Audienzzimmer. Ich wende mich um und versuche mich im schwachen Mondlicht zu orientieren. Gladio schnarcht zu meiner Linken, sicher deckt er die Flanke des Zeltes. Nur aus Gewohnheit, schließlich sind wir in einem geschlossenen Raum und unter dem Wall, der inzwischen bis über Lestallum reichen dürfte. Prompto liegt zu meiner Rechten. Er ist merkwürdig ruhig; kein Brabbeln im Schlaf, keine Reaktion auf meine Bewegung. Dafür hat er sich umso fester in seinen Schlafsack gewickelt, als müsste er um sein Leben fürchten. Ich lege sachte die Hand auf seine Schulter und er entspannt sich sofort. Auf seiner anderen Seite liegt Ignis… auch der ist ungewöhnlich still, aber das liegt wohl daran, dass er wach ist. Wenn ich es recht bedenke, habe ich Ignis ohnehin nur in den seltensten Fällen schlafen gesehen. Er geht als Letzter ins Bett und steht als erster wieder auf. Jeden Tag. Ich seufze, strecke mich, und muss mich wohl mit dem Gedanken anfreunden, dass ich im Dunkeln das Klo werde aufsuchen müssen. Allein. Ob wohl inzwischen der Strom wieder geht? Hier im Zimmer möchte ich niemanden wecken, aber zumindest auf dem Flur wäre es schon schön, Licht zu haben. Sicherheitshalber nehme ich mir doch eine Taschenlampe mit. Ignis folgt mir nicht, oder noch nicht, zumindest. Er wird sich denken können, wo ich hinwill, immerhin habe ich gestern Abend ein halbes Glas Wein getrunken und bin einfach am Tisch eingeschlafen, ohne nochmal die Blase zu leeren. Die Gänge der Zitadelle sind schon etwas unheimlich, nur im Schein einer Taschenlampe. Früher waren sie immer beleuchtet, auch nachts, damit die Bediensteten heimlich ihre Arbeit verrichten konnten. Aber ohne Strom… die Fackeln, die vor hundert Jahren hier für Licht gesorgt haben, gibt es längst nicht mehr. Vielleicht sollte ich welche besorgen lassen… die alten Halterungen sind ja noch da. Irgendetwas knarrt im Dunkeln und ein Gedanke regt sich in meinem müden Gehirn. Nachts kommen die Siecher raus… nicht hier unter dem Wall, aber als Kind hatte ich trotzdem furchtbare Angst davor, nachts aufs Klo zu gehen. Weil ein Mädchen im Kindergarten erzählt hat, ihre große Schwester sei auf der Toilette gestorben, weil ein Monster aus der Schüssel gekrochen kam… heute weiß ich, dass das Irrsinn ist, aber damals… wieder das Knarren. Okay, ich gebe zu, auch heute wäre mir wohler, Ignis würde mich begleiten und vor dem Klo Wache stehen. Aber ich bin jetzt erwachsen, und König, und ich will mir wirklich nicht die Blöße geben laut zu sagen, dass ich Angst im Dunkeln habe. Sicher nur Ratten… oder lose Dielenbretter. Es gibt im Moment nicht viel Personal in der Zitadelle, aber die wenigen verbliebenen Angestellten sind sicher die ganze Nacht auf Achse, damit tagsüber alles glatt läuft. Vermutlich kommen die Geräusche daher. Das Knarren der Treppenstufen in den Dienstbotengängen. Das Scharren ist sicher nur ein Besen, der den Gang für den nächsten Tag fegt. Ich schließe mutig die Klotüre hinter mir und versuche, mich zu entspannen. Hinsetzen traue ich mich nicht… aber als Mann kann man ja auch im Stehen. Mit ein bisschen mehr Abstand zu dem Monster, dass es eigentlich eh nicht gibt. Das Plätschern in der Schüssel ist beinahe unnatürlich laut, und die Spülung donnert so gewaltig in der nächtlichen Stille, dass es mir fast in den Ohren weh tut. Sicher ist es nur das… die anderen Geräusche sind sicher auch alltäglich und leise. Nur mannigfach verstärkt durch die Abwesenheit des normalen Lärms. Dank der Spülung zeigen sich meine Ohren auf dem Rückweg weniger sensibel, aber noch immer geht die Dunkelheit mit einer gewissen Bedrohung einher. Angst… dabei bin ich sicher hier unter dem Wall. Und selbst wenn nicht; ich habe gegen Siecher gekämpft und gewonnen, auch schon allein. Flüstern hinter den Vorhängen… bestimmt nur der Wind. Ich finde zurück in das Audienzzimmer, zurück ins Zelt, wo meine Freunde schlafen. Keine Runen um den Campingplatz, aber bei meinen Freunden fühle ich mich trotzdem sicher. Zitternd krabble ich in meinen Schlafsack zurück und rolle mich ein paarmal herum, bis ich Gladio’s kräftige Form neben mir spüren kann. Selbst im Schlaf funktionieren seine Instinkte so gut, dass er mich mit dem gesunden Arm schützend an sich zieht. Ich atme tief aus und beruhige mich wieder. So ein kindischer Unsinn… so eine alberne Angst. Gladios Atmung ist ruhig und tief, sein leises Schnarchen übertönt die unheimlichen Geräusche der Nacht. Hier in der Stadt ist es tatsächlich dunkler als in der freien Natur… der Mond und die Sterne dringen kaum an den hohen Häusern vorbei, und ohne Strom sind die Wohnungen und Läden dunkel. So dunkel wie noch nie… Insomnia, die Stadt des Lichts. Eine Stadt, die niemals schläft, in der immer irgendwo die Beleuchtung an ist. Jetzt ist sie dunkel, nur in den Krankenhäusern sind die Notstromaggregate angesprungen, aber die sorgen weniger für Beleuchtung als für die lebenswichtigen Maschinen. Bezieht wirklich ganz Insomnia seinen Strom von Rashin? War das sein Ziel, als er sich zum Kanzler hat wählen lassen? Morgen werde ich dafür sorgen, dass wir wieder Strom aus Lestallum bekommen. Bis dahin sollte ich schlafen… keine schwere Aufgabe. Ich bin im Moment nicht müde, aber wenn ich den Wall noch weiter ausdehne, werde ich es bald wieder sein. Vielleicht noch bin Cap Caem… bis Cap Caem dürfte ich es bequem schaffen. Wenn ich dann noch nicht schlafe bis zum Ravathoga. Und in die weiten Ebenen hinter dem Vespernspiegel. Ganz Lucis… vielleicht schaffe ich tatsächlich ganz Lucis in einer Nacht. Ich kuschle mich an Gladios starke Schulter und konzentriere mich auf meine Aufgabe. Soll Rashin sagen, was er will, mir sind alle meine Leute wichtig. Kein Mensch in Lucis soll sich vor der Dunkelheit fürchten müssen. Als irgendwann die ersten Sonnenstrahlen durch die Zeltdecke fallen fühle ich mich angenehm entspannt. Nicht mehr müde, nur zu faul, um aufzustehen. Es ist warm… irgendwann in der Nacht müssen Prompto und Ignis aufgerückt sein, jedenfalls liegen wir jetzt alle auf einem Haufen wie ein Wurf Hundewelpen. So herrlich warm… so lässt es sich echt aushalten. Gladios riesiger Bizeps ist besser als jedes Kissen, seine Wärme hinter mir gibt mir das Gefühl, direkt neben einer Heizung zu schlafen. Prompto hat die Arme um mich geschlungen und sein Gesicht in meinen Bauch geschmiegt wie ein kleines Kind, seine Atmung geht endlich ruhig und er wirkt so entspannt, wie ich ihn kenne. Ignis ist, wie immer, wach, aber das hält ihn heute auch nicht davon ab, noch etwas liegen zu bleiben. Sein linker Arm ist irgendwo unter Prompto vergraben, der rechte liegt über meinen Schultern, hält mich sicher fest und bewegt sich nur manchmal, wenn die Hand mir durch die Haare streichelt. Ignis hat seine Stirn an meine gelegt, wenn ich die Augen öffne, sehe ich direkt in die seinen. Ein schöner Anblick, zumal ich nie gehofft hätte, ihn noch einmal genießen zu können. Ignis hat richtig schöne Augen. Es liegt so viel Liebe und Zuneigung darin, dass ich mich fast ein wenig dafür schäme, seine Bemühungen immer als Selbstverständlichkeit abgetan zu haben. Nur sein Job, sicher… aber er tut ihn gern, für mich. Weil ich der süße kleine Bruder bin, der ihm alles bedeutet. Es tut gut, so geliebt zu werden. Es tut gut, wieder im Kreis meiner Freunde zu sein. Am liebsten würde ich für immer so liegen bleiben, aber mein Magen knurrt und Ignis hat es wohl gehört. „Zeit fürs Frühstück, was?“, meint er freundlich und ich wende verlegen den Blick ab. „Ist ja auch schon fast Mittag… hoffentlich hat die Küche schon etwas vorbereitet.“ Ignis streichelt noch einmal meine Haare und steht dann einfach auf. Als wäre er nur mir zu Liebe so lange liegen geblieben… Ich seufze tief und drücke dafür Prompto näher an mich. Ein wenig schlafen will ich noch… nur ein bisschen. Bis das Essen auf dem Tisch steht und ich wieder an die Arbeit muss. Die Leute werden wissen wollen, was gestern Nacht passiert ist, wie es nun weitergeht, was ich den anderen Ländern sagen will. Hoffentlich ist Monica noch bis nach Niflheim durchgedrungen bevor man den Wall bemerkt hat. Ich will wirklich nicht, dass jemand das falsch auffasst. Gebt mir nur noch ein paar Stunden… nur noch ein wenig Zeit und Frieden, bevor wieder alle was von mir wollen. Ich schrecke wieder auf, als im Raum etwas umfällt. Kinder lachen, ich kann eilige Schritte und wildes Toben hören. Bin ich nochmal eingeschlafen? Gladio scheint sich umgedreht zu haben, er lehnt jetzt mit einigem Gewicht auf mir. Nicht unangenehm, eigentlich… auch, wenn meine Schultern leise zu protestieren anfangen unter der Belastung. Prompto schläft immer noch fest an mich gekuschelt, seine vom Schlaf zerwühlten Haare kitzeln mich im Gesicht. Aber er rührt sich langsam, scheint den Kinderlärm auch wahrzunehmen. Nur Gladio schläft unbeirrt weiter. „Nyx, Crowe, macht nicht so einen Lärm!“, herrscht Ignis vor dem Zelt die beiden Unruhestifter an und die halten mit einem Schlag die Luft an als hätte er jeden Spaß verboten. Wie früher, wenn mein Vater ein Machtwort gesprochen hat… Nun ist das einzige Geräusch das von Tellern auf der Tischplatte. Ein wunderbarer Geruch dringt an meine Nase. Saftiges Behemothfleisch mit Soße… mein Magen meldet sich erneut, drängt mich, aufzustehen und ihn zu füllen. Auch Prompto rührt sich, lässt mich etwas widerstrebend los und schnuppert Richtung Zeltausgang. Ich straffe die Schultern und stemme Gladios schlafende Form soweit hoch, dass ich unter ihm herauskriechen kann, stütze ihn, dass er nicht auf den bandagierten Arm fällt. Prompto packt mit an und zusammen können wir den armen Kerl wieder sicher auf den Rücken legen. Gladio brummt etwas Unverständliches und öffnet kurz die Augen, aber wach ist er noch nicht. „Guten Morgen, Dornröschen“, neckt Prompto und stütz sich mit beiden Händen auf Gladios Brustkorb, „Es gibt Essen~“ Gladio brummt nur nochmal. Prompto und ich sehen uns an, zucken mit den Schultern und kriechen dann einfach ohne ihn aus dem Zelt. Bleibt mehr für uns. „Die Palastküche wusste nicht, wann wir gerne essen wollten, deshalb habe ich schnell etwas gekocht“, erklärt Ignis, als wäre das eine schlechte Nachricht, und lädt jedem von uns ein saftiges Steak und eine große Portion Reis auf den Teller. Allein bei dem Anblick läuft mir schon das Wasser im Mund zusammen. Nyx hat bereits zu essen angefangen, er scheint sehr hungrig zu sein. „Na, wart ihr Kinder heute schon fleißig?“, frage ich und der Junge nickt eifrig. „Ich lerne zur Zeit sehr viel“, erklärt er, „Über die Geschichte von Lucis, die alten Könige und die Politik. Vater sagt, als Hofmarschall muss man alles wissen und können, was auch der König weiß und kann, damit man ihn in allen Belangen unterstützen kann.“ „Und du willst Hofmarschall werden, ja?“, fragt Prompto. „Ja. Jetzt wo es wieder einen König gibt, braucht der ja auch Leute.“ Ich schweige, hauptsächlich, weil mein Mund gerade mit Essen voll ist. Die Leute der Stadt haben sich schnell wieder an den Gedanken gewöhnt, einen König zu haben. So verhasst der Adel bei den neuen Politikern war, so sehr hat sich das Volk nach der alten Ordnung gesehnt. Dass da trotzdem ein Mann wie Rashin an die Macht gekommen ist, wird wohl am System gelegen haben… das lief ja wie die stille Post, egal was man an einem Ende rein spricht, am anderen Ende kommt Mist raus. „Ich werde der Schild des neuen Königs!“, prahlt Crowe und reckt einen Arm nach oben, damit wir sie auch ja deutlich sehen. Irgendwie fühle ich mich schon wieder unter Druck gesetzt… das ist auch wieder etwas, was ich dem Rest der Welt schonend beibringen muss. „Sehr schön, Crowe, aber wie wäre es, du weckst erst mal den Schild des jetzigen Königs?“, springt mir Ignis bei und scheucht die Kleine auf, „Aber sei schön zärtlich, dein Papa hat einen kaputten Arm.“ „Jaha“, meint die Kleine und schlüpft ins Zelt. Dem Geräusch nach springt sie ihrem armen Vater alles andere als zärtlich in die Magengrube. „AUFWACHEN PAPA, die anderen essen alle schon!“ Nur einen Augenblick später kommt der arme Mann dann auch aus dem Zelt heraus. Er sieht zerzaust und müde aus, das Kind unter den rechten Arm geklemmt, den linken noch immer fest an den Körper gefesselt, als würde er sonst abfallen. Der Anblick des Essens scheint jedoch auch ihn wieder auf die Beine zu bringen. „Du, Crowe“, mahnt er, als er sich seinen Teller mit nicht weniger als zwei Steaks und einem Berg Gemüse belädt, „hast jedenfalls noch einiges zu lernen, bevor du ein richtiger Schild wirst. Wenn du willst, kannst du beim Training zusehen und ich üb ein bisschen mit dir, aber in der Königsgarde darfst du erst anfangen, wenn du dreizehn bist.“ „Wie lange ist das noch?“ Gladio mustert seine Tochter scharf. „Nächstes Jahr hast du die Hälfte geschafft“, meint er, „und bis dahin sieh zu, dass du erst mal Lesen und Schreiben und so lernst.“ „Aber das ist SOOO langweilig!“ „Gar nicht“, widerspricht Nyx, „Lesen ist voll spannend, da kann man super viel lernen! Außerdem gibt es auch Bücher, in denen tolle Geschichten stehen, wie die, die Mama mir vorliest. Über die alten Könige und Legenden zum Beispiel, oder Märchen und Gedichte.“ „Streber.“ „Gar nicht. Ich bin nur fleißig.“ „Außerdem zwei Jahre älter als ich und ein Streber.“ Nyx verdreht nur die Augen und wendet sich wieder seinem Gemüse zu. Ich nehme mir stattdessen noch eine Portion Reis nach. Ignis seufzt tief, aber ich weiß nicht, ob es mir oder den Kindern gilt. „Wenn du unbedingt jetzt schon den Schild spielen willst“, rege ich an, „Dann beschütz doch Nyx.“ Crowe wirft sich stolz in die Brust. „Das mache ich schon längst.“ Nyx wirkt wenig überzeugt. „Als wir damals den Kristall gefunden haben, bist du aber nur weggerannt“, erinnert er seine Freundin. „Das war ja auch gruselig!“, wendet sie ein, „Der hat voll fies geleuchtet und alles hat gebebt!“ „Gib einfach zu, dass du Angst hattest.“ „Gar nicht! Der Schild des Königs hat nie Angst.“ Gladio seufzt tief. „Doch, hat er. Und zwar um seinen König und seine Freunde. Und er zieht Kraft aus dieser Angst – wenn es nötig ist, wegzulaufen, sieht er zu, dass er seine Freunde mitnimmt und selbst als letzter geht, und wenn der König nicht fliehen will, bleibt auch sein Schild.“ „Du hättest Nyx gar nicht erst in den Keller der Zitadelle gehen lassen dürfen“, wendet Ignis ein. Crowe wirkt ernsthaft bedrückt, aber auch Nyx blickt beschämt zu Boden. In der Zitadelle zu spielen war wohl schon etwas länger verboten… aber gerade das macht natürlich den Reiz aus. Ignis seufzt tief. „Aber zum Glück ist ja nichts weiter passiert.“ Nach dem Essen habe ich gerade noch Zeit für ein Bad, bevor Ignis mir in die komplizierten Kleider hilft, in denen ich vor die Leute treten soll. Er war so umsichtig, eine Rede für mich vorzubereiten – ich selbst hätte kaum gewusst, was ich den Menschen sagen soll. Trotzdem trete ich jetzt ruhig auf den Balkon der Zitadelle, lege beide Hände auf das frisch restaurierte Geländer und blicke hinunter auf die vielen Menschen auf dem Vorhof. Die Königsgarde bemüht sich, die Menge zu kontrollieren, lässt auch niemanden mehr hinein, der keinen Platz zum Stehen mehr finden würde, trotzdem herrscht dort ein heilloses Chaos, wie immer, wenn es mal eine Chance gibt, den König zu sehen. Kinder werden auf die Schultern ihrer Eltern gehoben und ich winke freundlich, bis sich die Menge soweit beruhigt und die Technik mein Mikrophon fertig justiert hat. „Menschen von Lucis“, beginne ich mit sicherer Stimme, „Es freut mich, Euch heute hier begrüßen zu dürfen.“ Oder vor dem Fernseher, wenn ich mir die vielen auf mich gerichteten Kameras so ansehe. Meine Nervosität weicht langsam einer gewissen Sicherheit. Wie oft habe ich meinen Vater auf diesem Balkon stehen sehen und mich gefragt, woher er den Mut findet, so zu sprechen? Jetzt, wo ich selbst hier stehe, begreife ich es. Da ist kein Mut… die Sicherheit kommt mit der Erfahrung, und mit dem Vertrauen in die Überzeugungskraft meiner eigenen Worte. Angst habe ich trotzdem. „Wie Ihr sicher gemerkt hat, habe ich den Wall von Lucis letzten Abend erneut errichtet. Erst nur über der Stadt, aber inzwischen sollte er sich über das ganze Land erstrecken. Sollten einzelne Gebiete von Lucis noch ungeschützt sein, bitte ich um Mitteilung, damit ich den Wall entsprechend erweitern kann.“ Meine Hände zittern und ich greife die Balustrade etwas fester, damit es niemand merkt. „Dass ich den Wall wieder aufgebaut habe hat einen Grund, über den ich jetzt sprechen möchte. Und zwar ist mir von den mutigen Männern der Meldatio-Jägerzantrale aus zugetragen worden, dass sich im Norden der Stadt eine Bestie befände, die bereits fünf mutige Männer erlegt hätte. Auch erreichte mich die Information, dass dieses Untier sich nachts an der Nordmauer unserer Stadt zu schaffen mache und jeden, der die Unvorsicht besaß, die Stadt des Nacht zu verlassen, ein schlimmes Schicksal ereilen würde. Ich habe mich daraufhin entschieden, denn Wall um die Stadt aufzubauen, um die Bürger zu schützen, und die Königsgarde mit Unterstützung der Gleven und einigen freiwilligen Jägern nach der Bestie ausgeschickt. Ich möchte mich an dieser Stelle bei jedem einzelnen dieser mutigen Männer und Frauen bedanken – sie haben hervorragende Arbeit geleistet und das Monster zu Fall gebracht. Die direkte Gefahr ist damit gebannt, es besteht keine unmittelbare Bedrohung mehr. Leider…“ Ich atme tief durch, der nächste Satz fällt mir schwer. „…kamen im Laufe des Kampfes Dinge zum Vorschein, die darauf hindeuten könnten, oder zumindest Vermutungen laut werden ließen, bei der angreifenden Kreatur könnte es sich um einen Siecher gehandelt haben. Für diejenigen unter Euch, die jung genug sind oder aus anderen Gründen das Glück hatten, nie einem solchen begegnet zu sein, nur so viel: Siecher sind Kreaturen der Dunkelheit, Menschen oder Tiere, die von der Plage befallen und nach ihrem Tod zu grotesken Monstern wurden. Sie scheuen das Licht, greifen dafür im Schutze der Nacht umso gefährlicher an und waren weltweit gefürchtet. Vor zehn Jahren wurde die Plage von der Welt genommen, und seither wurde kein einziger Siecher mehr gesichtet. Ich gehe daher also stark davon aus, dass sich die Gerüchte nicht bestätigen werden.“ Eine dreiste Lüge, aber als König muss ich zuerst an das Wohl und die Sicherheit der Menschen denken. Wenn eine Lüge bedeutet, dass ich eine gefährliche Panik abwenden kann, muss ich eben lügen. „Dennoch werde ich den Wall über Lucis halten. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, bis die Gerüchte ausgeräumt sind. Der Wall hindert niemanden daran, das Land zu verlassen oder zu betreten. Er hält lediglich die Plage zurück, und mit ihr die Siecher, sollte es sie tatsächlich geben. Jedwede Interaktion mit anderen Ländern, sei es für Familienbesuche, Urlaub oder Handel, bleibt uneingeschränkt möglich. Auch die neu eingerichtete Zugverbindung wird weiterhin planmäßig fahren.“ Ich lasse den Menschen ein wenig Zeit, die neuen Informationen untereinander zu diskutieren. Als die Menge sich langsam beruhigt, setze ich meine Rede fort: „Ich gehe davon aus, dass demnächst eine Besprechung mit den Regenten der anderen drei Reiche zustande kommen wird, zu der ich deren Vertreter hier nach Insomnia einladen werde. Diese wird nach Möglichkeit in der Zitadelle, ansonsten im Caelum Via ausgerichtet. Jedwede daraus resultierende Unannehmlichkeit, sei es nun den Verkehr oder eventuelle Reservierungen im Hotel betreffend, bitte ich zu entschuldigen. Dafür freut es mich, verkünden zu dürfen, dass die Abstimmungen, an denen Ihr Euch so erfreulich zahlreich beteiligt haben, heute zu einem Abschluss gekommen sind. Der Notar hat die Ergebnisse bereits beglaubigt und offiziell verkündet, ich nehme mir dennoch heraus, sie noch einmal zu wiederholen: Die Bauprojekte, die als erstes in Angriff genommen werden, sind die Restaurierung des U-Bahn Systems sowie die zerstörten Wohnviertel im Norden und Westen der Stadt. Auf dem vierten Platz findet sich das Straßennetz, das, wenn nicht zeitgleich, kurz nach Vollendung der Bauarbeiten im Untergrund in Angriff genommen wird.“ Auch hier mache ich eine kurze Pause, anscheinend hat noch nicht jeder der Anwesenden die Verkündung des Notars mitbekommen. Ich lasse dem Gemurmel Raum und freue mich, dass die Stimmen des Volkes wieder freudig klingen, weniger besorgt. Eine gute Idee von Ignis, die schlechten Nachrichten voranzustellen. „Die ersten Bauarbeiten haben bereits begonnen“, fahre ich fort, „Und ich möchte jeden bitten, der Kinder hat, diese von den Baustellen fern zu halten. Die größten Gefahrenstellen werden mit Bauzäunen abgesperrt sein, aufgrund der Größe der zu renovierenden Bereiche ist es jedoch unmöglich, eine vollständige Absicherung gegen spielende Kinder zu erwirken. Bitte seien Sie als Erwachsene sich der Gefahren bewusst, die auf solchen Baustellen herrschen, und ermahnen sie auch Ihre Kinder zur Vorsicht. Die Menschen, die in den betroffenen Gebieten wohnen, wurden bereits gestern Abend eingeladen, sich im neu erbauten Zentralkrankenhaus untersuchen und gegebenenfalls einquartieren zu lassen. Wer gesund genug ist und einen Wohnwagen, ein Zelt oder ein großes Auto besitzt oder sich etwas Vergleichbares zu leihen mächtig ist, findet Platz auf dem Campingplatz zum Palastsee, der von freiwilligen Helfern aus der Königsgarde zu diesem Zwecke gesäubert und hergerichtet wurde. Laut der Pläne, die mir vorliegen, sollten die ersten Häuser im Westviertel ab nächster Woche als Rohbau beziehbar sein. Im Norden wird es aufgrund der Hochhäuser etwas länger dauern, bis die Bauarbeiten soweit fortgeschritten sind.“ Das sollte das Wichtigste gewesen sein. „In einer halben Stunde stehe ich den Vertretern der Presse im Audienzsaal für weitere Fragen zur Verfügung. Von siebzehn bis zwanzig Uhr wird dieser auch für die Allgemeinheit zugänglich sein, wer also Fragen an mich richten will oder ein Anliegen hat, möge sich an die Palastwachen wenden. Ich bitte um Verständnis, sollte die Zeit nicht reichen, um jeden von Euch zu empfangen.“ Drei Stunden sind schlimm genug. Ich plane dennoch, diese öffentliche Audienz zu einer regelmäßigen Einrichtung zu machen, vielleicht ein oder zwei Mal die Woche, wenn mir das nicht zu viel wird. Ich rede irgendwie lieber Undercover mit den Leuten… selbst, wenn sie mich als König erkennen, wirke ich in meiner Anglerkleidung wohl etwas nahbarer als in meiner Amtstracht. Und wenn man mich nicht erkennt… nun, es ist schon faszinierend, was man dann so hört. Als wäre der König kein Mensch, sondern eine Maschine, die zu funktionieren hat. Ignis serviert fleißig Tee und Gebäck, während ich den Reportern Rede und Antwort stehe. Die meisten Fragen drehen sich um den anhaltenden Stromausfall in der Stadt, dicht gefolgt von Fragen zu meiner geplanten Hochzeit mit Lunafreya, die noch immer das Topthema in allen Medien darstellt. Ob ich schon das neue Kleid gesehen hätte, dass die Designer von Altissia entworfen haben? Nein, habe ich nicht. Ob die Hochzeit trotz des Walls, den ich aufrecht halten muss, in Altissia stattfinden kann? Ich hege die Hoffnung, den Wall bis dahin nicht mehr zu benötigen. Wie es denn mit der Thronfolge aussieht, da Lunafreya – ohne beleidigen zu wollen – ja nun doch schon Mitte Vierzig ist? Diese Frage hatte ich befürchtet, die Antwort ist keine Einfache. „Die Blutlinie der Lucis ist mit mir gestorben“, gebe ich zu, wissend, dass auch meine drei Leibwächter alles hören können, „ich bin dank der Gnade der Götter in diese Welt zurückgerufen worden, in der eigentlich kein Platz mehr für mich ist. Ein neuer König ist bereits vom Kristall gewählt worden – ich vertrete ihn, bis er bereit ist, selbst den Thron zu besteigen.“ Es folgen tausende von Fragen, wer dieser neue König sein mag, aber ich beschränke mich auf ausweichende Antworten. Der König wird da sein, wenn seine Zeit gekommen ist, und ich werde dafür Sorge tragen, dass bis zu seinem Erscheinen alles seine Ordnung hat. Wie lange? Nun, ein oder zwei Jahrzehnte mag es noch dauern. Ihr werdet den König erkennen, wenn es so weit ist. Er besitzt die Gnade der Götter und den Segen der alten Könige. Er wird nicht mein Nachfolger, sondern der Beginn von etwas ganz Neuem. Ein neuer König für eine neue, friedlichere Welt. Die Fragen nach dem Stromausfall fielen mir doch leichter… Es wurde bereits Kontakt mit Lestallum aufgenommen, Exineris kann und will den Strom für Insomnia liefern, es müssen aber anscheinend erst neue Leitungen verlegt werden. Die stadtinternen Kraftwerke wurden alle von einem einzigen Konzern aufgekauft, nämlich Rashin Electrics. Diese scheint aktuell Probleme mit dem neuen Erdwärmesystem zu haben. Der Wall hat keinen Einfluss auf die Wärme des Planeteninneren, ebenso wenig auf den Wind oder die Sonne, beides Ressourcen, die auch vorher schon in Insomnia zur Stromgewinnung genutzt wurden, wenn auch damals nur als kleiner Zusatz zur Müllverbrennung. Genauere Antworten zu den aktuellen Problemen kann Rashin sicher selbst geben. Ich bin erstaunt, wie ruhig ich bei den Fragen über das Kraftwerk bleibe – Rashin macht mich wütend mit seiner Propaganda gegen mich und den Adel. Trotzdem kann ich ganz gelassen über ihn reden, ohne beleidigend oder abschätzig zu wirken. Auch die Information über den neuen König scheine ich gut vermittelt zu haben – sie wird mit Begeisterung aufgenommen, obwohl ich mich bedeckt halte. Der Beginn von etwas ganz Neuem… das ist doch der Stoff, aus dem Legenden gemacht sind. Eine neue, friedlichere Welt… mit etwas Glück bekomme ich die auch noch zu sehen. Vielleicht tatsächlich von Cap Caem aus, wenn mir ein friedlicher Lebensabend dort vergönnt ist. Ich rechne ja eher nicht damit, aber vielleicht habe ich ja Glück. Endlich Ruhe… endlich keine Verpflichtungen mehr. Das war damals das einzig Positive an meinem Tod – man hat mich endlich in Ruhe gelassen. Keiner mehr, der mir mit Pflichten und Aufgaben und Bestimmung hinterherrennt. Und dann komme ich zurück und lade mir den Mist freiwillig wieder auf. Dem neuen König zu Liebe. Und, weil ich mich meinem Land gegenüber, nein, der ganzen Welt gegenüber, noch immer verpflichtet fühle. Kapitel 17: Neues Leben (Prompto Argentum) ------------------------------------------ Junge, tut mir der Rücken weh. Eigentlich bin ich der Königsgarde ja nur beigetreten, um Noct auf seiner Reise nach Altissia begleiten zu können. Und ihm vielleicht auch später noch irgendwie beistehen zu können, wenn er mich nach seiner Hochzeit noch braucht und will. Dass ich als Bürgerlicher tatsächlich in die Leibwache aufgenommen und auf einer Stufe mit all den anderen Adeligen in der Zitadelle behandelt werden würde… puh. Ich fühle mich auch nicht so wirklich bereit für diese Position. Ich meine, klar – ich will bei Noct sein und ich kann und werde ihn vor allem beschützen. Ich habe viel gelernt, fleißig geübt, und bin inzwischen durchaus in der Lage mehr als nur mein eigenes Gewicht zu tragen. Aber diese ganze höfische Etikette… das ist viel, was man sich merken muss. Und viel, was einem körperlich abverlangt wird. Normal lässt Noct mich ja einfach vor der Tür Wache halten, wo ich mich auch mal ein bisschen hängen lassen kann, aber jetzt, wo Gladio verletzt ist, muss jemand an seinem Platz stehen, direkt an Nocts linker Seite. Und da ist dann Stillhalten angesagt. Stun-den-lang. Hab ich erwähnt, dass mir der Rücken wehtut? Zehn Stunden strammstehen gehen ganz schön ins Kreuz. Entsprechend froh bin ich, mich jetzt in Nocts frisch restaurierten Privatgemächern in einen der superweichen Sessel sinken lassen zu können. Und zwar so, wie man eben sitzt, wenn keiner hinschaut. Ich hab keine Ahnung, wie Ignis das schafft… den ganzen Tag steht er da wie eine Säule, die Hände im Rücken überkreuzt und fast ohne sichtbar zu atmen. Selbst jetzt, wo er sich eigentlich entspannen könnte, sitzt er immer noch total gerade. „Prompto ist ja richtig fertig“, scherzt Gladio und ich hebe den Finger, um ihm meine Meinung zu symbolisieren. Alle lachen, aber das geht mir gerade auch sonstwo vorbei. „Ich habe mich heute nochmal an diesen Süßigkeiten aus Tenebrae versucht“, eröffnet Ignis uns und stellt einen Karton auf den Tisch, aus dem es herrlich duftet. Ich vergesse meinen müden Rücken und springe wieder in eine aufrechtere Sitzposition, damit ich nichts verpasse. „Meine Frau hat mir ein paar landesübliche Rezepte zugespielt, ich bin gespannt zu sehen, ob es das war, was Luna dir damals angeboten hat, Noct.“ Gladio und ich geiern wie gebannt auf die duftenden Leckereien, aber natürlich ist es Noct, der als erstes zugreifen darf. Und der lässt sich Zeit, die kleinen Küchlein ausgiebig zu inspizieren, bevor er endlich hineinbeißt und sein Urteil fällt. „Nahe dran“, meint er, und ich kann Ignis die Enttäuschung direkt ansehen, „aber irgendwas fehlt noch.“ Ich will mir auch eines der Teilchen nehmen, aber Noct zieht den Karton aus meiner Reichweite und grinst hämisch. Aber Hauptsache erst mal meckern, dass es nicht perfekt ist, was? Ich blicke ihn enttäuscht an und natürlich schiebt er mir den Karton wieder zu. „Nur Spaß, nimm dir ruhig.“ Ich greife grinsend zu. Die Küchlein sind herrlich locker und saftig mit einer fast flüssigen Füllung und sehr viel feinem Zucker obendrauf. Es schmeckt fantastisch und ich lasse das Ignis auch entsprechend wissen. Noct hält den Karton zu Gladio, der irgendwas von seinem Blutdruck murmelt und sich dann trotzdem bedient. Muss ja keiner wissen. Von uns erfährt jedenfalls weder Edna noch der verhasste Hausarzt, dass Gladio seine Diät ignoriert, wo er kann. Und ganz ehrlich, bei den leckeren Teilchen… da muss man sich einfach eins gönnen. Oder zwei oder drei, wenn Noct so viel übrig lässt. „Scheint ja immerhin zu schmecken“, meint Ignis beruhigt und nimmt sich auch ein Stück. „Ich hab nie gesagt, dass es nicht schmeckt“, verteidigt sich Noct, „Es ist nur nicht ganz das, was Luna mir damals geschenkt hat. Aber fast, nur… irgendwas fehlt halt noch.“ „Das finde ich schon raus“, ist sich Ignis sicher, „Aber gut zu wissen, dass das Grundrezept schon mal stimmt. Die Zutaten für die Füllung und Glasur sind ja sehr Variabel.“ „Uns schadet es jedenfalls nicht, wenn du noch ein bisschen rumprobieren musst“, gebe ich mit vollem Mund zu, „wir gehen dann halt einfach etwas länger joggen, was, Gladio?“ Gladio nickt nur, auch er hat den Mund voll. „Werd deine Kochkünste vermissen, wenn ich wieder in Galahd bin“, gibt er zu, nachdem er geschluckt hat, „Edna und Iris kochen beide so brav nach dem Diätplan dass fast gar nichts richtig schmeckt…“ „Ach, wenn dein Blutdruck sich wirklich wieder so gut eingependelt hat und das Cholesterin auch in Ordnung ist, wird der Doktor schon nachgeben“, meint Ignis, „Genieß einfach deinen Urlaub.“ „Werd ich wohl müssen, was? Und versuchen, mich nicht zu ärgern, weil Noct mich wegschickt und ihr beide dableibt…“ „Die anderen schick ich auch weg“, meint Noct und Ignis merkt genauso überrascht auf wie ich. „Waaas?“, entfährt mir, und ich stemme beide Hände auf den Tisch, um Noct anzustarren. Tut gut, sich frei bewegen zu dürfen. „Die Gesandtschaften der anderen Reiche kommen erst in zwei Wochen hier an, bis dahin dürfte es in Insomnia relativ ruhig zugehen“, erklärt Noct ruhig und leckt sich noch etwas Zucker von den Fingern, „Ich möchte, dass ihr die Zeit nutzt, um bei euren Familien zu sein. Gladio und Ignis auf jeden Fall, Prompto kann auch bleiben, wenn er nirgendwo sonst gebraucht wird. Wenn der Gipfel vorbei ist, würde ich gerne nochmal mit dem Auto durch ganz Lucis fahren und in jedem größeren Dorf eine kleine Ansprache halten. Präsenz zeigen, den Leuten zuhören… sowas eben. Da sind wir lang unterwegs und ihr seht die Kinder eine Weile nicht wieder, will ich damit sagen.“ „Zwei Wochen, hu?“, meint Gladio und lässt sich in seinen Sitz zurücksinken, „Bis dahin könnte mein Arm wieder voll belastbar sein, wenn ich die Platte noch drin lasse.“ „Besprich das bitte mit deinem Arzt“, meint Noct, „Ich will dich voll kampfbereit an meiner Seite oder wir verschieben die Fahrt. Noch ist nichts offiziell angekündigt, also haben wir etwas Spielraum.“ „Bis zum Gipfel bin ich wieder fit, keine Sorge.“ „Zwei Wochen mit der Familie würden mir sicher gut tun, Noct“, gesteht Ignis, „Wenn du so lange ohne mich klarkommst?“ „Davon gehe ich aus. Wird hart, aber ich bin ja kein kleines Kind mehr… und hab einen Haufen anderer Bediensteter, die sich um deinen Job reißen würden.“ Kann ich mir vorstellen… so wie sich alle hier aufführen, gibt es da sicher mehr als nur ein paar Leute, die töten würden, um dem König die Füße waschen zu dürfen. Dabei macht Noct das meist allein, weil ihm das ganze Gehudel total zuwider ist. Immer schon war, wenn ich mich recht erinnere. Ich greife nach dem letzten Teilchen, ernte einen giftigen Blick dafür und muss es doch Noct überlassen. Freundlicherweise reißt er es dann doch in zwei Hälften und gibt mir einen Teil ab. „Na, dann kann ich mich ja halbwegs beruhigt zurückziehen“, lenkt Ignis ein, „ich bin ja auch nicht weit weg, falls du mich brauchst, meine Wohnung ist ja praktisch direkt nebenan.“ „Und falls was wäre ist ja immer noch Prompto da“, fügt Gladio hinzu. Ich gebe ertappt Laut. „Also eigentlich…“ „Eigentlich was?“ Mir bleiben die Worte im Hals stecken. Natürlich können Gladio und Ignis Noct nicht einfach allein zurück lassen. Sie sind von klein auf darauf getrimmt worden, den Prinzen – und späteren König – zu beschützen und zu versorgen. Und ich habe keine Familie außer dieser hier… das heißt, eigentlich. „Wenn du auch gehen willst, tu‘s ruhig“, beruhigt mich Noct, „Ich komme schon klar. Monica und Dustin werden euch als Leibwächter vertreten, die sind vielleicht nicht mehr so knackig jung, aber passen schon gut auf mich auf. Du hast genauso ein Recht auf Urlaub wie die anderen.“ „Danke, Noct.“ „Nur so aus Interesse… wohin?“ „Hammerhead“, gebe ich zu, „Cidney ist gestern aus dem Krankenhaus beim Stadttor entlassen worden, wo sie sich wohl noch von dem Kampf mit der Maschine erholt hat oder so. Jedenfalls hatte ich vorgestern Gelegenheit, mit ihr zu sprechen und… naja… stellt sich raus sie ist schwanger und weiß nicht recht, von wem.“ „Na, deins kanns nicht sein, oder?“, meint Gladio locker, „Du warst seit über einem Jahr nicht mehr in Hammerhead.“ „Naja, aber…“, hui ist das peinlich. „Cidney ist… ein paarmal zu mir rausgefahren. Hat Bier mitgebracht und was man halt sonst noch so braucht für einen gemütlichen Abend… ja. Ihr ging es so weit draußen auch einfach besser, und sie hat sich Sorgen um mich gemacht.“ „Also seid ihr wieder zusammen?“, fragt Ignis. „Naja… nein? Es ist ein bisschen kompliziert, mehr so… ein Gelegenheitsding.“ „Also bist du praktisch verfügbar wenn sie grad keinen gutaussehenden Kerl hat, was?“ Gladio kann echt gemein sein manchmal, aber ganz Unrecht hat er nicht. „Ungefähr, schon… aber sie mag mich schon auch recht gern. Es ist halt… Cidney ist keine Frau, die einem gehört, weißt du? Keine, die man sich einfach mitnimmt und daheim an den Herd stellt wie eine hübsche Trophäe. Sie gehört einfach nach Hammerhead wie der Teer auf die Straße, und sie hat natürlich auch eine gewisse Auswahl unter den Männern, die da durchkommen.“ Nur zu mir ist sie extra raus gefahren. Kilometerweit, letztlich bis nach Cap Caem. Hat stundenlang mit mir geredet, zugehört, mit mir gelacht und geweint. Nachts an meiner Seite geschlafen… gut, das sind Erinnerungen, die ich lieber nur hervorholen sollte, wenn ich allein bin. Wird sonst peinlich. Gladio seufzt nur und reibt sich mit der gesunden Hand die Schläfen, Ignis und Noct wirken eher amüsiert. „Eine Frage hätte ich allerdings noch“, brummt Gladio, während ich abwesend den letzten Zucker aus dem leeren Karton auflese, „Wenn Cidney dich so oft besuchen gekommen ist, wie du sagst, warum hat sie dann keinen Alarm geschlagen, als du weg warst? Ich meine, wir hatten vier Monate keinen Kontakt mehr mit dir!“ Ich kann Gladio ansehen, dass er sich immer noch Vorwürfe macht, nicht früher gekommen zu sein. Aber ich weiß, wie es ihm ging zu der Zeit, ohne Noct, und da sind vier Monate schnell. Zumal ihn keiner gedrängt hat. Die Antwort auf seine Frage fällt mir trotzdem schwer. Ich stelle den Karton zurück auf den Tisch, wische mir die Hände gründlich an einer Serviette ab und überlege, wie ich das am besten erkläre. „Ich… wusste, dass etwas passieren würde“, gebe ich schließlich zu, „schon kurz nachdem du weg bist. Mich hat jemand beobachtet, einmal ist er auf mich zugekommen. Wollte, dass ich mitkomme. Ich hab nein gesagt, das hat ihm nicht gepasst. Als Cidney da war… hatte ich es einen Moment vergessen, aber dann hab ich es wieder gemerkt, also… dass da wer ist, meine ich. Nicht nur der eine. Und ich wusste irgendwie, dass sie mich mit Gewalt holen würden, wenn ich nicht mitwill.“ Ich atme tief durch und blicke auf die Serviette zwischen meinen Fingern. „Also hab ich absichtlich einen Streit vom Zaun gebrochen, damit Cidney abhaut und eine Weile nicht wiederkommt. Ich hab nicht damit gerechnet, dass sie ganz wegbleibt, aber mein Handy war kaputt und sie hat mir mein Schweigen wohl übel genommen, bis sie erfahren hat, was wirklich passiert ist… warum ich mich nicht mehr gemeldet habe. Sie hat sich auch entschuldigt, als wir uns gestern gesehen haben. Meinte, sie hätte sich Sorgen um mich gemacht.“ „Das hat sie auch“, versichert mir Ignis, „Cor hat erzählt, wie sie gegen den Maschinenableger in Hammerhead mitgekämpft hat. Dass das persönlich gewesen sei… ich nehme an, da ging es um dich.“ Ich muss lächeln. Der Gedanke, dass Cidney für mich kämpft… macht mich irgendwie glücklich. „Das Baby würd ich mir trotzdem nicht unterschieben lassen“, meint Gladio mürrisch. Ich muss lachen. „Nicht ungetestet jedenfalls, so viel ist schon klar.“ „Habt ihr denn nicht verhütet?“ Ignis' Frage klingt beinahe anklagend. „Sagt derjenige von uns, der als erstes ein Kind in die Welt gesetzt hat“, stichelt Gladio. „Dem lag allerdings eine gewisse Absicht zugrunde“, verteidigt sich Ignis. Ich bin froh, der Frage so ausweichen zu können. Wir… haben verhütet. Aber wir waren auch beide ziemlich besoffen, also… nicht ganz ausgeschlossen, dass da was schief gelaufen ist. Wie gesagt, die schmutzigen Details gehe ich lieber durch, wenn ich ganz alleine bin. „Dann geh nach Hammerhead zu Cidney“, raunt Noct mir zu, „Genieß die Zeit, kümmert euch ein bisschen umeinander, und dann komm mir erholt zurück, ja?“ „Mach ich, danke Noct.“ „Wer war das eigentlich, der dich damals angegriffen hat?“, fragt Ignis, sicher, um sich aus der Diskussion mit Gladio zu retten, aber auch aus echtem Interesse. Ich seufze tief. Immer diese komplizierten Fragen… „Er nannte sich Nemo, die anderen haben ihn Kapitän genannt.“ „Wie aus diesem Roman von Jules Verne?“ „Den kenne ich nicht. Jedenfalls… Nemo war… er nannte mich seinen Bruder. Ist auch nicht ganz falsch so.“ „Also auch einer von Besithias Klonen?“ „Ja, vermutlich der erste, der entkommen ist. Aus der defekten Reihe… ich weiß die Nummern nicht mehr, irgendwas mit drei vorne. Jedenfalls haben die Kinder aus der Zuchtlinie nicht so gut auf Plasmodium reagiert, die meisten sind gestorben, Nemo ist ausgebrochen. Der Rest wurde weggeworfen wie Müll, waren ja nur ein paar Zellen pro Fläschchen.“ Mehr waren wir unserem Vater nie wert… nur ein paar Zellen in einem kleinen Plastikgefäß. Wenn’s kaputt ist, schmeiß weg, mach ein Neues. Einen neuen Satz Zellen, aus denen sich ein paar hundert neue Soldaten ziehen lassen. Es ging immer nur um die Masse. Möglichst viele Soldaten vom Band, mit denen man Lucis überrennen kann. Ich kann warme Hände auf meinen Schultern spüren und weiß, dass meine Freunde zusammengerückt sind, um mich zu trösten. „Nemo war selbst noch total jung. Er hat seine ganze Kindheit in diesem Behälter verbracht, damit er kein Bewusstsein entwickelt, bevor er infiziert und katalysiert wird. Aber irgendwie ist er trotzdem ‚wach‘ geworden und hat sich befreit. Hat noch zwei Babys aus meiner Charge mitgenommen, weil wohl gerade ein ziemlicher Aufstand war – einer von den Forschern ist durchgebrannt und hat eine ‚Probe‘ gestohlen. Also mich.“ „Prompto…“ „Ist schon okay, ich komm klar. Nemo und die anderen wohl auch… er hat sein ganzes Leben nach seinen ‚Brüdern‘ gesucht, ist immer wieder in verschiedene Anlagen eingebrochen und hat einzelne von uns befreit. Obwohl er mit Plasmodium infiziert war, bis er mal zufällig der Kannagi über den Weg gelaufen ist. Also Lunas Mutter, glaube ich. Sie hat ihn geheilt, er ist abgehauen. Er hat Angst vor normalen Menschen… oder hatte es lange Zeit. Irgendwann hat er es wohl auch geschafft, Frieden zu finden. Die meisten Kinder hat er vor Kirchen ausgesetzt, hat dafür gesorgt, dass alle ein gutes Zuhause als Menschen finden.“ Nun fällt es mir doch schwer, ruhig zu atmen. Ich lehne mich in Nocts Arme und versuche, mich zu beruhigen. „Er… war so wütend wegen der Maschine. Weil sie uns ausgesucht und zerstört hat, als wären wir wegen unserer Herkunft nicht wert, zu leben. Er hat seine Brüder wieder zusammengesucht, um sie zu beschützen. Und er wollte etwas tun. Gegen die Maschine, gegen Lucis. Ich hab… ich hab verstanden, dass er es nicht leicht hatte. Warum er sauer war. Aber an der Stelle hat er mich verloren. Weil er das ganze Land verantwortlich gemacht hat. Weil er wollte, dass ich mit ihm in den Krieg ziehe, gegen meine eigenen Leute. Weil er nicht zugehört hat… weil er nicht hören wollte, dass es auch gute Menschen gibt. Er… hat viel gelitten, und er hat ein gutes Herz, aber er merkt nicht, dass er zu weit geht.“ „Also hat er dich angegriffen und mit Gewalt einkassiert?“, fragt Gladio. Seine Hand drückt meine Schulter so fest, dass es weh tut. Ich nicke. „Ja, hat er. Und versteh mich nicht falsch, er war gut zu mir. Hat sich gekümmert, mich liebevoll seinen kleinen Bruder genannt und sich wirklich bemüht. Aber ich wollte diese Rüstungen nicht tragen… und ich wollte keine Hilfe annehmen von jemandem, dem ich nicht helfen will. Nemo war ein Feind von Lucis… er wollte, dass ich mit ihm kämpfe. Ich wollte lieber sterben als das.“ Noct drückt mich fester an sich. Seine Nähe tut gut. „Irgendwann war es so schlimm, dass er mich nicht mehr mitnehmen konnte, also hat er mich in diesem Keller abgelegt, wo die Maschine nicht so stark hin gestrahlt hat. Hat mir ein Radio dagelassen, weil ich gesagt habe, dass ich nicht allein sein will. Er war schon ein netter Kerl, wisst ihr? Er war nur einfach zu wütend um zu erkennen, wer sein eigentlicher Feind ist.“ Ich war fast vier Monate in diesem Luftschiff. Kann mich nicht beschweren über die Behandlung dort… alle waren nett zu mir. Aber sie haben auch gehofft, dass ich ihnen mit meiner Kraft und Kampferfahrung zur Seite stehen würde, einer von wenigen Klonen, die zu kämpfen gelernt haben. Ein anständiger Scharfschütze, der auch aus großer Ferne zielen kann. Und das konnte ich ihnen nicht geben. Nicht gegen Lucis… nicht gegen meine Freunde. „Was macht dieser Nemo wohl jetzt, da die Maschine besiegt ist?“, überlegt Ignis, „Droht von ihm noch Gefahr?“ Ich zucke die Schultern. Nach allem, was ich weiß, wollte Nemo ganz Lucis in Grund und Boden stampfen. Die Kampfrüstungen und den Panzer der Nautilus soweit verbessern, dass er gut geschützt bis ins Zentrum Insomnias eindringen und dort alles niederreißen kann. Den Schmerz, den er erleiden musste, wieder zurückgeben… mir graut bei dem Gedanken, dass er Nyx oder Crowe hätte erwischen können. „Weiß nicht. Es war vor allem die Maschine, die ihn so aufgeregt hat. Wenn er bis jetzt noch nicht angegriffen hat, hat er sich vielleicht beruhigt.“ „Meinst du, diese neuen MI haben mit ihm zu tun?“ Ich schüttle entschieden den Kopf. „Die Roboter? Nein, auf keinen Fall. Du hast gesehen, was die mit uns gemacht haben, das hätte Nemo nie zugelassen! Er weiß, dass wir… er weiß, was wir sind. Er ist fehlgeleitet, ja, aber er behandelt uns alle wie seine kleinen Brüder. Nie… so.“ Die Erinnerungen an den Bunker kommen wieder hoch und mir wird kalt. Noct drückt mich fest an sich, ich vergrabe mein Gesicht in seiner Schulter. Langsam lässt das Zittern wieder nach. Ich weiß, dass dieses klamme Gefühl bleiben wird. Dieser Schatten… wie die Narben an meinen Hand und Fußgelenken. Das ist für immer. Aber meine Freunde sind bei mir, und mit ihnen… solange ich sie habe, folgt noch auf jede Nacht irgendwann ein neuer Tag. Allein der Gedanke an sie hat mich bis nach Hause gebracht, vom anderen Ende der Welt aus. Das zu wissen tut gut. „Also haben wir mindestens zwei Feinde da draußen“, schlussfolgert Ignis, „Denjenigen, der diese neuen MI baut und kontrolliert, und diesen Kapitän Nemo.“ „Vergiss die Sicher nicht“, fügt Gladio hinzu, „Der Wall hält sie ab, aber er zehrt an Noct’s Kräften. Und dann ist da noch Rashin… den können wir, denke ich, auch mitzählen.“ „Das ist wenigstens nur ein politischer Feind.“ „Trotzdem… sicher, dass wir dich allein lassen können, Noct? Sollen wir nicht doch lieber bleiben?“ „Nein, ihr geht alle drei brav euren Urlaub genießen.“ Nocts Worte sind bestimmt, seine Stimme kräftig, die Haltung so aufrecht, wie es ihm mit mir im Arm möglich ist. „Ich bin ja nicht allein, die Zitadelle ist gut besetzt, und Moncia und Dustin sind ja jetzt auch noch nicht SO furchtbar alt. Zwei Wochen komme ich locker klar, und falls doch was ist, hab ich euch auf den Schnellwahltasten. Lasst also einfach die Handys an, wenn ihr euch Sorgen macht, ja? Ich melde mich. Und wenn‘s nur zum Kings Knight zocken ist.“ „Stimmt ja, seit dem dritten Teil kann man sich ja auch auf große Distanz verbinden.“ Gladio seufzt tief, ergibt sich aber in sein Schicksal. Er wäre so oder so die Zeit ausgefallen… vielleicht fällt es ihm gerade deswegen so schwer zuzulassen, dass Noct mich und Ignis auch wegschickt. Aber er kommt klar, das hat Noct gesagt, also wird er es auch so meinen. Ich jedenfalls freue mich auf Hammerhead. Ein bisschen Zeit mit Cidney verbringen. Gibt noch ein paar Fleckchen in der Werkstatt, die wir noch nicht zweckentfremdet haben. Und viel zu reden. Ich hoffe wirklich, das Kind ist nicht meines… klar, die Alimente könnte ich mir schon leisten, am Geld liegt‘s nicht. Aber der Gedanke, Vater zu sein… das geht einfach nicht. Nicht ich. Nicht mit seiner DNS. Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin oder wer mich ins Bett gebracht hat, aber ich wache gut eingepackt in meinem eigenen Bett auf. So viel Fürsorge habe ich als Kind nur ein paar Jahre lang genießen können… bis das Geld knapp wurde und meine Mutter auch arbeiten gegangen ist. Dann war wieder Geld da, aber meine Eltern habe ich kaum noch gesehen. Nicht mal an meinem letzten Tag hier in der Stadt, als ich ihnen voller Stolz die neue Uniform zeigen wollte, war jemand zu Hause. Ob sie wohl gekommen wären um sich zu verabschieden, wenn sie gewusst hätten, was passiert? Dass es die letzte Chance war, einander zu sehen? Den Angriff der Niffen hat keiner von beiden überlebt. Ich hätte mich gerne noch vernünftig verabschiedet, ihnen gesagt, dass sie stolz auf mich sein können, dass was aus mir geworden ist. Seufzend befreie ich mich aus der warmen Decke. Nur noch den Koffer packen, Noct und den anderen auf Wiedersehen sagen und dann ab nach Hammerhead. Zu Cidney. Ich freu mich drauf. Auch auf Takka und die anderen im Ort, die staubige Luft, die vielen Autos, der Geruch der Werkstatt… wären die Umstände nicht so übel gewesen hätte es mir sicher gefallen, eine Weile dort zu wohnen. Vielleicht auch in einer richtigen Wohnung im eigentlichen Ort statt im Wohnwagen an der Tanke. Und ohne die Kopfschmerzen. Zwei Wochen… ich werde Noct fleißig schreiben in der Zeit und zurückkommen, sobald mir etwas komisch vorkommt. Ansonsten bin ich tatsächlich sicher, dass er auch gut ohne mich klar kommt. Es ist leichter, mal eine Weile weg von ihm zu sein, jetzt, da ich weiß, dass er wirklich nur eine Autofahrt entfernt ist. Drei Stunden im normalen Tempo, aber in der Not… Cidney hat mein Auto nach Hammerhead schleppen lassen und etwas aufgemotzt, bevor sie es nach Insomnia weitergeschickt hat. In der Not kann die Karre fliegen. Ich muss nur aufpassen, dass ich die Landung nicht verpatze. Hin bleibe ich aber sicherheitshalber auf der Straße und fahre langsam. Und vorsichtig, Augen auf der Straße, und was Ignis mir vor dem Losfahren noch alles eingeschärft hat. Links und Rechts schauen? Allein im Auto kann ich mich ganz gut konzentrieren, da habe ich nichts, was mich vom Verkehr ablenkt, außer meinen eigenen Gedanken. Irgendwer hupt hinter mir und ich muss mich zusammenreißen, um nicht scharf zu bremsen. Wie schnell darf man hier fahren? Doch fünfzig? Die hab ich drauf, also hetz nicht so. Immer diese Choleriker auf der Straße. Der Verkehr hier in Insomnia wird auch jeden Tag schlimmer. Vermutlich wegen der Baustellen – die Wohnviertel im Norden und Westen sind fast komplett dicht, und wegen der U-Bahn wird überall der Boden aufgerissen. Viele Straßen sind immer noch zerstört, der Rest teilweise gesperrt. Wo noch Autos fahren, Verzeihung, stehen können hängen riesige Plakate. Nächste Woche finden Wahlen statt, ganz klassisch mit Papier und Urne diesmal, für einen Bürgermeister und einen offiziellen Wahlminister. Als Ergebnis muss ich mir im Ampelstau jetzt Rashins hässliche Fresse anschauen, wie sie drei Meter hoch neben der Straße hängt. Ich verkneife es mir, meinen Mittelfinger in die Richtung zu heben, weil der eigentliche Rashin es eh nicht sehen würde. Außerdem hat Ignis mich mehrfach ermahnt, beide Hände am Lenker zu lassen. Der Choleriker hinter mir hupt schon wieder. Ein kurzer Blick zurück nach vorne bestätigt mir, dass die Ampel grün, der tiefergelegte Zweisitzer vor mir aber noch nicht losgefahren ist. Ein weiteres Hupen, und diesmal sehe ich, dass die Karre wirklich nicht läuft. Ich ziehe die Handbremse an, steige aus und gebe Starthilfe. Läuft, ich schaffe es sogar noch, selbst über die Kreuzung zu kommen, bevor die Ampel wieder rot wird. Der hinter mir hat weniger Glück, fährt aber trotzdem. Im Gegensatz zu mir weiß er wohl nicht, dass an der Stelle öfter geblitzt wird. Man merkt, dass man die Stadtgrenze passiert hat, wenn der Verkehr plötzlich wieder flüssig wird und einem niemand mehr an der hinteren Stoßstange klebt. Als ich damals im Regalia aus der Stadt gefahren bin, hat man auch deutlich den Unterschied in der Straßenbeschaffenheit gespürt, aber heute fährt man auch im Stadtzentrum streckenweise auf Kies und Schlaglöchern. Nun, nicht mehr lange – sobald die U-Bahn einigermaßen fixiert ist werden die Straßen renoviert. Jetzt, wo Noct wieder da ist, geht es schnell mit dem Wiederaufbau. Sollen die Leute gegen die Monarchie wettern, so viel sie wollen, Noct weiß, wie man sich um ein Land kümmert. Ihm ist die Verantwortung dafür schon in die Wiege gelegt worden, im Gegensatz zu den demokratischen Politikern, denen ich teilweise nicht mal die Verantwortung für eine Schildkröte übertragen möchte. Auf der Hauptstraße habe ich endlich meine Ruhe, sowohl vom Verkehr, der hier raus deutlich flüssiger ist, als auch vor den Wahlplakaten mit ihren Köpfen und Parolen. Näher an Hammerhead kommen sie wieder, mit anderen Gesichtern und denselben Sprüchen – für Heimat und Ehre, gegen die Alleinherrschaft des Königs! Ja ne ist klar. Hauptsache mal gegen den Typen, der eure Wahlversprechen einlöst. Als ob Noct unbedingt regieren wollte… der hätte es gerne jemand anderem überlassen, wenn jemand Kompetentes da gewesen wäre. So wie Ravus in Tenebrae… hübsch lächeln und winken, aber die Politik macht der gewählte Kanzler. So hätte es hier auch laufen können, aber wir hatten ohne Noct ja keinen fähigen Regenten. Dabei haben wir es echt versucht mit der Partei der Königstreuen. Ignis hat sich so viel Mühe gegeben, und Monica war auch richtig gut. Nur die Wähler wollten nicht… vielleicht hätten wir auch mehr Energie in den Wahlkampf stecken sollen statt in die Umsetzung unserer Ziele? Mehr reden, weniger tun? Ist es das, worum es bei der Demokratie geht, einen Stillstand zu erwirken, in dem sich die Parteien gegeneinander blockieren, damit niemand Zeit hat, Blödsinn anzustellen? Wenn die Taktik wenigstens neue Kriege vermeiden würde wäre das ja gut, aber so ist es dann ja auch nicht gelaufen. Ich ziehe auf den Parkplatz vor der Werkstatt, deren Rolltor nun wieder offen steht. Hier ist ordentlich was los, anscheinend ist Cidney dabei, nachzuholen, was in ihrer Abwesenheit liegen geblieben ist. Nicht weniger als zehn Autos stehen in und um die Werkstatt, manche mit offensichtlichen, manche mit diskreteren Schäden. Cidney selbst steckt wie so oft mit dem ganzen Oberkörper unter einer dampfenden Motorhaube. Sie ist natürlich auch schon lang keine zwanzig mehr, aber der Anblick ist immer noch bezaubernd. „Na, viel zu tun?“, frage ich locker. „Prompto! Was machst du denn hier?“ Cidney strahlt direkt, als sie unter der Motorhaube hochkommt, und umarmt mich stürmisch. Dass sie immer noch ihren Schraubenschlüssel in der Hand hat und voll mit Motoröl ist, stört dabei keinen von uns. „Hab ein wenig Urlaub bekommen und dachte, ich kann die nächsten zwei Wochen vielleicht hier zubringen, wenn es dich nicht stört. Vielleicht kann ich dir ja wieder etwas zur Hand gehen?“ Mein Blick schweift über die vielen halb schrottreifen Autos in der Werkstatt, ein paar Hände mehr könnten hier sicher nicht schaden. „Oh du kennst mich, ich komme gut klar“, meint Cidney gespielt abweisend, „aber wenn du dich unbedingt nützlich machen willst, fällt mir sicher etwas ein.“ Sie zwinkert, ich grinse. Cidney fällt immer etwas ein, wenn sie die Chance wittert, einen Mann herumzuscheuchen. Und meistens ist es die Mühe wert – mein Auto kann nicht umsonst fliegen. Und wenn‘s mal um fremde Autos geht komme ich erst recht auf meine Kosten. „Na dann. Ich helf wie immer gern.“ Allein der Geruch ihrer Haare mit dem des Motoröls… ich könnte sie ewig so halten, wenn ich nicht loslassen müsste, damit wir uns um die halbtoten Autos kümmern können. „Aber sag, dass du mich so in aller Öffentlichkeit umarmst… hast du nicht einen Ruf zu verlieren?“ Cidney winkt nur ab und kriecht wieder in den Motorraum des Pickups. „Ach was, dich nimmt doch keiner als Konkurrenz wahr.“ Autsch, das tat weh. „Außer Paul vielleicht, aber den hab ich eh abgeschossen.“ „Kommt der nicht in Frage für…“ „Das Baby? Eigentlich schon, deswegen hätte ich ihn ja gerne ohne Schutzausrüstung zum Mond geschickt. Du glaubst ja nicht, wie der sich aufgeführt hat… wenn’s von ihm ist, hab ich ein echtes Problem.“ Cidney sieht ernsthaft besorgt aus, so habe ich sie noch nie gesehen. Mir wird klar, dass sie hier ohne Cid ganz allein ist; ganz allein mit diesem Kind klar kommen und nebenher die Werkstatt schmeißen müsste. Nur sie und die durchreisenden Männer, die zwar gerne ihr, aber sicher keinem Baby helfen wollen. „Die anderen beiden haben jetzt auch nicht so super reagiert, aber die sind wenigstens bereit, Alimente zu zahlen. Ich will echt ehrlich sein, wenn das Baby erst mal kommt, kann ich hier ne Weile dicht machen, und dann wird’s eng mit dem Geld. Mitarbeiter kann ich mir so schon nicht einstellen… und ich merk ja jetzt schon wie’s läuft, wenn man mal ein, zwei Monate krank ist. Jede Menge Backlog durch die treuen Kunden, aber der Rest fällt aus. Dauert ne Weile, bis ich hier wieder so frei bin, dass ich neue Kunden annehmen kann, und mit jedem, der an der geschlossenen Werkstatt vorbei fährt, verliere ich einen zukünftigen Kunden an die Konkurrenz.“ „Ist nicht einfach, selbstständig zu sein, was?“ Ich stemme einen Kleinwagen auf die Hebebühne. Ein Insomnisches Model, also eigentlich ein gutes Auto, wenn man mal von der eingedellten Front absieht. Zu spät in die Kurve gelenkt? Sieht jedenfalls aus, als müsste man da was ausbeulen. „Bei dem gehört ne neue Vorderachse rein“, informiert mich Cidney, „Der Motor ist noch gut, für die Karosserie hab ich auch Ersatzteile. Nur wegen der Lichter musst du schauen, da wollen jetzt alle diese neuen Spezialstrahler gegen Siecher.“ „Kann ich verstehen“, versichere ich Cidney, „Aber unter dem Wall sind wir sicher.“ „Zumindest, solange wir ihn haben, ja. Hier reden alle davon, dass der König uns doch nur wieder im Stich lassen wird, wenn es eng wird. Scheiß Propaganda, natürlich, aber irgendwo stimmt’s. Noctis hat auch nur begrenzt Kraft und er wird im Ernstfall auch nur schützen, was er eben kann, und wir fallen eben schnell mal raus.“ „Der Wall hatte hunderte von Jahren in der Größe Bestand“, erwidere ich, „Wenn keine Armee an die Tür klopft wird es Noct nicht schwer fallen, ihn über ganz Lucis zu halten. Und die anderen Reiche sind friedlich.“ „Bis auf diese Magitech, die überall auftauchen. Und die stören sich nicht an dem Wall.“ Ich blicke von der zerstörten Achse auf. Cidney sieht mir an der Motorhaube vorbei direkt in die Augen und ich muss mich abwenden. „Wenn sie hier agieren können, sind es wohl wirklich nur Roboter, keine echten Magitech“, überlege ich, „Und wenn sie schon innerhalb des Walls sind… wurde denn jemand hier angegriffen?“ „Wir sehen sie nur rumschleichen“, gibt Cidney zu, „In die Stadt kommen sie nicht. Aber die Leute, die hier durchkommen, erzählen von Angriffen, einige Autos haben Einschusslöcher oder Dellen, die ich von solchen Attacken kenne. Ich glaube jedenfalls, dass hier Magitech unterwegs sind.“ „Ich weiß, dass es welche gibt, ich hab gegen sie gekämpft.“ Und verloren. Zu meiner Verteidigung: Die waren eindeutig in der Überzahl. Sehr eindeutig. „Und wir haben darüber geredet, also, die Jungs und ich. Wenn ihr hier Gleven braucht, die Wache stehen, kann ich welche organisieren.“ „Ne, Takka und ich kommen schon klar. Die trauen sich hier nicht hin. Nach dem, was ich so höre, wären Straßenpatrouillen sinnvoller. Da sind auch zwei, die hier mit einem Wohnwagen durchkommen, so ein grimmiger Typ mit seiner kleinen Schwester. Blutjung, aber haben ordentlich was drauf.“ „Callus und Nora etwa? Ja, die wissen, was sie tun.“ „Kann sein. Die meisten Leute fühlen sich sicherer, wenn sie den Wohnwagen sehen. Das Wappen des Königshauses hat schon noch einen gewissen Effekt auf die Leute, es ist nur, dass sich alle wünschen, es würde mehr getan werden. Und das Vertrauen fehlt… wir haben alle Angst, wieder ‚draußen‘ gelassen zu werden.“ „Immerhin habt ihr hier draußen Strom.“ „Stimmt ja, Insomnia ist komplett dunkel bei Nacht. Wie ist denn das passiert?“ Ich zucke die Schultern. „Keine Ahnung, irgendein Ausfall im Kraftwerk. Gehört alles diesem Rashin, schätze, dem ist der Wahlkampf im Moment wichtiger als Troubbleshooting. Lieber erst mal den König vom Thron stoßen, bevor man sich über die Stromversorgung der Stadt Gedanken macht.“ „Ist ja im Moment nicht sein Problem, was? Manche Männer sind echte Arschlöcher.“ „Na, der eine auf jeden Fall, und dieser Paul definitiv auch. Soweit ich weiß, bekommt die Stadt aber zum Teil schonwieder Strom aus Lestallum, der nur angeschlossen werden musste. Erst mal nur für wichtige Einrichtungen wie Krankenhäuser und die Baustellen, aber der Rest rückt nach, wenn Rashin bis dahin immer noch nicht liefern kann.“ „Noctis bewegt wenigstens was, hm? Der hätte hier ruhig auch mal hallo sagen können.“ „Hat er noch vor, Noct ist nur bis jetzt nicht wirklich aus dem Palast gekommen. Zu viel zu tun mit dem ganzen Mist, der da liegen geblieben ist.“ Ich bin fertig damit, das Auto auseinanderzunehmen, jetzt muss ich es nur mit den neuen Teilen wieder zusammenbauen. Die Farben der Ersatzteile passen nicht wirklich zusammen, aber das macht nichts, weil Cidney später eh den ganzen Wagen neu lackiert. Tut gut, wieder einfach schrauben zu können… in offenen Motorräumen herumzukriechen liegt mir definitiv eher, als stocksteif neben einem Stuhl zu stehen, bis alle Wirbel knacken. „Morgen ist hier Wahl…“, seufzt Cidney und knallt die Motorhaube zu, „Und ich hab keine Ahnung was ich wählen soll.“ „Was steht denn zur Auswahl?“ „Insgesamt fünf Parteien. Immerhin waren die diesmal so freundlich, ihren Bürgermeisterkandidat mit aufs Plakat zu schreiben. Bisher hab ich immer die Königstreuen gewählt, aber die treten diesmal nicht an…“ „Ja, weil wir den König eh beraten. Noct will lieber jemanden, der auch wirklich aus dem Volk kommt, statt aus dem Adel, meint, das käme besser an gegen Rashins Propaganda.“ Ich schiele nochmal über die Wahlplakate, die überall an der Tankstelle hängen, wo sie die Autofahrer stören. „‘Heimat und Ehre‘ fällt flach, so viel ist eh klar. ‚Die der Götter‘ sind auch bis zum Rand voll mit Propaganda. ‚Die Krieger des Lichts‘ waren glaub ich nicht ganz schlecht, die setzen sich zumindest für die Leute ein. ‚Drachenherz‘ ebenso, die haben fleißig gegen die Maschine protestiert, auch wenn sie ziemlich extrem vorgegangen sind.“ So extrem, dass es viele Wähler wieder abgeschreckt hat. Aber die Idee war nicht verkehrt… der Maschine sind zu viele Leute zum Opfer gefallen. „Bleibt noch ‚Naturgewalt‘, die würden am liebsten alle Technik aufhalten und überall Blumen pflanzen. Die würd ich nicht wählen, die verbieten uns am Ende noch, mit dem Auto zu fahren.“ „Dann wäre ich meinen Job los.“ „Jap, und nicht nur du.“ Wenn Noct nicht zurückgekommen wäre würde ich ja auch in der Autoindustrie arbeiten, und da hatte ich viele Kollegen. In Forschung und Entwicklung ebenso wie beim Bau… Die Autoindustrie in Insomnia boomt, und wir sind durchaus daran interessiert, saubere Motoren zu bauen. Solche, die mit wenig Sprit weit kommen und dabei möglichst nicht aus dem Auspuff stinken wie manches niflheimer Fabrikat. „Aber alle Parteien sind gegen den König, oder?“ „Nicht unbedingt so direkt wie ‚Heimat und Ehre‘, aber ja, die würden natürlich alle gerne selber regieren, weil sie meinen, sie könnten es besser. Selbst ‚Die der Götter‘, die ja eigentlich damit klarkommen müssten, wen die Götter da eingesetzt haben… aber hey, man kann ja immer noch behaupten, Noct gäbe sich nicht genug Mühe.“ Cidney seufzt tief. Das Auto, das sie repariert hat, läuft wieder einwandfrei, und sie fährt es auf den Parkplatz, wo der Besitzer es abholen kann. Bis sie das nächste Auto in Position gebracht hat, habe ich den Kleinwagen schon wieder zusammengesetzt und heruntergelassen. Der Versicherung zu Liebe ist Cidney diejenige, die ihn abschließend prüft und in den Lackierraum fährt. „Immerhin wählen wir diesmal nur einen Bürgermeister“, meint sie, als sie zurückkommt, „Der tut dann hoffentlich wirklich nichts, als dem König zu sagen, was wir hier an Anliegen haben. Bleibt natürlich zu hoffen, dass er unterwegs nicht die Worte verdreht.“ „Im Zweifelsfall hast du meine Handynummer für den kurzen Dienstweg“, erinnere ich zwinkernd. „Stimmt auch wieder. Jetzt hast du ja wieder eines, das funktioniert… Tut mir echt Leid, dass ich dir unterstellt habe, du hättest mich blockiert.“ „Ach was, da bin ich doch fast froh drüber… ich hätte mir nie verziehen, wenn ich dich da mit reingezogen hätte.“ „Ich kann kämpfen, das weißt du.“ „Kann ich auch, und trotzdem hab ich verloren. Ich hätte dich nicht verjagt, wenn ich die Gegner für einfach gehalten hätte. Was ich an dem Abend zu dir gesagt habe…“ „War nur Mittel zum Zweck, das ist mir klar. Du wolltest mich da weg haben, damit ‚die‘ nur dich kriegen. Es ist spät und wir haben schon einiges geschafft heute, wollen wir kurz was trinken? Ich hab kühles Bier drinnen…“ „Immer gerne. Also… alles vergeben und vergessen?“ „Alles außer das Baby. Danke, dass du dem Test zugestimmt hast.“ „Gerne doch.“ Auch wenn ich echt immer noch hoffe, dass es nicht meines ist. „Und… wenn du Hilfe brauchst, lass es mich wissen, ja? Ich kann jederzeit hier aushelfen, wenn Noct mich nicht braucht.“ „Lieb von dir, Prompto. Ich sag‘s nur ungern aber ich komme sicher darauf zurück.“ Cidney klopft mir liebevoll auf die Schulter und schiebt mich in den hinteren Bereich der Werkstatt, wo eine Tür in die Wohnung führt. Zu kühlem Bier und was der Abend noch bereithält. Ich freu mich, wieder hier zu sein. Soll Gladio doch lästern, weil Cidney mich nie heiraten wird… ich brauche nicht mehr, als ich jetzt habe. Mit ihr zusammen in der Werkstatt zu arbeiten und danach gemütlich zusammensitzen, vielleicht zusammen baden… Damit kann ich gern bis an mein Lebensende glücklich sein. Kapitel 18: Zauberkraft (Ignis Scientia) ---------------------------------------- Irgendwie befremdlich, so ganz normal zu Hause zu sein. Ich war bisher als Kriegsinvalide mehr oder weniger pensioniert, und nach der Hochzeit mit Clara hat sich meine Rolle schnell zu der eines Vollzeitvaters gewandelt. Selbst, wenn Nyx in der Schule war gab es immer genug zu tun: Aufräumen, sauber machen, Dinge vorbereiten… jetzt, wo ich wieder sehen kann, erledige ich all das in der Hälfte der Zeit. Ich hatte gar nicht mehr bemerkt, wie sehr mich mein fehlendes Sehvermögen eigentlich einschränkt, aber jetzt, im direkten Vergleich… man arbeitet doch effektiver mit offenen Augen. Und so steht man plötzlich da und weiß nicht mehr, wohin mit der Zeit. Dafür fallen mir tausend Dinge ein, die ich in der Zitadelle noch zu tun hätte. Dinge, die, da bin ich sicher, auch andere Menschen erledigen können. Noct hat Recht, ich brauche diesen Urlaub. Ein wenig Zeit, die ich einfach mal für mich habe, um mich wieder daran zu gewöhnen, dass ich nicht den ganzen Tag rotieren muss. Einfach mal Zeit, die eigenen Gedanken zuzulassen. Seufzend setze ich mich auf das Sofa. Ich bin… weggerannt, zehn Jahre lang. Habe mich in Aktivität geflüchtet, um nicht zurücksehen zu müssen. Habe nachts mit Albträumen gerungen, in denen ich gegen Ardyn gekämpft habe, wieder und wieder, bin jede Nacht gestorben bei dem vergeblichen Versuch, das Schicksal zu ändern, das doch unausweichlich war. Bis zu jeder Nacht… als ich den Kampf plötzlich für mich entschieden habe. Habe ich nach dem Aufwachen wirklich erst bis ins Bad laufen müssen um zu merken, dass ich tatsächlich sehen kann? In meinem Traum habe ich alles geopfert, um Noct zu retten, aber er hat das Opfer abgelehnt. Ich bin nicht erblindet… und er ist nicht gestorben. Und dann wache ich auf und kann sehen. Und Noct lebt… er ist tatsächlich zurück. Ein Wunder. Im Fernsehen läuft die Millionste Diskussion über sein letztes Interview. Der Strom, der Wall, die Hochzeit mit Lunafreya… und der neue König. Ja, es gibt einen neuen König, Nocts Rückkehr war von den Göttern nicht geplant. Trotzdem ist er es, der den Thron bestiegen hat, in Vertretung, bis der neue König bereit ist. Die Diskussion im Fernsehen dreht sich im Kreis, immer dieselben Fragen, immer dieselben Meinungen. Ich schalte ab und lehne mich zurück. Noct wird weiter schweigen. Er weiß mehr als er zugibt, und er wird erst reden, wenn er es für nötig hält. Bis dahin hat es wenig Sinn, auf Antworten zu drängen, die er nicht geben will. „Ich bin wieder zuhause!“ „Willkommen daheim, Nyx!“ Junge, ist es wirklich schon so spät? Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich mich auf den akustischen Alarm meines Handys verlassen hatte, um die Zeit zu wissen. Regelmäßig auf die Uhr zu sehen ist wohl auch etwas, was ich mir langsam wieder angewöhnen sollte. Vielleicht ist es aber auch nur, dass ich tatsächlich die Zeit habe, untätig herumzusitzen, was meine innere Uhr durcheinanderbringt. „Mama ist noch nicht da, oder? Wir haben keine Hausaufgaben auf heute, darf ich vor dem Abendessen noch etwas alleine spielen?“ „Natürlich, wenn du möchtest.“ Ein wenig enttäuscht bin ich schon, dass mein Junge mich hier einfach sitzen lässt. Acht ist noch ein wenig jung für dieses Bedürfnis an Privatsphäre… aber er hat ein Recht darauf. „Gibt es denn etwas, was dich beschäftigt?“, frage ich dennoch, um mein Gewissen zu beruhigen. „Sind die anderen Kinder inzwischen netter zu dir?“ Nyx seufzt tief, wirft seine Schultasche in die Ecke und setzt sich zu mir. „Nicht wirklich“, gibt er zu, „Also, nicht, dass sie vorher nicht nett waren, aber es ist eher so… aufgesetzt, weißt du? Vorher war es, weil du ein Held bist, jetzt, weil ich den König kenne. Alle wollen meine Freunde sein, aber eben nur, weil ihre Eltern sagen, dass ihnen das was bringt. Wie Gerald und die Mädchen…“ Ich lege schützend den Arm um mein Kind und streiche ihm die Haare aus dem Gesicht. „Echte Freunde zu finden ist nicht leicht“, gebe ich zu, „Vor allem, wenn man so viel nachdenkt wie du oder ich. Aber es geht… und du wirst wissen, wenn du sie gefunden hast.“ „Woran denn?“ Ich lache leise. „An nichts Bestimmtem, leider. Nur daran, dass sie dich lieben und für dich da sind, wenn du sie brauchst, so wie Onkel Prompto für mich da war, als du noch ganz klein warst. Wir haben uns dauernd gestritten, weil es uns beiden nicht gut ging, trotzdem ist er fast jeden Tag gekommen und hat mir die Bücher vorgelesen, die ich nicht in Blindenschrift finden konnte. Hat mir beim Putzen geholfen, Sachen aufgehoben, über die ich sonst gestolpert wäre, und generell alles getan, dass ich mich schnell in der neuen Situation zurechtfinde. Und das ohne irgendwas zu verlangen.“ „Du hast ihm Essen gemacht“, wendet Nyx ein, „Jeden Tag. Und seine Wäsche hast du auch oft mit gewaschen, damit er das nicht selbst machen muss.“ „Das stimmt. Ich hätte ihn gleich hier wohnen lassen können. Wenn ich gewusst hätte, dass er zu Hause in einem Zeltlager schlafen muss… aber das hat er mir verschwiegen. Weil er wusste, dass ich den Abstand brauche, wenn er nachts geht. Wie gesagt, es war schwer, miteinander klar zu kommen.“ Nyx blickt nachdenklich drein. „Aber wenn es euch so schwer gefallen ist, zusammen zu sein, warum wart ihr dann Freunde?“ „Weil es vorher auch mal einfacher war. Und das ist es jetzt wieder. Man hört nicht auf, befreundet zu sein, nur weil es zwischendrin mal schwierig ist. Oder nicht mehr vorteilhaft. Echte Freunde halten einander auch fest, wenn es mal wehtut.“ „Als ich in der Zitadelle war… da hat Gerald mich gezwungen, den Ring anzuziehen. Ich dachte, ich sterbe vielleicht… aber ihm war das egal. Er weiß nicht richtig, was es bedeutet, zu sterben. Wie sehr die Leute um einen weinen, und dass man dann für immer weg ist. Er dachte, das ist einfach ein Spaß, wie in den Morbol-Cartoons. Aber das ist nicht wahr. Jetzt lacht er darüber, wie viel Angst ich hatte, aber dass er sich selbst eingenässt hat gibt er nicht zu.“ „Er ist ja höchst mutig weggelaufen, als er den König gesehen hat, nicht wahr? Er und die Mädchen kamen mir am Eingang schreiend entgegen und riefen etwas von einem Dämon aus Feuer. Einen Moment lang dachte ich fast, ich müsste mit Ifrit rechnen.“ „Ich hab kein Feuer gesehen“, überlegt Nyx, „Kein echtes, jedenfalls. Nur die Asche, die überall war. Als ich den Ring anhatte, war es dunkel, und die Geister haben geredet. Miteinander hauptsächlich, nur Noctis hat mich direkt angesprochen. Er war nett… hat gesagt, dass er mich beschützen will. Er hat mich ein bisschen an dich erinnert, weißt du? Die Art, wie er redet und wie ruhig er ist, meine ich.“ „Wir haben als Kinder viel Zeit miteinander verbracht, das wird einen gewissen Effekt gehabt haben.“ „Wart ihr damals denn schon Freunde?“ „Das war etwas komplizierter“, muss ich lachend zugeben, „Aber wir haben uns von Anfang an gut verstanden.“ „Du verstehst dich mit allen gut. Auch wenn sie dich nur ausnutzen oder gemein zu dir sind.“ „Das täuscht, Nyx. Da steckt viel Politik dahinter… oder eben auch einfach Dinge, die vorher schon passiert sind und alles ein wenig anders machen, als es in der Gegenwart aussieht.“ Wie meine vielen Gefechte mit Gladio. Was wir uns im Streit alles an den Kopf geworfen haben… für einen Außenstehenden muss sich das angehört haben, als würden wir einander den Tod wünschen, aber tatsächlich war es so, dass jeder von uns sich nur selbst vorgeworfen hat, am Leben zu sein, obwohl Noct es nicht war. Als hätten wir ihn retten können. Und beide haben wir gegen Prompto gewettert, der Nocts Tod als einziger akzeptieren konnte. Dass er ihn vielleicht noch schmerzlicher vermisst hat als wir… das hätten wir sehen müssen. Das habe ich gesehen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich dem so zu stellen, wie er. Nyx hat die Knie an die Brust gezogen. Eigentlich sollte ich ihn für den Mangel an Haltung rügen, die Füße gehören nicht mit auf die Couch, setz dich gerade hin, was Clara sonst noch so wichtig ist. Aber wir sind hier zu Hause, und ich kann spüren, dass es meinem Jungen nicht gut geht. Da ist noch etwas, was er sich nicht zu sagen traut. Letztendlich hebt er schweigend die Hand und beschwört eine kleine Flamme herauf, die zwischen seinen Fingern tanzt. „Ich kann sowas seit ich mit Crowe den Kristall gefunden habe“, gesteht er, „Ist das normal?“ Mir bleibt erst mal einen Moment der Atem weg. Vorsichtig lege ich meine Hand auf die meines Sohnes, lasse die Flamme erlöschen. „Erzähl mir, was damals genau passiert ist.“ „Wir haben in der Zitadelle gespielt, ganz normal“, fängt Nyx an, „Das war glaube ich letztes Jahr oder so, als Crowe zum letzten Mal zu Besuch war, bevor in Galahd die Schule für sie angefangen hat. Wir sind runter in den Keller geschlichen, wo ganz viele Steine lagen. Crowe wollte welche finden, die schön glitzern, wir haben Schatzsucher gespielt. Und dann haben wir zusammen den Kristall entdeckt. Weiß nicht mehr, wer von uns ihn zuerst gesehen hat, aber ich wusste sofort, was es war. Jedenfalls hat der Kristall plötzlich zu leuchten angefangen und die ganze Zitadelle hat gebebt… und dann war da diese Stimme, wie ein knurrender Drache.“ Nyx zittert bei der Erinnerung und lehnt sich an mich. Er fühlt sich kalt an. „Crowe ist abgehauen. Ich halte ihr das nicht vor, sie war erst fünf, sie ist immer noch ein Kind. Nur wenn sie angibt, zieh ich sie damit auf.“ „Verständlich“, gestehe ich ein, „So würde ich es auch machen. Aber du bist nicht mit Crowe weggelaufen? Hattest du denn keine Angst?“ „Doch“, gibt Nyx zu, „sehr sogar. Aber ich konnte nicht wegrennen. Ich musste hingehen, weißt du? Der Drache hat gesagt, ich soll kommen. Ich hab meine Hand auf den Kristall gelegt… und dann war plötzlich alles wieder normal. Also bin ich Crowe suchen gegangen und wir sind zusammen nach Hause gelaufen. Ich… weiß nicht, wann ich das erste Mal die leuchtenden Stellen gesehen habe. Die waren einfach da, überall.“ „Leuchtende Stellen?“ „Ja, in den Wänden und zwischen Felsen, meistens da, wo es viel Natur gibt. Wenn ich meine Hand darüber halte kann ich Energie sammeln, mit der ich dann zaubern kann. Feuer, Eis und Blitze.“ Wieder hebt er die Hand, diesmal, um einen kleinen Blitz durch seine Finger zucken zu lassen. „Kannst du das auch?“ Nein. Nein kann ich nicht. Diese ‚leuchtenden Stellen‘ sieht nur einer… um Nyx nicht zu beunruhigen hebe ich meine eigene Hand und aktiviere einen einfachen Eiszauber darin. „Meinst du so?“ Der Junge lächelt erleichtert. „Gut, dann wird es langsam Zeit, das Essen vorzubereiten. Wenn du willst, kannst du noch ein bisschen spielen, bis Mama kommt. Und Nyx…“ „Ja, Papa?“ „Erzähl niemandem von der Magie und den leuchtenden Stellen, ja? Es ist besser, wenn das erst mal unter uns bleibt. Wenn du willst, gehen wir dafür morgen früh auf den Campingplatz zum Angeln.“ Ich muss dringend mit Noct sprechen, und der Angelsteg am Campingplatz ist in den frühen Morgenstunden so verlassen und neblig, dass er sich wunderbar für ein privates Gespräch anbietet. Und Nyx geht gerne Angeln. Er erinnert mich ein wenig an Noct in dem Alter, still und in sich gekehrt, aber doch so bemüht, geliebt zu werden. Das war mein Trost in all der Zeit… ein Kind, um das ich mich kümmern konnte, eine Zukunft, die mir über die Vergangenheit hinweghilft. Prompto hat uns nie zum Angeln begleitet, das war etwas, was er nicht konnte. So leicht es ihm fiel, über Noct zu reden, an einem Angelsteg stehen und jemand anderem zusehen konnte er nicht. Clara kommt tatsächlich pünktlich zum Essen, froh, nicht mehr selbst kochen zu müssen, nachdem sie schon den ganzen Tag in der Hotelküche gestanden hat. Das Restaurant im Caelum Via hat gerade Hochbetrieb, vieles wird auch bereits für den Gipfel nächste Woche vorbereitet. Zumindest das Begrüßungsevent wird wieder auf der Dachterrasse stattfinden, wenn auch die eigentliche Besprechung in der Zitadelle Platz findet. Die ist inzwischen wieder vollständig restauriert und bereit, den hohen Besuch zu empfangen. Hoffentlich ist Gladio bis dahin auch wieder fit. Wie ich die Nacht rumgebracht habe, weiß ich nicht genau, aber ich bin vor dem Wecker wach und auch Nyx ist wunderbar zeitig fertig und bereit, im Morgennebel ein paar Fische aus dem frisch gesäuberten Palastsee zu ziehen. Es ist kalt auf dem Steg, aber ich beschwere mich nicht, stelle nur sicher, dass Nyx warm eingepackt ist und dass ich Kleidung zum Wechseln im Auto habe, falls er ins Wasser fällt, weil der Fisch doch zu groß war. Eine Weile stehe ich still neben meinem Sohn, gebe ein paar Tipps und passe auf, dass er rechtzeitig die Schnur auswechselt, bevor sie reißt. Nicht, dass ihn das vor allem schützen würde, gerade die großen Fische sind einfach noch zu viel für den Achtjährigen und seine leichte Kinderangel. „Na, beißt was?“ Die Stimme lässt mich aufschrecken, ich hatte Noct im Nebel gar nicht kommen gehört. „Ja, vor allem die großen Köderdiebe“, gebe ich zurück, „Aber wir haben auch schon einen kronlosen Blaukiemling erwischt.“ Nyx hat wieder etwas an der Angel, diesmal ist es ein gehörnter Blaukiemling, den er uns voll stolz präsentiert. Wir loben eifrig, dann nimmt Noct mich zur Seite. „Du wolltest nicht nur angeln, oder? Wollen wir uns mit den beiden Fischen erst mal ein Stück weit zurückziehen, während der Kleine hier weitermacht?“ Ich nicke und Noct bedeutet Monica und Dustin, meinen Sohn im Auge zu behalten. Ich nehme die Blaukiemlinge mit zu einem der Campingtische, wo wir sie ausnehmen und in Ruhe reden können. „Nyx hat mir gestern eröffnet, dass er leuchtende Stellen sieht, aus denen er Magie ziehen kann. Seit er den Kristall berührt hat. Ich weiß außerdem von einem neunjährigen Verbrecher namens Gerald, dass Nyx den Ring der Lucii anlegen konnte, ohne Schaden davonzutragen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass das bedeutet, was ich denke, dass es bedeutet?“ Noct weicht meinem Blick aus, seufz tief und schafft es dann doch, mir in die Augen zu sehen. „Tut mir Leid, dass ich es dir verschwiegen habe, Ignis.“ „Nur verständlich.“ „Die Götter haben nicht viel Verständnis dafür, dass Menschen als Kinder zur Welt kommen und erst lernen müssen. Sie haben den Kristall und den Ring an die Welt zurückgegeben und einen neuen König gewählt, der beides finden sollte, sowie er gebraucht wird. Wir alten Könige haben zugestimmt, unsere Macht auch der neuen Linie zur Verfügung zu stellen, aber als ich gesehen habe, wie jung er noch ist… wusste ich, dass ich nicht nur euretwegen zurückkommen würde. Dass der Schwertgott noch einen anderen Grund hatte.“ „Um Nyx zu unterstützen, bis er alt genug ist.“ „Ja.“ „Wann wolltest du es mir sagen?“ Noct seufzt tief, konzentriert sich wieder auf den Fisch, dessen Schuppen er gerade abschabt. „Weiß nicht“, gibt er schließlich zu, „Am liebsten gar nicht. Ansonsten, wenn du es wissen musst… wenn ich den Wall nicht fallen lassen kann, bevor es nach Altissia geht, werde ich ihn Nyx übergeben müssen. Weiß nicht, ob ich ihm dann gleich alles sage. Ist ein bisschen viel für ein Kind in seinem Alter, meinst du nicht?“ „Würde er den Wall denn halten können? In dieser Größe?“ „Ich denke schon, ja. Er ist jung, er hat viel Energie. Und den Wall zu halten ist leicht, die Schwierigkeit besteht nur darin, ihn erst mal aufzubauen, zu vergrößern, oder Angriffe abzufangen. Solange dafür keine Notwendigkeit besteht, wird Nyx den Aufwand kaum spüren.“ „Mir gefällt der Gedanke nicht, ihn mit einer solchen Aufgabe zurückzulassen, während wir in Altissia sind“, murmle ich. „Ich werde Iris mit seinem Schutz betrauen“, versichert Noct, „Alle anderen werden denken, ich hätte einen Weg gefunden, den Wall auch von außerhalb zu halten. Aber eigentlich hoffe ich, dass während unserer Fahrt durch Lucis schon etwas aufkommt, was den Wall unnötig macht. Dass wir herausfinden, woher die Siecher kommen, und dem ein Ende bereiten können, meine ich. Laut Monicas Rückmeldung wurden in den anderen drei Reichen noch keine Siecher gesehen. Nur diese neuen MI sind überall.“ „Also keine Siecher außerhalb von Lucis?“ Merkwürdig. „Und hier ist jetzt das ganze Land vor der Dunkelheit beschützt.“ „Ja. Es scheint, als wären die Siecher hier entstanden. Der Wall unterbindet das, also kommen sie auch nicht nach außerhalb. Fragt sich nur, was sie zustande bringt… Dieser Behemoth war ja nicht gerade ein kleines Exemplar. Und so nahe an der Stadt…“ „Es hat hier viel Unruhe gegeben. Meinst du, es war die Wut und Machtlosigkeit der Menschen hier, die die Dunkelheit gerufen hat?“ Noct zuckt nur mit den Schultern. „Alles weiß ich auch nicht.“ „Verzeih mir. Ich denke nur laut nach.“ „Weiß ich doch. Kenn dich ja nun auch schon etwas länger.“ Nyx kommt zu uns an den Tisch, er sieht traurig aus. Ein großer Fisch hat ihm die Schnur abgebissen und seinen Lieblingsköder mitgenommen. Ich nehme meinen Jungen tröstend in den Arm und Noct verspricht, den bösen Fisch für ihn zu fangen. Also gehen wir zu fünft zurück an den Steg, damit Noct die Angel auswerfen kann. „So Nyx. Dann zeig mal, siehst du den Fisch, der deinen Köder hat?“ Nyx zeigt aufs Wasser. Unter der spiegelnden Oberfläche ist ein riesiger Schatten zu sehen, der langsam seine Kreise schwimmt. In seinem Mundwinkel glitzert etwas, vermutlich der Mogryköder, den Iris gemacht hat. Einen für Nyx und einen, um ihn Noct ans Grab zu legen. Der zieht den seinen jetzt auch heraus, legt einen Drachenbart als Schnur ein und wirft die Angel aus. Die Spule zurrt, der Mogry fliegt und fällt platschend ins Wasser. Noct wirkt äußerlich ruhig, aber ich kann die Anspannung in ihm spüren, wie er da steht, die Augen fest auf den handgefertigten Köder gerichtet, den er jetzt vorsichtig einholt, um den Dieb damit anzulocken. Langsam, in kleinen Sprüngen hüpft der Mogry über die glatte Oberfläche des Sees wie eine leckere Fliege. Der Fisch ist interessiert, aber vorsichtig. Sicher ahnt er die Falle. Noct holt den Köder ein, wirft ihn nochmal aus, wiederholt das Spiel. „Siehst du, wie sich der Köder bewegt?“, flüstere ich Nyx zu, „Genau wie eine richtige Fliege. Der Fisch muss denken, dass sein Futter vor ihm wegläuft. Dann wird er unvorsichtig und schnappt zu, dass sich der Haken in seinem Maul verfängt.“ Nyx nickt und blickt gebannt auf den See, wo der Fisch langsam sehr nahe an den Mogry herangeschwommen ist. Er zögert, überlegt, und als Noct einen winzigen Moment inne hält schnappt er zu. Der Ruck ist auf dem ganzen Steg zu spüren. Noct federt ihn gekonnt ab, richtet die Angel nach dem Fisch aus und atmet tief durch, bevor er vorsichtig zu kurbeln beginnt. Nur ein, zwei Umdrehungen, bevor er den Druck wieder heraus nimmt. Die vorher so glatte Wasseroberfläche ist in hellem Aufruhr. Riesige Flossen werfen hohe Wellen auf, als der Fisch gegen die Schur in seinem Maul ankämpft. Noct pariert die Bewegung, holt die Schnur noch ein Stück weiter ein. Ich ziehe Nyx nach hinten, damit Noct Platz hat, die Angel ganz nach rechts und links zu schwenken. Er ist hoch konzentriert, und hier zeigt sich seine wahre Stärke: In Sekundenbruchteilen wechselt er von nahezu absoluter Untätigkeit zu blitzschneller Reaktion, schwenkt die Angel in Richtung des kämpfenden Fisches, kurbelt, lässt ab, kurbelt wieder. Der Fisch springt hoch aus dem Wasser und einen Moment lang kann ich seinen schuppigen Körper in der aufgehenden Sonne glänzen sehen, da ist er auch schon wieder eingetaucht. Noct hat den Sprung gut abgefangen, nutzt die momentane Verwirrung des Tieres, ein ganzes Stück Schnur einzuholen, richtet die Rute neu aus und hält wieder still. Die Schnur ist zum Zerreißen gespannt, der Fisch zappelt schnell von rechts nach links und wieder zurück und Noct hat alle Mühe, ihm hinterherzukommen, damit die Spannung nicht zu groß wird. Immer wieder findet er kurz Zeit, die Kurbel zu drehen, muss dann wieder inne halten. Ein weiterer Sprung, ein weiterer Kampf, den Noct für sich entscheidet. Ich kann beinahe hören, wie gespannt die Schnur ist, fühle jeden Schaden, den sie nimmt, in der Vibration der Luft um sie herum. Aber der Fisch ist jetzt näher am Steg, und auch seine Kraft lässt nach. Verzweifelt stemmt er sich gegen die Schnur, peitscht mit der kräftigen Schanzflosse gegen die Wasseroberfläche und sucht nach der rettenden Strömung, die ihn wieder weiter ins offene Wasser trägt. Auch Noct hält den Atem an. Hochkonzentriert arbeitet er gegen die Bewegungen des Fisches, kurbelt kurz, wann immer es die Spannung der Schnur erlaubt. Die letzten Zentimeter sind der härteste Teil, hier entscheidet sich, wer den Sieg davon trägt. Die Schnur hält nicht mehr lange durch, aber auch dem Fisch geht die Kraft aus. Ein letztes Mal schlagen seine Flossen hilflos gegen den Steg, da ist Noct auch schon über ihm. „Helft mir mal!“, fordert er. Jetzt wäre Gladio praktisch, aber ich beschwere mich nicht sondern springe einfach ins Wasser. Der Fisch ist fast zwei Meter lang und wiegt gefühlt eine Tonne, aber zum Glück packen Monica und Dustin mit an und zusammen schaffen wir es, den Köderdieb aus dem Wasser auf den Steg zu wuchten. „Meine Güte, was für ein Kerl… der trägt seinen Namen auch nicht zu Unrecht“, meint Noct und sieht sich den Fisch an. In seinem breiten Maul hängen nicht weniger als zehn Köder, sicher finden wir beim Ausnehmen noch ein paar weitere. Der ganze Karpfen ist so lang wie Gladio hoch ist und dabei alles andere als schlank, da wird die Palastküche ordentlich zu tun haben. „Wenn wir den lebend mitnehmen könnten wir ihn auf dem Gipfel servieren. Das wäre doch was, ein ganzer, gebratener Fisch in der Größe.“ „Klingt nach einem Gericht, mit dem man angeben kann, ohne viel Geld auszugeben“, stimme ich zu und zücke mein Handy, um den Lebendtransport des neu ernannten Festmahles zu organisieren. Inzwischen sind auch ein paar andere Gäste am Steg, die dem Fisch und seinem Meister bewundernde Blicke zuwerfen. Noct zieht verlegen die Kappe tiefer ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Nyx freut sich, dass er seinen Köder wieder hat, lässt sich von Noct noch eine neue Angelschnur schenken und wir fangen – jetzt wirklich entspannt – noch ein paar weitere Fische fürs Mittagessen. Monica hilft mir mit der Zubereitung, und als Clara in ihrer Mittagspause vorbeischaut, hat sie auch gleich ein paar fertige Beilagen dabei. Nyx hat noch einen weiteren Blaukiemling erwischt, Noct steuert ein paar Insomnia Karpfen hinzu – wenn auch keinen mehr in der Größe des Köderdiebes – und wir gönnen uns ein reichhaltiges Mittagessen zu sechst. Kapitel 19: Mann ohne Namen (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------------- Ich weiß nicht, was genau mich geweckt hat, aber da ist ein Schatten in meinem Fenster. Klar abgehoben gegen den Mond und die wenigen Lichter der stromarmen Stadt kann ich die Silhouette eines Mannes erkennen, der auf dem Sims kauert, ein Schwert in jeder Hand. Seine scharfen Augen blitzen hell auf, als ich den Dolch in meine Hand beschwöre, und mit einem Satz ist er bei mir. Es gibt ein Klirren von Metall auf Metall als ich mich im Bett herumwerfe um den Angriff abzuwehren, der Mann springt einfach über mich hinweg und landet auf der anderen Seite. Einen Moment konnte ich sein ganzes Gewicht in der Klinge zwischen meinen beiden Messern spüren… Ich trete die Decke beiseite um mich freier bewegen zu können und fasse den Mann ins Auge, soweit es die Dunkelheit des Raumes erlaubt. „Wer ist da?“ Keine Antwort, aber ich hatte auch keine erwartet. Seine Schwerter blitzen im schwachen Licht der Stadt, ich habe gerade genug Zeit zu reagieren, um sie noch einmal mit meinen Dolchen zu blocken. Der Mann ist schnell, setzt einen Angriff nach dem anderen an, stört sich auch kaum daran, dass ich jeden Schlag blocke. Sicher baut er darauf, dass ich, müde wie ich bin, noch früh genug einen Fehler machen werde. Meine Handgelenke protestieren bereits gegen die Anstrengung, die großen Schwerter mit meinen dünnen Dolchen abzufangen, und so wechsle ich zu meinem eigenen Schwert und gehe in den Angriff über. Ein gut gezielter Warpsprung und ich habe den Angreifer an der Wand, meine Klinge an seinem Hals. Einen fürchterlichen Augenblick sehe ich mich wieder in derselben Position im Zug nach Gralea – sehe Promptos Gesicht über meinem Schwert. Der kurze Moment genügt. Ich war unvorsichtig, habe zu lange gezögert. Ein Schwertknauf trifft mich hart in die Magengrube und mir zieht es den Boden unter den Füßen weg. „Nicht Prompto“, höre ich Gladios Stimme in meiner Erinnerung, „Das war einer von den Magitech-Assassinen. Prompto ist Scharfschütze, schon vergessen?“ Nein, natürlich habe ich es nicht vergessen. Der Mann hat auch ganz andere Augen als Prompto, viel schmaler und schärfer, wie die einer Katze. Und seine Haare sind viel länger. Trotzdem… in diesem einen Moment, als das Licht meines Warps sein Gesicht gestreift hat, war ich wieder an diesem schrecklichen Ort. Dem Moment, in dem ich Prompto beinahe getötet hätte, weil ich ihn nicht erkannt habe. Weil er für mich wie Ardyn aussah. Ich sollte darüber hinweg sein. Die Erinnerung ist eine Schwäche, die mich gerade hätte töten können. Aber der Assassine ist wohl nicht hier um mich zu töten, es reicht ihm schon, dass ich benommen zusammenbreche. „Das war leichter als ich dachte“, meint er, und auch seine Stimme ähnelt der von Prompto. Nicht genug, als dass er sich als Prompto hätte ausgeben können, aber ein wenig unheimlich ist es schon. Ich weiß, dass ich wieder auf die Füße kommen muss, mich wehren, um Hilfe rufen, aber der Assassine beugt sich einfach über mich und drückt mir ein Tuch über Mund und Nase. Der Geruch macht mich schläfrig… ich kämpfe dagegen an, weiß, dass Schlafmittel mitunter eine halbe Stunde brauchen, um richtig zu wirken, aber es ist zwecklos. Der Assassine hat den längeren Atem, hält mir mit dem Tuch den Mund zu, dass ich nicht schreien kann und setzt sich auf mich, dass ich nicht kämpfen kann. Ich bin müde… ich weiß, dass ich nicht einschlafen darf, aber ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Vielleicht hätte ich die anderen nicht wegschicken dürfen. Aber Gladio ist verletzt, Ignis überarbeitet, und auch Prompto hat sich nach all den Torturen, die er durchleiden musste, eine Auszeit verdient. Ein bisschen Zeit mit der schönen Cidney in Hammerhead. Ich wünschte trotzdem er wäre jetzt hier. Dabei steht nur wenige Meter vor meiner Tür eine Wache, die hätte hereinkommen müssen bei all dem Lärm hier drin. Hat er uns nur nicht gehört durch die neue Tür? Oder ist er ausgeschaltet worden? Ich hoffe, dem armen Kerl geht es gut… ein junger Bursche, ich erinnere mich nicht an den Namen. Hoffentlich ist er einfach nur eingeschlafen auf seinem Posten… schlafen… aus irgendeinem Grund sollte ich nicht einschlafen, aber ich erinnere mich nicht, warum. Ich bin so müde… mein Körper ist so schwer. Und es ist dunkel. Nacht… ich sollte wieder ins Bett gehen, aber der Teppich ist gut genug. Hier kann ich auch schlafen. Meine Augen sind längst geschlossen, und auch mein Geist hört endlich auf sich zu wehren. Schlafen ist gut… schlafen geht immer. Es dauert eine Weile, bis ich meine Augen wieder öffnen kann. Ich bin immer noch völlig weggetreten, aber langsam weicht der Schlaf einer Benommenheit, die nur von Medikamenten stammen kann. Ich erinnere mich wieder an den nächtlichen Angriff und zwinge mich, zur Besinnung zu kommen. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist verdammt kalt dafür, dass ich nur meinen dünnen Seidenschlafanzug trage. Ich sitze auf etwas hartem, einem Stuhl vielleicht, gefesselt mit schweren Ketten, die sich mehrfach um meinen Körper und meine Beine schlingen und jeweils in schlichten Metallfesseln enden. Meine Beine sind eng an die des Stuhls gekettet, meine Arme in unbequemer Haltung hinter der Lehne gefesselt. Mein Kopf ist verdammt schwer und das Atmen tut weh. Um meinen Hals ist ein eiserner Ring befestigt, von dem eine Kette bis zur Decke führt. Ich habe Angst. Der Raum ist beleuchtet, und nun sehe ich deutlich den Mann, der mich angegriffen und hergebracht hat. Er lehnt lässig an der Tür, wie Prompto es auch machen würde, und spielt mit seinen Waffen. Aber er ist nicht Prompto. Er ist ein Assassine. Ein Feind, der ihm, leider nicht ganz zufällig, ähnlich sieht. Ich will etwas sagen, aber noch ist meine Zunge taub und schwer und mein Gehirn weigert sich, die richtigen Worte zu versammeln. Mist. Ich muss irgendwie funktionieren… ich bin gefangen, wer weiß wo, sitze gefesselt und im Schlafanzug vor einem Mann, der mich auch hätte töten können und alles, was ich tun kann, ist bedröppelt in der Gegend herumzuschauen. Ich muss wach werden. Ich muss hier irgendwie raus, bevor meine Abwesenheit am Ende noch einen Krieg provoziert. „Na, endlich wach, euer Hoheit?“ Eine neue Stimme, rauer und tiefer als Promptos. Der Mann, der jetzt in mein Blickfeld tritt ist unbewaffnet, trägt dafür teure Kleidung, die wie eine Uniform aussieht. Hellblau und Gold mit einem mir unbekannten, spiralförmigen Wappen. Seine blonden Haare sind streng zurückgegelt, sein Gesicht und ein großer Teil seines Halses entstellt von Narben, wie sie die Dunkelheit zurücklässt. Ein Auge ist blind, das andere strahlend blau. Er ist unbewaffnet, aber das hilft mir in meiner Situation nicht viel. „Schicker Schlafanzug. Der allein war sicher teurer als die meisten Monatsmieten unten in der Stadt, was? So ein Luxus…“ Der Pyjama hat meinem Vater gehört. Er war noch gut, Vater hat ihn kaum getragen. Aber natürlich wäre für mich auch ein neuer gekauft worden und ja, der Preis meiner Kleidung ist astronomisch. Weil die Schneider nur die beste Ware verwenden und sich ihren Dienst gut bezahlen lassen. So funktioniert die Wirtschaft – auch ich bekomme nicht einfach alles geschenkt. „Ich hab auch schon in billigeren Sachen gepennt“, murmle ich verschlafen, „hat sich recht gleich, wenn’s nach mir geht. Aber die Leute haben ein gewisses Bild von mir, das ich halten muss. Meine Kleidung symbolisiert den Wohlstand des Landes.“ „Auch wenn die Leute in Zelten schlafen?“ „Tun sie nicht mehr. Oder bald nicht mehr. Die Häuser werden wieder gebaut.“ „Ja. Jetzt. Aber vorher, da hat euer wohlbetuchtes Land lieber eine Maschine gebaut, nicht wahr? Eine, die Monster wie mich töten soll.“ Der Mann greift in seine Jacke. Einen Moment fürchte ich, er würde doch eine Waffe ziehen, aber es ist nur ein Foto von einer kleinen Familie. Ich erkenne den Mann der vor mir steht auf dem Bild. Seine Haare hängen frei über die zerstörte Gesichtshälfte und er lächelt. Bei ihm sind eine schöne, blonde Frau und zwei süße kleine Mädchen. „Meine Familie“, erklärt er, „Als die Maschine ihre Fühler nach Lestallum ausgestreckt hat, haben meine Töchter und ich plötzlich Kopfweh bekommen. Schlimme Kopfschmerzen, wie ich sie nicht erlebt habe, seit diese Frau mich von der Plage geheilt hat. Ich hab das überstanden, aber meine Kinder… Lil war erst acht, Pip zehn. Sie sind einfach gestorben! Und weißt du, was meine Frau getan hat, als sie erfahren hat warum? Dass ihr Mann ein Monster ist?“ Der Mann reißt an der Kette an meinem Halsband, dass mir einen Moment lang komplett die Luft wegbleibt. „Erhängt hat sie sich! Weil sie es nicht ausgehalten hat, mit einem wie mir verheiratet zu sein!“ Wütend wirft er die Kette von sich und stapft weg von mir. Ich hole rasselnd Luft, versuche zu verarbeiten, was ich gehört habe. Was ich weiß und was nicht. Der entstellte Mann läuft wütend im Raum auf und ab, auch er scheint sich seine nächsten Sätze zu überlegen. Ich bin der erste, der die richtigen Worte findet. „Sie sind Kapitän Nemo, richtig?“ Der Mann stoppt und fixiert mich mit seinen ungleichen Augen. „Wer hat dir das gesagt?“ Er blickt zu dem Assassinen an der Tür, der zuckt nur die Schultern. „Ein Freund… hat mir von euch erzählt.“ Und davon, dass sie ihn gefangen genommen haben und im Kampf gegen Lucis einspannen wollten. Er hat sich geweigert und wurde schließlich ausgesetzt… aber man war nett zu ihm, hier. Man wollte ihm helfen, hat nur seine Position nicht verstanden. Wenn ich mir Nemo so ansehe begreife ich, warum. „Ein Freund, ja?“, Nemos Worte sind bitter, als er den rechten Ärmel hochschiebt, „Hatte dieser Freund auch so einen hier?“ Ein Barcode wie Promptos, nur mit anderen Zahlen. Nemo hat sich den ganzen Unterarm tätowieren lassen, damit der Code nicht auffällt, er wirkt wie ein Teil des gewollten Musters. Ich nicke schlicht. „Und seine Nummer?“, fragt der Kapitän. N-iP01357/05953234. Ich kann die Nummer immer noch auswendig, jetzt, wo ich sie nicht mehr brauche. Trotzdem weigere ich mich, sie aufzusagen. Mein Freund ist keine Nummer, er ist ein Mensch. „Er heißt Prompto“, antworte ich bestimmt. Der Klang meiner Stimme erschreckt mich beinahe selbst, aber die Reaktion der beiden Männer im Raum ist beinahe überzogen. Als hätten sie einen Geist gesehen. „Prompto ist tot“, versichert mir Nemo. Seine Hände zittern. „Diese Maschine hat ihn umgebracht. Weil er sich nicht helfen lassen wollte… weil er bis zum Schluss an Lucis und seinem König festgehalten hat. Obwohl ihr ihn verstoßen und verwundet habt. Er war mein kleiner Bruder! Und er ist gestorben wie ein Tier weil ihr genau das wolltet!“ Ich balle die Hände zu Fäusten, auch ich kann meinen Zorn nur schwer beherrschen. „Ich hasse diese Maschine ebenso wie ihr“, versichere ich, „Und ich habe sie zerstört. Prompto hat überlebt, er ist nach Hause gekommen. Zu mir. Es geht ihm gut.“ „LÜGNER!“ Nemos Hand schnellt vor und schlägt mir mit geballter Faust ins Gesicht. Als wäre ich seinen Blick nicht wert wendet er sich ab und stürmt aus dem Raum. Irre ich mich, oder waren da Tränen in seinen Augen? Mein Gesicht brennt, wo der Schlag getroffen hat, aber ich beschwere mich nicht. Prompto hat stur jede Hilfe verweigert, weil er diesen ‚Bruder‘ nur als Feind von Lucis gesehen hat. Weil er nicht selbst für einen Feind gehalten werden wollte, aus der uralten Angst heraus, man könnte ihn wegen des Barcodes für einen Spion halten. Dummkopf… aber treu wie ein Hund. „Ich hätte nie verlangt, dass Prompto sein Leben aufs Spiel setzt“, informiere ich den Assassinen, „Wir hätten ihn auch in euren Kampuniformen akzeptiert, wenn ihn das am Leben hält. Bisschen Autolack in Schwarz, Rot und Silber, dann erkennt man ihn auch auf den ersten Blick als einen von uns.“ „Meinst du, dann hätte er sich helfen lassen? Wenn wir ihm angeboten hätten, den Anzug in den Farben der lucischen Garde anzumalen?“ Die Stimme des Assassinen klingt direkt sanft im Vergleich zu Nemos. Seine Worte bringen mich zum Schmunzeln. „Vielleicht? Es wäre zumindest ein Angebot gewesen… ein kleiner Schritt in Richtung Verständnis. Prompto ist ein Mann der lucischen Königsgarde, er verrät sein Land nicht. Und er wusste, dass im Grunde nur wenige für den Bau der Maschine verantwortlich sind. Auch in Lucis leben Kinder… unschuldige Kinder, die keinen Krieg wollen. Er hätte euch nie geholfen, gegen die Kinder seiner Freunde in den Krieg zu ziehen.“ Schweigen. Jeder von uns hängt seinen Gedanken nach. Mir passt nicht, dass Prompto hier sein Leben riskiert hat, auch wenn ich seine Motivation verstehen kann. Er wäre beinahe gestorben… so kurz vor meiner Rückkehr. Aus reiner Sturheit, seiner eigenen, und der von Nemo. „Hast du auch einen Namen?“, frage ich schließlich, um die Stille zu überbrücken. „Nemo hat mich ‚Spero‘ genannt“, kommt die Antwort, „das heißt ‚Hoffnung‘. Ich war der erste, den er aus der Fabrik gerettet hat.“ „Spero also. Freut mich, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Noctis. Für Freunde einfach Noct.“ „Noct…?“ Speros schmale Augen weiten sich. „Etwa… aber dann…“ Ich verstehe nicht, was plötzlich los ist, aber Spero kommt mit drei schnellen Schritten auf mich zu und fasst mein Gesicht mit zitternden Händen, als hätte er einen Geist gesehen. „Du bist… Noct? Ich dachte… Prompto hat so oft von dir gesprochen. Noct, Ignis, Gladio… dass ihr seine besten Freunde seid, ihn akzeptiert, wie er ist. Aber er hat nie erwähnt… dass du der König von Lucis…“ Ich muss lachen. Auch das ist wieder so typisch. „Ah, Prompto hat mich nie wie einen König behandelt“, erkläre ich, „Wir kennen uns aus der Schule, sind seit Jahren beste Freunde. Er wusste immer, wer und was ich bin, aber er hat mich trotzdem wie einen Menschen behandelt. Nur normal, dass ich ihm denselben Gefallen tue, oder? Wenn man alles andere weglässt, sind wir beide nur ganz normale Jungs, die Tiere, Videospiele und schnelle Autos mögen wie viele andere auch.“ Spero sieht mich immer noch an, als hätte er spontan das Atmen verlernt. Seine Hände tasten mein Gesicht ab, es tut weh, wo Nemo mich vorhin geschlagen hat, aber ich beschwere mich nicht. „Du bist… sein bester Freund. Den er so vermisst hat… er hat so oft im Schlaf nach dir gerufen, weißt du?“ „Ich kann es mir vorstellen, ja. Ich war zehn Jahre fort… tot, bis die Götter mich zurückgeschickt haben. Wir hätten einander beinahe verpasst.“ „Er sagt immer, er hätte keine Angst vor dem Tod. Dass da jemand wartet, der ihm vorausgegangen ist…“ „Da ging es wohl um mich.“ Ich frage mich, ob Spero wohl so nett wäre, meine Fesseln zu lösen. Wenn ich wenigstens mein Handy bei mir hätte, könnte ich Prompto einfach anrufen… Vielleicht ließe sich das hier friedlich klären. Die Tür geht wieder auf, und Spero geht fast an die Decke vor Schreck. Er sieht Prompto in dem Moment so ähnlich, dass ich mich zwingen muss, nicht laut aufzulachen. Nemo dagegen ist immer noch wütend, und dass Spero seinen Posten verlassen hat, scheint ihn auch nicht gerade milde zu stimmen. Ich hoffe, der arme Kerl bekommt keinen Ärger… zumal er jetzt sogar die Dreistigkeit zeigt, sich schützend vor mich zu stellen. „Nemo… großer Bruder. Ich weiß, wie das hier aussieht, okay?“, stammelt er und versperrt meinen Blick auf Nemo mit seinem Rücken, „Das hier… der König… das ist Promptos Freund Noct. Der, den er so vermisst hat… er würde nicht wollen, dass wir ihm etwas tun. Bitte…“ „Lass dich nicht einlullen, Spero.“ Nemos Worte sind hart, ebenso seine Stimme. „Prompto ist tot, seine Freunde haben ihn im Stich gelassen. Keiner hat nach ihm gesucht, keiner hat ihm geholfen, als die Maschine ihn umgebracht hat. Keiner außer uns.“ „Wir haben ihn auch zurückgelassen…“, gibt Spero zu bedenken. „Wir hatten keine Wahl, er hat uns nicht erlaubt, ihm zu helfen! Weil die ihm eingeredet haben, er gehöre zu ihnen! Ich konnte nicht… wenn wir ihn weiter mitgenommen hätten, wäre er nur schneller gestorben! Du weißt, warum wir ihn unter Zegnautus abgelegt haben, Spero. Das war der letzte Kalte Fleck, den es noch gab… der letzte Ort, wo er halbwegs sicher vor der Maschine war.“ „Dadurch hat er nur länger gelitten…“ „Oder gerade lange genug, um zu überleben“, wage ich einzuwenden. „Wir sind sofort zurückgeflogen, als die Maschine gestoppt hat“, herrscht Nemo mich an, „Sofort. Aber Prompto war fort. Ich bin der Blutspur gefolgt, um ihn zu suchen, aber… aber da war nur noch ein Raum voller Ruß, als hätte es eine Explosion gegeben. Da war nichts mehr außer Asche!“ Diesmal bin ich mir sicher, dass Nemo weint. Um den kleinen Bruder, den er nicht retten konnte. „Prompto lebt“, wiederhole ich, „Er hatte Magie bei sich. Lucische Magie, die er nutzen kann. Der Zauber hatte auch einen heilenden Effekt, sicher hat die Blutspur deshalb geendet.“ Ich erinnere mich an die Brandspuren in der Wüste von Leide, wo wir den leeren Flakon gefunden haben. Wer sich mit Magie nicht auskennt, hätte sicher auch dort auf eine verheerende Explosion geschlossen. „Welche wie wir nutzen keine Magie“, belehrt mich Nemo, „Das können nur die Männer des Königs.“ „Prompto ist einer meiner Männer. Er gehört zur Königsgarde und zu meiner persönlichen Leibgarde.“ „Und wieso ist er jetzt nicht hier, wenn sein König in Gefahr ist?“ Die Alarmanlage nimmt mir die Antwort ab. Nemo wirft einen wandhohen Bildschirm an, der den Eingang eines umgesprühten imperialen Frachtschiffes von innen zeigt. Drei Männer in Glevenuniformen haben sich gerade hineingewarpt – der größte beugt sich gleich über einen der Mülleimer, und auch der kleinste der drei sieht reichlich wackelig aus. Ich habe so eine Ahnung, wer da unter den Kapuzen steckt… „Kapitän, was sollen wir tun?“, fragt ein vergleichsweise junger Mann, der gerade durch die Tür eilt. Seine Frisur ähnelt tatsächlich der von Prompto, zumindest, wenn ein starker Wind bläst. „Gar nichts“, meint Nemo abweisend, „ohne Barcode kommen die hier durch keine Tür.“ Wie um Nemo zu ärgern tritt der kleinste der Gleven an die Tür und schiebt seinen Ärmel hoch. Das Terminal schaltet sofort auf grün um. „MI Nummer N-iP01357/05953234. Willkommen, Prompto.“ Nemo starrt den hilfsbereiten Bildschirm mit offenem Mund an, das gesunde Auge weit aufgerissen, sein Körper erstarrt. Ich zähle insgesamt fünf Herzschläge, bevor er aus der Starre erwacht, dann macht er auf dem Absatz kehrt und stürmt durch die Tür, vermutlich in Richtung Eingang. „Was sag ich? Prompto lebt, und er kommt, wenn ich ihn brauche.“ „Ich hätte dir fast auch so geglaubt“, lacht Spero. Er klingt unendlich erleichtert. „Komm, ich mach dich los. Wär nett wenn du uns nicht anschwärzt… Nemo kann manchmal echt hart sein, aber ihm liegt viel an der Familie. Ich will nicht, dass Prompto wütend auf uns ist.“ „Ich will auch keinen Streit“, versichere ich, froh, die Ketten endlich los zu sein. Mir ist immer noch kalt und meine Arme und Beine schmerzen von der unbequemen Haltung der letzten Stunden, aber bis auf eine gerötete Stelle im Gesicht sieht man mir die schlechte Behandlung nicht an. Auf dem Bildschirm sind weiterhin die Gleven zu sehen, inzwischen in einem Gang. Nemo kommt ihnen entgegengestürmt und bremst kurz vor ihnen erst ab. Ignis und Gladio haben sofort die Waffen zur Hand, aber Prompto hält beide zurück und nimmt einfach die Kapuze ab. Ich kann nicht hören, was gesprochen wird. Nemo geht noch einen Schritt näher auf Prompto zu, fasst sein Gesicht, seine Schultern, bevor er ihn schließlich fest in den Arm nimmt. Prompto reagiert kaum. Er wehrt sich nicht, zeigt aber auch kein Interesse, die Umarmung zu erwidern. „Lasst uns gehen, Hoheit“, schlägt Spero vor, „bevor das noch in die falsche Richtung läuft.“ Ich nicke und lasse mir den Weg zeigen. Barfuß ist der Boden unangenehm kalt, aber ich gebe mir nicht die Blöße, mich zu beschweren. So groß ist das Schiff ja nicht, und der Gang ist schnell erreicht. Meinen Freunden ist die Erleichterung anzusehen, als ich den Raum betrete. Prompto schiebt Nemo entschieden von sich, Ignis stürmt sofort auf mich zu, um mir seine Jacke über die Schultern zu legen. Mir ist gleich viel wärmer. „Meine Güte“, murmelt Ignis, „Du bist ja halb erfroren…“ „Geht schon“, versichere ich, „Alles halb so schlimm.“ Auch wenn ich zugeben muss, dass es recht angenehm ist, in den warmen Mantel gewickelt ganz nah neben Ignis zu stehen. Jetzt noch ein paar flauschige Socken und alles wäre prima. Ich kann sehen, wie Nemo die Lippen aufeinander presst, aber Spero steht aufrecht und unbeirrt neben mir. „Noct, bist du wirklich okay? Wir haben uns echt Sorgen gemacht, als Monica angerufen hat…“ Auch Prompto kommt auf mich zu und legt vorsichtig die Hände auf meine Schultern. Er zittert, sicher hat er Angst, dass die anderen auch ihn in ein schlechtes Licht rücken. Ich befreie meine Arme aus dem wärmenden Mantel und drücke meinen Freund fest an mich. „Ja, mir ist nichts passiert. Alles okay.“ Promptos Finger streifen die schmerzende Stelle in meinem Gesicht, aber ich schaffe es, nicht darauf zu reagieren. „Was ist mit dem Jungen, der vor meinem Zimmer Wachdienst hatte?“ „Eingeschlafen“, informiert mich Gladio und es klingt, als hätte der Junge eine lange Liste von Strafarbeiten zu erwarten, „War am Vortag zu lange feiern, wie’s aussieht.“ „Dann ist ihm wenigstens nichts passiert.“ „Wenn er wach gewesen wäre, wäre dir auch nichts passiert! Dafür genau steht da doch eine Wache! Da ist man mal zwei Wochen nicht da…“ Ich muss lachen. War klar, dass Gladio sich aufregt… die zwei Wochen ohne meine Freunde waren schon irgendwie langweilig. „Ich wäre auch so reingekommen“, flüstert Spero mir zu, „Hatte für die Wache noch ne Ladung Schlafgas in der Flasche dabei. Wäre keiner verletzt worden, ganz so übel sind wir ja auch nicht drauf…“ „Da war ich mir für den Moment echt nicht sicher…“, gibt Prompto zu und lässt mich los, damit Ignis mich wieder vernünftig in den Mantel packen kann. Diesmal bemühe ich mich um die Ärmel, damit ich mich nicht jedes Mal freistrampeln muss, um mich bewegen zu können. Prompto geht derweil auf Spero zu und hebt zum Gruß die rechte Hand, Barcode gut sichtbar nach vorne. Spero erwidert die Geste wie einen Gruß, es wirkt einigermaßen vertraut, aber doch irgendwie blockiert, als stünde einiges zwischen den Männern. Nemo sieht immer noch verheult und abgewiesen aus. „Bitte versteh, dass Lucis nicht dein Feind ist“, versuche ich es erneut, in der Hoffnung, dass Promptos Anwesenheit den Kapitän milde stimmt, „Die Maschine ist zerstört, wir haben kein Interesse, eine neue zu bauen. Der echte Wall von Lucis richtet sich nicht gegen euch. Wenn es doch wieder Probleme gibt, wenn einer von euch verletzt oder krank ist, könnt ihr euch jederzeit an mich wenden. Ich will nicht, dass jemand leiden muss.“ „Glaubt ihr mir jetzt?“, fragt Prompto leise. Spero nickt, aber Nemo wendet nur wütend den Kopf ab, die Hände zu Fäusten geballt. Er ist überstimmt, nicht überzeugt. „Geht“, knurrt er, „Geht einfach. Prompto ist hier jederzeit willkommen, aber der Rest von euch geht mir besser aus den Augen.“ „Ihr habt den Mann gehört“, meint Prompto und klopft mir auf die Schulter, „Verschwinden wir hier.“ Spero spricht irgendwas in ein Terminal an der Wand und das Frachtschiff senkt sich so nah über den Boden, dass wir bequem abspringen können. „Hey, Prompto!“, ruft Spero uns hinterher, bevor sie wieder abhebt, „Wenn du das nächste Mal in der Nautilus bist, sag den Kindern hallo. Die vermissen dich und deine Geschichten.“ Prompto grinst nur und wiederholt schweigend den militärischen Gruß von vorhin, bevor er sich umdreht um uns zu seinem Auto zu führen. Ein tiefer gelegter Kleinwagen, aber recht sportlich für seinen Preis. Lack und Sonderausstattung stammen fast sicher aus Hammerhead. Wir stimmen ab und einigen uns darauf, dass Ignis fahren darf – die sicherste Option, wenn auch nicht unbedingt die schnellste. Immerhin dreht er gleich die Fußheizung auf und macht das Dach zu, damit ich nicht dem Fahrtwind ausgesetzt bin. Zu meiner Überraschung hebt die Maschine einfach ab und fliegt nach Insomnia wie ein Luftschiff. „Der Wahnsinn, oder?“, meint Prompto und dreht sich begeistert zu uns um, „Ist Cidney nicht die Allerbeste?“ „Das ist sie absolut!“, gebe ich zu und blicke begeistert aus dem Fenster. Ein fliegendes Auto… das schafft wirklich nur sie. So sind wir im Handumdrehen wieder zu Hause, und ich habe sogar noch Zeit, mich vor der Konferenz zu waschen und anzuziehen. Kapitel 20: Glockenläuten (Noctis Lucis Caelum) ----------------------------------------------- „Du kannst von Glück reden, dass du dich nicht erkältet hast“, murmelt Ignis, während er mir in meine Kleidung hilft. Ich murre nur, zu müde um groß Konter zu geben. Hoffentlich vergeht das noch rechtzeitig vor der Feier, ich will den anderen Regenten nicht unbedingt mit eingeschränktem Denkvermögen entgegentreten. Das Mittel, mit dem Spero mich betäubt hat, war jedenfalls nicht sehr gut für meinen Schlafrhythmus… und die Kälte hat mir auch nicht gutgetan. Normal würde ich ja darauf bestehen, dass ich mich selbst einkleiden kann, aber der Anzug, in den Ignis mich gerade verpackt, ist wohl von vorne herein nur für Männer gedacht, die zu dem Zweck mindestens einen Butler zur Hand haben. Es sind gefühlte tausend Schichten und Schnallen daran, ganz zu schweigen von dem Mantel, der nie auf meinen Schultern bleiben würde, würde ihn nicht Prompto festhalten, während Ignis die Schnallen und Knöpfe daran schließt. Die ganze Kleidung ist unglaublich schwer, aber als König bin ich nicht in der Position, mich darüber zu beschweren. So lasse ich einfach seufzend über mich ergehen, dass Ignis nochmal meine Haare richtet, und erlaube sogar der zufällig vorbeigekommenen Zofe, mir noch ein wenig Make-Up gegen die Augenringe aufzutragen. Kommt ja nicht gut an, wenn ich aussehe, als hätte ich mich die ganze Nacht besoffen. Zu meiner Überraschung kann ich mich jedoch, als der Anzug endlich sitzt, tatsächlich recht gut bewegen. Er ist schwer, sicher, aber nicht steif. Die Tatsache, dass ich in einem plötzlichen Gefecht nicht wie eine hilflose Puppe dastehen würde, erleichtert mich, auch wenn es hoffentlich ohnehin nicht dazu kommen wird. Kapitän Nemo zumindest schien fürs Erste besänftigt zu sein und die Magitech-Roboter werden von den Wachen am Stadttor abgehalten. Siecher kommen nicht durch den Wall, und Rashin zumindest kämpft nur mit Worten. Auf die Konferenz ist er zum Glück nicht eingeladen, für ihn und die anderen Vertreter der Bürger gab es gestern einen Termin. Ohne meine übliche Leibgarde, nur mit Monica und Dustin, die doch… sagen wir mal, weniger hitzköpfig sind. Bei Rashins zahlreichen Provokationen keine schlechte Entscheidung. „Wie lief eigentlich die Audienz mit den Bürgermeistern gestern?“, fragt Gladio. Er klingt etwas verärgert, weil er erst heute davon erfahren hat. „Verträglich“, umschreibe ich, „Zwischenzeitlich war ich froh, dass keine Waffen im Spiel waren, aber es ist tatsächlich niemand verletzt worden. Nicht körperlich, jedenfalls. Frage mich aber immer noch, warum wir diese Farce durchziehen, diese Bürgermeister sind sich ja selbst nicht einig, was das Volk will.“ „Ich entnehme dem, dass die Verhandlungen zu keinem Ergebnis gekommen sind?“, fasst Ignis geschickt zusammen. „So kann man es auch sagen, ja.“ „Gut, dass wir eh nochmal ne Runde durchs Land drehen“, meint Prompto, „Dann kannst du dir vor Ort ein Bild machen, was die Leute wirklich denken. Und die haben zumindest eine kleine Chance, dir ihre echte Meinung zu sagen…“ „Ich nehme an, Cidney hat die Gelegenheit jetzt schon genutzt?“ Prompto seufzt. „Sie macht sich Sorgen wegen der Siecher. Ne Menge Leute bestellen die neuen Led-Superscheinwerfer bei ihr und sie kann kaum liefern. In den Außenbezirken glaubt kaum jemand daran, dass der Wall im Notfall mehr als Insomnia schützen wird… selbst, wenn sie verstehen, woran es damals lag.“ „Nachvollziehbar. Dann sollten wir die hiesigen Firmen wohl mal antreiben, mehr von diesen Scheinwerfern in die Außengebiete zu liefern – vielleicht lässt sich da mit Steuerfreiheit was machen?“ Ignis nickt und tippt wieder in seinem Handy herum. Hoffentlich nur, um dem neuen Minister die Idee weiterzugeben, nicht, um selbst alles zu arrangieren. „Das Vertrauen in den Wall werden wir so schnell nicht zurückgewinnen“, gebe ich zu, „Dafür mussten die Menschen draußen zu lange ohne ihn leben. Aber wir können den Menschen Sicherheit geben, indem wir ihnen Licht und Soldaten schicken, bevor sie sie brauchen.“ Auf die Weise sind sie auch sicher, sollte ich den Wall nicht halten können. Gestern zum Beispiel hätte ich sterben können, und der Wall wäre mit mir gefallen. Auch wenn ich hoffe, dass es dazu nicht nochmal kommt… Ich will nie wieder sehen, dass Menschen so leiden müssen wie in der langen Nacht. Nicht mal für die paar Stunden einer echten Nacht… Siecher haben in dieser Welt nichts mehr verloren. Ich werde hier gebraucht, zumindest, bis Nyx bereit ist, den Ring zu übernehmen. „Das hab ich auch vorgeschlagen“, meint Prompto, „Cidney meinte, Hammerhead wär so weit sicher, aber auf den Verbindungsstraßen scheint es öfter Angriffe von diesen neuen MI zu geben. Sie meinte, mobile Einheiten von Gleven wären gut – so wie Callus und Nora, wenn sie mit ihrem Wohnmobil unterwegs sind.“ „Keine schlechte Idee“, stimmt Ignis zu, „So können wir auch bei kleinerer Truppenstärke größere Bereiche abdecken und zeigen gleichzeitig Präsenz.“ „Die Uniformen zumindest scheinen die Leute zu beruhigen.“ „Das hab ich in Galahd auch gesehen“, stimmt Gladio mit ein, „Die Gleve wird dort gut aufgenommen, gerade weil die meisten Rekruten selbst von außerhalb kommen und wissen, wie es da zuging. Die meisten agieren direkt in ihrer Heimat.“ Etwas an Gladios Tonfall stört mich. „Höre ich da ein ‚aber‘ raus?“, frage ich nach. „Gute Ohren. Die meisten sind jung und unerfahren. Cor ist ständig unterwegs, um vor Ort Trainings anzuleiten, aber sonst ist es das älteste Kind, das den anderen das Kämpfen und den Umgang mit Magie beibringt. Je weiter wir raus gehen, desto weniger sind die Gleven auf dem Stand der Hauptstadt. Und es sind noch zu wenige in jedem Ort, als dass man einzelne oder kleine Gruppen hier reinbeordern könnte für einen vernünftigen Wochenkurs.“ Ich überlege einen Moment. „Wenn wir die Tour durch Lucis fahren werden wir nicht nur zu viert sein.“ Ich hätte es zwar lieber so gehalten, aber es geht ja auch um die Präsenz. „Wir werden von einer Eskorte begleitet, deren Größe noch nicht genau fest steht. Hauptsächlich die Königsgarde, ein paar Offizielle, die sich um die Organisation kümmern, ein paar Bedienstete… sollte nicht schwer sein, da auch Trainingsequipment und ein paar gute Ausbilder mitzunehmen. Dann können wir vor Ort die Gleven auf Zack bringen während ich meine Ansprachen und Audienzen halte.“ „Klingt nach einem guten Plan. Wie viel Eskorte schwebt dir da vor?“, fragt Ignis. Ich seufze. „Je weniger desto besser, aber ohne wird es nicht gehen. Nur wir vier und der Regalia ist einfach zu wenig im Vergleich zu dem, was die Leute sehen wollen. Fahnenträger, Vertreter der Garde, ein paar Leute, die den Verwaltungsaufwand vor Ort stemmen und Buch führen, Bedienstete für das Gepäck. Ich gehe davon aus, dass uns noch mehr aufgedrängt wird.“ „Der ein oder andere Heiler wäre vielleicht nicht verkehrt“, lenkt Ignis ein, „Für den Fall der Fälle möchte ich mich nicht allein auf Tränke und Zauber verlassen müssen.“ „Crowe wird auch mitwollen wenn sie hört, dass wir nicht allein fahren.“ Ich muss schmunzeln. „Warum nicht? Kinder kommen immer gut an. Wenn Nyx und Crowe mitwollen, dürfen sie das gern. Wenn die Mütter nicht abkömmlich sind, können ja Iris und Talcott auf die Kinder aufpassen.“ Ignis lächelt wissend, stimmt aber recht überzeugend zu. „Das wird sicher ein tolles Abenteuer für die beiden. Um die Entschuldigung vom Unterricht werde ich mich gerne kümmern, eine solche Chance bekommt man in dem Alter ja nicht oft.“ „Ich hoffe nur, die Kleine blamiert mich nicht“, grummelt Gladio. Ich muss lachen, die anderen stimmen mit ein. „Wir sollten langsam los“, meint Ignis schließlich mit einem Blick auf seine Uhr. Er prüft noch einmal, dass meine Kleidung richtig sitzt, bringt Promptos Uniform in Ordnung und scheucht uns raus auf den Gang und in den Star of Lucis. Das Caelum Via ist eigentlich nur einen Fußmarsch entfernt, aber bei dieser Hitze würde ich in der vielschichtigen Kleidung nicht laufen wollen, selbst, wenn man mir so viel bürgerliches Gehabe durchgehen lassen würde. Der König läuft nicht, wenn er sich fahren lassen kann. Geht ja auch um die Vermeidung von Attentaten oder so. Dabei fiele mir zumindest eine Partei ein, die einen Anschlag planen würde, gerade weil ich für fünf Meter Weg das Auto aus der Garage hole. Diesmal braucht es keine Tricks, um auf die Dachterrasse des Caelum Via zu gelangen. Es fragt auch niemand mehr nach meinem Namen, dafür verbeugen sich alle besonders tief, wenn wir vorbeigehen. Ich hasse diese überzogene Ehrerbietung. Wenn ich an denselben Leuten in meiner Alltagskleidung vorbei gehen würde, würde kaum jemand auch nur hallo sagen. Die Dachterrasse ist imposant wie immer, mit reichlich teuren Dekorationen und Speisen für die hochwohlgeborenen Gäste. Man merkt kaum einen Unterschied zum letzten Mal, aber die Gerichte, die heute serviert werden, sind mit lokalen Zutaten und ohne Blattgold gefertigt. Das Zentrum des Buffets wird dominiert von einem Fischgericht, wie man es selten zu Gesicht bekommt, und ich muss schmunzeln, als ich den alten Köderdieb wiedererkenne. So kross gebraten und in dekorative Streifen geschnitten beklaut er sicher keine hilflosen Kinder mehr. Und er riecht fantastisch. Dazu gibt es jungen Wein aus Galahd, in Pfeffer gebratene Kartoffeln aus Leide und generell eine Menge lokaler Spezialitäten in Portionen, von denen unsere weit gereisten Gäste auch satt werden. Aranea zumindest scheint sich arg beherrschen zu müssen, damit noch was für die anderen übrig bleibt. „Wir sind unterwegs ein paarmal von diesen Robotern angegriffen worden, die wie MI aussehen“, erklärt sie mir, als ich mich zu ihr und dem Kaiser an einen der Tische setze, „Und der Weg war lang, ich hab seit heute Früh keinen Bissen mehr zu Essen abbekommen.“ Premierministerin Claustra zieht dennoch eine Augenbraue hoch. Auf ihrem eigenen Teller ist nur Salat, womöglich muss die arme Frau auf ihre Linie achten. Sollte ich eigentlich auch, aber ich verlasse mich darauf, dass Gladio mein Training schon entsprechend anpasst. Da der Tisch nur Platz für acht Leute bietet winke ich Ignis, sich zu setzen und schicke die anderen beiden los, sich sinnvoll im Raum zu positionieren und eventuell andere Gäste zu unterhalten. „Ich entnehme deinen Worten, Aranea, dass diese Roboter nicht von imperialer Machart sind?“, frage ich vorsichtig. Aranea schluckt eine große Portion leidener Röstkartoffeln, aber da hat ihr Bruder schon das Wort ergriffen: „Wenn, wüssten wir nichts davon. Meine Männer haben einige der besiegten Maschinen untersucht, und zumindest einen Magitech-Kern scheinen sie nicht zu haben. Das verwendete Material erscheint mir eher lucischen Ursprungs, wenn mir die Anmaßung erlaubt ist.“ Ich winke ab. „Das hatte ich schon befürchtet“, gebe ich zu, „Diese Maschinen sind unter dem Wall, und wir bekommen immer neue Meldungen über Angriffe. Sie müssen irgendwo innerhalb fabriziert werden, nur weiß ich nicht, von wem.“ „Da ihr den Wall ansprecht, euer Majestät“, beginnt Premierministerin Claustra, „ich habe gehört, der Grund dafür sei die Sichtung eines Siechers?“ Ich warte mit der Antwort auf diese Frage ab, da gerade Ravus den Raum betritt, begleitet von einer Gesandtschaft aus Tenebrae. Prompto ist sofort zur Stelle, und es dauert nicht lange, bis König Ravus und Kanzler Populus an unserem Tisch Platz nehmen. „Entschuldigt die Verspätung“, bittet er, „Der Zug…“ „…funktioniert noch nicht, wie er sollte“, gebe ich zu, „Ich weiß. Wir hatten einige Probleme mit den neuen Gleisstrecken, die mir als geklärt gemeldet wurden. Das war wohl eine inkorrekte Information.“ „Uns wurden leider keine Details genannt, nur, dass es bald weitergeht. Wir standen fast eine Stunde.“ „Das tut mir Leid.“ Ravus scheint sich nichts daraus zu machen, er lächelt freundlicher als ich es je bei ihm gesehen habe. „Tja, die Technik“, meint Kaiser Kain locker, „damit haben wir auch ein ums andere Mal unsere liebe Not.“ „Um wieder auf die letzte Frage zurück zu kommen: Es ging um den Wall von Lucis. Und ja, ich fürchte, ich muss bestätigen, dass es zu einem Zusammentreffen mit etwas kam, was wir sicher als Siecher bezeichnen müssen.“ Ich sehe mich um, ob noch weitere Ohren auf uns gerichtet sind. Es ist laut im Raum, überall wird gesprochen und getratscht – meine leisen Worte werden den Tisch nicht verlassen. „Die Dunkelheit ist zurück, zumindest hier in Lucis. Unter den Menschen in den zerstörten Vierteln ist auch die Plage wieder ausgebrochen. Wenn die Kannagi ihre Kräfte noch nutzen kann, würde ich gerne darum bitten, dass sie sich dieser Menschen annimmt. Aktuell sind sie in einer Quarantänestation des Zentralkrankenhauses untergebracht, aber das ist kein Zustand, den ich lange halten möchte.“ „Natürlich“, meint Ravus und winkt einen seiner Diener heran. Der nickt und beeilt sich, aus dem Raum zu kommen. „Meine Schwester ruht noch in einem der Hotellzimmer, sie wird sich jedoch sofort auf den Weg zu den armen Menschen im Krankenhaus aufmachen. Ihre Kräfte hat sie noch inne, auch wenn bisher noch keine Notwendigkeit bestand, sie nutzen.“ „Es tut mir Leid, die Prinzessin damit behelligen zu müssen.“ „Schon gut, dafür haben die Götter sie ausgewählt.“ Das Leid der Menschen ist groß. Bisher dachten wir, die Menschen hätten sich in den Zeltstätten nur erkältet oder mit anderen weltlichen Erregern zu kämpfen, die in der Nässe und Kälte, und in der Nähe der Menschen in ihren provisorischen Lagern begründet lagen. Ich war schockiert, als man mich gestern ins Krankenhaus rief, noch mehr, als ich die Menschen hinter der Glaswand zu sehen bekam. Wunden, aus denen Dunkelheit trieft, Menschen, die dabei sind, sich in Miasma aufzulösen. Ein kleines Mädchen, das ihre Hände hilfesuchend an die Scheibe legt… ich habe meine Hand auf der anderen Seite über ihre gelegt und versprochen, nach der Kannagi zu schicken. „Wir haben die früheren Sicherheitsmaßnahmen beherzigt“, versichert mir die Premierministerin, „Aber in Accordo wurden bisher weder Siecher noch die Plage entdeckt.“ „In Tenebrae gab es auch keine Sichtungen“, stimmt Kanzler Populus ein. „In Niflheim ist gab es auch keine Übergriffe. Wir haben allerdings bewusst gesucht und in einer der alten Magitech-Fabriken ein paar schwache Siecher entdecken können. Wo diese herkamen konnten wir nicht feststellen, aber der Bereich wurde großflächig abgesperrt und bleibt jetzt beleuchtet. Die Anlage sah aus, als hätte es kürzlich einen Einbruch gegeben.“ „Das klingt nachvollziehbar“, mischt sich Ignis ein, „Diese neuen Magitech-Roboter sehen den uns bekannten sehr ähnlich, womöglich hat jemand nach Blaupausen gesucht und ist fündig geworden. Und wenn er auch die Energiekerne reproduzieren wollte… muss er irgendwo einen Weg gefunden haben, an Miasma zu kommen. Ich sage es nur ungern, aber die Obdachlosen aus den zerstörten Vierteln waren sicher leichte Opfer für Experimente.“ Ich fasse meine Gabel fester und bemühe ich, meinen Ärger nicht an dem toten Fisch auszulassen. Ich denke daran, wie ich am Angelsteg mit ihm gerungen habe und gewinne schnell wieder die Kontrolle über meinen Zorn. „Der Wall jedenfalls dürfte der Dunkelheit einen Dämpfer verpasst haben“, bin ich mir sicher, „Und er lässt auch nichts nach außen, was hier drinnen als Aggressor eingestuft wird.“ „Die anderen Reiche sind also sicher?“ „Soweit ich es sagen kann sollten sie das sein. Wenn jedoch außerhalb von Lucis die Dunkelheit ausbricht kann ich das nicht verhindern.“ „Und wenn euch etwas zustieße würde der Wall brechen“, ergänzt Ravus, was ich nicht auszusprechen wage. „Ich fürchte, dem ist so.“ „Ihr werdet die Grenzen von Lucis wohl auch eine Weile nicht mehr verlassen können, nehme ich an“, ergänzt die Premierministerin. „Auch das ist wahr. Ich suche aber bereits nach einer Möglichkeit, den Wall in Abwesenheit zu halten, damit meine Hochzeit mit Prinzessin Lunafreya wie geplant in Altissia stattfinden kann.“ „Nicht notwendig.“ Das Lächeln auf dem Gesicht der Premierministerin ist freundlich, fast wie das einer liebenden Großmutter. „Im Hafen des Galdin Kais liegt ein Schiff vor Anker, das unter Accordischer Flagge fährt. Ein großes Schiff, auf dem aktuell alles für eine große Feier vorbereitet wird. Ich dachte mir, da wir ohnehin schon alle so zusammen kommen, wäre es eine gute Gelegenheit, die Hochzeit gleich mitzubringen.“ Ich kann die Frau nur anstarren, die Worte fehlen mir. Ignis schmunzelt wissend, und auch sonst ist niemand am Tisch überrascht. „Ihr könnt euch nicht vorstellen wie schwer es war, all die Vorbereitungen zu treffen ohne dass einer von euch Verdacht schöpft“, gibt Ravus zu, und auch er scheint sich ein Lachen nur mit Mühe verkneifen zu können, „Gerade Lunafreya… sie nimmt an den Festlichkeiten hier nicht teil und hat wenig Bedarf an neuer Kleidung, da versuche mal einer, an die aktuellen Maße zu kommen, ohne Verdacht zu erregen.“ „Ich hatte es ja zum Glück etwas leichter“, schmunzelt Ignis, „Nur den Festzug hinunter zum Galdin Kai zu organisieren ohne dass etwas auffällt war eine Herausforderung.“ „Und wann genau…?“ „Direkt im Anschluss natürlich“, erlaubt sich Aranea zu verraten, „Wir wollen schon sehen, wie du die Prinzessin zur Königin machst.“ Sie zwinkert. Dass sie mich ganz unpolitisch mit ‚Du‘ anspricht scheinen alle am Tisch höflich zu ignorieren. Ich seufze tief, das ist nun doch etwas viel nach einer schlaflosen Nacht. „Die Überraschung ist euch jedenfalls gelungen“, gebe ich zu. „Dann war es die Mühe der Geheimhaltung doch Wert.“ „Da wir nun alle wieder bei etwas besserer Laune sind…“, beginnt Ravus erneut, „Es gibt da noch ein Thema, das ich gerne ansprechen würde. Und zwar verfolge ich auch die lucischen Nachrichten, und da kam ein Thema auf, das mein Interesse geweckt hat. Die Götter hätten einen neuen König gewählt?“ Ich nicke bedächtig und sehe mich noch einmal nach lauschenden Ohren um. „Da gibt es einiges, was ich nicht in den Zeitungen lesen will“, gestehe ich, „Wenn es möglich wäre, würde ich diese Unterhaltung gerne in ein privateres Umfeld verlegen.“ Die meisten von uns sind mit dem Essen fertig, ein guter Zeitpunkt also, die öffentliche Party zu verlassen und in den Besprechungssaal der Zitadelle zu verlegen. Gladio und Prompto stehen vor der Tür Wache, der Raum ist aber auch so gut isoliert für private Unterredungen unter Herrschern. Die Stille des Zimmers ist beinahe betäubend nach dem Lärm der Gespräche im Caelum Via. Ein Butler serviert Tee und Gebäck, dann verlässt er den Raum mit einer tiefen Verbeugung und lässt und allein. „Entschuldigt bitte die Notwendigkeit der Geheimhaltung, was ich Euch jetzt erzählen möchte, ist noch zu brisant, als dass ich riskieren möchte, dass Bruchstücke davon unkontrolliert die Runde machen.“ Ich nehme einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. Sieben Paar Augen sind direkt auf mich gerichtet. „Die Götter haben kurz nach meinem Tod einen neuen König gewählt, der den Thron übernehmen würde, sowie er gebraucht wird. Leider können sie diese Auswahl nur zum Zeitpunkt der Geburt treffen, und entsprechend jung ist dieser neue König nun. Er ist noch nicht bereit.“ „Dein Tod ist zehn Jahre her“, erinnert sich Ravus, „Das Kind also entsprechend jünger als das. Weißt du, wer es ist?“ „Ja. Er hat mich um meinen Schutz gebeten, kurz, bevor ich in diese Welt zurückkam. Deswegen stehe ich jetzt hier und nicht er. Dass ich zurückkehren konnte, verdanke ich einem treuen Freund, dass jedoch noch mehr Menschen aus der Welt der Toten zurückgebracht werden ist eine Gnade der Götter. Die neuen Probleme kamen schneller als der König erwachsen wurde, deshalb sind wir wieder hier. Der neue König wird aktuell auf seine zukünftigen Aufgaben vorbereitet, aber er soll noch so lange wie möglich Kind sein dürfen.“ „Das ist jedem zu wünschen, der mit einer solchen Aufgabe belegt wird“, stimmt Ravus zu. Ich sehe ihn direkt an, überlege, wie ich meine weiteren Worte wählen soll. „Es gibt in diesem Zusammenhang noch mehr, was Ihr wissen solltet. Und erst mal nur Ihr.“ Ich atme tief durch, weiß immer noch nicht, wie ich formulieren soll, was ich sagen muss. „Die Götter haben Lucis den Kristall anvertraut und ein Königsgeschlecht gewählt, dass ihn zu nutzen und zu schützen befähigt ist“, beginne ich schließlich, „Die Linie dieser Könige ging mit mir zu Ende. Soviel dürfte allen Anwesenden bekannt sein.“ „Der lucische König bezieht Magie aus dem Kristall, die er und die seinen nutzen können“, fügt Kain hinzu, „Und er kann sein Land mit einem magischen Wall schützen, sowohl vor der Dunkelheit selbst, als auch vor Feinden von außen. Durch die ganze Geschichte hinweg hat dieser Schutz in den anderen Reichen immer wieder für ein gewisses Maß an Neid gesorgt.“ Ich nicke, auch das ist korrekt. „Zu Unrecht, wie ich auf der anderen Seite erfahren habe. Der Kristall in Lucis ist nur einer von vieren, genaugenommen bezeichnen ihn die Götter als Kristall des Himmels. Die anderen Kristalle liegen inaktiv in der Welt verborgen. Der Kristall der Erde in Tenebrae, der des Wassers in Accordo und der Kristall des Feuers letztlich in Niflheim. Und jeder dieser Kristalle hat nun einen König, der ihn nutzen kann.“ In der Stille, die meinen Worten folgt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. Anders als ich war keiner der anwesenden Regenten darauf gefasst, so schnell das Zepter abgeben zu müssen. Zumal in zwei der Reiche nie ein König an der Macht war… „Ich gehe davon aus“, murmelt Kain, der sich als Erster gefasst hat, „Auch diese Könige sind noch Kinder?“ „Nicht älter als zehn Jahre, vermute ich.“ „Woran erkennen wir sie?“, fragt Camelia Claustra, „wissen diese Kinder, wer und was sie sind?“ Ich denke an Nyx und schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht. Sie werden die Kristalle finden, sobald ihre Macht gebraucht wird, ob sie bis dahin selbst bereit sind oder nicht. Ihr erkennt sie daran, dass sie Magie aus ihrer Umwelt ziehen und nutzen können, vielleicht führen sie Tricks wie diesen hier vor.“ Ich lasse einen kleinen Feuerzauber in meiner Hand tanzen und ernte zumindest von einigen der Anwesenden Erstaunen dafür. „Es sind einfache Kinder, vielleicht aus dem Adel, vielleicht sogar aus ganz simplen Verhältnissen. Sie werden sich erinnern, den Kristall berührt zu haben, haben dabei vielleicht eine Stimme gehört. Aber es sind Kinder… Kinder, denen eine große Verantwortung aufgebürdet wird. Ich wünsche mir… dass diese Kinder, so sie zu früh berufen werden, die Zeit bekommen, in Ruhe von euch allen zu lernen, bevor sie selbst regieren müssen. Sie werden Schutz und Führung brauchen um sich den Gefahren zu stellen, gegen die sie die Welt beschützen sollen.“ Nyx lernt fleißig in der Annahme, er würde der neue Hofmarschall werden. Ich habe ihn mehr als einmal in mein Büro eingeladen, ihm gezeigt, was ich dort mache. Er bekommt viel mit und hat gute Voraussetzungen, in Ruhe alles zu lernen, was er wissen muss. So eifrig wie er lernt scheint mir fast er wüsste selbst, wie wenig Zeit ihm dafür bleibt. Im Zimmer herrscht nachdenkliches Schweigen, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Claustra fasst sich als erste ein Herz. „Also ist unsere Aufgabe als heutige Regenten, der neuen Generation den Weg zu ebnen. Ich denke, in meinem Alter sollte ich ohnehin mal an die Pension denken…“ sie lacht kurz, es wirkt untypisch von ihr, „Aber der Gedanke, nochmal den Kindererzieher zu spielen… unser Reich hatte nie einen König. Es wird schwer sein, die Leute darauf umzustellen.“ „Accordo ist eine Demokratie, nicht wahr?“, überlegt Ravus, „Ich denke, der Posten des Premierministers kann in der Funktion als Berater des Königs gut erhalten bleiben. Die Stimme des Volkes am Ohr des Königs, sozusagen, wie es gerade in Tenebrae praktiziert wird. Ich für meinen Teil bin recht erfreut über die Nachricht, man liegt auch mir schon in den Ohren, wann denn Nachwuchs zu erwarten sei… ein bisschen schwierig, wenn man sich zu diesem Zweck eine jüngere Frau suchen müsste.“ „Ach, du bist doch gut erhalten, Ravus“, scherzt Aranea und klopft verspielt gegen dessen künstlichen Arm. „Ich denke dennoch, dass es nicht schaden wird, die Linie versanden zu lassen und auf den neuen König zu vertrauen, wie Noctis es tut. Wenn die Götter die Linie der Kannagi erhalten wollen, werden sie uns schon die Möglichkeit dazu bieten. Da Lunafreya und ich jedoch beide über lange Zeit tot waren und unsere Rückkehr unvorhergesehen gehe ich aber davon aus, dass auch die Kannagi, so nötig, aus einer neuen Linie gewählt werden würde.“ „Tatsächlich ist es vielmehr so, dass die neuen Könige selbst die Macht der Götter abrufen können, wie es zu unserer Zeit, und auch jetzt noch, die Kannagi tut. Mehr Sorgen macht mir, dass die Dunkelheit mit Ardyns Tod komplett hätte verschwunden sein sollen…“ „Die Menschen finden immer einen Weg, neue Dunkelheit zu beschwören“, philosophiert Kain, „Das letzte Mal ist sie ja auch irgendwo hergekommen.“ Er lehnt sich recht entspannt in seinem Stuhl zurück, nimmt einen Schluck Tee und blickt seufzend an die Decke. Aranea knabbert derweil nachdenklich auf einem der Kekse herum. „Ein König mit der Macht des Kristalls und dem Segen der Götter… sollte nicht schwer sein, das den Menschen als etwas Besseres als den Kaiser zu verkaufen. Niflheim sehnt sich nach etwas Neuem, einer Chance, mit der Schuld der Vergangenheit abzuschließen.“ „Die neuen Könige sollen eine neue Zeit des Friedens einleiten“, erkläre ich, „Sie werden Seite an Seite regieren, jeder über sein eigenes Reich, aber doch in Freundschaft zusammen.“ Eine Welt ohne Grenzen... Das war mein letzter Wunsch, als ich gestorben bin. Die Götter meinten, sie würden sich bemühen, es so einzurichten, aber die Menschen seien ‚schwierig‘ und man wolle kein zweites Solheim. Wir verlassen das Zimmer tief in Gedanken um uns noch ein wenig auf dem Vorhof der Zitadelle blicken zu lassen, wohin sich die Party nun verlagert hat. Ein bisschen Konversation hier, ein paar Beziehungen pflegen da, und das die ganze Zeit mit geradem Rücken und einem Lächeln. Ich bin so müde… aber ich finde einfach keine Gelegenheit mehr mich für ein kleines Nickerchen zu entschuldigen, ohne unhöflich zu sein. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Hände ich schon geschüttelt habe, sicher mehr, als Leute hier anwesend sind. Mein Arm fühlt sich taub an. Wie hat Vater das nur immer geschafft? Zum Glück versorgt Ignis mich heimlich mit frischem Kaffee, andernfalls wäre ich sicher längst umgekippt. Ebony... das Zeug trinkt auch nur er freiwillig, aber es hilft. Als der Mittag endlich in den späten Nachmittag übergeht fahren die teuren Schlitten vor, die uns zum Galdin Kai bringen sollen. Voraus fährt ein gepanzerter Wagen der Königsgarde, ich, Gladio und Prompto werden wieder von Ignis im Regalia gefahren. Cidney war so umsichtig den Wagen um optionalen Sichtschutz in den hinteren Fenstern zu ergänzen, den fahre ich jetzt hoch und kann endlich ein wenig schlafen. Ich hatte fast vergessen, wie bequem die Sitze in diesem Auto sind, wenn man nur lange genug unterwegs ist. Das Schiff, das am Galdin Kai auf uns wartet, ist nicht weniger als gigantisch. Ein prunkvoller Luxusliner, der ganze Stolz der accordischen Flotte. Die Werften, aus denen früher zahlreiche Kriegsschiffe gelaufen sind, scheinen ihre Kapazitäten nun besser zu nutzen – die ‚Lady of the Stars‘ ist ein großartiges Schiff und fast schon selbst eine eigene Stadt. Auch der Galdin Kai selbst ist gut auf unsere Ankunft vorbereitet. Bevor es aufs Schiff geht, werden am Pier Getränke gereicht, es gibt ein teuer angerichtetes Buffet und der ganze Ort ist voll von Menschen, die in Erwartung der Hochzeit angereist sind. Anscheinend wusste wirklich absolut jeder außer mir und Luna, dass und wann unsere Hochzeit hier gefeiert wird. Eine Eskorte in accordischen Ausgehuniformen führt uns sicher an dem Trubel vorbei und auf Deck. Meine erste Einschätzung war korrekt – die Lady ist mehr Stadt als Schiff. Keine Metropole wie Altissia, und zu mobil, um auf einer Karte verzeichnet zu sein, aber sicher eine der größeren Städte des Reiches. Auch hier ist alles aufwändig dekoriert und vorbereitet, aber bisher wurde nur wenigen privilegierten Menschen der Zutritt gewährt. Die Hauptstraße über das Deck ist mit roten Kordeln abgesperrt, und ich komme nicht umhin, wieder und wieder stehen zu bleiben um Hände zu schütteln und Grüße auszusprechen. So kommen wir nur langsam voran, haben aber dennoch wenig Gelegenheit, die herrliche Architektur zu bewundern, die hellen, modernen Häuser und Türme. Je weiter wir ins Innere gehen desto mehr entsteht der Eindruck einer echten Stadt, bis schließlich nur das leichte Schwanken der Straße unter meinen Füßen daran erinnert, dass wir uns noch auf dem Wasser befinden. Bald höre ich leise Glockenklänge, rhythmisch wie das Schwanken des Schiffes auf dem Meer. Eine Kirche kommt in Sicht, ein herrlicher Bau im alten accordischen Stil, und wäre sie nicht wie alles hier gänzlich aus Holz gebaut, könnte man fast erwarten, genau so eine Kirche auch in Altissia zu finden. Eine riesige Skulptur der Wassergöttin dominiert den Vorplatz, kunstvoll gewunden und verschlungen dass jeder, der darunter hindurch geht, ehrfürchtig zu ihr aufsehen muss. Auch vor der Kirche stehen zahlreiche Menschen. Ich straffe die Schultern und schreite aufrecht und stolz unter dem aus Holz gemeißelten Abbild Leviathans hindurch, lächle in die Blitze der tausend Kameras und betrete endlich die Kirche, in der meine Hochzeit stattfinden soll. Der Raum ist riesig. Ein herrliches Kirchenschiff, voll behängt mit teuren Bildern in goldenen Rahmen. Einfache Holzbänke reihen sich vor dem Altar, genug, um die Gäste des Gipfeltreffens und noch ein paar weitere Angehörige der höheren Bevölkerungsschichten unterzubringen, sowie ein paar Vertreter der Presse mit ihrem Equipment. Luna ist noch nicht da, aber hinter dem Altar wartet bereits ein milde lächelnder Priester auf mich. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, zumal ich die letzten Meter alleine gehen muss. Ignis als mein Trauzeuge ist noch halbwegs in der Nähe, ich kann seinen Blick in meinem Rücken spüren und fühle mich ein wenig sicherer. Prompto und Gladio nehmen in der ersten Reihe Platz. Wäre mein Vater am Leben, würde er dort bei ihnen sitzen… ich hätte es ihm gewünscht. Ich hätte es auch mir selbst gewünscht, dass er hier sein könnte. Ich bin nervös. Himmel bin ich nervös. Um mich abzulenken lasse ich meinen Blick über die goldgerahmten Bilder und die riesigen Wand- und Deckengemälde schweifen. Jeder der großen Götter ist auf mindestens einem davon zu sehen, aber keiner so oft wie Leviathan, Göttin des Wassers und Schutzheilige von Accordo. Trotz der Zerstörung, die ihr Erwachen in Altissia hinterlassen hat, genießt sie noch immer gewaltiges Ansehen unter den Leuten. Vielleicht auch gerade deshalb… Furcht lehrt die Menschen meist schneller, zu beten. Die Holzbänke füllen sich, als langsam aber sicher die hohen Gäste eintreffen, denen ein Platz im Kirchenschiff vergönnt ist. Viele müssen stehen. Ich lächle in die Kameras, die auf mich gerichtet sind, blicke aber immer wieder auf die Tür. Die Ankunft der Braut ist im Saal zu spüren, lange bevor etwas zu sehen ist. Plötzlich ist alles still. Das Rascheln von Kleidung, das Drängeln in den Bankreihen und dahinter verstummt und alle Aufmerksamkeit wendet sich Richtung Tür. Ich halte automatisch die Luft an, muss mich zwingen, langsam und gleichmäßig aus und wieder ein zu atmen. Die Orgel beginnt zu spielen, aber ich nehme die Töne kaum wahr. Ein Hochzeitsmarsch, vermute ich, aber ich kann es nicht sicher sagen, spüre nur die tiefen Töne, die die ganze Kirche in Vibration versetzen, in meinem Kopf widerhallen. Es ist laut. Dann, endlich, sehe ich sie. Lunafreya Nox Fleuret, meine Braut. Sie trägt ein langes weißes Kleid, extra für sie entworfen und geschneidert. Es ist nicht dasselbe, das ich vor zwanzig in Altissia ausgestellt gesehen habe; anscheinend hat Vivien Westwood es sich nicht nehmen lassen, ihr ein neues, besseres zu gestalten. Eines, das der neuen Zeit würdig ist. Ich habe Luna nicht mehr gesehen, seit sie in Altissia gestorben ist – nicht lebend, jedenfalls. Auf der anderen Seite waren wir die ganze Zeit zusammen, aber dort ist es… anders. Ich weiß nicht, wie Luna heute unter ihrem Schleier aussieht, aber ich bin sicher, sie ist wunderschön. Das ist sie immer. Weil Lunas Eltern beide tot sind ist es ihr Bruder Ravus, der sie zum Altar führt. Ich bin froh, dass er seine Abneigung gegen mich abgelegt hat. Luna hat stets darunter gelitten zu sehen, dass die zwei Menschen, die sie am meisten liebt, einander verfeindet sind. Aber dieser Krieg ist vorbei und jede Schuld, aller Hass vergessen. Ich bin gerne bereit, Ravus als meinen Bruder anzusehen. Ich schlucke trocken, als die beiden die Stufen zum Altar erreichen und meine Hände zittern, als Ravus mir seine Schwester übergibt. Mein Kopf ist komplett leer… ich bemühe mich, den salbungsvoll monotonen Wörtern des Priesters zu folgen, während Luna meine Hand hält, aber es fällt mir schwer. Ich wünschte, ich hätte das vorher mal üben können. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal bei einer Hochzeit dabei gewesen zu sein und habe nur eine wirklich vage Ahnung, was ich hier eigentlich tun soll. Zum Glück erwartet man keine große Rede von mir sondern nur ein einfaches ‚Ja, ich will‘. Soviel bekomme ich gerade noch zustande, sogar mit erstaunlich fester Stimme. Ich mag meine neu entdeckte Fähigkeit, sicher und selbstbewusst zu klingen, obwohl ich innerlich gerade vor Nervosität umkomme. Ohne sie wäre ich als König verloren. Auch Luna wiederholt die Worte, die der Priester ihr vorgibt, und auch ihre Stimme klingt sicher, als wüsste sie, was sie hier tut. Ihre Hand zittert in meiner und ich weiß, dass sie sich genauso fühlt wie ich. Genauso nervös, genauso überfordert und müde. Ein kleiner blonder Junge in niflheimer Kleidung trägt ein rotes Samtkissen zum Altar. Als wir die Ringe darauf entgegennehmen, um sie einander anzustecken fällt mir ein Barcode am Arm des Jungen auf. Er wirkt sehr nervös, aber ich kann nicht mehr tun als im zuzulächeln, bin zu sehr eingespannt in dieses Ritual. Die Ringe passen perfekt, auch da hat jemand gut recherchiert. Ich halte Lunas Hände in meinen und der Priester fordert mich auf, meine Braut zu küssen. Mit zitternden Händen hebe ich den Schleier von ihrem Gesicht. Luna ist älter als ich sie in Erinnerung habe, aber ihre blauen Augen sind noch genau wie bei unserem ersten Treffen: Tiefblau, klar und voller Sterne. Ich kann spüren, wie der Druck in meiner Brust nachlässt, als hätte etwas die ganze Zeit über mein Herz fest umschlossen und jetzt endlich losgelassen. Aufatmend lehne ich mich zu ihr hinunter. Es ist einfach, sie zu küssen, nach all der Anstrengung, bis hier her zu kommen und nach all der Nervosität sogar fast eine Erleichterung. Ihre Lippen sind zart, sie mit meinen zu berühren kommt mir nur zu natürlich vor. Die Menge jubelt, ich muss mich zusammenreißen, nicht erschrocken zurückzuweichen, als draußen Kanonenschüsse erklingen. Kein Angriff, sage ich mir, nur Triumphschüsse. Eine Feier, kein Krieg. Ich atme tief durch und halte weiter Lunas Hände fest. Die Veranstaltung ist noch nicht vorbei… nun geht es aus der Kirche hinaus, den ganzen Weg zurück auf Deck. Der Bug sieht aus wie ein riesiger Festplatz unter offenem Himmel, eine große Tanzfläche, kleine runde Tische und ein großes Buffet. Lichterketten und Laternen sorgen für das nötige Licht, als die Sonne langsam untergeht, und Luna und ich schreiten Hand in Hand auf die vielstöckige Torte zu, die Cactura für uns zubereitet hat. Ein Meisterwerk, fast zu schade zum Anschneiden, und doch tun wir nun genau das. Die Torte ist riesig, ein zehnstöckiger Turm aus lockerem Teig und erlesenen Beeren mit viel süßer Sahne. Zum Glück müssen wir nur den ersten Schnitt machen, denn auch so kommen wir kaum zum Luft holen bevor auch schon das Orchester zum Tanz ruft, den natürlich wir eröffnen sollen. Ich habe noch immer kein Wort mit Luna gewechselt, bin zum Umfallen müde und kann mich nicht im Mindesten erinnern, wann ich das letzte Mal getanzt habe und wie das eigentlich geht. Trotzdem gelingt es mir, irgendwie. Es ist wie beim Kämpfen – je weniger man darüber nachdenkt, desto besser schafft es dem Körper, seine bekannten Abläufe abzuspulen. Ich folge der Musik und lasse meine Füße einfach machen… als Kind habe ich oft mit Luna getanzt, sie kennt mich und meine Schwächen gut genug, nicht in Verlegenheit zu geraten. Fünf Lieder später ist es endlich so spät, dass Luna und ich uns entschuldigen können, um endlich, endlich das Hotelzimmer aufzusuchen, in dem wir unsere Hochzeitsnacht verbringen dürfen. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss und endlich… endlich sind wir allein. Ich muss mich zusammenreißen, nicht an Ort und Stelle umzufallen. Denn auch Luna gegenüber habe ich, leider, Verpflichtungen, die mich vom Schlafen abhalten sollten. Angenehme Verpflichtungen, eigentlich, aber trotzdem… ich will nur einfach schlafen. Dringend. „Ist es… wäre es sehr schlimm, wenn wir heute nicht mehr…?“, versuche ich zu kommunizieren. Luna lächelt wissend und legt mir einen Finger auf die Lippen. „Du bist auch zu müde, was?“, flüstert sie und lehnt sich an meine Brust, „Ist schon in Ordnung, ich will auch einfach nur schlafen. Bei dir, nicht unbedingt mit dir, wenn du verstehst.“ Ich kann sehen, dass sie ein Gähnen unterdrückt, auch, wenn sie es sehr geschickt anstellt. „Nur um eines muss ich dich noch bitten…“ Ich nicke, auch wenn ich kaum verhindern kann, dass mir die Augen zufallen. Ich weiß längst nicht mehr, ob ich Luna umarme, um sie zu halten, oder, damit ich nicht selbst umfalle. Lunas Wärme in meinen Armen fühlt sich gut an, am liebsten würde ich ewig so stehen. Aber in dieser Welt… in der Welt der Lebenden ist es nicht so einfach. Ständig muss man hier gegen die Schwerkraft ankämpfen, und die Zeit läuft auch beständig weiter. Auf der anderen Seite war es einfacher. Dort konnte ich einfach nur da sein, mit Luna an meiner Seite, und musste gar nichts tun. „Hilfst du mir noch aus dem Kleid?“ Lunas Frage weckt mich aus dem Sekundenschlaf. Ich sehe in ihr Gesicht und brauche einen Moment, um die Bitte zu verarbeiten. Aber natürlich… auch Luna trägt Kleidung, die sie unmöglich alleine an- und ausziehen kann. Ich nicke und muss loslassen, damit sie sich umdrehen kann. „Ich werde mit meinem Mantel auch Hilfe brauchen“, nuschle ich und versuche, genug wache Gehirnmasse in Bewegung zu bringen um mit dem Durcheinander an Seidenbändern und Verschlüssen klarzukommen. Wer immer das Korsett erfunden hat gehört definitiv eingesperrt… oder selbst in eines verschnürt. Irgendwie schaffe ich es, die Knoten zu lösen und das ganze System aufzudröseln, bis das Hochzeitskleid zu Boden fällt. Der Anblick meiner Königin in nichts als ihrer Unterwäsche ist sehr angenehm… sie ist immer noch unglaublich schön. Und ich bin immer noch zu müde, um dem Reiz zu folgen. Schlafen… schlafen ist wichtiger als Sex. „Komm her, Noctis“, schnurrt Luna und dreht sich wieder um. Bevor ich noch verstehe, in welche Richtung und wie weit, hat sie auch schon ihre Hände auf meine Schultern gelegt und macht sich an den Verschlüssen zu schaffen, mit denen Ignis heute Morgen zu kämpfen hatte. Sie schaffte es, den Mantel zu lösen, und ich fühle mich, als würde ein halber Berg von meinen Schultern fallen. Ich hatte zuletzt kaum noch gemerkt, wie schwer meine Kleidung eigentlich war. Luna nimmt mir noch die Jacke ab und ich steige aus meiner Hose, bevor ich meine Braut wieder umarme. So müde… und der Weg zum Bett ist so weit. „Ich weiß nicht, ob ich es noch bis ins Bett schaffe“, gebe ich zu, „Der Boden sieht auch bequem aus…“ Luna kichert. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal so ungehalten lachen gesehen habe. Oder ob überhaupt je. „Es sind nur zwei Meter, Schatz“, flüstert sie mir zu, „Komm, das schaffen wir noch.“ Ich brumme ergeben, erlaube ihr aber, mich zum Bett zu ziehen. Die Matratze ist herrlich weich und luxuriös… ich könnte mich einfach fallen lassen und direkt einschlafen. Trotzdem raffe ich mich nochmal auf, vernünftig unter die Decke zu kriechen. Luna folgt mir und schmiegt sich an mich. Ich schaffe es gerade noch, den Arm um sie zu legen, da bin ich auch schon weg. Der lange Tag ist endlich zu Ende. Kapitel 21: Auf geht's! (Prompto Argentum) ------------------------------------------ „Auf geht’s!“, juble ich. Es ist herrliches Wetter unter dem Wall, die Sonne scheint, der Regalia glänzt, und auf dem Vorplatz der Zitadelle herrscht das absolute Chaos. Jeder ist in Bewegung, Gepäck muss verladen, die Route geplant und die Sitzordnung diskutiert werden. Ich bin längst fertig damit, alle Autos nochmal abschließend durchzuprüfen. Es sind viel zu viele für meinen Geschmack, aber diesmal ist Noct der König und ganz offiziell unterwegs, da geht es nicht ohne Leibgarde und Fahnenträger. Trotzdem… im Regalia fahren nur wir vier, das zumindest ist wie früher. Und ich kann nicht anders, als aufgeregt herumzuhüpfen. „Sicher, dass du den Star of Lucis fahren willst?“, höre ich Noct fragen. Er wirkt sehr unsicher dabei, als er Luna die Schüssel des Audis in die Hand drückt. „Ja, ganz sicher“, entgegnet Luna lächelnd und hält seine Hand etwas länger als nötig, „Es ist ja auch nicht das erste Mal.“ Sie zwinkert, und Noct lässt zu, dass sie auf den Fahrersitz steigt. „Talcott kann ja übernehmen, wenn du es dir anders überlegst“, ruft er ihr dennoch hinterher. Iris diskutiert derweil mit Nyx und Crowe, dass und warum beide mit ihr hinten sitzen müssen, wo doch Talcott gar nicht so unbedingt vorne sitzen müsste weil er eh schon mal draußen gefahren ist und überhaupt und sowieso und Tante Iris du bist GEMEIN! Ich kann die Kinder gut verstehen und mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich mich in den Beifahrersitz des Regalia fallen lasse. Vorne ist es eben einfach am schönsten. „Roadtripp, Roadtripp!“, singe ich, „Wir fahren durch die Welt~“ „Na, da hat ja einer gute Laune!“, brummt Gladio und wirft gefühlt zehn dicke Pakete mit Campingausrüstung in den Kofferraum, „Hast du sonst nichts zu tun?“ „Bin fertig!“, rufe ich und salutiere, während ich mich gleichzeitig über die Lehne meines Sitzes beuge, um Gladio auch sehen zu können, „Die Autos sind top in Schuss, frisch poliert und voll betankt. Meine Ausrüstung ist auch sauber und vollständig, Munition hab ich dabei und die Koffer sind gepackt.“ Gladio verdreht die Augen und seufzt tief. So langsam findet jeder seinen Platz, ein Kofferraum nach dem anderen fällt lautstark ins Schloss und die Menschen sortieren sich in die verschiedenen Autos. Ignis hat zum Star of Lucis aufgeschlossen und spricht ein Machtwort, schon ist auch diese Diskussion beendet und die Kinder krabbeln brav in ihre Sitze. Gladio stopft noch ein paar Säcke voller Lebensmittel in den Regalia und schon ist auch unser Kofferraum voll und zu. „Auf geht’s, los, los los!“ juble ich, als die anderen endlich auch kommen. „Erinnert mich nochmal jemand dran, warum wir diese Nervensäge so verzweifelt gesucht haben?“, knurrt Gladio und schubst mich grob in meinen Sitz zurück, bevor er sich in den hinter mir fallen lässt. Die Worte tun weh, aber ich halte mich an das Positive darin: „Ihr habt mich wirklich gesucht?“ „Natürlich, was denkst du denn?“, entgegnet Noctis locker und lässt sich ebenfalls auf die Rückbank fallen, „dass wir dich einfach so vergessen?“ Mir kommen fast die Tränen vor Rührung. Noct hält mir die geschlossene Faust hin und ich schlage mit meiner dagegen. „Wir sind doch ein Team, richtig? Wir alle vier.“ „Jaaa~ und wir fahren wieder durch ganz Lucis!“ „Setz dich hin, Prompto, wir fahren los“, meint Ignis nüchtern und ich rutsche gehorsam in meinen Sitz zurück. Motoren starten, die Kolonne setzt sich in Bewegung. Vor uns fährt ein gepanzerter Wagen der Königsgarde, hinter uns der Star of Lucis gefolgt von einem großen Versorgungswagen. Das Schlusslicht bildet ein weiterer gepanzerter Wagen der Garde. Ich lasse mich von der Eskorte nicht ablenken, drehe das Radio auf und schieße ein paar Fotos. „Für alle, die es nicht so recht mitbekommen haben“, brummt Ignis gereizt, „In den letzten Jahren wurde etwas erfunden, was sich ‚Sitzgurt‘ nennt. Also schnallt euch bitte an.“ „Ja Mama“, erwidern Noct und ich fast gleichzeitig. Der Sitzgurt ist jetzt keine SO neue Erfindung, wurde aber in älteren Autos wie dem Regalia erst neuerdings pflichtgemäß nachgerüstet. Mich nervt es, so festgeschnallt zu sitzen, und ich fädle zumindest meinen Arm bald wieder aus, um mich frei bewegen zu können. Bisschen schwierig, sonst Fotos von den Jungs auf der Rückbank zu machen. Noct grinst, auch er ist nicht wirklich angeschnallt und lehnt sich weit nach vorne. „Hab dich vermisst“, flüstert er mir zu, „Und ich war nicht der Einzige.“ Er hält die Hand hoch, und ich schlage grinsend ein. Noch bevor ich mich wieder richtig hinsetzen kann macht das Auto einen gefährlichen Schlenker und ich lande beinahe auf Ignis‘ Schoß, was ihn zu einem sehr untypischen Fluch verleitet. „Sorry!“, piepse ich und krabble zurück unter meinen Gurt. „Was war das denn?“, beschwert sich Noct von hinten, der wohl auch nur noch im Auto sitzt, weil Gladio ihn gepackt und zurückgezogen hat. „Hinsetzen“, befiehlt Ignis erneut, „Anschnallen. Klappe halten. Die Straße hat mehr Löcher als Teer und ich würde mich gern konzentrieren, wenn das irgendwie möglich wäre.“ „Whoa, was hast du denn gefrühstückt?“, entfährt es mir. Ignis sieht richtig wütend aus… so hab ich ihn noch nie erlebt. Ich halte mich an der Tür fest, während der Wagen zwischen noch ein paar Löchern hindurchfädelt und in ein oder zwei tatsächlich hineinstolpert. Die Fahrt ist ruckelig… Unrecht hat er ja nicht. „Kanns sein, dass du irgendwie mies drauf bist?“, fragt Noct und lehnt sich wieder nach vorne, beide Hände auf Iggy’s Sitz gestützt, „Was ist los?“ „Setzt dich, Noctis. Und anschnallen.“ „Jaja.“ „‘Jaja‘ heißt ‚leck mich am Arsch‘“, wendet Gladio ein, „Und jetzt setz dich, Noct.“ Noct verdreht die Augen und setzt sich mit verschränkten Armen wieder hin. Ich drehe mich um und zücke die Kamera, woraufhin er lachend die Hand vors Gesicht hebt. Ignis bremst scharf und ich falle wieder fast aus dem Sitz, kann mich aber noch halten, auch, als die Fahrt plötzlich weiter geht. Der Star of Lucis hat inzwischen einiges an Abstand hinter uns, anscheinend fährt Luna eher vorsichtig. Gladio lehnt sich zu Noct herüber und schiebt ihn mit sanfter Gewalt auf seinen Platz, bis er den Gurt schließen kann. „Und jetzt bleib so!“ „Spielverderber.“ „Du auch, Prompto, oder ich komm nach vorn!“ „Wäh, Gladdi ist schon wieder gemein zu mir!“ „Jetzt setzt euch verdammt nochmal einfach hin und haltet die Klappe!“ Ignis Ausbruch verwirrt mich so sehr, dass ich tatsächlich gehorche. Einen Momentlang sitzen wir alle ganz still und tun nichts, außer die regelmäßigen Ruckler der Straße auszubalancieren und zu warten, bis Ignis wieder ausatmet. Es dauert besorgniserregend lang. „Tut mir Leid“, seufzt er schließlich, „Ich habe einfach etwas Kopfweh, fürchte ich…“ „Wir haben Heiltränke“, erinnert Noct. „So schlimm ist es nicht“, wehrt Ignis ab, „Ich hab nur nicht sehr gut geschlafen, weil Nyx so aufgeregt war… ich brauche nur etwas Ruhe. Tut mir Leid, dass ich euch den Spaß verderbe.“ Er wirkt tatsächlich ziemlich geknickt, und mir tut Leid, dass ich ihn so nerve. „Wir sind wohl alle etwas zu aufgedreht, was?“. Murmelt Gladio, als wollte er mir einen Teil der Schuld abnehmen. „Halt an, Ignis“, befiehlt Noct schlicht. Ignis zieht rechts ran und die anderen Autos folgen seinem Beispiel. „Alles in Ordnung?“, fragt einer der Garden aus dem vordersten Wagen. „Ja, nur ein Fahrerwechsel“, entgegnet Noct, steigt aus und klopft Ignis auf die Schulter, „Ich will selbst ans Steuer.“ Der Garde steigt wieder ein und Noct beugt sich lächelnd zu Ignis. „Lass mich fahren“, höre ich ihn flüstern, „Und du ruhst dich hinten aus, okay?“ Ignis nickt dankbar und zieht sich auf den Rücksitz zurück. Noct schnallt sich an, stellt sich Sitz und Spiegel zurecht und grinst mir zu. Noct verlangt nicht, dass wir uns anschnallen, aber bei seiner Fahrweise achte sogar ich freiwillig darauf, mich zu sichern und den Gurt nur dann zu lösen, wenn ich es mir sicher leisten kann. Zumindest ein Foto von Ignis auf der Rückbank brauche ich aber unbedingt. Er lächelt etwas verlegen, blickt aber tatsächlich in die Kamera, statt mich zu rügen. Schlafen kann er wohl selbst auf der Rückbank nicht, aber immerhin muss er sich dort nicht mehr so konzentrieren. „Die Straße hat echt mehr Löcher als Schweizer Käse…“, grummelt Noct. Er fährt ähnlich langsam wie Luna, beide Hände am Lenkrad und die Augen fest auf die Reste der Hauptstraße gerichtet, trotzdem ruckelt der Regalia so heftig, dass ich mich brav wieder anschnalle. Mir fällt ein, dass der Ersatzreifen ganz unten im Kofferraum liegt, wir also im Fall der Fälle alles Gepäck ausladen müssten, um dran zu kommen… Aber die Umgehungsstraßen sind in noch mieserem Zustand als die Hauptstraße. Vielleicht hätte ich Cidney doch fragen sollen, ob sie den Regalia in ein Offroad-Modell umbauen kann. Noct hätte sicher nichts dagegen gehabt, und Pläne dafür hat sie definitiv in ihrer Werkstatt. „Es wird Zeit, dass hier mal was gemacht wird“, stimmt Gladio zu, „Die Straße sieht ja nicht seit gestern erst so aus.“ „Naja, aber die Wohnviertel sind ja jetzt schon wieder ganz okay, oder?“, wende ich ein, „Das ist das Wichtigste. Und die Straßen zu restaurieren, bevor die U-Bahn fertig ist, ist wenig sinnvoll… am Ende stürzt was ein und wir müssen alles doppelt machen.“ „Das wäre in der Tat ärgerlich“, stimmt Ignis mir zu. Er wirkt immer noch müde, aber schon um einiges entspannter als vorhin. Ich atme auf, als wir endlich über die Brücke sind. Hammerhead ist Insomnia um einiges voraus, was den Wiederaufbau angeht, Cidney und Takka haben einige Durchreisende zur Arbeit eingespannt und sich selbst darum gekümmert, den Ort und seine vormals einzige Straße vom Jägerstützpunkt wieder zu einem sauberen Rastplatz zu machen. Viele Menschen sind dort hängen geblieben, haben Häuser und Läden gebaut und inzwischen ist aus dem einfachen Autohof ein richtiges Dorf geworden. Sogar ein kleines Motel gibt es jetzt, eine Ladenpassage, Häuser und Gärten. Takkas Imbiss ist jedoch immer noch Konkurrenzlos und der alte Hammerhai thront noch immer stolz über den Dächern. In ewigem Gedenken an den alten Dickkopf, der hier vor fast einem dreiviertel Jahrhundert seine Wurzeln geschlagen hat wie eine Eiche. Es fühlt sich immer noch komisch an den Liegestuhl vor der Werkstatt leer zu sehen. „Schade dass Cid letztes Jahr gestorben ist“, meint Ignis leise, „Er hätte es nie zugegeben, aber er hätte Noct sicher gerne wiedergesehen.“ „Wir sind uns begegnet“, gesteht Noct, seine Stimme kaum lauter als ein Flüstern, „Hat gemeint, er wollte die Hundert eigentlich noch voll machen, aber er würde hier nicht mehr gebraucht. Hat eh all seine alten Freunde überlebt mit seinen sechsundneunzig Jahren.“ „Ihr habt gesprochen?“, frage ich neugierig. Noct legt nachdenklich den Kopf schief. „Sprechen ist zu viel gesagt… es ist schwer zu beschreiben. Mehr ein Austausch von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen.“ Er zuckt die Schultern, parkt den Regalia neben den Zapfsäulen und steigt aus, um Luna, die hinter ihm eingeparkt hat, die Tür zu öffnen. Sie lässt sich gern aus dem Wagen helfen und er küsst ihr die Hand. Die beiden sind ein süßes Pärchen… „Mach hin Prompto, der letzte tankt den Wagen!“, ruft Gladio, der natürlich auch schon ausgestiegen ist. Ich schimpfe überrascht, will aufspringen und verheddere mich prompt in meinem Gurt. Es dauert eine Weile, bis ich mich unter dem Gelächter der Umstehenden befreit habe und aus der Tür klettern kann. Ich drehe mich resigniert zur Zapfsäule um, aber ich bin doch nicht der Letzte – Ignis ist einfach sitzen geblieben und hat gewartet. Jetzt steht er ganz eloquent und gelassen auf und greift nach dem Zapfhahn. „Ich schulde dir was, Mann“, murmle ich ihm im Vorbeigehen zu, als ich den anderen zur Werkstatt folge. Ignis lächelt nur. „Nicht der Rede wert.“ Ich schließe eilig zu Noct auf, der vor das große Rolltor getreten ist und in die Dunkelheit der Werkstatt blickt. „Oi, Cidney!“, ruft er, und drinnen fällt etwas um. Nur leere Kartons, hoffe ich, aber trotz aller Ankündigung scheint Cidney reichlich überrascht von unserer pünktlichen Ankunft. „Sorry, völlig verplant…“, entschuldigt sie sich und klopft sich die Hände an der Kleidung sauber bevor sie sie Noct zum Gruß reicht. „Schwangerschaftsdemenz.“ Noct blickt selbst reichlich verwirrt drein, greift aber die angebotene Hand ungeachtet des Drecks, der hartnäckig daran festklebt. „Freut mich, dich wiederzusehen, Cidney.“ „Mich auch, hatte ja nun nicht mehr damit gerechnet, hier nochmal königlichen Besuch zu empfangen.“ Cidney schielt nach dem Regalia, der schon von der vergleichsweise kurzen Fahrt hierher reichlich mitgenommen aussieht. „Einmal warten und waschen, nehme ich an? Oder darf’s auch noch ne neue Lackierung sein?“ „Kommt auf die Farben an, die du hast“, entgegnet Noct, „Schwarz wäre angebracht, eventuell mit goldenen Verzierungen… das Königswappen in Gold oder Silber käme gut. Ansonsten, ja, warten und waschen mit Politur für alle fünf Wägen, mit besonderem Augenmerk auf dem Regalia und dem Star of Lucis. Den kennst du, glaube ich, noch gar nicht, oder?“ Tatsächlich bekommt Cidney große Augen beim Anblick des Audis, natürlich gefällt ihr das edle Modell. Wenn ich gewusst hätte, was Ignis da in seiner Garage versteckt, hätte ich ihn eher mal hierher gefahren, allein wegen der Beifahrertür. Aber so ist es auch eine schöne Überraschung. Dass Cidney mir nur im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange drückt bevor sie sich an die Arbeit macht stört mich erstaunlich wenig. Ich hatte ja erst zwei schöne Wochen mit ihr hier in der Werkstatt. Inzwischen hat sie schon ein sichtbares Bäuchlein, gut versteckt unter einem Pullover, der gerade um so viel zu groß ist, dass er beide Schultern und den Ausschnitt frei lässt, dafür aber die Hose fast vollständig verdeckt. Sie sieht toll aus, wie sie sich über den schmutzigen Audi beugt… „Hey Prompto, schraub deine Augen wieder rein, bevor’s Hirn rausfällt!“, warnt Gladio und schubst mich, dass ich beinahe im Dreck lande. „Was denn?!“, beschwere ich mich, und schubse ergebnislos zurück. Gladio lacht und ringt mich nieder, dass ich nur hilflos zappeln kann. „Das ist gemein, ich hab gar nichts gemacht.“ „Prompto ist verlie~bt!“ Singt Crowe und hilft ihrem Vater, indem sie mich am Bauch kitzelt. Ich krümme mich um Hilfe schreiend und zapple, einigermaßen darauf bedacht, das Mädchen nicht aus Versehen zu treffen. „Lasst Onkel Prompto in Ruhe, ihr seid gemein!“, rettet mich Nyx. Der Kleine ist selbst erst acht und viel zu leicht, um etwas auszurichten, nur weil er sich an Gladios Arm hängt, aber der große Mann lässt tatsächlich los und lässt sich von den Kindern zu Boden werfen. Ich mache mich eilig aus dem Staub, bevor wieder ich zum Ziel werde. Noct klopft mir lachend auf die Schulter und führt mich zu den Tischen, die Takka vor seinem Imbiss in der Sonne aufgebaut hat. „Wir haben ein paar Stunden, bis ich in der Ladenstraße meine Ansprache halten muss“, meint er, „Die Zeit sollten wir nutzen um uns ein wenig vollzufressen. Also… Irgendwas Neues in Takkas Menü, was ich unbedingt probieren sollte?“ Ich grinse breit. „Warst du noch da, als er sein Catblepus-Menü zusammengestellt hat? Steak direkt vom Grill, mit Soße, Röstkartoffeln und Zwiebeln. Mehr Kalorien als ich mir normal erlauben würde, aber das muss man mindestens einmal gegessen haben.“ Noct blickt mich abschätzend an und einen Moment fühle ich mich unangenehm ertappt. „Heute kannst du es dir erlauben“, meint er schlicht und schiebt mich in einen Stuhl, bevor er sich selbst setzt, „Du hast locker noch zehn Kilo gut bis du wieder ein gesundes Gewicht hast.“ „Ungefähr so viel hat das Steak…“, murmle ich leise und blicke betreten auf meine Arme. Ich weiß, dass ich dünn bin, zu dünn vielleicht, aber ich habe echt Angst, wieder dick und unsportlich zu werden. Ich bin nicht von Natur aus so cool und gutaussehend wie Noct, Gladio und Ignis… ich will auf keinen Fall hinter den anderen zurückbleiben. Trotzdem lasse ich zu, dass Gladio mir kommentarlos einen großen Becher Cola hinstellt und nippe sogar daran. Natürlich hat er wieder vergessen, dass ich nur Dietcoke trinke… Zu viert bestellen wir nicht nur das Steak, sondern gleich die ganze Catblepus-Platte – genug um eine ganze Armee zu füttern, aber bei Gladios Appetit reicht es tatsächlich gerade so für uns vier. Für Iris und die Kinder hat Takka sogar extra Pommes in die Fritteuse geworfen. Der Mann weiß, wie man sich beliebt macht. „Noct, hör auf das Gemüse zu Prompto zu schieben!“, mahnt Ignis und Noct hält ertappt inne, „Und Prompto, bestätige ihn nicht auch noch, indem du ihm dein Fleisch zuschiebst. Das bisschen Steak macht dich nicht dick, ihr werdet mir noch beide krank wenn ihr so weitermacht.“ Ich senke betreten den Blick und kaue brav die Portion Fleisch, die er mir vorschreibt. Ich weiß, dass ich eher zu- als abnehmen sollte, aber… es fällt mir einfach immer noch zu schwer. Gerade jetzt. Hilfesuchend blicke ich zu Noct, aber der bekommt davon nichts mit. Er starrt gerade ein Stück Brokkoli auf seiner Gabel an, das er, unter Ignis strengem Blick, zwangsläufig in den Mund nehmen muss. Bis zuletzt scheint er zu hoffen dass Ignis doch noch lange genug blinzelt, um das Gemüse anderweitig loszuwerden, aber so viel Glück hat er dann doch nicht. Sein angewiderter Blick, während er das Grünzeug kaut und schließlich schluckt ist Gold wert. Ignis hält mich gemeinerweise davon ab, die Kamera zu heben, aber er hat ja auch Recht, das wäre unfair. „Wie lange bleiben wir jetzt eigentlich nochmal in Hammerhead?“, frage ich arglos und verschaffe Noct damit die zwei Sekunden Ablenkung die er braucht, das restliche Gemüse verschwinden zu lassen. Ich kann Umbra unter dem Tisch fleißig schmatzen hören… so sehr Noct immer betont, dass die Emissäre der Götter mit Respekt zu behandeln sind, in solchen Situationen behandelt auch er sie wie einfache Hunde. Umbra scheint es nicht zu stören, er findet den Brokkoli wohl ganz okay. „Zwei Tage müssen reichen“, meint Ignis mit einem Blick in seinen Kalender, „In der Zeit sollte Cidney auch bequem mit den Autos fertig werden, wenn du sie nicht zu sehr ablenkst.“ „Aber wenn ich ihr helfen würde könnte ich die restliche Zeit nutzen?“ „Bitte keine Details vor den Kindern“, mahnt Gladio. Seine Sorge ist jedoch grundlos, Nyx und Crowe sind viel zu beschäftigt damit, die längsten Pommes zu finden, als dass sie sich auch nur im Geringsten für unsere Unterhaltung interessieren würden. Luna wirkt hervorragend unterhalten. Ihr wirft niemand Essstörungen vor, weil sie nur einen Salat bestellt hat… Iris drückt sich derweil einen riesigen Hamburger rein, mir schleierhaft, wo sie den wieder hin packt. Fünfunddreißig ist sie jetzt, sieht aber aus wie Mitte zwanzig und hat absolute Modellmaße. Gute Gene eben, wie fast alle Adligen. Noct stößt mich an und ich brauche einen Moment, um mich wieder zu orientieren. „Alles okay, Prompto?“, fragt er. „Äh ja, was sollte denn nicht okay sein?“ Noct sieht mich direkt an. Ich kenne diesen Blick… als würden seine schmalen Augen direkt in mein Herz sehen. Wie früher… ich seufze tief. „Tut mir Leid. Ich… kann ich nachher mit dir allein reden?“ Ich sehe Noct direkt in die Augen und versuche seinem Blick standzuhalten. „Okay“, sagt er schließlich und wendet sich wieder seinem Essen zu. Ich nehme noch einen Schluck zuckriger Cola und konzentriere mich wieder auf meinen Teller, bemüht, Ignis‘ Wünschen zu genügen und dabei nicht an die Kalorien zu denken. Als der Teller endlich geleert ist verziehe ich mich eilig auf die Toilette. Nicht, um mich zu übergeben, wie Ignis vielleicht befürchtet – ich bin nicht dumm und ich habe keine Essstörung. Okay, letzteres vielleicht schon, aber so schlimm wie die anderen denken ist es eigentlich nicht. Dass ich so abgenommen habe hat andere Gründe. Es fällt mir nur schwer, bewusst wieder zuzunehmen. Und, ja, ich hab eine gestörte Selbstwahrnehmung. Noct hat Recht, zehn Kilo mehr kann ich locker vertragen, aber ich sehe jetzt schon die ersten Fettpolster an meinem Körper und fühle mich schrecklich damit. Ich weiß das, und ich kämpfe dagegen. Es ist nur an manchen Tagen schwerer als an anderen. Alles ist an manchen Tagen schwerer als an anderen. „Prompto?“ Nocts Stimme ist besorgt. Ich stemme beide Hände auf das Waschbecken und bemühe mich, den Mann im Spiegel so zu sehen, wie er ist. Es ist schwer… aber als Noct seine Hand auf meine Schulter legt, wird es leichter. Ihm habe ich erzählt, dass ich in Therapie bin. Dass ich Tabletten nehmen muss, um nicht nach jedem glücklichen Moment sofort in ein tiefes Loch zu stürzen. Noct musste ich es sagen… er musste es wissen um zu entscheiden, ob ich trotzdem mitfahren darf. In meinem Zustand könnte ich eine Gefahr für das Team sein, oder für mich selbst. Noct hat mich trotzdem mitgenommen. „Ich bin wirklich zu dünn, was?“, meine ich bemüht locker, die Augen immer noch auf mein und Nocts Bild im Spiegel gerichtet. Noct nickt nur und legt die Arme um mich. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu weinen. „Ist schon okay“, meint Noct schließlich, „Du siehst jeden Tag ein wenig besser aus. Ignis sorgt schon dafür, dass wir alle fit und gesund bleiben… vertrau ihm einfach, ja? Er weiß, was er tut.“ Ich nicke. Ignis hat mich oft bekocht in den letzten Jahren, er hat genau im Blick, wie viel jeder in seiner Umgebung braucht. Ohne ihn wäre ich sicher verhungert… und die Aufbaukost, die er mir nach meiner Rückkehr in der Zitadelle jeden Tag extra gekocht hat, konnte ich auch gut essen. „Ich hab wohl gerade einfach… ich bin gerade einfach ein bisschen abgestürzt. Tut mir Leid…“ „Bitte, entschuldige dich nicht.“ „Tut mir Leid…“ Noct lacht. Mir schießt das Blut in den Kopf, ich kann im Spiegel direkt sehen, wie rot ich werde. „Ach Prompto…“ Noct vergräbt das Gesicht in meiner Schulter und lacht noch ein bisschen weiter. Es tut irgendwie gut wie gelassen er mit mir umgeht. „Deine Tabletten nimmst du?“, fragt er. „Ja. Jeden Morgen, wie der Arzt gesagt hat.“ „Gut. Das ist gut.“ „Tut mir Leid, dass ich nicht mehr tun kann.“ „Man wird nicht schneller gesund nur weil man sich mehr anstrengt, Prompto. Ruf nachher deinen Therapeuten an und red nochmal mit ihm, ja? Und wenn du ihn nicht erreichen kannst, red mit mir. Ich bin für dich da und hör zu wenn du dir Sorgen machst.“ „Ich weiß. Das hast du immer.“ Noct fast mich an den Schultern und dreht mich zu sich herum, dass ich ihm endlich direkt ins Gesicht sehe. Jetzt fällt es mir wesentlich leichter, seinem Blick standzuhalten. „Verzeih mir, dass ich dich so lange allein gelassen habe, Prompto.“ Nun muss ich doch etwas grinsen. „Ach was…“ Mir fällt viel ein, was ich darauf sagen könnte, zu viel, eigentlich, aber letztendlich sind mir die richtigen Worte klar. „Verzeihst du mir, dass ich nicht da war, als du zurückgekommen bist?“ Noct grinst, es sieht genauso zerknautscht aus wie meines sich anfühlt. „Das überleg ich mir noch“, scherzt er und klopft mir auf die Schulter. „Komm, gehen wir zurück bevor noch alberne Gerüchte aufkommen.“ Ich muss lachen. Es fühlt sich seltsam an im ersten Moment, aber ich bin glücklich. Irgendwann wird das wieder zur Normalität werden… ich hatte immer Dinge, die mir Sorgen machen, Ängste, Komplexe, was auch immer. Jetzt sind die Probleme größer, aber das macht sie nicht realer oder schlimmer – im Gegenteil, vieles, was mir früher Sorgen gemacht hat, hat sich inzwischen als belanglos erwiesen. Ich bin ein Mensch. Ich habe Freunde. Ich gehöre hierher und niemand lässt mich zurück. Es ist völlig egal, was andere über mich denken, solange nur Noct, Gladio und Ignis an meiner Seite bleiben. Lachend folge ich Noct nach draußen unter den strahlend blauen Himmel, spüre die wärmende Sonne auf meinen Schultern und genieße das Gefühl, wieder mit meinen Freunden unterwegs zu sein. Immerhin zwei Tage habe ich hier bei Cidney. Zwei Tage… das reicht sicher, um sie mal kurz beiseite zu nehmen für ein privates Gespräch unter Erwachsenen. „Du kommst nachher mit, wenn ich meine Rede halte“, meint Noct wie selbstverständlich, „Kannst du so lange stillstehen?“ „Kommt drauf an, wie lange willst du reden?“ Noct grinst. Er weiß genauso gut wie ich dass ich notfalls zehn Stunden still stehe, um in seiner Nähe sein zu dürfen. Es fällt mir nicht leicht, mir fehlt die Übung und die Muskulatur, aber die Rückenschmerzen nehme ich gerne in Kauf dafür, dazugehören zu dürfen. „Die Rede, die Ignis vorbereitet hat, dauert etwa zwei Stunden, wenn ich nicht unterbrochen werde. Dann noch eine Stunde mit der Presse und für die Audienz mit den Bürgern reicht es, wenn Gladio allein dabei bleibt. Du gehst dann mit Ignis schon mal ins Motel und siehst zu, dass alles für uns bereit ist.“ „Haben die denn genug Zimmer für alle?“ „Die Garde campt draußen“, entgegnet Noct, „Im Motel sind nur wir vier, Luna, Iris, Talcott und die Kinder. Für neun Leute reicht es.“ „Wer schläft mit wem?“, frage ich und korrigiere mich schnell: „In einem Zimmer, meine ich?“ Noct lacht. „Ich teile mir das beste Zimmer mit Luna“, erklärt er, „Du musst mit Gladio und Ignis allein auskommen.“ Ich lege in gespieltem Entsetzen die Hand auf die Brust und bringe Noct damit noch mehr zum Lachen. Auch das tut gut. „Iris hat ein Einzelzimmer und Talcott teilt sich eines mit den Kindern.“ „Weiß er schon, dass er der auserwählte Babysitter ist?“ „Das steht, glaube ich, in seiner Jobbeschreibung. Zumindest denke ich, dass er wusste, dass er unverheiratet kein Zimmer mit Iris teilen darf.“ „Ich versteh eh nicht, warum die beiden immer noch so tun, als wüsste keiner, dass sie zusammen sind.“ „Liegt vielleicht daran, dass Gladio immer noch so tut, als würde er Talcott umbringen, wenn er wüsste, was er eigentlich schon längst mitbekommen hat… Dabei will er eigentlich selbst, dass Iris endlich den Familienstammbaum erweitert.“ „Joah… ich fürchte, er hat im Moment einfach noch ein bisschen zu viel Spaß dran, Talcott Angst einzujagen. Ich hab schon mal gesehen, wie er absichtlich lange sein Schwert poliert hat, als das Thema im Raum stand. Muss zugeben, die Ausreden alleine waren die Show schon wert. Ich warte eigentlich nur drauf, dass Iris plötzlich schwanger wird und die Hochzeit im Schnelldurchlauf abgehakt wird. Dann kann Gladio nämlich keinen mehr umbringen… Buttler hin oder her, Talcott hat sich als Jäger mehr als verdient gemacht in der langen Nacht. Um die Familienehre der Amicitias geht es da schon lange nicht mehr.“ „Ich hab echt was verpasst in den letzten zehn Jahren.“ „Ich hab von allem Fotos.“ „Die hab ich bekommen, danke. Hab auch etliche Stunden damit zugebracht, sie mir mit Ignis zusammen anzusehen. Der hat sich fast noch mehr darüber gefreut als ich.“ „Kann ich mir vorstellen. War echt hart für ihn, seinen Sohn nie mit eigenen Augen sehen zu können… ich bin richtig froh, dass er wieder sehen kann. Ignis kümmert sich immer so toll um uns, selbst, wenn es ihm schlecht geht… ich würde ihm wirklich gerne etwas dafür zurückgeben.“ „Ich denke das hast du längst. Jedenfalls ist er vorhin nicht nur aus Spaß im Auto sitzen geblieben… das hat er für dich getan. Er denkt auch, dass er dir noch einiges schuldig ist.“ „Wüsste nicht, für was.“ Noct lächelt. „Ist das unter Freunden überhaupt wichtig? Ihr seid für einander da, das ist die Hauptsache. Und dass Gladio dich in letzter Zeit so oft ärgert ist auch nur seine Art zu zeigen, dass er dich gern hat. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.“ „Weiß ich. Und ich bin froh, dass es ihm wieder gut geht… er ist mit deinem Tod gar nicht klar gekommen, weißt du? Ich meine, ich nehm Tabletten und red mit meinem Therapeuten und alles, aber mir ging es nie schlechter als ihm. Gladio ist nur… zu stolz, um Hilfe zu bitten. Aber er ist auch stark, und er schleppt nicht mit sich rum, was vorbei ist. Jetzt, wo du da bist, geht es ihm wieder gut.“ Noct seufzt tief. „Ihr Jungs sei mir schon welche… euch kann man echt nicht allein lassen, was?“ „Nein, definitiv nicht. Wir lassen dich auch garantiert nicht nochmal sterben.“ „Ich verlass mich drauf.“ Kapitel 22: Albtraum (Gladiolus Amicitia) ----------------------------------------- Insomnia liegt in Ruinen. Ich stehe allein auf der Straße zur Zitadelle, um mich Feuer, Explosionen, Schreie. Siecher und MI machen sich über jeden noch lebenden Menschen her, reißen Gebäude ein, schießen auf alles, was sich bewegt. Das metallische Geräusch ihrer Bewegungen hallt in meinen Ohren. Ich kann Ignis nicht sehen, aber ich spüre, dass es für ihn bereits zu spät ist. Prompto ist einer von denen – er steht mir gegenüber, pinnt Noctis mit einem mechanischen Arm vor sich und hält ihm die Waffe an die Schläfe. „Tu‘s nicht“, flehe ich ihn an. Promtos Augen sind weit aufgerissen unter dem zerbrochenen Visier, eines blau, eines mechanisch leuchtend. Selbst sein Gesicht wirkt zerbrochen, unmenschlich, aber meine Worte scheinen ihn zu erreichen. Er hält inne, starrt mich schweigend an. Noct wimmert, zu schwach, sich zu befreien. „Prompto bitte…“ Keine Reaktion. Der MI steht weiter still, starrt mich mit leeren Augen an, scheint zu laden. Oder zu überlegen. „Prompto…“ Wir sind doch Freunde. Ich weiß, er erinnert sich daran. Er gehört zu uns… er war niemals einer von denen. Langsam hebt er den rechten Arm, löst die Waffe von Nocts Kopf. „Gut so… guter Junge, Prompto. Lass ihn gehen. Du willst Noct nichts tun.“ Der Griff des metallenen Arms lässt nach, aber noch wagt Noct nicht, sich zu befreien, sieht mich nur hilflos an. Auch Promptos ungleiche Augen sind starr auf mich gerichtet, sein Gesicht noch immer ausdruckslos. „Wir sind doch alle Freunde…“, versuche ich weiter, die Situation zu entschärfen. Prompto lächelt, es sieht beinahe manisch aus. Bevor ich irgendetwas tun kann hebt er plötzlich die Waffe an seinen eigenen Kopf. „NEIN!“ Der Schuss hallt in meinem Kopf nach, Ich will vorwärts stürmen, aber etwas behindert meine Bewegung. Ein dumpfer Schmerz in meiner Schulter, meiner Hüfte, immer noch das Gefühl, gefangen zu sein. „Meine Güte, Gladio, du weckst ja das ganze Hotel auf…“ Ignis Stimme klingt verschlafen und nur ein wenig genervt. Ich blinzle, blicke auf den altmodisch gemusterten Teppich vor meinem Gesicht und atme tief durch. Nur ein Traum… und was für ein Scheißtraum. Mein Schlafanzug und die Decke, in der ich mich verheddert habe, sind völlig nass vom Schweiß, mein Körper schmerzt noch vom plötzlichen Kontakt mit dem Boden. „Entschuldige…“, murmle ich und befreie mich aus dem Chaos an Stoff. Es ist stockdunkel im Zimmer, aber von draußen scheint Licht herein. Straßenlaternen… jetzt, wo ich wach bin, schwindet langsam das Bild des zerstörten Insomnias. Ich bin nicht dort, sondern hier, in Hammerhead, und der Lärm ist nicht der eines Kampfes sondern der des Verkehrs in der Tankstelle. Vor Takkas Imbiss steigt eine Party für alle die angereist sind, Noct und Luna zu sehen. Ich seufze tief, schalte mein Licht ein, setze mich auf mein Bett und blicke in Richtung Fenster zu Prompto. Auch er ist wach, ich kann die Reflektion meiner Nachttischlampe in seinen aufgerissenen Augen sehen. Der arme Kerl wirkt völlig verängstigt… wie viel von dem, was ich im Traum gesprochen habe, habe ich laut gesagt? „Tut mir Leid…“ „Schon gut“, piepst Prompto und wickelt sich noch fester in seine Decke, bevor er endlich den Blick abwendet, „Ich hab auch schlecht geträumt.“ „Willst du drüber reden?“, biete ich an. Sein ungläubiger Blick verletzt mich, aber das habe ich mir verdient. Zehn Jahre lang habe ich mich geweigert, Promptos Sorgen zuzuhören… dabei war er jederzeit für mich da, wenn ich mich mal ausheulen musste. Ignis seufzt und schaltet ebenfalls sein Licht an. „Jemand einen Kakao?“, fragt er leise und geht, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Kochecke. Prompto und ich brummen zustimmend. Ablehnen ist eh keine Option, und wenn ich ehrlich bin… wenn Ignis Kakao macht sagt man nicht nein. Er weiß genau, wie ihn jeder von uns am liebsten trinkt, und ich habe auf der ganzen Welt noch keinen besseren bekommen. Nicht mal bei meiner Frau. Prompto richtet sich auf, die Decke immer noch schützend um sich gewickelt, und setzt sich neben mich. So dicht, dass ich sein Gewicht an meiner Schulter spüren kann. Aber er schweigt noch, zu verängstigt, den Mund aufzumachen. Irgendwie fühle ich mich, als wäre auch das meine Schuld. Aus der Kochecke dringt der Duft von heißer Schokolade und nur wenig später stellt Ignis drei dampfende Tassen auf den kleinen Tisch. Ich gebe Prompto einen sanften Schubs und stehe auf, er legt seufzend die Decke zurück auf sein eigenes Bett und folgt mir. Die Sessel sind überraschend bequem, aber natürlich gibt man uns als Beschützern des Königs nicht gerade die schlechtesten Zimmer ab. „Dann erzählt mal, was euch beide mitten in der Nacht geweckt hat“, fordert Ignis auf und nimmt einen Schluck aus seiner Tasse. Ich blicke zu Prompto, der wendet sich ab und hält sich frierend an seiner Tasse fest. Seufzend suche ich nach den richtigen Worten um zu beschreiben, was für einen Müll mein traumatisierter Geist mir da vorgespielt hat. Ich mache ein paarmal den Mund auf und zu, denke nochmal nach, nehme schließlich einen großen Schluck Kakao, um Zeit zu gewinnen und habe immer noch kein Ergebnis. Langsam verblasst auch die Erinnerung an den Traum. „Weiß nicht“, gebe ich schließlich zu, „Machte nicht viel Sinn… ich war in Insomnia, da tobte ein Kampf… Siecher, MI, so was halt… und ihr seid alle gestorben oder so.“ Ganz wahr ist das nicht. Noct habe ich nicht verloren, denke ich. Und ich erinnere mich deutlich an die Gestalt von Prompto, halb in einen echten MI verwandelt, aber immer noch verzweifelt um Kontrolle ringend. So ein Schwachsinn… als würde er sich je auch nur im Ansatz gegen uns wenden. Egal wie sehr die ihn foltern, er wird niemals einer von denen. „Ich war absolut machtlos“, fasse ich zusammen, „Ich konnte keinen von euch beschützen.“ Ignis seufzt tief. „Davor hast du Angst, nicht wahr? Nicht stark genug zu sein, um uns zu schützen?“ „Es ist nicht Kraft, was mir fehlt…“ Formuliere ich den Gedanken, der mich schon zu lange verfolgt. „Solange es nur um Kraft geht, kann mich niemand schlagen. Aber es sind Dinge passiert, die… gegen die war ich machtlos. Ich hab Angst, in eine Situation zu kommen, in der all meine Kraft nutzlos ist, weil ich zu dumm bin, oder… oder einfach das Problem zu abstrakt. Dass ich euch wieder im Stich lasse weil ich nicht sehe, dass ihr mich braucht.“ Wie damals Prompto. Wenn ich nur da gewesen wäre… vor diesem Nemo hätte ich ihn locker schützen können. Auch Noctis hätte er nie bekommen, wenn ich vor dieser Tür gestanden hätte statt dieser Schlafmütze. Und dann sind da andere Dinge, Dinge wie diese Maschine, die meine Freunde töten können ohne dass ich es verhindern kann. Wie Prompto, der sich bei lebendigem Leibe aufgelöst hat, weil er zu stur war, die Stadt zu verlassen. Alles, was ich tun konnte, war, seinen geschwächten Körper aus der Zitadelle zu tragen, als er verzweifelt zu seinem Altar gerannt ist um uns klar zu machen, warum er nicht weg konnte. Ich weiß nicht mehr, was mir in dem Moment mehr wehgetan hat. Die Erinnerung daran, dass Noct tot war, oder der Anblick von Prompto, wie er blutend und leblos auf dem Boden des Thronsaals lag, die Hände mit letzter Kraft in den zerrissenen Teppich gegraben, als wollte er sich verzweifelt daran festhalten. Er hat als einziges zugeben können, dass er Noct nicht gehen lassen konnte… dass er nicht vergessen konnte. Prompto hat den Schmerz zugelassen. Wenn ich es so sehe… war er in all der Zeit der Stärkste von uns. Aber er hat trotzdem Hilfe gebraucht, und ich war zu schwach, sie ihm zu geben. Vielleicht ist es das, was der Traum mir sagen wollte. Dass ich, trotz all meiner körperlichen Kraft, nicht stark genug bin für den Kampf, der vor uns liegt. Dass ich meine Freunde nicht schützen kann, wenn ich so weiter mache wie bisher. Und ja, das macht mir Angst. „Ich hab geträumt, ich wäre allein“, murmelt Prompto in seine Tasse, so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. „Es war kalt, und dunkel… ich hab euch gesucht, aber ich konnte euch nicht finden.“ Er sieht völlig aufgelöst aus. Fast ohne nachzudenken rutsche ich mit meinem Stuhl näher an seinen heran und lege den Arm um seine Schultern. Prompto fühlt sich eiskalt an… aber er lehnt sich in die Berührung, scheint meine Nähe zu akzeptieren. „Wir sind nie weit weg“, versichert ihm Ignis, „Verzeih bitte, dass wir dich so lange allein gelassen haben.“ Endlich blickt Prompto von seiner Tasse auf. „Habt ihr doch gar nicht“, murmelt er und sieht Ignis unvermittelt in die Augen, „Ich meine… ihr wusstet ja nicht, wo ich war, und ihr habt nach mir gesucht, oder?“ „Natürlich haben wir dich gesucht. Sowie wir einen Hinweis auf die Richtung hatten waren wir nicht mehr zu bremsen!“, versichere ich schnell. Klar, Ignis hat uns schon noch mit aller Vernunft zurückgehalten, aber selbst er war letztlich dafür, die Tür der Kaserne einzutreten. „Ich meinte vorher“, murmelt Ignis betreten, „du hast so viel für uns getan, und wir…“ „Ach was.“ Prompto winkt ab, will gar nicht hören, was Ignis noch im Detail zu sagen hat. „Ihr habt euch doch gekümmert. Ich meine, klar, euch ging es auch nicht so super gut, aber ihr wart da, wenn ich euch gebraucht habe. Wirklich, mehr hätte ich nie verlangen können.“ Ignis seufzt, und auch ich fühle mich mies. Nach allem… Prompto war immer da, hat mich oft besucht und mir zugehört, wenn es mir mies ging. Hat mir die Schultern getätschelt, mir mein Zeug nachgetragen und mich wieder aufgebaut. Aber wenn er reden wollte hab ich abgeblockt. Hab ihn angeschrien, wenn er ein falsches Wort gesagt hat. Und schlimmer noch... Wie kann er das nur so einfach schlucken? „Wenn ich da draußen bei dir geblieben wäre…“ „…Wäre Crowe ziemlich sauer gewesen. Du hättest nicht helfen können, Gladio. Ich meine, ja, vielleicht hätte Nemo mich dann nicht mitgenommen, aber das hätte auch nichts geändert. So oder so hat diese Maschine mich fertig gemacht. Und die hast du ja recht gut verschrottet, oder?“ Er klopft mir aufmunternd gegen die Brust und ich muss doch etwas lachen. „Das war Ramuh“, gebe ich zu, „Aber ja, das Vieh verprügeln zu können hat sich schon verdammt gut angefühlt.“ „Endlich ein Gegner, den man mit roher Gewalt los wird, was?“, neckt Ignis. „Genau mein Ding eben.“ „Dem Siecher hast du’s auch ordentlich gegeben“, fügt Prompto hinzu, „Das war echt beeindruckend.“ „Na, deine Raketengeschosse waren aber auch nicht übel“, gebe ich das Lob zurück, „Und jeder davon ein Treffer.“ „Ach, das Vieh war ja groß genug“, winkt Prompto ab. Langsam verschwinden die Schatten der Nacht. Wir trinken muntern plaudernd unseren Kakao fertig und schon scheucht Ignis uns auch schon ins Bett zurück. Noch ein paar Stunden, dann müssen wir uns schon wieder für den nächsten Tag fertig machen. „Gladio?“ „Ja, Prompto?“ Wieder dieser hilflose Blick aus großen, blauen Hundeaugen. „Kann ich… ist es okay, wenn…“ „Willst du bei mir im Bett schlafen?“, komme ich ihm zuvor. Prompto läuft knallrot an, nickt aber eilig. „Komm schon her.“ Mein Bett ist immer noch klamm von Schweiß, aber das scheint Prompto nicht zu stören – auch sein Schlafanzug ist ordentlich durchgeschwitzt. Schlimmer ist die Angst, die die Albträume uns beiden gebracht haben. Angst, aus welchem Grund auch immer, allein zurückzubleiben. Ich lege schützend den Arm um Prompto und erlaube ihm, sich an meine Brust zu kuscheln wie ein kleines Kind. Schon irgendwie albern, aber… Albträume gehen nicht einfach weg, nur weil man Erwachsen ist. Und auch mir tut es gut, jemandem im Arm halten zu können. Gerade Prompto. Dass er nach allem, was ich im Streit zu ihm gesagt habe, nach allem, was ich getan oder nicht getan habe, noch immer zu mir kommt, ist beruhigend. Ich hätte ihn niemals alleine lassen dürfen… aber zumindest jetzt kann ich ihn beschützen. Im Verjagen von Albträumen anderer war ich immer schon gut. Iris ist ja auch noch zu mir ins Bett gekrochen bis… ich möchte sagen, bis wir Insomnia verlassen haben, aber auch danach hat sie jede Gelegenheit ergriffen. Bis sich Talcott als bessere Option erwiesen hat, schätze ich. Kann ich ihr nicht verübeln – wenn ich die Wahl hätte, würde ich jetzt auch gerne zu Edna kriechen. Ich streichle Prompto durch die zerzausten Haare und denke noch einmal an den Traum, der mich – und damit letztlich uns alle drei – geweckt hat. Sowas wird nie passieren, allein schon aus dem Grund, dass es ausgemachter Schwachsinn war. Menschen verwandeln sich nicht einfach in Roboter. Die MI werden von Miasma betrieben, dass aus verstorbenen, infizierten Klonen gewonnen wird – Klonen, die nie ein Bewusstsein entwickelt haben und keinen eigenen Willen kennen. Prompto zu einem MI zu machen wäre idiotisch, er würde niemals gehorchen. Und wir würden ihn niemals sterben lassen. Entschlossen drücke ich den schlafenden Mann an mich. Niemals… niemals wieder lasse ich zu, dass einer meiner Freunde verletzt wird. Kapitel 23: Königsgräber (Iris Amicitia) ---------------------------------------- Die Luft ist kühl hier draußen. Die Kälte der Nacht hängt noch in den Felsen, während am Horizont langsam die Sonne aufgeht. Gerade noch habe ich mit Noctis hinter dem Motel gestanden, und jetzt sitze ich hier bei offenem Fenster im Beifahrersitz des Star of Lucis und versuche zu begreifen, was gerade passiert ist. Ich kann immer noch nicht fassen, dass Noct mich einfach so beiseite genommen hat. Und was er mir gesagt hat war sogar noch unglaublicher. Nyx, der neue König von Lucis? Noch weiß der Kleine selbst nichts davon. Ich soll ihn nicht belügen, aber sagen muss ich es ihm nicht, wenn er nicht fragt. Nur Talcott werde ich wohl einweihen müssen und dürfen. Fürs Erste sollen wir nur mit den Kindern zu den Königsgräbern laufen, während alle von Noct und Luna abgelenkt sind. „Eigentlich wollte ich ihn noch eine Weile nur Kind sein lassen“, hatte Noct gesagt, „Aber jetzt ist vielleicht die beste Zeit… unter dem Wall ist es sicher, es gibt keine Siecher und weniger Monster. Jetzt kann er ohne große Gefahr zu den Gräbern der alten Könige gehen und deren Waffen entgegennehmen. Später hat er vielleicht nicht mehr die Gelegenheit, bevor er sie braucht.“ Gut hat er ausgesehen, so im Halbdunklen hinter dem Motel. Über meine kindische Verliebtheit bin ich weg, die Jahre ohne Noct waren heilsam in der Hinsicht. Dachte ich. Aber wie er da so im Mondschein an der Hauswand gelehnt hat, ganz leger und menschlich… da kann eine Frau doch mal ein bisschen träumen, oder? Luna hat unglaubliches Glück. Ich kann nicht leugnen, dass ich ein wenig neidisch bin. Dabei wusste ich schon seit meiner frühsten Kindheit, dass meine Liebe für Noct ewig unerfüllt bleiben würde. „Hoffentlich finden wir in den Königsgräbern auch, was wir suchen“, murmle ich leise ins Lenkrad. „Und hoffentlich treffen wir nicht zu viele Monster.“ Die Kinder waren von vorne herein viel zu begeistert von dieser Reise. Wenn sie jetzt noch erfahren, dass wir nur zu viert in dreizehn gefährliche Dungeons vordringen werden, während Noct seine langweilige Rede in jedem Ort wiederholt… ich blicke auf den rostigen Schlüssel, den Noct mir gegeben hat. Als er damals die Königswaffen gesucht hat, waren die Tunnel voller Siecher… das zumindest ist heute nicht so. Sicher will er deshalb, dass Nyx sich die Waffen jetzt holt. Es ist weniger gefährlich, ein Kind in Tunnel ohne Siecher zu schicken, als einen Jugendlichen in welche mit. Zumal Talcott und ich ja dabei sind. Talcott, Buttler unserer Familie, aber auch ein verdienter Jäger mit einer Ausbildung, die der eines Königsgarden gleichkommt. Ich, die älteste Tochter der Amicitias, der Schild des neuen Königs. Noch gibt es keine offizielle Zeremonie und kein Tattoo für mich, aber das wird nachgeholt, sowie sich die Gelegenheit bietet. In Lestallum vielleicht. Aber das ist noch nicht wichtig. Erstmal geht es nur darum, still und leise die Waffen der alten lucischen Könige zu sammeln. Dreizehn an der Zahl… das vierzehnte, Nocts, werden wir zum Glück nicht lange suchen müssen. Ob ich der Aufgabe gewachsen sein werde? Ich bin stark, sicher. Stärker als die meisten es mir zutrauen, zumal ich als Frau mich meist dazu drängen lasse, eher heilende als kämpfende Tätigkeiten auszuführen. Aber ich bin eine Amicitia, ich kann kämpfen. Wer weiß, vielleicht kann Cidney mir ja anständige Kampfhandschuhe basteln? Welche mit Metallbeschlägen wären schön. Vielleicht besorge ich mir auch richtige Schlagringe? Dazu schwere Stiefel und meine treue Mogrypuppe. Aber was mache ich mir auch vor, die Monster sind es nicht, was mir Sorgen bereitet. Mit denen werde ich locker fertig. Nein, es ist nur meine kleine Nichte, die mir Sorgen macht. Sie ist… mutig. Etwas zu mutig für eine Sechsjährige, die das Wort ‚Gefahr‘ nur aus dem Fernsehen kennt. „Aber wenn wir ganz kleine Monster treffen, darf ich gegen sie kämpfen, ja?“, hatte sie begeistert gefragt, als wir Lucis verlassen haben. Sie hat für das Abenteuer extra einen echten, kleinen Dolch bekommen, den sie wie ein Schwert führen kann. Gladdi hat ihr die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen beigebracht, trotzdem fühle ich mich nicht wohl dabei, meine kleine Nichte so munter mit der scharfen Waffe fuchteln zu sehen. Schlimmer noch: Nyx trägt eine echte Handfeuerwaffe. Keine Luftdruckpistole, sondern eine mit echten Kugeln, die Monster und Menschen töten kann. Klein und leicht, eher für die Handtasche der feinen Dame zu Hofe, aber doch mehr als tödlich. Hoffentlich hat ihm Prompto nebst Schießen auch das Sichern der Waffe beigebracht… ich mag Prompto, wirklich, er ist ein netter Kerl und Gladdis Freund, aber doch manchmal etwas zu unbesonnen. Um nicht zu sagen verplant. Ich weiß, dass er Nyx schon als ganz kleines Kind mit zum Schießstand genommen und dem Kleinen einiges beigebracht hat, was er eigentlich nur für den Jahrmarkt hätte brauchen sollen. Und das Kind ist vernünftig und besonnen genug, sicher mit einer Waffe umzugehen. Anders als Crowe. Trotzdem… auch Nyx ist erst acht. Letztendlich musste ich Crowe versprechen, dass wir, sollten wir ein wirklich ganz kleines Monster finden, dieses für sie einfangen würden, damit sie und Nyx das Kämpfen üben können. Crowe war ganz begeistert und wird mich sicher an das Versprechen erinnern, Nyx dagegen war still. Er ist generell nachdenklicher als sonst in letzter Zeit. Ich frage mich, ob er schon etwas ahnt. Wundern würde es mich nicht, der Junge ist so klug wie sein Vater und versteht oft schon erheblich mehr, als je gesagt wurde. Gruselig, aber für einen König sicher nicht schlecht. Zumindest wird er sich nicht leicht hereinlegen lassen. Inzwischen steht die Sonne so hoch, dass das Licht mich durch die Fenster des Autos blendet. Die Kühle der Nacht verschwindet, und langsam kriechen die Männer und Frauen unserer Truppe aus ihren Zelten und Wohnwägen. Ich stecke den rostigen Schlüssel in meine Tasche und steige aus dem Auto. Zeit, Talcott in unsere Mission einzuweihen. Vielleicht kann er mir helfen einen Plan zu schmieden, wie wir die Kinder von der Gefahr fernhalten und sie trotzdem bis zu den Königsgräbern bringen können, ohne Verdacht zu erregen. Ich kann wissendes Getuschel hören, als ich an Talcotts Tür klopfe. Warum nur denken alle, wir wären zusammen? Sicher, Talcott ist nett und ein gutaussehender Typ, aber… er ist auch deutlich jünger als ich und mir nur als Buttler verpflichtet. Eine solche Beziehung hätte auch nicht mehr Chancen als meine Liebe für Noctis, und Gladdi würde das sicher niemals gutheißen. Gut, ganz unattraktiv ist der Mann nicht und mit seinen inzwischen siebenundzwanzig Jahren auch nicht mehr ganz unreif, aber deswegen bin ich ja nicht gleich in ihn verliebt. Auch wenn ich zugeben muss dass mir gefällt, wie sein durchtrainierter Oberkörper aussieht, wenn hinter ihm die aufgehende Sonne durchs Fenster scheint. Erst recht natürlich in Bewegung, während er Crowe durchs Motelzimmer jagt, weil die Kleine sich nicht anziehen lassen will. Lachend versperre ich dem Mädchen den Weg und hebe es einfach hoch, um die Jagd zu beenden. „Na hör mal, Crowe, eine feine Dame rennt doch nicht ohne Unterhose herum!“, mahne ich, während Talcott, ganz außer Atem, mir das fehlende Kleidungsstück reicht. „Aber die ist Rosa!“, beschwert sich Crowe empört, „Und ich bin keine feine Dame, ich bin ein Krieger!“ Talcott seufzt tief, faltet die Unterhose zusammen und durchsucht Crowes Reisetasche nach einer in einer kriegerhafteren Farbe. Ich kann ihn etwas grummeln hören was wie „Rosa, Rot, Fuchsia… ist doch alles das selbe“ klingt. Crowe streckt seinem breiten Rücken die Zunge heraus. Schlussendlich lässt sich ein zufriedenstellend nicht-rosa Höschen finden und Crowe fängt einen Streit über die Oberbekleidung an, die der arme Talcott ihr ausgesucht hat. Ich bin kurz davor die Göre zu fragen, warum sie sich nicht einfach selbst anzieht, aber die Diskussion hatten wir schon: Wozu haben wir denn einen Buttler, reiche Leute ziehen sich nicht selber an. Ich seufze tief und schubse Nyx aus dem Bett, der sich noch einmal die Decke über den Kopf gezogen hat. Im Gegensatz zu seiner kleinen Freundin hat er kein Problem damit, sich selbst einzukleiden. Eilig nimmt er die Kleidung, die Talcott ihm zurechtgelegt hat, und verschwindet damit im Bad, aus dem er keine zehn Minuten später voll bekleidet heraus kommt – geduscht und frisiert, als müsste er beweisen, was er alles schon alleine kann. Crowe diskutiert derweil noch darüber, warum sie denn unbedingt zwei gleichfarbige Socken anziehen muss. Unsere Mission ist sowas von zum Scheitern verurteilt. Kapitel 24: Jähes Ende (Gladiolus Amicitia) ------------------------------------------- Von Insomnia nach Hammerhead. Von Hammerhead über Langwhite zum Galdin Kai und wieder nordwärts zur Jägersiedlung. Wir wiederholen eins zu eins die Route von vor zwanzig Jahren. Es ist fantastisch zu sehen was die Leute aus dem ehemals vom Krieg zerstörten Lucis gemacht haben. Wo statt der Regierung die Menschen angepackt haben sind in den vergangenen zehn Jahren ansehnliche Dörfer und Städte entstanden, Siedlungen und Befestigungsanlagen sind zu Ortschaften herangewachsen, in denen Kinder achtlos auf der Straße spielen und uns mit Blumen und Zeichnungen in Empfang nehmen. Vielerorts ist die Vergangenheit nur noch ein Schatten, der sich in dunklen Gassen verbirgt wie ein Siecher vor der Sonne, die vom ewigblauen Himmel auf unsere Autos scheint. Anders als damals liegt meine Campingausrüstung heute jedoch nutzlos im Kofferraum. Wir reisen ganz offiziell als Eskorte des Königs und seiner Angetrauten, der Kannagi, da wird natürlich kein Zelt aufgeschlagen. Zumindest nicht meines, denn als Schild des Königs werde auch ich über extra ausgerollte rote Teppiche in die besten Hotelanlagen des jeweiligen Übernachtungsortes gebeten. Immerhin muss ich nicht allein in einem Einzelzimmer schlafen – wenn nicht mit Prompto und Ignis teile ich mir ein Zimmer mit meiner Schwester. Und ja, natürlich sind die Hotelbetten bequem. Ich vermisse es nur ein wenig, ganz allein mit meinen besten Freunden ums Feuer zu sitzen, Ignis‘ selbstgekochte Mahlzeiten zu genießen und nachts durch die Zeltdecke auf einen Himmel voller Sterne zu blicken, immer den Geruch des erlöschenden Feuers in der Nase und das gleichmäßige Atmen meiner Freunde im Ohr. Es war eine schöne Zeit damals. Nur wir vier in der freien Natur… wenn man alles Schlechte weglässt, war es die schönste Zeit meines Lebens. Unbeschwert, trotz allem Krieg und aller Gewalt. Ich wünsche mich nicht dorthin zurück, aber ich hätte gerne noch einmal eine solche Reise angetreten, ohne die Last des Schicksals im Gepäck. So wie jetzt vielleicht, aber ohne die große Eskorte und ohne den Wirbel, der um uns gemacht wird. Diese Zeit, als Noct kein König, sondern einfach nur ein Freund war. Als wir einfach nur vier halbwüchsige Idioten waren, die auszogen, um die Welt zu retten, und dabei verdammt viel Spaß hatten. Ich wäre gern nochmal so jung und sorglos. Ich lasse mich tiefer in den Sitz des Regalias sinken und genieße, wie ruhig das alte Fahrzeug auf der Straße liegt. Wenn Ignis einen fährt, braucht man sich um die Straße nicht zu sorgen. Der Regen, der uns gestern auf dem Hauptplatz von Lestallum durchweicht hat, reißt endlich ab und Ignis fährt das Dach ein, damit wir über uns die letzten, dünnen Wolken sehen können. Noct ist längst eingeschlafen, und auch mir fallen langsam die Augen zu. Im Licht der Sterne kann ich sehen, wie Prompto seine Arme über der Seitentür verschränkt und den Kopf darauf sinken lässt, währen Ignis sich noch einen Schluck von seinem Ebony-Kaffee genehmigt. Auch er stand gestern eine ganze Rede lang mit uns im Regen. Auch er ist sicher müde… aber wir liegen etwas hinter dem Zeitplan und wollen morgen schon im nächsten Ort sein, wo das Wetter hoffentlich besser ist. Im Radio spielt die leise Melodie von Zanarkand. Ich erinnere mich nur vage an den Film, aus dem das Lied stammt, eine tragische Liebesgeschichte, die meine Frau mehr als einmal zu Tränen gerührt hat. Irgendwas vom Meer und einer versunkenen Stadt. Eine hübsche Beschwörerin und ein blonder Jüngling, dessen ständig gute Laune mich gewaltig an Prompto erinnert hat. Ich rutsche tief in meinen Sitz und lasse mich in den Schlaf sinken, damit wenigstens zwei von uns morgen fit sind, wenn Noctis uns braucht. Ignis kann auch mal schlafen. Im Moment gibt es ohnehin nichts, was uns gefährlich werden könnte unter dem Wall. Oder? Irgendetwas stört mich, mehr eine böse Ahnung als ein Gefühl, und hält mich vom Schlafen ab. Mein Instinkt hält mich wach. Etwas stimmt nicht. Besorgt richte ich mich wieder auf und blicke auf Noctis, der zusammengesunken auf der anderen Seite der Rückbank schläft. Alles scheint normal, warum also bin ich so unruhig? Was genau… Ich spüre die Gefahr bevor ich den ersten Hinweis sehe. „Ignis, halt an!“ Meine Worte kommen keine Sekunde zu spät. Von einem Moment auf den anderen herrscht Alarm. Noct ist aufgewacht, greift sich mit einem stummen Aufschrei an die Brust und stößt die Tür auf. Reifen quietschen, das Auto kommt gerade noch rechtzeitig zum Stillstand um das Schlimmste zu verhindern. Entsetzt sehe ich zu wie Noct noch zwei, drei Schritte weiterschwankt, bevor er schließlich wie tot zu Boden geht. „Was ist passiert?“, fragt der Garde vom vorderen Wagen, der bei unserem plötzlichen Stopp sofort abgesprungen ist. Der Mann humpelt, sein Fahrer hat weniger schnell gebremst als Ignis. Ich löse meinen Gurt, klettere über die Sitze hinaus auf die Straße. Auch Ignis springt aus dem Wagen, ist mit zwei Schritten bei Noct und kniet sich neben ihn, legt ihm die Hand auf die Brust und beugt das Ohr über sein Gesicht. Ich komme zitternd neben den Beiden zum Stehen, bekommen gerade so mit, wie auch der Star of Lucis hinter uns bremst und sich quer zur Fahrbahn stellt, um nachfolgende Fahrzeuge zu blockieren. „Leute…“, Prompto sitzt immer noch im Auto, den Blick starr zum Himmel gerichtet. Ich hab jetzt keine Zeit für ihn. „Er lebt noch. Einen Arzt her, schnell!“, befiehlt Ignis und ich drehe mich um, um den Befehl weiterzugeben. Meine Stimme funktioniert nicht, aber Talcott hat die Lage bereits erfasst und brüllt nach unserem medizinischen Team. Guter Junge. Auch Luna eilt herbei, kniet sich neben Noct und fasst hilflos seine Hand, währen Ignis mit der Reanimation beginnt. Der Arzt stolpert an den Autos vorbei, wirft seinen Rucksack neben der Gruppe auf den Boden und schließt sofort ein EKG an. Noct rührt sich immer noch nicht, auch nicht, als ihm jemand einen Beutel über den Mund stülpt um seine schwache Atmung zu unterstützen. „Jungs…“, wiederholt Prompto, und langsam ist die Panik in seiner Stimme deutlicher. Ich stehe noch immer hilflos auf der Straße, blicke auf Nocts leblosen Körper. Ignis steht zitternd auf und nimmt Luna zur Seite, damit die Heiler vernünftig arbeiten können. Ich verstehe nichts von dem, was die Männer reden, aber es hört sich nicht gut an. Equipment wird herumgereicht, Befehle geschrien, Geräte piepsen. Jemand drückt mir einen Beutel mit Schlauch daran in die Hand, den ich halten soll. Mir ist schwindelig vor Angst. Eben war doch noch alles gut, was ist nur passiert? Warum um alles in der Welt bricht Noct einfach so zusammen? Ein Herzinfarkt etwa? Dafür ist er doch noch viel zu jung! „Leute, macht das Licht an!“ Der panische Ton ist aus Promptos Stimme verschwunden, jetzt klingen seine Worte wie ein Befehl, begleitet vom Klicken der Schalter, als der Regalia von den Parkleuchten auf die Sicherheitsstrahler umgeschaltet wird. Die Garden gehorchen, ein Auto nach dem anderen schaltet das Flutlicht an. Grässliches Kreischen ist zu hören. Ich muss eine Hand vors Gesicht heben gegen die plötzliche Helligkeit, aber am Rand des Lichtscheins kann ich schattenhafte Kreaturen sehen, die sich in Miasma auflösen oder eilig die Flucht ergreifen. Prompto hat sich das Funkgerät geschnappt und den Override gedrückt, seine Stimme tönt live aus allen Radios. Ich bin zu schockiert um seine Worte genau zu verstehen, aber bei der dritten Wiederholung wird mit langsam klar, was er da redet. Der Wall ist gebrochen. Schaltet das Licht ein, kehrt in die Städte und Häuser zurück. Die Siecher kommen. Die Siecher kommen, bringt euch in Sicherheit. Licht an, wo Licht zu finden ist, rette sich, wer kann. Der Wall von Lucis ist gebrochen. Prompto ist nicht ausgebildet, öffentliche Ansagen zu machen. Er weiß nicht worauf er achten muss, was er sagen darf und was nicht. Aber das ist egal. Eine Panik zu vermeiden wäre in dieser Situation eh das Falsche. Was er sagt, ist wahr und wichtig. Es muss schnell gehen, und er macht seine Sache gut. Der Ton seiner Stimme ist mächtig und bestimmend, ein wahrer Mann des Königs, jemand, dem Respekt gebührt. Wann ist das passiert? Wann ist aus dem ängstlichen Jungen so ein starker Mann geworden? Und wie sehr habe ich mich in der Zeit verändert? Beinahe sehe ich den Film meines Lebens vor mir ablaufen, als ich auf Nocts leblose Form herabblicke. Hilflos, unfähig, ihn zu retten. Ich sehe mich wieder vor der Zitadelle stehen, sehe zu, wie Noct mir den Rücken zudreht und langsam hineingeht. Weg von mir. Für immer. Er stirbt und ich stehe machtlos daneben. Mein Herz, das eben noch gerast hat, schlägt immer langsamer. Bitte lasst das nicht das Ende sein. Ihr habt ihn doch nicht zurückgeschickt nur, damit er hier grundlos stirbt. „Wir fahren zurück nach Lestallum“, befiehlt Ignis. Ein Krankenwagen von dort ist längst angerückt, bringt eine Trage und hilft unseren Heilern, Noct zu stabilisieren und einzuladen. Zurück nach Lestallum, ins Krankenhaus. Einer von uns darf im Krankenwagen mitfahren. Ignis klopft mir auf die Schulter und ich lasse mich von den Heilern auf den Beifahrersitz des großen Wagens geleiten. Zitternd schnalle ich mich an, versuche darauf zu vertrauen, dass diese Männer und Frauen leisten können, wozu ich nicht fähig bin. Einen Siecher kann ich abwehren, aber das… das ist nichts Greifbares, nichts, was man mit einen Schild aufhalten oder mit dem Schwert zerschlagen könnte. All meine Kraft ist wertlos. Noct liegt an der Grenze zum Tod und ich kann nichts tun, um ihn zu retten. Ich weiß noch, wie ich ihm das erste Mal begegnet bin. Wie ich herabgesehen habe auf diesen trotzigen, verwöhnten Jungen, dem ich mit Leib und Seele dienen sollte. Für den ich ohne zu zögern sterben sollte. Ich erinnere mich, wie er mich angesehen hat, am Rockzipfel seiner Mutter hängend, nur daran interessiert, um eine eigene Katze zu betteln. Ich erinnere mich an all die Abende, die ich mein Schicksal verflucht habe. Wütend, dass man mich einem Kleinkind unterstellt, wo ich doch wie mein Vater dem ehrenwerten König dienen wollte. Tausend Stunden, die ich Noctis trainieren sollte. Stunden, in denen er nur halbherzig mitgemacht und meist nach fünf Minuten störrisch das Übungsschwert hingeworfen hat. Und als seine Mutter gestorben ist wurde es nur schlimmer. Oft ist er gar nicht erst aufgetaucht… dann durfte ich schimpfend durch das ganze Schlossgelände tigern und jeden Busch umdrehen, bis ich ihn schlafend in irgendeinem Eck gefunden habe. Und was mir nicht alles für Wörter eingefallen sind auf diesen Suchen! Mein Vater hätte mich lebenslang eingesperrt für diese Respektlosigkeit gegenüber dem Kronprinzen, aber für mich war Noct nur ein störrisches Kind, von dem ich Respekt verlangt habe. Verlangen konnte, als sein Lehrer und Beschützer. Wenn Iris nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht nie gesehen, was für ein edles Gemüt der Prinz schon immer hatte. Was für ein Ritter sich hinter der trotzigen Fassade verbirgt. Und, oh Wunder, kaum dass ich diesem Jungen ein wenig Achtung entgegengebracht habe, wurde es leichter mit ihm. In dem Moment, da ich angefangen habe, ihm Respekt zu zeigen und auf ihn zuzugehen war auch Noct plötzlich willig, mir zuzuhören. Und je mehr ich auf seine Bedürfnisse eingegangen bin, seinen Sorgen ein Ohr geschenkt habe, desto williger wurde er, im Training auch mal über das hinaus zu gehen, was einfach und erfolgversprechend war. Und aus diesem gegenseitigen Respekt, aus dem Willen, einander zuzuhören, dem anderen eine Chance zu geben auch mal die andere Seite zusehen, wuchs endlich Vertrauen und Freundschaft. Bevor ich richtig verstanden habe, was eigentlich passiert, habe ich angefangen, Noct nicht mehr als störrisch, sondern als niedlich zu sehen. Nicht mehr als mir auferlegte Bürde, sondern als geliebten Bruder. Und wie seine Augen geleuchtet haben, wenn ich ihm mal etwas Süßes geschenkt habe! Sein Lachen, wenn ich das Training habe ausfallen lassen, um mit ihm im Garten zu spielen… er hat nie gemerkt, dass das eigentlich das härtere Training war. Fast kann ich noch immer die Wärme seines kleinen Körpers an meiner Schulter spüren, wie ich ihn nach jedem dieser Ausflüge in sein Bett getragen habe. Ich hätte es nie zugegeben, aber als er mit sechzehn durchgesetzt hat, dass er eine eigene Wohnung in der Stadt beziehen darf, hätte es mir fast das Herz gebrochen. Wenn er sich wegen der Prüfungen vor dem Training drücken durfte habe ich ihn dann oft wochenlang nicht mehr gesehen. Aber dafür hat er sich nur umso mehr angestrengt, wenn er doch zum Training erschienen ist. Einmal hat er sogar Prompto mitgebracht. Das war ne Party… mir kommen fast die Tränen bei der Erinnerung daran, mit welchem Elan Noct plötzlich kämpfen konnte als es darum ging, seinen wehrlosen Schulfreund zu verteidigen, wann immer der Blondschopf es geschafft hat, mich mal zwei Sekunden von ihm abzulenken. Als letztlich auch noch Ignis in den Kampf eingegriffen hat war die Schlacht beinahe ausgeglichen, aber gewonnen habe ich trotzdem. Prompto war entschuldigt, der hat in seinem ganzen Leben noch keine Waffe gehalten und war mit dem Kurzschwert ohnehin schlecht beraten. Aber Noct und Ignis, der gerade seine Prüfung zur Aufnahme in die Königsgarde bestanden hatte, habe ich diese Niederlage noch über Monate spüren lassen. Die Revanche war erbittert, aber aussichtslos. Es hat Jahre gedauert, bis die Jungs mir gefährlich wurden, selbst zu dritt. Promptos Zulassung zum Training für die Garde und seine Affinität für Schusswaffen waren der erste Schritt, aber den Ausschlag gab letztendlich Noctis. Noctis, der endlich gelernt hat, sich zu warpen. Der die Waffen der alten Könige und den Ring seiner Vorfahren gefunden und zu nutzen gelernt hat. Noctis Lucis Caelum, der endlich bewiesen hat, dass aus einem störrischen Jungen ein mächtiger König werden kann, nicht trotzdem, sondern gerade weil wir ihn so verwöhnt haben. Weil er gelernt hat, dass er sich auf uns verlassen, uns vertrauen kann. Dass er weit über seine Grenzen hinausgehen kann weil wir jederzeit da sind, um ihn aufzufangen. Weil wir alles tun würden, damit er auf der Grenze zum Jenseits noch einmal umdrehen kann. Tränen fallen auf die zitternden Hände in meinem Schoß, als der Krankenwagen zum Stillstand kommt. Noct wird ausgeladen, immer noch von einem Trupp Heiler umringt, und eilig in den Behandlungsraum geschoben. Ich darf hinterher, darf ihn begleiten, werde von Spezialisten mit Fragen gelöchert, die ich nicht beantworten kann. Es ging alles so schnell… ich habe nichts gesehen, nichts verstanden. Jemand drückt mir einen Becher Wasser in die Hand, schiebt mich sanft in einen winzigen Stuhl. Endlich kommen auch Ignis und Prompto an, werden ebenfalls mit Fragen bombardiert. Ignis weiß bessere Antworten als ich. Ignis weiß alles, er versteht viel mehr als ich, kann sich mit den Heilern in deren Sprache unterhalten. Aber auch er wirkt ratlos und ängstlich. Prompto setzt sich neben mich, stützt das Gesicht in die Hände und weint. Ich lege meinen Arm um seine Schultern, unfähig, mehr zu tun. Wir werden aus dem Behandlungszimmer in einen Gang gescheucht, wo wir warten müssen, bis die Ärzte zu einem Ergebnis kommen. Noctis lebt, aber er ist bewusstlos und es geht ihm nicht gut. Vielleicht ein Herzinfarkt, vielleicht etwas anderes. Prompto hat aufgehört zu weinen. Statt sich wie ein normaler Mensch auf einen Stuhl zu setzten lässt er sich neben dem Snackautomaten nieder, legt die Arme auf die Knie und vergräbt das Gesicht darin wie ein Kind, das sich vor der Welt verstecken will. Er sieht furchtbar aus, aber es gibt nichts, was ich tun kann, um ihn aufzuheitern. Ich fühle mich selbst total elend, kann nur auf die Tür starren, hinter der Noct liegt, ein Zimmer auf der Intensivstation, wo inzwischen drei Ärzte darauf warten, dass ein vierter kommt und Rat weiß. Mir ist schlecht vor Angst. Ignis läuft auf dem Gang auf und ab wie ein eingesperrter Coeurl, am liebsten würde ich ihn packen und gegen die Wand schlagen, damit er aufhört. Das Geräusch seiner Schuhe auf dem Laminat macht mich wahnsinnig. Aber ich reiße mich zusammen. Ich habe mich zehn Jahre lang mit Ignis gestritten, weil ich keinen anderen Ausweg aus dem Schmerz kannte. Hier im Krankenhaus ist dafür kein Platz. Außerdem will ich nicht hören, was er mir im Gegenzug an den Kopf zu werfen hat. Ignis findet oft genug Worte, die einen zu tief ins Herz treffen… Worte, die ihm selbst Leid tun, wenn der Moment vorbei ist und er sieht, welchen Schaden er angerichtet hat mit dem, was im Zorn gesagt wurde. Ich erinnere mich gut genug an die Worte, die er mir ins Gesicht gespuckt hat. Vorwürfe, die er sich selbst gemacht und auf mich projiziert hat. Wahre Worte. Wir haben beide dasselbe gefühlt. Wir tun es auch jetzt. Noct, der kleine Bruder, den wir so liebevoll großgezogen haben… er bedeutet uns beiden die Welt. Keiner von uns kann ohne ihn so richtig leben. Wer wären wir auch, ohne ihn? Unser ganzes Leben haben wir nur dafür existiert, ihn zu beschützen und zu stärken. Und wir haben versagt. Einfach versagt… Endlich kommt der erwartete Arzt, läuft achtlos an uns vorbei. Wir blicken zu dritt auf die Tür, die sich öffnet und schließt, aber Noct ist nicht zu sehen. Für keinen von uns. Prompto vergräbt das Gesicht wieder in den Armen, ich blicke wieder auf meine nutzlosen Hände und Ignis fängt wieder an, auf und ab zu laufen. Hin und her, hin und her. Der ganze Körper angespannt als wollte er aus seiner Haut springen und den ersten Gegner meucheln, der sich dafür anbietet. Ich dagegen… ich spüre gar keine Kraft mehr in meinem Körper. Ich bin nur noch ein nutzloses Stück Elend, das auf einer Bank im Gang eines Krankenhauses sitzt. Hundert Kilo verschwendeter Platz. Es fühlt sich an wie tausend Jahre, aber tatsächlich sind es nur ein paar Stunden, bis die Ärzte Nocts Zimmer verlassen. Eine einzelne Krankenschwester ersetzt sie, wird kurz gebrieft und schließt erneut die Tür hinter sich. „Mit wem von Ihnen darf ich sprechen?“, fragt der Arzt. Er sieht müde und abgekämpft aus. Ignis blickt mich an, und mir fällt wieder ein, dass ich der Anführer der Leibwache bin. Ich stehe auf, überrascht, dass meine Beine mich tragen, und blicke auf den Arzt herunter, der plötzlich ganz klein aussieht. Vom Sitz aus war er mir größer vorgekommen. „Wie geht es ihm?“, frage ich heiser. Der Arzt überlegt einen Moment. „Schwer zu sagen“, beichtet er schließlich, „Er ist wach, aber kaum bei Bewusstsein. Einen Herzinfarkt können wir ausschließen, auch sonst scheint seine Majestät körperlich komplett unversehrt.“ „Aber warum… warum ist er dann…?“ Der Arzt seufzt tief. „Wir vermuten eine Art magischen Schock“, erklärt er händeringend, „Aber damit haben wir nicht viel Erfahrung. Während der langen Nacht waren einzelne Gleven davon befallen, aber der Arzt, der diese Fälle studiert und behandelt hat, ist leider sehr plötzlich verstorben. Sein Sohn könnte wissen, was man tun kann, aber der Junge ist nicht mehr aufzufinden…“ „Gibt es denn keine Aufzeichnungen oder Informationen darüber?“, fragt Ignis ungläubig. „Nicht viel, was uns helfen könnte. Alles, was wir wissen, ist, dass so ein magischer Schock entsteht, wenn jemand mehr Magie verwendet, als er zur Verfügung hat. Ähnlich wie die bekannte MP-Stase, nur sehr viel schwerwiegender, da nicht nur alle im Körper vorhandene Magie verbraucht wird, bevor sie sich aufladen kann, sondern mehr als doppelt so viel.“ „Wie kann so etwas passieren? Wenn die MP aufgebraucht sind, sind sie aufgebraucht, dann kann man keine Magie mehr wirken. Wie sollte man dann noch mehr Magie verbrennen können?“ Ich verlasse mich darauf, dass Ignis weiß, wovon er redet – er ist der von uns dreien, der am meisten Ahnung von Magie hat und der einzige, der nach einem Warp nicht gleich kotzen muss. Prompto und ich kommen kaum dazu, mehr Magie einzusetzen als wir haben, einfach, weil es uns zu kompliziert ist. „Es gibt einige Zauber, die so etwas möglich machen“, erklärt der Arzt, „Doktor Occultos hätte natürlich mehr gewusst, aber soweit ich den wenigen Aufzeichnungen, die wir aus der langen Nacht haben, entnehmen konnte, sind es vor allem Schild- und Energiezauber, die eine gewisse Eigenstabilität haben und bei Gegenwind binnen Sekunden ihren Erhaltungsbedarf verdreifachen können. Wenn ich so vermessen sein darf, eine Vermutung anzustellen, würde ich davon ausgehen, dass Beispielsweise ein Angriff auf den Wall für solch einen Magieschock ursächlich sein könnte. Da der Wall trotz seiner Größe beachtlich stabil gegenüber den Siechern zu sein schien müsste es eine reichlich mächtige Attacke gewesen sein, ein einziger, plötzlicher Schlag mit genug Kraft, den König all seiner Magie zu berauben… Dass der Wall unter diesem Angriff trotz des beachtlichen Energieaufgebots zerbrochen ist würde natürlich bedeuten, dass der Angreifer geradezu übermächtig gefährlich sein müsste, insofern hoffe ich natürlich, dass ich falsch liege.“ „Das hoffe ich auch…“, murmle ich. Der Siecher, den wir im Norden der Hauptstadt bekämpft haben, war übel genug… aber hatte Noctis nicht bereits die Vermutung geäußert, dass die Gefahr von innen kommt? Dass jemand innerhalb von Lucis, vielleicht sogar innerhalb Insomnias, mit der Dunkelheit experimentiert? So jemand hätte natürlich ein Interesse daran, den Wall samt König beiseite zu räumen. Ich fürchte um die Menschen, die wir dort zurückgelassen haben, aber laut Cor ist alles in Ordnung und sogar der Strom ist, gerade noch rechtzeitig, zurück. Rashin lässt sich sicher feiern für seinen Erfolg, in der Not das rettende Licht zu bringen… der Held, der dann kommt, wenn der König versagt. Mich ärgert, wie sehr ihm das in die Hände spielt, aber ich habe nicht die Kraft, mich aufzuregen. Im Moment ist nur eines wichtig. „Sie sagten, der König wäre wach“, erinnere ich mich, „dürfen wir zu ihm?“ Der Arzt schweigt, blickt uns lange an. „Er braucht viel Ruhe“, sagt er schließlich, „absolute Ruhe. Aber einen von Ihnen würde ich für zehn Minuten ins Zimmer lassen. Ich denke, das wird ihm nicht schaden.“ „Ignis“, beschließe ich knapp. Ignis nickt, dankbar vielleicht, vielleicht auch einfach nur erleichtert. „Sie können ganz leise mit ihm sprechen“, erlaubt der Arzt, die Hand schon am Türgriff, „aber regen sie ihn nicht auf. Er hat viel Kraft verloren, jede weitere Anstrengung könnte ihn das Leben kosten.“ Die Tür geht auf und Ignis schlüpft hinein wie ein lautloser Schatten. Der Arzt verbeugt sich und geht, eilig, vielleicht schon auf dem Weg zu seinem nächsten Patienten. Ich lasse mich wieder auf den klapprigen Stuhl sinken. „Warum bist du nicht selbst gegangen?“ Promptos leise Frage überrascht mich. Ich sehe ihn an, schweige, während er sich vom Boden löst und auf den Sitz neben meinem klettert. Zitternd lehnt er sich an mich und ich lege automatisch wieder den Arm um ihn. Wir sind oft so gesessen in den letzten zehn Jahren. Schweigend, in Trauer verbunden und doch irgendwie unfähig, einander die Last zu erleichtern. „Noctis braucht Ruhe“, erkläre ich mich, „Ignis ist vielleicht der einzige von uns, der ihm das jetzt gewähren kann.“ Ich kann nicht für Prompto sprechen, aber ich selbst könnte mich kaum beherrschen, würde ich jetzt durch diese Tür gehen und mit Noct sprechen dürfen. Ich bin nicht wie Ignis – ich kann meine Gefühle nicht wegschließen, wenn es wichtig ist, Ruhe zu wahren. Prompto nickt und lehnt sich etwas stärker an mich. Beide blicken wir auf die verschlossene Tür vor uns, warten darauf, dass Ignis herauskommt und vielleicht etwas mehr sagen kann als der Arzt vor ihm. Zehn Minuten. Wie lang sind zehn Minuten? Crowe kann ich so etwas leicht erklären, wenn sie fragt. Bis der lange Zeiger der Uhr zwei große Zahlen weiter gewandert ist. Wie lange das dauert? Hier und heute… eine Ewigkeit. Kapitel 25: Dunkle Aussichten (Ignis Scientia) ---------------------------------------------- Das Warten ist mit Abstand der schlimmste Teil. Vor dieser Tür zu stehen, nicht zu wissen, was dahinter liegt, in welchem Zustand ich Noct vorfinden werde, wenn man uns endlich hereinlässt. Und immer dieses Bild vor Augen, wie er auf der dunklen Straße liegt, völlig leblos. Einen furchtbaren Moment lang hielt ich ihn für tot. Seine Atmung war schwach, sein Herzschlag langsam. Dann hat beides ganz ausgesetzt. In diesem Moment habe ich nur noch funktioniert, nur noch dafür gekämpft, ihn irgendwie bei uns zu halten, bis der Notarzt kommt. Wollte nicht glauben, nicht zulassen, dass es das schon gewesen ist. Wir waren doch gerade erst wieder alle zusammen. Endlich wieder zusammen unterwegs. Waren es zwei Monate? Drei? Viel zu kurz in jedem Fall. Noct darf nicht einfach wieder gehen. Ich würde alles tun, um das zu verhindern, aber im Moment kann ich nur sinnlos auf und ab laufen. Muss darauf vertrauen, dass die Ärzte für ihn kämpfen. Dass sie ihn retten können. Bis mir endlich erlaubt wird, zu ihm zu gehen. Leise, bitte, denn er braucht Ruhe. Nur zehn Minuten. Keine leichten Auflagen, aber ich weiß, dass ich sie erfüllen kann. Auch wenn es schwer fällt, ruhig zu bleiben, um Noct zu schützen würde ich alles tun. Es ist still in seinem Krankenzimmer, still und dunkel. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber nichts hätte mich auf den Anblick vorbereiten können, wie Noct in diesem Bett liegt. Blass, schwach und beinahe wie tot. Eine Krankenschwester steht neben der Tür, ihr strenger Blick erinnert mich an die Bibliothekarin an meiner Schule. Bloß keinen Ton… selbst das Geräusch meiner Schuhe kommt mir plötzlich unerhört laut vor. So leise wie möglich schleiche ich mich an das Bett heran, knie davor nieder und fasse vorsichtig nach Nocts Hand. Sie fühlt sich eiskalt an. Es ist keine Kraft darin, ich spüre keine Reaktion auf meine Berührung. Aber Noct schlägt die Augen auf. Sein Blick geht vage in meine Richtung, unfokussiert, zu schwach, die Lider ganz zu heben. „Guten Morgen, Noctis“, flüstere ich. Albern, denn noch immer ist es mitten in der Nacht, aber etwas Sinnvolleres fällt mir nicht ein. Nocts Augen fallen wieder zu, aber sein Gesicht neigt sich etwas in meine Richtung. Er ist schwach, aber er hat meine Anwesenheit zur Kenntnis genommen. Es fühlt sich fast normal an… wie jeden Morgen, wenn ich ihn wecke. Mir kommen die Tränen als mir klar wird, wie schnell er hätte sterben können. In welcher Gefahr er auch jetzt noch schwebt. Wie gern ich ihn in Zukunft jeden Tag ausschlafen lassen würde, wenn er nur heute einfach gesund aufwacht. Fast unbewusst reibe ich Nocts Hand zwischen meinen, um sie zu wärmen. Er wirkt beinahe wie tot, nur ganz schwach kann ich die Bewegung seines Brustkorbs sehen. Ich habe Angst… so furchtbare Angst, ihn wieder zu verlieren. „Ignis…“ Nocts Stimme ist schwach, gerade noch hörbar in der absoluten Stille des Zimmers. „Ich bin hier, Noct.“ Auch meine Stimme ist leise, nur ein Flüstern. „Der Ring…“ „Den habe ich an mich genommen. Ich wollte nicht riskieren, dass er in falsche Hände fällt.“ Wieder öffnen Nocts Augen sich einen Spalt breit, versuchen, mich anzusehen, und fallen wieder zu. „Mach keinen Scheiß.“ „Natürlich nicht. Einmal hat mir absolut gereicht“, versichere ich, wohl wissend, dass ich den Ring jederzeit wieder nutzen würde, wenn ich es müsste, um Noct zu retten. Aber das muss er nicht wissen. Wieder schweigt Noct, und fast denke ich, er wäre wieder eingeschlafen. Gerade will ich seine Hand loslassen, um mich aus dem Zimmer schicken zu lassen, da rührt er sich doch nochmal. „Geh nicht weg.“ „Natürlich nicht.“ Ich fasse Nocts Hand wieder fester, und diesmal meine ich, eine Bewegung seiner Finger zu fühlen, fast, als wollte er mich festhalten. „Gladio und Prompto sind auch hier, direkt vor der Tür. Wir lassen dich nicht allein, Noctis.“ Ich streichle seine Hand und blicke flehentlich in das strenge Gesicht der Krankenschwester. Sie presst die Lippen aufeinander, sagt aber nichts. Meine zehn Minuten sind fast sicher schon vorbei. Es klopft an der Tür, aber es ist nicht der Arzt, der mich rausschicken müsste. Es ist Luna. Als Nocts Ehefrau, Königin von Lucis und Kannagi erlaubt man ihr natürlich den Zutritt, der uns verwehrt worden wäre. Ich blicke sie schweigend an und halte weiter Nocts Hand. Der Boden neben dem Bett wird langsam unbequem unter meinen Knien, aber ich wage nicht, mich zu bewegen. Ich möchte Noct nicht beunruhigen. Luna nickt mir zu und tritt leise an die andere Seite des Bettes. Ich sehe zu, wie sie zärtlich Nocts Hand berührt, sein Gesicht und seine Schultern streichelt und ihn schließlich liebevoll auf die Stirn und auf die Lippen küsst. „Ich muss gehen, Noctis“, flüstert sie ihm zu, „Ich muss die Reise fortsetzen.“ Noct dreht sich nicht zu ihr und öffnet nicht die Augen, es scheint ihn viel Kraft zu kosten, auch nur zu antworten: „Nimm Iris und die Kinder mit.“ „Natürlich. Wir fahren alle zusammen weiter. Nur deine Jungs bleiben hier bei dir.“ „Uns würdet ihr hier auch nicht mehr wegbekommen“, füge ich hinzu, „Nicht mit hundert Behemoths.“ Noct lächelt. Luna drückt noch einmal seine Hand, bevor sie leise aufsteht. Fast schon an der Tür dreht sie sich nochmal um und kommt zurück an meine Seite. „Du hast den Ring der Lucii, nicht wahr?“, flüstert sie mir ins Ohr, „Ich würde ihn gerne an mich nehmen.“ Ich sehe der Königin in die Augen. Ich kenne sie nicht so gut, wie Noct es tut, aber ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann. Sie hat den Ring von König Regis entgegen genommen, um ihn Noct in Altissia zu überbringen, sie weiß, mit der Versuchung umzugehen. Ich ziehe den Ring aus meiner Tasche, zeige ihn ihr, und lege ihn bedächtig in ihre Hand. Luna nickt mir zu, nimmt den Ring an sich und geht ohne ein weiteres Wort. Die Krankenschwester sieht ihr hinterher, blickt dann mich an. Ich halte ihrem Blick stand, entschlossen, Nocts Wunsch zu entsprechen. Ich gehe hier nicht weg, bevor entweder Gladio oder Prompto mich ablösen. Einer von uns wird immer hier sitzen und seine Hand halten, damit er nicht alleine ist. Die Schwester seufzt tief und verlässt den Raum, ohne mich noch einmal aufzuscheuchen. Ich darf bleiben. Langsam schmerzen meine Knie auf dem harten Boden und ich muss versuchen, mich in eine bequemere Sitzposition zu bringen. Diesmal erlaubt Noct, dass ich seine Hand loslasse, nur kurz, damit ich mich frei bewegen kann. Egal, wie ich sitze, der Boden ist immer unbequem. Aber Noct scheint zu reichen, dass ich einfach bei ihm im Raum sitze. Die leisen Geräusche, die meine Anwesenheit verraten, scheinen ihm mehr Ruhe zu geben als absolute Stille es könnte. Ich lehne mich an die Wand wie Prompto vorhin am Automaten gelehnt hat und atme tief aus. Langsam fällt die Anspannung von mir ab… Noct ist fürs erste sicher, er schläft friedlich an meiner Seite und ich darf bei ihm bleiben. Es gibt nichts, was ich konkret tun kann, außer hier zu sein. Nichts, womit ich ihm helfen könnte, sich schneller zu erholen. Aber er lebt. Ein paar Stunden lang sitze ich einfach nur neben seinem Bett, lausche auf das Geräusch seines viel zu langsamen Atems und die unglaubliche Stille dieses Raumes. Was Gladio und Prompto wohl gerade machen? Luna wird den beiden gesagt haben, dass ich hier bleibe, damit sie sich keine Sorgen machen. Gerne würde ich ihnen noch eine kurze Nachricht schreiben, aber schon das Rascheln meiner Kleidung kommt mir viel zu laut vor hier drin. Noct braucht Ruhe… und wenn ich ehrlich bin, brauche ich die im Moment auch. So sehr ich mich sonst in Aktivität ergehe, jetzt gerade tut es mir unglaublich gut, einfach nichts zu tun. Vielleicht, weil es genau das ist, was Noct jetzt braucht. Einfach nur jemand der da ist, ohne zu stören. Schließlich kommt wieder die Schwester herein, diesmal in Begleitung des Arztes, mit dem wir vorhin gesprochen haben. Beide blicken mich schweigend an, scheinen meine Anwesenheit aber hinzunehmen. Während der Arzt Noct noch einmal einer oberflächlichen Untersuchung unterzieht und seine Vitalwerte misst, verlässt die Schwester den Raum und kommt kurz darauf mit einem Stuhl wieder. Gladio ist bei ihr, er kommt direkt auf mich zu und klopft mir auf die Schulter. „Wachablösung“, brummt er kaum hörbar. Ich nicke ergeben und verlasse schweigend den Raum, während Gladio sich den Stuhl dahin stellt, wo ich vorher noch so unbequem auf den nackten Fliesen gesessen habe. Mein ganzer Körper fühlt sich steif an. Zurück auf dem Flur strecke ich mich erstmal ausgiebig, teste den frischen Schmerz in meinen Gliedern. Prompto wartet schweigend, bis ich fertig bin, dann nickt er Richtung Ausgang. Ich seufze und folge ihm. „Ich hab ein Zimmer im Leville reserviert“, berichtet er, kaum, dass wir wieder auf der Straße sind, „Nur zwei Betten, aber das reicht. Gladio will, dass wir uns in Schichten abwechseln, alle acht Stunden.“ „Das gerade waren deutlich weniger als acht“, fällt mir auf. Prompto grinst schief. „Kannst du‘s ihm verübeln? Und nach der ganzen Aufregung… wir konnten im Auto ja immerhin etwas schlafen, aber du musst langsam echt müde sein. Dass Gepäck haben die von der Garde uns schon ins Zimmer hoch gebracht, wir können uns also gleich hinlegen.“ Ich nehme an mit ‚wir‘ meint er mich. Selbst wenn der Check-In schon gelaufen und das Gepäck oben ist gibt es noch einiges zu organisieren und zu regeln. Mein Gehirn ist träge, aber selbst in diesem Zustand fällt mir noch viel zu viel ein. Prompto weiß das, und ohne Noct gesehen zu haben, schläft er sicher nicht leicht ein… nicht, wenn er in weniger als acht Stunden schon wieder im Krankenhaus sein will. Der Weg vom Hotel dorthin und zurück ist zum Glück nicht weit, trotzdem bin ich dankbar, ausschlafen zu können, sodass ich lang vor meiner nächsten Schicht wach sein werde. Das Zimmer ist klein, wesentlich kleiner als das, das wir uns sonst zu viert geteilt haben. Aber diesmal sind wir ja auch nur zu zweit. Und wie es aussieht wird die meiste Zeit auch nur einer von uns wirklich schlafen. Ich lasse mich in das Bett fallen, das der Tür am nächsten steht, und schließe die Augen. Nur kurz, wirklich nur einen Moment, um wieder zu Kräften zu kommen, damit ich mich umziehen und mir die Zähne putzen kann. Ich spüre, wie Prompto mir die Schuhe auszieht, meine Beine ins Bett hebt und die Decke über mich zieht, wie ich es so oft für ihn getan habe, wenn er doch mal bei mir übernachtet hat. Er hat mir nie anvertraut, dass er nur ein dünnes Zelt zum Wohnen hatte. Jetzt, wo ich es weiß, wird mir auch klar, warum er vor allem im Winter und bei starkem Regen Gründe gefunden hat, abends ganz aus Versehen auf meiner Couch einzuschlafen, damit ich ihn einfach dort liegen lasse. Wenn ich gewusst hätte, wie es im Westviertel zugeht, hätte ich ihm ein Gästezimmer hergerichtet. Aber ich wusste nichts… weil Prompto Rücksicht auf mich genommen hat. So ein guter Mann… Noct hatte von Anfang an Recht mit ihm. Prompto war nie besonders stark und er ist kein Adliger. Aber er ist ein wirklich guter Freund, auf den man sich in der Not verlassen kann. Als ich die Augen wieder öffne, ist er fort, dafür schnarcht Gladio im Bett neben meinem. Wie lange habe ich geschlafen? Ein Blick unter die Decke verrät, dass ich immer noch voll bekleidet bin. Seufzend stehe ich auf und schleiche ins Bad. Erstmal duschen und den sauberen Bademantel überziehen, dann mache ich mich daran, das Chaos zu bändigen, dass in Bad und Zimmer herrscht. Ich nehme mein Lob nicht zurück: Prompto ist ein guter Kerl. Aber sein Ordnungssinn ähnelt dem vom Noctis. Alles liegt genau da, wo es hinfällt, und wer nicht aufpasst, fällt über einen Rucksack oder ein Paar Schuhe. Auch Gladios Kleidung ist achtlos über den Boden verteilt. Gut, ihn entschuldigt die Müdigkeit, aber ich habe dennoch das Gefühl, mit einer Gruppe unzivilisierter Garulas zu reisen. Nocts Reisetasche liegt offen auf einem Sessel, anscheinend hat Prompto seine Schlafanzüge, den Plüschmogry und ein paar Badsachen herausgezogen, um sie ins Krankenhaus mitzubringen. Was dabei herausgefallen ist, liegt auf dem Boden, wo es sich mit den anderen Sachen vermengt. Auch Promptos Reisetasche ist offen und durchwühlt, als hätte er sich nochmal umgezogen. Gladios Rucksack liegt auf dem anderen Sessel, hier fehlt die Badtasche, die ich vorhin vom Klodeckel heben musste, und vermutlich eine der Unterhosen, die jetzt auf dem ganzen Boden verteilt liegen. Um einen Schlafanzug hat der Mann sich nicht bemüht, aber er hat ja auch nichts zu verstecken. Seufzend schiebe ich Gladios schlafende Form wieder richtig ins Bett. Dann lese ich die Decke vom Boden auf, breite sie über ihn und stecke sie an den Enden fest, damit er nicht friert. Mit einem weiteren Seufzer mache ich mich daran, die Sachen vom Boden aufzulesen, zu sortieren und wieder ordentlich in die jeweiligen Taschen zu falten, die ich dann sorgfältig in unserem einzigen Regal verstaue. Lediglich mein Koffer ist unangerührt und verschlossen. Ich suche mir frische Kleidung und meine Badsachen heraus, beende meine Morgentoilette und frage mich, wie man nur bei solch einfachen Tätigkeiten so ein Durcheinander verursachen kann. Es ist doch wirklich genug Platz da, um alles ordentlich zu verräumen oder zumindest beiseite zu legen, nachdem man es benutzt hat. Als ich schließlich ins Krankenhaus zurückkomme, um meine nächste Schicht zu beginnen, sieht alles schon wesentlich entspannter aus. Noct ist immer noch blass und schläft tief und fest, aber er trägt jetzt seinen eigenen Schlafanzug und scheint gleichmäßiger zu atmen als letzte Nacht. Prompto sitzt auf dem Stuhl neben dem Bett und zockt Kings Knight, um sich wach zu halten. Er hat tiefe Ringe um die Augen und wirkt reichlich froh, mich zu sehen. „Irgendwas neues?“, flüstere ich ihm ins Ohr, als er aufsteht, um mich zu begrüßen. Prompto schüttelt den Kopf. „Noct war kurz wach und hat mich angesehen, aber nichts gesagt. Scheint aber, als hätte er seine Ruhe, solange er weiß, dass einer von uns da ist.“ Ich nicke. „Das war ihm wichtig, ja.“ Ich kann mir gut vorstellen, dass Prompto es sich die ganzen acht Stunden über verkniffen hat, aufs Klo zu gehen, um Noct nicht mal fünf Minuten allein zu lassen. Vermutlich werde ich es ähnlich halten und entsprechend wenig trinken, solange ich hier bin. Nicht gesund, aber… Aber Nocts Wohlbefinden ist mir wichtiger als alles andere. Kapitel 26: Dornröschen (Prompto Argentum) ------------------------------------------ Drei Wochen ist es jetzt her, dass Noct einfach auf der Straße zusammengebrochen ist. Schon nach nicht mal einer Woche durften wir ihn aus dem Krankenhaus ins Leville verlegen, in der Hoffnung, der Tapetenwechsel würde ihm gut tun. Ignis hat dafür ein zweites Zimmer gebucht, dieses mit einem Doppelbett statt zwei einzelnen, damit Noct es schön bequem hat. Sein Zustand scheint stabil, aber viel hat sich nicht geändert. Er schläft immer noch den ganzen Tag, braucht vor allem Ruhe. Gladio und Ignis würden es nie zugeben, aber langsam macht uns der Schichtdienst fertig. Acht Stunden Wache halten, dann sechzehn bis zur nächsten Wache. Wir alle haben es sinnvollerweise so beibehalten, dass wir immer direkt nach der Wachschicht schlafen, egal, ob es gerade Tag oder Nacht ist. Einfach, weil es leichter ist, die Freizeit vor dem Dienst zu haben, aber vor allem, weil es schon wahnsinnig anstrengend ist, acht Stunden ohne Pause wache zu halten. Und es ist nicht nur das – seit Noct aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sind wir es, die ihn Pflegen müssen. Das meiste übernimmt Ignis in seiner Schicht, und dafür bin ich dankbar. Aber es gibt Dinge, die mehr als einmal am Tag anfallen, und da trifft es uns alle. Dabei ist es längst nicht so, dass Nocts Zustand sich gar nicht bessert. Er schläft noch immer Tag und Nacht, kann sich nicht aufrichten oder selbstständig bewegen und ist kraftlos wie ein Neugeborenes, wenn auch bei weitem nicht so klein und leicht. Aber er ist inzwischen immer öfter, immer länger wach und es fällt ihm zusehends leichter, kurzen Unterhaltungen zu folgen und selbst ein wenig dazu beizutragen. Wenn ich seine Hand festhalte, kann ich manchmal spüren wie er versucht, die Geste zu erwidern, und er dreht sein Gesicht in meine Richtung, wenn ich mit ihm Spreche. Auch, sich ein wenig aufrichten zu lassen, damit ich ihm Tee und Brei einflößen kann, macht ihm immer weniger Probleme. Trotzdem wird er noch oft bewusstlos, wenn er zu sehr versucht, uns die Arbeit leichter zu machen. Seufzend lege ich mein Handy beiseite, selbst auf Kings Knight kann ich mich langsam nicht mehr konzentrieren. In meiner Verzweiflung habe ich sogar zu lesen begonnen, richtige Bücher, keine Comics, nur um irgendwie die Zeit rumzubringen, die ich hier sitzen muss. Jeden Tag, oder auch mal zweimal am Tag, wie die Schichten eben gerade fallen. Wenn wir wenigstens zu viert wären könnten wir den Tag immerhin komplett aufteilen, dass sich ein steter Tagesrhythmus einstellen kann, aber so gibt es immerhin keinen Streit, wer die Mitternachtsschicht nehmen muss. Jeder kann mal bei Tageslicht raus, jeder mal im Dunkeln schlafen. Hart aber fair. Ich blicke auf Noct, stelle noch einmal sicher, dass es ihm gut geht und dass er immer noch vernünftig atmet. Es ist ironisch… wir haben immer darüber gescherzt, dass Noct den ganzen Tag schläft. Er war immer der letzte der aus dem Zelt gekrochen ist. Immer der letzte, der morgens fertig wird. Schon in der Schule ist er oft eingeschlafen, wenn der Lehrer zu lange und zu viel geredet hat. Und wenn nicht da dann spätestens in der U-Bahn, auf dem Weg nach Hause, oft vertraut an meine Schulter gelehnt. Froh, jemanden zu haben, den er kennt und der aufpasst, dass er seine Station nicht verpasst. Aber so wie jetzt war es nie. Zärtlich streichle ich sein Gesicht. Ignis hat ihm gerade erst wieder den Bart gemacht, er sieht richtig hübsch aus, wie er hier schläft. Wie die Prinzessin im Märchen… es würde mich nicht wundern, wenn bald Dornenranken die Wände des Leville hochklettern und wir auch alle in tiefen Schlaf fallen, wartend auf die ‚wahre Liebe‘ die den Fluch bricht. Aber wenn es so einfach wäre, wäre Noct schon längst wach. Auf die Idee ist Luna ja auch schon gekommen. Noct reagiert nicht auf meine Berührung, auch nicht, als ich ihm ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht streiche. Im Moment schläft er wohl wirklich, anstatt nur zu ruhen… sonst hätte er mich erkennen lassen, dass er die Berührung bemerkt. Hätte sein Gesicht in meine Richtung gedreht und die Augen geöffnet. Vielleicht, um mir die Chance zu geben, ihm Essen und Trinken anzubieten, vielleicht, um mir zu sagen, wie dankbar er uns allen ist. Das ist auch etwas, was mir große Sorgen macht. Ja, die Zeit im Kristall hat Noct verändert. Es fällt ihm seitdem leichter, über seine Gefühle zu sprechen, er ist offener und generell fällt es ihm leichter, auch mal Danke zu sagen für etwas, was er vorher als selbstverständlich genommen hat. Weil es auch selbstverständlich ist, zumindest für uns. Aber so wichtig wie jetzt war es ihm nur einmal, uns wissen zu lassen, wie dankbar er uns ist und wie sehr er uns liebt. Damals, kurz vor der letzten Schlacht… Noct ist immer davon ausgegangen, dass wir schon wissen, wie sehr er uns schätzt. Und das hätte er auch jederzeit gesagt, hat es mich immer wissen lassen, wenn ich meine Zweifel angesprochen habe, ob ich gut genug bin, genug für ihn und die Gruppe tue. Nur mit der Gewissheit, dass der Tod sein nächstes Ziel ist, wollte er keine Fragen mehr abwarten. Hat plötzlich jedes Mal danke gesagt, wenn wir morgens auf ihn warten mussten, ist von selbst auf jeden von uns zugekommen um uns wissen zu lassen, wie viel wir ihm bedeuten. Weil er wusste, dass er keine Zeit mehr hat. Dass jedes Wort, das er an uns richtet, sein letztes sein könnte. Ich habe Angst, dass es jetzt wieder so ist. Dass er sich schon auf der Schwelle zum Jenseits sieht und nur noch mit letzter Kraft sicherstellen will, dass wir uns seiner Zuneigung wirklich bewusst sind. Draußen ist es inzwischen komplett dunkel, aber ich habe noch mehr als fünf Stunden bis zum Ende meiner Schicht. So schnell wird keiner hereinkommen… ich will nicht, dass jemand mich weinen sieht. Mit zitternden Händen streiche ich Nocts Decke glatt, zögere noch einen Moment, bevor ich mich schließlich zu ihm aufs Bett lege. Platz ist ja genug… und ich schlafe nicht wirklich. Ich will nur nahe bei ihm sein, spüren, dass er noch atmet, dass er noch warm und lebendig ist. Ich rutsche ein wenig näher auf der Decke, bis ich Nocts Körper direkt neben mir spüren kann, und lege meine Hand auf seine Brust. Sein Herzschlag geht langsam, aber gleichmäßig. Auch das wird langsam immer besser, und es beruhigt mich. Er wird wieder gesund… vielleicht nicht morgen und vielleicht nicht diesen Monat, aber Noct wird wieder gesund. Ich zähle die Herzschläge, die ich unter meiner Hand spüren kann, und mein eigener Puls kommt mir rasend schnell vor im Vergleich. Immerhin habe ich inzwischen gelernt, nicht mehr zu versuchen, meine Atmung an seine anzupassen – Noct atmet viel zu langsam als dass derselbe Rhythmus einen wachen Menschen erhalten könnte. Selbst für einen Schlafenden atmet er noch fast zu wenig. Es reicht gerade so zum Leben… mit ein Grund, warum jede Aufregung gefährlich für ihn wäre. Er hat einfach nicht die Kraft, darauf zu reagieren. Ein Geräusch vor dem Fenster lässt mich aufmerken. Ich spitze die Ohren, lausche, was es ausgelöst haben könnte. Um diese Zeit kommen manchmal schon die ersten betrunkenen Touristen zurück, um es noch vor Torschluss um Mitternacht hineinzuschaffen. Von denen tritt öfter mal jemand ein Schild um oder lässt eine Dose fallen. Aber sie sind nie besonders still dabei. Eine Katze vielleicht? Angestrengt konzentriere ich all meine Sinne darauf, Abweichungen in der Dunkelheit wahrzunehmen. Ein weiteres Geräusch, einen Geruch, ein Gefühl… Ein schwacher Lichtstrahl huscht über das Bett, das Licht der starken Straßenlaternen, plötzlich sichtbar, als der Wind den schweren Vorhang bewegt. Ich hatte vorhin erst überprüft, dass das Fenster fest verschlossen ist, und so beschwöre ich meine Waffe, drehe mich auf dem Bett um und stehe in einer einzigen, fließenden Bewegung vor dem Bett. Der Lauf meiner Lionheart glänzt bläulich im matten Schein der Nachtlichter, er zeigt direkt auf den Schatten, der sich schwach vor dem dunklen Fenster abhebt. „Was würden deine Freunde wohl dazu sagen wenn sie wüssten, dass du bei der Wache schläfst?“, fragt der Schatten. Speros Stimme. Ich antworte nicht, aber der Hahn meiner Waffe hallt laut durch die nächtliche Stille, als ich ihn zurückziehe. Ich kann direkt hören, wie die Kugel in den Lauf rutscht, und Spero tut es sicher auch. Im wenigen Licht, das von draußen durch die geschlossenen Vorhänge dringt, kann ich seine Silhouette sehen, wie er langsam die Hände hebt. „Ich bin unbewaffnet“, informiert er mich, wohl wissend, dass ich ihn längst zu gut kenne, um die Lüge zu glauben, „Bitte, ich bin nicht hier, um euch anzugreifen.“ „Verschwinde“, knurre ich, und mein Finger nähert sich dem Abzug, „Raus.“ „Willst du nicht hören, was ich zu sagen habe?“ „Wenn du reden willst komm morgen früh in die Hotellobby. Durch die Tür, wie ein normaler Mensch auch. Vielleicht reden wir dann mir dir.“ „Es ist wichtig. Ich muss dich allein sprechen.“ „Raus.“ Meine Waffe ist immer noch direkt auf Spero gerichtet, folgt seinen vorsichtigen Bewegungen. Wieder macht sich bezahlt, dass ich im Dunkeln zu zielen gelernt habe. Ich habe keinen Nachteil unter den Lichtverhältnissen. Mein Finger liegt jetzt auf dem Abzug. Ich weiß nicht, ob Spero es sehen kann, aber es würde mich nicht wundern, wenn er ein Nachtsichtgerät trägt. Scheiß Assassine. „Okay, ganz ruhig. Nicht schießen.“ Er hat es also wirklich gesehen. „Ich werde jetzt einfach verschwinden und morgen früh wiederkommen. Bei Tageslicht, wie du gesagt hast, und ganz brav durch die Tür, okay?“ Ich schweige, halte nur weiter meine Waffe auf ihn. „Ich wäre nicht gekommen, wenn es nicht wichtig wäre, glaub mir.“ Spero hat sich immer noch nicht bewegt. Ich lausche angestrengt, nicht auf seine Worte, sondern auf jedes Geräusch, das er darunter maskieren könnte. Schritte im Gang, der Griff der Tür, das leise piepen des Schlosses, wenn man die Karte hineinsteckt. Irgendwas, was auf einen zweiten Angreifer oder eine Finte hinweisen würde. „Bitte Prompto, wir sind nicht deine Feinde.“ „Dann müsstest du dich auch nicht mitten in der Nacht durchs Fenster schleichen wie ein verdammter Meuchelmörder.“ „Nimm die Waffe runter und ich verschwinde, okay? Bitte erschieß mich nicht.“ „Ich nehme die Waffe nicht runter. Raus.“ Ich kann Spero angestrengt atmen hören, rieche seine Angst. Ganz langsam nimmt er die Hände herunter, tastet nach dem Fensterrahmen hinter sich. Es scheint ihm schwer zu fallen, rückwärts auf den Sims zu klettern, aber er wagt wohl nicht, mir den Rücken zuzudrehen. Hält er mich echt für jemanden, der einem Fliehenden feige in den Rücken schießt? Trotzdem nehme ich die Waffe nicht herunter. Wir sind im dritten Stock, da hätte er sich auch vorher überlegen können, wie er wieder rauskommt, ohne erschossen zu werden. Letztendlich strauchelt er, wohl zu unentschlossen, ob er sich fallen lassen oder irgendwie klettern soll. Ich kann hören, wie er ein Stockwerk tiefer einen Vorsprung zu fassen bekommt, und das Klirren der Schwerter, die er unter seinem Umhang verborgen hatte. Unbewaffnet, in der Tat. Ich sichere die Waffe, bin mit zwei Schritten am Fenster. Spero hängt hilflos an der Fassade, seine aufgerissenen Augen blicken mich verzweifelt an. Ich greife nach den Scheiben, um das Fenster zuzuschlagen, auf Schaden zu prüfen und wieder zu verriegeln, aber letztendlich… „Einen Meter links von dir ist eine Regenrinne“, informiere ich Spero, „Damit solltest du sicher nach unten kommen.“ Spero nickt und blickt zur Seite. Ich sehe noch, wie er anfängt, sich in die Richtung zu hangeln, und inspiziere das Fenster. Er scheint die Hebel von außen mit einem starken Magneten bewegt zu haben… ich schlage das Fenster zu und fixiere beide Griffe von innen mit Panzertape. Definitiv etwas, was ich Ignis bei der Übergabe sagen muss. Und Gladio auch direkt – wenn meine Schicht vorbei ist, dürfte er schon gute acht Stunden geschlafen haben, da ist es okay, wenn ich ihn wecke. Meistens wacht er eh auf, wenn ich übermüdet durchs Bad taumle… und so sehr, wie ich in den letzten drei Minuten geschwitzt habe, werde ich vor dem Schlafengehen auf jeden Fall noch duschen müssen. Aufatmend lasse ich mich wieder auf den Stuhl zurücksinken, nehme die Kugel aus dem Lauf und lege sie wieder ins Magazin, bevor ich die Waffe verschwinden lasse. Praktisch, diese Magie… weiß man auch erst zu schätzen wenn man mal zehn Jahre ohne auskommen muss. Noct scheint die ganze Szene zum Glück ungestört verschlafen zu haben. Ich richte noch einmal seine Decke, stelle gleichzeitig sicher, dass er auch wirklich unversehrt ist und beruhige mich langsam wieder. Das hätte gerade echt schief gehen können. Noch einmal streichle ich Nocts Gesicht, und diesmal öffnet er verschlafen die Augen. „‘Morgen, Dornröschen“, flüstere ich, als wäre nichts passiert, „Kann ich dir was Gutes tun?“ Nocts Augen fallen wieder zu, aber er lehnt sein Gesicht gegen meine Hand, als wollte er das Gespräch noch nicht beenden. „Wasser“, murmelt er schließlich, kaum hörbar. Hätte ich nicht seinen warmen Atem auf meiner Haut gespürt hätte ich vielleicht nicht mal gemerkt, dass er redet. „Alles klar, kommt sofort.“ Ein Krug frisches Wasser steht zum Glück immer auf dem Nachttisch bereit. Ich fülle etwas davon in die Schnabeltasse, schiebe meinen Arm unter Nocts Schultern, um ihn etwas aufzurichten, und führe den Ausguss der Tasse an seine Lippen. Vorsichtig kippe ich die Tasse, dass das Wasser in Nocts Mund läuft, schön langsam und immer nur ein paar Tropfen, damit er sich nicht verschluckt. Der arme Kerl zittert unter der Anstrengung, aber er schafft es immerhin, die halbe Tasse zu leeren, bevor ich ihn wieder aufs Kissen sinken lassen muss. „Da hatte ja einer Durst, was?“, scherze ich und wuschle ihm durch die Haare. Noct lächelt schwach. Er sieht zufrieden aus… erschöpft, aber glücklich. Um nachher keinen Ärger mit Ignis zu bekommen kämme ich Nocts Haare wieder ordentlich zurecht. Er scheint die Berührung zu genießen und ist bald wieder friedlich eingeschlafen. Am liebsten würde ich mich wieder neben ihn liegen, aber ich bin völlig verschwitzt und mir sitzt der Schreck noch in den Gliedern. Selbst sitzen fällt mir im Moment schwer… Ich greife nach dem Buch, das Gladio mir geliehen hat, und versuche, mich wieder in die Welt des fiktiven Ortes Edo tragen zu lassen, wo stolze Krieger in Bambusrüstungen große Schlachten schlagen um ihren Kaiser zu schützen. Nicht gerade mein übliches Genre, aber ich kann verstehen, was Gladio daran so toll findet. Genau seine Mentalität eben. Das angenehme an der Nachtschicht ist, dass Noct wenig Hilfe braucht in der Zeit. Er wacht vielleicht alle zwei Stunden mal auf, um etwas zu trinken, und braucht entsprechend auch ein, zweimal Hilfe am anderen Ende der Verdauung, aber sonst ist es eher ruhig. Tagsüber wird er öfter wach, braucht zu essen, und der Windeldienst ist dann auch unangenehmer. Ich beschwere mich nicht – ich mag Noct und ich helfe ihm gern. Aber es ist keine leichte Arbeit. In der Theorie ist es dasselbe, als würde man sich um einen Säugling kümmern, aber Noct ist eben ein erwachsener Mann und wiegt entsprechend mehr als drei Kilo. Und anders als ein gesundes Baby kann er auch nicht einfach eifrig Milch aus einer Flasche nuckeln; dazu hat er nicht die Kraft. Kann man alles als Training sehen und ich bin ziemlich sicher, dass die Muskulatur in meinen Armen und Schultern deutlich gewachsen ist in den letzten drei Wochen, aber davon spüre ich im Moment auch eher den Muskelkater und die Ermüdung. Es wird besser, wann immer ich gerade geschlafen habe, aber gerade zum Ende meiner Schicht hin tut mir einfach nur noch alles weh. Entsprechend froh bin ich, als Ignis an die Tür klopft, um mich abzulösen. „Guten Abend, Prompto“, grüßt er flüsternd, „Gibt’s irgendwas Neues?“ Ich blicke zu Noct, unschlüssig, wie laut ich reden kann, ohne ihn zu wecken. Den üblichen Text zum Wachwechsel kann er ruhig mitbekommen, das interessiert ihn wenig und meistens schläft er da auch einfach weiter. Aber was ich jetzt zu sagen habe… „Spero war hier. Also…“ „Der Assassine, der Noct damals entführt hat?“, erinnert sich Ignis. Ich nicke, weil es leiser ist als flüstern. „Hat sich durchs Fenster reingeschlichen, anscheinend sind die Hebel magnetisch.“ Ignis blickt zum Fenster. Ich frage mich, wie viel er sehen kann – das Zimmer selbst ist durch die Nachtlichter recht gut beleuchtet, gerade genug, dass keine Siecher aus dem Teppich kriechen, aber das Fenster liegt im Schatten. Für Ignis an sich aber kein Problem, der sieht auch mit geschlossenen Augen gut. „Glaubst du, er kommt wieder?“ „Ich glaube, ich hab ihn ausreichend verschreckt, dass er nicht nochmal hochklettert“, wage ich zu vermuten, „Hab ihm gesagt, er soll durch die Tür kommen und mich in der Lobby treffen, wenn er reden will.“ Ignis nickt. „Danke dir, Prompto. Ich werde gut aufpassen.“ Kapitel 27: Nachtlager (Nyx Scientia) ------------------------------------- Seufzend sitze ich am Lagerfeuer. Mein Körper erscheint mir unwirklich klein, wie er so ganz in dem riesigen Campingstuhl versinkt, aber das liegt nur daran, dass es ein Stuhl für Erwachsene ist. Ich bin groß für mein Alter, aber eben immer noch ein Kind. Dabei bin ich inzwischen sogar schon neun, auch wenn keiner an meinen Geburtstag gedacht hat. Ich bin deswegen nicht böse; nach dem, was mit König Noctis passiert ist, habe ich selbst nicht mehr daran gedacht. Es gibt wichtigere Dinge auf der Welt, als dass ein Kind mal ein Jahr älter geworden ist. Die Geschenke wären im Moment eh nur im Weg. Wir haben die geplante Reise ohne Noctis fortgesetzt, aber eigentlich nur bis zur nächsten Tankstelle. Wegen der vielen Siecher und den mutierten Tieren, aber auch wegen der MI, die überall aufgetaucht sind, hat Königin Luna unseren Geleitschutz zurückgeschickt, um dem Volk zu helfen. Tante Iris kann sie allein beschützen, während sie ihrer Pflicht als Kannagi nachkommt, den Menschen hilft, zu den Göttern betet, und die alten Runen an den Campingplätzen wieder zum Leuchten bringt. Mit Tante Iris bleibt auch Talcott, und damit auch wir. Und so sitzen wir jetzt an einem dieser Campingplätze und warten darauf, dass die Nacht kommt und wieder geht. Anfangs war es ein tolles Abenteuer… als wir uns heimlich von den Hotels und Gaststätten weggeschlichen haben, um die Königsgräber zu sehen. Aber spätestens jetzt, wo wir alleine mit dem Star of Lucis unterwegs sind, ist aus dem Spiel ein echtes Abenteuer geworden. Eines, bei dem man nicht abends nach Hause kommt oder bei Regen aufhören kann. Ein echtes Abenteuer mit echtem Risiko und echtem Mistwetter. Ich habe Crowe gesagt, sie soll so tun, als wären wir die Zwiebelritter in Final Fantasy, aber lange hat das nicht geholfen. Es ist schließlich nur ein Anime… egal, wie sehr die Charaktere am Bildschirm jammern, man versteht erst, wie schlimm zelten sein kann, wenn es mal drei Tage durchregnet. Heute ist es zum ersten Mal wieder richtig trocken… Deswegen bauen Talcott und Iris das Zelt auch jetzt schon auf, damit es noch etwas trocknen kann, bevor wir und schlafen legen. Und, um es auszulüften, gegen den Schimmel. So bequem das Zelt anfangs mal war, jetzt ist es darin muffig und kalt. Ganz wasserdicht ist es auch nicht mehr, aber Iris kann die Wachsschicht erst erneuern, wenn es mal ganz trocken ist. Seufzend drehe ich die Karfunkelfigur in meinen Händen. Die hat Noctis mir mitgegeben, als Talisman. „Ich hoffe, dass du seine Hilfe nicht brauchen wirst“, hat er gesagt. Ich hoffe es auch, und bisher ging auch alles gut. Wir haben noch kein Monster getroffen, das Talcott nicht allein besiegen konnte, während Iris uns deckt. Sie ist ein toller Schild, auch wenn sie noch kein cooles Adlertattoo hat, um es zu beweisen. In Hammerhead will sie es sich aber stechen lassen, weil sie jetzt ganz offiziell der Schild der Königin ist. „Darf ich mich zu dir setzen, Nyx?“ Ich zucke zusammen, als die Königin an den Stuhl neben mir tritt, und nicke eilig. Ich hab sie gar nicht kommen sehen… mich sollte man besser nie als Wache einteilen. „Ja, natürlich, euer Hoheit“, antworte ich schnell, „Schön, dass Ihr es noch vor Sonnenuntergang geschafft habt.“ Bis eben war Königin Luna allein in die naheliegende Siedlung gefahren. Es sind nur zwei oder drei Bauernhöfe, gut beleuchtet gegen die Siecher, aber die Menschen dort waren besorgt. Ein alter Farmer hatte wohl befürchtet, von der Seuche befallen zu sein. Ich frage mich, warum wir nicht dort übernachten, so ein Stall ist sicher schön warm und windgeschützt. Aber natürlich hätten die Bauern sich alle Beine ausgerissen, damit die Königin und ihre Begleiter angemessen schlafen können, und das hätte Ihre Majestät nicht gewollt. Wir können auch einfach campen. „Bitte, nenn mich ruhig Luna, wenn wir allein sind.“ „Königin Luna…“ „Nur Luna reicht. Wir schlafen alle in einem Zelt, da haben große Titel keinen Platz.“ Ich stelle mir das bildlich vor und muss den Kopf schütteln, um den Gedanken loszuwerden. Albern, so hat sie es bestimmt nicht gemeint. „Du sahst so nachdenklich aus, vorhin. Was geht dir im Kopf herum, Nyx?“ „Viel“, gebe ich zu, „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ Das Zelt und die Nässe waren etwa das Letzte, was mir durch den Kopf ging, aber bei weitem nicht das einzige. Auch die Zwiebelritter aus Final Fantasy gehen mir durch den Kopf, und, dass sie durch die Welt gereist sind und viel Zelten mussten, weil sie eine Mission hatten. Kinder wie wir, vom Schicksal ausgewählt, um die Welt zu retten. Aber sowas passiert nicht in echt, oder? Keiner würde sein Kind alleine auf so eine gefährliche Reise gehen lassen, einfach so. Oder zumindest nicht ohne einen erwachsenen Aufpasser… wie Iris und Talcott. Ich seufze tief. „Ich hab wieder an die Schule denken müssen“, finde ich schließlich den Anfang meiner Sorgen wieder, „Und an die anderen Kinder in meiner Klasse.“ „Du vermisst sicher deine Freunde.“ Ich schüttle nachdenklich den Kopf. „Ich habe nicht viele Freunde außer Crowe. Da ist nur dieser Junge, Nova… er geht in meiner Klasse. Er ist der Sohn von Rashin, deswegen weiß ich nicht, ob wir überhaupt Freunde sein dürfen, aber ich hab ihn recht gern. Nur ist er oft lange krank, und wenn er dann wieder kommt ist er… naja… etwas seltsam.“ „Wegen seiner Krankheit?“, vermutet Luna. „Weiß nicht. Er wirkt nicht krank seltsam, also auch nicht vom Kopf her, es ist eher… als wäre er jemand anderes, weißt du? Er erinnert sich aber an alles, nur eben so, als ob er es nur aus einem Film oder Buch kennt, als hätte er nichts davon selbst erlebt. Aber irgendwie fällt das auch niemandem sonst auf.“ Mir fällt wieder ein, wie mich der Lehrer gerügt hat, als ich diese Bedenken zuletzt geäußert habe, und der lange Besuch beim Psychiater, der mir Fragen gestellt hat, ob ich sowas öfter habe… ob ich öfter denke, Leute, die ich kenne, wären ausgetauscht worden. Als wäre ich es, der nicht in Ordnung ist, und nicht Nova. Letztendlich musste ich sagen, dass ich mich geirrt habe, dass ich nur verwirrt war, weil er so lange weg war. Immerhin war Nova damals fast ein Jahr lang krank gewesen. Beschämt blicke ich wieder auf den Talisman in meinen Händen, aber Luna rügt mich nicht. „Jedenfalls…“, fange ich wieder an, als ich merke, wie aufmerksam sie immer noch zuhört, „Ist er gerade wiedergekommen, als ich zuletzt in der Schule war. Er war traurig, dass ich nicht lange bleibe, aber er war froh, nochmal mit mir reden zu können, bevor ich losfahre. Ich hab mich auch gefreut, aber…“ „Aber es hat sich seltsam angefühlt? Als wäre er jemand anderes?“ „Ja, auch. Aber das hab ich ignorieren gelernt, weil es immer so ist, nachdem er krank war. Ich mag ihn trotzdem gern, wir sind Freunde. Es ist nur… diesmal war es schlimmer, weil so viel passiert ist. Wegen seinem Vater auch. Es ist ein bisschen kompliziert.“ „Vielleicht hilft es, wenn du mit mir darüber redest?“, bietet Luna an. „Vielleicht… ich… ich hab ja gesagt, dass Nova komisch ist, wenn er nach dem Kranksein wiederkommt, ja? Als wäre er jemand anderes und seine Erinnerungen alle nur wie eine Geschichte, die er nicht selbst erlebt hat? Je länger er gesund ist, desto mehr wird er wieder er selbst, desto mehr wird er wieder mein Freund und weniger die Puppe seines Vaters. Wenn er gerade erst wieder da ist sind alles nur Worte für ihn, und er glaubt seinem Vater dann oft mehr als seinen Erinnerungen, das tut weh.“ „Verstehe. Weil seinen Erinnerungen die Gefühle fehlen weiß er nicht mehr, wie wichtig du ihm bist. Er spürt eure Freundschaft nicht mehr so sehr wie rationale Argumente… da glaubt er natürlich seinem Vater mehr als einem anderen Kind. Das muss sehr wehtun.“ Ich nicke traurig. „Ja, das tut es. Wir… an dem Tag haben wir über den König geredet. Rashin hasst Noctis, aber das ist es nicht was…“ Ich muss unterbrechen, zu schwer fallen mir die nächsten Worte. Aber es ist zu wichtig um zu schweigen. „Nova denkt, er wäre der neue König. Er sagt, er hat den Kristall berührt und sei auserwählt worden.“ „Glaubst du ihm denn?“ „Nein. Nein, aber… ich weiß es nicht. Ich habe den Kristall selbst schon berührt, und es war ganz anders, als Nova es erzählt hat. Er hat keine Stimme gehört und auch kein Licht gesehen, nur von dem Erdbeben hat er gewusst. Selbst das Knurren, das Crowe damals gehört hat, hat er nicht erwähnt. Aber Nova war total überzeugt. Ich hab nicht versucht, es ihm auszureden, ich habe schon die ganze Pause damit verbracht ihm zu erklären, dass Noctis ein guter König ist, und dass er gerne abtritt, wenn der neue König kommt. Rashin sagt, Noctis wäre ein machthungriger Tyrann, der den Thron an sich gerissen hat, obwohl er ihm nicht zusteht. Selbst wenn Nova noch zu jung ist, um selbst zu regieren, stünde es ja ihm als seinem Vater zu bis dahin zu herrschen… das käme ihm jedenfalls gerade recht so.“ „Natürlich. Herr Rashin ist sehr wütend, dass er nicht mehr der mächtigste Mann in Lucis ist.“ „Als er noch der Oberkanzler war mussten ihm alle zuhören und so tun als hätte er Recht“, erinnere ich mich, „Aber jetzt hören ihm nur noch die zu, die Noctis nicht mögen. Die, die so denken wie Rashin… dass es gute und böse Menschen gibt, und dass man die an ihrer Herkunft erkennt. Dass alle, die von außen kommen, auch wieder nach außen gehen müssen, weil sie eine Gefahr sind. Er hat es MI genannt, und Siecher, aber wirklich gekämpft hat er nur gegen Menschen, vor allem, wenn sie aus Niflheim gekommen sind.“ Luna blickt traurig auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hat. „Es gibt keine Bösen Menschen“, sagt sie schließlich, „Nur solche, die falsche Entscheidungen treffen. Menschen, die sich der Dunkelheit zugetan fühlen, weil sie ihnen Macht und Ruhm verspricht oder solche, die Hass wählen anstatt Vergebung.“ „Es gibt keine bösen Menschen“, wiederhole ich, „Das hat Papa auch gesagt. Er meinte, jeder Mensch denkt von sich selbst immer, er wäre ein guter Mensch. Wie die Soldaten aus Niflheim, die hier in der Stadt waren. Denen hat man auch gesagt, dass der König ein Böser ist, und dass sie da sind, um die Menschen zu befreien und ihnen zu helfen. Manche haben sich sogar in Leute von hier verliebt und sind dageblieben, oder sie haben Freunde gefunden, bei denen sie bleiben oder die sie oft besuchen wollen, weil sie sie gerne haben. Onkel Prompto ist ja auch aus Niflheim, und er ist einer der nettesten Menschen, die ich kenne.“ „Das ist er in der Tat“, stimmt Luna mir zu, und der weiße Hund unter ihrem Stuhl stimmt laut bellend zu. „Hallo Pyrna“, grüße ich die Hündin, „Du hast Onkel Prompto auch lieb, oder? Ich war richtig traurig, als er wegziehen musste. Ich hab auch nicht richtig verstanden, warum, nur dass Rashin die Menschen aus Niflheim nicht mag und dass er deswegen nicht mehr in die Stadt durfte.“ „Du musst damals noch sehr jung gewesen sein“, überlegt Luna, „Das muss sehr schwer zu verstehen gewesen sein.“ „Das war es“, gebe ich zu, „Ich hab nur verstanden, dass ich nicht mehr in den Zoo oder auf den Rummel kann, weil Onkel Prompto weg ist. Da sind wir früher oft hin… auch mit Papa zusammen, aber ohne Prompto konnten wir nicht gehen. Weil da so viele Menschen waren, das hat Papa Angst gemacht.“ Ich merke, wie das klingt, und steuere schnell dagegen: „Ich meine, das hab ich schon verstanden. Ich hab selbst mal die Augen zu gemacht auf dem Schulhof, und das ist echt gruselig. Wenn da so viele Leute auf einmal um einen rumgehen… es ist laut, man wird angerempelt und gestoßen und dauernd schimpft einer, man soll doch aufpassen, wo man hingeht. Ich kann die Augen einfach wieder aufmachen, aber Papa konnte das nicht. Zwischen so vielen Menschen musste er sich immer an Promptos Arm festhalten, oder sich auf eine Bank setzen, wo er halbwegs sicher war. Ich hab mich schon gefreut, wenn Papa dabei war, damit ich ihm die Tiere beschreiben kann, aber am liebsten bin ich mit Prompto allein gegangen, weil wir dann so toll spielen konnten.“ „Du hast ihn dann bestimmt lange nicht gesehen, als er umziehen musste.“ „Leider. Aber wir sind ihn schon hin und wieder besuchen gegangen, meistens mit Crowe zusammen. Das letzte Mal haben wir ihn in einer Hütte am Meer getroffen, da war es voll schön. Prompto hat im Wald mit uns verstecken gespielt, darin ist er voll gut. Und er hat mir beigebracht, mit einem Revolver zu schießen.“ „Wirklich? Auf was habt ihr denn geschossen?“ „Auf Konservendosen. Davon hatte er ganz viele! Er hat einen ganzen Turm auf ein Brett gestellt und alle mit einem einzigen Schuss umgeworfen! Ich hab voll lange gebraucht und nur die Hälfte geschafft. Aber ich übe ja auch noch.“ Für dieses Abenteuer habe ich sogar eine eigene Waffe bekommen. Es sind nur vier Kugeln darin, eine im Lauf und drei in der Trommel. Aber das reicht für den Notfall… gebraucht habe ich sie bis jetzt zum Glück noch nicht. Ich kann Geraschel hinter uns hören, als das Zelt umfällt, anscheinend hat Crowe ein Seil zu früh losgelassen. Vielleicht sollte ich auch mithelfen, oder zumindest mit Crowe spielen, damit die Erwachsenen alleine arbeiten können, aber ich will nicht. Ich fühle mich müde und traurig. Luna sieht genauso niedergeschlagen aus. „Es ist bestimmt schlimm für dich, dass du nicht bei Noctis sein kannst, wo es ihm doch so schlecht geht im Moment“, fällt mir ein. Luna blickt überrascht auf, lächelt mich aber tapfer an. „Das ist schon okay, seine Freunde sind ja bei ihm. Noctis und ich haben uns immer schon eher selten gesehen… und noch nie so lange wie seit unserer Hochzeit.“ „Die Hochzeit war voll schön. Papa hat ganz lange geplant und organisiert, damit alles klappt. Er wollte, dass ihr beide eine richtig schöne Überraschung habt. Ich habe gehofft, ihr könnt jetzt immer zusammen sein, wie im Märchen. Aber das funktioniert in Echt wohl nicht.“ „Unsere Hochzeit war wirklich wie in einem Märchen, wenn nach einer langen, dunklen Zeit endlich alles gut wird. Aber im Märchen wird viel weggelassen… da hört es nach der Hochzeit damit auf, dass sie Glücklich bis zu ihrem Ende zusammen sind. Aber weißt du, wenn man immer nur glücklich ist, wäre es ja langweilig. Man braucht manchmal Abenteuer wie dieses hier, damit es nochmal ein neues Happy End gibt, über das man sich freuen kann. Als ob nach jedem Ende einfach eine neue Geschichte anfängt.“ „Das klingt schön. Ihr seht euch bestimmt gesund wieder, und das ist dann das nächste Happy End, ja?“ „Wer weiß, vielleicht besiegen wir ja vorher noch zusammen einen bösen Drachen“, scherzt Luna und zwinkert mir zu. „Oder du küsst ihn wach, wie bei Dornröschen“, stimmt Crowe mit ein, die endlich ihre arme Tante in Ruhe gelassen hat. „Das hab ich leider schon versucht“, seufzt Luna, „So einfach war es dann doch nicht.“ „Schade.“ Crowe blickt traurig, weil ihre Idee nicht funktioniert hat, und klettert auch in einen der Stühle. Im Arm hat sie ihren großen Mogry, der leider auch schon ganz nass und durchgeweicht ist. „Noctis wird bestimmt trotzdem wieder gesund“, tröste ich beide, „Aber erzähl doch mal, Luna. Was haben Noctis und du denn gemacht, wenn ihr euch mal sehen durftet? Habt ihr auch verstecken gespielt?“ „Oh, ganz selten, ja. Aber das letzte Mal, dass ich Noctis so lange sehen durfte, war er leider schwer verletzt und konnte nicht spielen. Da haben wir Bücher gelesen, über die Kosmogonie und über die Prophezeiung des wahren Königs.“ „Oh, wie schön!“, quietscht Crowe, „Erzählst du uns die?“ Die Ablenkung hat den gewünschten Effekt. Luna lächelt freundlich, setzt sich etwas aufrechter hin und überlegt. „Oje, welche Geschichte erzähle ich denn am besten… ich kenne so viele…“ „Alle!“, fordert Crowe und ich verdrehe die Augen. „Eine schöne Geschichte, mit Liebe und Romantik und einem Prinzen“, führt sie weiter aus. „Okay, da weiß ich eine“, fällt Luna ein und sie blickt Crowe fest in die Augen. „Aber das ist eine ganz schön lange Geschichte, vielleicht schaffe ich die nicht an einem Abend…“ „Erzähl trotzdem“, bitte ich, „Dann reicht es vielleicht für ein paar Übernachtungen. Aber bitte keine Cliffhänger, das wäre gemein.“ Luna kichert amüsiert. Jetzt, da Crowe nicht mehr mithilft steht das Zelt schnell. Talcott hat die mobile Kochstation aufgebaut und hängt jetzt unsere Schlafsäcke zum Trocknen auf, während Iris das Abendessen macht. Es riecht nach frisch geschnittenem Gemüse, sicher hat Luna von den Bauern etwas zum Dank geschenkt bekommen. „Okay, Kinder, dann passt gut auf. Es war einmal, vor langer Zeit, noch bevor in Solheim die ersten Menschen gelebt haben, da gab es eine Prinzessin. Sie war wunderschön, zierlich, aber stark und mutig, und ihr langes, dichtes Haar war weiß wie der Schnee in ihrer Heimat.“ „Das ist Shiva!“, weiß Crowe. „Genau“, stimmt Luna zu, „Shiva hieß sie, und sie regierte über ein großes Reich, das zur Gänze aus Eis und Schnee bestand. Kalt war es dort, und sehr windig, aber Shiva kannte nichts anderes und es gefiel ihr. Nach einer Zeit allerdings fühlte sie sich dort sehr einsam, und so beschloss die Prinzessin, auszuziehen, ob sie nicht andere Reiche und Götter finden könnte…“ Kapitel 28: Traumfänger I (Ignis Scientia) ------------------------------------------ Zwei Wochen ist es jetzt her, dass Spero nachts ins Hotel eingestiegen ist. Er ist tatsächlich am nächsten Morgen in der Lobby erschienen; aber sagen wollte er, in meiner Anwesenheit, nichts. Ich gehe inzwischen davon aus, dass er durchs Fenster kam, um Prompto alleine zu sprechen. In jedem Fall ein Fehler. Dass Prompto auf meine Anwesenheit während des Gespräches beharrt hat, hat Spero jedenfalls nicht gefallen. Ich frage mich, was er zu sagen hatte… es schien unglaublich wichtig zu sein. Aber Prompto hat Angst, dass man ihn wieder für ‚das andere Team‘ werben will und traut sich nicht zu, diesem Gespräch allein Stand zu halten. Spero wiederum weigert sich, vor mir oder Gladio zu sprechen und so muss ich wohl mit dem unguten Gefühl leben, dass uns wichtige Informationen entgehen. Das gefällt mir gar nicht. Nocts Zustand verbessert sich weiter, nicht sehr schnell, aber doch irgendwie spürbar. Der größte Fortschritt ist wohl, dass er sich inzwischen so stabil aufsetzen kann, dass man ihn im Rollstuhl zum Bad fahren und dort auf die Toilette setzen kann. Es ist für uns körperlich anstrengender als nur Windeln zu wechseln, aber für alle Beteiligten weit weniger unangenehm. Ich mag mir nicht vorstellen wie es sich für einen erwachsenen Mann anfühlen muss, bei vollem Bewusstsein gewickelt zu werden… Noct ist auf jeden Fall sehr froh, sich dieses letzte Bisschen Würde zurückgewonnen zu haben. Er wirkt auch schon wieder munterer und zumindest stundenweise fit genug, längeren Unterhaltungen zu folgen und daran teilzunehmen. Immer öfter ertappe ich mich jetzt dabei, wie ich ihn mit belanglosem Unsinn zutexte. Ich weiß, dass es Noct anstrengt, mir so lange zuzuhören und schäme mich ein wenig dafür, dass er es dennoch versucht – ich bin ihm nicht böse, wenn er einfach einschläft mittendrin. Ich fühle mich nur zunehmend einsam. Das Schichtsystem, in dem wir an Nocts Seite Wache halten, ist sinnvoll. Aber es hat den Nachteil, dass wir drei uns nur zum Schichtwechsel unterhalten können – einer wacht, mindestens einer schläft, und der Dritte erledigt, was sonst noch zu tun ist. Wobei ich mich manchmal schon frage, was die anderen so tun in ihrer Freizeit, aufräumen gehört ja anscheinend nicht dazu, und die Einkäufe erledige auch meistens ich. Bei Prompto zumindest habe ich inzwischen den Verdacht, dass er die sechzehn Stunden fast zur Gänze durchschläft, und auch Gladio bleibt wohl oft im Hotel und trainiert. Ich fühle mich ausgelaugt und allein gelassen. „Ihr solltet einfach mal was zusammen unternehmen“, rät Noctis. „Etwas schwierig im Moment“, seufze ich und setze mich wieder neben das Bett. Das Chaos, das Gladio und Prompto hier im Raum hinterlassen haben, habe ich beseitigt, Noct ist frisch gewaschen und sitzt bequem an seine Kissen gelehnt. Er wirkt verhältnismäßig fit, aber immer noch zu schwach, die Augen vernünftig offen zu halten. „Versucht es doch wenigstens…“ Ich will widersprechen, aber Noct signalisiert, dass er noch nicht fertig ist. Es fällt ihm schwer, in einem normalen Tempo zu sprechen, er muss oft mitten im Satz unterbrechen, um wieder Kraft zu sammeln für die nächsten Worte. „Ich sehe euch alle drei. Ihr gebt euch so viel Mühe… kümmert euch um mich und passt auf mich auf.“ „Das ist doch selbstverständlich.“ „Ihr gebt euch zu sehr auf. Ihr müsst… auch mal Pause machen. Nicht zum Schlafen, nur… etwas Spaß haben.“ Die wenigen Sätze scheinen Noct viel Kraft gekostet zu haben, er kann sich kaum noch wach halten. Er braucht immer noch viel Ruhe… und bei meinem ständigen Gewusel hier drin bekommt er die schlecht. Ich richte das Bett wieder so hin, dass Noct gerade liegen kann und versuche, mich für den Rest der Schicht zusammenzureißen. Noct hat Recht, wir brauchen Zeit für uns. Nicht zum Schlafen, sondern um Energie zu tanken und frei zu lassen… Zeit miteinander, damit Noct, der so viel Ruhe braucht, nicht unsere einzige echte Gesellschaft ist. Als Gladio endlich zur Ablöse kommt nehme ich mir unter der Dusche erst mal gründlich Zeit, nachzudenken und einen Plan zu fassen, dann wecke ich Prompto. Eigentlich bin ich hundemüde und sollte mich hinlegen, aber draußen scheint die Sonne und ich muss irgendwas tun. „Morgen Ignis“, grüßt Prompto und strampelt sich mühsam von seiner Decke frei. Er sieht furchtbar geschafft aus. „Ist irgendwas passiert?“ „Nein, keine Sorge“, antworte ich eilig, „Ich dachte nur… ich würde gerne groß einkaufen gehen, neue Zutaten, mal nach Waffenupgrades und Heilmitteln schauen und mal sehen, was es heute so auf dem Markt gibt. Ich könnte jemanden brauchen, der mir Tragen hilft, und… naja… ein wenig Gesellschaft, um ehrlich zu sein. Würdest du mich begleiten?“ Prompto blinzelt verplant, reibt sich erst mal den Schlaf aus den Augen. „Klar, gute Idee. Gib mir nur ein paar Minuten, ja?“ Aus den paar Minuten werden fast eineinhalb Stunden, in denen ich mich sehr bemühen muss, nicht einzuschlafen. Das Bett sieht schon sehr verlockend aus… stattdessen nutze ich die Zeit, Inventur zu machen, stelle eine ausführliche Einkaufsliste zusammen, die doch nochmal um einiges länger wird als anfangs vermutet, und koche Kaffee für uns beide. Auch Prompto sieht aus, als würde er ihn dringend brauchen, und er nimmt die Tasse dankbar an. Auch um Prompto mache ich mir Sorgen… nicht nur wegen Spero. Gladio hat vor ein paar Wochen Tabletten in seiner Badtasche gefunden. Starke Psychopharmaka. Ich weiß, dass Prompto in Therapie ist und der Fund hat mich nicht überrascht, daher konnte ich zumindest Gladio etwas beruhigen. Keine Drogen, nur Medizin, die er wohl braucht. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, Prompto hätte sich uns anvertraut damit, anstatt die Pillen heimlich zu schlucken. Er tut immer so, als ginge es ihm prima, aber innerlich zerbricht er vielleicht schlimmer als der Rest von uns. Noct hat Recht, wir müssen uns dringend mal wieder um einander kümmern. Das Wetter ist herrlich, und der Markt von Lestallum beweist einmal mehr, warum er in ganz Lucis berühmt ist. Um die Stände drängen sich tausende von Leuten, überall duftet es nach Gegrilltem und frischen Gewürzen. Mich zieht es sofort zu einem der Gewürzstände, ich muss dringend meine Vorräte aufstocken und sehen, ob es unter den exotischen Gewürzen vielleicht etwas gibt, was mir noch unbekannt ist. Aber auch normale Lebensmittel, Haushaltswaren, Stoffe und Medikamente brauche ich wieder. Ich bin wirklich froh, dass ich Prompto dabei habe. Allein ist es zwar leichter, sich durch die Menge an Leuten zu drängen, aber die Einkäufe ins Hotel zurück zu tragen wäre mir alleine schon nicht mehr möglich, so lang ist mein Einkaufszettel inzwischen geworden. Aber kein Wunder, immerhin sind wir schon fast zwei Monate hier in Lestallum, und ich habe die meisten unserer Speisen selbst gekocht, um nicht die teuren Gerichte im Hotelgasthof zahlen zu müssen. Außerdem ist Noct im Moment sehr empfindlich und war bis vor kurzem auf Schonkost angewiesen, da ist selbst zu kochen die sicherere Option. „Inzwischen darf Noct ja auch wieder Getränke mit Kohlensäure, oder?“, fragt Prompto vor einem Stand mit köstlichen Limonaden, „weil er ja jetzt wieder eine Weile sitzen kann…“ „Der Tee hängt ihm langsam schon zum Hals raus, was?“, frage ich. Mir gegenüber wagt Noct nicht zu jammern, aber ich kann mir vorstellen dass er sich bei Prompto über das einseitige Getränkeangebot und die viel zu gesunde Kost ausgelassen hat. „Einen oder zwei Schluck Limonade wird er schon vertragen, ja. Aber keine ganze Flasche, das wäre zu viel Säure auf einmal. Etwas Süßes dürfte er vielleicht auch schon haben… ich hätte da ein paar Rezepte für Süßigkeiten, die schön leicht zu kauen sind oder direkt im Mund schmelzen, damit könnte man ihm sicher eine kleine Freude machen.“ Promptos Augen leuchten bei meinen Ausführungen, beinahe muss ich lachen. „Natürlich würde ich genug davon machen, dass es auch für dich und Gladio noch reicht“, verspreche ich und wuschle Prompto durch die zerzausten Haare. „Danke Iggy, du bist der Beste!“ Prompto strahlt, und mir wird ganz warm bei seinem Lob. Es ist toll, ihn dabei zu haben – seine Fröhlichkeit mag aufgesetzt sein, aber es wirkt überzeugend genug und ist unglaublich ansteckend. Wie lange ist es her, dass ich so viel Spaß hatte? Wir nehmen uns noch ein wenig Zeit, durch die anderen Stände zu schauen. Es gibt viele schöne Sachen, meist selbstgemacht, Schmuck und Figuren, aber auch Nützliches wie Geschirr und Krüge. Ich finde eine schöne große Pfanne, die fürs Lagerfeuer geeignet ist und mir die ersetzt, die langsam mehr Rost als Eisen ist, und einen kleinen Stand mit handgefertigten Traumfängern in schönen bunten Farben. Kleine Steinperlen glitzern im Licht der Sonne. „Echte Chocobofedern“, erklärt der Verkäufer, „Alle während der Mauser gesammelt, gewaschen und von Hand eingeflochten.“ Er hält uns ein paar der Traumfänger hin, damit wir sie in die Hand nehmen und genauer betrachten können. Der Ring ist mit feinem Stoff umwickelt und darin sind glitzernde Bänder mit den Perlen zu einem Netz gewebt, das in der Mitte ein kleines Loch freihält. „Da können die schönen Träume durch, während die schlechten gefangen werden“, erklärt die Tochter des Standbesitzers, „Dann kann man gut schlafen.“ „Es ist nicht, dass ich an sowas glauben würde, aber…“, beginnt Prompto und ich lächle. „So oft wie du und Gladio in letzter Zeit erschrocken aufwachen, wird es zumindest nicht schaden. Wollen wir welche mitnehmen? Für jeden einen?“ Prompto nickt dankbar und wir wählen vier der Traumfänger aus. Der schwarze ist etwas teurer, weil die Federn so selten sind, aber für Noct kommt nichts anderes in Frage; immerhin ist schwarz traditionell die Farbe des lucischen Königshauses. Blau für mich, Rot für Gladio, und einen schönen im üblichen Gelb für Prompto. Ganz schön teuer für ein bisschen Kitsch, aber Prompto ist glücklich, und vielleicht helfen die Traumfänger ja zumindest ein bisschen gegen die Albträume, die ihn und Gladio plagen. „Schade dass es hier keinen Elektronikladen gibt“, meint Prompto, als wir mit vollgepackten Tüten zum Hotel zurücklaufen, „ich hab langsam alle Bücher durch, die wir dabei hatten, ich fühle mich bald richtig gebildet… und SQUENIX hat ein neues Chocobo-Tales Spiel für den Handheld rausgebracht, das hätte ich mir echt gerne gekauft. Ist jetzt nicht wichtig oder so, aber…“ Ich würde gerne tadeln, dass Prompto ja auch mal aufräumen könnte, wenn ihm so langweilig ist, aber ich verstehe, wie es ihm geht. Der Wachdienst und die wechselnden Schichten sind anstrengend, da muss jeder von uns tun, was einem gut tut und Energie zurückgibt. Für mich ist das Aufräumen, Kochen und Putzen, für Prompto sind es Videospiele. Und die alten hat er natürlich alle längst durch, sonst hätte er nicht aus Verzweiflung angefangen, meine Sachbücher zu lesen. „Wir können ja nachher noch zur Coernix-Tankstelle fahren“, schlage ich mit einem Blick auf die Uhr vor, „Die Zeit sollte noch reichen, und ich würde mich ohnehin gerne nach neuen Infos von außerhalb umhören. Die haben einen großen Supermarkt dort, in dem es auch Elektronik gibt, da würde ich mich auch gerne nach neuer Kleidung umsehen. Auf dem Markt gab es Stoff, aber wenn ich nicht selbst nähen muss, wäre mir das schon lieber… Waschpulver und Weichspüler brauche ich auch wieder.“ Ich prüfe meine Liste. Gladio wollte noch Ersatzheringe für sein neues Zelt, wir brauchen Waffen, Politur und Munition. Letzteres könnten wir auch hier in Lestallum kaufen, aber an der Tankstelle steht auch ein Waffenhändler. „Wenn wir schnell sind, kommen wir vor Sonnenuntergang zurück und sind pünktlich zur Wachablöse wieder da.“ „Dann sollten wir uns beeilen, was? Darf ich fahren?“ „Lieber nicht.“ Ich halte den Autoschlüssel hoch über meinen Kopf als Prompto danach greift und lache über das beleidigte Gesicht, das er deswegen zieht. Aber Prompto nimmt es mir nicht übel, er weiß, dass er kein guter Fahrer ist. Ich mache mir eigentlich immer Sorgen, wenn er mit dem Auto unterwegs ist, auch wenn er noch keinen schweren Unfall hatte. Prompto ist einfach zu unkonzentriert, um alles auf einmal im Auge zu behalten. Das weiß er auch selbst, und er beschwert sich nicht weiter, sondern nimmt fröhlich im Beifahrersitz Platz. Bis zur Tankstelle sind es vom Parkplatz aus ohnehin nur ein paar hundert Meter, mit dem Auto ist man in wenigen Minuten dort. Ich schicke Prompto mit der gekürzten Einkaufsliste in den Markt und informiere mich beim Kontaktmann der Meldatio über alles, was er so an Gerüchten aufgeschnappt hat. Seit dem Einsturz des Walls wimmelt es natürlich nur noch so vor Siechern. Die Jäger haben schnell reagiert und sich mit der Königsgleve zusammengeschlossen, die Menschen und Siedlungen vor der Gefahr zu schützen, und dank Nocts Drängen auf Sicherheitsmaßnahmen wurden schon unter dem schützenden Wall große Lichtanlagen installiert, die die Siecher fernhalten. Fast alle Autos haben sich in Hammerhead mit den neuen Strahlern ausstatten lassen und so ist die Gefahr relativ gut unter Kontrolle, auch wenn die Liste der Jagdtaufträge lang ist. Was mir mehr Sorgen macht, weil es weniger absehbar war, ist die Menge der Meldungen über MI. Aus jeder Ritze scheinen nun neue Roboter zu kriechen, die einzelne Wanderer angreifen oder in Horden in Dörfer einfallen. Vereinzelt soll es zu Entführungen gekommen sein, und ganz in der Nähe soll es eine Basis geben, aus der diese MI kommen. Mir schwant Übles… ich ahne, was Spero uns erzählen wollte. Wenn Nemo denkt, dass das Königshaus hinter den MI steckt, wäre auch klar, warum er Prompto allein sprechen wollte. Ich überspringe den Einkauf beim Waffenhändler, um Prompto im Supermarkt aufzulesen. Unter diesen Umständen ist es keine gute Idee, getrennt zu agieren. Als ich ihn bei der Selbstscankasse finde, ist er gerade dabei, die Einkäufe einzupacken. Zu meiner Beunruhigung sieht er blass und verstört aus. „Alles in Ordnung bei dir?“ „Ja, alles gut“, lügt er und grinst, als wäre nichts, „wollten wir uns nicht am Auto treffen? Hast du die Waffen schon?“ „Nein, hab ich vergessen.“ Ich lächle entschuldigend und nehme Prompto eine der Tüten ab. „Ich hab ein paar beunruhigende Infos bekommen… aber dazu später. Sicher, dass du mir nicht sagen willst, was los ist?“ Prompt seufzt tief und schließt die Hand fest um sein rechtes Handgelenk. „Ich… bin mit dem Arm an den Scaner gekommen“, gibt er zu, „Das Tuch ist verrutscht und der… der Automat hat gesagt…“ Prompto schluckt, er scheint sichtlich mit den Worten zu kämpfen. Als er sie endlich herausbekommt ist seine Stimme so leise, dass ich mich anstrengen muss, um ihn zu verstehen. „Er hat gesagt, ich soll Flaschenpfand am anderen Automaten abgeben.“ Fast hätte ich gelacht, aber ich kann mich trotz der Komik der Situation beherrschen. Prompto scheint das ja sehr nahe zu gehen… „Mach dir keine Sorgen“, beruhige ich ihn, „Es ist nur eine dumme Maschine, ja? Die wollte bestimmt nur nicht zugeben, dass sie den Code nicht lesen kann. Mit dem Hinweis hat es wohl irgendein hilfsbereiter Programmierer zu gut gemeint…“ Prompto blickt noch immer zu Boden, scheint sich aber wieder zu beruhigen. „Vielleicht hätte ich sie einfach zurück beleidigen sollen“, überlegt er und wir räumen die Tüten ins Auto. Die Sonne neigt sich bereits dem Horizont zu, um die Waffen werde ich mich wohl ein andermal kümmern müssen. Prompto klettert wieder in den Beifahrersitz, und gerade, als ich den Kofferraum schließen will, fällt plötzlich ein Schuss. Als ich wieder zu mir komme ist es dunkel. Der Besitzer des Waffenladens kniet über mir und drückt beide Hände auf meinen Bauch, während der Kioskbesitzer ein Elixier über die Wunde gießt. Es brennt furchtbar, aber das Fleisch fügt sich wieder zusammen. „Nochmal Glück gehabt, war ein glatter Durchschuss“, meint der Waffenverkäufer und hilft mir wieder auf die Beine. Er trägt die Kleidung eines Jägers und ist kräftig genug gebaut, seine Waffen auch selbst in den Kampf zu tragen. „Was ist passiert?“, frage ich und betrachte das Loch in meiner Kleidung. Das teure Hemd hat sich mit Blut vollgesaugt, aber die Schusswunde ist wieder geschlossen. „Die MI haben angegriffen. Dein Freund hat hart gekämpft und von uns haben auch ein paar mitgemacht, aber es waren einfach zu viele.“ „Was heißt das?“ Panik macht sich in mir breit. „Wo ist Prompto?“ „Die haben ihn mitgenommen. Keine Ahnung warum, ich hab von sowas bisher nur gehört…“ „Der Bunker“, fällt mir ein, „Sie müssen ihn dorthin gebracht haben.“ Ich reiße mir das kaputte Hemd vom Leib, hole eines der neu gekauften aus dem Kofferraum und suche meine Waffen und ein paar Heilmittel zusammen. „Sie wollen doch nicht etwa hinterher?“, ruft der Waffenhändler empört, „Es ist Nacht, da sind überall Siecher! Und diese MI…“ „Haben sie was, was mir dagegen helfen kann?“, unterbreche ich ihn, „Dolche oder Speere wären ideal.“ Der Händler wirkt verunsichert ob meines Auftretens, sicher ist er es nicht gewohnt, Leute zu treffen, die freiwillig nachts auf Rettungsmission gehen. Leute wie ich, die während der langen Nacht an vorderster Front gekämpft haben und auch einen größeren Siecher allein besiegen können. Er findet tatsächlich ein Paar sehr gut gefertigter Dolche in seinem Bestand, die er mir gerne für den halben Preis überlässt, wenn ich mich als Gleve ausweisen kann. Ich zeige ihm meinen Ausweis und er verzichtet ganz auf seine Bezahlung. „Den Helden der langen Nacht helfe ich gern. Sagen Sie Bescheid, wenn sie die Basis ausgeräumt haben.“ Mitkommen will natürlich keiner, für jeden außer uns ‚Helden der langen Nacht‘ wäre es auch blanker Selbstmord. Die Basis ist nicht weit weg, wenn man mit dem Auto fährt, und bald tauchen die ersten Roboter im Licht meiner Scheinwerfer auf. Ich habe keine Lust, deswegen anzuhalten und verlasse mich einfach auf Cidneys Upgrades. Der Regalia ist tatsächlich stark genug, den Schrott umzufahren, ohne allzu viel Schaden zu nehmen. Irgendwann sollten wir ihn wirklich zu einem Offroad-Modell umbauen lassen, aber heute bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn an der Straße zu parken und die letzten Meter zur Basis zu Fuß zu laufen. Ich schleiche mich zwischen MI und Siechern hindurch bis zur Hintertür und stelle überrascht fest, dass meine Gebete für Verstärkung wohl erhört wurden. Nicht unweit der Basis steht die Nautilus, das umgesprühte niflheimer Frachtschiff von Kapitän Nemo, und von seiner Laderampe steigen schwer bewaffnete Männer. Ich gebe ein Signal mit meiner Taschenlampe und einer der Soldaten ist mit drei flinken Sprüngen an meiner Seite. Es ist Spero. „Was willst du hier?“, zischt er und geht neben mir in Deckung. „Prompto ist entführt worden, ich hole ihn zurück. Wäre für ein wenig Hilfe dankbar.“ „Die gehören nicht zu euch?“, fragt er und deutet über seine Schulter auf die MI und den Bunker. „Natürlich nicht!“, empöre ich mich, „Wieso sollten sie?“ Spero scheint ernstlich verwirrt. „Der Bunker in Leide…“ „Von dem wissen wir, ja. Wir waren dort um Prompto zu holen, haben ihn aber knapp verpasst. Die anderen waren alle tot…“ „Dann waren eure Soldaten da, um…“ „…herauszufinden, wer dahinter steckte, ja. Wir dachten, das war der einzige solche Bunker, sonst hätten wir auch nach den anderen gesucht.“ Spero blickt zu Boden. „Es gibt mehrere. Wir wussten das, wollten Prompto auch warnen, aber…“ „Aber weil ihr dachtet, dass wir dahinter stecken, wolltet ihr ihn allein sprechen.“ Damit wäre auch das klar und verständlich. „Ein wenig mehr Vertrauen hätte an der Stelle sicher nicht geschadet. Von beiden Seiten… Aber Prompto hatte schon Recht, allein hätte er ein Gespräch über diese Bunker sicher nicht ausgehalten. Wir müssen ihn so schnell es geht da raus holen.“ „Ihn und die anderen Gefangenen.“ Spero winkt in Richtung der Nautilus und ein weiterer Mann kommt zu uns. Er ist jung, vielleicht Anfang zwanzig, und trägt wie Spero eine schwarze Kutte über seiner Uniform, die ihn im Dunkeln fast unsichtbar macht. „Nemo will die Basis stürmen“, erklärt Spero, „Ich und Cloud gehen hinten rein und befreien die Gefangenen, während die anderen die Vordertür eintreten. Kannst uns gerne begleiten. Einer mehr ist nie schlecht.“ Cloud blickt mich abschätzend an und ich halte ihm zum Gruß die Hand hin. „Ich bin Ignis“, stelle ich mich vor, „Ein Freund von Prompto.“ „Cloud. Hab von dir gehört.“ Spero gibt ein weiteres Signal in Richtung Luftschiff und die Nautilus hebt ab, immer noch mit abgeschalteter Beleuchtung, so dass sie vollends im dunklen Himmel verschwindet. Mit geschlossenen Augen kann ich spüren, wie sich die Luft um das Schiff verschiebt, als es langsam über die Basis hinweg gleitet und umdreht, als wäre es von Anfang an aus Richtung der Straße gekommen. Ich stelle mein Handy auf lautlos, gerade noch rechtzeitig, bevor eine Nachricht von Gladio kommt, wo wir denn bleiben. Ich schreibe knapp zurück, es ist was passiert, er soll warten, ich melde mich wieder. Hoffentlich hält er noch ein paar Stunden länger durch… und hoffentlich hält vor allem Prompto durch, was dort drin mit ihm gemacht wird. Kapitel 29: Traumfänger II (Ignis Scientia) ------------------------------------------- Die Nautilus hat ihre Position erreicht, schaltet mit einem Schlag alle Lichter und Waffen an und öffnet mit einigem Alarm die Rampe. Nemo hat eine beachtliche Armee zusammengestellt, Scharfschützen, die die schwere Maschinerie des Schlachtschiffs bedienen, und eine große Schar Fußsoldaten, die abspringen um die Basis zu stürmen. Es sind keine Gleven oder Jäger, aber sie schaffen es, die vergleichsweise schwachen Siecher und einen Großteil der MI vor den Toren niederzurennen, bevor diese sich von der Überraschung erholt haben. Es dauert nicht lange, da wird auch ein Großteil der MI vom Hintertor abgezogen, um vorne zu helfen. Spero nickt mir zu und ich führe unser Team näher an den Bunker heran. Ein paar einzelne Roboter stehen noch hier, aber die werden uns nicht bemerken. Ich schleiche mich an den ersten heran, ziehe meinen neuen Dolch und schneide die Hauptkabel an seinem Hals durch, ohne ein Geräusch zu machen. Ich winke die anderen heran. Vor dem nächsten Abschnitt stehen zwei Fechter, deren Blickfelder sich überschneiden. Fällt der eine, schlägt der andere Alarm. Allein hätte ich es hier schwer gehabt, aber dank der unerwarteten Verstärkung kommt es nur auf gute Zusammenarbeit an – ich nicke Spero zu und wir schalten beide MI absolut zeitgleich aus. Die letzte Wache vor dem Tor fängt sich eines von Speros Wurfmessern und schon sind wir drin. Der Bunker wurde auf den Resten der Vaullery-Basis errichtet und noch immer sind alte Strukturen erkennbar, wo Sücke von vorhandenen Mauern mit neuem Beton verbunden wurden. Ansonsten fühle ich mich an das Lager in Leide erinnert – es gibt Schlafräume mit je zehn Betten, und an jedes davon ist ein Häufchen Elend gekettet. Diesmal allerdings sind die Gefangenen am Leben. Prompto ist nicht dabei, trotzdem bleibe ich und helfe Spero und Cloud, die Ketten zu knacken. Ein kleiner Junge weint bitterlich, ich schaffe es kaum, ihn zu trösten, als er sich an meine Brust klammert. Das Kind ist gerade mal zehn Jahre alt und versucht schon, die Frage nach seinem Namen mit einer Nummer zu beantworten. Armes Kind. „Ich bringe die Jungs hinter auf den Trainingsplatz und schalte das Licht an“, schlägt Cloud vor, „Das ist ein abgesperrter Raum den ich gut allein verteidigen kann, und es ist genug Platz für alle, bevor wir sie ins Luftschiff bringen. Ihr zwei geht die restlichen Räume durch und bringt alle, die ihr befreit habt, zu mir.“ „Guter Plan“, stimme ich zu, „Teilen wir uns auf.“ Cloud löst ein riesiges Breitschwert von seinem Rücken und ich muss den kleinen Jungen absetzen. Ich wuschle ihm durch die Haare, wie ich es bei Nyx tun würde, und lächle ihn an. „Kein Angst, Kleiner, ich komme bald wieder.“ Diese Basis ist weit größer als die in Leide, es gibt noch sechs weitere Schlafzimmer, die wir einzeln öffnen müssen. Zu zweit geht es sicher schneller, aber es dauert trotzdem lange, die Ketten der Gefangenen einzeln mit einer Haarnadel zu öffnen. Vielleicht sollte ich mir ein vernünftiges Einbrecherwerkzeug organisieren… Aber Spero hat auch keines. Endlich habe ich die vierzig Schlösser offen und kann nochmal zehn Leute auf den Trainingsplatz führen. Spero war etwas schneller als ich, er ist schon wieder unterwegs. Prompto ist noch nicht dabei… egal, noch vier Räume. Langsam werde ich besser darin, die Schlösser zu knacken, kenne den Mechanismus und die Bewegung, die dafür nötig sind. Immer weniger Haarnadeln zerbrechen in meinen Händen und ich brauche immer weniger Zeit. Auch im nächsten Raum kein Prompto, dafür sind die meisten hier drin noch sehr jung und verängstigt. Ich bringe sie auf den Trainingsplatz, ein Kind ist so schwach, dass ich es tragen muss. Auch Spero ist längst mit dem Schlösserknacken fertig und schon in einem der zwei letzten Räume zugange. Immer noch kein Prompto. Ich beeile mich, aber auch im letzten Raum ist er nicht zu finden. Er muss in dem sein, in dem Spero gerade ist… ich knacke dennoch alle Schlösser und bringe auch den letzten Raum voller Leute zum Trainingsplatz. Diesmal sind es nur acht, zwei der Betten waren frei. „Das dürften alle sein“, meint Spero etwas kurzatmig. „Aber Prompto ist nicht dabei…“ „Er muss hier sein, suchen wir weiter – Cloud, du bleibst hier, wir kommen gleich wieder.“ „Es muss hier ein Büro geben, wo die persönlichen Sachen der Männer aufbewahrt werden. Vielleicht finden wir dort Hinweise, ob Prompto wirklich hier ist. Und wenn nicht bringen wir die Kisten hier raus.“ Die traumatisierten Männer und Kinder so in ihren dünnen Gefängnislumpen herumstehen zu sehen bricht mir das Herz. Das sind Menschen… Menschen, die Würde verdient haben. Würde und eine eigene Identität, eigene Kleidung, einen eigenen Namen. Ich hoffe, dass Nemo sie zu ihren Familien zurückgehen lässt, sobald sie sich daran erinnern. Das Büro ist schnell gefunden, und tatsächlich stehen auch hier unbeschriftete Kartons voller Kleidung und persönlichen Gegenständen. Sieben Räume, je zehn Betten, auch wenn zwei davon unbelegt waren. Achtundsechzig Gefangene. „Einundsiebzig“, zählt Spero, „Das sind drei zu viel.“ Mir kommt ein sehr unschöner Gedanke. In einem der Kartons liegt tatsächlich Promptos Kleidung, seine Waffe, seine Stiefel… Er ist definitiv hier und meine Vermutung macht mir Angst. „Spero, bring bitte alle diese Kisten zu Cloud. Ich muss etwas überprüfen… ich treffe euch dann dort wieder.“ In einer Ecke des Raumes steht ein Bücherwagen, damit sollte Spero nicht allzu oft laufen müssen, um die Kartons zu bewegen. Viel ist in den meisten nicht drinnen, nur was ein Mann am Leib tragen kann. In einem der Kartons liegt ein Kaktor Plüschtier, wie ihn Noct als Kind so gern mitgeschleift hat, in einem anderen ein Mogry. Mir ist fast schlecht vor Wut. Spero lädt die Kisten auf den Wagen, am Vordertor tobt nach wie vor der Kampf und ich eile in den Keller. Der Lärm des Kampfes dringt weiter an den Bunker heran… ich ziehe mein Handy, gebe Gladio in einer kurzen Sprachnachricht zu verstehen, dass es noch etwas dauert und schicke eine weitere an Cor, dass er unsere Truppen losschickt, um Nemo zu unterstützen. Irgendeine erfahrene Gleve wird schon in der Nähe sein und sich nachts raus trauen… Wir sind ja nicht die einzigen, die damals gekämpft haben, und gerade um Lestallum herum dürften viele der alten Hasen noch zu Hause sein. Mein Weg führt jedenfalls erst mal in den Keller, und wie befürchtet finde ich dort einen Kühlraum. Kalte Luft schlägt mir ins Gesicht, als ich die schwere Tür aufstoße, und einen Moment lang bleibt mir das Herz stehen: das ist kein traditioneller Leichenraum, es ist eine Schlachthalle. Drei Männer hängen hier, nackt, an den Händen gefesselt und mit schweren Haken an der Decke aufgehängt. Mir am nächsten hängt Prompto. „Nein…“ Vorsichtig trete ich in den Raum. Mein Atem kondensiert in dicken Wolken vor meinem Gesicht, aber die Kälte, die ich spüre, kommt fast mehr von innen als von außen. „Bitte nicht…“ Ich fasse Promptos leblosen Körper um die Brust und hebe ihn vorsichtig von seinem Haken. Er fühlt sich eiskalt an, fast gefroren, aber weniger steif, als ich erwartet hatte. Als ich ihn schützend an mich ziehe schlägt Prompto tatsächlich die Augen auf. „Ignis“, flüstert er heiser, „Du lebst!“ Die Worte überraschen mich, dann fällt mir wieder ein, dass ich vorhin angeschossen wurde. „Ja… natürlich. Was ist passiert, Prompto?“ Prompto wirkt etwas verlegen und noch nicht ganz bei der Sache. Kein Wunder bei den eisigen Temperaturen hier drin… durch meine Körperwärme taut er langsam ein wenig auf, fängt heftig zu zittern an. Ich hebe ihn kurzentschlossen auf meine Arme und trage ihn aus dem Raum, bevor ich die Tür wieder zuschlage. Draußen schneide ich die Fesseln durch und ziehe mein Hemd aus, um es Prompto überzuwerfen. Es ist gerade lang genug, um alles Wichtige vor fremden Blicken zu schützen, und hoffentlich auch ein wenig warm. „Es hat eine Explosion gegeben“, erklärt Prompto, „zwei Männer sind gestorben, ich hab gesehen, wie sie sie weggebracht haben. Ich dachte, wenn ich mich auch tot stelle, bringen sie mich vielleicht raus… ich dachte, ich kann von hier weg.“ Prompto ist gerade so kräftig genug, aus eigener Kraft zu stehen, aber er zittert inzwischen echt heftig. Ich drücke ihn fest an mich, um ihn zu wärmen und zu trösten und streichle ihm den Rücken. „Im Ansatz keine schlechte Idee“, gebe ich zu, „Aber das hätte echt schief gehen können. Komm jetzt, lass uns nach oben gehen.“ Mit einem Arm um seine Schultern führe ich Prompto zurück zum Büro, wo Spero gerade die letzten Kisten auflädt. „Frag nicht“, bitte ich ihn, als er den Mund aufmacht, „Ist die Kiste mit Promptos Sachen noch hier?“ Sie ist es, und Spero dreht sich höflich um, als ich Prompto in seine Kleidung helfe. Natürlich hat er mal wieder nur eine ärmellose Weste dabei, nicht wirklich das, was er jetzt braucht. Ich streife mein Hemd wieder selbst über und Spero hält Prompto hilfsbereit seine warme Kutte hin. „Zieh das über, du erfrierst ja…“, bittet er, aber Prompto wendet sich trotzig ab, sucht nur weiter seine Sachen aus der Kiste zusammen. Revolver, Gurte, ein paar Kettchen… „Das Tuch ist weg“, stellt er entsetzt fest. Ich kann sehen, wie ihm Tränen in die Augen schießen, als er verzweifelt die leere Kiste umdreht. „Das mit den Chocobos drauf?“, frage ich, „Ist das so wichtig?“ „Das hat Noct mir geschenkt!“ Prompto wirkt völlig aufgelöst über den Verlust, und einen Moment lang helfen Spero und ich beim Suchen. Vor dem Haupttor ist eine Explosion zu hören, Schreie, der Lärm kommt langsam näher. „Vielleicht ist es in einer der anderen Kisten gelandet“, mutmaße ich, „wir suchen später danach, jetzt gibt es Wichtigeres zu tun. Prompto, zieh den Mantel an. Im Ernst, du erfrierst mir hier noch.“ „Nein…“ „Stell dich bitte nicht so an, du bist kein Kind mehr!“ Meine Geduld wird langsam etwas dünn hier. Sicher, der Mantel trägt das Doppelhelix Wappen von Nemos Truppe, aber inzwischen hat keiner von uns mehr Probleme damit, Prompto von seinen Brüdern zu unterscheiden. Ich sehe nur, dass mein Freund erbärmlich friert und sich weigert, den warmen Mantel anzuziehen. Es gibt eine weitere Explosion und endlich gibt Prompto klein bei. Er sieht verheult und völlig fertig aus. Ich stelle sicher, dass er warm eingepackt ist, drücke seine zitternde Gestalt noch einmal fest an mich und atme tief aus. „Wieder bei mir?“, frage ich. „Ja… tut mir Leid, dass ich mich so anstelle.“ Ich ziehe Prompto auf die Füße und drücke ihm den Autoschlüssel in die Hand. „Der Regalia parkt unten an der Straße“, informiere ich ihn, „Lauf raus, schnapp dir das Auto und fahr zurück zum Hotel. Lös Gladio ab und schick in zu mir, ich werde die Verstärkung brauchen.“ Prompto sieht mich an wie ein Reh im Scheinwerferlicht, die geröteten Augen weit aufgerissen und unfähig, sich zu rühren. Die Kampfgeräusche kommen langsam näher. „Geh!“, wiederhole ich, „Schick Gladio zu mir.“ Endlich nickt Prompto und löst sich aus seiner Starre. Ich sehe ihm nach, wie er aus dem Fenster springt und in der Dunkelheit verschwindet, höre wenig später den starken Motor des Regalias anspringen. „Meinst du, er schafft das?“, fragt Spero verunsichert. „Ich vertraue ihm“, gebe ich knapp zurück. Egal wie verunsichert und geschafft Prompto sein mag, wenn er ein Ziel hat, kann man sich darauf verlassen, dass er dort ankommt. Er ist stark, mutig, und verdammt hart im Nehmen. Eine weitere Explosion ist zu hören, diesmal direkt im Gang. Ich fasse meinen Kampfspeer um Spero zu decken, als wir die letzte Ladung Kisten hinter zum Trainingsplatz fahren. Dort hat sich inzwischen einiges getan, Nemo hat sein Luftschiff nach hinten umgesetzt und eine Wand durchbrochen, damit wir die Gefangenen einladen können. Viele von ihnen brauchen Hilfe, die steile Laderampe hochzukommen, keiner wagt, sich ohne Aufforderung zu bewegen. Wie die Schafe lassen sie sich von Nemos weniger kampferprobten Leuten in das Schiff führen. Wir eilen hinterher und die Nautilus hebt ab, nicht weit, aber doch außer Reichweite der gegnerischen Magitech-Mechs. Gleven kann ich noch keine sehen im Getümmel unter uns, nur Speros Männer und die MI, dazwischen vereinzelt schwächere Siecher und wilde Tiere. „Menschen waren keine dort drin…“, murmelt Cloud, „Nur die MI und die Monster.“ „In der Basis in Leide war auch nur ein Wissenschaftler mit seinem kleinen Sohn…“, überlege ich, „Wer immer dahinter steckt ist wohl ungern selbst vor Ort.“ „Helfen wir erst mal den Gefangenen“, schlägt Spero vor, „Wir können sie ja nicht einfach so stehen lassen.“ Irgendjemand hat die Kisten bereits ordentlich aufgestellt, eine neben der anderen, damit die Gefangenen sie gut sehen können. Keiner reagiert darauf. Sie sitzen oder stehen nur, wo wir sie abgestellt haben, und blicken hilflos in die Runde. Ich sehe zwischen den Gefangenen und dem Schlachtfeld hin und her, unschlüssig, wo ich sein sollte. Letztendlich jedoch ist die Entscheidung leicht. Ich gehe zu einer der Kisten, knie mich daneben und nehme den Plüschmogry heraus. Es ist eine Handpuppe. Lächelnd streife ich sie mir über und spiele ein wenig damit. „Kupo!“, grüße ich verspielt und lasse die Puppe freundlich winken, „Ich hab mich verlaufen. Weiß jemand von euch, wo ich hingehöre?“ Ein paar der Kinder drehen schüchtern die Köpfe in meine Richtung, aber noch traut sich keiner, mehr zu tun. Ich wühle mit der freien Hand weiter in der Kiste und lasse die Handpuppe ein wenig mithelfen, als wäre ich bei einem Puppentheater. Unter normalen Umständen wäre mir das peinlich, aber als Vater ist man doch ein wenig abgehärtet, wenn es darum geht, sich für Kinder zum Narren zu machen. „Ich suche meinen Jungen, kupo“, lasse ich den Mogry traurig sagen, „Ich bin ganz allein und weiß nicht weiter… ist einer von euch vielleicht mein Freund?“ In der Kiste ist warme Winterkleidung, darunter eine dicke Daunenjacke. Ins Innenfutter ist ein Schild eingenäht, in kindlicher Schrift, aber klar und gut lesbar. „Janus?“, lese ich in der Mogry-Stimme ab, „Janus, bist du da, Kupo?“ Endlich löst sich eines der Kinder aus der Menge und kommt auf mich zu gestürmt. Ich schiebe schnell die Kiste zur Seite, damit er nicht darüber fällt, als er in meinen Schoß springt um den Mogry zu umarmen. Es ist etwas schwierig mit der momentanen Position meiner Hand, aber ich schaffe es, dass der Mogry seinen Janus zurückumarmt, während ich das Kind gleichzeitig in meine Arme ziehe. „Hallo Janus“, grüße ich und befreie meine Hand aus der zu fest gedrückten Puppe, „Ich heiße Ignis, und das da sind Spero, Cloud und Kapitän Nemo.“ „Ich bin Janus“, gibt der Junge zurück, selbst überrascht, dass er sich traut, seinen Namen zu nennen, „Das ist Daisy.“ Er zeigt mir die Mogrypuppe. „Eigentlich hat sie auch ein Kleid.“ „Vielleicht ist das noch in der Kiste“, vermute ich, „Wollen wir es suchen, während du dich richtig anziehst?“ Janus nickt mutig. Um seine Hand- und Fußgelenke sind frische Fesselspuren und seine Augen sind gerötet und verquollen, aber er scheint noch nicht zu lange hier zu sein. In seiner Kiste finden wir neben einem rosa Puppenkleid für Daisy auch noch ein einfaches Mobiltelefon, in das die Nummer einer ‚Mama‘ eingespeichert ist. Die Frau wirkt völlig aufgelöst, als ich sie anrufe, aber ich kann sie beruhigen und versichere ihr, dass ihr Sohn gesund ist und bald nach Hause gebracht wird. Der nimmt mir auch gleich das Handy aus der Hand und heult seine Mama selber voll, anscheinend war er nur für ein paar Stunden von zu Hause ausgerissen, weil es zu viel Blumenkohl gab in letzter Zeit und gibt sich jetzt selbst die Schuld, dass er entführt wurde. Ich kann nicht mehr hören, was die Mutter dazu sagt, aber ich bezweifle, dass sie allzu sauer ist. Als ich mich wieder zu den Kisten umdrehe, hat auch der Kaktor schon seinen Besitzer gefunden und immer mehr der Gefangenen lösen sich aus ihrer Starre, um in die Kisten zu sehen, in denen sie ein Stück ihrer Identität erkennen. Fast siebzig Leute in einheitlichen Uniformen, ihrer selbst beraubt und geschunden, aber letztendlich brauchen viele nur einen kleinen Hinweis, eine winzige Erinnerung, um wieder zu wissen, wer sie sind. Menschen mit Namen und Geschichte. Eigene Hobbys, Familien, Werte. Es tut gut zu sehen, wie einer nach dem anderen auftaut. Nemos Leute machen so etwas nicht zum ersten Mal, sie wissen mit den traumatisierten Männern und Kindern umzugehen. Die Nautilus hat zahlreiche Kabinen, in denen alle, die ihre Kisten geleert haben, untergebracht werden. „Was passiert jetzt mit ihnen?“, frage ich. „Sie bleiben hier, bis es ihnen besser geht“, antwortet Spero, „Viele haben eine Familie, zu der wir sie zurückbringen können, vor allem die Kinder. Die Erwachsenen bleiben manchmal hier, um zu helfen, oder weil sie niemanden haben, der sie wieder aufnimmt. Von denen hilft jeder, wo er kann.“ „Aber Nemo zwingt niemanden, hier zu sein?“ „Nichtmehr, seit diese Maschine fort ist. Prompto hat er damals nur gezwungen, weil er ihn retten wollte…“ „Gut gemeint, aber verdammt schlecht gemacht, fürchte ich.“ Spero nickt unschlüssig. Von den achtundsechzig Gefangenen sind nur noch wenige übrig, eines davon ein Kind. Nicht schwer zu erraten, welche Kiste die seine ist, aber der Junge ist untröstlich und reagiert kein bisschen auf Clouds Worte. Das Kind ist knappe zehn Jahre alt, wirkt gut ernährt und sieht aus, als hätte es sich dem Drill lange genug widersetzt, um schwere Wunden davonzutragen. Seine Knöchel sind ähnlich aufgearbeitet wie Promptos damals und er hat Verbrennungen wie von Elektroschocks. Egal was Cloud auch sagt, das Kind weint nur. „Wie heißt du, mein Junge?“, frage ich und knie mich neben das Kind, um auf seine Augenhöhe zu kommen. Wie erwartet triggert die Frage etwas; das Kind hört mit einem Schlag auf zu weinen, blickt starr in die Luft und zitiert eine Nummer: „Ich bin N-iD54321, Detonator. Nummer 08983231.“ „Hat dich deine Mama denn auch so genannt?“, frage ich leise. Ich würde das Kind gerne in den Arm nehmen, aber ich befürchte, dass ihm die Berührung im Moment zu viel Angst machen würde. „Mama…“ „Ja, deine Mama. Du hast doch eine Mama, oder? Oder einen Papa?“ „Mama. Eine Mama.“ „Genau, eine Mama. Wie nennt dich deine Mama, wenn sie dich zum Essen ruft?“ „Zell.“ „Zell also. Ein schöner Name. Kocht deine Mama gutes Essen?“ Zell nickt. Er hat die Hände vor dem Gesicht, um sich die Tränen aus den Augen zu reiben, aber er weint nicht mehr so schlimm wie am Anfang. „Was magst du denn am liebsten?“, frage ich weiter, „Kocht deine Mama etwas Besonderes, wenn du traurig bist?“ „Ich mag Hotdogs…“ Ich hatte jetzt eher mit Kakao oder Pfannkuchen gerechnet, aber gut, dann eben Hotdogs. Ich blicke zu Cloud, der sich das Lachen verkneift und jemandem zuwinkt. „Hotdogs gibt’s hier auch“, sagt er, „Magst du einen? Oder lieber zwei? Dann lass ich welche aus der Kantine holen.“ Zell blickt auf und schaut Cloud aus großen, runden Augen an. „Darf ich zehn Hotdogs?“ Nun fällt es wirklich schwer, nicht laut loszulachen. Kinder sind einfach etwas Wunderbares. „So viele du willst“, versichert Cloud und ich ziehe Zell auf meinen Schoß, um ihn zu umarmen. Er lässt es sich gefallen und schmiegt sich sogar an mich, erwidert die Umarmung. Er ist fast so groß wie Nyx… ich vermisse meinen Jungen. „Willst du dich anziehen, Zell?“, frage ich vorsichtig, „Dir ist doch bestimmt kalt, oder?“ Zell nickt und lässt sich die Sachen aus seiner Kiste geben. Es ist keine teure Kleidung, aber sie wirkt warm und liebevoll ausgewählt. „Ich wohne in einem Waisenhaus“, erklärt er, „Mama hat noch viel mehr Kinder als mich, aber ich hab sie lieb.“ Er muss einen Moment unterbrechen, um seinen Kopf durch das Loch in seinem T-Shirt zu zwängen, dann erzählt er weiter: „Wir haben einen Ausflug nach Lucis gemacht, um Lestallum zu besuchen. Ich bin nur kurz verloren gegangen, dann haben mich diese fiesen Roboter gepackt.“ Anders als Prompto scheint er sich gar nicht an dem Barcode an seiner Hand zu stören, aber genau wie er fällt auch Zell sofort in einen lockeren, fröhlichen Ton zurück, kaum dass der erste Schock vorüber ist. Als wäre nie etwas Schlimmes passiert… „Ich wohne gerade mit meinen Freunden in Lestallum“, fällt mir ein, „Wenn deine Mama noch dort ist, kann ich dich mit zurück nehmen, sobald die Monster weg sind.“ „Wohnt ihr auch im Leville?“ „Ja, ganz genau.“ „Hast du Mama dann gesehen? Sie ist wunderschön, mit langen, schwarzen Haaren. Und sie hat immer viele Kinder dabei!“ Zell fängt an, mir Namen aufzuzählen, wer nett und wer gemein ist und wann was gemacht hat. Viel bin ich nicht vor die Tür gekommen in der letzten Zeit, aber eine Frau, auf die die Beschreibung passen könnte, habe ich tatsächlich gesehen. Sie hatte einen brünetten Jungen an der Hand und ein blondes Mädchen im Arm und war auf der Suche nach einem blonden Jungen, der auf dem Markt verloren gegangen ist… sicher ist sie im Hotel geblieben, weil sie nicht ohne das Kind zurück wollte. An dem Tag konnte ich ihr nicht helfen, aber jetzt… jetzt kann ich ihr den verlorenen Sohn zurückbringen. Einer von Nemos Männern kommt mit der versprochenen Ladung Hotdogs zurück und ich lasse Zell los, damit er sich darauf stürzen kann. Er tut es mit Begeisterung und ich glaube fast, dass er zumindest die Hälfte der Hotdogs schaffen könnte, wenn er genug Hunger hat. Am Appetit wird es jedenfalls nicht scheitern. Nun ist nur noch ein Mann übrig. Er ist etwa dreißig, mit mittellangen Haaren und traurigen Augen. Ausdruckslos starrt er auf die verbleibenden drei Kartons. Er wirkt relativ unverletzt und absolut gefügig, sicher hat er einfach mitgemacht, anstatt sich zu wehren, und sich so selbst geschützt. Oder einfach aufgegeben. Nemo jedenfalls scheint nicht zu ihm durchzudringen. Die Taktiken, die bei den anderen so gut funktioniert haben, scheinen ihn nicht zu beeindrucken, er spricht, beantwortet Fragen aber nur mechanisch und mit den programmierten Antworten. Ich schätze die Lage ein, gehe auf den Mann zu und umarme ihn einfach. Er zuckt überrascht zusammen, die erste menschliche Reaktion, die er heute gezeigt hat. „Alles gut, mein Freund“, beruhige ich ihn, lasse wieder los und streichle ihm durch die Haare, während ich meinen nächsten Schritt überdenke. Der Mann reagiert auf meine Berührung, und so halte ich ihn noch ein wenig weiter, kraule ihm die Haare und fange leise an zu summen. Während Nemo und Spero mit ihm gesprochen haben ist mir etwas aufgefallen… Die meisten von Nemos Leuten sprechen, wie er selbst, mit niflheimer Dialekt. Die Antworten des jungen Mannes hier waren dagegen eher lucisch gefärbt… Wie es Cleo damals bei Prompto aufgefallen ist. Der Mann ist von hier. Und so fange ich ganz leise an, ein lucisches Schlaflied zu singen. Der Erfolg ist überraschend, aber eindrucksvoll. Der Mann drückt sich plötzlich an meine Brust, umarmt mich, und fängt haltlos zu weinen an, als wäre ein langer Fluch von ihm genommen. „Papa…“ „Ist ja gut, mein Junge, alles ist gut…“ Draußen sind neuerliche Explosionen zu hören, langsam wäre es Zeit für die angeforderte Verstärkung. Laut meiner Uhr ist es knapp ein Uhr nachts… die dunkelste Stunde, die beste Zeit für Siecher. Wenn ich die Geräusche richtig deute, ist ein solcher gerade aufgetaucht. Ein großer. Dennoch bleibe ich still stehen und halte den immer noch namenlosen Scharfschützen im Arm, bis er sich beruhigt hat. Er fasst sich zum Glück schneller wieder als gedacht. „Tut mir Leid“, entschuldigt er sich, und ich fühle mich viel zu sehr an Prompto erinnert. „Ist schon gut, du musst dich nicht entschuldigen. Geht es dir besser?“ Ein Nicken. Tapfer. „Hat dein Papa dir einen Namen gegeben, bei dem ich dich rufen kann?“ „Ja. Er hat mich Arc genannt.“ „Arc also. Ich heiße Ignis. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Arc nimmt meine Hand und hält sie zitternd fest. „Ganz schön kalt in den dünnen Klamotten, was? Willst du dich nicht umziehen?“ Arc schluckt, nickt aber erneut und sieht sich nach den Kartons um. In einem davon wird er fündig, und wie erwartet ist die Kleidung darin lucischen Ursprungs. Er hat einen guten Geschmack und scheint nicht ganz arm zu sein, aber viel ist nicht in der Kiste. Neben der Kleidung an sich hat er nur eine goldene Armbanduhr, ein Handy und ein Medaillon bei sich. „Da ist ein Foto von meinem Vater drin“, erklärt er, „Er ist gestorben, kurz, bevor nach der langen Nacht die Sonne wieder aufging.“ „Siecher?“, vermute ich und Arc nickt stumm. „Das tut mir sehr Leid.“ „Du bist einer der Helden von damals, nicht wahr? Es ist traurig, dass Vater es nicht mehr erleben durfte, aber ihr habt uns alle gerettet. Ich bin euch sehr dankbar.“ Er scheint noch mehr sagen zu wollen, wirft aber noch einen Blick in seine Kiste und zieht ein Stofftaschentuch heraus. Braun mit bunten Chocobos darauf. „Das ist nicht meins.“ „Ich glaube, ich weiß, wem das gehört“, schmunzle ich erleichtert, „Gibst du es mir? Dann bringe ich es ihm zurück.“ Prompto wird sich freuen, das kitschige Ding wiederzuhaben. Mich interessieren die Chocobo-Tales nicht, aber Prompto und Nyx sind ganz begeistert von der Serie und ihren glubschäugigen Charakteren. Draußen ertönt ein weiterer Knall. „Es wird wohl Zeit, dass ihr auch in den Kampf eingreift?“, vermutet Arc und ich nicke. Schnell tippe ich noch meine Nummer in sein Handy, damit er mich anrufen kann, wenn er reden will, dann verabschiede ich mich und packe meinen Speer. Draußen unter dem Luftschiff hat sich der Kampf deutlich verändert. Die MI sind geschrottet, die Monster geflüchtet, und unter den Beinen des mächtigen Eisengiganten tummeln sich nur noch Siecher. Von Nemos Männern sind fast alle geflüchtet oder gerade noch im Begriff, an Strickleitern zurück auf die Nautilus zu klettern, dafür ist endlich die Königsgleve eingetroffen, angeführt von Gladio, der wohl den nötigen Mut für alle mitgebracht hat. Es ist eben doch ein Unterschied, ob man mitten in der Nacht einen Siecher bekämpft, oder ob man mitten in der Nacht an Gladiolus Amicitias Seite einen Siecher bekämpft. Der Eisengigant scheint jedenfalls nicht angetan von Gladios Breitschwert und seinen fleißigen Helfern. Wütend holt er aus, schwingt sein riesiges, brennendes Schwert hoch über den Kopf und lässt es donnernd zu Boden fallen. Ich fasse den Siecher ins Auge und lote seine Schwächen aus, aber natürlich würde nur Licht ihm wirklich schaden. Trotzdem wird ihn ein gut gezielter Treffer mit einer normalen Waffe auch nicht kalt lassen. Ich stürzte mich aus der offenen Laderampe der Nautilus, schwinge meinen Speer hoch über den Kopf und ramme ihn dem Siecher genau in den Nacken. Die Landung war gut, der Angriff ein voller Treffer, und ich nutze den verbleibenden Schwung um mich herumzuwirbeln, löse die Lanze aus dem Nacken des Monsters und lande elegant neben Gladio auf dem Boden. „‘N Abend“, grüßt der trocken, „Ist ja ne ganz schöne Party hier.“ „Tut mir Leid, dass wir dich nicht eher eingeladen haben“, entschuldige ich mich, „Aber ich musste erst Prompto finden, damit jemand auf Noct aufpasst. Ging alles etwas schnell…“ Der Gigant greift wieder an, aber Gladio blockt den Angriff mit seinem eigenen, so viel winzigeren Breitschwert und wirft die gegnerische Klinge zurück. Einen Moment strauchelt der Gigant, und ich schleudere einen Eisga-Zauber in seine ungeschützte Brust. Auch einige der anderen Gleven nutzen die Chance zum Angriff, bis der Gigant sich wieder fängt. Das Monster brüllt wütend und greift erneut an. Ich springe behände über die Klinge hinweg, damit Gladio sie erneut blocken kann, lade meine Lanze mit Eisenergie auf und stoße sie von oben in den Hals der Rüstung, als das Monster wieder strauchelt. Diesmal geht es zu Boden und wir greifen von allen Seiten an, nutzen den Moment der Schwäche, ehe es sich wieder aufrichtet. Gladio setzt zu seiner besten Spezialtechnik an und ich springe schnell aus dem Weg, um nicht in seine wirbelnde Klinge zu geraten. Der Angriff sitzt, der Eisengigant brüllt wütend und versinkt besiegt im Boden. Noch ein paar Minuten, dann sind auch die schwächeren Siecher besiegt und verschwunden. Nemo hat seine letzten Leute eingesammelt und macht sich zum Aufbruch bereit, da springt Spero noch einmal ab und drückt mir den kleinen Zell in die Hand. Er hat reichlich Ketchup um den Mund und sieht aus, als ob ihm die Hotdogs recht gut geschmeckt hätten. „Hier, den wolltet ihr mit nach Lestallum nehmen, richtig?“ „Richtig, den bringen wir gleich heim zu seiner Mama“, erinnere ich mich an mein Versprechen und putze dem Kleinen den Mund ab. „Darfst bei uns im Auto mitfahren.“ „Süß“, kommentiert Gladio und wuschelt dem Kind durch die Haare, „Gehört der zu den Waisenkids aus Tenebrae? Ich hab ein paar von denen öfter im Trainingsraum gesehen, gerade der Brünette versteckt sich da recht gern. Ganz schöner Haufen Chaoten…“ „Offensichtlich“, seufze ich und schlendere mit Gladio zum Auto zurück. Am Horizont wird es langsam ein wenig hell… wann habe ich zuletzt geschlafen? Es muss ewig her sein. Ausnahmsweise bin ich sogar froh, dass Gladio fährt. Wirklich entspannen kann ich mich so nicht, aber besser, als mit halbgeschlossenen Augen selbst zu fahren, ist es allemal. Ein wenig neidisch bin ich schon auf Zell, der einfach auf dem Rücksitz eingepennt ist… so entspannt wäre ich manchmal auch gern. Kapitel 30: Beste Freunde (Noctis Lucis Cealum) ----------------------------------------------- Seit der Wall angegriffen wurde, habe ich jedes Zeitgefühl verloren. Es ist fast so, als wäre ich wieder tot, nur weniger angenehm. Ich bin stehen geblieben, aber die Welt um mich herum dreht sich weiter. Mein Körper ist unversehrt, verlangt, dass ich mich bewege, Nahrung und Wasser aufnehme und auch wieder von mir gebe, aber mir fehlt die Kraft dazu. Ich bin bei Bewusstsein, meistens jedenfalls, und kann doch nur zusehen, wie meine treuen Freunde mir selbst diese einfachsten Aufgaben abnehmen. Am angenehmsten ist es noch immer, wenn ich einfach schlafen kann, aber wenn ich wach bin, wird es zumindest langsam ein wenig besser. Es reißt mich nicht mehr innerlich kaputt, mal ein paar Worte zu sprechen, auch wenn es sich immer noch anfühlt, als müsste ich jedes einzelne davon mühsam aus meiner Lunge drücken. Selbst atmen ist schwer… ich habe mal gehört, dass Wale an Land nicht einfach vertrocknen, sondern ersticken, weil sie ihren schweren Körper ohne den Auftrieb des Wassers nicht gut genug heben können, um richtig zu atmen. Schwer vorstellbar, wenn einem das eigene Gewicht die Lunge zusammendrückt, aber so ungefähr fühle ich mich jetzt selbst. Zu schwach, mein eigenes Gewicht zu stemmen. Selbst die Decke ist ungeheuer schwer auf meiner Brust. Dabei ist es sogar nur eine ganz dünne Decke… warm genug ist mir, dank der Heizung, auch so. Im Sitzen, was ich endlich wieder kann, ist es kurzfristig etwas leichter zu atmen, dafür ist es ungemein anstrengend, den Kopf oben zu halten. Überhaupt so viel meines eigenen Körpers gegen die Schwerkraft zu stützen. Aber ich muss es zumindest versuchen; es gibt meinen Freunden Hoffnung, dass es mir besser geht, und es macht einige Arbeiten erträglicher. Immerhin brauche ich so keine Windeln mehr… auch, wenn sich jeder Gang aufs Klo wie ein dreistündiger Marathon anfühlt. Aber immerhin landet der Dreck gleich da, wo er hingehört, und niemand muss ihn anfassen. Da fühlt man sich doch gleich wieder mehr wie ein Mensch. Was mir am Wichtigsten ist sind jedoch immer noch meine Freunde. Ich bin unglaublich dankbar, dass sie mich nicht allein lassen. Sicher, ich brauche Ruhe, und keiner der drei kann die zu hundert Prozent gewähren. Sie wecken mich deutlich öfter aus Versehen auf als ich es je zugeben würde, allein durch die Geräusche, die ihre reine Anwesenheit macht. In letzter Zeit ist auch mehr als deutlich, wie sehr sie sich aufarbeiten, wie wenig Zeit sie sich für sich selbst und als Gruppe nehmen. Jeder der drei hat schon mindestens einmal ein viel zu langes Gespräch mit mir angefangen, wohl wissend, wie sehr es mich anstrengt. Aber ich beschwere mich nicht. Erholung hin oder her, wenn meine Freunde den Zuspruch und die Gesellschaft brauchen, dann kann ich mich auch mal anstrengen. Meist tut ihnen sofort selbst Leid, dass sie mich so beanspruchen, und oft habe ich dann auch nicht mehr die Kraft, zu widersprechen, wenn sie sich entschuldigen. Ich kann nur immer wieder sagen, wie viel sie mir bedeuten. Wie wichtig mir ist, dass sie bei mir sind, und wie dankbar ich ihnen dafür bin, dass sie sich so um mich bemühen. Ich schlafe nun schon so lange in diesem Hotel dass ich ohne die Augen zu öffnen sagen kann, wer gerade bei mir ist. Gladios schwere Schritte sind deutlich von denen der anderen zu unterscheiden, wenn er sich im Raum bewegt. Meist sitzt er nur still neben dem Bett und stemmt Hanteln, aber er steht auch oft genug auf, um sich neues Wasser einzuschenken oder um aus dem Fenster zu sehen. Je nach Tageszeit prüft er auch gerne Fenster und Tür, oder er macht Liegestützen. Prompto spielt meist auf dem Handy, prüft seine Kamera oder liest sogar. Manchmal legt er sich auch zu mir aufs Bett, als wollte er selbst schlafen, aber ich weiß, dass er wach ist. Ich habe mitbekommen, wie Spero ihn darauf angesprochen hat… gerne hätte ich meinen Freund verteidigt, aber ich hätte nicht die Kraft gehabt, es zu Ende zu diskutieren. Mich weiter schlafend zu stellen war sicher die bessere Wahl, andernfalls hätte Prompto nur das Gefühl gehabt, ich hätte vielleicht den gleichen Schluss gezogen. Dabei gibt er sich so viel Mühe, still und leise zu sein, und er hat auch viel Erfolg damit. Am wenigsten Ruhe habe ich inzwischen tatsächlich, wenn Ignis da ist. Auch ihm nehme ich es nicht übel – irgendwer muss ja aufräumen. Und das raschelt eben ein wenig. Seine Schritte sind leichter als Gladios, manchmal kaum hörbar abgesehen vom Knistern der Müllbeutel, dafür ist er aber viel öfter in Bewegung. Auch die anderen Aufgaben, für die ich halbwegs wach sein muss, übernimmt allesamt Ignis. Waschen, kämmen, rasieren… ohne Ignis sähe ich inzwischen sicher aus wie ein stinkender Yeti. Und bei aller berechtigten Faulheit, so schlimm muss es ja nicht werden. Ich mag in erster Linie Ruhe brauchen, aber meine anderen Bedürfnisse – Essen, Schlafen, ein Minimum an Sauberkeit – sind dadurch ja nicht abgeschafft. Wirklich schlafen kann ich in letzter Zeit ohnehin nicht mehr. Böse Zungen mögen mich mit einem Murmeltier vergleichen, aber selbst ich bin unfähig, Monate am Stück durchzuschlafen. Und ungefähr so lange bin ich schon hier… unfähig, wieder einzuschlafen, aber genauso wenig in der Lage, irgendetwas anderes zu tun als dumm herumzuliegen. Wie gerne würde ich mal wieder mit Gladio um die Wette rennen, Ignis beim Kochen zur Hand gehen oder mit Prompto auf Fotosafari gehen… stattdessen liege ich hier und habe kaum die Kraft, meine Augen zu öffnen, geschweige denn mal den Arm zu heben. So schwach und müde, aber unfähig, einzuschlafen. Es ist ungewohnt still im Raum. Mag sein, dass Ignis meinen Tipp befolgt hat, mal etwas mit einem der anderen zu unternehmen, aber er hätte mich sicher nicht ganz allein gelassen. Wenn ich mich richtig konzentriere, kann ich auch jemanden im Raum atmen hören. Jemanden außer mir selbst. Aber die üblichen Geräusche fehlen und ich könnte nicht sagen, wer da so besorgniserregend still neben meinem Bett sitzt. Ich zwinge mich noch einmal, die Augen zu öffnen, aber es gelingt mir nicht, dafür sind die Lider einfach zu schwer. Stattdessen versuche ich es mit meinem rechten Arm, und das funktioniert zumindest soweit, dass ich die Aufmerksamkeit meines stillen Bewachers wecke. „Bist du wach, Noct? Kann ich was für dich tun?“ Promptos Stimme. Er fasst meine Hand mit seinen und ich zucke unwillkürlich zusammen. Kalt. Seine Hände sind eiskalt. „Ah, tut mir Leid“, entschuldigt er sich schnell und lässt meine Hand sofort wieder los. Der kurze Schreck gibt mir aber immerhin so viel Kraft, dass ich nun doch endlich die Augen öffnen und mich etwas mehr rühren kann. „Ist okay“, murmle ich, „Hilfst du mir?“ „Auf die Toilette?“, fragt Prompto eilig und blickt sich gehetzt um, vielleicht auf der Suche nach dem Rollstuhl. Er sieht furchtbar aus, halb erfroren, mit blutunterlaufenen, verquollenen Augen und einer Körperhaltung, die von nackter Panik spricht. Über seine Schultern hängt ein mir unbekannter Mantel, seine Haare sind zerzaust und an seinen bloßen Handgelenken klebt frisches Blut. Ich nicke auf seine Frage. Ich hätte es sicher noch ein wenig ausgehalten, aber so muss ich mich dazu zwingen, wach zu bleiben, und Prompto kann mir nicht ausweichen. Ich muss wissen, was passiert ist. Prompto stolpert um oder halb über das Bett in seiner Eile, den Rollstuhl aus der Ecke zu holen. Er braucht ein paar Anläufe, ihn neben dem Bett zu parken und die Bremsen zu ziehen, alles Dinge, die er in den letzten Tagen schon hundertmal gemacht hat und sicher im Schlaf könnte, wenn er nicht so zittern würde. Heute sind seine Bewegungen fahrig, er greift oft am richtigen Hebel vorbei und scheint kaum Gefühl in den Fingern zu haben. Trotz der Heizung im Zimmer scheint er zu frieren. Die Sorge um ihn gibt mir neue Kraft, es fällt mir leichter, mich an seinen Schultern zu halten, als er mich in den Rollstuhl und von dort auf die Toilette hebt. Erschöpft lege ich meine Arme um Prompto, als er mich fest hält, damit ich nicht von der Schüssel rutsche. Es ist mir immer noch peinlich, dass er mich im Bad unterstützen muss… mehr als vor Ignis oder Gladio, die ich schon von klein auf kenne und die in dem Bewusstsein aufgewachsen sind, meine Diener zu sein. Im weitesten Sinne, jedenfalls. Prompto ist mir zu nichts verpflichtet, und trotzdem ist er hier. Macht selbst die dreckigsten Arbeiten für mich, allein aus freiem Willen. Ich stütze meinen Kopf auf ihn, vergrabe mein Gesicht im weichen Stoff seines Mantels. Er riecht fremd… vielleicht hat er ihn sich geliehen. Promptos Hände auf meinem Rücken sind eiskalt, aber inzwischen erschreckt es mich nicht mehr. Ich lasse gern zu, dass er sie ein wenig an mir wärmt, die Kühle an meinem Rücken ist fast ein wenig angenehm. Trotzdem mache ich mir Sorgen. „Du solltest heiß duschen“, rate ich, „Sonst erkältest du dich.“ „Ich weiß“, murmelt Prompto in meiner Haare, „wenn die anderen wieder da sind…“ „Nein. Jetzt.“ Schon die wenigen Worte strengen mich an. Ich will nicht diskutieren, aber ich kann Prompto nicht im Stich lassen. Er braucht mich jetzt, vielleicht mehr als ich ihn brauche. „Ich kann dich nicht allein lassen“, widerspricht er weiter. Ich will ihn auch nicht allein lassen. So wie jetzt, diese Umarmung, das tut uns beiden gut. Vielleicht… „Und wenn wir… zusammen ein Bad nehmen?“, schlage ich vor. Bitte, bitte lass es ihn nicht falsch verstehen. Ich will nicht zu lange reden müssen, ich will einfach nur, dass Prompto sich etwas aufwärmt. Und ich will auf ihn aufpassen dabei. Prompto schweigt. Überrascht, vielleicht entsetzt. Es dauert ein paar Herzschläge lang, bis er wieder ausatmet. „Einfach so?“, fragt er schließlich. „Ich hatte lange kein Bad mehr“, gebe ich zu bedenken, „Zu schwierig, vielleicht. Aber…“ „Aber wenn ich dich festhalte, kann ja nichts passieren, oder? Soll ich ein Bad einlassen? Obwohl warte, dann kommen wir schlecht rein, wenn ich dich heben muss…“ Prompto wird munterer, der Gedanke scheint ihn abzulenken, aus seiner Starre zu lösen. „Am leichtesten ist es, glaube ich, wenn ich dich in die leere Wanne hebe, selbst dazukomme, und wir dann das Wasser einlassen. Und wenn wir fertig sind, lassen wir das Wasser erst wieder raus. Ist dann zwar schwierig, weil es rutschig wird, aber immerhin muss ich dich dann nicht unbedingt festhalten, bis ich selbst wieder festen Boden unter den Füßen habe. Hörst du noch zu?“ Nein, nicht wirklich. Fast wäre ich im Sitzen eingeschlafen. Prompto lacht leise, putzt mich ab und setzt mich wieder in den Rollstuhl, um die eineinhalb Meter bis zur Wanne zu überbrücken. Klingt nach wenig, aber wenn man fünfundsiebzig Kilo bewegen soll, während man selbst vielleicht sechzig wiegt, ist das schon eine beträchtliche Distanz. Dabei hat Prompto wieder anständig zugelegt in der letzten Zeit. Langsam dürfte er sein normales Gewicht wiederhaben. Und Kraft hat er auch, zumindest genug, mir vom Rollstuhl auf den Wannenrand und von dort in die Wanne zu helfen, obwohl ich selbst kaum den Kopf oben halten kann, geschweige denn die Hälfte meines Körpers. Promptos Hände sind nur mäßig kälter auf meiner nackten Haut als die glatte Oberfläche der Badewanne und ich zittere, als er hinter mich klettert, um mich fest zu halten. „Wie warm willst du das Wasser?“, fragt Prompto und dreht den Hahn auf. „Egal“, antworte ich müde, „wie es für dich angenehm ist.“ Das Wasser, das er einlässt, ist erstmal ziemlich kalt. Sicher brennt auch das schon auf seiner Haut, sein Körper hinter mir fühlt sich an, als käme er frisch aus der Kühltruhe. Ich beschwere mich nicht, bin froh, endlich mal einem meiner Freunde helfen zu können, nach allem, was sie in der letzten Zeit für mich aufgegeben haben. Und die Kälte ist irgendwo sogar ein wenig erfrischend nach der stickigen Wärme im Zimmer. Prompto fingert an den Hebeln der Badewanne herum, um die Wassertemperatur anzupassen, immer wärmer, je weiter er auftaut. Nicht ganz einfach, immerhin stehen gefühlte tausend Heiltrankfläschchen auf dem Rand. Es dauert nicht lange und das erste davon fällt ins Wasser, nur ein wenig länger, und das erste geht auf. „Verdammt, ausgerechnet das teure Äther…“, murmelt er und zieht die nun leere Flasche aus der Wanne. Der Inhalt hat sich sofort mit dem Badewasser vermengt, es riecht angenehm. Ich lehne mich ein wenig zurück und atme tief ein. Natürlich wurden Äther schon ausprobiert, aber auf meinen jetzigen Zustand hatte es leider keinen Effekt. Das Mittel ist gut, um Magie aufzuladen, aber wenn man schon so weit jenseits der Reserve ist… Ich schubse noch zwei, drei weitere Fläschchen ins Wasser, um Prompto etwas zu ärgern, aber er lacht nur. „Das ist kein Badezusatz, Noct, das sind Heilmittel! Ignis wird so schimpfen…“ Trotzdem öffnet er ein weiteres Äther und kippt den Inhalt in die Wanne. Etwas höher über dem Rand stehen die eigentlichen Badzusätze des Hotels. Ich wähle einen mit Limette und Minze, weil mir der Geruch gefällt und erstaunlich gut mit dem des Äthers zusammenpasst. Langsam wird auch das Wasser richtig schön warm. Prompto streicht mir die Haare aus dem Gesicht und schließt entspannt die Augen. Ich fühle mich wohl. „Du lässt es dir echt gut gehen, was?“, neckt Prompto einige Zeit später. Ich weiß nicht, ob ich eingeschlafen bin oder nur kurz die Augen geschlossen habe, aber es ist mir auch egal. Das Wasser ist warm, es riecht unglaublich gut und ich kann wieder vernünftig atmen. Wie der Wal, der gerade rechtzeitig wieder ins Wasser kommt… ich fühle mich beinahe schwerelos. Trotzdem würde ich ohne Promptos helfende Arme sicher untergehen in der Wanne, weil ich mich nicht selbst halten kann. „Ja, das tut gut“, antworte ich, überrascht, wie leicht mir der Satz fällt. Es strengt fast überhaupt nicht an. Ich teste meine Beine, meine Arme, und stelle fest, dass ich mich bewegen kann. Nicht gut, aber immerhin ein bisschen. Mit dem Auftrieb des Wassers als Hilfestellung reicht es, um mich aus eigener Kraft auf die Seite zu drehen. Es fühlt sich an wie ein riesiger Erfolg, als hätte ich ein Wettrennen gegen Gladio gewonnen. Nicht, dass das je passiert wäre… aber ich stelle es mir gerne vor. Ich stelle mir immer gerne vor, dass ich mal irgendwas gegen Gladio gewinne. „Du wirkst auch irgendwie richtig fit gerade“, fällt Prompto auf. Er streichelt liebevoll meine Haare, wie Ignis es auch tun würde. „Ich fühle mich auch richtig gut“, gebe ich zu. Langsam werde ich wieder müde, aber noch will ich diesen unerwarteten Auftrieb etwas nutzen. „Du taust auch langsam wieder auf. Was ist denn passiert? Ich hab mitbekommen, dass Gladio nervös war, aber er wollte mir nichts sagen. Hat so getan, als wäre alles normal…“ Prompto zögert, scheint Gladios Lüge unterstützen zu wollen. Dann seufzt er. „Du bekommst doch mehr mit, als wir denken, oder?“, murmelt er und zieht mich näher an sich, ein Stück weiter weg von der Wasseroberfläche. „Ich war eigentlich nur mit Ignis einkaufen“, erzählt er schließlich, „aber wir sind angegriffen worden.“ „Von wem?“ Prompto schweigt, der Druck seiner Arme um meinen Körper nimmt einen Moment zu, als er mich an sich drückt wie einen tröstenden Teddy. „Magitech“, flüstert er schließlich, und es scheint ihn viel Überwindung zu kosten, „Die Basis in Leide war… nicht die einzige.“ Mir rutscht das Herz glatt eine Etage tiefer. Fast unwillkürlich lege ich meine Hand auf die frischen Abschürfungen an Promptos Handgelenken. „Tut mir Leid“, murmelt er, „Und ja, ich hab mich erwischen lassen… sie kamen so plötzlich, und es waren so viele, und Ignis… er… es geht ihm gut, jetzt, aber die hatten ihn so schwer angeschossen dass er mir nicht helfen konnte bis ich schon gefangen war. Aber er hat mich rausgeholt.“ Prompto schluckt schwer. Ich lehne meine Stirn an seine Schulter und atme tief durch. Die Welt geht weiter, auch wenn ich mich nicht rühren kann. Die Gefahr ist längst nicht weg… Ignis und Prompto hätten da draußen sterben können, und ich konnte nichts tun, um zu helfen. Im Gegenteil, meinetwegen saß Gladio hier fest und konnte auch nichts tun… „Wo ist Ignis jetzt? Und Gladio?“, frage ich unsicher. „Die kommen bald wieder“, meint Prompto. Er scheint sich gefangen zu haben, schluckt tapfer die letzten Tränen herunter. „Ignis hat mich zurückgeschickt, damit Gladio zu ihm kann. Die nehmen diese Basis auseinander, weißt du? Da waren noch so viele andere Gefangene…“ „Ich verstehe. Glaubst du, die beiden schaffen das?“ „Bestimmt. Ich meine, Gladio wartet seit Wochen darauf, mal wieder an die frische Luft zu kommen, der zerreißt die doch in der Luft wie frisches Fleisch! Wie ein Wachhund, den man von der Kette lässt.“ Ich muss lachen, das kann ich mir bildlich vorstellen. Prompto lacht mit und spritzt ein wenig mit dem Wasser herum. Ich will mitmachen, aber mehr als ein bisschen den Schaum aufwirbeln kann ich nicht. Ich bin müde… nichtmehr so platt und kraftlos wie vorher, sondern richtig, positiv müde, als hätte ich hart gearbeitet und mir den Schlaf verdient. Ich lege die Arme um Promptos Schultern, vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge und atme tief den frischen Geruch des Badewassers ein. Es fühlt sich einfach herrlich an, wunderbar warm und entspannt. Ich dachte eigentlich, ich hätte nur kurz die Augen geschlossen, aber als ich sie wieder öffne, liege ich im Bett. Ich bin in einen flauschigen Bademantel gewickelt und gut zugedeckt, aber immerhin nicht allein. Prompto liegt neben mir, ausnahmsweise sogar unter der Decke, und auch er scheint tief zu schlafen. Neben dem Bett kann ich leises Flüstern hören. „Und wie das Bad aussieht… als hätten Bismarck und Leviathan eine wilde Party gefeiert…“ „Hilf lieber beim Aufwischen, Gladio.“ „Immer, wenn du mal Platz lässt. Hier drin kann man sich ja kaum umdrehen… außerdem wär’s eh fast sinnvoller, wir würden beide noch unter die Dusche hüpfen, bevor du hier alles wienerst, dann muss man nur einmal putzen.“ „Gut, dann duschst du aber zuerst. Dann kann ich das Bad gleich sauber hinterlassen… und hol vorher die Bademäntel von drüben, hier waren nur zwei. Und sei bitte LEISE mit der Tür!“ „Jaa Mami…“ Unglaublich, wie laut manche Leute flüstern können. Ich drehe mich auf die Seite, froh, dass ich es auch auf dem Trockenen noch kann, und ziehe Prompto an mich wie einen großen Teddy. Er brummt nur leise und lässt es sich gefallen, sicher ist er auch hundemüde. Ein weiteres, scheinbar stundenlanges Blinzeln später liegen auch Gladio und Ignis mit uns im Bett. Ignis hat sich an Promptos Rücken gekuschelt, Gladio liegt halb auf mir, den massigen Arm schützend über mich und Prompto gelegt. Wache hält wohl im Moment niemand… niemand, außer dem Bündel Fell, das unter der Decke meine Füße wärmt. „‘N Abend, Umbra“, grüße ich verschlafen und ernte einen feuchten Nasenkuss gegen meine Fußsohlen als Antwort. Ich lächle. Es fühlt sich schön an, nicht so anstrengend wie noch vor ein paar Stunden… oder Tagen. Ich habe echt kein Zeitgefühl mehr. Aber es ist egal, denn so, wie es jetzt ist, kann es gerne noch eine Weile bleiben. So umgeben von meinen besten Freunden, zusammengekuschelt wie ein Wurf Hundewelpen… So fühle ich mich am wohlsten. So ist das Leben perfekt. Kapitel 31: Weiter Geht's (Prompto Argentum) -------------------------------------------- Scheint, als hätten wir etwas gefunden, was Noct wieder auf die Beine hilft. Naja, noch nicht ganz auf die Beine, aber immerhin ein bisschen mehr in Richtung Gesundheit. Es mag nur ein Versehen gewesen sein beim ersten Mal, aber Ignis hat die Vermutung, dass die ins Badewasser gekippten Äther einen gewissen Anteil an Nocts verbessertem Zustand haben. Es klappt nicht mehr ganz so durchschlagend wie beim ersten Mal, aber Noct ist immerhin ein wenig mobiler, länger wach, und im Stande, auch mit ein bisschen Lärm zurecht zu kommen. Immer öfter sitzen wir jetzt alle vier in seinem Zimmer zusammen. Wir drei zocken Kings Knight – endlich wieder gemeinsam – und Noct kuschelt sich bei einem von uns in die Arme. Gladio kommt verdächtig oft dran, wenn mal einer mitzählen würde, aber der hat als Schild des Königs auch ein gewisses Vorrecht. Noct ist in der Hinsicht ohnehin wie eine große Katze, das größte und wärmste Kissen zum Anlehnen ist gerade gut genug. In Gladios Armen sieht er fast wie ein Kind aus. „So kräftig, wie Noct inzwischen geworden ist, könnten wir langsam die Koffer packen“, überlegt Ignis, „Eine kurze Autofahrt könnte er schon durchhalten, erst recht, wenn Gladio hinten ein wenig aufrückt, um ihn zu stützen.“ Noct schlägt müde die Augen auf und blinzelt Ignis über Gladios Arm hinweg an. „Müsste gehen. Im Regalia kann ich ja auch recht bequem schlafen… wenn wir unterwegs jeden Campingplatz mitnehmen schaffen wir es locker bis nach Hause.“ Gladio grinst bei der Erwähnung der Campingplätze. Iris hat er natürlich das größere Zelt mitgegeben, aber er hat noch ein zweites für uns, und super bequeme, nagelneue Schlafsäcke. „Luna hat die Runen reaktiviert, oder? Dann können wir auch sicher schlafen“, überlege ich, „Aber bei Regen schauen wir bitte, dass wir in ein Hotel können… oder zumindest in einen Wohnwagen.“ „Ach was, das Zelt ist wasserdicht! Und du bist nicht aus Zucker.“ „Ich will bei Regen auch lieber ein echtes Dach“, murmelt Noct hilfsbereit und Gladio seufzt ergeben. Ich bin froh, dass Noct hier im Moment die Ansagen macht, und auch Ignis wirkt halbwegs erleichtert. Zelten im Regen macht echt nur Gladio Spaß. „Dann würde ich sagen“, unterbricht Ignis den drohenden Streit, „ich fange einfach schon mal an, zu packen. Reserven für die Fahrt haben wir zum Glück gerade genug, notfalls können wir auch unterwegs neue kaufen. Gladio, du bleibst erstmal hier bei Noct-“ „-als ob ich so einfach hier weg könnte-„ „- und Prompto, du sagst unten an der Rezeption Bescheid, dass wir morgen früh auschecken. Beide Zimmer. Frag nach, bis wann wir raus müssen, ich würde Noct gerne so lange es geht ausschlafen lassen.“ Ich salutiere übertrieben und springe aus dem Zimmer. Das Leville ist ein großartiges Hotel und wir können es uns leisten, aber langsam fällt mir hier doch die Decke auf den Kopf. Dabei ist es jetzt, wo wir wieder alle zu viert Spaß haben können, eigentlich sogar ganz angenehm… aber der Gedanke, endlich weiterzufahren, vielleicht zurück nach Hause, macht mir mehr Freude. Vielleicht machen wir auch einen längeren Stopp in Hammerhead bei Cidney, um das Baby zu sehen… ihr wollte ich ja eigentlich helfen, aber Noct hatte Vorrang. Cidney nimmt es mir nicht übel, sie hatte viel Hilfe von Takka und einigen Gleven und hat die Schwangerschaft gut überstanden. Jetzt gilt es nur noch auf die Ergebnisse zu warten. Dabei sieht es auch ohne Test schon verdammt danach aus, als wäre ich der Vater. Der Gedanke macht mir, ehrlich gesagt, immer noch Angst. Gerade jetzt, nachdem ich schon wieder in einer solchen Basis gelandet bin, zusammengeworfen mit sechzig, siebzig anderen Klonen… das ist wider die Natur. Wie soll ein Kind mit diesen Genen je ein glückliches Leben führen? Etwas rempelt mich von hinten an und ich falle beinahe die letzten Treppenstufen hinunter. Zum Glück bekomme ich den Handlauf zu fassen und schaffe es, mich stolpernd auf die unterste Stufe zu retten, als zwei Kinder wild an mir vorbei toben. „Selfie! Irvine! Passt auf, wo ihr lang lauft!“, ruft eine Stimme den beiden hinterher, und schon hat mich die Frau auch eingeholt. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragt sie außer Atem, „Ist Ihnen etwas passiert?“ „Nein, alles gut“, beruhige ich sie schnell, „Hab schon schlimmere Angriffe überlebt.“ Selfie und Irwine toben inzwischen wild durch die Hotellobby, verfolgt von einem blonden Mädchen, dass die beiden zur Ordnung aufzurufen versucht. Kraft ihrer Autorität als Älteste, die aber gnadenlos ignoriert wird, bis endlich ein dicker Mann dazu kommt, der die Kinder zur Mäßigung mahnt. Er hat noch einen blonden Jungen an der Hand und zwei weitre Kinder hinter sich, bei ihm steht ein großer Haufen Koffer. Da checkt wohl noch jemand gerade aus… „Sie sind die Gruppe aus Tenebrae, oder?“, fällt mir auf, „Haben sie das Kind gefunden, das ihnen auf dem Markt weggelaufen ist?“ „Ja, dank euren Freunden“, berichtet die Frau. Edea, meine ich mich zu erinnern. „Wir sind noch ein paar Tage geblieben, damit Zell sich richtig erholen kann, aber jetzt geht es langsam nach Hause. Wir können ohnehin dankbar sein, dass unser Spender so großzügig war, auch den verlängerten Ausflug zu zahlen… Sonst hätten wir vielleicht ohne Zell abreisen müssen.“ Ich kann sehen, dass der Gedanke allein der Frau fast das Herz bricht. Wenn ich in ihrer Situation wäre… ich würde notfalls auf der Straße campen, um Nyx oder Crowe wiederzufinden, wenn eines der Kinder verloren ginge. Edea winkt zum oberen Ende der Treppe hin, von wo gerade noch zwei Kinder kommen. Ich erkenne den kleinen Zell – es ist eines der Kinder aus dem Bunker. Ich war nicht lange mit den anderen auf dem Trainingsplatz, aber er ist mir aufgefallen, weil er als einer der wenigen dort wirklich gekämpft hat. Gegen die Ketten, gegen die MI, gegen die Programmierung. Ein wenig hat er mich an mich selbst erinnert – verängstigt, geschlagen, fast zu schwach zu leben und doch unwillig, aufzugeben. Weil er eine Familie hat, Freunde, an die er sich halten kann. Wie den stillen, braunhaarigen Jungen, der ihn jetzt die Treppe hinunter zu seiner Mutter führt. Die hebt ihn sich auf den Arm, nimmt den anderen Jungen an die Hand und lächelt mich noch einmal dankbar an, bevor sie die ganze Gruppe nach draußen scheucht. Um das Gepäck kümmert sich ihr dicker Mann, aber auch der größere blonde Junge bemüht sich, seiner Mama zu helfen. Vielleicht ist es doch egal, das mit den Genen… Zell scheint es nicht zu stören, wo er herkommt. Vielleicht weiß er es auch gar nicht. In jedem Fall hat er Freunde wie meine. Freunde, denen egal ist, woher man kommt, weil sie wissen, wer man ist, und einen mögen. „Okay, morgen auschecken geht klar“, berichte ich, als ich ins Zimmer zurückkomme, „wir sollen bis zwölf alles geräumt haben, damit die putzen können. Vielleicht können wir sogar noch im Hotelrestaurant zu Mittag essen, bevor wir losfahren?“ So fleißig, wie Ignis in meiner kurzen Abwesenheit schon wieder war, wüsste ich allerdings nicht, was die Putzfrau noch groß zu tun hätte, außer neue Bettlaken aufzuziehen. Bis auf das, was wir bis morgen noch dringend brauchen – frische Kleidung, ein paar Badsachen – stehen unsere Koffer schon gepackt in Nocts Zimmer. Noct selbst schläft wieder, eingerollt unter der Decke wie eine große Katze, was Gladio erlaubt, aufzustehen und sich ausgiebig zu strecken. „Mittagessen im Hotel klingt ganz gut“, findet er, „Ignis kocht dann abends vor dem Campen nochmal.“ Einmal noch alle durchs Bad gescheucht, Schlafanzüge anziehen, frische Kleidung griffbereit legen und den Rest einpacken. Gladio bringt unsere Taschen schon mal ins Auto, damit wir morgen wirklich bis Mittag schlafen können und dann nur noch die Schlafanzüge in einer Tasche hinterherwerfen müssen. Ich verabschiede mich mental schon mal vom Luxus des Hotels mit seinem Badezimmer, dem warmen Wasser, den wohlriechenden Flüssigseifen und dem Bett zwischen seinen wetterabweisenden Wänden, als ich ein letztes Mal zu Noct unter die warme Decke kriechen darf. Ab morgen gibt es wieder Schlafsäcke… aber immerhin muss dann keiner ins andere Zimmer gehen. Da schlafen wir dann wirklich alle wieder in einem Raum, auch wenn der sehr klein und nur von dünnen Stoffwänden begrenzt ist. Nichts gegen Gladios Luxuszelt, aber ein wenig darf man dem Komfort eines Hotels schon hinterhertrauern, oder? Noct kuschelt sich vertraut an mich, ohne wirklich aufzuwachen. Er ist ganz schön verschmust, jetzt, wo er sich gerade genug bewegen kann um auf einen zuzukriechen und seine Zuneigung zu zeigen. Vielleicht auch etwas, was ich genießen sollte, bis es ihm wieder so gut geht dass ihm sein Stolz im Weg steht. So unnahbar und abweisend Noct oft tut, wenn alles okay ist, sobald es mal ein wenig schwierig wird zeigt er gerne, wie wichtig man ihm ist. Und das war immer schon so, auch wenn es die anderen oft nicht gesehen haben. Wenn man immer nur auf die dunkle Oberfläche eines Sees blickt, sieht man oft nicht, was für Schätze sich auf seinem Grund verbergen… ob das nun eine Truhe voll Gold ist oder ein großer Schwarm glitzernder Fische ist ja im Grunde egal. Ich merke, dass meine Gedanken langsam in Richtung Unsinn abfallen und schließe die Augen. Die ganze Aufbruchsstimmung und die Aufregung vor dem Losfahren machen es nicht leicht, einzuschlafen. Ich bin total zappelig und nervös, egal wie sehr ich versuche, mich Nocts langsamer Atmung anzupassen und mich von seiner Ruhe anstecken zu lassen, ich komme einfach nicht richtig runter. Zitternd nehme ich meinen schlafenden Freund in den Arm und versuche, wirklich nur auf meine Atmung zu achten, wie es der Therapeut empfohlen hat. Dabei habe ich gar keine Angst mehr vor Albtraumen… die Traumfänger sind alle längst in den Koffern im Auto, aber wenn ich Noct im Arm halten kann, fühle ich mich ohnehin sicher. Nein, ich bin nur unruhig, nur zu aufgeregt zum Schlafen. Um mich zu beruhigen streichle ich Nocts Haare, singe leise ein Schlaflied für mich selbst. Es wird schon alles gut werden… morgen sind wir wieder auf der Straße. Nur wir vier und das blöde Zelt, ganz wie früher. Noct geht es wieder halbwegs gut, er erholt sich, wird in Insomnia sicher schnell wieder auf die Beine kommen, wenn Ignis seine Äther-im-Badewasser Idee mit den dortigen Ärzten und Pharmazeuten diskutieren kann. Und das Baby… klar, ich habe immer noch Angst, dass es meins sein könnte, aber jetzt, wo ich den kleinen Zell und seine Freunde gesehen habe… so schlimm wird es schon nicht werden. Nyx und Crowe sind sicher lieb zu dem kleinen Cid, egal wer sein Vater ist. Oder sein Großvater… aber Besithia war ein böser Mensch, weil er sich so entschieden hat, das liegt nicht in den Genen. Das betrifft weder mich noch mein Baby. Außerdem, wenn er schon Cid heißt, kommt er sicher eh mehr nach seinem guten Uropa. Ein wenig stur soll er ja jetzt schon sein, hat Cidney gesagt. Woran man das bei einem so kleinen Baby wohl merkt? Bestimmt schreit er viel… mein Vater, also der Mann, der mich aufgezogen hat, nicht der Idiot, der mich geschaffen hat, hat immer gesagt, ich sei ein stilles Kind gewesen. Nur wenn ich mal geschrien habe, dann gleich richtig. Ich hab ihm und Mama schon manchmal gehörig den Schlaf vermiest… aber das ist okay, weil sie mich trotzdem geliebt haben. Mama, Papa… ich vermisse die beiden. So selten ich sie gesehen habe, ich hab sie trotzdem geliebt. Sie hätten mir bestimmt helfen können, Vertrauen zu fassen, dass ich ein Kind haben kann. Dass es nichts Schlimmes ist. Aber das könnten Noct, Ignis und Gladio sicher auch, wenn ich mich ihnen anvertrauen würde. Noch hab ich ihnen nichts gesagt… nicht mal, dass das Baby schon da ist. Ich weiß einfach nicht wie ich es ansprechen soll, vielleicht habe ich auch Angst, wie sie darauf reagieren. Mit Glückwünschen könnte ich sicher nicht umgehen im Moment. Ich vergrabe mein Gesicht in Nocts Haaren und atme den Seifenduft ein, der darin hängt. Irgendetwas furchtbar feminines, Rosen und Nelken oder so… wir haben einige Badezusätze ausprobiert mit dem Äther zusammen, und generell scheinen es nicht die männlichsten Düfte zu sein, die Noct gerade besonders gut tun. Minze und Limette war wohl noch von allen am besten, glaube ich. Das war das erste, was wir hatten. Aber in jedem Fall tut es Noct auch so schon gut, jeden Tag baden und sich entspannen zu können. Das wird unterwegs sicher auch ausfallen, aber er ist ja jetzt stark genug. Langsam ist es mitten in der Nacht, und ich kann immer noch nicht schlafen. Das Licht der Straßenlaternen flackert vor dem Fenster und auch die Nachtleuchten innerhalb des Raumes wirken weniger hell als sonst. Es ist fast ironisch; bisher ist es mir schwer gefallen, im Hellen zu schlafen, aber jetzt, wo das Licht plötzlich so unstet scheint, bin ich erst recht unruhig. Der Unterschied sind die Siecher. Im Dunkeln können sie agieren… dann sind wir in Gefahr. Aber gerade, als ich aufstehen will, um die Steckdosen zu testen, beruhigt sich das Licht wieder. Ich seufze erleichtert und lasse mich in die Kissen zurücksinken, da gibt es urplötzlich einen lauten Knall und die Tür zu unserem Zimmer landet polternd auf dem Teppich. Ich schrecke auf und starre in die leuchtenden Augen eines unförmigen Roboters. Magitech? Keine Zeit, darüber nachzudenken, da wirft das Ding auch schon einen Kettenarm aus wie eine eiserne Peitsche. Ich schaffe es im letzten Moment so über Noct zu rollen dass ich zwischen ihn und die Tür komme, da habe ich das Ding auch schon im Rücken. Es brennt höllisch, fast fühlt es sich so an, als hätte es mich glatt in zwei Teile gerissen. Aber ich kann meine Beine noch fühlen und mein Körper gehorcht mir, als ich mich aufrapple um Noct besser schützen zu können. „Prompto…“ Ich blicke in Nocts weit aufgerissene Augen und sehe darin blankes Entsetzen. „Mir geht’s gut“, keuche ich, „hast du was abbekommen?“ Noct schüttelt langsam den Kopf, seine Augen sind immer noch starr auf mich gerichtet. Er macht sich Sorgen… Sorgen um mich. Weil ihm meine Sicherheit nicht so egal ist, wie sie es sein sollte. Das Magitech-Monster holt zu einem erneuten Schlag aus und ich kneife die Augen zusammen. Der Schlag trifft mich empfindlich, ich kann mir einen lauten Aufschrei nicht verkneifen, als das Metall sich in meine Haut frisst. Da sind Stacheln dran… mir wird schwarz vor Augen. Ich sinke zusammen, spüre Nocts Hände auf meiner Brust als er versucht, mich zu stützen. „Prompto!“ Die panische Stimme ruft mich zurück, ich schüttle den Kopf und reiße mich nochmal zusammen. Ich muss irgendwie an meine Waffe kommen… nein quatsch, ich kann Magie nutzen, ich hab die Waffe praktisch in der Hand. Trotzdem brauche ich irgendeine Ablenkung, um zielen und schießen zu können. In der Zeit hat das Monster längst nochmal ausgeholt. Ich habe es kaum geschafft, mich auf die Unterarme hochzustemmen, da kassiere ich den nächsten Treffer und lande wieder mit dem Gesicht im Kissen. Langsam kann ich kaum noch geradeaus schauen, mir ist beinahe schlecht vor Schmerz. Nocts Worte kommen von weit her als er mich wieder zur Besinnung ruft. Ich reiße mich zusammen und baue mich noch einmal schützend über ihm auf, als ich erneut das Surren der Kettenpeitsche höre. Ich schließe die Augen und beiße die Zähne zusammen, aber der Schlag trifft nicht. Noct hat seine Hände in die Front meines Schlafanzugs gegraben und mich mit in einen Ausweich-Warp gerissen. Mir bleibt fast das Herz stehen vor Schreck. Und natürlich raubt ihm die Anstrengung sofort die wenige Kraft, die er über die letzten Monate gewonnen hat. „Nein“, wimmere ich, als er bewusstlos unter mir zusammensinkt, „Bitte…“ Wieder holt das Monster aus. Ich habe nicht die Zeit oder die Kraft, meine Waffe zu heben. Alles, was ich noch tun kann, ist, Noct unter mir zu begraben und mich gerade so weit aufzurichten, dass ich den Angriff von ihm fern halten kann. Aber der Treffer kommt nicht, stattdessen gibt es auf dem Gang einen heftigen Knall. Gladio hat das Monster zu Boden geworfen, ringt mit dem Haufen aus Stahl und Blech wie ein wild gewordener Bär. Ich sammle meine restlichen Kräfte, stemme mich wieder hoch und tätschle Noct die Wange. „Hey… hey! Komm zu dir!“ Noct reagiert kaum, aber seine Augenlider zittern, als wollte er sie öffnen. „Verdammt…“ Dreimal atme ich tief durch und sammle meine verbleibenden Kräfte. Mein Rücken zittert unter der Anstrengung, die Haut brennt, wo die Stacheln meine Haut aufgerissen haben und mein Schlafanzug fühlt sich feucht an. Aber ich kann mich bewegen. Wir müssen hier weg. „Kommt, wir müssen hier raus!“ Ignis steht plötzlich neben dem Bett. Ich habe nicht gesehen, wie er reingekommen ist, aber ich bin froh, dass er da ist. Während ich noch damit beschäftigt bin, mich auf die Beine zu stellen, packt er in einer schnellen Bewegung unsere Kleidung ein, wirft sich die Tasche über die Schulter und hebt Noct auf seine Arme. „Prompto, das Fenster!“ Ich strauchle, taumle und schaffe es irgendwie zum Fenster. Einen Moment kämpfe ich mit dem Klebeband an den Hebeln, dann fällt mir ein, dass ich einen dünnen Säbel habe und ich bekomme das Fenster damit auf. „Zum Auto, schnell!“ ruft Ignis mir zu und wirft einen nervösen Blick über die Schulter, vermutlich zu Gladio, der noch immer lautstark mit dem Monster ringt. „Wir sind im dritten Stock!“ „Warpen, Prompto!“ „Achso, stimmt ja…“ Ich werfe den Säbel in Richtung Boden und warpe mich hinterher. Es ist definitiv ungefährlicher als zu springen, fühlt sich aber genauso miserabel an. Mein Magen übersteht die Tortur nicht. Ich falle auf die Knie und übergebe mich. Spätestens jetzt ist mein Schlafanzug ruiniert, hinten vollgesogen mit Blut, vorne… naja. Aber zum Umziehen bleibt keine Zeit, wir müssen zum Auto. Zitternd komme ich auf die Füße. Das Bild vor meinen Augen ist verschwommen, aber ich kann mich orientieren. Ignis‘ Dolch schlägt neben mir in den Boden und kurze Zeit später landet Ignis genau dort. Er hat den bewusstlosen Noct in den Armen und mir fällt erst dadurch wieder auf, wie groß und kräftig Ignis eigentlich ist. Neben Gladio wirkt er manchmal geradezu zierlich, aber das täuscht. Zusammen eilen wir hinunter zu den Parkplätzen. Der Weg ist weit und wir kommen nur langsam voran, ich, weil ich kaum geradeaus laufen kann, Ignis, weil er Noct tragen muss. Aber wir erreichen das Auto. „Du fährst“, bestimmt Ignis und wirft mir den Schlüssel zu. Er legt Noct vorsichtig auf der Rückbank ab und klettert hinterher, um ihn auf dem mittleren Platz anzuschnallen. Er selbst setzt sich daneben, ebenfalls angeschnallt, und hält Noct fest. „Los jetzt!“ „Was ist mit Gladio?“ wende ich ein, lasse mich aber zitternd auf den Fahrersitz sinken und fummle mit dem Schlüssel in der Zündung herum. Meine Hände zittern so sehr, dass ich ihn kaum hineinstecken kann, aber letztlich gelingt es mir sogar, ihn herumzudrehen. Ich fühle mich schwach und zittrig. „Fahr los, er holt uns schon ein.“ Ich lege den Gang ein und trete aufs Gas, der Regalia macht sofort einen Ruck rückwärts. Gerade noch rechtzeitig erwische ich die Bremse, bevor ich mit der Mauer kollidiere. Ich winsle gequält, greife nach der Gangschaltung und ruckle daran, bis ich den richtigen Gang finde, dann trete ich nochmal aufs Gas und schieße vorwärts aus der Parklücke. Noch bevor ich ganz auf der Hauptstraße bin holt Gladio uns ein. „Weiterfahren“, brüllt er, packt die hintere Tür und schwingt sich in den Wagen. Das Monster galoppiert laut scheppernd hinter ihm her, erwischt ihn aber nur noch mit dem äußersten Ende seiner Kettenpeitsche, als ich mit durchdrehenden Reifen und brüllendem Motor aus der Stadt rase. Leider verschafft mir das nur einen kleinen Vorsprung, denn auch unser Gegner hat Räder. Aus dicken Rohren bläst er Rauch und Feuer, seine Laseraugen fixieren das Heck unseres Autos. Schießen scheint er nicht zu können, aber die Kettenpeitsche hat eine enorme Reichweite. Gladio kämpft sich mit einiger Schwierigkeit in seinen Sitz, legt den Gurt an und hilft Ignis, Noct aufrecht festzuhalten. Ich schließe das Dach, schalte hoch und trete weiter das Gaspedal durch. Die Stadt liegt schnell hinter uns. Natürlich bin ich zum falschen Ende raus gefahren in der Eile, weiter nach Westen. Richtung Coernix oder Ravathoga… weiter weg von zu Hause. Aber dafür habe ich jetzt keinen Kopf, ich kann mich kaum genug konzentrieren, gerade der Straße zu folgen. Das Bild vor meinen Augen schwimmt, ist abwechselnd unscharf und verzerrt. Auch der Ton kommt wie aus einem kaputten Radio in mein Gehirn. Trotzdem kann ich weitere Motoren hören. Der grelle Lichtschein unserer Scheinwerfer fällt immer öfter auf einzelne Magitech Soldaten oder größere Mechs. Letzteren muss ich ausweichen. Das Lenkrad zittert in meinen Händen, als ich mit jedem Schlenker aufs Neue darum kämpfe, die Kontrolle über den schweren Wagen zu halten. Mehr als einmal ist die Leitplanke alles, was mich noch auf der Straße hält. Aber der Regalia hält stand. Der Motor brüllt wütend, das Metall kreischt, wo immer ich anecke. Leitplanke, Steine, Magitechmechs, auch der ein oder andere Siecher poltern gegen das Auto, rasen viel zu knapp vorbei oder fliegen sogar direkt über das Dach. Ich kann das Lenkrad kaum noch halten. „Weiter, Prompto, das werden immer mehr!“ Gladios Warnung kommt nicht unerwartet, ich habe im Rückspiegel schon gesehen, dass das kettenpeitschende Monster aus Lestallum jetzt von zwei ähnlichen Modellen flankiert wird. Die anderen Magitech und Mechs scheinen von der gleichen Partei kontrolliert zu werden, immer mehr habe ich den Eindruck, dass sie zusammenarbeiten, uns hetzen wie ein Rudel Wölfe den fleischigen Hirsch. Immer weiter, immer weiter, bis der Hirsch einen Fehler macht oder kraftlos zusammensinkt. Und das wird bald sein. Ich kann kaum geradeaus schauen, meine Ohren klingeln, mir ist eisig kalt und mein Rücken brennt wie Feuer. Mir ist schwindlig. Plötzlich ertönt ein leises Pling; es dauert einen Moment, bis meine Augen das Armaturenbrett scharf stellen können und bevor ich das Lämpchen erkennen kann, krache ich irgendwo dagegen und muss mich wieder auf die Straße konzentrieren. Der Wagen schlingert gefährlich und eine Herde Anak nimmt eilig Reißaus, als ich quer über die Wiese schlittere bis ich wieder auf die geteerte Straße zurückfinde. Das Licht auf dem Armaturenbrett blinkt jetzt. „Sag mir nicht das ist der Tank…“, höre ich Ignis von hinten und er hat Recht. Es ist der verdammte Tank, und er ist verdammt leer. In mir brodelt die Verzweiflung hoch. Es ist mitten in der Nacht, und selbst wenn die Sonne aufgeht, hätten wir immer noch die Magitech am Hals. Langsam verändert sich das Geräusch des Motors. Es gluckert und stockt, bald können wir nur noch rollen. Wir sind am Arsch. Ich atme tief durch. Ich muss etwas tun. „Ignis, hast du mein Handy?“, frage ich ohne mich umzudrehen. „Lag bei deiner Kleidung, hab ich eingesteckt, ja.“ „Kannst du es mit dem Auto verbinden?“ Ignis kann, ich höre das angenehme Ping, als der Regalia mein Handy erkennt und akzeptiert. „Telefon“, sage ich, so klar und deutlich ich kann. Ein weiterer Mech stellt sich mir in den Weg, ich weiche aus, wie in Trance. Wie in einem Videospiel… einfach nicht an echte Konsequenzen denken, nur fahren. Ich bin inzwischen fast blind, mir ist schwindlig und meine Ohren dröhnen. Durchhalten… „Telefon aktiviert“, flötet eine mechanische Stimme. „Ruf Nemo an.“ Die Worte kosten mich Überwindung, aber in der Not… in der Not muss man nehmen, was man bekommen kann. „Rufe Nemo an“, wiederholt die Stimme. Es tutet, dann kann ich Nemos knurrige Stimme hören. Es klingt etwas verzerrt über den Lautsprecher, ich kann kaum verstehen, was er sagt. Ist mir auch egal. „Nemo, ich brauch Hilfe“, wimmere ich und hoffe, dass er mich besser verstehen kann als ich ihn, „Wir sind auf der Straße… ich glaub irgendwo Richtung Vulkan, keine Ahnung. Mit dem Regalia. Ich… wir werden verfolgt, und… und der Tank…“ der Motor gibt ein letztes verzweifeltes Stottern von sich, ab jetzt ist es nur noch die Trägkeit der Physik, die den Wagen vorwärts rollen lässt. Lasst die Straße bitte abschüssig sein… bitte, lasst uns noch eine Weile bergab fahren. Oh ihr Götter… „Ich will noch nicht streben.“ Ich kann Nemos Stimme über den Lautsprecher hören, lauter jetzt, energisch. Seine Worte verstehe ich nicht, es klingt wie eine fremde Sprache. Hat Niflheim eine eigene Sprache? Einen Dialekt sicher, so viel weiß ich, aber bisher habe ich jeden von dort verstanden. Die Straße verschwimmt vor meinen Augen. Noch immer trete ich wie besessen aufs Gaspedal, aber der Motor ist still. Umso lauter höre ich jetzt das Surren der Magitechkerne, die donnernden Maschinen aus Niflheim, das Wummern eines Luftschiffs, das direkt über uns seine Laderampe öffnet. Metall kracht auf den Boden, kreischt, als es über den Teer scharrt. Vor mir ist Licht… jede Menge Licht und das Aufblitzen schwerer Maschinerie. Kanonen feuern, rechts und links neben uns zerreißen Explosionen die angreifenden Roboter. Der Regalia rollt weiter, so schnell noch dass er es die Laderampe hinauf schafft, wo ihn mehrere Männer mit großen Haken in Empfang nehmen und das Auto im Bauch des Luftschiffes festgurten. Die Luke schließt sich, wir heben ab. Mir wird jetzt erst klar, in welche Lage ich uns gebracht habe. „Nemo…“, wimmere ich. Kapitän Nemo steht in voller Uniform neben den Wagen, sein gutes Auge ist starr auf mich gerichtet, als seine Soldaten uns mit den Waffen im Anschlag in Empfang nehmen. Ich werfe einen ängstlichen Blick in den Rückspiegel. Gladio hat Nocts leblosen Körper eng an sich gezogen, Ignis blickt angespannt aus dem Fenster. Mir ist schlecht, ich muss mich am Lenkrad festhalten, um nicht bewusstlos umzukippen. „Es tut mir Leid“, flüstere ich, „Bitte…“ Die Fahrertür wird aufgerissen. Ferrum, wie Spero und ich einer der ältesten Klone, packt mich unter den Armen und hebt mich aus dem Sitz. Er ist einer der Fechter, vielleicht von Natur aus stärker, vielleicht auch einfach besser trainiert als ich, aber in jedem Fall eine imposante Erscheinung. Seine Haare sind militärisch kurzgeschoren, sein Blick ist streng und wie Nemo sieht er eigentlich immer wütend aus. Ich will mich wehren gegen seinen Griff, aber ich bin zu schwach. „Nein, bitte… bitte tut meinen Freunden nichts…“, flehe ich, aber meine Stimme ist schwach. Ein weiterer Soldat kommt dazu und hilft Ferrum, mich vom Wagen wegzuzerren. Ich strample, versuche, mich zu meinen Freunden umzudrehen, kann über meine Schulter gerade so sehen wie Ignis mit erhobenen Händen aussteigt. Seine Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht verstehen, was er sagt. „Bitte… bitte tut ihnen nichts…“ Mein Rücken brennt und ich muss mich wieder nach vorne drehen, um dem Schmerz auszuweichen. Erneut rebelliert mein Magen, aber diesmal kommt nicht so viel heraus. Ich kann den Soldat zu meiner Rechten angewidert stöhnen hören, sein Griff lockert sich einen Moment, als das Erbrochene über seine Finger läuft. Eine Chance zu fliehen, aber ich nutze sie nur, um kraftlos zu Boden zu sinken. „Pass doch auf, Mann“, rügt Ferrum und hilft seinem Bruder, mich wieder auf die Beine zu ziehen. Weg vom Regalia. Weg von meinen Freunden. Bitte tut ihnen nichts… ich wollte doch uns alle retten, nicht nur mich selbst. Ich wollte nur einmal etwas richtig machen. Aber ich bin nutzlos. Ein schwacher Bodyguard, ein mieser Autofahrer, und ganz bestimmt kein guter Stratege. Wieso musste ich auch ausgerechnet Nemo rufen? Wieso ausgerechnet einen erklärten Feind? Haben wir denn keine Freunde, die uns hätten helfen können? Hätte ich die Situation nicht irgendwie selbst bewältigen können? Warum… warum nur musste ich uns ausgerechnet ihm in die Hände spielen? Gerade jetzt, wo es Noct wieder schlecht geht. Wo er so hilflos ist… Auch das ist meine Schuld. Weil er mich beschützen wollte hat er wieder Magie eingesetzt. Zu früh, zu viel. Weil ich ihn nicht beschützen konnte. Ich bin so ein Versager. Kapitel 32: Göttin des Wassers (Nyx Scientia) --------------------------------------------- „Sind wir bald da-ha?“ Crowes Stimme hallt mannigfach von den Wänden der alten Kanalisation wieder. Für den Moment abgelenkt hält sie inne, lauscht dem Echo, als es in den Gängen verhallt. Die Suche nach den alten Königsgräbern ist durch die Siecher nicht leichter geworden, einige der Waffen wurden sogar von den Monstern verschleppt. Statt also einfach in das relativ zugängliche Grab zu gehen und die Waffe der Hand des verstorbenen Königs zu entnehmen, wie wir es bei den meisten anderen machen konnten, waten wir nun hier durch das Abwasser, dass sich in den verworrenen Gängen des Crestholm-Aquädukts gesammelt hat. Die Anlage ist gut restauriert worden, aber hier unten zumindest ist es immer noch so dunkel, dass aus jeder Ecke Siecher gekrochen kommen. Ich habe inzwischen einen unglaublichen Respekt vor Iris und Talcott. Die beiden arbeiten geschickt zusammen, und wenn doch einmal ein einzelnes Monster an ihnen vorbei kommt, steht immer noch Luna vor uns, die mit ihrem Dreizack und der Magie des Königs alles abwehren kann. Inzwischen haben wir zwölf der dreizehn alten Königswaffen gefunden. Ich kann ihre Geister in mir fühlen, die Stimmen der alten Könige, die ich schon in der Welt des Ringes flüstern gehört habe. Die dreizehnte Waffe ist hier, ich kann sie bereits spüren. Tief im Inneren, da, wo das grässliche Donnern und Stampfen herkommt. Die Monster sind stärker, je mehr wir uns Insomnia nähern. Die Erwachsenen wollen nicht, dass wir zu viel mitbekommen, aber ich habe sie abends noch oft am Feuer reden hören, wenn wir schon im Zelt waren. Was immer den Wall gebrochen und die Siecher zurückgebracht hat, kommt aus der Stadt. Der Feind sitzt direkt in Insomnia, und er will nicht, dass der König die Macht hat. Der Kristall, der die Dunkelheit fernhält, ist machtlos ohne seinen Beschützer… und Noct ist krank. Schlimmer noch – gerade, als uns gesagt wurde, es ginge ihm besser und wir würden uns in Hammerhead mit ihm treffen, um die letzte Waffe zusammen zu holen, gab es einen Angriff auf das Hotel, in dem er war. Es kam sogar groß im Fernsehen und im Radio… ein Angriff von großen Robotern, neuen Magitech-Mechs, die gezielt ins Leville eingebrochen sind, um den König anzugreifen und zu töten. Er und seine Leibwache konnten fliehen, sind aber verschollen. Luna meinte, es geht ihm bestimmt gut, aber ich weiß, dass sie sich auch Sorgen macht. Ich hab gesehen, wie sie weint. Pyrnas Fell war ganz nass danach, und Umbra ist verschwunden. „Wollen wir hier eine kurze Pause machen?“, fragt Iris betont munter, als wären wir es, die müde sind. Es ist spät, mitten in der Nacht schon, aber hier kann man nirgendwo wirklich schlafen. Der Boden ist nass, es ist kein Platz, das Zelt aufzuschlagen und es gibt kein Licht und keine Runen, die uns vor den Monstern schützen. Aber Iris sieht erschöpft aus. Das frische Adlertatto auf ihren Armen und Schultern ist kaum noch zu sehen unter den Schlieren von Blut und Schlamm, ihre Kleidung ist an mehreren Stellen zerrissen und sie atmet schwer. Talcott sieht kaum besser aus, er kann kaum die Augen offen halten und drückt seinen linken Arm seltsam gequält an sich. Seine braunen Haare kleben in seinem Gesicht und um seinen Oberschenkel hat er ein Tuch gebunden. „Ja, eine Pause klingt gut“, stimme ich Iris zu, „Ich koche euch etwas!“ Luna hilft mir, die mobile Kochstation aufzubauen und ich mache Reisbällchen und gebratenen Fisch für alle. Ich kann nicht gut kochen, aber ich habe Papa oft geholfen, als er noch blind war, und weiß deswegen, wie alles geht. Der Fisch ist ganz frisch, ich habe ihn heute Morgen gefangen, bevor wir in die unterirdischen Anlagen des Aquädukts gegangen sind. Ein schöner, großer lucischer Leuchtwels. Ich bin sehr stolz, als die anderen mein Essen loben, gerade Iris lässt es sich richtig schmecken. Sie sieht auch gleich viel besser aus, aber das liegt hauptsächlich daran, dass Luna ihre Wunden geheilt hat. Eigentlich hatte ich Papa versprochen, niemandem von meiner Magie und den leuchtenden Stellen zu erzählen, aber ich glaube nicht, dass das noch gilt, seit der Wall weg ist. Deswegen habe ich Iris und den anderen davon erzählt, als ihnen Noctis‘ Magie ausgegangen ist. Luna hat mir gezeigt, wie ich Magie in Flakons füllen kann, und seitdem sammle ich fleißig und lerne, wie ich möglichst starke Zauber daraus machen kann. Das ist hilfreich, weil zum Beispiel ein einzelner Vita-Zauber schon wesentlich hilfreicher ist als der Heiltrank, den ich dafür als Katalysator nutzen muss. Besonders, wenn Luna einen solchen Zauber einsetzt. Schlafen können wir hier nicht, aber nach dem Essen und Lunas Zaubern sind Iris und Talcott wieder so fit, dass wir weitergehen können. Crowe wirkt immer noch ein wenig müde, aber sie beschwert sich nicht. Auch sie hat inzwischen begriffen, dass die Zeit, in der wir einfach Kinder sein konnten, vorbei ist. Sie versucht immer noch, alles locker und lustig zu nehmen und die Stimmung aufzuheitern, aber sie hält sich dicht an meiner Seite und wirkt stolz und aufmerksam wie ein echtes Mitglied der Königsgarde. Ihre Hand ruht auf dem Griff des Dolches, den sie wie ein Schwert um die Hüfte trägt. Ich habe sie in letzter Zeit oft damit üben sehen, Crowe trainiert fleißig, wie sie es von ihrem Vater gelernt hat. Ich weiß, dass auch sie mich beschützen wird, wenn es darauf ankommt. Ich taste nach dem Revolver an meiner Hüfte. Ein paar Mal habe ich ihn schon einsetzen müssen, um mir ein besonders schnelles Monster vom Leib zu halten, und auch ich habe fleißig trainiert, um besser zu treffen. Die Schüsse sind laut, aber hilfreich, ganz besonders die Sternenhüllen, die mir Prompto mitgegeben hat. Licht gegen die Siecher. Und Siecher gibt es hier unten in rauen Mengen. Wir biegen um eine weitere Ecke in einen großen Raum und da endlich ist das Monster, das das Schwert geklaut hat. Es ist riesig, wie ein Drache mit zu vielen Flügeln. Sein Brüllen erschüttert die Wände und bringt das Wasser, das knöcheltief den Boden bedeckt, zum Erzittern. Winzige Tropfen spritzen in alle Richtungen, als Iris voranstürmt um den ersten Angriff zu landen, aber der Drache ist schneller. In einer Bewegung, die ich dem riesigen Biest nie zugetraut hätte, wirbelt er herum und trifft Iris mit seinem Schwanz. Der Schlag sitzt, Iris wird hilflos in die hintere Wand geworfen und kann sich nur mit Mühe wieder aufrappeln. Sofort stürmt Talcott nach vorne, schwingt sein Schwert auf den für den Augenblick ungeschützten Körper des Drachen und kassiert einen Hieb mit der Pranke, bevor seine Klinge den schuppigen Leib des Monsters auch nur berühren kann. Ein wildes Brüllen und der Drache setzt mit einem Feuerball nach, den Talcott nur mit Mühe blocken kann. Seine Seite blutet, wo der Drache ihn gekratzt hat, aber zumindest der Feuerball prallt schadlos an seinem Schwert ab. Talcott geht sofort wieder zum Angriff über und schafft es tatsächlich, ein, zwei, drei Angriffe gegen den Schwanz des Drachen zu landen, da hebt das Biest plötzlich brüllend ab. Die Rute peitscht wild nach links und rechts und Talcott muss schnell beiseite springen, um nicht getroffen zu werden. Luna nutzt den kurzen Moment, um einen Heilzauber auf ihn und Iris zu wirken, da stößt der Drache auch schon wieder herab. Talcott hebt sein Schwert, um den Angriff zu blocken und Iris nutzt die Ablenkung, dem Drachen ins Genick zu springen. Mit beiden Schenkeln klemmt sie sich an seinen Hals, als wollte sie einen wilden Chocobo einreiten und schlägt mit den Fäusten auf den ungeschützten Nacken des Drachen ein. Blitze schlagen aus ihren Kampfhandschuhen und der Drache brüllt laut auf. Leider klingt es mehr nach Wut als nach Schmerz. Mit einem Donnern und einer riesigen Welle stampfen die Füße des Drachen auf dem Boden auf. Der Schwanz folgt und peitscht einmal durch den ganzen Raum, ich muss die Hände vors Gesicht heben, um mich vor der riesigen Welle dreckigen Wassers zu schützen. Luna prescht voran, um Talcott zu retten, der zwischen den Beinen des Drachen zu Boden gegangen ist. Das Biest stampft wild umher und mir wird Angst und Bange dabei, wie Talcott und Luna umherhechten, um den riesigen Füßen auszuweichen und gleichzeitig vielleicht einen Angriff zu landen. Iris hängt immer noch am Hals des Monsters, das wie wild versucht, sie loszuwerfen. Energisch schüttelt es seinen hässlichen Kopf, fliegt auf, stampft auf dem Boden nach den anderen Gegnern und schlägt wieder und wieder seine krummen Hörner gegen die Wand, um Iris abzustreifen. Es wirkt, als wären die drei nur lästige Mäuse, die auf ihm herumkrabbeln, als würden sie den Drachen nur nerven, anstatt ihm wirklich zu schaden. Ich halte die Luft an, als er wieder Feuer speit, diesmal schießt die Flamme direkt in unsere Richtung. „Nyx, pass auf!“, Crowe packt meine Hand und zieht mich zu Boden. Der Feuerball trifft direkt über uns die Wand, ich kann die Hitze direkt spüren, als sie über meinen Rücken hinwegfegt. „Bist du verletzt?“ „Nein, alles gut. Danke, Crowe.“ Zum Glück scheint das Monster uns beide kaum wahrzunehmen, wir müssen uns nur vor Querschlägern in Acht nehmen. Für die Erwachsenen allerdings sieht es schlimmer aus. Talcott kassiert einen heftigen Treffer mit der Rute, als der Drache erneut auffliegt. Das Biest dreht sich mit schwindelerregendem Tempo um sich selbst, fliegt mehrere Loopings und stößt mit seinem schnabelartigen Maul voran in die Tiefe. Talcott hat sich aufgerappelt und hält sein Schwert hoch, um den Angriff zu blocken. Einen Moment scheint die Zeit still zustehen, als die Klinge auf das hornige Maul trifft, dann wirft Talcott den Drachen im selben Moment zurück, in dem Iris mit einem gewaltigen Tritt von dessen Hals abspringt. Der Drache weicht getroffen zurück und Talcott setzt mit einem kräftigen Schwerthieb nach. Schuppen splittern, der Drache kreischt, dass es mir in den Ohren wehtut, und landet mit einem gewaltigen Krachen in der Ecke des Raumes. Wütend kreischend bäumt er sich auf und schießt einen mächtigen Schwall Feuer auf die beiden, den Luna gerade so mit einem Schildzauber abwehren kann. Der Drache setzt nach, einmal, zweimal, dreimal, keift wütend und springt mit ausgefahrenen Krallen auf die Menschen zu. Luna warpt sich sofort zu uns, um wieder Kraft zu tanken, Iris und Talcott springen nach beiden Seiten weg und greifen den Drachen mutig an, als dieser zwischen ihnen landet. Einen Moment wirkt das Biest verwirrt, weiß nicht, in welche Richtung es sich drehen soll, dann wirbelt es herum und schnappt mit seinem scharfen Schnabel nach Iris. Ich kann zwei Reihen scharfer Zähne in seinem aufgerissenen Maul sehen, als die gespaltene Zunge hervorschießt und Iris am Knöchel erwischt, bevor sie ausweichen kann. Der Drache wirft sie in die Luft, reißt sein Maul erneut auf und versucht sie zu fressen, da stößt Talcott ihm von hinten sein Schwert ins Bein. Das Monster zuckt und Iris schafft es, sein Maul zuzutreten. Sie setzt nach und platziert einen zweiten Tritt genau auf die Nase des Drachen. Das Tier taumelt, brüllt wütend, und Talcott setzt mit einer kräftigen Serie Schwerthieben auf seine Beine nach, bevor es wieder abhebt. Wütend fauchend kreist der Drache über uns, schaubt, keift und schnattert knapp außer Reichweite der Angreifer. Iris landet sicher auf dem Boden und Luna wirkt einen weiteren Heilzauber auf die beiden, da kriechen plötzlich Siecher aus den Ecken des Raumes. Pudding… genau, was wir jetzt nicht gebraucht haben. Der Drache stürzt wieder zu Boden, sein Maul weit aufgerissen als wäre er entschlossen, diesmal wirklich jemanden zu fressen. Wieder weichen Iris und Talcott nach beiden Seiten aus, aber diesmal fällt der Drache nicht darauf rein, geht gezielt nur auf Iris los. Die rollt sich eilig zur Seite, kann aber nicht schnell genug ausweichen. Das zahnbewehrte Maul schnapp zu und packt sie. Donnernd landen die Füße des Drachen auf dem Boden, versetzen Wasser und Pudding in erratische Schwingung. Gerade, als Talcott nach ihm ausholt schwingt sich der Drache wieder in die Luft. Iris schreit, als sie so nach oben gerissen wird. Ich kann sehen, wie sie sich mit Händen und Füßen gegen das Maul des Drachen stemmt, aber sie kann sich nicht befreien. Kurz vor der Decke hält der Drache an, schüttelt seinen Kopf wild hin und her und spukt Iris schließlich aus. Dunkles Blut tropft aus ihrer Wunde als sie von ganz oben herunterfällt. Mit letzter Kraft wirft sie ihren Mogry in meine Richtung und warpt sich hinterher, aber die Landung ist trotzdem unsanft. Sie rollt, beide Arme um das große Plüschtier geschlungen, ungeschickt ab und kommt knapp vor mir zum Liegen. Mühsam stemmt sie sich wieder hoch, ihre Arme zittern. „Iris, bist du okay?“ Luna ist sofort bei ihr, um einen Heilzauber zu wirken, aber da beugen sich auch schon fünf Dunkelpuddings über uns. Ihre schwabbeligen Mäuler weiten sich zu einem fast einheitlich schiefen Grinsen als sie ihre schleimtriefenden Arme nach uns ausstrecken. Gluckerndes Lachen erfüllt den Raum. Ohne lange nachzudenken lege ich eine Sternenhülle in meinen Revolver, richte ihn auf den Drachen, der wieder an der Decke des Raumes kreist, und drücke ab. Gleißendes Licht erfüllt den Raum. Der Drache schreit, die Puddings weichen kreischend zurück. Dafür liegt alle Aufmerksamkeit jetzt auf mir. Trotz der Entfernung glaube ich fast im Detail sehen zu können, wie sich die Pupillen des Drachen zu schmalen Schlitzen verengen, als er mich ins Visier nimmt. Seine gespaltene Zunge zischelt, dann klappt das spitze Maul zu und der Drache taucht mit einer fließenden Bewegung auf mich zu wie ein Pfeil. Ich habe Angst. Kurz bevor der Drache mich erreicht geht Luna mit ihrem Dreizack dazwischen. Ich kann genau sehen, wie die Zacken sich zwischen die Zähne des Drachen schieben, als das Maul zuschnappt. Der Drache kreischt wütend und beißt zu, aber der Dreizack hält sein Maul offen. Ich kann direkt in den Hals sehen. Eine Waffe steckt tief in seinem Gaumen, ich kann den Griff glitzern sehen. Fast unbewusst strecke ich die Hand danach aus und das Schwert antwortet. Beinahe scheint es, als wollte es auf mich zu fliegen, da brüllt der Drache laut auf, lässt Lunas Dreizack los und schlägt wild mit den Flügeln. Talcott und Iris haben derweil die Puddings zu Mus geschlagen und stehen uns zur Seite, als der Drache wild tobend für einen weiteren Feuerschwall Luft holt. Ich kann sehen, wie Luna auf die Knie fällt und den Dreizack in den Boden stößt. Ihre Augen leuchten in strahlendem Blau, und auf einmal weicht das Wasser unter unseren Füßen, sammelt sich an den Wänden zu einer riesigen Welle und schwillt zu einem Strudel an, der den ganzen Raum erfüllt. Ich kann spüren, wie eine riesige Macht die Aquädukte erfüllt, fühle eine Präsenz, die noch größer ist als die der alten Könige. Eine Stimme dröhnt in meinem Kopf. Wie damals vor dem Kristall, die Stimme eines Astralen, einer Gottheit. Nun sehe ich auch ihre Augen hinter dem Wasser. Der Drache, der mir vorher noch so riesig vorgekommen ist wirkt winzig im Vergleich zur Lady des Wassers, der Schutzgöttin von Accordo, die sich jetzt ihren Weg durch die Wellen bricht. Leviathan… die Göttin, deren Wut ganze Städte auslöscht. Mit einem allesvernichtenden Donnern brechen die Wellen herunter. Über, neben und unter uns sprüht weißer Schaum, Wasser peitscht herunter wie stürmischer Regen und ich muss die Luft anhalten, bis alles vorbei ist. Noch einmal dröhnt die göttliche Stimme in meinem Kopf und ich sehe direkt in die Augen der Wassergöttin. Sie sieht mich lange an, dann wendet sie sich Luna zu, neigt den Kopf, und erlaubt der Königin, sie zu berühren. Beinahe sieht Luna dabei aus wie eine Beschwörerin, die ein wildes Ungeheuer gezähmt hat, dann zerbricht die Szene und Leviathan ist verschwunden. Zurück bleibt nichts als ein nasser Raum. Das Schwert des Königs schwebt noch einen Augenblick in seiner Mitte, dann fällt es scheppernd zu Boden. Ich zögere, spüre, wie die nassen Kleider an meiner Haut kleben, als ich mich bewege. Ich hole tief Luft und schreite voran, in die Mitte des Raumes, auf das Schwert zu. Wie die anderen Waffen beginnt es zu leuchten, als ich es berühre, und wird zu Magie, die ich in mich aufnehmen kann. Das letzte der dreizehn großen Schwerter… fehlt nur noch das von König Noctis. Für ihn gibt es kein Grab, nur den Altar in der Zitadelle. Sein Schwert ist damals mit ihm verschwunden, aber wäre er noch tot, hätte ich es wohl dort gefunden, zusammen mit dem Ring. Aber Noctis ist nicht tot, deshalb trägt er sein Schwert bei sich. Er wird es mir übergeben, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn wir uns wiedersehen… Wenn das Schicksal unseren nächsten Zug erzwingt. Kapitel 33: Gefangen (Gladiolus Amicitia) ----------------------------------------- Nun, das hätte schlimmer laufen können. Gut, es ist trotzdem scheiße gelaufen. Seufzend lasse ich mich auf das Bett sinken. Der Raum ist klein für drei Leute und es stehen nur zwei Betten darin, aber sonst könnte man ihn beinahe als gemütlich bezeichnen. Für ein Gefängnis. Mir ist schwindlig. Mein rechter Arm fühlt sich zerrissen an, trotz des Megaelixiers, das Ignis schon im Auto darüber gekippt hat. Das Fleisch ist wieder anstandslos zusammengewachsen, aber es brennt immer noch. „Alles in Ordnung, Gladio?“, fragt Ignis und legt ungefragt seine Hand auf meine Stirn, „Hast du Fieber?“ Ich wische die Hand weg und wende mich ab. „Mach dir lieber Sorgen um Noct…“ Noct liegt auf dem zweiten Bett des Raumes seit ich ihn dort abgelegt habe. Schon im Auto ist mir sein erschreckend schwacher Atem aufgefallen, er spricht nicht, rührt sich nicht, scheint nur gerade so noch am Leben. Keinen Deut besser dran als in dem Moment, in dem wir ihn aus dem Krankenhaus holen durften…so gut wie tot. Und jetzt sitzen wir hier in einem alten niflheimer Frachtschiff fest, das irgendwer zu einem riesigen Wohnmobil umgebaut hat. Nicht offiziell gefangen genommen, aber… die Türen lassen sich nur mit den Barcodes der Klone öffnen. Und Prompto ist nicht bei uns. Ich mache ihm keinen Vorwurf – ich mache mir nur Sorgen. Um Noct. Um Prompto. Und Ignis macht sich Sorgen um mich. Während ich noch kraftlos auf dem Bett herumfläze hat er längst das Fieberthermometer aus seinem Koffer geholt und wedelt damit vor meinem Gesicht herum. „Mund auf“ befiehlt er. Ich wende mich ab. „Stell dich nicht so an, das dauert nur eine Minute. Mund auf, oder ich stecke es am anderen Ende rein.“ Ich werde wohl nie rausfinden, ob das eine leere Drohung ist oder nicht. Das ist unser einziges Fieberthermometer; wenn auch nur einer von uns sich mal so lange querstellen würde, dass Ignis diese Drohung wahrmacht, kann es nur noch rektal benutzt werden. Und darunter leiden dann alle. Also mache auch ich jetzt brav den Mund auf und lasse augenrollend zu, dass Ignis das blöde Gerät hineinlegt. „So ist es brav, nimm es unter die Zunge.“ Ich rolle noch einmal mit den Augen, verschränke die Arme hinter dem Kopf und lehne mich zurück. Bringt doch eh alles nichts… ich fühle mich schlapp und abgekämpft. Ausgelaugt, nutzlos. Noct liegt neben mir, in der stabilen Seitenlage, damit er leichter atmen kann, nur eine dünne Decke über seinen Körper gebreitet. Das Fieberthermometer piept und Ignis setzt sich zu mir aufs Bett, um es wieder an sich zu nehmen. „Achtunddreißig Komma Fünf“, liest er ab. „Passt doch.“ „Machst du Witze? Du hast eindeutig Fieber!“ Ich seufze tief. „Dann übernimmst du halt die erste Wache“, brumme ich, „Bis zu meiner Schicht bin ich wieder fit.“ Einen Moment sieht es aus, als wollte Ignis wiedersprechen, aber er schließt nur stumm den Mund und breitet die Decke über mich. Ich fühle mich übermäßig bemuttert, aber zu krank, mich zu beschweren. Fieber… das hab ich echt selten. Fühlt sich scheiße an. Also so richtig. Langsam merke ich ein leichtes Pochen in meinem Schädel, passend zum pulsierenden Schmerz in meinen Knochen. Es ist… verführerisch gemütlich hier drin. Das Bett ist weich, ich sinke förmlich in die Matratze, die flauschigen Decken sind mit frisch gewaschenen Laken bezogen. Abgesehen von den Betten haben wir einen kleinen Tisch und zwei gemütliche Sessel zur Verfügung, außerdem einen Schrank, in dem genug Platz für alle vier Taschen ist. Sogar unser Gepäck durften wir aus dem Auto mitnehmen. Dazu Nachttischchen für jedes der zwei Betten. Aus dem Raum führen zwei Türen, eine davon lässt sich ohne Code öffnen. Dahinter liegt ein kleines Bad mit Dusche, Klo und Waschbecken. Leider keine Badewanne… ein Bad könnte Noct gerade gut gebrauchen, mit dem Rest unseres Äthers. Wir waren auf einem so guten Weg, als plötzlich dieses Ding aufgetaucht ist. Mitten in der Nacht, wie ein verdammter Siecher… „So ein Mech-Modell habe ich noch nie gesehen“, grummle ich. „In der Tat“, stimmt Ignis zu, „Ich frage mich, woher es kommt.“ „Findest du es auch verdächtig, wie schnell dieser Nemo mit seinem Luftschiff da war?“ „Nicht zu sehr. Ich habe gesehen, wie mobil die Nautilus ist. Und Nemo hat großes Interesse an Prompto, er wird sich in unserer Nähe aufgehalten haben. Prompto hat richtig entschieden, ihn anzurufen, mir fiele niemand ein, der schneller zu unserer Rettung hätte erscheinen können. Selbst die Königsgleve ist nicht so effektiv.“ „Diese niflheimer Luftschiffe sind schon echt ein unfairer Vorteil“, überlege ich, „Und Nemo hat inzwischen echt ne Armee…“ „Naja, Armee… es sieht nach einer aus, aber insgesamt hat er vielleicht zehn wirklich starke Soldaten zur Hand. Er selbst ist kein Kämpfer, und die meisten seiner kleinen Brüder sind bewaffnete Zivilisten. Die sollen taff aussehen, aber in einem echten Kampf sind sie wertlos.“ „Mehr Schein als Sein, hu?“ Wenn mein Kopf nur nicht so hämmern würde… „Ich glaube nicht, dass Nemo wirklich eine Armee aufbauen wollte. Er sammelt seine Schäfchen ein, rettet sie, päppelt sie auf und behält sie, wenn er kein Zuhause für sie findet. Wer helfen kann, hilft. Das macht die Truppe gefährlich. Sie sind loyal gegenüber Nemo und haben nichts zu verlieren.“ „Nur nicht Prompto.“ „Nein, Prompto hält zu uns.“ „Was glaubst du, wo sie ihn hingebracht haben?“ „Das weiß ich nicht“, gibt Ignis zu, „Aber ich glaube an Nemos Willen, seine Brüder zu schützen. Prompto kann die Türen hier öffnen, wenn es ihm besser geht, kommt er sicher zu uns.“ „Immer. Der Junge weiß, wo er hingehört. Guter Mann.“ Ob es ihm auch gerade so scheiße geht wie mir? Er sah ja echt mies aus als die ihn weggeschleift haben… er hat einiges einstecken müssen, bis ich auf das Vieh aufmerksam geworden bin und helfen konnte. Das ging alles so schnell… das Krachen der eingebrochenen Tür, die Bettlaken, in denen ich mich in der Eile verheddert habe. Dann drei Schritte zur Tür, öffnen, zwei Schritte auf dem Gang, mit Schwert und Schild auf das Monster zu. Einen Schlag in den Raum habe ich noch gesehen bevor mein Angriff saß. Und das Leuchten… Wenn ich nur früher zur Stelle gewesen wäre. Oder direkt bei Noct im Zimmer geblieben. Aber ich kann nicht jede Wache übernehmen, und Prompto hat den Job gut gemacht. Hat sein Leben riskiert, um den König zu schützen. Guter Mann. Hoffentlich ist er halbwegs okay. Ignis lässt sich in einen der weichen Sessel am Tisch sinken und ich schließe die Augen. Mir ist so heiß… ich fühle mich fast zu elend um zu schlafen. Gerade, als es mir beinahe gelingen will, zurrt die Tür auf. Die, die nicht ins Bad führt. Ignis und ich springen fast gleichzeitig auf, aber es ist nicht Prompto, der da schüchtern in der Tür steht. Mir ist schwindlig und ich muss kräftig schlucken, um mich nicht auf den Teppichboden zu übergeben. Es schmeckt widerlich. Der Mann in der Tür ist jünger als wir, zierlich, eher ein Gelehrter als ein Kämpfer. Seine blonden Haare sind knapp seitlich der Mitte gescheitelt und stufig geschnitten, vielleicht ein wenig kürzer als Promptos und definitiv sehr viel braver. Auf seiner sommersprossigen Nase sitzt eine auffällig große Brille, in der Hand hält er einen dunklen Koffer. „Wer…“, frage ich. „Arc?“, vermutet Ignis und tritt einen Schritt vor. „Sie erinnern sich!“ Der junge Mann wirkt ausgesprochen fröhlich bei der Erwähnung seines Namens. Er macht einen Schritt in den Raum hinein und die Tür schließt sich automatisch hinter ihm. Ein Zucken geht durch meinen Körper, als hätte ich knapp eine Chance zur Flucht verpasst. Aber es hätte mir nichts gebracht, jetzt durch die Tür zu sprinten. Da draußen ist noch ein ganzes Labyrinth voller geschlossener Türen. „Natürlich erinnere ich mich“, versichert Ignis, und zu meiner Überraschung reicht er dem Bürschchen die Hand wie einem alten Freund. „Hast du dich gut erholt?“ „Ja, vielen Dank. Mir geht es blendend. Wie geht es Ihnen?“ Himmel, dieses alberne Gesülze immer… Bald fangen sie noch vom Wetter an. Aber was wie Smalltalk klingt ist für Ignis manchmal eine Goldgrube an Informationen, und so lasse ich ihn reden. Wann er den Kleinen wohl kennen gelernt hat? Der Junge ist etwa dreißig, dem Dialekt nach könnte er sogar aus Insomnia kommen. Aber für einen Kommilitonen aus der Streberuni ist er zu jung. „Mir selbst gut, aber Gladio hat Fieber, und Noct… nunja…“ Genau, erzähl dem Kleinen alles, was er über unsere Kampftauglichkeit wissen muss. Wieso vertraut Ignis diesem Typen? „Ein Magieschock, richtig? Vielleicht kann ich helfen.“ Die Worte des jungen Mannes überraschen mich. Gebannt lasse ich mich aufs Bett sinken, lasse den Kerl aber nicht aus den Augen, als er seine Tasche auf Nocts Nachttisch stellt und weiterredet. „Ich hatte mich letztes Mal nicht korrekt vorgestellt: Mein Name ist Arcana Occultos. Ich bin der Sohn des Arztes, der in der langen Nacht für die magische Gesundheit der Gleven gesorgt hat.“ „Du bist der Sohn von Doktor Occultos?“ Ignis wirkt überrascht, aber auch erfreut. Woher kenne ich den Namen des Arztes? Irgendwer hat schon mal von ihm gesprochen. Mein Kopf dröhnt und mir zittern schon wieder die Hände. „Genau der.“ Egal woher Ignis den Klon kennt, wenn er Noct irgendwas antut, werf ich ihn durch den Raum. „Kannst du Noct helfen?“, stelle ich die wichtigste Frage. „Ja, das kann ich.“ Arc wühlt in seiner Tasche herum und zieht eine dünne Stablampe heraus, die fast wie ein Kugelschreiber aussieht. Er knipst ein paar Mal darauf herum, und mit jedem Druck ändert sich die Farbe des Lichtstrahls. Arc wirkt zufrieden damit. Entschlossen schlägt er Nocts Decke zurück und dreht meinen Freund einfach auf den Rücken. Instinktiv springe ich auf, kann mich aber gerade noch zurückhalten. Ich weiß nicht genau, ob es an mir oder an der Nautilus liegt, aber es fühlt sich nach heftigen Turbulenzen an. Zum Glück kann ich mich am Bett festhalten, bevor ich zu Boden gehe. Arc und Ignis blicken mich besorgt an, lag wohl doch nicht am Schiff. Ignis hilft mir, mich wieder zu setzen und reibt besorgt meine Schultern, Arc wendet sich wieder Noct zu. „Entschuldigt, euer Majestät“, schnurrt Arc, und ich kann sehen, wie Noct versucht, die Augen zu öffnen. „Mein Name ist Arc, ich bin… naja, eigentlich kein Arzt, sondern Pharmazeut. Aber ich kenne mich aus mit Fällen wie Eurem.“ Dem scheint tatsächlich so zu sein, denn Arcs Bewegungen sind fließend und bestimmt. Er zieht Nocts Augenlider auseinander, leuchtet mit seinem Kugelschreiberlicht hinein, wechselt durch die verschiedenen Farben und wiederholt das Ganze mit dem zweiten Auge. „Faszinierend“, murmelt er. Dann klemmt er sich den Kugelschreiber zwischen die Zähne und knöpft Noct das Schlafanzughemd auf. Ein Drehen am Kugelschreiber und der Lichtkegel wird breiter. Jetzt, wo er auf Nocts Oberkörper statt in seine Augen leuchtet sehe ich auch, was Arc sieht: Unter Nocts Haut werden Adern und Narben sichtbar, groteske Muster farbiger Blitze, teilweise fast kristalline Strukturen. „Unglaublich…“, murmelt Arc, „unglaublich… ich hab Geschichten gehört über die Macht des Königs, aber solche Magie… vermessen wer glaubt, dem überlegen zu sein.“ Eilig schaltet er sein Licht wieder ab, setzt die Tasche vom Nachttisch auf den Boden um und hebt jede Menge Zeug heraus. Schälchen, Grünzeug, Blümchen und verschiedenerlei Fläschchen mit bunter Flüssigkeit. Seine Hände bewegen sich unglaublich schnell, es ist beinahe, als würde man Ignis beim Kochen zusehen. Ein Minzig-Zitroniger Geruch breitet sich aus, als er seine Mischung über einer kleinen Flamme kocht. „Unglaublich, dass er noch lebt“, murmelt Arc weiter, während er arbeitet, „Ein normaler Mensch hätte einen solchen Magieschock nie überstanden. Und da gibt es tatsächlich Leute die denken, sie könnten den König ersetzen… so ein Humbug.“ „Wovon redest du?“, fragt Ignis interessiert, „Was sind das für Spuren, die dein Licht sichtbar macht?“ „Narben“, erklärt Arc und rührt weiter seine Mixtur durch, die auf dem Feuer köchelt, „magische Narben. Die bleiben immer zurück, wenn man starke Magie nutzt. Die meisten gehen von seiner rechten Hand aus, da ist die Struktur fast kristallin, vermutlich geht das auf den Ring zurück. Unglaubliche Macht, in der Tat, aber einen normalen Menschen würde sie verbrennen wie ein Stück Papier. Die leichten Spuren an seinen Handinnenflächen stammen von regulären Elementarzaubern. In den Augen sieht man, wie viel Magie noch im Körper verbleibt. Und damit meine ich eigene Magie, die jeder Mensch hat, und die normal nicht aufgebraucht wird.“ „Und Nocts…“ „Ist verbraucht ja, bis auf den letzten Rest. Das ist das, was wir einen Magieschock nennen. Einige Gleven hatten damit in der langen Nacht zu kämpfen, mein Vater hat Methoden recherchiert, wie man ihnen helfen kann, und war sehr erfolgreich damit. Ich habe seine Arbeit während meinem Studium der Pharmazie fortgeführt, auch wenn solche Fälle in Abwesenheit von Magie natürlich nicht mehr vorkamen. Das Thema hat mich schlicht fasziniert.“ „Unser Glück, nehme ich an“, murmelt Ignis und sieht gebannt zu, wie Arc seine Suppe in ein Döschen umfüllt und zum Abkühlen beiseite stellt. „Nichts ist je umsonst“, murmelt er und setzt sich neben Noct aufs Bett, um ihn noch einmal mit bloßen Händen zu untersuchen. „Einen so schweren Fall habe ich noch nie gesehen. Ich nehme an, der Angriff auf den Wall war der Auslöser?“ „Von einem Angriff wissen wir nichts, zumindest nicht sicher.“ „Es muss einen gegeben haben“, beharrt Arc, „Das hat den Schock ausgelöst. Ich würde weiter annehmen dass er sich seitdem erholt hat, aber kürzlich erneut Magie benutzt hat?“ „Ich hab einen Warpblitz gesehen“, gebe ich zu, „Wir wurden angegriffen, vermutlich hat er versucht, Prompto damit zu beschützen.“ Arc legt die Stirn in Falten. „Ich will nicht sagen, dass das eine schlechte Entscheidung war“, murmelt er, „Ein weiterer Treffer hätte Prompto sicher getötet. Aber Noct hätte in seinem Zustand auf keinen Fall wieder Magie anwenden sollen.“ „Heißt das…?“ „Nein, er wird überleben. Reines Glück. Aber er ist auch unglaublich stark… kein Mensch könnte je so viel Magie in sich aufnehmen, als dass er so einen Verlust verkraften könnte. Nur der wahre König, dessen Macht beinahe sogar die der Götter übertrifft. Seine Regeneration ist auch weitaus schneller…“ Erneut leuchtet Arc Noct in die Augen, scheint direkt gebannt von dem, was er da sieht. „Ja… ja, er reagiert jetzt schon, allein auf den Geruch. Faszinierend.“ Er fächert ein wenig mehr Dampf aus der leeren Schale in Nocts Richtung und jetzt kann auch ich sehen, dass er ruhiger atmet. „Ein wenig dauert es noch, bis die Salbe heruntergekühlt ist“, meint Arc geschäftig und nimmt jetzt mich ins Visier, „Gladiolus Amicitia, richtig? Sehr erfreut, sie kennen zu lernen. Ignis sagte, Sie hätten Fieber, tut denn sonst noch etwas weh?“ Ich klappe überfordert den Mund auf, weiß aber nicht was ich sagen soll. Der Junge ist verdammt schnell und sofort bei mir. Auch mir leuchtet er in die Augen, tastet mich ab und reißt mir das Hemd von den Schultern. Besonders interessiert er sich wohl für meinen rechten Arm, den nimmt er ganz genau ins Licht seiner seltsamen Lampe. „Sie haben auch die Kettenpeitsche des Manticor-Mechs abbekommen, nicht wahr?“ „Manticor?“ „So nennt Nemo diese neuen Mechs, weil sie wie große Katzen mit giftigen Schwänzen aussehen. Leider scheinen die allgemeinen Gegengifte nicht zu wirken, ich arbeite gerade an einem speziellen Antidot gegen genau diesen Cocktail. Darf ich ihnen Blut abnehmen?“ Nein. Hilfe. Ah! „Wenn‘s sein muss“, sage ich tapfer, „Und sag ruhig du.“ Ich muss wegsehen, als der Kerl eine Nadel in meinen Arm sticht und mein Blut in ein kleines Röhrchen einsaugt. Er hilft mir, mich wieder aufs Bett zu legen, und ich bin froh darüber, andernfalls wäre ich sicher umgekippt. Himmel, ich hasse Spritzen… „Fürs erste kannst du das hier gegen dein Fieber nehmen“, bietet er an und stellt eine Schachtel Pillen neben mein Bett, „Ansonsten hilft viel Ruhe und Schlaf, damit sich das Gift nicht zu sehr ausbreitet.“ Ich brumme und werfe gehorsam eine der Pillen ein. Arc macht sich jetzt wieder an Noct zu schaffen, er reibt ihm die Brust mit der Salbe ein, die er eben hergestellt hat. Es riecht wie damals im Bad… ziemlich streng nach Zitrus und Minze, gemischt mit dem Duft von Äther. Waren wir also doch auf dem richtigen Weg… nur das Bad war nicht so nötig wie gedacht. Immerhin ist Arc bei aller medizinischer Faszination doch so umsichtig, Noct wieder anzuziehen und zuzudecken. Die restliche Salbe stellt er auf dem Nachttisch ab. „Wenn er sich mit dem Atmen schwer tut, könnt ihr noch etwas davon auftragen“, empfiehlt er uns, „ansonsten nochmal gegen Abend, wenn die Glocke zum Abendessen läutet. Euch wird übrigens auch etwas gebracht, wenn ihr wollt. Sucht einfach auf dem Terminal über dem Tisch aus, was ihr haben wollt.“ Er packt seine Tasche wieder zusammen, steht auf, dreht sich vor der Tür noch einmal um und verbeugt sich tief. „Ich komme morgen wieder, um nach euch beiden zu sehen.“ Sein Lächeln ist ebenso süß und unbeschwert wie Promptos. „Kannst du dir Prompto mit ner Brille vorstellen?“, überlege ich, als sich die Tür wieder schließt. „Muss ich nicht, ich hab ihn schon mit Brille gesehen“, antwortet Ignis und kontrolliert Nocts Atmung, bevor er die Decke nochmal glattstreicht. „Aber erzähl ihm das nicht, es ist ihm furchtbar peinlich.“ „Mir ist nie aufgefallen, dass er Kontaktlinsen trägt…“ „Prompto verbirgt einiges an Lappalien, weil er sich dafür geniert. Manchmal wünschte ich, er würde uns ein wenig mehr vertrauen…“ „Naja, solange es nichts Wichtiges ist.“ „Nun, was Wichtig ist, hat er uns immer mitgeteilt. Selbst, als er das mit Besithia herausgefunden hat… und trotzdem macht er sich noch Sorgen wegen seinem Gewicht oder seiner Krankheit.“ Ignis seufzt tief. „Glaubst du, es geht ihm gut? Wir hätten Arc nach ihm fragen sollen…“ „Ach was. Kennst doch Prompto, der steckt alles weg“, beruhige ich Ignis. In Wirklichkeit bin ich mir nicht so sicher. Er hat schon mies ausgesehen… und diese Geschichte mit Nemo geht ihm nahe. Was hat er gesagt, als die ihn weggetragen haben? Dass es ihm Leid tut? Hoffentlich macht er sich nicht zu sehr dafür verantwortlich, dass Noct Magie einsetzen musste. Arc hat Recht, ein Treffer mehr von diesem Manticor hätte Prompto sicher getötet. Und wir sitzen hier in diesem winzigen Zimmer fest und können nicht mal mit ihm reden. Kapitel 34: Freunde (Prompto Argentum) -------------------------------------- Ich fühle mich elend. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir im Leville angegriffen wurden. Die Fensterläden in meinem Zimmer sind geschlossen, Tag und Nacht. Vielleicht könnte ich sie öffnen, aber ich habe nicht die Kraft, aufzustehen. Oder nicht den Willen. Ich habe keine Ahnung mehr, ob es Tag oder Nacht ist, wie viele Tage vergangen sind. Ich habe meine Medikamente nicht bei mir und wüsste nicht, wie oft ich sie schon hätte nehmen sollen und es einfach vergessen habe. Ich habe versagt. Auf ganzer Linie versagt. Ich konnte Noct nicht beschützen. Ich kann kaum Auto fahren. Und letztendlich… letztendlich habe ich meine Freunde unseren Feinden in die Arme geworfen. Noch immer sehe ich Ignis vor mir, wie er mit erhobenen Händen aus dem Font des Wagens steigt, umringt von Gewehrläufen, die alle auf ihn gerichtet sind. Ich konnte nichts tun, man hat mich einfach weggezerrt und hier in dieses Zimmer gebracht. Ein nettes Zimmer… dasselbe, in dem ich letztes Mal schon war. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber heute fühle ich mich tatsächlich schlechter als damals. Immer wieder kommen andere Klone herein, reden auf mich ein, fassen mich an. Viel bekomme ich nicht mit, mir ist schlecht, mir ist schwindlig, und ich bin elend müde. Ich will nur schlafen… weg von der Welt, einfach in meinem Elend versinken. Ich will zurück zu meinen Freunden, aber ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt noch haben wollen. Nemo hat sie sicher gefangen nehmen lassen, und das ist allein meine Schuld. Ich will mir nicht ausmalen, was er ihnen antut… und Noct ist so schwer krank, er kann sich gar nicht wehren! Wenn Nemo ihn umbringt… das darf ich nicht zulassen. Ich muss meinen Freunden helfen. Vorsichtig richte ich mich auf. Der Boden schwankt unter meinen Füßen und mir kommt sofort die Magensäure hoch, aber ich kann nochmal schlucken. Und Aufstehen klappt auch. Irgendwer hat mir einen frischen Schlafanzug angezogen, aber die Tasche mit meinen eigenen Sachen kann ich nicht finden. Egal jetzt, ich muss die anderen finden. Wenn nur nicht alles so schwanken würde… Die Tür öffnet sich sofort, als ich meinen Arm an das Terminal lege und ich stolpere auf den Gang. Es ist kalt. Und dunkel. Die Beleuchtung ist total heruntergefahren, der Gang ist leer. Gut. Ich bin nicht zum ersten Mal in der Nautilus, ein wenig kenne ich mich hier noch aus. Im Grunde ist sie immer noch gebaut wie ein typisches Frachtschiff, aber Nemo und seine verlorenen Jungs haben es ganz schön umgebaut, teilweise neue Böden und Wände eingezogen, um aus den früheren Lagerräumen Zimmer zu machen, so wie aus der einstigen Ware Menschen wurden. Ich erinnere mich an die Geschichte, die Spero erzählt hat… von der Eroberung der Nautilus, damals, kurz vor der langen Nacht. Wie Nemo, Spero und Ferrum zu dritt den Frachter geentert und erobert haben… auf dem Weg vom Biotechlabor in die Zuchtanlage, mit hunderten von Embryos im Gepäck. Hunderte unmarkierter Kinder, denen jetzt ein Leben ohne Barcode vergönnt ist. Und ein Frachtschiff, das nun mehr einem fliegenden Hotel gleicht. Bei meinem letzten Besucht durfte ich mich hier drin frei bewegen. Ein wenig kenne ich mich noch aus, weiß, wie ich mich orientieren und die Technik nutzen kann. Ich mache mich auf den Weg zu einem der großen Terminals und tippe auf den Bildschirm. Das Licht blendet extrem und ich muss mich nahe hin lehnen, um die Zeichen lesen zu können. Jemand hat mir meine Kontaktlinsen abgenommen… meine Augen brennen trotzdem. Ich rufe die Karte auf, versuche herauszufinden, wo im Schiff sie die anderen hingebracht haben. Einen Gefangenentrakt gibt es nicht wirklich… aber es gibt Kameras. Ich muss nur zwei Tage zurückgehen um den Moment zu finden, in dem wir hier angekommen sind. Schwer atmend stemme ich mich gegen die Wand, in die der Bildschirm eingelassen ist, kämpfe gegen die Übelkeit an und sehe gleichzeitig zu, wie der Regalia ins Innere des Schiffes gezogen wird. Ein Stück weit rollt er noch mit seinem leeren Tank, dann ist die Steigung zu viel und er gleitet ein Stück rückwärts, bis die Seile greifen, mit denen er im Laderaum gesichert wird. Mehrere Männer arbeiten zusammen, das schwere Auto in die Parkposition zu ziehen, Haken werden in Halterungen gesteckt und Riemen festgezurrt, das Auto steht fest. Soldaten umringen uns, heben Maschinengewehre und legen auf die Türen des Wagens an, besonders auf die hinteren. Ferrum tritt hervor, reißt die Fahrertür auf und zieht mich heraus. Eine erbärmliche Gestalt bin ich… Ferrum und ich sind aus derselben Charge, Vollgeschwister, praktisch eineiige Zwillinge. Trotzdem sieht er Gladio ähnlicher als mir. Keuchend sehe ich zu, wie ein weiterer Mann dazu kommt, mich wegzuziehen. Halbwegs aufrecht hänge ich zwischen ihnen, aber meine Füße schleifen nur über den Boden. Ich sehe fast mehr wie eine Leiche aus, die Rückseite meines Schlafanzuges ist dunkel vom Blut. Ich löse meine Augen von der erbärmlichen Szene, spule ein Stück zurück und achte diesmal auf die anderen. Spero ist es, der die hintere Tür aufzieht und Ignis auffordert, auszusteigen. Der gehorcht, mit erhobenen Händen, wie ich es an dem Tag über die Schulter schon sehen konnte. Er steht aufrecht, beinahe stolz, und spricht. Es gibt keinen Ton und das Bild ist zu unscharf, seine Lippen zu lesen. Ich sehe nur, dass sein Blick direkt auf Nemo gerichtet ist, kann nur ahnen, dass dieser antwortet. Einzelne Waffen werden gesenkt, die Wachen verändern ihre Aufstellung. Nun wird auch die andere Tür geöffnet. Gladio steigt aus, spricht kurz mit Spero, beugt sich dann wieder in den Wagen zurück und hebt Noct heraus. Wie eine leblose Puppe hängt er in Gladios starken Armen. Zu schwach… ich drücke auf Pause und muss einen Augenblick wegsehen um zu schlucken. Das ist meine Schuld… Noct ging es schon wieder so gut. Dass er Magie einsetzen musste ist meine Schuld. Er hat seine Gesundheit, vielleicht sein Leben, riskiert, um mich zu beschützen. Weil ich zu schwach war, ein paar dumme Angriffe einzustecken. Ich schlucke heftig, atme tief durch und bekomme mich wieder unter Kontrolle. Ich will mich nicht wieder übergeben… ich habe nicht mal was im Magen, was ich hochwürgen könnte, trotzdem zieht sich in mir alles zusammen, als wäre selbst die Magensäure zu viel für meine Verdauung. Noch dreimal tief durchatmen. Ich darf jetzt nicht nochmal versagen. Ich muss meine Freunde finden und sie hier rausholen. Ich kann die Türen hier drin öffnen, kann überall hin. Sie nicht… sie sind gefangen und ich muss herausfinden, wo. Also weiter. Ich beende den Pausemodus. Gladio steht aufrecht neben dem Wagen, Noct in seinen Armen wie eine schlafende Prinzessin. Drei Wachen rücken zu ihm auf, halten ihre Gewehre auf ihn gerichtet, während Spero die beiden davon führt. Ignis spricht weiter mit Nemo, auch er wird von zwei Wachen in Schach gehalten, bis er schließlich die Hände fallen lassen darf und aus der Halle geführt wird. Nemo bleibt allein zurück. Er hält den Kopf gesenkt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Schultern angespannt. Was Ignis ihm wohl gesagt hat? Was immer es war, es scheint Noct nochmal das Leben gerettet zu haben. Zumindest fürs Erste hat Nemo davon abgesehen, diese einfache Chance für einen Mord am König von Lucis zu nutzen. Er hat meine Freunde leben lassen. Ich skippe durch die anderen Kameras, versuche herauszufinden, wo die Wachen meine Freunde hingebracht haben. Es dauert, bis ich unter den vielen Nummern den richtigen Gang finde. Genau den Zeitpunkt, in dem Gladio hinausgeführt wurde. Dann sehe ich ihn endlich. Gladio geht langsam, auch er wirkt unsicher, schwankend. Einmal strauchelt er so sehr, dass Spero ihn stützen muss. Gladio geht trotzdem auf die Knie, aber Noct drückt er schützend an sich, damit ihm nichts passiert. Eine Weile bleibt die Gruppe im Gang stehen, dann kommen zwei Mann mit einer Rolltrage an. Gladio sträubt sich, diskutiert, lässt schließlich doch zu, dass man ihm Noct abnimmt und auf die Trage legt. Gladio hält sich an der Seite derselben fest, als wollte er schieben helfen, aber es sieht mehr danach aus, als müsste er sich daran festhalten, um nicht wieder zu fallen. Spero greift die andere Seite, ebenfalls scheinbar besorgt um Noctis, aber er hilft den beiden Sanitätern, die Trage zu schieben und gleichzeitig Gladio zu stützen. Die Soldaten folgen ihnen mit gesenkten Waffen, ich kann sehen, wie zwei von ihnen einen Blick tauschen. Fragend oder besorgt? In den Zimmern selbst gibt es keine Kameras, aber durch die der Gänge kann ich verfolgen, in welches Zimmer meine Freunde gebracht werden. Es liegt ganz am anderen Ende des Luftschiffes. Auch Ignis wird dorthin gebracht, etwas später als die anderen, aber er zumindest wirkt völlig unverletzt, scheint sogar eine der Wachen in ein lockeres Gespräch zu verwickeln. Trotzdem sitzt auch er in dem Zimmer gefangen. Nicht direkt eingesperrt, aber doch gefangen hinter einer Tür, die sie nicht selbst öffnen können. Aber ich kann es. Für mich öffnet sich hier jede Tür, und davon gibt es nicht wenige auf meinem Weg. Es ist weit, zumal ich immer wieder Pause machen muss um meine Kräfte zu sammeln. Einmal mache ich einen kleinen Abstecher in die Toilette, um die überschüssige Magensäure loszuwerden. Es fühlt sich… befreiend an. Aber gleichzeitig ist es alles andere als angenehm. Mit leichterem Magen und auf noch auf unsteteren Füßen stolpere ich den Rest des Weges entlang. Niemand kommt mir entgegen, vermutlich ist es Nacht. Ich finde die richtige Tür und lege meinen Arm auf das Terminal. Die Tür öffnet sich. Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern fällt etwas zu Boden und ich sehe mich Auge in Auge mit Ignis, der seine Dolche angriffsbereit in beiden Händen hält. Mir wird schwindelig und ich muss mich am Türrahmen festhalten, um nicht zu fallen. „Prompto?“ Ich nicke schwach und Ignis lässt die Dolche verschwinden. „Meine Güte…“, murmelt er, fasst mich an der Schulter und zieht mich in den Raum. Die Tür zurrt zu. „Tut mir Leid, ich bin etwas schreckhaft…“ Ich nicke nochmal, lasse mich in den Arm nehmen. Ignis sieht furchtbar übermüdet aus, ich kann spüren, wie er zittert. Es ist kalt. Ignis lässt mich wieder los, sieht mich lange an. Er hat dunkle Ringe unter den Augen, seine Bewegungen sind fahrig. Auch das habe ich schon mal gesehen bei ihm. Und es wundert mich nicht… ohne mich muss er sich die Wachschichten mit Gladio alleine teilen, und auch der ist schwer angeschlagen. Sicher bekommt Ignis nicht viel Schlaf. Vor der Tür liegt ein einfacher Strick, an den Glocken, Schellen und Besteck gebunden sind. Ignis hebt ihn auf und klebt ihn wieder an die Tür, so, dass jede Bewegung der Schiebeelemente ihn zu Boden wirft. Eine improvisierte Alarmanlage… es muss furchtbar sein hinter einer Tür zu sitzen, die jeder außer man selbst öffnen kann. „Tut mir Leid…“, murmle ich. Ignis fasst mich wieder an den Schultern und drückt mich in einen der Sessel. „Wie geht es dir?“, fragt er besorgt und schon habe ich seine Hand in meinem Gesicht, „Hast du Fieber?“ „Äh…“ „Ja hast du, armer Kerl… willst du einen Tee? Mit Honig oder Zucker?“ „Ähm… Honig?“ Ich bin völlig überrumpelt. Ignis tigert durch den Raum, sammelt Utensilien und schließt eine elektrische Herdplatte an, auf der er Wasser kocht. „Honig ist leider aus, fürchte ich, ist Zucker okay? Ich glaube, ich habe noch Kandis…“ Ich lege nur den Kopf schief, komme nicht wirklich mit. Zögernd falte ich die Hände im Schoß. Mir ist schwindelig, ich bin völlig außer Puste von meinem Weg hierher. Ich wollte meine Freunde retten, aber… jetzt ist es Ignis, der sich um mich kümmert. Ich verstehe nicht. „Ich hoffe, Kandiszucker ist okay. Mir gehen nun doch langsam die Vorräte aus, was den Tee angeht…“ Ich versichere Ignis schnell, dass Kandiszucker absolut okay ist und der Tee ganz fantastisch riecht. Mein Magen rebelliert noch immer, aber der heiße Dampf aus der Tasse tut gut. Ignis plappert munter vor sich hin, aber seine Worte ziehen an mir vorbei. Ich bin zu krank und zu müde, um zuzuhören. Aber einfach nur seine Stimme zu hören tut gut. Überhaupt tut es gut, wieder bei meinen Freunden zu sein. Ich wärme meine zitternden Hände an meiner Tasse und nippe vorsichtig an dem Getränk. Heißer, süßer Tee… ich könnte die Sorte nicht benennen, aber es riecht nach Kräutern und Ingwer. Ignis stellt mir noch eine Schale Haferbrei vor die Nase. Es fällt mir schwer, zu kauen und zu schlucken, aber es tut gut, etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Ignis plaudert munter weiter, streicht mir regelmäßig über die Schultern und kämmt mir die Haare, fühlt meine Stirn und tätschelt meine Hände. Am liebsten würde ich mich in seine Arme kuscheln, wie früher, wenn wir zusammen auf der Couch saßen und ich ihm beschreiben musste, was die Leute im Fernsehen machen. Ich schiebe die leere Schüssel von mir und leere die Tasse. Es ist schwer, nicht einfach schlafend zusammenzusinken. So müde. „Wie… wie geht es Noct?“, bringe ich heraus. Ignis hält inne in seinem Monolog, dann lächelt er mich an. „Schon viel besser“, meint er, und ich kann keine Lüge in seinen Worten erkennen, „er schläft gerade, aber freut sich sicher, wenn du dich ein wenig zu ihm kuschelst.“ „Meinst du?“ „Ja, auf jeden Fall. Er hat dich sehr vermisst.“ Ignis hilft mir auf und führt mich zu einem der Betten. Noct liegt auf dem Rücken und hat die Augen geschlossen, aber er atmet ruhig und tief. Es riecht gut… wie das Bad, das wir zusammen genommen haben. Irgendwie nach Minze. Ignis hebt die Decke und erlaubt mir, zu Noct ins Bett zu kriechen. Ich kuschle mich an meinen Freund, wie ich es heimlich oft während der Wache getan habe, nur bin ich diesmal tatsächlich zu müde, um wach zu bleiben. Ignis legt die Decke über mich und dimmt das Licht wieder. Ich schließe die Augen und lehne mich an Nocts warmen Körper. Es tut gut… seine Nähe tut gut. Fast schlafe ich schon, da spüre ich, wie Noct sich umdreht und seinen Arm um mich legt, mich näher an sich zieht und festhält. Ich fühle mich beschützt. Weswegen nochmal hatte ich mir Sorgen gemacht? Es ist egal, jetzt geht es mir ja gut. Jetzt bin ich wieder bei meinen Freunden. Und sie haben mich lieb. Solange wir zusammen sind wird alles gut. Ich atme tief ein uns aus, immer den beruhigenden Geruch von Kräutern in der Nase, der von Nocts Brust ausgeht. Es ist warm und friedlich… mir geht es ein wenig besser. Auch die Übelkeit lässt langsam nach. Es tut gut, so zu liegen. Fast wie zu Hause. Kapitel 35: Schlüssel (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------- Es ist ein herrliches Gefühl, allein und aufrecht unter der Dusche zu stehen. Ich liebe meine Freunde und ich bin ihnen unglaublich dankbar für alles, was sie in den letzten Wochen und Monaten für mich getan haben, aber gleichzeitig genieße ich die Privatsphäre, die ich in der Zeit entbehren musste. Es macht mir nichts aus, von Ignis gewaschen zu werden, und auch ohne Krankheit wäre das ein Luxus, auf den ich als König Anspruch habe. Ich wüsste nur nicht, warum ich das wollen sollte. Es ist viel angenehmer, diese Zeit einfach für mich selbst zu haben, mich selbst zu waschen, abseits aller anderen Augen. Das ist nämlich der wahre Luxus: Gesund und selbstständig zu sein. Das Bad in der Nautilus ist klein und ein wenig schäbig, kein Vergleich zu den opulenten Bädern im Leville. Aber es gibt warmes Wasser, Seife und saubere Handtücher. Luxuriös genug, wenn man schon mal mit weniger leben musste, und dafür hat Gladio mit seinem Campingwahn zur Genüge gesorgt. Ohne Ignis hätten wir vermutlich sogar auf Klopapier verzichten müssen… ich bin keine Topfpflanze, aber so abgehärtet bin ich dann auch wieder nicht. Ich lasse mir Zeit, mich gründlich zu waschen, genieße einfach die Privatsphäre und das warme Wasser auf meiner Haut, bis die Luft vom heißen Dampf erfüllt ist. Auch das Abtrocknen geht ohne Eile. Als ich schließlich in meinen weichen Bademantel gewickelt zurück ins Zimmer gehe, ist Ignis in seinem Sessel beinahe eingeschlafen. Ich rolle die Augen und stupse ihn wach. „Hey“, raune ich ihm zu, „Dir ist schon klar, dass das Bett frei ist, während ich im Bad bin?“ Ignis blinzelt mich verwirrt an und wirft beinahe seine Brille herunter, als er sich die Augen reibt. „Tut mir Leid… ich sollte nicht schlafen.“ „Doch solltest du. Sieh mich an, Ignis.“ Ignis hebt den Kopf und versucht es. Seine Augen sind unfokussiert, unter ihnen zeichnen sich tiefschwarze Ringe ab. Sein Gesicht wirkt blass und eingefallen… Kein Wunder. Wir sind fast eine Woche hier, und Ignis hat wenn überhaupt nur in diesem Sessel geschlafen, immer bereit, aufzuspringen, wenn die Tür aufgeht und sein Klimperseil zu Boden fällt. Während sich mein Zustand langsam gebessert hat, geht es Gladio immer schlechter. Er kämpft mit hohem Fieber, schmerzenden Armen und schlimmen Träumen, wacht immer öfter schreiend auf und redet wirres Zeug. Arc bemüht sich um ein wirksames Gegengift, hatte aber bisher leider wenig Erfolg. Ignis pflegt uns beide, ohne Rücksicht auf sich selbst. „Leg dich hin“, befehle ich. Bevor er widersprechen kann füge ich hinzu: „Ich hab in den letzten Monaten wirklich genug gelegen, ich will jetzt eine Weile sitzen. Etwas lesen, mein Handy prüfen, sowas halt. Ich wecke dich, wenn ich mich wieder hinlegen will.“ Ignis sitzt still da und blickt mich lange an, dann nickt er. Widerwillig steht er auf, seufzt tief und zieht sich seinen Schlafanzug über, bevor er in mein Bett kriecht. Ich folge ihm, stelle sicher, dass er gut zugedeckt ist und erinnere ihn noch einmal daran, dass er unbesorgt schlafen kann. Es dauert nicht lange und seine Atmung geht ruhig und gleichmäßig, den Schlaf hat er dringend gebraucht. Ich dagegen fühle mich fit. Ich strecke mich ausgiebig, werfe den Bademantel über den Sessel, auf dem Ignis die ganze letzte Woche verbracht hat und suche mir anständige Kleidung aus meiner Tasche zusammen. Bequeme Jeans, ein Shirt, den warmen Behemothpulli, den Nora mir geschenkt hat, als sie von einer langen Wachtour zurückkam um nach ihrem Freund Sanni zu sehen. Sie und vor allem Callus waren mächtig erstaunt, als sie ihren Findling in der Uniform gesehen haben… Prompto Argentum war den beiden natürlich schon ein Begriff, aber den Zusammenhang hätten sie nicht erkannt, als sie ihn im Straßengraben aufgelesen haben, abgemagert und verwahrlost wie er war. Ich habe ihn ja selbst nicht erkannt damals… auch wenn mir mehr die Angst im Weg stand als alles andere. Jetzt, wo ich so viele der anderen Klone kennen gelernt habe kommt es mir fast lächerlich vor. Natürlich würde ich Prompto immer erkennen. So ähnlich sehen ihm die anderen nicht… wäre Sanni jemand anderes als Prompto gewesen, hätte ich es gewusst. Aber so hatte ich einfach Angst, mich zu irren. Weil ich nicht wollte, dass er jemand anderes ist. Ich seufze. Ein einziges Mal war Prompto in dieser Woche hier, und es ging ihm furchtbar. Ich konnte nicht mehr für ihn tun als ihn schützend im Arm zu halten, während er schläft. Habe ihm durch die Haare gestreichelt und ihn beruhigt, wenn er schlecht geträumt hat. Er hatte hohes Fieber… Letztendlich hat Ignis den ‚verlorenen Jungs‘, wie Nemo seine Truppe nennt, Bescheid gegeben, dass sie Prompto hier abholen können. Sie sind mit einer Trage gekommen und haben ihn einfach mitgenommen. Ich musste es zulassen… konnte nichts weiter tun als darauf hinzuweisen, dass Prompto Medikamente für seine Psyche braucht und wo diese liegen. Ignis war nicht überrascht, wusste sogar, wo die Tabletten sind. Hoffentlich geht es Prompto gut… er hat eine größere Dosis Gift abbekommen als Gladio und weniger Gewicht, auf das sie sich verteilt. Er ist nicht von uns getrennt, weil Nemo das unbedingt so will, sondern, weil er spezielle Überwachung braucht, weil alle zwei Stunden jemandem nach ihm sieht, um eventuell eine Sauerstoffmaske anzulegen oder Adrenalin zu spritzen, vielleicht nochmal ein Gegengift oder einen Blocker zu versuchen. Mich hätte der Trubel zu sehr gestört. Ich brauchte Ruhe. Auch jetzt fühle ich mich noch etwas träge, aber es ist besser, erst mal ein wenig zu sitzen. Besser für meine Psyche, jedenfalls… endlich trage ich wieder normale Kleidung statt dem Schlafanzug, sitze in einem Stuhl und habe Zeit und Muße, mal durch die Mails in meinem Handy zu gehen. Die meisten sind Genesungswünsche auf meiner privaten Emailadresse. Ich schreibe allen zurück, bedanke mich für die lieben Worte und versichere, dass es mir wieder gut geht und dass ich in Sicherheit bin, gebe aber keine Details mit. Nur Cidneys Mail lässt mich aufhorchen. Sie macht sich Sorgen um Prompto, weil sie ihn so gar nicht erreichen kann und Ignis, der einzige der antwortet, sie nur vertröstet. Ich werfe einen Blick in Promptos Tasche und finde sein Handy sofort. Dreihundertachtundsechzig verpasste Anrufe… sieht wichtig aus. Ich schalte das Handy ganz ab, werfe einen prüfenden Blick auf Ignis, der leise zu schnarchen begonnen hat und tippe Cidneys Nummer in mein eigenes Handy. Während das Gerät wählt greife ich in meine eigene Sporttasche und suche mein Portmonee heraus. Die alte Zugangskarte aus der Zegnautusfestung liegt noch darin, der Barcode, der darauf aufgedruckt ist, ist derselbe, der auch Promptos Handgelenk ziert. Gut gespielt, Ardyn… ich hasse seinen perversen Humor. Aber die Karte nehme ich dennoch gerne. Vorsichtig löse ich das klimpernde Seil von der Tür und klebe es stattdessen am Rahmen fest, damit ich die Tür fast lautlos öffnen und hinter mir wieder schließen kann, ohne die Alarmanlage ganz außer Kraft zu setzen. Der Gang ist leer, das Licht gedimmt, vielleicht ist es Nacht. Das erklärt auch, warum Cidney so lange braucht, an ihr Handy zu gehen. „Wer stört?“, meldet sie sich mit verschlafener Stimme, als die Tür sich gerade geschlossen hat. „Ich bin’s“, antworte ich leger und suche mir eine Nische im Gang, in die ich mich wegdrücken kann. Ich will Ignis und Gladio nicht wecken, aber ganz wohl fühle ich mich hier draußen noch nicht. „Du hast ein paar Mal versucht, Prompto zu erreichen.“ „Ja hab ich, was ist mit ihm?“, Cidney wirkt sofort wacher, direkt aufgeregt. Im Hintergrund beginnt ein Baby zu schreien. „Oh nein, bitte, nicht weinen…“ „Er kann im Moment nicht an sein Handy“, weiche ich aus, „worum ging es denn?“ Cidney antwortet nicht sofort. Ihre Stimme klingt etwas entfernt, ich kann beruhigende Worte hören, der Ton wirkt fast flehentlich. Vermutlich hat sie das Handy aufs Bett geworfen, um das Baby zu beruhigen. „Tut mir Leid, er schläft schon die ganze Nacht so schlecht…“, meldet sie sich wieder, als das Schreien verstummt, „braucht alle paar Stunden die Brust.“ „Das Baby ist also schon da?“, vermute ich. „Ja, hat Prompto das noch nicht erwähnt? Ihm hab ich’s schon gesagt. Wollte eigentlich nochmal anrufen, weil jetzt die Testergebnisse da sind, aber er geht nicht ran. Erst dachte ich, er hat einfach nur Angst…“ „Er ist der Vater, nehme ich an?“ „Ja, ist er. Kein Zweifel möglich. Ich hatte gehofft, er freut sich vielleicht. Er hat sich so gekümmert, so oft mit mir telefoniert…“ Prompto hatte mir anvertraut, wie viel Angst er vor diesem Ergebnis hat. Er wollte nicht sagen, warum, aber ich denke, ich weiß es ohnehin. Ihn belasten die Sache mit Besithia und sein eigenes mangelndes Selbstwertgefühl. Dabei haben viele der Klone schon eigene Kinder. Und das Prompto Besithia, seinen eigenen Erzeuger, umgebracht hat, kann ihm keiner vorwerfen. Das war kein Vatermord, das war einfach nur notwendig. Und mutig. „Es geht im momentan nicht so gut“, erkläre ich Cidney, „er hat ein wenig Fieber und muss das Bett hüten, deswegen hat Ignis ihm das Telefon abgenommen. Aber er freut sich sicher, wenn er hört, dass es sein Kind ist. Brauchst du etwas von ihm wegen der Alimente? Prompto ist Mitglied der Königsgarde, wenn du den Vaterschaftstest bei Cor vorlegst leitet er alles in die Wege, damit du das Geld bekommst, das dir als Mutter seines Kindes zusteht. Ein Junge, wenn ich vorhin richtig gehört habe?“ „Danke. Und ja, ja, es ist ein Junge. Ich hab ihn Cid genannt, nach meinem Großvater. Kitschig, oder? Aber es passt… er ist jetzt schon genauso stur.“ Ich muss lachen, ja, das passt. „Ist doch kein schlechter Charakterzug für einen jungen Mann. Kümmere dich gut um ihn… und sprich mit Cor. Du bekommst alle Hilfe, die du brauchst, ja? Prompto ist einer von uns, und auch so gehörst du schon fast zur Familie, Cidney. Wir sind für dich da.“ „Danke Noct“, Cidneys Stimme klingt belegt, sicher kämpft sie gegen die Tränen, „Bring du mir nur Prompto heil zurück, ja? Und sag ihm, dass ich ihn liebe und… und dass er einen süßen Sohn hat. Cid ist ein kräftiger Junge, und total niedlich, wenn er gerade nicht schreit.“ „Kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich sag es Prompto, er freut sich bestimmt, dass es euch gut geht. Alles Gute Cidney, wir kommen sobald es geht vorbei.“ „Bis dann.“ „Bis bald.“ Ich lege auf und atme tief durch. Cid also… irgendwie freut es mich, dass Prompto jetzt auch Vater ist. Ich frage mich, wie er es aufnehmen wird. Aber wenn es ihm gut geht, will ich es ihm unbedingt sagen. Nachdenklich drehe ich die Schlüsselkarte in meiner Hand. Im Grunde steht mein Entschluss ohnehin fest. Ich will Prompto sehen, mich überzeugen, dass er noch lebt und dass es ihm, hoffentlich, ein wenig besser geht. Ignis wird hoffentlich so lange schlafen dass er meine Abwesenheit gar nicht bemerkt. Wenn ich nur wüsste, wo genau Prompto ist… aber ich habe ihn schon in gefährlicherem Terrain gefunden. Also erst mal überlegen. Prompto war schon einmal hier, und er ist Nemo wichtig. In die Wand mir gegenüber ist ein großer Bildschirm eingelassen, sicher ein Terminal wie das, was in unserem Zimmer über dem Tisch hängt. Ich tippe darauf, um es zu aktivieren, und rufe eine Karte des Schiffes auf. Prompto hat sicher ein Einzelzimmer, vielleicht in der Nähe der Kapitänsunterkunft. Genau lässt es sich aber ohne zusätzliche Informationen schwer sagen. Einer Eingebung folgend lese ich die Karte ein. Zugangslevel 6, nicht genug für alles, aber ausreichend, um ein paar mehr Informationen zu bekommen. Jetzt sind die Zimmer beschriftet. Das unsere ist ein Gästeraum, die meisten der anderen tragen MI Nummern, die durch Namen ergänzt sind, in den größeren Teilweise mit dem Zusatz +Freund oder +Familie. Ich tippe Promptos Nummer ins Suchfeld und bekomme sofort den Raum angezeigt. Natürlich liegt der ganz am anderen Ende des Schiffes. Ich fühle mich seltsam dabei, einfach so durch das Schiff zu laufen. Mit meinen schwarzen Haaren komme ich mir hier fremd vor… trotzdem werde ich freundlich gegrüßt, wenn mir mal jemand entgegen kommt, und niemand scheint sich groß über mich zu wundern. Sicher gehen die Jungs davon aus, dass ich einfach nur jemandes Freund oder Ziehvater bin. Ganz falsch liegen sie nicht. Ich bin auch bei weitem nicht der einzige hier, der eine Schlüsselkarte für die Türen nutzt, und sogar einige der Klone haben gefärbte Haare, vielleicht, um ein wenig aus der Reihe zu tanzen, nicht so wie die anderen zu sein. Prompto ist sicher nicht der Einzige, den diese Sache belastet… „Hallo Opa“, ruft eine dünne Stimme, und ich halte an, damit der Junge mich einholen kann. Er ist etwa neun oder zehn Jahre alt, mit braunen, welligen Haaren und großen blauen Augen. „Kannst du mir helfen? Meine Schlüsselkarte ist kaputt und Papa schimpft wenn er merkt, dass wir uns rausgeschlichen haben…“ Ein kleines, brünettes Mädchen schleicht hinter ihm her. Auch sie hat helle Augen und blickt mich schüchtern an. Ich ignoriere die Beleidigung über mein Alter und beuge mich zu den Kindern runter. „Ich kann euch gern helfen“, verspreche ich, „Wie heißt ihr beide denn?“ „Ich bin Denzel, das ist meine Schwester Marlene“, stellt der Junge sich vor. „Wisst ihr, in welches Zimmer ihr müsst?“ Nein, wissen sie nicht. Und da liegt auch das Problem; Denzels Schlüsselkarte ist nicht defekt, sie hat nur keine Zugangsberechtigung für den Teil des Schiffes, in dem wir gerade sind. Anscheinend sind die Kinder durch eine Tür geschlüpft, die sie jetzt nicht mehr aufbekommen. „Weißt du denn, welche Nummer dein Vater hat?“, frage ich und führe die Kids zu einem Terminal. Denzel schüttelt den Kopf. „Und seinen Namen?“ „Cloud.“ „Okay, vielleicht finde ich ihn so…“ Der Computer ist tatsächlich so freundlich, auch eine Suche nach dem Namen zu erlauben, und ich kann die Kinder zurückführen. Es ist ein ganzes Stück, während dem mich Marlene fleißig zutextet. „Eigentlich ist Cloud gar nicht unser Papa“, erklärt sie mir munter, „Er hat uns nur aufgenommen. Mein echter Papa arbeitet total viel und Denzels Eltern sind gestorben. Cloud und Tifa kümmern sich um uns.“ „Aha“, antworte ich, in Gedanken immer noch bei Prompto. „Cloud ist total in Tifa verliebt und will sie heiraten, aber er traut sich nicht. Tifa weiß auch, dass er sie gern hat und liebt ihn auch, aber sie sagt auch nichts. Sind alle Erwachsenen so dumm?“ „Ja, denke schon. Ist kompliziert.“ „Ist es gar nicht. Cloud liebt Tifa, Tifa liebt Cloud, einfacher geht es doch nicht, oder? Ich will, dass die beiden heiraten und eigene Kinder bekommen. Dann haben wir eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder, stimmt‘s, Denzel?“ Denzel brummt zustimmend, er scheint ebenso wenig zuzuhören wie ich. Wir haben das Zimmer fast erreicht, ohne Aufsehen zu erregen, da stellt sich uns plötzlich doch ein Soldat in den Weg. Er ist etwas breiter gebaut als Prompto, aber nicht viel. Blonde Haare, fast dieselbe Frisur, aber weniger Sommersprossen. Sein Blick ist eindeutig nicht auf mich, sondern auf die Kinder gerichtet, die hinter mir in Deckung gehen. Denzel schluckt hörbar, Marlene kichert nervös. Einen Moment bin ich mir fast sicher, dass es jetzt Ärger gibt, aber Cloud seufzt nur tief. „Sie sind der König, oder? Danke für’s Babysitten, ich werde dem Kleinen die Schlüsselkarte wohl erst mal wegnehmen müssen.“ „Gern geschehen“, entgegne ich und gebe Cloud die Hand, „Und seien Sie nicht zu hart mit den Kindern, wir waren alle mal jung und abenteuerlustig.“ Cloud lacht, offensichtlich verstehen wir uns. „Hier drin kann zumindest nicht viel passieren“, lenkt er ein, scheucht die Kinder aber trotzdem gnadenlos ins Zimmer zurück. Denzel sieht mich noch einmal an, er scheint etwas sagen zu wollen. Cloud blickt eher fragend als streng, aber Denzel überlegt es sich trotzdem anders und verschwindet aus meinem Blickfeld. „Prompto ist gleich hier den Gang runter“, informiert mich Cloud, „Ich nehme an, er ist es, den Ihr sucht?“ „Natürlich. Ich will keinen Ärger, ich mache mir nur Sorgen um meinen Freund.“ „Verstehe ich vollkommen. Alles Gute.“ „Danke.“ Cloud verschwindet in seinem Zimmer. Durch die geschlossene Tür kann ich eine Frau schimpfen hören, ihre Stimme ist kräftig und sehr bestimmt. Trotzdem fühle ich mich mehr an Ignis erinnert als an mein Kindermädchen. Eher die besorgte Mutter als die strenge Erzieherin… trotzdem würde ich mit den Kindern nicht tauschen wollen. Promptos Zimmer ist nicht mehr weit weg, und schon vom Gang aus kann ich ihn schreien hören. Die Tür öffnet sich auf den ersten Versuch und ich trete eilig an das einzige Bett. Prompto ist allein, er kämpft nur gegen seine Träume. Wie Gladio hat er hohes Fieber, aber bei ihm sieht es schlimmer aus. Eine Infusion hängt an seinem Arm, gerade noch so, weil er beständig danach schlägt, als wollte er sich aus dem Griff eines Feindes befreien. Um seinen Hals hängt ein Gummiband, an dem eine Atemmaske befestigt ist, die wohl frischen Sauerstoff in sein Gesicht blasen würde, wenn sie nicht verrutscht wäre. Prompto zappelt vergeblich, zu schwach sich zu bewegen und doch gefangen in einem Traum, in dem er kämpfen oder fliehen muss. Entschlossen fasse ich nach seinen Schultern. „Prompto!“ Promptos Augen fliegen auf. Er sieht mich entsetzt an, aber seine Pupillen sind unfokussiert, als könnte er mich gar nicht richtig sehen. „Tut mir Leid“, wimmert er, „Es tut mir so Leid…“ „Ist schon gut“, beruhige ich ihn und drücke ihn sachte auf die Matratze zurück, „Nicht deine Schuld.“ Ich habe keine Ahnung, wovon er eigentlich redet, aber Prompto reagiert auf meine Worte, scheint sich zu entspannen. Seine nackte Haut fühlt sich brennend heiß an unter meinen Fingern, trotzdem zittert er, als wäre ihm kalt. „Ich wollte das nicht“, wimmert er, die weit aufgerissenen Augen noch immer auf mich gerichtet. „Weiß ich doch“, erwidere ich ruhig, „es ist alles gut, Prompto. Ich hab dich gern.“ Ich löse meine Hände von Promptos Schultern, streichle sein Gesicht und fasse seine Hand. Die Infusionsnadel hat sich nur fast aus dem Arm gelöst, ich kann sie ganz einfach wieder zurück in den Zugang schieben. Ich weiß nicht genau, was in dem Beutel ist, aber ich vermute, dass es dieselbe Lösung ist, die Arc Gladio einmal am Tag verabreicht, damit er nicht austrocknet. „Noct…“ „Ich bin hier, Prompto. Es ist alles gut.“ Beruhigend streichle ich Promptos Hand, wische ein paar Strähnen aus seinem Gesicht. Promptos Haare sind ganz nass vor Schweiß, sein Gesicht ist gerötet, die Augen sind blutunterlaufen und verquollen. Er sieht furchtbar aus. „Alles gut“, wiederhole ich, „Ich bin jetzt bei dir.“ Ich fische die Atemmaske unter seinem Hals hervor und lege sie ihm wieder vors Gesicht. Promptos Atmung ist schwach und unregelmäßig, aber langsam scheint er sich etwas zu entspannen. Ich halte weiter seine Hand und summe ein Schlaflied. Prompto schließt langsam die Augen, seine Atmung wird ruhiger. „Schlaf, kleiner Mogry, mach das Licht nicht aus. Bevor die Siecher kommen, sind wir schon zu Haus. Schlaf, kleiner Chocobo, roll dich nur fest ein. Am Morgen kommt die Sonne, lass nur ihr Licht herein. Schlaf, kleiner Kaktor, sei ganz wohlgemut. Wenn die Sonne aufgeht, geht’s dir wieder gut. Wenn die Sonne aufgeht, geht’s dir wieder gut…“ Die Tür gleitet hinter mir wieder auf, kaum, dass Prompto eingeschlafen ist. Nemo steht darin, sein vernarbtes Gesicht ist grimmig. Sein gesundes Auge wandert von mir zu Prompto und wieder zurück, aber ich lasse mich nicht beirren, halte weiter die Hand meines Freundes, bis er endlich friedlich schläft. Nemo schweigt, bedeutet mir aber mit einem Nicken, mir auf den Gang zu folgen. Ich stelle sicher, dass Prompto schläft, streichle noch einmal sein Gesicht und folge Nemo auf den Gang. Die Tür schließt sich mit einem leisen Surren. „Er muss in ein Krankenhaus“, sage ich, bevor Nemo auch nur den Mund aufmachen kann, „Ich weiß, ich kann euch nichts befehlen, aber ich bitte dich, bringt uns zurück nach Insomnia.“ „Das geht nicht.“ „Prompto stirbt da drin!“ „Darum geht es nicht! Insomnia ist nicht mehr deine Stadt, hast du überhaupt etwas mitbekommen? Da draußen herrscht Krieg!“ Ich blicke Nemo geschockt an, damit habe ich nicht gerechnet. „Was ist passiert?“ Nemo antwortet nicht, winkt mir nur, ihm zu folgen. „Wir landen in einer Stunde in Gralea“, informiert er mich, als wir einen breiten Gang entlang laufen. Es fällt mir schwer, mit seinen schnellen Schritten mitzuhalten, so lange wie jetzt war ich seit Monaten nicht mehr auf den Füßen und meine Kraft lässt langsam nach. Trotzdem bemühe ich mich, stolz und aufrecht zu wirken, will mir meine Schwäche nicht anmerken lassen. „Wir sind in Niflheim?“, frage ich außer Atem. Wir biegen in einen weiteren Gang ein und Nemo hält vor einer Tür, die er mit dem Code auf seinem Arm entriegelt. „Hier ist es sicherer“, brummt er, „Hier gibt es auch ein großes Krankenhaus, in das wir Prompto und Gladiolus verlegen werden, sowie wir gelandet sind. Außerdem steht ein Treffen mit dem Kaiser an.“ Die Tür gleitet auf und gibt den Blick frei auf einen großen Aufenthaltsraum. Einige Sessel und Tische stehen herum, aber ich sehe sie kaum, zu sehr fesselt mich der Anblick des Kristalls, der in seiner Mitte aufgestellt ist. Ein schwaches Leuchten geht von ihm aus, als ich näher trete, höre ich eine schwache Stimme nach mir rufen. „Ifrit…“, grüße ich und sinke vor dem Kristall auf die Knie. Die Stimme des Gottes wird kräftiger und hallt in meinem Kopf, dass es mir beinahe den Schädel spaltet, aber ich halte stand. Inzwischen bin ich es fast gewohnt. Die Sprache ist mir nach wie vor fremd, doch heute verstehe ich die Botschaft, die der wiederauferstandene Gott des Feuers mir mitzuteilen hat. „Ich weiß“, murmle ich, richte mich wieder auf und lege meine Hand auf die warme Oberfläche des Kristalls, „Ich tue, was ich kann.“ „Denzel hat den Kristall in einer alten solheimer Ruine gefunden“, erklärt Nemo, „Er wollte, dass wir ihn mitnehmen und beschützen. Der Gott sei misstrauisch, sagte er.“ „Das ist wahr“, gebe ich zurück, „Ifrit ist viel Schlimmes von den Menschen angetan worden, er ist vorsichtig. Aber der Kristall muss nach Gralea, wo er hingehört. Kain weiß, was er zu tun hat… und er muss Denzel treffen. Aber erzähl mir erst mal, was in Insomnia passiert ist. Was meintest du damit, es sei nicht mehr meine Stadt?“ „Setz dich.“ Nemo weist mich in einen der weichen Sessel und setzt sich mir gegenüber, auf dem Tisch zwischen uns stehen Kaffee und Gebäck. Nemo lässt sich viel Zeit, den Kaffee auszuschenken und mit Milch und Zucker zu verfeinern, reicht mir eine der Tassen und nimmt einen großen Schluck aus der anderen, bevor er endlich zu sprechen beginnt: „Die Nachricht von eurer Krankheit hat Lucis erschüttert, aber noch nicht gestürzt, eine Weile lief die Politik normal weiter. Soweit meine Informanten mich korrekt auf dem Laufenden gehalten haben, hat Cor Leonis als leitender General die Führung übernommen, während Monica Elshett sich um die Öffentlichkeitsarbeit gekümmert hat. Lief ziemlich gut, besonders, als Königin Lunafreya in die Stadt zurückgekommen ist.“ Die Kaffeetasse zittert in meinen Händen, ich nehme vorsichtig einen Schluck, um mir den Mangel an Kraft nicht zu sehr anmerken zu lassen. Nemo macht eine lange Pause, trinkt seinerseits einen großen Schluck und schwenkt den verbleibenden Kaffee in der Tasse herum. Er wirkt nachdenklich. „Eine schöne Rede hat sie gehalten, deine Königin, hatte das Volk gut bei sich, hat allen Hoffnung gemacht, dass du wieder gesund wirst und für den neuen König alles gut vorbereitet hast. Aber dann kams… dann ist Rashin auf die Bühne getreten und hat ihr Lügen vorgeworfen. Gesagt, dass ihr beide nur aus Machtgier den Thron eingenommen hättet, dass der neue König längst da sei. Hat behauptet, sein Sohn sei dieser König, und verlangt, dass Lunafreya ihm den Ring der Lucii aushändigt.“ Mir wird übel und ich muss schnell die Tasse absetzen, damit sie mir nicht aus der Hand fällt. „Nein…“ Der Ring darf nicht in falsche Hände geraten. Wenn Rashin verlangt, sein Sohn sollte ihn anlegen… das Kind würde sterben! „Lunafreya hat sich geweigert und Rashin hat seine Polizeimiliz auf den Plan gerufen. Sein kleiner Sohn hat eine beeindruckende Show geliefert da oben, war selbst wohl überzeugt von seiner Königlichkeit und hat den Ring von ihr verlangt.“ „Vor aller Augen, nehme ich an? Was für ein Schachzug…“ „Wie meinst du das?“ „Der Ring der Lucii ist ein mächtiges Artefakt. Er kann nur von denen getragen werden, die würdig sind, es gab in der ganzen Geschichte nur zwei Männer, die seine Macht nutzen durften, ohne in direkter Linie von Somnus Lucis Caelum abzustammen – und beide mussten schwere Opfer bringen. Nur ich und der echte König dürfen den Ring anlegen, jeder andere würde qualvoll verbrennen, so er ihn nicht schnell genug ablegt. Luna hatte nur zwei Möglichkeiten… entweder, sie weigert sich, den Ring herauszurücken und bestätigt damit Rashins Lügen, oder sie gibt den Ring heraus und lässt vor versammeltem Publikum zu, dass ein unschuldiges Kind qualvoll zu Tode kommt. Beides lässt sie wie ein Monster aussehen.“ „Sie hat sich erst geweigert“, berichtet Nemo still, den Blick tief in seine Tasse gerichtet, „Aber als die Leute sie ausgebuht haben, hat sie ihn doch herausgerückt. Ihre warnenden Worte haben sie vermutlich vor den Leuten rehabilitiert, und die Kameras haben abgeschaltet, als der Junge zu schreien begonnen hat…“ Ich wende betroffen den Blick ab, aber Nemo ist noch nicht fertig: „Aber der Junge ist nicht tot. Rashin hat ihn am nächsten Tag wieder vor die Leute gestellt, als König gekleidet und anscheinend unversehrt.“ „Was?“, ich blicke Nemo direkt an, suche eine Antwort in seinem entstellten Gesicht. Aber er hat keine… kann es sich ebenso wenig erklären, wie ich. „Rashin behauptet, du hättest den Ring verflucht, dass du dich weigerst, deine Kräfte dem neuen König zur Verfügung zu stellen und ihn statt dessen töten wolltest, um selbst an der Macht zu bleiben. Die Menschen sind in Aufruhr… viele halten dir und Lunafreya die Treue, aber die meisten fügen sich, rebellisch, aber stillschweigend, König Nova und seinem Vater.“ „Was ist mit Luna und den anderen?“, frage ich heiser. „Lunafreya und ihre Eskorte wurden des Hochverrats bezichtigt und weggesperrt. Rashin will sie wohl hinrichten lassen, aber das kann er in der momentanen Stimmung nicht riskieren. Er würde sich sein eigenes Volk und den Rest der Welt mit einem Schlag zum Feind machen… deswegen sind die Königin und ihre Leibwache wohl erst mal sicher.“ „Die Kinder auch?“ „Welche Kinder?“ „Ein Junge und ein Mädchen. Acht und sechs Jahre alt. Sie waren mit Luna unterwegs…“ Nemo legt die Stirn in Falten, scheint angestrengt nachzudenken. „Da waren keine Kinder. Ich vermute, Lunafreya hat etwas vorausgeahnt und sie in Sicherheit gebracht.“ Ich senke den Blick und sehe in die schwarzen Tiefen des Kaffees in meiner Tasse. Nyx und Crowe sind bestimmt bei ihren Müttern in Sicherheit, vermutlich bringt sie niemand mit Lunafreya in Verbindung. Sie wird klug genug gewesen sein, nur Iris und Talcott mitzunehmen, als sie vor die Leute getreten ist, um ihre Ansprache zu halten. Wie ich weiß Luna genau, wie wertvoll Nyx für die Zukunft ist, und wie wichtig es ist, ihn zu schützen, bis er bereit ist. Meine Augen wandern zu dem Kristall, der still in der Mitte des Raumes glimmt. Ifrit war es, der damals die Dunkelheit über Solheim gebracht hat. Er ist wiedergeboren, gereinigt von aller Schuld. Aber auch die Dunkelheit ist zurück… und langsam ahne ich, wer sie über die Welt gebracht hat. Der restliche Kaffee zittert in meiner Tasse, als das Schiff zur Landung ansetzt. Auf dem großen Bildschirm über der Tür kann ich beobachten, wie zwei Lastwägen sich mit blinkendem Licht der Nautilus nähern, in ihren Eingang fahren und dort Tragen ausladen. Krankenwägen… sie sehen anders aus als zu Hause in Insomnia, aber es ist dennoch leicht, ihren Zweck zu erkennen. Manches ist doch überall gleich. Nemo führt mich zurück zu unserem Gästeraum. Langsam kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten, aber der Kaffee hilft mir, mich zusammenzureißen. Ich schaffe es, die Tür zu öffnen ohne den Alarm loszutreten, aber Ignis ist trotzdem schon wach und völlig aufgelöst vor Sorge. „Du kannst doch nicht einfach so verschwinden“, schimpft er und zieht mich in seine Arme, „was glaubst du denn, wie ich mich fühle, wenn ich aufwache und du bist einfach weg!“ Ich kann spüren, wie er zittert und lehne mich an seine Brust. Es tut gut, so gehalten zu werden und am liebsten würde ich mich einfach fallen lassen, aber auch Ignis gegenüber muss ich jetzt stark sein. Ich will seine Angst nicht bestätigen. „Tut mir Leid“, entschuldige ich mich, „Ich wollte nicht so lange weg bleiben.“ Ignis streichelt nervös meine Haare, setzt mich in einen der Sessel und tastet mein Gesicht ab, als suchte er nach Zeichen von Krankheit oder Verletzungen. „Ich hatte gehofft, du schläfst vielleicht etwas länger. Mir geht es gut.“ Ignis wirkt nicht überzeugt, lässt aber lange genug von mir ab, dass ich einen Moment lang erschöpft die Augen schließen kann. Ein Team Sanitäter kommt in den Raum und lädt Gladio ein. Er hat von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen… sein Zustand muss sich arg verschlechtert haben, wenn nicht mal Ignis‘ Panik ihn geweckt hat. Dessen Hände zittern auf meinen Schultern und wir sehen beide hilflos zu, wie drei kräftige Krankenpfleger zusammenarbeiten müssen, unseren schweren Freund vom Bett auf die Trage zu wuchten. Ein Arzt nimmt ihn in Augenschein, misst Werte und bellt Anweisungen. Irgendwer drückt Gladio eine Atemmaske aufs Gesicht, wie sie auch Prompto hatte, dann schieben sie ihn eilig raus. „Wie sieht es bei Ihnen aus?“, fragt ein Mann, der zurückgeblieben ist. Er hat ein Stethoskop um die Schultern hängen und mustert uns scharf. „Nur müde“, gebe ich zurück, „Aber nehmen sie uns ruhig mit, wir würden eh gern bei unseren Freunden bleiben.“ Der Mann nickt nur, misst meinen Puls und meine Temperatur, wiederholt dann das ganze bei Ignis. Die Zahlen, die er murmelt, sagen mir nichts, aber wir dürfen ihm immerhin aufrecht folgen und vorne im Krankenwagen mitfahren. Mir fallen beinahe die Augen zu, aber ich schaffe es, wach zu bleiben, bis ich sicher angeschnallt bin. Der Beifahrersitz des niflheimer Krankenwagens ist nicht so bequem wie der Rücksitz des Regalias, aber ich kann zum Glück überall schlafen, wenn ich müde bin. Kapitel 36: Aus der Asche (Prompto Argentum) -------------------------------------------- Als Kind habe ich immer gedacht, dass ich es nicht verdient hätte, glücklich zu sein. Ich war nur adoptiert, hatte keine echten Eltern, und ich wusste, dass ich einer von denen bin. Den anderen, den Bösen. Einer aus Niflheim, ein Feind von Lucis. Meine Eltern haben sich sehr bemüht, mir beizubringen, dass ich trotzdem ein guter Junge bin. Dass es mir in Insomnia gut gehen würde, dass man mich von dort gerettet hat. Wenn ich den Barcode auf meinem Arm nicht sehen musste, konnte ich manchmal fast glauben, dass ich jetzt einer von den Guten war. Als ich fünf Jahre alt war habe ich den Schürhaken aus unserem Kamin genommen um mir den Code aus der Haut zu brennen. Ich war gerade erst in die Schule gekommen, habe zum ersten Mal wirklich live gehört, was die anderen Kinder über uns Niffen denken. Was wir für Monster sind. Dass wir andere Menschen essen. Ich wollte keiner von denen sein, und ich wusste, dass ich den Code dazu loswerden müsste. Eine dumme Idee, aber die Ärzte haben mich wieder gut hinbekommen. Kaum Narben an meinem Arm, aber den blöden Code konnten weder das Feuer noch die Ärzte löschen. Dafür hat mein Vater den Kamin ausbauen lassen und gegen einen elektrischen ersetzt. Er und Mama waren eine Weile öfter zu Hause nach der Schule, aber bald haben sie wieder voll arbeiten müssen und ich musste zurück in den Unterricht. Gestärkt durch psychologischen Rat, aber immer noch einsam und ängstlich. Ich dachte damals, ich wäre das einsamste Kind auf der Welt. Bis ich ihn gesehen habe: Noctis Lucis Caelum, Kronprinz von Insomnia, der ganze Stolz des Reiches. Wir waren nicht in derselben Klasse, aber ich habe ihn oft auf dem Gang bemerkt, immer umringt von anderen Kindern, immer gelöchert von Fragen. Wie viele Diener habt ihr, wie viele Köche, wie viele Hektar Garten? Aber da war keiner, der die richtigen Fragen stellt. Wie geht es dir? Wollen wir Freunde sein? Magst du auch Hunde? Oder Chocobos? Ich hätte ihn das alles gern gefragt, aber ich war niemand, der sich das trauen durfte. Bis ich Pyrna kennen gelernt habe… bis Lunafreya mich um Hilfe für Noctis gebeten hat. Mein erster Versuch ihn anzusprechen war mehr als peinlich. Ich war dick und unsportlich, zu fett und zu langsam, als das ich mit ihm hätte mithalten können. Aber ab diesem Tag wusste ich, dass ich mich ändern musste. Ich wollte jemand sein, der es Wert ist, Noctis‘ Freund zu sein. Jemand, der mit ihm mithalten kann, wenn er läuft oder springt, jemand, auf den er nicht ständig warten oder Rücksicht nehmen muss. Also hab ich trainiert. Bin jeden Tag Laufen gegangen, habe meine Ernährung umgestellt, versucht, offener und cooler zu werden. Bis ich gut genug war, um es nochmal zu versuchen. Aber als ich mich dann vorgestellt habe hat Noct nur gelacht und gemeint, wir wären doch längt Freunde. Und so hat er mich auch behandelt; als würde er mich schon ewig kennen. Seit dem ersten Tag der Highschool waren wir ständig zusammen. Sind in die Spielhalle oder ins Einkaufszentrum gegangen, irgendwann hat Noct mich sogar in seine Reitschule mitgenommen, um mir die Chocobos zu zeigen. Ist mit mir nach Hause gekommen, hat mir Ignis und Gladio vorgestellt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Ich habe dazu gehört, war jemand, mit dem man sich gerne trifft und der etwas wert ist. Den Code auf meinem Arm konnte ich teilweise über Monate komplett vergessen. Aber ich wusste, dass die Highschool nicht ewig geht, dass Noct irgendwann in die Zitadelle zurückkehren würde, wo er für einen einfachen Bürger wie mich unerreichbar ist. Also hab ich mich bei der Garde beworben, um mich hochzuarbeiten. Ich dachte, wenn ich mich nur genug anstrenge, könnte ich durch die Ränge aufsteigen, bis ich es Wert bin, auch einem König zur Seite zu stehen. Aber eigentlich ging es in meinem Training nur darum, mich irgendwie fit zu kriegen, damit ich nicht im Weg stehe. Dass Noct mich mit auf seine Reise nehmen würde stand vorher schon fest, Cor musste nur dafür sorgen, dass er damit keinen Fehler macht. Das Training war hart, aber es hat mir auch das Gefühl gegeben, dass ich für meine Freunde kämpfen kann, und wenn es nur ist, dass ich ihnen nicht im Weg bin. Dabei waren die Sorgen, die ich mir deswegen gemacht habe, völlig unbegründet. Noct wollte mich um jeden Preis dabei haben, weil ich sein Freund bin, und auch die anderen waren froh, mich im Team zu haben. Ich weiß noch, wie Ignis sich jedes Mal gefreut hat, wenn ich beim Tisch decken geholfen und sein Essen gelobt habe. Gladio ist morgens immer mit mir joggen gegangen, wenn ich nach einem Besuch im Krähennest ein schlechtes Gewissen hatte. Auch die beiden hatten mich gern um sich. Als Noct im Kristall verschwunden ist war ich trotzdem oft allein unterwegs. Es gab so viele Siecher dass es sinnvoller war, getrennt zu agieren, und ich musste stärker werden. Es hat mir nicht mehr gereicht, nicht im Weg zu sein, ich wollte wirklich etwas bewegen. Noct finden, die Welt retten, oder zumindest die nächste Familie vor den Siechern schützen. Ich hab diese zehn Jahre überlebt. Und ich bin stark geworden. Stark genug, um Noct auf seinem letzten Weg zu begleiten, stark genug, um Insomnia zurückzuerobern. Aber was danach kam… die Zeit ohne ihn war hart. Ich will nicht sagen, dass ich mich mit Ignis und Gladio zerstritten hätte, das wäre gelogen. Wir haben uns gestritten, ja, immer wieder und manchmal auch recht schlimm. Aber wir haben uns auch immer wieder vertragen. Mal eine Nacht drüber schlafen, sich selbst einen Idioten schimpfen und dann einfach ‚tut mir Leid‘ sagen. Wir konnten einander nicht helfen, aber wir haben es immer versucht. Manchmal waren es nur Kleinigkeiten… ein wenig Hilfe im Haushalt, Händchen halten, bis ein Baby da ist, mal Babysitten, damit die Eltern schlafen können. Manchmal waren es größere Sachen. Ignis hatte ein paar Mal richtige Panikattacken, bis er sich daran gewöhnt hat, wie schlecht er sich in größeren Menschenmengen orientieren kann. Dann habe ich ihn am Arm geführt, aus der Menge raus, bis er sich beruhigt hat. Gladio stand immer wieder zu nahe am Abgrund, hat dringend Zuspruch gebraucht, um doch nochmal die Kurve zu kriegen. Einmal habe ich ihn dafür so heftig provozieren müssen, dass er mich fast bewusstlos geschlagen hat, da ist er die ganze Zeit im Krankenhaus bei mir geblieben. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die anderen definitiv in der Überzahl waren, und ich durfte ein paar Tage in Gladios Wohnzimmer campen. Kam mir ganz gelegen… es hat gewittert an dem Tag. Und Gladio war froh um meine Anwesenheit, weil er gerade auf sein Baby warten musste. So schwer es manchmal war, einander auszuhalten, wir sind oft zusammen abgehangen. Selten wirklich zu dritt, aber… aber ich habe die Nähe meiner verbliebenen Freunde gebraucht und sie waren für mich da, auch wenn es mal nichts für mich zu helfen gab. Haben mir ohne viel zu fragen Schutz und Zuflucht geboten. Auch, wenn ich nicht mit ihnen über meine Sorgen reden konnte, habe ich mich nie allein gefühlt. Nicht, bis diese Maschine mich aus der Stadt gejagt hat. Ich wollte nicht fort. Konnte mich nur mit Mühe überreden lassen, Ignis die Pflege des Altars in der Zitadelle zu überlassen. Aber vor allem wollte ich nicht weg von Ignis und Gladio. In Hammerhead, bei Cidney, da ging es noch einigermaßen. Aber je weiter ich weg musste… desto einsamer wurde ich. Cidney und Gladio haben mich oft besucht, auch Ignis hat sich hin und wieder zu mir fahren lassen, um selbst nach mir sehen zu können. Ich habe nur noch für diese Besuche gelebt… nur noch für diese paar Stunden, in denen ich nicht alleine war. Nemos Angebot, in sein Team zu kommen, war verlockend. Aber er war gegen Lucis… ich konnte nicht mit ihm gehen. Ich liebe dieses Land und seine Leute, egal wie selten ich meine Freunde gesehen habe, ich würde niemals der Verräter werden, als den der Code auf meinem Arm mich bezeichnen will. Ich bin meinen Leuten treu… aber letztendlich habe ich sie doch in seine Arme geführt. Piep. Ein Zucken geht durch meinen Körper bei der Erinnerung. Ich war damals schon in der Nautilus. Gefangen, aber behandelt wie ein Gast. Die starken Wände boten ein wenig Schutz vor der Strahlung, ich hatte ein eigenes Zimmer, Essen, Gesellschaft. Niemand hat mir verboten, gut über meine Heimat und meinen König zu sprechen, ich habe mich bemüht, mit Nemo und seinen Leuten zu verhandeln, ihnen klar zu machen, dass nicht Lucis, sondern Rashin und seine Partei von Extremisten am Tod seiner Töchter Schuld haben. Dass er nur diesen einen Mann töten muss, nicht das ganze Land. Dass ich ihm gerne helfe, die Maschine zu vernichten, aber kein Unschuldiger dabei sterben darf. Aber meine Worte fielen auf taube Ohren. Zu viel Hass, der der Vernunft im Weg steht. Piep. Piep. Ich weiß noch, wie er mich in diesem dunklen Keller abgelegt hat, als es mit mir zu Ende ging. Wie liebevoll er meine Haare gestreichelt hat. Wie ich nach seinem Arm gegriffen habe damit er mich nicht allein lässt. Ich war so verzweifelt… die drohende Einsamkeit wollte ich nicht wieder. Lieber im Kreis meiner Feinde sterben als ganz allein. Letztendlich hat Nemo mir ein altes Radio dagelassen, sogar extra einen insomnischen Kanal eingestellt, damit ich eine freundliche Stimme in meiner Sprache reden höre. Ich bin ihm dankbar dafür… der kalte Ort hat mich lange genug am Leben gehalten, dass ich meinen Mut wiederfinden und überleben konnte. Ich habe nach Hause gefunden, durfte wieder zu meinen Freunden und letztlich mit ihnen auf eine neue Reise gehen. Ich dachte, diesmal wäre ich stark genug, eine Hilfe zu sein. Aber so war es nicht. Piep. Piep. Letztendlich… habe ich sie Nemo in die Arme geworfen. Dem Mann, der jeden Menschen in Lucis tot sehen will. Weil ich keinen anderen Ausweg wusste… weil ich nicht stark genug war. Meine Augen brennen vor Tränen. Mein Leben zieht an mir vorbei… vielleicht geht es diesmal wirklich zu Ende. Nemo würde mir nichts tun, aber für diesen Verrat an meinem Land werde ich sicher hingerichtet. Ich bin gefesselt… breite Lederriemen halten mich an meinem Bett, in meinem linken Arm steckt ein Schlauch, der brennende Flüssigkeit in meinen Körper schickt. Ich kann kaum atmen… sehe schon den Fluss, an dem Noct auf mich gewartet hat, als er noch tot war. Diesmal ist hier niemand… niemand mit der Macht, mir entgegenzugehen auf diesem letzten Weg. Piep. Piep. Piep. „Prompto?“ Jemand nimmt meine Hand. Ich erinnere mich daran, als Gladio mich geschlagen hat. Einen Moment war ich bewusstlos, da kam ich an diesen Fluss. Noct und ich sind oft hier gewesen, an der abschüssigen Wiese neben der großen Brücke, eine Idylle mitten in der Stadt. Noct saß da und hat entspannt die Angel ins Wasser gehalten, ich durfte mich an seinen Rücken lehnen. Wir haben geredet… ich weiß nicht mehr, über was. Ich wollte bei ihm bleiben, und für ein paar Minuten hat er es mir gestattet. Dann musste ich zurück, bin im Krankenhaus aufgewacht. Gladio hatte sich furchtbare Sorgen gemacht, aber mir ging es gut. Nichts, was ein paar Potions nicht heilen konnten. Als dann diese Maschine gebaut wurde, kam ich noch öfter an den Fluss. Zu Noctis. Er hat mich in seiner Nähe ausruhen lassen, so lange ich wollte, und mir immer wieder den Weg zurück gewiesen. Noch nicht jetzt... es ist noch zu früh. Ich wollte nicht sterben, und er hätte mich auch nicht sterben lassen. Hat an der Grenze zum Jenseits gewacht, um mich wieder und wieder zurückzuschicken. Hat mir Mut gemacht, wann immer ich am Ende war. Aber heute ist hier niemand, nur die grasisge Böschung und der Fluss. Piep. Piep. Piep. Piep. Langsam verblasst das Bild des Flusses wieder. Das Gras, der Himmel, das Wasser unter der Brücke… was bleibt, ist ein grelles Licht. Und seine Stimme, die leise zu mir spricht. „Ich bin hier Prompto, sieh mich an.“ Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen. Es ist nicht leicht; das Licht blendet, und das Bild ist verschwommen. Ein Schatten schiebt sich zwischen mich und die Lampe, beugt sich über mich. „Noct…?“ „Endlich! Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.“ Nocts Stimme klingt unendlich erleichtert, genau wie Gladio damals, vor inzwischen mehr als sechs Jahren. „Wie fühlst du dich?“ Ich brauche einen Moment, die Frage zu verarbeiten. Eben noch zog mein ganzes Leben an mir vorbei, und jetzt… Das Piepen rückt langsam in den Hintergrund, meine Augen gewöhnen sich an das Licht. Ich kann Noct erkennen, wie er sich über mich beugt, immer noch verschwommen, aber nah genug, um den besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht zu deuten. Seine Hand liegt in meinen Haaren, ich kann spüren, wie seine Finger zittern. „Was ist passiert?“, meine Stimme ist heiser, kaum lauter als das Piepen. Ich will meine Hände bewegen, will den Schlauch aus meinem Arm ziehen, aber ich kann mich nicht bewegen. Die Fesseln an meinem Bett sind real, ich habe keinen Zentimeter Raum. „Wo bin ich?“ „Im Krankenhaus. Die Ärzte mussten dich in ein künstliches Koma schicken, damit das Gift dich nicht umbringt, bevor dein Körper es abbauen konnte. Du hast zwei Wochen geschlafen. Wir haben uns ganz schön Sorgen gemacht… aber jetzt ist alles gut.“ Ich verstehe nicht genau, worüber Noct redet, aber es tut gut, seine Stimme zu hören, und er wirkt gesund. Ich kann langsam wieder ruhiger Atmen. „Warum bin ich gefesselt?“ „Du hattest schlimmes Fieber. Albträume, nehme ich an, hast dich ganz schön gewehrt gegen die Ärzte. Sie mussten dich fesseln, damit du die Infusion nicht raus reißt. Die soll noch eine Weile laufen.“ Ich blicke auf den Schlauch, der in meinen Arm führt. Vage erinnere ich mich, ich hätte von meiner eigenen Hinrichtung geträumt… natürlich ist kein Gift in dem Schlauch, nur Medizin. Sicher hab ich mich ganz schön angestellt in meiner Angst. „Meinst du, ich kann dich jetzt losmachen?“, fragt Noct vorsichtig, „Versprichst du mir, dass du brav liegen bleibst?“ Ich will nicken, aber nicht mal so weit bewegen kann ich mich. Noct scheint jedoch schon den Versuch zu verstehen und er beginnt, die Gurte zu lösen, massiert sogar meine Arme und Beine, wie Ignis es bei ihm gemacht hat, als er sich nicht bewegen konnte. Ich schäme mich ein bisschen, so eine Behandlung von meinem König zu bekommen, aber Noct ist in erster Linie mein Freund. Die Massage tut gut. „Ganz befreien kann ich dich noch nicht“, entschuldigt er sich schließlich, während er meine Füße massiert, „Die Halskrause und das Stützkorsett bleiben noch, bis du geröntgt worden bist. Der Arzt macht sich Sorgen, dass deine Wirbelsäule bei dem Angriff Schaden genommen hat… etwas Schlimmes wäre bei deinem Gezappel sicher sofort aufgefallen, aber leichtere Brüche können manchmal eine tickende Zeitbombe sein.“ Eine falsche Bewegung und Bumm. Natürlich werde ich da erst mal festgepackt, um weiteren Schaden zu verhindern. „Während du in Narkose lagst, konnten sie dich nicht in den Scanner fahren, weil sie dafür die Überwachung hätten ausschalten müssen.“ „Verstehe.“ Es ist etwas unbequem, aber immerhin kann ich jetzt locker Nocts Hand halten. Langsam beruhige ich mich auch wieder. „Wo sind die anderen?“ „Nicht weit weg.“ Mir fällt auf, dass Noct oft auf die Uhr sieht. Er ist gut angezogen, trägt den feinen Anzug, in dem er seine Reden gehalten hat. „Triffst du noch jemanden?“, frage ich leise. „Wa… ja. Ja, ich muss gleich weg. Da steht ein Kriesengipfel an, zu dem ich erscheinen sollte, ich habe nur um etwas Zeit gebeten, weil ich da sein wollte, wenn du aufwachst. Hast dir ganz schön Zeit gelassen.“ Der Vorwurf klingt nicht sehr ernst gemeint, zumal Noct sich noch im Sprechen zu mir herunterbeugt um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. Der Bart kitzelt ganz schön… ich muss ein wenig kichern. „Geh nur“, beruhige ich ihn, „ich komme schon klar. Und… danke… danke, dass du hier warst. Das bedeutet mir super viel.“ „Weiß ich. Hab doch versprochen, dass ich dich nie mehr allein lasse.“ Wieder streicht mir Noct die Haare aus dem Gesicht, lehnt seine Stirn an meine und sieht mir fest in die Augen. Es ist etwas unheimlich beruhigendes in diesem dunklen Blau… Wie der Nachthimmel in der Zeit, als es keine Siecher gab. Friedlich und sicher. „Ich muss leider wirklich gleich los, aber Ignis kommt sofort zu dir rein, ja? Wenn du Angst hast, ruf einfach eine der Schwestern, die holen ihn dir notfalls her.“ Noct drückt mir eine Art Fernbedienung in die Hand, die mit einem Kabel am Bett hängt. Sicher der Piepser für die Schwestern. Ich schlucke vorsichtig gegen die Halskrause und blicke Noct nach, als er aus dem Raum eilt. Meine Infusion ist schon fast leer… sicher dauert es eh nicht lang, bis jemand kommt. Ich muss wohl doch noch einmal kurz eingenickt sein, denn als ich die Augen wieder öffne, ist Ignis schon bei mir und der Schlauch aus meinem Arm verschwunden. Blinzelnd sehe ich mich um, meine Augen scheinen sich ein wenig an das helle Licht gewöhnt zu haben, und jetzt fallen mir auch die vielen Blumen auf meinem Nachttisch auf. Karten, kleine Geschenke und Schokolade sind auch dabei… Und zwischen all dem hängt mein Traumfänger. „Na, wieder wach?“ Ignis' Frage reißt mich aus meinen Gedanken, und wieder muss ich meine schwache Stimme bemühen, weil ich nicht nicken kann. „Die Schwestern bringen dich gleich in die Radiologie, dann kannst du dich hoffentlich bald freier bewegen. Wie fühlst du dich?“ „Ziemlich daneben“, gebe ich zu, „und voll auf Drogen.“ Ignis lacht nur gutmütig und streichelt mich zärtlich. „Nur verständlich, immerhin lagst du fast zwei Wochen im künstlichen Koma. Es dauert sicher noch eine Weile, bis du die Nachwirkungen der Medikamente nicht mehr spürst.“ „Wie geht es Noct? Ist er…“ „Hast du nicht eben selbst mit ihm gesprochen?“ Ich werde etwas rot auf die Frage, fühle mich ertappt. Noct sah gesund aus, ja, aber vorher ging es ihm so schlecht… Ignis lacht leise und wuschelt mir durch die Haare. „Ist schon okay. Du hast dir Sorgen gemacht, nicht wahr? Noct geht es wieder recht gut. Er wird schnell müde und sollte mit dem Einsatz von Magie noch etwas vorsichtig sein, aber er ist wieder fit. Von uns allen geht es ihm wohl im Moment am besten…“ Der letzte Satz ist fast nur noch ein Flüstern, trotzdem entgeht mir nicht, wie müde und abgeschlagen Ignis wirkt. Ich erinnere mich wieder, wie übernächtigt er in der Nautilus ausgesehen hat und fühle mich schuldig. „Was ist mit Gladio?“, frage ich dennoch zuerst. Ignis setzt sich zu mir aufs Bett und legt eine Hand auf meine Stirn, als wollte er wieder meine Temperatur fühlen. Seine Hände sind eiskalt, aber ich glaube trotzdem, dass ich jetzt kein Fieber habe. „Gladio geht es langsam wieder besser. Wir dachten erst, er hätte es mit dem Gift leichter als du, aber das war nicht ganz richtig… er hat zwar eine geringere Dosis abbekommen, aber dafür hat es die Platte in seinem Arm angegriffen und korrodiert. Hier in Gralea ist diese Technik, Knochenbrüche zu behandeln, unbekannt, deswegen musste erst mal ein Arzt aus Lucis eingeflogen werden, um ihn operieren zu können… Gladio ist nur knapp einer schweren Sepsis entgangen. Ich war vorhin noch bei ihm und er sieht wieder recht okay aus, die Platte ist raus und das Fieber gesunken, aber…“ „Aber?“ „Nun, die Löcher, in denen die Schrauben für die Platte verankert waren, sind erst frisch aufgefüllt worden, und nach allem, was Gladio mit dem Gift und der Blutvergiftung durchgestanden hat kann es locker vier Wochen dauern, bevor er den Arm wieder richtig belasten darf. Wirklich fit ist er also nicht.“ Mir dämmert etwas. „Dieses Gipfeltreffen, zu dem Noct so schnell musste… es ist was passiert, oder? Und wir sind…“ „Absolut nicht kampftauglich, ja.“ „Was ist mit dir, Ignis? Wie geht es dir?“ „Nett das du fragst, Prompto, ich bin nur müde. Ich habe… wir waren auf der Nautilus nicht wirklich eingesperrt, das solltest du wissen. Ich wollte Noct und Gladio eigentlich nicht allein lassen in ihrem Zustand, aber Arc war jeden Tag ein paar Stunden da und hat mir nahe gelegt, mich auch mal um mich selbst zu kümmern. Ich habe den Psychologen angerufen, dessen Nummer in deinem Handy gespeichert war und… nun, du bist jetzt nicht mehr der einzige, der Tabletten schlucken darf. Und ja, wir wissen davon, und nein, das ist wirklich nichts Schlimmes.“ Ignis redet schnell, aber diesmal bin ich fit genug, seinen Worten zu folgen. „Tut mir Leid, dass ich nichts gesagt habe.“ Ich schäme mich dafür, aber ich habe mich auch für die Tabletten geschämt. Deswegen habe ich überhaupt erst geschwiegen. „Ist schon in Ordnung. Es hilft ja auch, das ist das Wichtige. Vermutlich hätten wir alle welche gebraucht, von Anfang an. Ich zumindest habe zusätzlich noch Schlaftabletten bekommen, damit ich mal wieder durchschlafen kann. Das ist mir in letzter Zeit sehr schwer gefallen… Ach, was red ich, ich hab seit Nocts Verschwinden damals keine Nacht mehr durchgeschlafen.“ „Wegen de Albträume?“, erinnere ich mich. „Nein, das hat aufgehört, als Noct wieder ins Leben zurückkam. Ich dachte auch, dass ich dann wieder schlafen könnte, aber ich bin einfach nicht zur Ruhe gekommen. Manchmal habe ich es auch ausgenutzt, um mein Arbeitspensum zu bewältigen oder Wache zu halten, aber auf die Dauer hat es mich einfach fertig gemacht.“ „Das hätten wir merken müssen…“ Ich erinnere mich, wie genervt Ignis war, als wir mit dem Regalia losgefahren sind. Auch, wenn Gladio oder ich nachts aufgewacht sind, weil wir schlecht geträumt hatten, war Ignis immer wach, um uns zu trösten, selbst, wenn keiner laut geschrien hat. Er hat für zwei gearbeitet, mehr, als an einem Tag möglich sein sollte. Aber dass er wirklich gar nicht richtig schläft… „Ihr hättet nichts tun können außer mich zum Psychiater zu schicken, fürchte ich“, gibt Ignis zu und streichelt meine Haare wieder ordentlich hin, „Und den Schritt musste ich letztlich selbst gehen.“ „Funktionieren die Tabletten denn?“ „Geht so. Ich kann durchschlafen, aber wenn ich dann aufwache, fühle ich mich trotzdem noch extrem müde. Arc meint, das wird vermutlich besser, wenn mein Körper wieder in einen guten Rhythmus findet, und ich soll einfach viel schlafen, am besten natürlich nachts. Es wird auch wirklich langsam besser… nur das erste Mal, dass ich eine Tablette genommen habe, war nicht sehr beruhigend.“ „Erzähl.“ „Das war noch in der Nautilus. Noct ging es zum ersten Mal so gut, dass er alleine Duschen wollte, und als er fertig war, hat er mich ins Bett geschickt. Meinte, er wollte etwas sitzen, und er würde mich schon wecken, wenn er wieder ins Bett will. Ich dachte, er würde das tun, oder sich notfalls einfach in meine Arme kuscheln wie früher als Kind, und dass es einigermaßen sicher wäre, eine Tablette zu nehmen um richtig zu schlafen.“ „Aber Noct hat dich nicht geweckt? Was ist passiert?“ „Ich bin aufgewacht, weil das Schiff gelandet ist. Das gab einen ziemlichen Ruck, so ein Frachtschiff setzt recht hart auf, das hat gereicht, um mich zu wecken. Ich war völlig benebelt und wäre vermutlich einfach wieder eingeschlafen, aber Noct war weg und da bin ich natürlich ordentlich erschrocken. Naja… er kam schnell genug wieder und sah ziemlich verlegen aus, aber eine Weile hatte ich echt Angst um ihn. Hab erst hinterher erfahren, dass er die ganze Zeit eine Schlüsselkarte hatte.“ „Die Karte aus der Zegnautusfestung“, erinnere ich mich, „natürlich, das ist dasselbe Sicherheitssystem!“ „Ja, das dachte ich mir hinterher auch.“ „Seid ihr denn raus gekommen aus dem Zimmer?“ „Ja. Ich hab nett gefragt und man hat mir immer geöffnet. Eine eigene Schlüsselkarte hatte man nicht für mich, aber man hat mich überall durchgelassen und hingebracht. Ich durfte unsere Vorräte aufstocken, die Bordküche nutzen, spazieren gehen... Alles kein Problem, aber ich habe die Freiheit nur genutzt, wenn Arc da war um in meiner Abwesenheit auf Noct und Gladio aufzupassen.“ Ich will noch fragen, wieso Nemo seine Meinung so einfach geändert hat, aber da kommt schon die Schwester, um mich mitsamt meinem Bett zum Röntgen zu fahren. Mir wird fast übel, als ich den riesigen Tunnel sehe, in den sie mich hineinscheiben wollen. Ich zapple, soweit mein Panzer es zulässt, und man hält dankenswerterweise das Bett an. „Was ist denn…?“, beginnt die Schwester, da fällt Ignis ihr auch schon ins Wort: „Ach natürlich, das ist mir fast entfallen. Prompto hat fürchterliche Angst vor engen Räumen…“ „Ich will da nicht rein“, piepse ich zustimmend und blicke die Schwester aus großen Augen an. „Tut mir Leid“, meint die, „Aber das muss sein. Ich kann ihnen höchstens etwas zur Beruhigung spritzen, aber da müsste ich erst mit dem Anästhesisten sprechen…“ „Wie lange dauert denn der Scan?“, fragt Ignis mit ruhiger Stimme. Er ist wieder näher an mein Bett getreten und hält beruhigend meine Hand fest. Ich zittere schon beim Gedanken an den engen Tunnel… „Etwa zwei bis vier Minuten bis alles vorbei ist. Dazu müsste er aber still halten…“ „Das bekommen wir doch hin, oder, Prompto? Du hast uns so oft in enge Höhlen und Tunnel begleitet, da schaffst du den Scanner bequem. Ich bleibe auch die ganze Zeit im Raum, versprochen.“ Ich atme tief durch und blicke Ignis fest in die Augen. Er hat nicht ganz Unrecht… wenn ich diese Angst nicht halbwegs in den Griff bekommen hätte, hätte Cor mich nie mit der Gruppe reisen lassen, egal, was Noct will oder sagt. Langsam bekomme ich mich wieder unter Kontrolle. Fünf Minuten… ich hab schon länger in dunklen Höhlen gesteckt. „Wir sind die ganze Zeit bei dir, Prompto“, versichert mir Ignis nochmal und drückt mir einen Ball in die Hand, „Wenn du den drückst brechen wir sofort ab und holen dich raus, ja? Du schaffst das.“ Ich will nicken, habe aber immer noch die dumme Halskrause an. Ich will das Ding loswerden… wenn ich mich danach endlich wieder frei bewegen kann, ist es das wert. „Ich schaff das.“ Ich schaffe es nicht. Oh Himmel ich überlebe das nicht… Ich kneife die Augen zusammen als die Schwester mich in den dunklen Tunnel fährt. Trotz der Kopfhöhrer, die sie mir aufgesetzt hat, wummert es ungeheuer laut hier drin. Komm schon, nicht mal fünf Minuten… ich zwinge mich, die Hand um den Ball entspannt zu lassen, auch wenn ich nichts lieber täte, als jetzt fest zuzudrücken. Es ist eng hier drin, zu eng. Fast bin ich mir sicher, dass die Wände näher kommen… ich öffne eine Sekunde die Augen und bereue es sofort, als ich die Teile sehe, die sich wild um mich drehen und das Wummern verursachen. Näher, immer näher… ich bekomme keine Luft mehr, fühle schon den Druck auf meiner Brust. Das Wummern wird lauter, als der enge, dunkle Raum mich erdrückt. Mir bricht der Schweiß aus, ich sehe mich schon wieder an der grasigen Anhöhe vor dem Fluss, wo Noct früher so friedlich geangelt hat. Dann ist es plötzlich vorbei und ich werde wieder nach draußen gezogen. „Machen sie bitte ein Fenster auf“, höre ich Ignis sagen. Seine Stimme scheint weit weg zu sein. „Alles gut Prompto, ganz ruhig atmen. Alles gut.“ Jemand drückt mir einen Beutel über Mund und Nase, ich kann sehen, wie er sich schnell aufbläht und wieder zusammenzieht. „Alles gut.“ Ignis hält meine Hand fest, und langsam spüre ich einen schwachen Luftzug im Gesicht. „Ich will raus“, jammere ich, „Ich will hier raus.“ „Einen Moment Geduld noch, Prompto. Versuch erst mal, ruhig zu atmen, ja? Wir können nachher kurz in den Garten gehen, wenn du willst.“ „Alles in Ordnung“, meint eine Männerstimme etwas Abseits, aus meinem toten Winkel, „Da ist nichts gebrochen.“ Die Schwester ist sofort bei mir. Mit geübten Händen befreit sie mich von der Halskrause und dem engen Korsett und ich bekomme wieder besser Luft. Ignis nimmt die Papiertüte von meinem Gesicht und ich blicke ihn flehend an. Er lächelt. „Meinst du, du kannst mit etwas Hilfe aufstehen?“ Ich kann. Mein ganzer Körper zittert und Ignis muss mich kräftig stützen, aber ich komme auf die Beine. Es tut gut, so zu stehen… ich kann hören, wie die Schwester noch ein paar mahnende Worte an Ignis richtet, aber der kann sie wohl beruhigen. Jemand bringt mir warme Pantoffeln und eine Wolljacke und Ignis führt mich nach draußen. Schon seltsam… wir sind oft so gegangen, aber da habe ich Ignis geführt, weil er nichts sehen konnte. Jetzt führt er mich, weil ich kaum laufen kann… Meine Beine zittern und es ist nicht ganz einfach, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber mit Ignis‘ Hilfe schaffe ich es sogar die Treppe hinunter und hinaus an die frische Luft. „Endlich… das tut sooo gut!“ Lachen. „Ich sag’s ja, es geht nichts über die freie Natur!“ „Gladio!“ Gladio hebt grüßend die Hand und grinst breit. Er sitzt im Rollstuhl neben einer Parkbank, den linken Arm in Gips, die graumelierten Haare zu einem peinlichen Dutt zusammengebunden und in einer schicken rosa Wolljacke mit passender Decke gekleidet. Ignis führt mich zu ihm und hilft mir, mich auf die Bank zu setzen, bevor auch mir jemand eine Decke aufdrängt. Ich nehme einigermaßen dankbar an, es ist schon etwas frisch hier draußen. „Wie geht’s dir? Alles soweit fit?“, frage ich munter und blicke meinen größten Kumpel strahlend an. „Alles top außer dem blöden Arm. Schon elend was ein winziger Fehler für scheiß Folgen haben kann… Aber genug von mir, wie geht’s dir? Hast uns ja ordentlich Angst gemacht hier, zwei Wochen Koma und vorher auch schon ein Wrack…“ „Mir geht’s prima, alles wieder fit“, versichere ich schnell und muss nicht mal lügen. Klar, ein bisschen daneben bin ich schon noch, aber nach der Panikattacke eben fühle ich mich hier an der frischen Luft wieder richtig lebendig. Der Krankenhausgarten ist auch echt hübsch, fast wie in Insomnia, nur mit anderen Blumen und Bäumen. Alles irgendwie fremd und doch genau gleich… so sehr unterscheiden sich die beiden Länder nicht. Krieg ist immer etwas, was von Menschen gemacht wird. Die Gründe dafür sind ebenfalls nur vom Menschen erfunden. Wir sind ja auch nicht so verschieden… Noct hat Recht, Herkunft macht keinen Unterschied. Ignis lässt sich seufzend neben mich auf die Bank fallen und legt vertraut den Arm um meine Schultern. Er wirkt richtig müde, aber auch irgendwie glücklich. Es tut gut, wieder so zusammenzusitzen und zu plaudern… fehlt nur noch einer, aber der kommt bald wieder. Solange Noct nicht ganz aus der Welt ist halten wir es doch auch ganz gut zu dritt aus. „Aber ganz ehrlich, diese Manticor-Mechs und ihr Giftcocktail… wer baut sowas?“, empört sich Gladio und reibt sich zitternd die Schulter. „Jedenfalls kein netter Mensch“, murmle ich. Auch mir schmerzt der Rücken beim Gedanken daran. „Und offensichtlich jemand, der uns hasst.“ „Vermutlich derselbe, der auch die anderen Magitech gebaut hat“, mutmaßt Ignis, „Die haben alle zusammengearbeitet als sie uns im Regalia gehetzt haben. Ich würde inzwischen tatsächlich die Mutmaßung anstellen, dass Rashin dahinter steckt - ihr beide wisst es noch nicht, aber er hat die Kontrolle von Insomnia an sich gerissen. Sein Sohn wurde zum König gekrönt… fälschlicherweise, und dessen ist sich Rashin sicher bewusst.“ „Du meinst, er steckt hinter all dem?“, fragt Gladio und stemmt sich beinahe aus seinem Rollstuhl hoch. „Bleib sitzen, das bringt jetzt nichts“, beschwichtigt ihn Ignis, „Ich habe zumindest die Vermutung. Der erste große Siecher wurde nahe Insomnia gesichtet, der Wall muss nahe seines Ursprungs gebrochen worden sein und die Plage ist auch direkt in der Stadt zum ersten Mal ausgebrochen… Es würde mich nicht wundern, wenn Rashin von Anfang an der einzige Drahtzieher war.“ „Dann sind es also nur noch er und dieser Nemo, gegen die wir kämpfen?“ Ich zucke bei Gladios Worten ertappt zusammen, fühle mich immer noch schuldig wegen der Sache mit der Nautilus, auch, wenn weder Noct noch Ignis es mir übel nehmen. „Nein, nur Rashin. Nemo ist… soweit besänftigt, denke ich. Ich habe in Lestallum etwas erfahren, womit ich ihn bei unserer Festnahme konfrontieren konnte, und wir haben ein paarmal ganz vernünftig miteinander gesprochen.“ „Seine Töchter sind nicht an der Maschine gestorben“, vermute ich, „Sonst hätten sie länger durchgehalten als er. Seine Frau hat die Mädchen getötet, oder? Aus Entsetzen darüber, was er war… deswegen hasst er uns. Die Maschine hat nur einer gebaut, aber den Hass gegen uns Klone unterstellt er dem ganzen Land.“ „Das ist wahr, aber als ich ihn damit konfrontieren konnte, hat er nach und nach Einsicht gezeigt. Aber was ihn wirklich umgestimmt hat ist wohl das Vertrauen, das du bewiesen hast, als du ihn um Hilfe gebeten hast. Nemo konnte uns nichts tun, ohne dich zu verletzen, das hat uns Zeit gegeben zu beweisen, dass du Recht hast und wir gute Menschen sind. Ich weiß nicht, ob Nemo gewillt ist, uns zu helfen, aber er ist nicht mehr unser Feind.“ Mir fällt ein echter Stein vom Herzen bei diesen Worten. So eine Belastung, zwischen zwei Seiten zu stehen… ich wusste immer, wem ich im Notfall die Treue halten würde, aber ich hatte auch auf Nemos Seite einige Menschen kennen gelernt, die ich vorsichtig Freunde hätte nennen wollen. Nette Jungs, die mir zugehört und mich verstanden haben, auch, wenn sie mir nicht ganz glauben wollten. Nemo hat mich für naiv gehalten, weil ich meinen lucischen Freunden vertraue, aber jetzt weiß er, dass ich von Anfang an Recht hatte. „Wenn es konkret gegen Rashin geht, wird er uns vielleicht helfen. Es sind viele gestorben wegen der Maschine… viele gute Jungs, die Nemo unter Einsatz seines Lebens aus den Fabriken gerettet hat. Allein dafür…“ Ich weiß nicht, ob es moralisch richtig wäre, Rashin im Falle einer Festnahme an Nemo auszuliefern und will mir nicht vorstellen, was der mit ihm machen würde. Aber verdient hätte es Rashin… er hätte so einiges verdient. Ignis drückt mir beruhigend die Schultern und ich atme tief aus, versuche, den Hass zu vergessen. Das bringt nichts… Hass macht einen nur blind. Kapitel 37: Auf Biegen und Brechen (Iris Amicitia) -------------------------------------------------- Es scheppert gewaltig, als mein Stiefel den harten Stahl trifft. Ich kann die Kraft des Zusammenpralls in meinem ganzen Bein vibrieren spüren. Schmerz schießt durch meine Muskeln und ich setze den Fuß ganz vorsichtig zurück auf den Boden. „Alles in Ordnung?“ Talcotts Stimme klingt müde, aber aufrichtig besorgt. Er liegt in der Zelle direkt neben meiner, auf dem Fußboden, weil die dünne Pritsche zu kurz und zu schmal für seinen kräftigen Körper ist. Kein Luxus für Landesverrat. „Bist du verletzt?“ Er richtet sich etwas auf und blinzelt durch die Dunkelheit zu mir herüber. Ich teste vorsichtig mein schmerzendes Bein. „Nein, alles in Ordnung“, gebe ich schließlich zurück, „Nur etwas gezerrt. Die Tür ist ganz schön stabil…“ „Natürlich ist sie das, das ist mehrfach gehärteter Stahl. Mach dich bitte nicht kaputt, Iris. Du versuchst das schon seit Tagen… und du hast die Wache gehört, kein Mann kann diese Türen auftreten.“ „Ich bin ja auch kein Mann“, entgegne ich trotzig und trete noch einmal gegen das breite Schloss, „Und außerdem eine Amicitia. Wir sind stark. Wir sind mutig. Und wir hören nicht auf zu kämpfen, bis der König und seine Königin in Sicherheit sind.“ Mit jedem Satz trete ich wieder gegen das Schloss. Wieder, und wieder, und wieder. Ich kann Luna in der Zelle gegenüber traurig lächeln sehen und muss daran denken, dass sie vermutlich jedes Mal, wenn ich mein Bein hebe, mein Höschen sieht. Gladdi hatte Recht, ich sollte keine Röcke tragen zum Kämpfen. Aber umziehen kann ich mich hier nicht. Talcott hat auch Recht, stelle ich fest, als ich mein Bein wieder absetzen und eine Weile schonen muss. Ich weiß, dass er gerade alle seine Taschen durchsucht, ob er nicht doch noch irgendwo einen vergessenen Heiltrank findet, aber selbst sein vorbildlich gehaltener Vorrat ist inzwischen aufgebraucht. Ich verlagere mein Gewicht auf das schmerzende Bein und trete stattdessen mit dem anderen zu. Das macht es schwieriger, das Schloss präzise zu treffen, und es dauert nicht lange, bis ich zum ersten Mal abrutsche und mit dem Fuß zwischen den Gitterstäben hängen bleibe. Es schmerzt höllisch und ich humple geschlagen zu meiner Pritsche zurück. „Verdammt…“ Genervt reibe ich den verletzten Knöchel, aber er scheint zumindest nicht gebrochen zu sein. Pulsierend vor Schmerz und irgendwie zu warm, aber immer noch beweglich. Wird schon gehen. „Bitte, Iris, lass es gut sein“, fleht Talcott noch einmal, „wir finden schon irgendwie einen Weg hier raus. Lass uns lieber einen vernünftigen Plan schmieden, bevor du dich ganz außer Gefecht setzt…“ Ich höre kaum zu. Wieder humple ich auf die Tür zu und teste, wie viel Gewicht ich auf meinen verletzten Knöchel stemmen kann. Er trägt mich, und so ziele ich wieder mit den freien Bein auf das Schloss. Und nochmal. Und nochmal. Talcott seufzt tief und murmelt etwas. Komischerweise klingt es irgendwie nach ‚Ich liebe dich‘ aber da habe ich mich sicher verhört. Das Scheppern des Schlosses ist sehr viel lauter als seine Stimme. Meine Knochen schmerzen, meine Muskeln spannen, Blut pocht in meinen Ohren und so langsam wird mir schwindlig vor Anstrengung. Ich bin wütend. Ich bleibe stehen, mitten in dieser dreckigen Zelle, das Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt, die Fäuste geballt. Meine Handschuhe hat man mir abgenommen, wie alle unsere Waffen. Aber meine Kraft und meinen Stammbaum kann mir keiner nehmen. Ich bin eine Amicitia. Ich bin der Schild der Königin. Der Schild des neuen Königs. Eine dumme Zellentür kann mich nicht aufhalten. Ich fasse das Schloss ins Auge. Es ist massiv. Schwerer Stahl, schwer gebaut. Meine Schuhe haben Spuren darauf hinterlassen. Dreck von meinen Stiefeln, Abrieb meiner Sohlen. Kaum wirkliche Kratzer. Aber noch bin ich nicht fertig. Eine Amicitia gibt nicht klein bei. Sie tritt höchstens einen Schritt zurück, um Anlauf zu nehmen. Viel Anlauf. Ich renne auf die Tür zu, greife die Eisenstangen mit beiden Händen, schwinge mich daran hoch und ramme beide Füße gegen das Schloss. Etwas kracht, ich verliere das Gleichgewicht und lande unsanft auf dem Steißbein. Der Schmerz lähmt mich einen Moment, als ich mich endlich aufrapple, ist die Tür immer noch zu. „Iris! Iris, bist du okay?“ Talcotts Stimme ist beinahe panisch, anscheinend bin ich doch länger liegen geblieben, als ich dachte. Ich blicke in seine angsterfüllten Augen und atme tief durch, bevor ich wieder auf meine Füße komme. Inzwischen tun beide Knöchel weh, meine Beine zittern, und mein Hintern fühlt sich auch nicht gerade frisch an. Das ist das Problem, wenn man die Dreißig hinter sich lässt… Schmerzen kommen schneller und gehen später, je älter man wird. Als Kind ist man praktisch aus Gummi. Wenn ich an meine vielen Unfälle damals denke… da hab ich mir nie wehgetan. Ich trete wieder auf die Tür zu und rüttle daran. Der Riegel, der das Schloss mit dem Rahmen verbindet, ist lose, klemmt aber noch fest. Ich stemme meine Schulter gegen die Tür und das abgebrochene Metallteil fällt klappernd aus der Fassung. Mit einem gewaltigen, hallenden Scheppern fliegt die ganze Tür auf und kracht donnernd gegen die vergitterte Zellenwand. Ich verliere das Gleichgewicht und falle hinaus auf den Gang. „Iris, pass auf!“ Talcotts Ausruf schreckt mich auf und ich komme gerade noch rechtzeitig auf die Hände, um der heranstürmenden Wache den Fuß ins Gesicht zu schlagen. Es gibt ein lautes Krachen und der Mann schlägt mit dem Kopf auf die Wand, als ich noch den Schwung meines Kicks nutze, um wieder auf die Füße zu kommen. Mir ist schwindelig, der Mann liegt verkrümmt am Boden. „Oh Mist…“ Ich eile an die Seite der Wache und fühle nervös nach seinem Puls. Erst, als ich einen finde, atme ich langsam wieder aus. Er lebt noch… hoffentlich ist es nur eine Gehirnerschütterung und kein Genickbruch. An der Wand hinter ihm ist etwas Blut, passend zur Platzwunde an seinem Kopf. Sein Gesicht ziert ein dreckiger Stiefelabdruck über seiner eingedrückten Nase. Ich atme nochmal tief durch und greife an seinen Gürtel, um mir die Zellenschlüssel zu nehmen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung richte ich mich wieder auf und reiche Talcott die Schlüssel durchs Gitter. Meine eigenen Hände zittern zu stark, als dass ich irgendwas in ein Schloss pfriemeln könnte. Erschöpft und zittrig lasse ich mich auf den Boden sinken und konzentriere mich auf meine Atmung. Talcott klimpert mit dem Schlüsselbund herum, es dauert eine Weile, bis er den richtigen Schlüssel gefunden und ins Schloss manövriert hat. Er eilt sofort zu mir und drückt mir einen Heiltrank in die Hand. Keine Ahnung, wo er den noch aufgetrieben hat, aber ich kann nur dankbar lächeln. Ganz der gute Buttler. Er erinnert mich an Jered, wenn ich mir beim Spielen ein Knie aufgeschlagen habe. Der gute alte Jared… er wäre stolz auf seinen Enkel. Sehr stolz. „Geht es dir wieder besser?“ Lunafreyas sanfte Stimme weckt mich aus meinen Erinnerungen. Der Heiltrank hat einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge zurückgelassen, aber die Schmerzen lassen langsam nach. Ich lasse mir aufhelfen und teste meine Beine. Jetzt fühlen sie sich fast taub an, so in Abwesenheit der Schmerzen… „Wie lange waren wir schon hier unten?“, frage ich und sehe mich um. Ich habe völlig das Zeitgefühl verloren. „Keine Ahnung“, gibt Talcott zu, „Hier unten ist es immer dunkel, fast wie in der langen Nacht. Ohne Uhr unmöglich zu sagen, wie spät es ist. Und so trist, dass sich nicht mal Siecher hier runter trauen.“ „Ich glaube, das liegt eher an unserer Königin“, wende ich ein. Ich habe nicht wirklich darauf geachtet, bin aber sicher, dass ich das ein oder andere leise Gebet aus ihrer Richtung gehört habe, während ich mir die Knochen an der Tür kaputt getreten habe. Ich werfe der Kannagi ein schwaches Lächeln zu und sie erwidert meinen Blick freundlich. „Vermutlich. Aber egal, wie lange wir schon hier drin sind, wir sollten jetzt möglichst schnell raus hier. Dauert sicher nicht lang, bis jemand nach unserem armen Freund hier sucht…“ Luna legt ihre Hand auf den Kopf des Mannes, als wollte sie einen Heilzauber wirken, aber natürlich hat sie keine Magie mehr übrig. Alle Heilzauber, die wir von Nyx noch hatten, gingen wie unsere Heiltränke an mich, während ich mich an der Tür aufgerieben habe. Lunas eigene Heilkräfte wirken wohl nur gegen die Dunkelheit, nicht gegen weltlichen Schaden... „Ich hoffe, sie finden ihn schnell genug, um ihm zu helfen“, gebe ich zu, „So fest wollte ich eigentlich nicht zutreten.“ „Bei dem Lärm hier wird sicher schnell jemand kommen“, beruhigt mich Luna, „Also nichts wie weg hier. Wir müssen den Ring finden und zu Nyx bringen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn dieser Rashin seinen Sohn zum Regieren nutzt…“ Ich verziehe kurz das Gesicht, führe den kleinen Trupp aber nach draußen. Rashin ist extra persönlich herunter gekommen, um uns seinen – erstaunlicherweise lebendigen – Sohn zu zeigen und damit anzugeben, dass er jetzt ganz offiziell Vater und Berater des Königs ist. Ich frage mich, wie er das angestellt hat… wir haben den kleinen Nova definitiv sterben gesehen. Der Ring hat ihn bei lebendigem Leib verbrannt, und doch war er komplett unverletzt, als er uns hier unten besucht hat. Ein wenig bedröppelt, und ziemlich still, aber definitiv lebendig und wach. Irgendwas ist hier oberfaul. Ich muss Luna helfen herauszufinden, was, um die Welt zu retten. Solange Gladdi und die anderen verschwunden sind, gibt es nur noch uns… jetzt sind wir die letzte Hoffnung der Menschen. Kapitel 38: Zugfahrt (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------ Das Rattern der Räder auf den Schwellen der Gleise. Die Welt, wie sie an den großen Fenstern vorbei zieht. Raue Sitzpolster in meinem Rücken. Ich weiß, dass es nur eine einfache Zugfahrt ist, trotzdem ertappe ich mich dabei, wie fest ich Promptos Hand halte. Er lässt es zu, rutscht sogar so weit näher, dass es nicht jeder gleich sieht. Er zumindest wirkt ruhig. Ohne Angst. „Im Boardmenü gibt’s Tütensuppe“, stellt Gladio fest. Sein linker Arm liegt immer noch in einer Schlinge, trotzdem sieht es ziemlich cool aus, wie er die Uniformjacke darüber gehängt hat. Er lässt sich seine Verletzung nicht anmerken, wirkt selbstbewusst und stark. Eher verwegen als verletzt. „Findest du nicht, wir sollten lieber etwas Anständiges essen?“, wendet Prompto ein und nimmt Gladio das Menü ab, „Nur weil Ignis ausnahmsweise mal schläft müssen wir ihn ja nicht übergehen.“ Ich merke, dass ich sofort unruhig werde, als Prompto meine Hand loslässt und atme bewusst tief durch, um der Panik entgegen zu wirken. Die Landschaft außerhalb des Fensters ist eine andere als damals; das Eis ist verschwunden, eine raue Steppe hat die einstige Polarlandschaft ersetzt. Trotzdem… erinnere ich mich zu deutlich an die langen Stunden, die ich aus eben so einem Fenster geschaut und mich gefragt habe, ob Prompto da draußen noch lebt. Jetzt sitz er direkt neben mir und dennoch habe ich Angst, ihn wieder zu verlieren. „Was meinst du, Noct?“ Die unschuldige Frage reißt mich aus den Gedanken und ich muss schnell schalten, um keine dumme Frage zu stellen. Prompto hält mir die Speisekarte vor die Nase, sicher geht es noch ums Essen. Ich nehme ihm die Karte ab und atme erleichtert aus, als er sich an mich lehnt, um mit hineinzusehen. Ignis ist als einziger nicht bei uns. Er hat sich in den Schlafwagen zurückgezogen um ein wenig auszuruhen, während wir noch in Ruhe zu Abend essen. Er selbst braucht nichts, meinte er. Mir ist nicht ganz wohl dabei, aber ich habe mich entschlossen, ihm die Zeit zu geben, die er vielleicht braucht. Wenn wir erst mal in Insomnia ankommen, können wir uns diesen Luxus nicht mehr nehmen. Dort zählt jeder Schritt… Wir sind nicht mehr willkommen in unserer Stadt, zumindest nicht offiziell. Ich zweifle nicht daran, dass das einfache Volk mir weiter im Stillen die Treue hält, aber ich möchte niemanden gefährden. Ignis‘ Plan – und damit der beste Plan, den wir haben – sieht vor, dass wir uns inkognito in die Stadt schleichen. Über die Kanalisation, deren Eingang kurz vor der Stadtmauer liegt, kommen wir bis direkt unter die Zitadelle. Ein alter Versorgungsschacht führt hoch in die Abstellgleise der U-Bahn, von dort kommen wir hoch in den tiefsten Keller der Zitadelle. Der Kerker, in dem Luna und die anderen vermutlich gefangen gehalten werden, ist mir wenig vertraut, aber wir werden ihn sicher finden. Das Problem werden die Wachen sein. Sicher, einige von ihnen haben vermutlich selbst Zweifel. Zweifel, ob Nova wirklich der neue König ist, Zweifel, ob es gut ist, sich die Kannagi zum Feind zu machen. Viele kennen Gladio und werden schon vor einer bloßen Drohung zurückweichen. Aber wenn einer kämpft… weiß ich nicht, wie gut wir dastehen. Gladio ist verletzt, kann nur mit einer Hand kämpfen. Er und Prompto sind immer noch wackelig auf den Beinen wegen der Vergiftung, wir alle haben einen deutlichen Trainingsrückstand. Dazu noch die psychischen Probleme, wegen denen bisher nur zwei meiner drei Gefährten wirklich behandelt werden, und deren Ausmaß so gefährlich wie unsichtbar ist. Ich überlasse es Prompto, für mich mitzuentscheiden, was wir essen wollen, und letztendlich fällt die Wahl auf Fisch. Mir zu Liebe, vielleicht, vielleicht auch, weil es gesund ist und eine Mahlzeit, für die wir uns vor Ignis nicht schämen müssen. Schritte auf dem Gang lassen mich beunruhigt aufmerken. Sofort greife ich wieder nach Promptos Hand. Er drückt fest zu, sein Griff beruhigt mich. Auch, dass es nur Ravus ist, der zu uns ins Abteil schlendert. Seine Haltung ist aufrecht, aber auch ein wenig unsicher. Ich ahne, dass er mit einer Bitte kommt, und lege die Speisekarte erst mal wieder beiseite. Wir können später noch bestellen. „Euer Majestät“, grüßt er und senkt höflich den Kopf. Ich erwidere die Geste verwirrt. Schweige, weil ich die richtigen Worte nicht finden kann. „Ich denke, wir stehen uns inzwischen näher als das, Ravus“, bringe ich schließlich hervor, „Nenn mich bitte Noctis. Wir sind doch unter uns.“ „Natürlich. Tut mir Leid. Darf ich mich setzen?“ Definitiv nervös. Ich weise auf den leeren Platz neben Gladio, der ein Stück näher ans Fenster rücken muss, um sich dünn zu machen. Auch Ravus ist kein Zwerg, die Bank kommt an ihre Grenzen, reicht aber gerade so für die beiden großen Kerle. „Was können wir für dich tun, Ravus?“, frage ich ruhig. „Wir werden bald Tenebrae erreichen“, fängt Ravus an, „Der Zug wird dort einen längeren Halt machen, ich würde euch gerne zu einem Essen dort einladen. Nach Haus Fenestala, das jetzt mehr denn je als Sitz des Königshauses dient. Die… Prinzessin, möchte Eu… dich gerne kennen lernen.“ Ich blicke auf die Uhr, rechne ein bisschen nach und nicke schließlich. „Wir wollten eigentlich jetzt im Zug bestellen, aber wenn wir in Tenebrae ohnehin länger stehen können wir auch dort essen. Und wenn du mit ‚Prinzessin‘ die Erwählte des Kristalls meinst, wäre es mir natürlich eine Ehre, sie kennen zu lernen.“ „Eine andere Prinzessin haben wir im Moment nicht.“ Ravus schmunzelt kurz, dann wird sein Blick schnell wieder ernst. „Ich hätte da noch ein Anliegen.“ „Schieß los.“ „Es geht um Lunafreya. Ich… würde deine Gruppe gerne nach Insomnia begleiten, um sie zu retten. Nicht als König von Tenebrae, sondern als ihr großer Bruder. Mit Kanzler Polulus habe ich bereits gesprochen, er wird sich von mir distanzieren, sollte etwas schief gehen. Tenebrae ist nicht auf einen Krieg aus… aber ich kann meine Schwester nicht im Stich lassen. Nie wieder.“ Ich verstehe den Schmerz in seiner Stimme, weiß, wo seine Gedanken sind. Auch mein Herz blutet bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Tag. Auch ich will Luna nicht nochmal sterben sehen, nicht nochmal diese Machtlosigkeit fühlen. Ravus Vorhaben ist politisch nicht ganz ungefährlich, aber wenn Tenebrae sich tatsächlich von ihm distanziert, lässt sich ein Krieg vielleicht noch aufschieben, selbst, wenn unser Vorhaben scheitern sollte. Ich blicke auf Gladio, dessen Arm nutzlos in der Schlinge hängt. Drücke Promptos Hand etwas fester. Ravus wirkt gesund, das ist mehr als ich von mir und meinen Jungs behaupten kann. „Es ist riskant“, gebe ich zu bedenken, „Aber ich würde mich über die Unterstützung freuen. Und Luna sicher auch.“ Ravus bleibt noch bei uns sitzen, auch, als Ignis wieder zurück kommt. Bis der Zug in Tenebrae einrollt, besprechen wir den Plan, wie wir an Luna und die anderen herankommen, sie befreien und schließlich den falschen König vom Thron holen können. Es gibt viele Schwachstellen, es wird sicher gefährlich, aber… es gibt eine Chance, und mit Ravus an unserer Seite ist diese gerade ein wenig größer geworden. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis der Zug am Bahnhof von Tenebrae einrollt. Zischend kommt er zum stehen, die hydraulischen Bremsen pfeifen, Leute versammeln sich am Bahnsteig. Viele, um einzusteigen, manche, um uns zu grüßen. Ein hochdekorierter Soldat in Ausgehuniform erwartet uns und grüßt Ravus mit einer tiefen Verbeugung. „Oberst Carway“, stellt der uns den Mann vor, „ein verdienter Mann der tenebrischen Armee.“ Uns stellt er im Gegenzug nicht vor, aber vermutlich muss er das auch nicht. Wir sind bekannt, wahrscheinlich sogar erwartet. Carway führt uns zu einer großen, von weißen Chocobos gezogenen Kutsche, die uns direkt in den Palast bringen wird. Haus Fenestala… ich war lange nicht mehr hier. Diesmal bleiben wir nur ein paar Stunden, bis der Zug seine Reise fortsetzt, aber ohne Luna gibt es hier ohnehin wenig, was mir den Aufenthalt wert wäre. Alles hier wirkt blass in ihrer Abwesenheit, ohne den Zauber, den es früher inne hatte. Im Garten vor dem großen Gebäude spielt ein junges Mädchen Frisbee mit einem braunen Welpen. Sie ist etwas älter als Nyx, aber nicht viel, und in ihren schwarzen Haaren glänzen ein paar hellere Strähnchen. Als wir aus der Kutsche steigen ist sie gerade dabei, mit dem Hund um die Scheibe zu streiten, weil das kleine Fellbündel wohl noch nicht gelernt hat, dass ‚Apportieren‘ auch ‚Loslassen‘ bedeutet. „Angel, komm schon!“, schimpft sie, lässt dann aber los, als sie uns bemerkt. Der Welpe purzelt verwirrt nach hinten. „Sie sind der alte König aus Lucis!“, quietscht das Mädchen freudig und nimmt ungefragt meine Hand, „Ich bin Rinoa.“ Ich seufze tief ob des Seitenhiebs auf mein Alter. Vierzig ist noch nicht alt… aber für Kinder wie dieses Mädchen bin ich natürlich schon ein Relikt. Ein Überbleibsel aus einer Zeit, die sie sich schon gar nicht mehr vorstellen kann. „Ich bin König Noctis, ja“, antworte ich ruhig, „Freut mich, dich kennen zu lernen, Prinzessin.“ Rinoa blickt mich verwundert an, strahlt dann aber über das ganze Gesicht. Mir musste niemand sagen, wer sie ist – ich kann die Magie des Kristalls in ihr spüren. Sie fließt ganz anders als die in Lucis, ruhiger und stabiler, aber mächtig, wenn sie in Bewegung gerät. Die Magie des Kristalls der Erde und der Schutz des Gottes Titan. Angel lässt enttäuscht ihre Frisbee fallen. Mit winzigen Welpenschritten trippelt sie an Rinoas Seite und drückt ihre feuchte Nase an deren Hand. Große, schwarze Augen geben zu verstehen, dass sie sich allein gelassen fühlt. Das Mädchen nutzt die Gelegenheit behände, um den Hund wieder anzuleinen und mit uns in den Speisesaal zu schleifen. „Entschuldigt bitte ihre schlechten Manieren, Euer Mejestät“, entschuldigt sich Oberst Carway. „Rinoas oder die des Hundes?“, gebe ich scherzhaft zurück und entlocke dem ernsten Mann ein leises Lachen. „Beide, fürchte ich. Meine Frau starb in einem Autounfall vor nicht ganz fünf Jahren, es ist nicht leicht, ein kleines Mädchen allein groß zu ziehen, während man gleichzeitig für Recht und Ordnung sorgen muss. Der Krieg gegen die niflheimer Besatzung war damals zum Glück schon vorbei, aber es gab und gibt immer genug zu tun für die Armee. Und jetzt, da der Wiederaufbau endlich abgeschlossen ist, steht schon wieder der nächste Krieg ins Haus…“ „Wir tun unser Bestes, um das zu verhindern“, versichere ich, „Sowie Lucis wieder in meiner Hand ist sorge ich dafür, dass kein Wall mehr nötig ist, weder hier, noch um irgendein anderes Reich. Rinoa soll eine Welt regieren, in der Frieden herrscht zwischen den vier Reichen.“ „Keine leichte Aufgabe“, gibt Kanzler Populus zu bedenken, „In der aktuellen Lage… wir wollen alle einen Krieg vermeiden und verhalten uns so neutral wie irgend möglich, aber wenn die Kannagi tatsächlich hingerichtet würde, wäre ein Krieg unvermeidlich.“ „Und das wäre ein Krieg, den Rashin auch gegen sein eigenes Land führt“, versichere ich, „Lunafreya ist meine Königin und steht auch in Lucis in hohem Ansehen. Ich bin sicher, dass ihre Hinrichtung weit genug hinausgezögert wird, dass wir rechtzeitig zu ihrer Rettung kommen. Ich hoffe, dass wir größeres Blutvergießen noch vermeiden können.“ Die Zeit während des Essens vergeht wie im Flug. Es ist ein informelles Gespräch, privat genug, Pläne und Strategien zu besprechen, ohne groß in Bedrängnis zu geraten. Auch Premierministerin Claustra bringt sich mit ein, erzählt ein wenig über das Mädchen, das vom Kristall Accordos ausgewählt wurde. Die Kleine Yuna ist Tochter eines Hohepriesters der Wassergöttin und hat den Kristall in einem versunkenen Tempel entdeckt, als sie mit ihren Freunden Wasserball gespielt hat. Sie lebt auf einer winzigen Insel ganz am Rande Accordos, deswegen werde ich sie wohl nicht treffen. Unsere Route führt nur kurz in die Hauptstadt nach Altissia, wo das Boot meines Vaters vor Anker liegt. „In Lucis gibt es Personenkontrollen an jedem Hafen und jedem Bahnhof“, informiert uns die Premierministerin, als wir wieder in den Zug steigen, „auf den offiziellen Routen werdet ihr nicht dort landen können. Mit einem so kleinen, leichten Boot wie dem euren dürfte es aber kein Problem sein, an der Küste von Cap Caem anzulegen.“ „So in etwa hatte ich mir das vorgestellt“, stimmt Ignis zu, „daher auch die Route über Altissia, statt die Fähre nach Cap Shawe zu nehmen wie damals Prompto. Von dort gäbe es inzwischen sogar eine direkte Zugverbindung in die Hauptstadt, aber wir schlagen uns lieber querfeldein durch. Mit Chocobos in die nächste Kleinstadt, von dort weiter mit einem Mietwagen. Im besten Fall finden wir eine Firma, die keine Fragen stellt, ansonsten buchen wir unter meinem Namen. Das sollte unproblematisch genug sein. Wenn wir erst mal in Hammerhead sind, sehen wir weiter.“ „Die Kontrollen am Stadttor umgehen wir mit dem Weg durch die Kanalisation“, füge ich hinzu, „ist nicht angenehm, aber immerhin unauffällig.“ Der Zug rattert wieder über seine Gleisschwellen, aber bis wir uns in den Schlafwaggon zurückziehen, macht es mir schon fast nichts mehr aus. Alles nur Ängste aus der Vergangenheit… Prompto geht mir nicht noch einmal verloren. Ich mache es mir so bequem wie möglich auf den zu einem Bett umgelegten Sitzen. In dem Abteil, das vorher vier Leute gefasst hat, ist jetzt nur noch Platz für zwei, Gladio und Ignis mussten eins weiter ziehen. Prompto bleibt bei mir, lehnt sich sogar direkt an meinen Rücken. „Stimmt etwas nicht?“, frage ich leise. „Nein, alles prima“, gibt Prompto zurück, „dachte nur, du freust dich vielleicht über meine Gesellschaft.“ Es ist zu dunkel, um es genau zu erkennen, aber ich denke, ich kann ihn lächeln sehen. Seine Augen haben dieselbe fliederblaue Farbe wie die Blumen, die Luna so liebt… „Du hast Recht“, gebe ich zu und lehne mich in die Berührung, „Danke dir.“ „Dafür sind Freunde doch da.“ „Dann danke ich dir, dass du mein Freund bist.“ „Bedank dich bei Luna, wenn wir sie befreit haben. Ohne sie hätte ich nie den Mut gehabt, dich nochmal anzusprechen…“ Nun muss ich auch grinsen. „Ich weiß. Aber ich fand deinen ersten Versuch schon mutig genug… ich hätte mich das nicht getraut. Und ich war und bin unglaublich froh, dass du mich überhaupt angesprochen hast. Bist der einzige, der mich je gefragt hat, ob ich sein Freund sein will.“ Promptos Umarmung wird fester. „Ich hab es nie bereut.“ Kapitel 39: Helden (Nyx Scientia) --------------------------------- Es ist eine Sache, einen Anime zu sehen, in dem zehnjährige Kinder die Welt retten. Da glaubt man leicht, dass es möglich ist, dass man mit zehn Jahren oder sogar weniger schon alt genug ist, allein und ohne Eltern in die weite Welt zu reisen und Abenteuer zu bestehen. Ich glaube auch, dass ich es könnte. Wenn ich muss… ich weiß, wie man ein Zelt aufbaut und wie man Fische fängt. Ich kann alleine Einkaufen, gute Entscheidungen treffen und bin generell so erzogen worden, dass ich mit meinen neun Jahren schon sehr selbstständig und besonnen bin. Aber trotzdem war ich froh, dass ich unser letztes Abenteuer nicht allein bestreiten musste. Wir hatten Erwachsene dabei, und das war gut so. Man macht sich als Zuschauer vor dem Fernseher keine Vorstellung davon, wie schlimm es ist, wirklich dabei zu sein. Wie lange man noch Albträume hat, wenn man einmal für fünf Sekunden in das Maul eines Drachen gestarrt hat. Wie viel Training es braucht, in einem solchen Moment noch Handeln zu können. Das ist nichts, was eine Hand voll Kinder einfach so schafft. Früher… da haben Crowe und ich schon davon geträumt, mal solche Abenteuer zu erleben wie die Zwiebelritter in Final Fantasy. Aber heute sind wir beide froh, dass wir stattdessen in der Grundschule sitzen und lernen dürfen. Luna, Iris und Talcott sind allein in die Zitadelle gegangen, um zu den Leuten zu sprechen, und sie sind in einen furchtbaren Hinterhalt geraten. Ich habe es nur vor dem Fernseher miterlebt, froh, dass ich die Hand meiner Mutter halten und in ihre Brust weinen durfte anstatt dabei zu sein und mit in den Kerker gebracht zu werden. Ich hatte solche Angst… und die habe ich jetzt noch. Dabei scheint die Sonne über Lucis und ich sitze im Schatten eines jungen Baumes auf dem Pausenhof, ein liebevoll hergerichtetes Mittagessen auf dem Schoß und ein Schulbuch daneben. Aber meine Gedanken sind düster. Luna, Iris und Talcott, die so lange mit uns unterwegs waren und uns beschützt haben, sind gefangen und sollen vielleicht getötet werden. Mama sagt, dass das nicht passieren wird weil Rashin weiß, dass er sich mit dem Mord an der Kannagi die ganze Welt zum Feind machen würde, aber dennoch… es sind meine Freunde, fast eine Familie. Jemand muss sie retten. Aber Papa und die anderen sind weit weg, vielleicht tot, vielleicht ebenfalls gefangen. Die Königsgleve und die Garde haben sich aus Insomnia zurückgezogen. Unwillig, Rashin zu gehorchen, aber zu klug, offen zu rebellieren. Sie werden gebraucht um die Menschen zu schützen, aber sie bleiben defensiv. Hier in der Stadt ist nur noch die Polizei aktiv, und die gehört Rashin, der sich als Vater des neuen Königs zum Alleinherrscher aufgeschwungen hat. Unglaublich, wie schnell die vorher so monarchiefeindlichen Politiker sich vor ihm verneigt haben. Zumindest drei davon… die Krieger des Lichts haben sich brav aufgelöst und sind im Untergrund verschwunden, Drachenherz rebelliert offen mit lauten Demonstrationen und Farbattacken. Viele sind eingesperrt worden, ihre Plakate werden schnell abgerissen, keiner traut sich, ihre Anführer im Fernsehen reden zu lassen. Was Insomnia… nein, was ganz Lucis jetzt braucht, ist ein Held. Jemand, der kämpft, um die Welt zu retten vor dem Krieg, den Rashin gerade anfängt. Ich beiße in ein Reisbällchen und denke weiter nach. Ich habe mich informiert über die politische Lage im Moment. Lunafreya ist nicht nur die eigentliche Königin von Lucis, sie ist auch Prinzessin von Tenebrae und Schwester des tenebrischen Königs, Ravus Nox Fleuret. Allein ihre Gefangenschaft ist praktisch eine Kriegserklärung, und alles, was König Ravus von einem Erstschlag abhält, ist die vernünftige Haltung von Kanzler Populus, der um das Wohl seines Volkes fürchtet. Tenebrae ist kein großes Land und hat wenig Streitmacht, aber sollte es zum Krieg kommen, wird Rashin sich schwertun, Soldaten zu finden. Die Garde und die Gleve sind dem alten König treu, sie würden eher für Luna als für Rashin kämpfen. Auch, dass Nova der neue König sein soll, von dem Noct gesprochen hat, glaubt nicht jeder, nicht, nachdem der Ring der Lucii ihn so bestimmt abgewehrt hat. Nova ist nicht gestorben, aber… aber das bin ich auch nicht. Die alten Könige sind keine Unmenschen, sicher haben sie Verständnis für Kinder, die zum Anlegen des Ringes nur gezwungen werden. Aber im Grunde gibt es nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Das hier ist nicht Final Fantasy, und ich bin kein Zwiebelritter, aber… aber die Welt braucht einen Helden. Und eines, was sie im Fernsehen sagen, stimmt: Manchmal sind die Erwachsenen einfach nicht in der Lage, das Richtige zu tun. Ich leere den Rest meiner Bentobox, wecke Crowe, die neben mir im Gras döst, und mache mich mit ihr an meiner Seite auf den Weg über den Schulhof. Nova mag der neue König sein, aber er ist auch mein Freund, und auch er geht wie alle anderen Kinder zur Schule. Ich kenne ihn gut; er geht dem Trubel gern aus dem Weg und ich weiß, wo er sich dann versteckt. Wie erwartet finde ich ihn hinter der Turnhalle. Und schon verlässt mich fast der Mut. Nova ist… schwierig, gerade jetzt, wo er König ist. Er erinnert sich an alles, worüber wir je gesprochen haben, und, dass er mein Freund ist, aber es hat gedauert, bis er diese Freundschaft wieder gefühlt hat. Und immer noch kommt es mir vor, als wäre er jemand Fremdes. Drei Wochen ist die Krönung jetzt her, wir hatten wenig Gelegenheit zu sprechen seitdem, und das alte Vertrauen zwischen uns keimt gerade erst wieder auf. Warum nur fühlt es sich jedes Mal, wenn er eine Weile krank war, so an, als müssten wir erst wieder Freunde werden? Wir haben doch nie gestritten. „Hallo Nyx“, grüßt Nova und legt fragend den Kopf schief, „Alles okay bei dir?“ „Ja... alles gut. Ich mache mir nur immer noch Sorgen um meinen Papa und seine Freunde“, rede ich mich raus. Vielleicht habe ich heute doch noch nicht die Kraft, meinen Freund zur Rede zu stellen. „Mein Papa ist auch verschwunden“, fügt Crowe hinzu. Sie ist ordentlich gewachsen während unserer Reise. Obwohl sie zwei Jahre jünger ist, ist sie fast schon so groß wie ich, und sogar größer als Nova, der in meine Klasse geht. „Stimmt ja, die Gruppe um den alten König“, fällt Nova ein, „das sind eure Väter…“ Er wirkt betroffen, blickt zu Boden. „Ihr habt sie bestimmt gern, oder? Bist du deswegen böse auf mich, Nyx? Mein Vater hat nichts damit zu tun, dass sie verschwunden sind…“ „Ich weiß. Und ich bin nicht böse auf dich, nur… nur traurig, weil dein Vater denkt, König Noctis wäre böse. Ich hab ihn kennen gelernt, und er ist wirklich lieb. Er… will auch nicht wirklich König sein, weißt du? Er hat immer gesagt, dass er sofort zurücktritt, wenn der neue König kommt.“ „Vater denkt, er hätte den Ring verflucht, damit ich ihn nicht tragen kann“, gibt Nova zu bedenken. „Das hat er bestimmt nicht gemacht“, wende ich ein, „Der Ring tötet jeden, der ihn nicht tragen darf, und du bist doch am Leben, oder? Noctis würde nie zulassen dass ein Kind stirbt. Ich… ich bin sicher, er würde dich mögen, wenn er dich kennen würde.“ „Aber er hasst meinen Vater, oder?“ „Dein Vater hasst vor allem ihn… ich glaube, das bedingt sich“, überlege ich, „Es ist schwer, jemanden zu mögen, der einen hasst.“ „Das stimmt.“ Nova nickt zu einem einsamen Baum hinüber, der ganz neu gepflanzt worden ist. Die Birke, unter der wir bisher immer zusammen gesessen sind, ist kaputt gegangen, jetzt steht eine neue an der Stelle. Irgendwie ist es fast wie meine Beziehung mit Nova… die gleiche Stelle, aber ein neuer Baum. Ähnlich, aber nicht gleich. Trotzdem werde ich mich an die Veränderung gewöhnen, wie ich es immer getan habe. Der Baum ist neu, aber Nova ist immer noch Nova. Zu dritt setzen wir uns in den schmalen Schatten der Blätter. Nova wirkt nachdenklich. „Ich glaube, dass mit meinem Vater etwas nicht stimmt“, gibt er zu, „Dass überhaupt alles eine große Lüge ist. Aber ich traue mich nicht, allein nachzuforschen…“ „Du bist nicht allein“, gibt Crowe zu bedenken, „Wir sind doch Freunde.“ Nova lächelt. „Ja, das stimmt. Wie die Zwiebelritter aus Final Fantasy, stimmt’s? Nur, dass wir nur zu dritt sind. Habt ihr trotzdem Lust auf ein Abenteuer?“ „Ich bin Refia!“, meint Crowe eilig und hebt die Hand, bevor ihr jemand den Charakter streitig machen kann. Nova lacht und ich stimme mit ein. „Dann will ich Ingus sein“, füge ich hinzu und sichere mir gleich den coolsten der Zwiebelritter. „Ich als Anführer bin dann wohl Luneth, was?“, meint Nova. „Ja, das passt. Du hast die gleichen Haare wie er!“, findet Crowe begeistert, „Dann fehlt nur noch Arc.“ Eine Weile diskutieren wir, ob wir noch jemanden rekrutieren sollen, aber letztlich sind Nova und ich uns einig, dass wir niemanden sonst mit hineinziehen wollen. Zu gefährlich für ein Kind. Außerdem würde ich die freie Position im Team gerne für Cid frei halten, wenn er alt genug ist. Wir haben das Baby in Hammerhead kurz kennen gelernt und er war uns gleich sympathisch, allein schon, weil Cidney gesagt hat, dass er Promptos Sohn ist. Wir durften eine Weile auf ihn aufpassen, während Cidney den Star of Lucis gewartet hat, und Cid war ganz brav in der Zeit. „Okay, passt auf“, ruft Nova uns wieder zur Ordnung, „Jetzt klingelt es gleich, aber wir treffen uns in der nächsten Pause wieder hier und besprechen den Plan, klar? Und das bleibt alles unter uns, also absolute Geheimhaltung, bitte.“ „Versprochen“, versichern Crowe und ich, und wir drei legen die Hände zusammen. Es ist verdammt schwer, sich auf Mathe zu konzentrieren, und Literatur fällt mir auch nicht gerade leicht, weil ich mit den Gedanken ganz woanders bin. Zum Glück habe ich während unserer Reise fleißig gelernt, um in meiner Abwesenheit nicht zurückzufallen, und bin der Klasse immer noch ein Stückweit voraus, weil ich mich besser an den Zeitplan des Lehrplans gehalten habe als die Lehrer es ohne Monster und Dungeons geschafft haben. So kann ich alle Fragen beantworten, auch, wenn ich mal nicht richtig aufgepasst habe. Zum Glück ist der Stoff in beiden Fächern nicht besonders schwer… oder Mama hat Recht und ich bin wirklich schlauer als die anderen Kinder. Mutiger bin ich allerdings nicht, stelle ich fest, als wir uns am Abend wie in der zweiten Pause besprochen im Park treffen. Wie abgemacht habe ich meiner Mutter erzählt, ich würde bei einem Schulfreund übernachten – ein Mädchen aus Crowes Klasse, Vivi. Sie ist nicht in den Plan eingeweiht, weiß aber, dass wir etwas anstellen und gibt uns Deckung. Ihre Eltern sind dauernd am Arbeiten, da geht also niemand ans Telefon, der uns verpetzen könnte. Vivi selbst ist eine Regelbrecherin der alten Schule, auf sie ist Verlass, wenn es um Verschwörungen wie diese hier geht. Nervös rücke ich die Kapuze meines dunklen Pullis zurecht. „Bereit?“, fragt Nova. Crowe und ich nicken nervös. Wir haben schon schlimmere Dungeons eingenommen, heute ist nur das erste Mal, dass wir keine erwachsenen Beschützer dabei haben. Zu dritt schleichen wir durch den Park, vorbei an Bäumen, Sträuchern und Parkbänken, abseits der Wege und vorbei an den wachen Augen der Parkwächter und den schnarchenden Obdachlosen unter der Brücke. Ein Rabe kräht laut auf einem der Mülleimer, seine Stimme lässt uns ertappt zusammenzucken. Aber der Vogel streitet nur mit einem anderen um die Reste eines Burgers, auch er hat uns nicht bemerkt. Ich löse die Hand von der Pistole an meinem Gürtel und schleiche weiter. Direkt hinter dem Park, genauer gesagt fast noch in ihm, liegt das Fabrikgelände der Rashin Electric Power Company, dem größten Energielieferanten nach Exineris und dem einzigen Stromversorger Insomnias bis zu seinem Ausfall vor über zwei Monaten. Nova hat eine Karte aus dem Bestand seines Vaters mitgehen lassen und kann uns so bequem Zugang verschaffen, aber unser Weg führt nicht in die Räume, die wir vor zwei Jahren mit der Schulklasse besuchen durften. „Unter dem Kraftwerk gibt es noch mehr Räume, aber da darf nicht jeder hin“, erklärt Nova flüsternd, als er uns durch die Anlage führt, „Ich glaube, dass ich da schon mal gewesen bin, aber ich kann mich kaum erinnern. Und ich meine das nicht so wie sonst, wenn ich mal krank war… da vergesse ich nur Details, aber das kommt mir komischer vor.“ Ich lege angestrengt die Stirn in Falten, als wir warten, bis eine Gruppe Angestellter an uns vorbei gelaufen ist. Nova vergisst nicht nur Details, wenn er mal krank ist… es ist mehr, als würde er alle Gefühle vergessen, die an seinen Erinnerungen hingen. Und einen Teil von sich selbst. Da ist noch mehr, was er uns nicht erzählt, aber ich vertraue meinem Freund genug um zu glauben, dass er seine Gründe hat. Dieser jetzige Nova ist wieder ein bisschen anders als der letzte, den ich kannte. Er ist irgendwie rebellisch… mir gefällt das. Mir gefällt, dass wir einem Geheimnis auf den Grund gehen, wir als Team, und dass Nova mir mehr vertraut als seinem Vater, obwohl wir erst ein paar Tage wieder zusammen sind. Fast ist es, als hätte er die Gefühle seiner Erinnerungen diesmal wiedergefunden, ohne, dass ich dafür bei ihm sein musste, und das macht mir Mut, weil unsere Freundschaft etwas bedeutet. Trotzdem habe ich Angst, dass dieses Abenteuer zu groß ist für Kinder wie uns. Ich hätte lieber einen Erwachsenen dabei. Gerade die Teile des Kraftwerkes, in die Nova uns jetzt führt, sind doch reichlich gruselig – sie wirken verlassen und abgeschottet, teilweise sind sie komplett dunkel. Trotz der stählernen Wände und Treppen wirken sie mehr wie die Gänge eines, wenngleich künstlichen, Dungeons, als wie ein richtiger Arbeitsplatz von lebenden Menschen. „Wollen wir nicht lieber das Licht anschalten?“, frage ich leise. „Geht nicht“, entgegnet Nova, „Hier unten gibt es kein Licht, das ist ja das Seltsame. Man muss immer mit der Taschenlampe durch die Gänge, Lampen gibt es nur in bestimmten Räumen…“ Mir wird mulmig zu Mute und ich stelle sicher, dass meine Waffe geladen und bereit ist. Auch Crowe greift nach ihrem Schwert, und das gerade noch rechtzeitig, denn schon formen sich in der dunkelsten Ecke des Ganges die ersten Siecher. „Ausgerechnet Kobolde…“, wimmert Crowe und ich stimme im Stillen zu. Die Viecher sind verdammt schnell und zäh, meistens waren sie es, die es an Iris und Talcott vorbei bis zu uns geschafft haben. Nova geht erschrocken hinter uns in Deckung als die ersten Viecher auf uns zu springen. Ich lege an und schieße, von den vier Kugeln treffen vielleicht zwei ihr Ziel, dann muss ich schon nachladen. In der Zeit springt Crowe nach vorne und holt aus, ihr Schwert ist nicht lang, aber scharf und schnell. Sie trifft gut und hat einiges an Schwung in der Attacke, trotzdem gelingt es ihr nur mit Mühe, den ersten Kobold zu besiegen. Ich schieße ein zweites Magazin leer und fälle den zweiten Kobold, den dritten und letzten muss ich auf die Schnelle mit einem Feuerzauber ausschalten. Das Monster war schon zu nah dran und die Flammen treffen auch uns, Crowe muss sich sogar zu Boden werfen und eine Weile herumrollen, um ihren Pulli zu löschen. „Pass besser auf!“, mahnt sie mich wütend und klopft sich Asche vom Ärmel. „Tut mir Leid, ich bin so erschrocken…“ „Schon okay.“ Nova steht zitternd hinter uns. Er hat keinerlei Kampferfahrung… anders als wir war er noch nie draußen, wo die Monster sind. „Bei dir auch alles in Ordnung?“, frage ich besorgt. Nova nickt tapfer. „Ich hätte wohl Waffen mitnehmen sollen…“, gibt er zerknirscht zu. „Wenn ich gewusst hätte, dass es hier unten so dunkel ist, hätte ich dich gewarnt, dass wir Siecher treffen können. Kannst du denn Magie einsetzen?“ Nova schüttelt den Kopf. „Schon komisch, oder? Als König sollte ich es eigentlich können, aber das ist nicht so. Vater behauptet, es läge am Ring und den Lucii…“ „Das glaube ich nicht. Der Ring birgt die Macht der alten Könige, aber die Fähigkeit, Magie zu nutzen, kommt aus dem Kristall. Den hast du doch berührt, oder?“ Nova beißt die Zähne zusammen und blickt zu Boden. „Ich dachte, ich hätte es. Aber ich kann mich nicht erinnern, ebenso wenig daran, dass ich den Ring angelegt hätte. Vater hat mir nur davon erzählt, auch, dass ich bewusstlos geworden bin, nachdem es passiert ist. Glaubst du, er hat mich angelogen?“ Ich kann Tränen in Novas Augen sehen und weiß nicht, was ich sagen soll. Er tut mir Leid… ich will ihn nicht verletzen, aber Nova ist mein bester Freund. Ich schulde ihm die Wahrheit. „Ja, ich bin sicher, er lügt. Über den Kristall, über den Ring… und auch, dass du der neue König bist.“ „Was macht dich so sicher?“ Nova sieht mich direkt an, und auch Crowes Augen sind direkt auf mich gerichtet. Ich fühle mich unter Druck gesetzt, aber gleichzeitig weiß ich, jetzt mehr denn je, was wirklich hinter all dem steckt. Was mir all die Zeit niemand sagen wollte, weil ich nur ein Kind bin, aber was ich die ganze Zeit wusste, weil einer es mir direkt gesagt hat. „Weil ich… ich bin der König.“ Ich lasse die Worte einen Moment wirken und nutze die Zeit, um tief durchzuatmen. Die Bedeutung meiner eigenen Worte trifft mich ebenso hart wie die Freunde, denen ich sie ins Gesicht sagen musste. „Bahamut hat es mir gesagt, als ich den Kristall berührt habe. Der Zauber, den ich gerade gewirkt habe, der kam nicht von Noctis, ich habe den Magieflakon selbst gefüllt. Mit Magie, die ich selbst heraufbeschworen habe. Den Ring hatte ich auch an der Hand. Es war beängstigend, und gruselig, aber es hat mich nicht getötet. Ich dachte es wäre, weil ich ein Kind bin, oder weil Noctis mich beschützt hat, aber… aber die alten Könige haben mich ebenso getestet wie jeden anderen, der den Ring anlegt. Mir ist nichts passiert, weil ich der neue König bin, derjenige, der den Ring tragen darf und soll. Deswegen hat Luna ihn mitgenommen… damit er in meiner Nähe ist, nicht in der von Noctis. Und deswegen sind wir zu den Königsgräbern gegangen… Noctis wollte, dass ich die Kraft seiner Vorfahren habe. Vielleicht brauche ich sie jetzt.“ Mir ist kalt vor Angst und meine Hände zittern. Ich weiß, dass Noct mich genau hiervor beschützen wollte… er wollte nicht, dass ich in diesen Schlamassel gerate, bevor ich erwachsen bin. Aber er ist fort, und ich bin vielleicht der einzige, der die Welt jetzt retten kann. Als neuer König, aber vor allem als Held. Nova sieht mich lange an, dann nickt er. „Ich glaube, du hast Recht. Und ich glaube, da ist noch mehr, worin mein Vater gelogen hat. Glaubst du, ich kann Magie einsetzen, wenn du es mir erlaubst? Wie einer von der Königsgarde?“ „Natürlich, hier“, ich grabe in meiner Tasche nach und hole einen Flakon heraus, den ich Nova geben kann, „Das ist ein Eiszauber, und zwar ein ziemlich guter. Behalt den Flakon in der Hand und konzentrier dich darauf, den Zauber auf die Gegner zu werfen, aber pass auf, dass wir nicht zu nahe dran sind, sonst passiert es genauso wie mir gerade.“ Nova nimmt den Flakon und nickt entschlossen. „Gut, dann kann ich immerhin auch kämpfen und bin nicht ganz nutzlos.“ „Bist du bestimmt nicht“, versichert ihm Crowe, „Ich bin Nyx’ Schild, aber du kannst sein Berater sein, wenn du willst. Wir beschützen ihn, und wir retten zusammen die Welt.“ Ich weiß nicht, wo sie diesen Mut hernimmt, aber ich bin erleichtert, Crowe lächeln zu sehen. Sie ist wirklich Gold wert… ich fühle mich sicherer. „Gehen wir weiter“, beschließe ich, „Finden wir die Wahrheit.“ Der weitere Weg ist nicht weniger lang und gefährlich wie der bisherige, aber unsere Moral ist gestärkt und Nova stellt sich tatsächlich als sehr fähiger Magier heraus. Egal, welchen Zauber ich ihm gebe, er macht das Beste daraus und schafft es oft mit nur einem Angriff, mehrere schwache Siecher auf einmal auszulöschen. Wenn doch einer zu nahe kommt, kann Crowe ihn mit ihrem Schwert gut genug in Schach halten, bis ich ein oder zwei Schuss ins Ziel bekomme, trotzdem ist der kleine Vorrat Heiltränke, den ich aus Mamas Bestand schmuggeln konnte, bald auf die Hälfte geschrumpft. Crowe erträgt die Schmerzen tapfer und auch ich beiße die Zähne zusammen, aber Nova ist es nicht gewohnt, zu kämpfen. Er gibt sein bestes, bricht aber immer öfter weinend zusammen. Ich nehme ihn tröstend in den Arm, als wir im Schutz eines der wenigen beleuchteten Räume eine Pause einlegen. „Tut mir Leid“, wimmert er, „Tut mir Leid, dass ich so schwach bin.“ „Ist okay“, versichere ich ihm, „Du bist nicht schwach, das ist ganz normal. Crowe und ich haben auch so geweint, als wir das erste Mal verletzt worden sind. Wir waren ein paar Monate unterwegs und haben oft kämpfen müssen, nur noch nie ganz allein…“ „Tante Iris hatte Recht“, gibt Crowe zu, „Wir sind wirklich noch zu klein, um alleine zu kämpfen. Aber zum Umdrehen ist es jetzt zu spät, ja? Also halt durch, Nova, wir schaffen das. Die Zwiebelritter haben auch nie aufgegeben, wenn es schwierig wurde.“ „Das ist nur ein Anime“, gebe ich zu bedenken, aber Nova beruhigt sich trotzdem. „Crowe hat Recht. Anime oder nicht, wir wollen wie die Zwiebelritter sein, richtig? Und wir sind vom Kristall auserwählt, die Welt zu retten. Kinder oder nicht, wir müssen Helden sein, also dürfen wir nicht aufgeben. Lasst uns… lasst uns nur noch ein bisschen ausruhen, ja?“ „Klar, das tut uns allen gut“, stimme ich zu und sehe mich ein wenig um. Zwischen den Schreibtischen stehen Akkus, in denen Magie fließt. Meine Reserven sind ganz schön aufgebraucht, also nehme ich, was ich bekommen kann, um ein paar neue Zauber zu synthetisieren und die Flakons wieder aufzufüllen. Mit den Münzen und Kabeln, die ich unterwegs gefunden habe, als Katalysator, bringe ich ein paar recht starke Zauber zustande, die in Novas Händen sicher eine Menge Schaden anrichten können. Ich lobe ihn ehrlich für seine Fähigkeiten als Magier und das scheint ihm neuen Mut zu geben. „Dann weiß ich jetzt wohl meine Jobklasse, was?“, scherzt er, „Luneth, der Schwarzmagier. Klingt doch cool.“ „Ich bin Refia, die Kriegerin!“, jubelt Crowe zustimmend und wühlt eifrig durch die Kartons. Ein Diktiergerät fällt zu Boden und springt an, und was wir da zu hören bekommen, unterbricht unsere muntere Unterhaltung. Schweigend lauschen wir der Stimme des alten Mannes auf dem Band. »Niflheim, Eusiello, Tag Eins. Wir haben eine alte Magitech-Produktionsfirma gefunden. Die Anlage liegt still seit dem Fall des Imperiums, aber die Zerstörung hält sich in Grenzen. Tanks mit Biomasse gibt es hier nicht, vermutlich wurde die Anlage deshalb vor größerem Schaden bewahrt.« „Was meinen die mit Biomasse?“, flüstert Crowe und ich schüttle den Kopf. Ich weiß es nicht… aber ich habe eine furchtbare Ahnung. »Niflheim, Eusiello, Tag Zwei. Wir haben Glück. Die Fabrik in Eusiello ist tatsächliche eine Anlage zum Bau der Magitech-Soldaten, und unsere Suche nach Blaupausen ist erfolgreich. Die Maschinen sind in gutem Zustand, mit den Fotos und den wenigen fertiggestellten Robotern sollten wir alles haben, was wir brauchen, um die Technik kopieren zu können. Leider noch immer keine Spur der eigentlichen Magitech-Kerne, mit denen die Roboter betrieben werden. Wenn wir nichts finden, werden wir stattdessen mit Batterien arbeiten müssen.« „Heißt das etwa, hier wurden Magitech nachgebaut? Aber Vater sagte, er hasst die Dinger! Das sind unsere Feinde, die greifen unschuldige Leute an!“, empört sich Nova. »Niflheim, Eusiello, Tag Sieben. Unsere Suche nach Blaupausen und Prototypen für die Magitech-Kerne ist endlich von Erfolg gekrönt. Leider stellt sich heraus, dass diese mit Dunkelheit betrieben wurden. Das sollte in der heutigen Zeit nicht mehr möglich sein, aber Rashin verlangt, dass wir eine Lösung finden. Es ist schrecklich kalt hier in der Nacht und die Tage sind brütend heiß, lange halten meine Kollegen und ich es hier in der Wüste nicht mehr aus. Wir müssen schnell einen funktionierenden Magitech-Kern finden, den wir mit zurück bringen können. Wenn die Regierung von Niflheim uns hier findet, sind wir erledigt.« Es folgen noch einige Tage und Wochen an weiteren Berichten, und es wird immer deutlicher, dass Rashin die Recherche und den Neubau der Imperialen Magitech-Armee in Auftrag gegeben hat. Die Maschine, die er als „Wall der Menschlichkeit“ in Insomnia bauen ließ, basierte ebenfalls lose auf derselben Technologie, und sie diente nur dazu, die Reste der alten Armee aus der Welt zu vertreiben. Die „Biomasse“… die Menschen, mit deren sterblichen Überresten die alten Magitech betrieben wurden. Prompto und die anderen, die mit blutenden Augen aus der Stadt geschleust wurden… Rashin wollte sie aus dem Weg haben, bevor er seine Armee baut. »Niflheim, Eusiello, Tag Vierzig. Endlich haben wir einen funktionierenden Magitech-Kern gefunden. Leider ist die Biomasse alt und instabil. Ein zweiter Kern, den wir geborgen haben, ist zerbrochen und hat etwas freigesetzt, was zwei meiner Leute das Leben gekostet hat. Es sah wie ein Siecher aus, aber das ist unmöglich. Egal, wir haben, was wir wollten, und können endlich hier weg.« „Was ist in diesen Magitech-Kernen drin gewesen?“, fragt Nova beunruhigt. „Miasma“, erinnere ich mich an die Gespräche der Erwachsenen, die ich nie hätte hören sollen, „Das, was übrig bleibt, wenn ein Mensch an der Seuche stirbt. Die Imperialen haben damals extra Menschen gezüchtet, die sie mit Plasmodien infiziert haben, damit sie die Seuche bekommen und sterben. Freies Miasma erzeugt Siecher, aber in einem Magitech-Kern gesammelt kann man es wie eine Batterie nutzen, die einen eigenen Geist hat.“ „Den Geist von dem, der gestorben ist?“, flüstert Crowe entsetzt. „Ja, genau. Deswegen haben die Niffen extra Menschen gezüchtet – wenn sie ihr ganzes Leben in einem Tank schlafen, haben sie keinen starken Geist, dann sind die Siecher in den Robotern leicht zu kontrollieren. Menschen, die frei gelebt haben, werden zu eher eigenwilligen Siechern… auch stark, aber nicht kontrollierbar.“ „Kann man einen Menschen, der zum Siecher geworden ist, denn noch retten?“, fragt Nova. „Nein, der ist dann tot. Nur das Miasma bleibt, beeinflusst vom Geist des Toten… aber seine Seele ist im Himmel, wie alle, die gestorben sind. Nur die Astralen können einen dann noch zurückbringen, aber das machen sie normal nicht.“ Alle drei starren wir auf das Diktiergerät am Boden. Die Stimme hat aufgehört, es war wohl nur der Bericht über den Fund in der Fabrik aus Eusiello darauf. „Also hat mein Vater die neuen Magitech gebaut“, fasst Nova zusammen, „und als die Maschine zerstört wurde, hat er sie losgelassen um zu beweisen, dass sie uns wirklich geschützt hätte.“ „Die ersten Roboter hatten aber keine Kerne, sondern Batterien“, überlege ich. „Vielleicht hat er kein Miasma bekommen?“, mutmaßt Nova, „Es gab ja eigentlich keine Siecher mehr, und keine Seuche.“ „Die Menschen im Nordviertel hatten die Seuche“, fällt Crowe ein. „Er muss an ihnen experimentiert haben. Aber das waren Menschen mit eigenem Willen, solches Miasma konnte er nicht kontrollieren. Vermutlich hat es einige Experimente gebraucht, bis er… oh nein…“ Mir kommt ein unschöner Gedanke und ich erstarre fast vor Kälte. „Was?“ „Crowe… erinnerst du dich, wie Onkel Prompto zurückgekommen ist?“, frage ich. Wir haben ihn damals nicht oft zu Gesicht bekommen, Papa wollte nicht, dass wir ‚Sanni‘ zu nahe treten. Er sagte, der Mann sei krank… über meine Mutter habe ich erfahren, dass Prompto gefangen gehalten wurde und dass man ihm schlimme Dinge angetan hat. Ich durfte ihn nie darauf ansprechen, das wurde mir eingeschärft. „Ja… er war ganz krank, richtig?“ „Er wurde gefangen gehalten und gefoltert, zusammen mit anderen ‚Klonen‘, wie Papa sie nennt. Prompto ist einer von denen, die gezüchtet worden sind, um zu Miasma zu werden, nur, dass er als Baby gerettet wurde. Ich glaube… ich glaube, Rashin hat an ihnen erforscht, wie er kontrollierbares Miasma herstellen kann.“ Meinen Worten folgt ein langes Schweigen, dann zieht Nova einen dicken Ordner aus einem der Regale. „Du hast Recht“, murmelt er betreten und blättert durch die Akten, „Hier sind Berichte aus den Camps… die Forscher dort haben an den alten MI erforscht, wie die Niffen damals so willenlose Soldaten aus ihnen gemacht haben. Es war nicht sehr erfolgreich, auf der letzten Seite steht, dass die MI ihre Tanks vor dem Tod nie verlassen dürfen, weil ein einmal entwickelter Charakter nicht mehr auszulöschen ist.“ Er sieht furchtbar bleich aus. „Da steht… wie sie sie gefoltert und gedrillt haben. Das ist furchtbar… wie kann Vater so etwas nur zulassen? Wie kann er sowas nur in Auftrag geben?“ Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und schlage einfach den Ordner zu, den Nova hält. Crowe legt unserem Freund tröstend die Hand auf die Schultern. „Tut mir Leid, Nova… das ist so traurig…“ Sie umarmt ihn herzlich und ich kann nicht anders, als mitzumachen. Novas Eltern sind geschieden, seine Mutter wollte nie etwas mit ihm zu tun haben. Es muss furchtbar sein zu erfahren, dass sein Vater so ein grausamer Mensch ist. „Nova…“, beginne ich, und meine Stimme zittert, „Nova, hör mir zu, ja? Ich will, dass du weißt, dass wir deine Freunde sind. Egal was passiert, und egal, was wir hier noch herausfinden, wir halten zu dir. Wir lassen dich nicht alleine, versprochen.“ „Nyx hat Recht, wir sind deine Freunde“, stimmt Crowe mir zu, „Für immer und ewig. Egal was dein Vater gemacht hat, das hat nichts mit dir zu tun, ja?“ „Ja. Danke… danke euch beiden. Ihr wisst ja gar nicht, wie lieb ich euch hab…“ Nova weint heftig und ich umarme ihn noch etwas fester. Fast wünschte ich, wir wären hier nie rein gegangen… ich wusste, dass Rashin etwas Übles plant, aber dass er zu so furchtbaren Sachen fähig ist, hätte ich nicht gedacht. All die Sachen, von denen Papa nicht wollte, dass ich sie weiß… und jetzt sind wir hier und müssen alle Details davon lesen und hören. Jede Zeile, die diese herzlosen Wissenschaftler auf Papier geschrieben haben über die Experimente, die sie an lebenden Menschen durchgeführt haben. Ich wünschte, Papa wäre hier. Aber das ist er nicht. Wir sind nur ein paar Grundschulkinder, und wir sind allein. „Die Wahrheit tut weh.“ Novas Worte überraschen mich. Er spricht klar und deutlich, und er steht auf, ohne zu zittern. „Aber sie ist wichtig. Vielleicht… sind wir nicht stark genug, um die Welt zu retten. Aber wenn wir die ganze Wahrheit finden und der Welt erzählen können… dann reicht das vielleicht schon. Dann müssen wir keinen Drachen und keine böse Hexe besiegen, wir erzählen einfach allen, dass Papa gelogen hat und in Wirklichkeit du der echte König bist. Wir holen den Ring… und wir sagen der Welt, was Papa getan hat. Dann sperren sie ihn ein und legen die Magitech lahm. Es liegt an uns. Wir müssen jetzt stark sein, dann wird alles wieder gut.“ „Genau. Weil die Guten gewinnen immer!“, stimmt Crowe zu und hebt ihre Hand, damit Nova einschlagen kann. Ich greife den Talisman in meiner Tasche und spüre nach der Kraft darin. Die Götter greifen nicht gerne in weltliche Geschehen ein, es braucht viel Kraft, sie im Kampf zu rufen. Aber in diesem Talisman steckt ein Freund, den Noctis mir zur Seite gestellt hat. Karfunkel… ich weiß nicht, ob er ein Gott, ein Emissär, oder etwas ganz anderes ist, aber Noctis hat gesagt, er würde mich beschützen. Ich habe ihn nie selbst gesehen, aber ich spüre, dass er da ist, und deswegen fühle ich mich nicht allein. Nova zieht sein Handy aus der Tasche und fotografiert akribisch jede Seite der Berichte, die wir gefunden haben, dann nimmt er die Kassette aus dem Diktiergerät und steckt sie ein. „Gehen wir weiter. Ich weiß ungefähr, wo Papa den Ring versteckt hat. Den brauchen wir.“ Nova führt uns zielsicher auf den Gang zurück und tiefer ins Innere des Kraftwerks. Auch hier ist es finster und neue Siecher lauern hinter jeder Kurve, aber langsam lernen wir, damit umzugehen. Nova ist ein Naturtalent, was den Umgang mit Magie angeht, und Crowe macht dem Namen Amicitia alle Ehre. „Papa hat gesagt, wenn ich dreizehn bin, darf ich in der Garde anfangen“, erinnert sie sich, „und das ich mit sieben die Hälfte geschafft habe. Aber ich hab Mathe gelernt, und die Hälfte von dreizehn ist nicht sieben, sondern sechseinhalb, und so alt bin ich schon.“ Sie wirkt so stolz darüber dass ich es mir verkneife, zu sagen, dass sie immer noch nur halb so alt ist, wie sie sein sollte. Ich tausche einen Blick mit Nova und er ist definitiv meiner Meinung. Soll Crowe sich weiter für Erwachsen halten – wenn ihr das die Kraft gibt, die wir brauchen, ist es schon gut. Wir brauchen jedes Bisschen Kraft und Mut, das wir finden können, um lebend aus diesem Abenteuer herauszukommen. Wieder schließt sich meine Hand fest um den Talisman in meiner Tasche. Ich wünschte, Papa und die anderen wären hier… Ich wünschte, wir wären nicht so klein und allein hier unten. Kapitel 40: Heimweh (Prompto Argentum) -------------------------------------- Soweit hat der Plan schon mal funktioniert. Wir sind in Lucis, in ein paar Stunden erreichen wir Hammerhead. Zumindest, wenn ich diese blöde Kiste wieder zum Laufen bekomme. „Immerhin wollte der Typ unsere Namen nicht wissen“, murmelt Gladio. Ich kann hören, wie er sein Zelt ausschüttelt, um die Zeit zu nutzen, die ich hier unter dem Auto klemme. Das Campen im Regen ist genau wie früher und Ravus ist eine sympathische Begleitung. Nett, hilfsbereit, und ein guter Kämpfer. Aber er ist groß, und unser Zelt ist nur für vier Leute gedacht. Zum Glück haben Noct, Ignis und Gladio kein Problem damit, wenn ich ihnen etwas näher auf die Pelle rücke. „Kann ich verstehen“, murre ich und angle nach dem Schraubenzieher, „Der wollte sicher einfach nur dieses Wrack loswerden…“ Die Kiste ist schon zum dritten Mal liegen geblieben. Ein Glück, dass wir uns gleich ein paar Pannensets mitgenommen haben, sonst hätten wir echt ein Problem. Und Blasen an den Füßen. „Du kriegst ihn doch wieder hin, oder?“, fragt Noct und beugt sich zu mir herunter. „Denke schon. Reichst du mir mal den Hammer?“ „Bitteschön. Bin froh, dass wir dich haben.“ Ich grinse und mache mich daran, den Unterboden der Rostlaube zu restaurieren. Hoffnungslos. „Weiß ich“, gebe ich zurück, „Deswegen bin ich ja hier. Weil ihr mich gern habt.“ „Das haben wir.“ Noct lässt sich neben dem Auto auf den Boden fallen. „Wir haben dich wahnsinnig gern.“ „Ich mag euch auch. Und ich glaub, die Karre läuft wieder.“ Ächzend krieche ich unter dem Schrotthaufen heraus und rutsche auf den Fahrersitz, um ihn anzuwerfen. Funktioniert, die Bremse reagiert wieder so wie sie soll und als ich nach ein paar Metern Fahrt nochmal unter das Auto blicke sehe ich auch keine neuen Ölflecken. „Sollte für’s Erste passen.“ „Dann nichts wie los. Kann es kaum erwarten, wieder in Takkas Imbiss zu sitzen“, schnurrt Noct, streckt sich, und lässt sich auf die Rückbank sinken. Es ist sicher eng dort, eingekeilt zwischen Gladio und Ravus, aber Noct beschwert sich nicht. Immerhin sind wir so schön anonym. Ich rutsche auf den Beifahrersitz, um Ignis das Steuer zu überlassen. Hier vorne ist es auch nicht gerade geräumig, aber immerhin habe ich einen ganzen Sitz für mich alleine und ein wenig persönlichen Luftraum drum rum. „Vergesst nicht, dass in Hammerhead noch jemand auf uns wartet“, fügt Ignis hinzu. Ich werde ein bisschen unruhig, zapple in meinem Sitz herum und versuche, nicht zu sehr nachzudenken. Cidney und ihr Baby. Mein Baby. „Mach Prompto bitte nicht nervöser, als er eh schon ist“, bittet Noct ruhig. Ignis lächelt mich kurz an, richtet seinen Blick dann wieder auf die Straße. „Prompto hat sich viel um Nyx gekümmert, als der noch ein Baby war. Und auch danach noch. Ich habe mich immer gefragt, wann er wohl endlich ein eigenes Kind bekommt… Cid ist bestimmt ein ganz süßes Baby.“ Ich lächle verkrampft und streiche mir durch die Haare. Cid ist bestimmt ein ganz Süßer… schließlich ist Cidney seine Mutter, und ich bin auch nicht ganz hässlich. „Ich bin trotzdem nervös“, gebe ich zu. „Das ist normal“, steht mir Gladio bei, „Als Edna schwanger war, war ich auch völlig fertig… aber du wirst sehen, wenn du das Baby erst mal im Arm hast, willst du es gar nicht wieder hergeben.“ „Stimmt, daran kann ich mich erinnern.“ Auch, wenn ich es ungern tue. Gladio ging es wirklich nicht gut in der Zeit… er hat zweimal versucht, sich umzubringen. Aber das weiß niemand. Niemand außer mir. Ich war derjenige, der ihn mit seiner Alkoholvergiftung ins Krankenhaus geschleift und vor seiner Frau die Tabletten verschwiegen hat, die ihm der Arzt samt Alkohol aus dem Magen gespült hat. Nur ein paar Wochen später habe ich ihn auf einem Hausdach konfrontiert; hoch oben und bereit zu springen. Ich hab ihn provoziert, er hat mich geschlagen, dann musste er mich ins Krankenhaus bringen und hatte keine Zeit mehr zu springen. Ich bin bei ihm zu Hause geblieben bis das Baby da war, danach ging es ihm besser. Soweit ich weiß hat er es danach nicht mehr versucht. Eine Therapie täte ihm sicher auch gut. „Cidney selbst freut sich sicher auch, dich wiederzusehen“, wirft Noct ein, „Sie war ganz schön besorgt um dich.“ „Ja, wir haben telefoniert. Sie hat sich gefreut zu hören, dass es mir wieder besser geht. Aber ich freu mich auch total, sie wiederzusehen. Nur schade, dass wir keine Zeit haben werden, das zu genießen. Luna hat Vorrang… Aber Cidney hat vielleicht ein Auto für uns, mit dem wir die letzten Meter nach Insomnia leichter überwinden als in dieser klapprigen Kiste.“ „Diese klapprige Kiste könnten wir aber relativ unauffällig stehen lassen, wenn wir kurz vor dem Tor in die Kanalisation klettern“, überlegt Ignis, „worauf ich offen gestanden wenig Lust habe.“ „Ja, ich hatte auch gehofft, dass wir da nicht nochmal durch müssen“, stimmt Gladio zu. „Ihr wart schon mal da unten?“, hake ich verwirrt nach und blicke abwechselnd zu Ignis neben mir und Gladio hinter mir. „Ja, leider“, murrt Noct, „War nicht der schönste Ausflug. Aber diese Maschine, die dich ferngehalten hat, war auch direkt unter der Zitadelle… die Kanalisation war der einzige Weg, auf dem wir sie erreichen konnten.“ „Ich hoffe, du weißt zu schätzen, dass wir für dich durchs Abwasser gekrabbelt sind“, neckt Gladio. „Naja, streng genommen…“, wendet Ignis ein. „Streng genommen war die Maschine ja nicht nur mein Problem“, beende ich den Satz. „Aber du warst unser stärkster Antrieb“, meint Noct lapidar, „und du hast uns ordentlich gefehlt.“ „Danke. Das ist süß.“ „Wir waren zu der Zeit auch in einer Kanalisation unterwegs“, fällt Ravus ein, „Wenn ihr dauernd mit ihm unterwegs seid, verstehe ich, warum er euch gefehlt hat. Als würde man nach zehn, zwanzig Jahren zum ersten Mal den Fernseher abschalten.“ „Kommt recht gut hin, ja“, stimmt Noct zu. Ich verkrümle mich zurück in meinem Sitz und starre angestrengt aus dem Fenster, unsicher, ob ich mich gelobt oder ausgelacht fühlen soll. Aber ich weiß, dass meine Freunde mich sehr gern haben. Ich glaube ihnen gerne, dass sie mich vermisst haben. Noct hat meinetwegen schon viel mehr auf sich genommen. Und ich würde jederzeit alles für ihn tun. Der Motor stottert und ich blicke genervt wieder hoch. Scheint, als läuft er nicht ganz rund, aber noch fährt das Auto, und der Tank ist auch noch halb voll. Ich will nicht noch einen Boxenstopp einlegen. Nicht so kurz vor Hammerhead… ich will doch nur endlich zu Cidney. Dabei will ich auf der anderen Seite eigentlich fast weglaufen vor lauter Angst wegen des Babys. Aber wenn ich so darüber nachdenke… Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, wovor ich eigentlich Angst habe. Cidney liebt mich. Sie ist glücklich, dass gerade ich der Vater ihres Babys bin und nicht jemand anderes. Als ob ich tatsächlich die beste Wahl wäre. Ignis und Gladio sind sich sicher dass es etwas Gutes ist, dass ich Vater bin, und auch Noct wirkt eher erfreut als alles andere. Dass ich einer von Besithias Klonen bin scheint niemanden außer mir zu interessieren. Eigentlich gibt es keinen Grund, nervös zu sein. Ignis hat auch Recht; ich habe mich viel um Nyx gekümmert und mich dabei nicht allzu schlecht angestellt. Spaß gemacht hat es außerdem. Vermutlich wäre ich wirklich ein guter Vater. Ob der kleine Cid wohl genauso winzig ist wie Nyx damals? Ich frage mich, ob es sich anders anfühlt, wenn es das eigene Kind ist. Hammerhead kommt langsam in Sicht und das Auto hält tatsächlich beinahe durch. Zehn Meter vor dem Ziel gibt der Motor auf und wir dürfen doch noch schieben; zum Glück ist der rostige Kleinwagen wesentlich leichter als der Regalia. Ravus hilft kräftig schieben, während Gladio nur seufzend nebenherlaufen kann weil er immer noch seinen Arm schonen muss. Cidney erwartet uns bereits mit dem Baby auf dem Arm. Beim Anblick unserer königlichen Kutsche zieht sie zweifelnd die Augenbrauen hoch. Ich grinse verlegen, fühle mich irgendwie verantwortlich für den Pannensammler, den wir ihr gerade vor die Werkstatt schieben. Dass wir den Regalia nicht mehr haben, ist definitiv meine Schuld, aber der wäre eh zu auffällig. „Naja, der war billig“, rede ich mich raus, „Und der Verkäufer hat keine Fragen gestellt.“ „Schon klar, die Gurke ist schön anonym“, grinst Cidney, „Ich hoffe, ihr erwartet kein Wunder von mir.“ Ich komme kaum dazu, erleichtert aufzuatmen nach der Schiebeaktion, da drückt mir Cidney mit einem nebensächlichen „Halt Mal“ das Baby in die Hand um sich den Schrotthaufen anzusehen. Mir bleibt erst mal die Luft weg. Der Kleine ist warm und etwa so groß wie eine Katze. Vertraut lehnt er sich an meine Brust, seine hellblauen Augen blicken etwas unsicher zu mir hoch. Er ist… niedlich. Fast unbewusst schaukle ich ihn im Arm, während ich Cidney dabei zusehe, wie sie gegen den rostigen Haufen Altmetall tritt. Sie hat etwas zugenommen seit ich sie das letze Mal gesehen habe, aber ihrer Schönheit hat das nicht geschadet. Im Gegenteil, auch ihr Ausschnitt ist um einiges üppiger geworden… „Augen zu, Prompto“, flüstert Noct mir ins Ohr und zieht mich beiseite. Ich blinzle ein paar Mal und schüttle den Kopf, um mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Danke Noct. Hab mich wohl zu sehr ablenken lassen…“ Cids winzige Hände greifen fest in mein Shirt, sein erstaunlich fester Griff fühlt sich irgendwie gut an. Vertraut. Noct führt mich zu einer Bank vor Takkas Imbiss und setzt sich neben mich, einen Arm um meine Schultern gelegt. „Nur zu verständlich“, meint Noct freundlich, „Cidney ist heiß und das Baby ist unglaublich niedlich. Darf ich?“ „Schätze schon“, murmle ich, kann mich aber doch nicht überwinden, das Baby aus der Hand zu geben. Noct stört es nicht, er lehnt sich einfach näher heran und streichelt Cid nur ganz vorsichtig über die runden Wangen. „Er sieht dir ähnlich“, findet er, „richtig süß.“ „Ich bin nicht süß, ich bin cool.“ Noct grinst nur. „Natürlich bist du das. Total cool.“ „Beleidigst du mich gerade?“ „Nein, ich zieh dich nur ein wenig auf.“ „Fies.“ „Nur ein bisschen.“ Nocts Grinsen ist definitiv ansteckend. Das und das Gewicht des winzigen Menschen in meinen Armen macht mich irgendwie glücklich. Anders als damals mit Nyx oder Crowe; das hier ist mein eigens Baby. Mein Sohn… das ist ein ganz anderes Gefühl. Ich bin Vater… ich bin wirklich Vater geworden. Ich hab eine Familie. Und keine Ahnung warum mich das zum Weinen bringt. Noct drückt mich ein wenig fester und hält gleichzeitig Cid einen Finger hin, den der Kleine mit seiner ganzen Hand ergreift und gut festhält. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Cid.“, schnurrt Noct, „Na, hast du deinen Papa schon lieb gewonnen?“ Cid gluckst und schüttelt begeistert Nocts Finger. Er scheint ein fröhliches Kind zu sein… anders als ich ist er auf natürlichem Weg gezeugt und geboren worden. Er hat eine Mutter und einen Vater. Er wird geliebt. Er wird von Anfang an geliebt. Ich liebe ihn. Es ist ein überwältigendes Gefühl. Gedankenverloren streichle ich über Cids Kopf durch seine feinen blonden Haare. Es sind noch nicht viele, aber das ist in dem Alter normal. Bald wird er dichte blonde Locken haben, wie seine Mutter. Die hellblauen Augen werden sich vermutlich nicht mehr sehr ändern. Cidney und ich haben beide so helle Augen. Cid wirkt total müde, will aber nicht die Augen schließen – als hätte er Angst, etwas Spannendes zu verpassen. Noct ist dieses Gefühl fremd. Er lehnt längst wieder an meiner Schulter wie er es so oft auf der Heimfahrt von der Schule getan hat. Einfach im Sitzen eingeschlafen. Ich kuschle mich näher an ihn und schaukle Cid in meinen Armen. Ganz automatisch fange ich an, das Schlaflied zu summen, das meine Adoptivmutter immer für mich gesungen hat, wenn sie abends rechtzeitig nach Hause gekommen ist. Das war nicht oft, aber ich habe diese Momente gut im Gedächtnis behalten. Wie alle Momente, in denen ich mich wirklich intensiv geliebt gefühlt habe. So wie dieser hier. Ich habe mich oft einsam und ungeliebt gefühlt. Manchmal so sehr dass ich mich für jemanden gehalten habe, den man gar nicht lieben kann. Inzwischen weiß ich, dass das kompletter Unsinn ist. Wenn ich so an Nocts Schulter lehne, das beruhigende Gewichts meines schlafenden Sohnes im Arm, kann ich auch gar nicht mehr nachvollziehen, wie mir der Gedanke je kommen konnte. Natürlich bin ich liebenswert. Jeder Mensch hat jemanden, der ihn liebt, und ich habe sogar recht viele davon. Mama und Papa, auch, wenn sie selten daheim waren. Noct, Ignis und Gladio. Cidney. Iris und Talcott. Luna. Vielleicht sogar Ravus. Nyx und Crowe… je länger ich nachdenke desto mehr Menschen fallen mir ein, die sich freuen, wenn sie mich sehen. Liebe Menschen, denen ich sicher genauso wichtig bin wie sie mir. Verträumt blicke ich zu Cidney, die gerade unser hilfloses Fahrzeug mit einem Kran auf den Stapel für Ersatzteile hebt. Der Wagen fährt nicht mehr. Irgendwie bin ich der kleinen Kiste dankbar, dass sie uns mit ihrer allerletzten Kraft noch bis nach Hammerhead getragen hat. Als ob das Auto gewusst hätte, wie wichtig unsere Mission ist. Ignis, Ravus und Gladio sitzen vor Takkas Imbiss und diskutieren, wie es weitergehen soll. Cidney kommt derweil zu mir und quetscht sich auf das letzte bisschen Bank, das neben mir frei ist. Ich würde gerne ein bisschen rutschen, um ihr Platz zu machen, aber Noct lehnt schwer an meiner Schulter und schläft wie ein Murmeltier. „Da ist ja wer müde“, neckt Cidney und grinst, „und der Kleine schläft auch… bei mir dauert es Stunden, bis er endlich ruhig wird…“ „Naja, ich hab eigentlich nur ein wenig gesungen“, flüstere ich, „muss Nocts entspannte Aura sein, da wird man direkt selber ganz müde.“ Im Gegensatz zu Gladio, dessen schnarchen manchmal ganze Wälder wach hält, schläft Noct auch ganz leise. Selbst sein ruhiger Atem ist kaum zu hören und das, obwohl sein Kopf direkt auf meiner Schulter liegt. Sein Arm auf meinen Schultern wird langsam auch ganz schön schwer. „Der kann auch überall schlafen, oder? Beneidenswert.“ Ich lächle und blicke tief in Cidneys Augen. Sie legt eine Hand auf meinen Schoß, streichelt mit der anderen mein Baby. Unser Baby… wir sind eine Familie. Eine richtige kleine Familie. Davon hätte ich nie zu träumen gewagt. „Ich hab dich vermisst“, murmle ich leise und kuschle mein Gesicht in Cidneys dichte Locken. Ihre Haare riechen nach Motoröl, Benzin und Rostlöser, vermischt mit einem ganz schwachen Duft von Shampoo. Rosen und Nelken vielleicht, stark genug, sich gegen die Gerüche der Autowerkstatt zu behaupten. Ich fühle mich jedes Mal wieder wie frisch verliebt. „Das sagtest du am Telefon schon“, schnurrt Cidney und beugt sich so vor, dass mein Blick unvermeidlich in ihren tiefen Ausschnitt fällt. Ein sehr schöner Anblick, auch wenn meine Gedanken mit dem Baby im Arm doch in eine Andere Richtung gehen als sonst. Kein Wunder, dass der kleine Cid schon so groß und kräftig ist, an Milch mangelt es ihm sicher nicht. Ich bin ein wenig neidisch… mich musste man mit der Flasche groß ziehen. Aber im Grunde ist auch das egal, denn an die Zeit erinnere ich mich längst nicht mehr. Eher daran, dass ich auch mit fünf Jahren noch Kakao aus meiner Flasche nuckeln durfte, während Mama mich im Arm hielt… ich war schon ein glückliches Kind. „Hast du mich auch vermisst?“, frage ich schüchtern und greife vorsichtig Cidneys Hand. „Natürlich. Ganz schön schwer, hier alles allein machen zu müssen.“ Ich ziehe eine beleidigte Schnute, aber Cidney lacht nur und küsst mich zärtlich auf den Mund. „Natürlich hab ich dich auch so vermisst, Dummerchen. Ich hab dich doch gern.“ „Ich dich auch. Tut mir Leid, dass ich so lange weg war. Und, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.“ „Ist schon gut. Deine Jungs haben mir erzählt, dass es dir nicht gut ging. Dass du Fieber hattest und nicht reden konntest…“ „Ja. Ich lag eigentlich nur im Bett… hast du dir Sorgen um mich gemacht?“ „Nein. Ich wusste, du würdest es schaffen. Bist schließlich mein Held.“ Ich glühe fast vor Freude bei ihren Worten und kann nicht anders, als dämlich zu grinsen. Es fühlt sich gut an… es ist schön, geliebt zu werden, schön, Menschen zu haben, die an einen glauben. Cid schmatzt leise im Schlaf, träumt vielleicht schon von der nächsten Portion Milch, die er beim Aufwachen bekommen wird. Seine Mutter lehnt sich derweil an meine freie Seite, legt den Kopf auf Nocts Arm, um das Gesicht an meine Wange zu kuscheln. Es ist warm und gemütlich hier in der Sonne. Später Vormittag, klarer Himmel, warme Luft, aber noch nicht so heiß wie in Lestallum. Fühlt sich gut an… ich könnte mich daran gewöhnen, hier zu sitzen. Leider fällt auch schon ein Schatten über die Bank, Gladios breite Form hat sich zwischen uns und die Sonne geschoben. Ich kann sein Gesicht im Gegenlicht nicht sehr gut sehen, aber ich denke, er lächelt. „Will gar nicht stören“, murmelt er leise, „Aber wir haben einen strickten Zeitplan. Ich versteh, wenn du hier bleiben willst, Prompto – das tun wir alle – aber unseren König würden wir schon gerne mitnehmen. So wie ich das sehe stört der euch doch eh nur.“ „Mich nicht“, meint Cidney schnippisch und hält grinsend Nocts Arm fest, hilft mir aber dennoch, seine Majestät zu wecken. Noct blinzelt und murrt etwas, richtet sich aber mit einer leisen Entschuldigung auf und streckt sich, scheinbar noch unwillig, sich ganz von der Bank zu lösen. War wohl doch noch zu früh, als wir heute Morgen losgefahren sind… Kommt davon, wenn man Ignis die Zeitplanung überlässt, da haben alle um sechs angezogen vor dem Zelt zu stehen. „Cidney hat uns einen Leihwagen fertig gemacht“, informiert uns Ignis, „Gladio und ich werden ganz offiziell versuchen, einzureisen, um zu unseren Familien zurückzukehren. Falls jemand fragt ist Noctis verstorben und Prompto haben wir verloren – unsere Moral ist hinüber, wir wollen nur noch nach Hause.“ „Wir fahren mit bis kurz vor dem Stadttor“, ergänzt Ravus, „Und tauchen da in die Kanalisation ab. Du musst nicht mitkommen, Prompto. Wir verstehen alle, wenn du lieber bei deinem Baby bleiben möchtest.“ Alle sehen mich an, und das Baby in meinem Arm. Ich fühle mich plötzlich extrem unsicher, überfordert mit der Entscheidung, die mir plötzlich abverlangt wird. „Aber…“ Ich blicke auf den schlafenden Cid in meinen Armen, auf meine Freunde, die mich so lange begleitet haben, und schließlich auf Cidney, die neben mir sitzt, eine Hand auf meiner Schulter. „Ich…“ Ich weiß nicht, was ich tun soll. Weiß nicht, was von mir verlangt wird. Ich habe Angst… Angst, jemanden zu enttäuschen, Angst, zurückgewiesen zu werden, wenn ich mich falsch entscheide. Und hier kann ich mich nur falsch entscheiden. Schließlich treffen meine Augen die von Noct, finden ein wenig Halt in deren tiefem Blau. „Wollt… ihr mich denn nicht dabei haben?“ „Doch, natürlich.“ Nocts Antwort kommt schnell, und sie klingt ehrlich. Mir wird wieder etwas leichter ums Herz. „Du bist immer noch ein Teil meines Teams und du bist uns wichtig. Aber du hast hier jetzt eine Familie… ich will nicht dass du denkst, du musst mit uns kommen, wenn du lieber hier bleiben willst. Wir schaffen es auch ohne dich, wenn du lieber bei Cidney und deinem Baby bleiben willst.“ Mein Baby… ich wiege Cid in meinen Armen, blicke lange in sein schlafendes Gesicht. Wenn ich jetzt gehe… wenn ich dort unten sterbe, sehe ich ihn und Cidney nie wieder. Dann ist dieser Moment alles, was ich habe. Alles, was Cid je von seinem Vater hatte. Aber wenn ich nicht gehe… dann ist es vielleicht Noct, der dort unten stirbt. Den ich für immer verliere. Ich kann ihn doch nicht alleine gehen lassen. Er braucht mich, gerade wenn Ignis und Gladio nicht mit ihm kommen. Ich blicke zurück zu Cidney und weiß im selben Moment, dass sie meine Entscheidung bereits kennt. „Geh nur“, sagt sie leise und drückt meine Schulter, „Ich komme zurecht. Bin ein großes Mädchen.“ Die Tränen in ihren Augen strafen sie Lügen, aber ich bin einfach nur dankbar für den Mut und die Kraft, die sie für mich aufbringt. „Ich komme wieder“, verspreche ich und lasse zu, dass sie Cid aus meinen Armen hebt um ihn an ihre eigene Brust zu drücken. „Ich komme ganz sicher wieder. Nur noch einmal die Welt retten, damit Cid in Frieden groß werden kann.“ „Natürlich. Tu das und komm wieder. Und dann bleib für immer hier, ja? Ich richte dir ein Zimmer her… oder ein großes Schlafzimmer für uns beide.“ „Das klingt toll. Ich freu mich drauf.“ Ich küsse Cidney noch einmal auf den Mund, während die anderen sich höflich wegdrehen, dann folge ich meinen Freunden zu der kleinen Limousine, die Cidney uns bereit gestellt hat. Die hinteren Fenster sind verdunkelt, blickgeschützt, und diesmal ist es Gladio, der den Beifahrersitz einnimmt. Ich sichere mir hinten den Platz in der Mitte, damit ich noch bequem nach vorne aus dem Fenster sehen kann. Auf dem Rücksitz wird mir schnell mal übel, aber so wird es für die kurze Strecke schon gehen. So eng wie in unserer klapprigen Gurke ist es hier auch nicht, trotzdem lehnt Noct sich wieder an mich. „Hoffe es stört dich nicht, wenn ich noch ein wenig schlafe“, murmelt er, „Der Weg bis zur Zitadelle ist lang und anstrengend… und diesmal will ich da unten nicht übernachten müssen.“ „Versteh ich, ist schon gut.“ „Ich bin froh, dass du doch mitgekommen bist“, murmelt Noct noch und schläft sofort wieder ein, bevor mir auch nur eine Antwort eingefallen wäre. Ravus zieht nur die Augenbrauen hoch und ich lächle verlegen. So ist Noct halt… ein großes, schweres Murmeltier. Und solange er morgens wieder aufwacht, hab ich auch kein Problem damit. Kapitel 41: Rettungsmission (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------------- Ich bin froh, dass Prompto uns nun doch begleitet. Sicher hätte ich es ihm nicht übel genommen, wenn er lieber in Hammerhead geblieben wäre, bei seiner Cidney und dem süßen Baby. Kann ich verstehen. Aber ich hätte ihn hier unten vermisst, und zwar nicht nur, weil ich dann mit Ravus allein wäre. Wir wären jetzt alle gern woanders. Ravus ist ganz okay. Er ist sogar einigermaßen nett, jetzt, wo alles im Reinen ist. Aber er ist ein stiller Mensch, und seine verschlossene Natur macht es mir schwer, mich von der unangenehmen Atmosphäre hier drin abzulenken. Prompto macht Konversation, lenkt ab, unterhält. Ohne ihn hätte ich hier unten nichts, was mich von der Tatsache ablenkt, dass ich bis über die Hüfte im Abwasser stehe, auf tote wie lebendige Ratten trete und versuche, die Frau meines Lebens wiederzufinden, bevor sie vielleicht hingerichtet wird. Wir waren viel zu lange weg, viel zu lange in Gralea, während meine Jungs im Krankenhaus lagen. Luna und die anderen sind seit über zwei Wochen gefangen… allein in einem Kerker, der seit Jahrhunderten unbenutzt unter der Zitadelle lag. Es ist sicher kalt und unbequem dort unten, kein Ort für eine Königin. Kein Ort für irgendwen, der nicht gerade in der Gosse aufgewachsen ist. Auf der anderen Seite ist dieser Abwasserkanal auch nicht gerade der richtige Ort für zwei Könige, und hier sind wir und suchen nach der rostigen Eisenleiter, an der wir uns aus dem Morast auf die nächsthöhere Eben ziehen können. Mir ist kalt, aber diesmal brauche ich nicht zu jammern; Prompto hat schon vor Stunden festgestellt, dass die Temperaturen unbequem sind, ich brauche ihm nur zuzustimmen. Und kann ihn noch dafür aufziehen, dass er schon wieder nur eine ärmellose Weste trägt. So macht es sogar fast Spaß, hier durch den Dreck zu kriechen wie eine dreckige Ratte. Oder wie ein kleines Kind, dass sich freiwillig schmutzig macht. Sogar Ravus lässt sich ein wenig von unserem Optimismus anstecken. Endlich finden wir die gesuchte Leiter und stehen wieder auf trockenem Beton. Prompto lässt uns netterweise den Vortritt, schüttelt sich dafür aber wie ein nasser Hund, als wir gerade damit fertig sind, unsere nasse Kleidung auszuwringen. „Mensch, pass doch auf!“, schimpfe ich, aber Prompto lacht nur. „Sorry“, entschuldigt er sich grinsend und ich schubse ihn einfach zurück ins Wasser. Es gibt ein sehr zufriedenstellendes Platschen und ich gehe einfach schon mal weiter. Ravus folgt mir, blickt aber über die Schulter zurück. „Findest du nicht, dass er…“ „Der tut sich schon nichts, das Wasser war tief genug“, versichere ich. Ich muss mich nicht mal umdrehen um sicher zu gehen; Prompto ist längst wieder aufgetaucht und klettert schimpfend die Leiter hoch. Ich grinse als ich seine schnellen Schritte auf dem Beton höre, weiche aber nicht aus, als er abspringt um mich zu Boden zu werfen. Er schafft es eh nicht, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber ich spiele mit, als er mit mir ringt und versucht, mich zu Boden zu drücken. „Das war gemein, Noct!“ „Ich fand‘s lustig“, gebe ich zurück, werfe Prompto wieder ab und schiebe ihn vorwärts. Wir sind beide komplett nass nach der Aktion und die Kälte zieht eisig durch den Stoff meiner Kleidung, aber das macht mir im Moment nichts aus. Prompto allerdings friert erbärmlich, also biete ich ihm ein paar Ecken weiter meine langärmlige Jacke an. Dass ich ihn vorhin ins Wasser geschubst habe, hat er mir längst verziehen, aber er nimmt trotzdem dankend an und beklagt sich ein bisschen weniger über die Kälte hier unten. „Wir dürften bald da sein, wo wir letztes Mal übernachtet haben“, stelle ich fest, das Handy mit Ignis‘ selbstgezeichnetem Lageplan fest in der Hand, „von hier sind es noch etwa vier Stunden bis zur Zitadelle. Wollt ihr kurz Pause machen?“ „Ich wäre lieber so schnell es geht bei meiner Schwester“, meint Ravus ruhig. Beide blicken wir Prompto an, der zweifellos der Schwächste in unserer Gruppe ist. „Von mir aus können wir gern ohne Pause weiter“, stimmt der uns zu, ohne hochzusehen. Seine Arme sind verschränkt, die Hände in meine Sweatjacke vergraben, und ich kann sehen, dass er zittert, „Kalt ist es so oder so, je schneller wir Lunafreya und die anderen finden, desto schneller kommen wir wieder ins Warme, oder?“ Er blickt auf, sieht mir direkt in die Augen und ich muss wieder daran denken, dass er jetzt genauso gut in der Sonne sitzen könnte. Mit dem Baby im Arm und dem Abgas als schlimmsten Geruch. Stattdessen ist er hier und hält mir den Rücken frei, nass, frierend und abgekämpft mit dem Gestank nach Moder und schlimmerem in der Nase. Er könnte um eine Pause bitten, aber er tut nicht mal das. „Dann gehen wir weiter“, entscheide ich, „Trockener wird es erst mal nicht, fürchte ich.“ Ich lege einen Arm um Promptos Schultern und ziehe ihn mit mir, als könnte es irgendwie dabei helfen, ihn zu wärmen. Dabei ist mir selbst verdammt kalt in dem nassen T-Shirt. Mit der durchweichten Hose und dem Gestank hier unten fühle ich mich fast, als hätte ich mich frisch eingemacht, nur kälter. Widerlich. Aber ich bin nicht alleine und das ist das Wichtigste. Ravus ist entschlossen und ein starker Kämpfer und Prompto… Prompto sorgt dafür, dass ich bei Verstand bleibe. Nicht unbedingt erwachsen und vernünftig, aber geistig gesund. Die Siecher sind erstaunlicherweise kein Problem; sie sind klein und schwach, zumindest im Vergleich zu uns. Aber das Wasser, der Gestank und die Kälte, die machen einem immer zu schaffen. Egal wie stark und erfahren man ist, dagegen wird man nicht immun. Im Gegenteil; es wird schlimmer, je älter man wird. Die nasse Kälte zieht mir tief in die Knochen, erinnert mich an jede Verletzung, die ich in meinem Leben erlitten habe. Es tut weh. Nicht wie damals, als ich die Verletzungen erlitten habe, es ist mehr ein gedämpfter, schleichender Schmerz, der meine Gelenke lähmt und an meinen Kräften zehrt. Den anderen geht es sicher nicht viel besser. „Und… von hier aus sind es nochmal vier Stunden?“, wimmert Prompto. „Ungefähr, ja“, entgegne ich, „Noch ein Stück schwimmen, eine Rampe runter rutschen, dann geht es zum Glück zum größten Teil auf Beton weiter. Mit kleinen Abweichungen.“ Prompto nickt nur still. Er sieht furchtbar aus, halb erfroren und passiv. Irgendwie ist er auch stiller als bisher. „Willst du doch eine Pause machen?“ Prompto schüttelt nur den Kopf. „Nein, geht schon. Lunafreya und die anderen frieren sicher auch… ich brauch keine Pause.“ „Wenn du das sagst.“ Ravus sagt nichts, aber auch sein Blick auf Prompto scheint besorgt. Natürlich machen wir beide uns Sorgen um Luna, Iris und Talcott, aber Prompto begleitet uns freiwillig, nur um zu helfen. Wir wollen beide nicht, dass er unseretwegen leiden muss. Aber er ist entschlossen, mitzuhalten, und ich will ihn nicht beleidigen. Prompto ist es wichtig, dass er mit mir mithalten kann. Also gehen wir weiter, und auch wenn er hin und wieder ein Stück weit zurückfällt, holt er immer wieder auf. „Könntet… ihr doch kurz warten?“, bittet er schließlich. Ich drehe mich sofort nach ihm um, erschrocken, wie groß der Abstand zwischen uns plötzlich geworden ist. Aber Prompto wirkt weniger erschöpft als verwirrt. „Hört ihr das?“, fragt er leise und wir lauschen. „Ein Hund?“, schätze ich. „Das ist Pyrna!“ erkennt Prompto, und während ich mich noch frage, woran er das erkennt, stürmt er auch schon los. Ich wechsle einen knappen Blick mit Ravus und sprinte hinterher, nur um wenige Meter später abrupt zu bremsen, weil es steil in die Tiefe geht. Aber Prompto hat Recht: Es ist Pyrna, die bellt. Direkt vor mir, fünf Meter unter uns, steht die weiße Hündin bis zum Bauch im Wasser und kläfft eine riesige Nagaraja an. Der Siecher scheint stärker zu sein als die anderen hier drin. Luna, Iris und Talcott sind bei ihr, und es sieht nicht gut aus für sie. Luna ist noch halbwegs auf den Beinen, gestützt auf ihren Dreizack, Iris und Talcott liegen bereits geschlagen am Boden, lebend, aber kampfunfähig. Talcott liegt mit dem Gesicht im Wasser, Iris hat sich soweit hoch gestemmt, dass sie auf ihn zu kriechen und ihm helfen kann. Während wir noch entsetzt nach unten blicken greift die Nagaraja an. Ihre spitzen Zähne kratzen an dem magischen Schild, den Luna mühsam aufrecht erhält, das Geräusch klingt grässlich, wie Fingernägel auf Glas. Lunas Schild hält stand und die Schlange zieht sich zurück um stattdessen mit dem langen, schuppigen Schwanz anzugreifen. Ich verstehe nicht, wie Luna, Iris und Talcott hier in die Kanalisation gekommen sind aber ich sehe, dass Luna langsam die Kraft ausgeht. Ohne weiter nachzudenken werfe ich mein Schwert nach der Schlange und warpe mich mitten ins Geschehen, gerade rechtzeitig, um den nächsten Treffer abzublocken. Der Block gelingt, dennoch wirft die Wucht des Schlages mich rückwärts. Schlanke Hände fassen meine Schultern und halten mich davon ab, komplett ins brackige Wasser zu fallen. Auch die Nagaraja weicht getroffen zurück, wütend, aber fürs Erste kann sie nur fauchen. Luna fasst meinen Arm und hilft mir wieder auf die Beine. Sie zittert und aus der Nähe kann ich deutliche Schnittwunden in ihrer blassen Haut sehen. Iris hat Talcott erreicht und seinen Kopf aus dem Wasser gezogen; er atmet, scheint selbst langsam zu sich zu kommen. Ich grabe in meiner Tasche nach den Magieflakons, die ich bei mir habe, und spreche meinen mächtigsten Heilzauber auf die drei. Selbst Pyrna lässt ein deutliches Aufatmen hören, als ihre menschlichen Freunde wieder auf die Beine kommen. Leider haben wir kaum Zeit, einander zu begrüßen, da hat auch die Nagaraja sich von ihrer Überraschung erholt und stößt fauchend nach vorne. Ich reiße mein Schwert hoch, aber noch bevor die Schlange mich erreicht hallt ein Schuss durch den Tunnel und der Siecher bricht zusammen wie eine leere Hülle. Ich blicke hoch in den Seitengang, aus dem ich gekommen bin, und sehe gerade noch, wie Prompto sein Scharfschützengewehr wegpackt um beide Daumen hochzuhalten. „Guter Schuss!“, juble ich ihm zu und er grinst zu mir runter. „Geht es allen gut?“, ruft er zurück, „Können wir jetzt wieder wo hin gehen, wo es warm und trocken ist?“ Ich muss lachen und Luna stimmt sofort mit ein. Sie hält immer noch meinen Arm fest; nicht unangenehm, im Gegenteil. Die Berührung gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. „Und dir geht es auch gut“, flüstert sie, „Ein Wunder.“ „Nur gute Medizin von jemandem, der hart dafür studiert hat“, erwidere ich, „Aber ich bin auch froh, dass es mir wieder besser geht. Und, dass ihr drei wohlauf seid. Tut mir Leid, dass wir erst jetzt kommen… Wie seid ihr aus dem Kerker gekommen?“ „Iris hat die Zellentür aufgebrochen“, erzählt Talcott nicht ohne eigenen Stolz, „hat uns all unsere Heiltränke gekostet, aber wir sind in die Kanalisation entkommen bevor die Wachen was gemerkt haben. Naja, außer dem einen, den Iris leider KO treten musste…“ Er seufzt tief, Iris blickt schuldbewusst zu Boden. Sicher ist es nicht leicht für sie, gegen die eigenen Leute zu kämpfen; die Amicitias haben einen strengen Schwur geleistet, den König UND das Volk zu schützen. Wenn der Konflikt zwischen beidem es nötig macht, darf sie natürlich auch einen Bürger der Königsstadt verletzen, aber sie hat es sicher nicht gern getan. „Wenn dieser Siecher nicht gewesen wäre, hätten wir es ganz raus geschafft.“ „Da bin ich mir ganz sicher“, bestätige ich, „Das war eine großartige Leistung, Iris.“ Iris nickt schwach und reibt ihre nackten Arme, sicher friert sie noch schlimmer als Prompto. „Ist Gladdi nicht bei euch?“ „Er ist oben in der Stadt. Hält uns den Rücken frei“, informiert uns Prompto. Er scheint eine Leiter nach unten gefunden zu haben und schließt zu unserer Gruppe auf, Ravus ist direkt hinter ihm. Auch er sieht sehr erleichtert aus, Luna lebend wiederzusehen und sie muss mich kurz loslassen, um ihren großen Bruder zu umarmen. Pyrna dagegen springt begeistert auf Prompto zu und stütz dabei ihre schlammigen Pfoten begeistert auf meine teure Jacke. Nicht, dass das noch viel Schaden anrichten kann, nachdem wir schon sechs Stunden damit durch die Kanalisation getrekkt sind, aber irgendwie ist der Anblick doch äußert unangenehm. Dabei würde es mich sicher gar nicht stören, wenn ich die Jacke selbst anhätte… Hunde haben etwas an sich, dass man ihnen jeden Schmutz verzeiht, wenn sie einen liebevoll berühren. „Uhm, Noct, kann es sein, dass dein Handy noch in deiner Jacke ist?“, fragt Prompto nervös, setzt Pyrna ab und gräbt in meinen Jackentaschen nach, „Es klingelt.“ „Dann geh doch ran“, schlage ich vor, „Wen ich kenne kennst du auch.“ Prompto hebt ab und stellt das Handy auf Laut. Es ist Gladio, der anruft, und mir gefällt nicht, was er zu erzählen hat. Kapitel 42: Die dunkelste Stunde (Nyx Scientia) ----------------------------------------------- Nova ist mein Freund. Einer meiner besten Freunde. Es war nicht immer leicht – unsere Väter sind verfeindet. Wir hatten beide unsere Schwierigkeiten, in der Klasse Anschluss zu finden. Ich, weil mein Vater blind war und nicht jeder geglaubt hat, dass er trotzdem ein echter Held ist. Nova, weil sein Vater ein dummer Politiker ist, der den Menschen mehr schadet als hilft. Und, weil seine Mutter ihn als Baby verstoßen hat. Und seine Krankheit… Das hat es selbst mir schwer gemacht, ihn lieb zu haben. Aber was dahinter steckt… die Wahrheit… ist noch viel schlimmer. Ich weiß jetzt, warum Novas Mutter weggegangen ist. Weggehen musste. Warum Nova jedes Mal, wenn er krank war, ohne echte Erinnerungen zurückgekommen ist. Wie er den Kristall und den Ring berühren konnte ohne zu sterben. Und auch, wo sein Vater das Miasma für seine Magitech her hat. Klone. Hunderte identischer Klone. Jeder in seinem eigenen Kokon, alle gleich alt. Ein perfekter Ersatz. Wenn dein Hamster stirbt, bekommst du einen neuen. Hundert neue Novas, falls einer kaputt geht. Mir ist schlecht. Aber das ist nichts… Nichts gegen das, was Nova durchmacht. Nova Nummer sieben. Der arme Kerl hat sich in einer Ecke zusammengekauert und starrt apathisch auf die vielen anderen Novas, wie sie in ihren Kokons schlafen. Jederzeit bereit, infiziert oder geweckt zu werden. Neue Magitechkerne oder ein neuer Nova, je nachdem, was Rashin braucht. Die Berichte, die hier liegen, machen es sogar halbwegs verständlich… der erste Nova war ein echtes Kind. Er starb kurz nach seiner Geburt bei einem tragischen Unfall… Rashin wird nicht genauer dabei, seine Frau gibt sich selbst die Schuld dafür und will nicht damit leben. Also klont er das Kind, präsentiert seiner Frau kurz darauf Nova Nummer zwei. Die will den Ersatz nicht, schimpft ihn einen Verrückten und geht. Für die erste Zeit… war es wohl nur das. Nur ein Ersatzlager für Nova, falls er nochmal stirbt. Rashin war wohl kein guter Vater – oder Nova sehr tollpatschig – denn Unfälle, wegen denen ein Ersatz nötig war, kamen öfter vor. Nova musste jeden Abend in ein Tagebuch einsprechen, was er erlebt hat, damit auch seine Erinnerungen erhalten bleiben. Der neue Nova hat die dann abgehört – nur eine Geschichte. Deswegen konnte er sich emotional nicht mehr erinnern. Ich blicke hinüber zu Nummer Sieben, der so schnell eine Verbindung zu mir aufgebaut hat. Schneller als die vor ihm. Er ist ein wenig rebellischer als die anderen Klone, vielleicht war es das. Ich schlage seufzend den Ordner mit den Berichten zu und gehe zu meinem Freund hinüber. Crowe tätschelt ihm liebevoll die Schulter, aber Nova nimmt sie gar nicht wahr. Er lauscht nur auf die leise Stimme, die aus dem Diktiergerät kommt – die Stimme eines früheren Novas, der von seinem Tag erzählt. Ich komme darin vor, wie ich ihn darauf angesprochen habe, dass er anders ist als vorher. Das muss Nummer Drei gewesen sein… ihn hatte ich damit konfrontiert, dass er anders ist als Nummer Zwei, den ich bis dahin gekannt hatte. Bei Nummer Vier und Fünf ist es mir auch aufgefallen, aber da habe ich geschwiegen, um nicht wieder geschimpft zu werden. Fünf muss derjenige gewesen sein, der den Kristall berührt hat. Nummer Sechs habe ich nur kurz getroffen, bevor ich mit den anderen abgereist bin, ihn hat der Ring der Lucii getötet. Nummer Sieben blickt mich mit leeren Augen an. Er weint… und ich nehme ihn einfach in den Arm. Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht, was. Ich will ihm gern helfen, aber ich weiß nicht, wie. „Du hattest Recht“, murmelt er schließlich, „Ich wurde wirklich ausgetauscht. Ich bin nicht der Nova, mit dem du befreundet warst… ich bin überhaupt nicht Nova.“ „Aber mein Freund bist du“, widerspreche ich, „Vielleicht kennen wir uns noch nicht so lang, wie wir gedacht haben, aber wir sind trotzdem Freunde. Das spürst du doch auch, oder?“ Nova schweigt, senkt nur wieder den Kopf. Ihn so zu sehen bricht mir das Herz… Ich wusste, dass er ein anderer ist als vorher. Vielleicht fällt es mir deswegen leichter, damit umzugehen. Aber Nova hat es sicher auch gewusst; deswegen wollte er mit uns hier her kommen. Weil er gewusst hat, dass etwas grundlegend falsch läuft. Und doch… haben wir sicher beide gehofft, dass sich alles als albern herausstellt. Eine kindische Angst, wie so viele, die mir mein Vater so einfach nehmen konnte. Wie das Monster unter dem Bett oder die Schatten an der Wand. Auch, was echte Freunde sind, hat Papa versucht mir zu erklären. Er hatte Recht; wenn man echte Freunde gefunden hat, weiß man es. „Du bist echt“, murmle ich, „Vielleicht nicht der erste Nova, aber mein echter Freund. Vielleicht sogar mehr als die vorher. Deswegen sind wir ja hier. Weil wir zusammen den Mut haben, nach der Wahrheit zu suchen.“ „Wir haben wohl mehr Wahrheit gefunden, als wir vertragen“, gibt Nova kleinlaut zu. Aber er wehrt sich nicht gegen meine Hände auf seinen Schultern. Crowe umarmt ihn nochmal. „Vielleicht brauchst du einfach einen neuen Namen“, vermutet sie, „Einen eigenen Namen, nur für dich.“ „Einen… eigenen Namen?“ „Ja, natürlich. Wir können dich ja nicht Nova Nummer Sieben nennen.“ „Nummer Sieben, was?“, murmelt Nova leise. „Klingt irgendwie traurig, oder?“, meint Crowe. „Ziemlich traurig“, stimme ich zu. „Sieben… Septem… Nein, ich komme auf nichts.“ „Vielleicht denkst du in die falsche Richtung? Du bist schließlich keine Nummer, sondern ein Mensch“, überlege ich, „Du bist klug, mutig und rebellisch. Du bist der, der die Wahrheit sucht. Und durchhält, auch wenn es schwer fällt. Ein richtiger Held.“ „Wie Luneth?“ „Zum Beispiel.“ „Als wir hier rein gegangen sind, haben wir die Namen der Zwiebelritter angenommen. Als ob es ein Spiel wäre, hier die Wahrheit zu finden. Aber es ist kein Spiel… es ist Ernst, und Böse, und grausam. Aber… das war die Dunkelheit auch. Im Anime und im echten Leben. Also… geht es vielleicht, wenn ihr mich wirklich Luneth nennt.“ „Luneth klingt gut. Hell wie der Mond und tapfer genug, sich der Dunkelheit zu stellen. Egal, ob sie aussieht wie eine fiese Hexe, oder… oder wie das hier.“ Ich weise auf die Kokons um uns herum und die vielen Novas, die da drin schlafen. Ersatz für ein totes Baby… Puppen für einen Vater, der mit echten Kindern nicht umgehen sollte. „Dann bist du jetzt wirklich Luneth!“, jubelt Crowe und umarmt Luneth herzlich. „Bin ich. Danke, Crowe. Du bist süß.“ Crowe lächelt erfreut, für ein Mädchen in dem Alter ist ‚süß‘ wohl ein Kompliment. „Gehen wir weiter oder willst du noch was lesen, Nyx?“ „Nein, ich hab alles durch“, versichere ich. „Mehr will ich gar nicht lesen.“ Wirklich nicht. Erst recht nicht den Teil, in dem Rashin einzelne Novas infiziert hat, um sie zu Miasma und damit Treibstoff zu machen. Ich bin kein Psychologe, aber die Nummer mit dem von Trauer gebeutelten Vater nehme ich dem Psycho nicht mehr ab. Es gibt keine Entschuldigung für das, was er hier tut. Ihm geht es nur noch um Macht. „Dann gehen wir“, beschließt Luneth, „Wir finden den Ring und dann sagen wir den Menschen, wer der echte König von Lucis ist.“ Er steht auf, wischt sich die letzten Tränen ab und wendet sich zur Tür. Wir treten zurück auf den dunklen Gang, bereit für die nächste Begegnung mit Siechern. Aber es kommen keine, diesmal haben wir Glück und kommen zügig in dem Raum an den Nova… Luneth gesucht hat. Ein großer, runder Raum mit einer domförmigen Kuppel, die die schweren Generatoren über uns stützt. Generatoren die, wie wir jetzt wissen, den Strom schon lange nicht mehr aus Erdwärme machen, sondern aus dem Blut des Planeten. Dunkelheit in ihrer reinsten Form, wie es sie schon lange nicht mehr geben sollte. Aber die Menschen finden immer einen Weg, das Böse zurückzubringen. Der Ring der Lucii liegt in einer kleinen Vitrine in der Mitte des Raumes. Eigentlich könnten wir ihn einfach nehmen, dummerweise sind wir nicht mehr allein. Rashin ist hier und er sieht aus, als hätte er uns schon erwartet. Ich lege mir gerade die Worte zurecht, mit denen ich mich herausreden werde, da fällt mir im schwachen Licht unserer Taschenlampen etwas Beunruhigendes auf. Dunkelheit… Rashin ist dabei, sich in einen Siecher zu verwandeln. Einen großen Siecher. Aus dem wenigen, was an seiner Sprache noch verständlich ist, höre ich Wörter wie „König“ und „Unsterblich“ oder „Herrscher der Welt“, aber es ist fast nichts Menschliches mehr in dem Mann. Wir können beinahe zusehen wie er wächst. Riesengroß, bis er fast an die Decke reicht und seine Form mehr der eines gehörnten Affen oder einer Eidechse ähnelt. Sogar ein zweiter Satz Arme ist ihm gewachsen. Ich weiche unbewusst zurück, aber die Tür zum Gang hat sich geschlossen. Während ich mich zitternd an die Wand drücke und den Siecher entsetzt anstarre tritt Crowe mutig nach vorne und zieht ihr Schwert. „Pump dich wieder ab“, bellt sie, und ihre dünne Stimme hallt in der ganzen Kuppel wieder, „Ich bin Crowe Amicitia, der Schild des Wahren Königs, und ich habe keine Angst vor dir!“ Rashin lacht, ein widernatürlicher Klang, der die Wände erzittern lässt. Ich weiß ohne lange nachzudenken dass das ein Gegner ist, gegen den wir Kinder keine Chance haben. Aber weglaufen können wir auch nicht. Crowe hat Recht; Angst hat keinen Platz mehr. Es ist sinnlos – wir können sterben, oder wir können kämpfen und dann sterben. Ich entscheide mich für die Variante, bei der mehr Zeit für ein Wunder übrig bleibt und mein Herzschlag normalisiert sich fast sofort. Keine Angst mehr, nur stille Gewissheit. Ich lade meinen Revolver durch und fokussiere meine Magie. Rashin ist jetzt ein Siecher. Eine Sternhülle wird ihn für eine gewisse Zeit schwächen, lenkt aber seine Aufmerksamkeit auf mich. Allerdings könnte Luneth die Schwäche für einen starken Zauber nutzen, eventuell den Ars Quintae Zauber, den ich vorhin synthetisiert habe. Ich stoße einen leisen Pfiff aus und wir drei gehen hinter einer Säule in Deckung, damit ich meine Strategie mit den anderen besprechen kann. „Wir haben keine Chance gegen ihn“, gebe ich zu, „Aber wir geben auch nicht auf. Vielleicht können wir ihn etwas schwächen, oder zumindest lange genug aushalten, bis Hilfe kommt.“ Motiviert springen wir wieder heraus und ich feuere die Sternhülle ab. Gleißendes Licht erfüllt den Raum, schnell gefolgt von dem der fünf Explosionen von Luneths Zauber. Rashin brüllt und schleudert eine dunkle Magiekugel auf uns zu, der wir nur knapp ausweichen können. Ich feuere ein Magazin voll Kugeln ab und gehe hinter Crowe in Deckung, die in einem der vorherigen Räume einen leichten Schild gefunden hat. Etwas zu groß für ein Kind, aber Crowe ist stark genug, wenn sie ihn mit beiden Händen fasst. Es wird nicht viel nützen, aber hinter ihr fühle ich mich ein bisschen sicherer. Luneth schleudert einen weiteren Zauber auf Rashin, aber es scheint kaum einen Effekt zu haben. Ganz anders als der Gegenangriff des Siechers – Luneth kann nur ganz knapp ausweichen und selbst der letzte Rest des Windschattens um den Angriff ist noch mächtig genug, den armen Kerl zu Boden zu werfen, wo er zitternd liegen bleibt. Wir eilen zu ihm und ich helfe ihm hoch. „Er greift wieder an!“, warnt Crowe, aber wir sind zu langsam zum Wegrennen und ihr Schild ist zu klein um den Feuerball zu blocken. Instinktiv greife ich nach dem Talisman in meiner Tasche und schließe die Augen. Es gibt ein Pfeifen wie von einem Murmeltier und auf einmal ist alles leise um uns. Als ich die Augen wieder öffne sehe ich erst mal nur ein grünes Licht, das sich wie ein Schleier über uns drei gelegt hat. Vor Crowe sitzt ein kleines Tier, etwa so groß wie ein Kaninchen, mit einem großen roten Edelstein auf der Stirn und riesigen Ohren, das uns freundlich anblickt. Es zwinkert uns mit seinen schwarzen Knopfaugen zu und verschwindet durch ein schwarzes Loch im Boden, das vorher noch nicht da war. Sein Schutzschild bleibt bestehen, und dafür bin ich dankbar. Rashin schlägt wütend mit seinen vier Vorderläufen gegen den Schild, aber seine Krallen gleiten einfach an dem grünen Licht ab. Auch seine Feuerbälle sind machtlos gegen den magischen Schild. Wir sehen mit offenen Mündern zu, wie der Siecher sich die Zähne ausbeißt, da fällt mir auf, wie ein zweites schwarzes Loch neben der Vitrine auftaucht. Karfunkel klettert heraus, fasst den Ring der Lucii in seinem kleinen Mäulchen und verschwindet wieder in seinem Loch. Nur einen Herzschlag später taucht es unter dem Schild wieder auf und beide Löcher verschwinden. Den Ring legt es mir in die Hand. Ich zittere in Erinnerung an das letzte Mal, dass ich den Ring angefasst habe. Aber diesmal ist es vielleicht unsere beste Chance. Ich habe schon die Schwerter der alten Könige, nun liegt auch ihre Zauberkraft in meinen Händen. Es ist schwer, den Ring anzuziehen – alles in mir wehrt sich gegen die Bewegung. Aber letztendlich besiege ich die Angst. Diesmal zieht der Ring mich nicht in die seltsame Geisterwelt, dafür spüre ich die Macht der Könige als mehr als nur Stimmen – nur rohe Magie. Und sie ist gewaltig, viel größer als alles, was ich je aus meiner Umwelt gezogen habe, und ganz anders, viel roher und älter, von ganz anderer Struktur als die zahme Magie, die wir in Flakons füllen, damit sie jeder benutzen kann. Das hier… das ist echte, wilde Magie, gereift über Generationen von Männern und Frauen, die ihr Leben dem Schutz unseres Kontinents, nein, der ganzen Welt verschrieben haben. Lucis Caelum… von der ersten Generation an wieder und wieder von Schmerz und schwerem Schicksal gebeutelt. Ich spüre ihr Leid, aber auch den unbeugsamen Willen, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Ein Wille, der nun auch mir den Mut gibt zu tun, was möglich ist und eine Weisheit, die mein Alter bei weitem übersteigt. Trotzdem ist mir bewusst, dass unser Kampf aussichtslos ist, selbst mit all der geborgten Kraft sind wir nur drei Kinder, die dem sicheren Tod ins Auge blicken. Karfunkel verschwindet mitsamt seinem Schild und ich hebe die Hand, um mit der Macht des Rings einen neuen aufzubauen. Einen kleinen Wall nur für uns… er zehrt an meiner Kraft, lange werden wir auch damit nicht haben. Vielleicht halte ich ein paar Minuten durch. Rashin holt zum nächsten Angriff aus und sein Feuerball trifft mich so hart, dass ich ihn nur mit Mühe abwehren kann. Der winzige Wall zittert und bricht und ich sinke geschlagen auf die Knie, brauche alle Kraft, wieder zu Atem zu kommen. Rashin holt erneut tief Luft für den nächsten Angriff und Crowe baut sich mit ihrem Schild vor mir auf, entschlossen, mich zu schützen oder bei dem Versuch zu sterben. Luneth nimmt mich bei den Armen und hilft mir hoch, aber wie ich kann er nur ängstlich die Augen schließen, als der riesige Feuerball auf uns zu schießt. Es gibt ein gewaltiges Donnern, als der Angriff den Schild trifft, aber wir sind nicht tot. Als ich die Augen öffne steht Crowe immer noch vor mir, unverletzt, Schild lose in der Hand. Aber es war nicht sie, die den Angriff geblockt hat – es war ihr Vater. Riesengroß, die Uniformjacke über seinen breiten Schultern steht er da, den linken Arm locker in der offenen Jacke, den rechten im Ärmel mit der Hand an einem mannshohen Schild aus schwerem Stahl. Seine wilde Mähne ist wieder etwas grauer als bei unserer letzten Begegnung, aber sein Stand ist fest und Rashin taumelt getroffen zurück. Ich verspüre plötzlich einen ungeheuren Respekt für den Mann… und für den ungeheuren Vorsprung an Erfahrung und Kraft, den die Erwachsenen tatsächlich haben. „Bei euch noch alles dran?“, fragt der Mann und blickt über seine Schulter zu uns herab. Ich kann nur nicken, sehe Crowes Vater zum ersten Mal so, wie es viele andere schon seit Jahren tun; als Hauptmann der Königsgarde, Schild des erwählten Königs und Retter der Welt. Kein peinlicher Vater, sondern ein Mann, dem Respekt gebührt, weil er ihn sich verdient hat. Rashin setzt zu einem neuen Angriff an, mit den Klauen diesmal. Wir Kinder weichen erschrocken zurück, aber Hauptmann Amicitia zuckt nicht mal, bleibt einfach entspannt stehen. Und er kann es sich leisten, den Schild unten zu lassen, denn Rashins Angriff reicht nicht bis zu uns – ein Zauber explodiert in seiner Seite. Ars Quintae, wie der den ich Luneth gegeben habe, aber anstatt schwach an dem Siecher zu verpuffen reißt ihm diese Serie magischer Explosionen glatt einen seiner vier Arme ab. Ich suche nach der Quelle des Zaubers und meine Augen weiten sich vor Freude. „Papa!“ Mein Vater kniet auf der Vitrine, in der bis vor ein paar Minuten der Ring der Lucii gelegen hat. In seiner Rechten hält er noch immer den Magieflakon, aus dem er den Zauber geworfen hat – es ist keiner von meinen. König Noctis muss ihn gefüllt haben, und sein Zauber ist weit mächtiger als alles, was ich mit meiner geringen Erfahrung je herstellen könnte. Und bei allem Naturtalent, das Luneth hat, mein Vater kann dem Zauber noch weit mehr Kraft mitgeben. Weil er es schon seit Jahren tut und gelernt hat, wie er sein eigenes Talent dafür nutzen kann. Unsere Erfahrung beschränkt sich beinahe auf das, was wir in der Schule gelernt haben und das Bisschen, was Iris mir und Crowe beigebracht hat. Ich bin froh, dass unsere Väter jetzt da sind. Erleichtert, dass ich mich wieder im Hintergrund verstecken kann, während die Erwachsenen kämpfen. Die können das besser als wir. Und tatsächlich… so groß und böse wie Rashin uns als Siecher erschienen ist, unseren Vätern macht er kein bisschen Angst. Ich habe Papa immer nur als einen Mann gesehen, der im Haus bleibt, als jemand der kocht, putzt und aufräumt oder gute Ratschläge gibt. Ich wusste, dass er ein Held war. Aber ich habe ihn nie kämpfen gesehen. Nie so wie jetzt. Papa ist so cool! Prompto hat das oft behauptet, aber richtig vorstellen konnte ich es mir nie, selbst, wenn er mir Fotos gezeigt hat. Fotos sind nur ein Moment… das hier ist die Realität. Und in echt ist Papa noch viel cooler als auf den Bildern in Promptos Album. Viel, viel cooler als ich es mir je hätte vorstellen können. Er setzt dem Siecher mit Dolchen, Lanzen und Zaubern zu, wechselt so schnell zwischen den Waffen, dass meine Augen kaum folgen können und bewegt sich dabei so schnell dass ich fast denken muss, er warpt sich, statt zu springen. Rashin kommt kaum hinterher, aber wenn er dennoch einen Angriff versucht, wirft Vater ihn einfach zurück. Crowes Papa kämpft nicht aktiv mit, er steht einfach still vor uns und hebt seinen Schild hoch, wann immer ein Querschläger in unsere Richtung schießt. Er wirkt beinahe entspannt, aber das kann er auch sein. Papa ist Rashin auch alleine gewachsen. Es dauert nicht lange, da versiegt der letzte Rest Miasma im Boden und Papa springt an unsere Seite. Er wirkt erschöpft, verschwitzt und müde, aber auch erleichtert und stolz. „Hier alles in Ordnung?“, fragt er ruhig und fasst dabei vor allem mich ins Auge. Ich will fast mit ‚gut‘ antworten, aber ich weiß, dass ich Papa nicht anlügen soll. Er würde es eh merken. Er hat es immer gemerkt. „Wir sind unverletzt“, sage ich stattdessen, „Aber wir haben Dinge erfahren, die… sehr weh getan haben. Vor allem meinem Freund. Wir nennen ihn jetzt Luneth, nicht Nova. Du wirst verstehen warum, wenn ich dir etwas zeige.“ Ich nehme Papa bei der Hand und führe ihn zurück auf dem Weg, durch den wir gekommen sind. Kapitel 43: Finale (Noctis Lucis Caelum) ---------------------------------------- Die Stadt wird angegriffen. Insomnia, die Stadt der Könige, meine Heimat, von Siechern überrannt. Es ist nicht das erste Mal, aber diesmal war es kein Angriff von außen, der das Unheil über uns gebracht hat, sondern ein Mann aus der Stadt selbst. Ein Mann, der sich selbst zum König ernannt hat. Rashins Gier hat die Dunkelheit zurück in die Welt gebracht. Sie hat ihn zu ihrem König gemacht und in einen Siecher verwandelt. Ignis und Gladio haben ihm bezwungen, aber damit war es noch nicht vorbei. Die Klone, die er geschaffen hat, um seinen Sohn unsterblich zu machen und Miasma für seine Magitech zu gewinnen, waren bereits mit Plasmodium infiziert und sind mutiert als ihr Vater gefallen ist. Einer nach dem anderen sind sie aus ihren Kokons geschlüpft und nun vermehren sie sich wie die Bakterien. Für jeden, den die Beschützer der Stadt besiegen, tauchen zwei neue auf. "Habt keine Angst." Eine dünne Stimme hallt aus allen Lautsprechern, Radios und Fernsehern der Stadt. Sie kommt mir nicht bekannt vor, es muss der Junge sein, der fälschlich zum König ernannt wurde. Rashins Sohn oder der Klon, der ihn ersetzt hat, nachdem der Ring meiner Väter seinen Vorgänger verbrannt hat. "Wie ihr sicher inzwischen verstanden habt, oder von Anfang an gewusst, bin ich nicht wirklich der König, auf den ihr gewartet habt. Das war nur ein Spiel meines Vaters, ein Versuch, Macht zu erschleichen, die ihm nicht zusteht. Aber ich habe den wahren König für euch gefunden und er tut, was er kann, um euch zu schützen. Wie König Noctis Lucis Caelum bereits sagte ist der neue König noch nicht bereit für seine Aufgabe, aber er hat die Macht des Kristalls und die volle Unterstützung der alten Königslinie; er lässt euch nicht im Stich." Das tue auch ich nicht. Luna, Ravus, Iris, Talcott, Prompto und ich haben uns nach Gladios Anruf sofort auf den Weg zurück in die Zitadelle gemacht. Ein langer, nasser Weg, aber einer, den wir in Eile gehen. Ohne die Mauern der Maschine, die wir das letzte Mal hatten überwinden müssen, geht es schneller als ich es in Erinnerung habe und bald erreichen wir die Abstellgleise der U-Bahn und mit ihm den provisorischen Aufstieg in den untersten Keller der Zitadelle. Empfangen werden wir dort von einer Gruppe Polizisten, einer davon mit dickem Kopfverband und einem Pflaster auf seiner geschwollenen Nase. Aber man greift uns nicht an, im Gegenteil. Selbst die Polizei ist plötzlich gern breit, der Garde das Feld zu überlassen und Cors Befehle zu achten. Man hilft uns aus der Kanalisation und bringt uns zu den Duschräumen der Königsgarde. Weibchen links, Männchen rechts, schnell und gründlich waschen und rein in die warmen, trockenen Klamotten, die man uns schon bereitgelegt hat. Es sind keine besonderen, nur Ersatzuniformen der Garde, aber die Größe passt und die Anzüge sind funktional und förmlich genug. Ravus schließt sich mit Iris und Talcott der Garde an im Kampf gegen die Siecher. Draußen in den Straßen der Stadt geht es hoch her, da ist jeder Mann und jede Frau gefragt, um zu helfen, wo Not am Mann ist. Siecher vernichten, Menschen retten, Ruhe in die Panik bringen… aus jedem Winkel der Stadt kommen die Mitglieder der Königsgarde, der Königsgleve und sogar Aktivisten der ehemaligen Drachenherzpartei gekrochen, um sich dem Kampf anzuschließen. Rashin hatte sie alle verboten, aber der hat nichts mehr zu melden. Selbst, wenn er nicht gefallen wäre; meine Männer schützen mein Volk, wenn Not am Mann ist. Egal was geschieht, kein Garde oder Gleve sieht tatenlos zu, wenn Hilfe gebraucht wird. Ich danke diesen Helden im Herzen, während ich mit Prompto und Luna hoch auf die Plattform stürme. Das Volk erwartet dort seinen König. "Nyx Scientia ist euer neuer König", verkündet die Kinderstimme aus den Lautsprechern, "Er hat einen Wall aufgebaut, unter dem ihr Schutz findet. In der Zitadelle seid ihr sicher. Folgt bitte den Weisungen der Königsgarde, die die Evakuierung in diese sichere Zone leitet und schützt alle, die schwächer sind als ihr selbst." Die Rede des Jungen klingt, als würde ein Erwachsener sie ihm vorsagen. Gut durchdacht, ruhig und bestimmend, aber freundlich und gemessen. Ich kann den Wall spüren, den Nyx hält. Er ist klein, reicht kaum bis auf den Vorplatz. Aber er hält stand. Ich dränge mich vorbei an den Leuten auf der Treppe; sowie der Platz ausreicht, macht man uns ehrfürchtig Platz. Frauen und Kinder, Senioren und Verletzte... Die Zitadelle ist voll mit Menschen, die Schutz brauchen, Menschen, die von der Garde in die Sicherheit des Walls geführt wurden. Die Polizei hält das Gebäude, sorgt für Ordnung, damit zwischen den Flüchtigen kein Streit entbrennt. Erstaunlich, wie gut plötzlich alle zusammenarbeiten. Atemlos erreiche ich den Balkon. So groß das Gedränge auf der Treppe und auf dem Vorplatz, so ruhig ist es hier. Gladio steht aufrecht neben der Tür, den linken Arm noch immer in der Jacke, ein schwacher Ersatz für die Schiene, die er eigentlich tragen sollte. Ignis steht vorne an der Brüstung und hält seinen Sohn im Arm, damit die Menge sehen kann, wie der den Ring hochhält. Ich kann deutlich erkennen, wie erschöpft Nyx ist, geistig wie körperlich ausgezehrt von der Anstrengung, selbst diesen kleinen Wall gegen die Siecher zu halten. Neben Ignis steht ein weiterer Junge. Helle, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare, teure Kleidung. Er ist es, der in das Mikrophon spricht, während Crowe neben ihm Wache hält. Beide müssen auf einer großen Kiste stehen, um über das Geländer sehen zu können. Ich atme tief durch und schreite zügig, aber gemessen auf die freie Fläche hinaus. Mich sieht man auch ohne Erhöhung gut und durch die Menge der Zuschauer geht ein Raunen, so deutlich, dass sich auch Ignis und die Kinder zu mir umdrehen. Ehrfürchtig lasse ich mich vor Nyx auf die Knie fallen, die rechte Hand an die Brust gelegt, wie so viele Menschen es schon vor mir getan haben. "Euer Hoheit", grüße ich mit gesenktem Blick in aufrichtiger Ehrerbietung. Nyx jubelt begeistert und springt mir an den Hals, um mich fest zu umarmen. "König Noctis! Es geht euch gut!" Seine ungezügelte Freude bringt mich zum Lächeln. Nyx ist noch zu jung, seine Gefühle zu verbergen, aber gerade diese Ehrlichkeit ist wohltuend an einem Ort wie diesem. "Verzeiht mein spätes Erscheinen. Ich würde aufgehalten. Erlaubt ihr mir, den Ring meiner Ahnen und die Verantwortung des Königs wieder an mich zu nehmen?" Ich habe ein kleines Mikrofon zugesteckt bekommen und weiß, dass meine Worte hier oben in ganz Lucis zu hören sind, spüre die Wärme der Scheinwerfer und die Augen zahlreicher Kameras auf mir. Nyx nickt erleichtert und hält mit seine rechte Hand hin. Ich fasse sie in beiden von meinen und ziehe den Ring von seinem Finger, wie ich es vor so vielen Monaten bei unserer ersten Begegnung getan habe. Ich spüre die macht meiner Väter, als der Ring seinen Platz an meiner Hand einnimmt, und den schwachen Wall, den Nyx zum Schutz unserer Bürger errichtet hat. Fast unbewusst weite ich ihn aus, dass er den ganzen Vorplatz und den Park hinter der Zitadelle mit umfasst und spüre das Aufatmen der Leute, die vorher noch außerhalb standen. Entschlossen richte ich mich auf und hebe die rechte Hand, zur Faust geballt, den Ring zum Himmel gerichtet. "Seht die Macht der alten Könige", rufe ich aus und konzentriere unsere Magie auf den Ring. Ich kann jeden einzelnen Siecher, jedes einzelne Plasmodium in ganz Insomnia, nein, in ganz Lucis spüren. Sie alle müssen aus der Welt verschwinden, damit die Dunkelheit wieder endgültig von der Welt genommen wird. Es sollte mir möglich sein, das zu tun; zwar soll ich vorsichtig sein mit dem Einsatz von Magie, doch jetzt ist es nötig, den mächtigsten meiner Zauber zu sprechen. Alterna... Ich bündle all meine Kraft in meiner Faust und beschwöre die Macht meiner Väter, die Kraft, alles Böse mir einem finalen Schlag aus dieser Welt zu verbannen. Es tut weh, wie der Ring meinen Körper angreift. Jede Faser meiner Muskeln brennt mit der Anstrengung, alle vorhandene Energie, meiner selbst und meiner Umgebung, zu beschwören für diesen einen, mächtigen Angriff. Mir wird schwindelig... Ich spüre, wie mein Körper schwächelt als mein Geist an der Anstrengung zerbricht. Zu viel, zu früh... aber selbst wenn ich wieder sterben muss um die Welt von der Dunkelheit zu befreien, kann ich mein eigenes Leben nicht vor das meines Volkes stellen. Vielleicht ist es auch diesmal mein Schicksal zu gehen, damit alle anderen bleiben können. Ich will meine Freunde nicht wieder zurücklassen... aber so egoistisch und eigennützig darf ich als König nicht denken. Die Schmerzen nehmen zu, je mehr Kraft ich aus dem Ring ziehe. Ich kann spüren wie die Siecher sich gehen den Angriff wehren, den ich vorbereite, sie spüren die Magie in meiner Hand, spüren ihr drohendes Ende und werfen sich gegen den Wall, der zusätzlich an meinen schwindenden Kräften zehrt. Blitze und Symbole leuchten vor meinen Augen auf, zucken durch ein Sichtfeld, das immer kleiner wird, als die Ränder verschwimmen. Mir wird schwarz vor Augen, ich kämpfe mit der Ohnmacht. Zu früh, zu viel... Arc hatte mich davor gewarnt, mehr Magie als nötig zu nutzen. Ich muss die Dunkelheit verdrängen aber meine Kraft reicht nicht aus. Schon kann ich Ardyns gehässige Lachen in meinen Ohren hören, blicke in die besorgten Augen meines Vaters, der mit Clarus, Weskham und Cid auf der anderen Seite steht, da greift plötzlich jemand nach meiner linken Hand. "Halt durch, Noct." Promptos Stimme. Ich kann seinen Willen spüren, seine Zuneigung, seine Lebenskraft. Es steckt nicht viel Magie in ihm, aber das Wenige stellt er mir willig zur Verfügung. Es ist warm... eine warme, liebevolle Energie. Kraftlos, aber doch unendlich mächtig und stabil. Ich kann wieder leichter atmen, besser stehen, und mein Zauber gewinnt an Kraft. Dann folgt Luna Promptos Beispiel, legt ihre zarten Hände auf meine zitternden Schultern und bietet mir auch ihre Hilfe an. Warme, starke Magie... anders als Promptos ist Lunas Macht fast so groß wie die meine, alles, was ich brauche und der Segen der göttlichen Sechs. "Ich bin bei dir, mein geliebter König", flüstert sie und das Bild vor meinen Augen wird schlagartig wieder klar. Säulen aus Licht schießen aus dem Himmel herab, heilen die Verletzten, verbrennen sie Siecher, bis nichtmal mehr Miasma verbleibt. Ein tiefes Grollen und ein Klang wie von tausend Glocken kündigt die Ankunft der Götter an. Ifrit und Shiva, Titan und Ramuh, Leviathan und Bahamut, sie alle sind Lunas Ruf in diese Welt gefolgt, um uns beizustehen, leihen uns ihre Kraft, die Dunkelheit aus der Welt zu verbannen. Ich entfesselte den Zauber aus meiner Hand und die Siecher, ihr Miasma und die Plasmodiem werden gänzlich ausgelöscht. Verbannt zurück am den dunklen Ort im Kern des Planeten, wo sie seit jeher schlummerten. Sie hätten nie geweckt und an die Oberfläche gezerrt werden dürfen. Ich tausche einen Blick mit Ifrit, sehe den Gott zum ersten Mal leibhaftig in seiner reinen, geläuterten Form und neige ehrfürchtig dem Kopf vor ihm. Der Herr des Feuers erwidert die Geste schweigend. Götter und Menschen... fortan sollen sie wieder im Einklang leben, auf dass nie wieder jemand dem Ruf der Dunkelheit verfällt. Die vier Reiche geeint und doch getrennt, auf dass sich die Tragödie von Solheim niemals wiederholt. Mit der Macht der vier Kristalle und den von den Göttern erwählten Königen wird eine neue, friedliche Welt erschaffen. Ich bin stolz, meinen Teil zur Entstehung dieser Welt beigetragen zu haben. Stolz und glücklich, mein Versprechen gegenüber Prompto endlich erfüllen zu können. Ich seufze erleichtert auf, als der letzte Nachhall von Magie in der zitternden Luft verklingt und die Götter in die Astralsphäre zurückkehren. Aufatmend fasse ich Promptos Hand fester, ziehe auch Luna eng an mich und blicke hinab auf die Menschen auf dem Vorplatz. Erst raunt nur ehrfurchtsvolles Flüstern durch die Menge, dann, langsam, macht sich Erkenntnis breit und mit ihr der Jubel der Erleichterung. Bald fangen die Ersten an, meinen Namen zu rufen, lassen mich hochleben als ihren wahren König, ihren Erlöser. Dabei bin ich einfach nur müde... ich könnte mich jetzt hinlegen und einfach an Ort und Stelle einschlafen, aber das ist mir nicht erlaubt. Seufzend lasse ich Promptos Hand los, blicke meinen teuren Freund dankbar an und trete mit Luna vor an die Balustrade. Ich weiß nicht, was ich sagen soll... zum Glück reicht Ignis mir ein kleines Funkgerät zusammen mit dem Mikrofon, in das der fremde Junge vorher gesprochen hat, und sagt mir die Worte vor, die ich dem Volk sagen soll. Ich bekomme von der ganzen Rede nicht viel mehr mit, als dass sie gut vorbereitet klingt, obwohl Ignis sie sicher improvisiert hat. Meine Stimme klingt fest und sicher, trotz des Zitterns der Erschöpfung, und ich gebe mich vertrauensvoll in die Hände meines Beraters, dankbar, dass er selbst in Situationen wie dieser so schnell denkt und mich seinen Verstand und seine Redegewandtheit ausnutzen lässt. Ich bin dankbar... unendlich dankbar für jeden einzelnen meiner Freunde und noch mehr dafür, dass ich weiter bei ihnen sein darf. Die Welt hat den Frieden zurück und ich darf weiter in ihr Leben, ihn genießen. Eine Weile werde ich noch hier bleiben müssen. Die Menschen haben ihr Vertrauen in mich wiedergefunden, verlassen sich darauf, dass ich alles in Ordnung bringe. Mit Ignis‘ Hilfe werde ich das schaffen, und dann... wenn dann alles in Ordnung ist wird Nyx hier übernehmen. Er wird ein guter König sein, nach allem, was er jetzt schon geleistet hat, vielleicht sogar ein besserer als ich. Nyx ist fleißig, zielstrebig und engagiert, dabei ebenso großzügig und willens, hart für andere zu arbeiten. Für sein Volk, seine Leute. Und er hat Freunde, die ihm beistehen, auch in harten Zeiten. Ich werde ihm alles beibringen, was ich weiß, ihm mit auf den Weg geben, was Vater mir geraten hat und dann glücklich abdanken. Vielleicht kann ich mich dann endlich doch noch ein wenig zurückziehen. Endlich ein Leben ohne große Verantwortung führen, vielleicht in Cap Caem die alte Hütte renovieren, Gemüse anbauen, im Meer Angeln und ab und zu mit dem Boot rausfahren und dort in den Weiten des offenen Meeres fischen. Nur ich und Luna auf dem Boot meines Vaters, nichts als Himmel und Wellen und tausend bunte Fische. Das wäre schön. Wenn ich sehe, was wir schon zusammen geschafft haben, kann ich fast daran glauben. Epilog: Zukunft (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------- Es herrscht Frieden. Nachdem die Dunkelheit wieder aus der Welt verschwunden ist gab es noch einiges zu tun. Rashins Kraftwerk wurde komplett abgebaut und von Exineris durch ein vernünftiges ersetzt, das den Strom tatsächlich aus Erdwärme herstellt. Das unterirdische Labor existiert nicht mehr. Zerstörte Häuser und Straßen wurden restauriert, das Wahlsystem von Grund auf erneuert, bis Lucis tatsächlich eine funktionierende Regierung gefunden hat. Ein König an der Spitze, ein Rat, dessen Mitglieder allesamt vom Volk gewählt sind. Entscheidungen, die das Volk per Abstimmung bestimmt. Es hat eine Zeit gedauert, aber Nyx wurde bald als neuer König angenommen und ich konnte mich guten Gewissens zurückziehen. Wo es dem Jungen an Erfahrung fehlt helfen ihm sein Vater und der Bürgerrat. Wir vier Freunde haben uns ein wenig verstreut, aber die Entfernung mindert unsere Freundschaft nicht. Trotzdem freue ich mich unendlich, zum ersten Mal seit Beginn meines Ruhestandes alle drei auf einmal zu mir einzuladen. Teilweise mit Anhang. Ignis steht bereits in meiner Küche und hilft Luna fleißig, das Essen für den Grill vorzubereiten. Er hat lange nicht mehr richtig gekocht, aber der Duft, der aus dem Küchenfenster wabert, ist fantastisch. Nyx hat es auch geschafft, sich von seinen Pflichten als König Urlaub zu nehmen, bis vor einer Stunde habe ich mit ihm unten am Meer geangelt. Er hat ein wenig mit Akne zu kämpfen, eine Tatsache, die vor der Kamera und auf offiziellen Anlässen gut überschminkt wird, ist aber ansonsten zu einem recht attraktiven Teenager heran gewachsen. Das Leben als König ist schwer und weil er, anders als ich, nicht jeden Tag zum Angeln kommt habe ich ihn allein weiter machen lassen. Iris, sein Schild, ist natürlich bei ihm, begleitet von Crowe, die sich fleißig auf ihre Aufnahme in die Königsgarde vorbereitet. Beide leben im alten Anwesen der Amicitias neben der Zitadelle, verwöhnt und unterstützt von Talcott, der im finalen Kampf um Insomnia endlich den Mut gefunden hat, Iris zu sagen, was alle außer ihr längst wussten. Gladio hat freundlicherweise davon abgesehen, den armen Kerl zu lynchen, vor allem, als Iris ja gesagt hat. Nachwuchs hat sich noch nicht eingestellt, aber das kann ja noch werden. Gladio selbst ist noch nicht hier; er hat sich mit seiner Frau nach Galahd zurückgezogen und ebenfalls seinen Ruhestand angetreten. Sein Arm ist wieder gut verheilt, abgesehen von ein paar Narben und der Eigenart, Wetterschwankungen vorherzusagen. Dennoch wird er wohl nicht mehr kämpfen, ohne explizit angefordert zu werden. Vorhin hatte er kurz angerufen, dass er sich verspäten wird; es gibt wohl ein Problem mit der Fähre. Ich mache mir deswegen keine großen Gedanken, Gladio ist schließlich der Letzte, der sich einen gemütlichen Grillabend entgehen lassen würde. Erst recht bei diesem fantastischen Wetter. Die Sonne scheint hell inmitten eines wolkenlosen Himmels, die Luft ist warm und duftet nach Meer. Früher Vormittag, ein gemütlicher Schaukelstuhl auf der Südseite meiner Hütte... ein Traum, der Realität geworden ist. Einen besseren Tag hätten wir kaum auswählen können für unser Treffen. "Onkel Nooo~ct!" Ich muss wohl kurz eingenickt sein, denn die schrille Stimme reißt mich aus dem Schlaf. Mein Schaukelstuhl kippt beinahe nach hinten über als der kleine Wirbelwind auf meinen Schoß springt, um mich stürmisch zu umarmen. "Cid, Hallo! Meine Güte bist du wieder gewachsen..." Strahlende Augen blicken mir entgegen, blau wie die Sielblumen aus Tenebrae. Cid stemmt seine kleinen Füße auf den Sitz meines Stuhles, greift mit seinen Händen die Streben der Lehne und fängt wild an zu schaukeln. "Weißt du was cool ist?", fragt er mich begeistert, aber es klingt mehr nach einer Aufforderung als nach einer Frage. "Wir sind einen echten Chocobo geritten. Einen echten, lebendigen Chocobo! Das war so COOL!" "Uhum." Ich muss kräftig gegensteuern, damit der Schaukelstuhl nicht umkippt, die Konzentration auf diese Aufgabe macht es schwer, sich von Cids Begeisterung anstecken zu lassen. Der kleine Rabauke hat mehr Sommersprossen als sein Vater und noch ein wenig Babyfett am Körper, aber er wächst ja auch noch und ist ordentlich aktiv. Prompto selbst hat auch etwas zugelegt, ist aber immer noch extrem schlank. Er hebt gerade den Sattel von Bokos Schultern und entlässt den gelben Vogel zurück auf den Paddok. "Voll cool, dass Wiz dir unsere alten Leih-Chocobos überlassen hat", freut er sich, "ist Sweety auch hier?" "Ja, sie hat sich nur etwas versteckt", antworte ich schmunzelnd. Das Schmunzeln wird zu einem Grinsen, als mir ein neuer Gedanke kommt: "Wisst ihr, was noch cooler ist?" "Nein, was?", fragt Prompto und auch Cid hält endlich still, um mich erwartungsvoll anzusehen. "Wollt ihr beide mal ein Chocoboküken schlüpfen sehen?" Die unschuldige Frage schlägt ein wie eine Bombe und mein Schaukelstuhl kippt beinahe ganz nach hinten um, als nun auch Prompto mir fast in den Schoß springt. Lachend führe ich die beiden zu einem kleinen Verschlag auf der Chocobokoppel. Sweety blickt freudig auf, als sie ihren alten Freund Prompto erkennt und gibt ein zutrauliches Schnattern von sich. Sie sitzt in einem Nest aus Stroh, Moos und Daunen. Prompto zu liebe steht sie auf und präsentiert uns vertrauensvoll ihr Gelege. Drei große, wackelnde Eier liegen zwischen ihren schuppigen Beinen, eines hat bereits deutliche Brüche in seiner gefleckten Schale. Atemlos sehen Cid und Prompto zu, wie die Eier gegeneinander schlagen, rollend, wackelnd und leise piepsend, bis endlich der erste kleine Schnabel sich seinen Weg nach draußen bricht. Das Küken folgt gleich darauf, nass, klebrig und noch mit fest geschlossenen Augen. Sweety krault es zärtlich mit ihrem großen Schnabel, trocknet ihm die Federn und würgt fürsorglich einen breiigen Klumpen Gizarkraut hoch, den das Küken ihr gierig aus dem Schnabel pickt. Auch die anderen Küken befreien sich nun aus ihren Eiern, und auch sie werden von ihrer Mutter liebevoll empfangen und gefüttert. Alle drei Küken haben lackschwarze Federn, alle drei sind lebendig und gesund. Ich bin stolz auf Sweety. "Zeit zu gehen", raune ich meinen Jungs zu, "lassen wir ihr die Zeit mit den Kleinen allein zu sein." Prompto nickt verständnisvoll und hebt seinen Sohn hoch um ihn wieder ins Freie zu tragen. Cid blickt noch immer mit leuchtenden Augen dem Verschlag nach, aus dem die Stimmen der hungrigen Küken deutlich zu hören sind. Inzwischen ist endlich auch Gladio eingetroffen. Seine Haare sind noch heller geworden, an den Seiten inzwischen sogar komplett weiß. Aber ich brauche kaum lästern; meine eigenen Haare sind auch längst nicht mehr so tief schwarz wie sie mal waren. Der letzte Einsatz des Rings hat mich viel Kraft gekostet, die ich in Jahren zu zahlen hatte. Aber es könnte schlimmer sein... noch fühle ich mich so frisch, wie ich mit Mitte vierzig nur sein kann. "Bist du nicht noch ein bisschen zu jung für den Schaukelstuhl, Noct?", unkt Gladio und hebt grinsend die Hand zum Gruß. "Wüsste nicht, dass es dafür ein Mindestalter gäbe", gebe ich zurück, "Cid findet den Stuhl auch toll, und der ist fünf." Tatsächlich ist der Kleine schon wieder auf dem Stuhl gesprungen um fleißig zu schaukeln. Prompto hat sicherheitshalber die Hände an der Lehne, damit kein Unfall passiert. "Was hat dich aufgehalten?" "Hab spontan noch wen mitgebracht", erklärt Gladio, und mit fällt jetzt erst das kleine rosa Bündel in seinen massigen Armen auf. Er hält es für mich hoch und ich kann nicht anders, als breit zu grinsen. "Hallo Lilly Mäuschen", gurre ich wie ein Idiot und fasse die winzigen Hände des Mädchens, "kommst deinen Onkel Noctis auch mal besuchen, ja?" Lilly brabbelt kichernd und tropft Speichel auf ihr weißes Lätzchen. "Edna ist wieder schwanger, ihr ist es momentan etwas zu anstrengend allein mit dem Baby", erklärt Gladio, "immerhin ist Lilly schon ein Jahr alt und kann gut genug laufen und klettern, um eine Menge Chaos zu stiften, da kommt Mutti mit dem dicken Bauch nicht hinterher." "Darf ich sie mal halten?" "Klar. Aber Vorsicht, die läuft etwas aus. " "Hab ich gesehen, danke." Lilly sabbert tatsächlich recht fleißig. Ich nehme sie vorsichtig auf den Arm und tupfe ihren kleinen Mund mit dem Lätzchen ab. Sie ist groß und schwer für ihr zartes Alter, und die winzigen Finger, die sich in meine Jacke krallen, sind ungewohnt kräftig. Die feinen schwarzen Locken auf ihrem Köpfchen sind mit einem süßen rosa Zopfband gebändigt. "Und Edna ist jetzt schon wieder schwanger?" Wiederholt Ignis, der gerade aus dem Haus gekommen ist, um Teller voller Gemüse und selbstgemachten Soßen auf den Gartentisch zu verteilen, "da versucht wohl einer, kurz vor Torschluss doch noch einen Jungen zu bekommen..." "Unterstellst du mir da gerade irgendwas?", knurrt Gladio in gespieltem Ärger, klopft dem alten Freund aber trotzdem kameradschaftlich auf die Schulter und nimmt grinsend die rohen Behemothsteaks entgegen, die Ignis ihm für den Grill reicht. Frisches Fleisch von einem, der herkam, meine Chocobos zu fressen... der hat sich mit dem Falschen angelegt. Ich wiege Lilly in meinen Armen und bedauere mal wieder, dass ich keine eigenen Kinder haben kann. Luna und ich sollen tot sein, Kinder sind für uns nicht vorgesehen. Umso dankbarer bin ich, dass meine Freunde mich am Leben der ihren teilhaben lassen. Schließlich kommt auch Nyx mit den großen Mädchen zurück zur Hütte. Er hat eine beträchtliche Menge Fische dabei, genug, uns alle satt und zufrieden zu machen. Es ist herrlich, so mit meinen Freunden und ihren Kindern zusammen zu essen, uns so sitzen wir bis spät in die Nacht auf meiner Terrasse, erinnern uns gegenseitig an frühere Abenteuer und lustige Anekdoten und gehen erst ins Bett, als Lilly und Cid schon längst schlafend im hohen Gras liegen. Der Himmel ist hell und voller Sterne, als wollte er uns daran erinnern, dass die Dunkelheit selbst nachts keine Bedrohung mehr ist. Es herrscht endlich und ehrlich Frieden auf Eos. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)