Welt ohne Grenzen von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 20: Glockenläuten (Noctis Lucis Caelum) ----------------------------------------------- „Du kannst von Glück reden, dass du dich nicht erkältet hast“, murmelt Ignis, während er mir in meine Kleidung hilft. Ich murre nur, zu müde um groß Konter zu geben. Hoffentlich vergeht das noch rechtzeitig vor der Feier, ich will den anderen Regenten nicht unbedingt mit eingeschränktem Denkvermögen entgegentreten. Das Mittel, mit dem Spero mich betäubt hat, war jedenfalls nicht sehr gut für meinen Schlafrhythmus… und die Kälte hat mir auch nicht gutgetan. Normal würde ich ja darauf bestehen, dass ich mich selbst einkleiden kann, aber der Anzug, in den Ignis mich gerade verpackt, ist wohl von vorne herein nur für Männer gedacht, die zu dem Zweck mindestens einen Butler zur Hand haben. Es sind gefühlte tausend Schichten und Schnallen daran, ganz zu schweigen von dem Mantel, der nie auf meinen Schultern bleiben würde, würde ihn nicht Prompto festhalten, während Ignis die Schnallen und Knöpfe daran schließt. Die ganze Kleidung ist unglaublich schwer, aber als König bin ich nicht in der Position, mich darüber zu beschweren. So lasse ich einfach seufzend über mich ergehen, dass Ignis nochmal meine Haare richtet, und erlaube sogar der zufällig vorbeigekommenen Zofe, mir noch ein wenig Make-Up gegen die Augenringe aufzutragen. Kommt ja nicht gut an, wenn ich aussehe, als hätte ich mich die ganze Nacht besoffen. Zu meiner Überraschung kann ich mich jedoch, als der Anzug endlich sitzt, tatsächlich recht gut bewegen. Er ist schwer, sicher, aber nicht steif. Die Tatsache, dass ich in einem plötzlichen Gefecht nicht wie eine hilflose Puppe dastehen würde, erleichtert mich, auch wenn es hoffentlich ohnehin nicht dazu kommen wird. Kapitän Nemo zumindest schien fürs Erste besänftigt zu sein und die Magitech-Roboter werden von den Wachen am Stadttor abgehalten. Siecher kommen nicht durch den Wall, und Rashin zumindest kämpft nur mit Worten. Auf die Konferenz ist er zum Glück nicht eingeladen, für ihn und die anderen Vertreter der Bürger gab es gestern einen Termin. Ohne meine übliche Leibgarde, nur mit Monica und Dustin, die doch… sagen wir mal, weniger hitzköpfig sind. Bei Rashins zahlreichen Provokationen keine schlechte Entscheidung. „Wie lief eigentlich die Audienz mit den Bürgermeistern gestern?“, fragt Gladio. Er klingt etwas verärgert, weil er erst heute davon erfahren hat. „Verträglich“, umschreibe ich, „Zwischenzeitlich war ich froh, dass keine Waffen im Spiel waren, aber es ist tatsächlich niemand verletzt worden. Nicht körperlich, jedenfalls. Frage mich aber immer noch, warum wir diese Farce durchziehen, diese Bürgermeister sind sich ja selbst nicht einig, was das Volk will.“ „Ich entnehme dem, dass die Verhandlungen zu keinem Ergebnis gekommen sind?“, fasst Ignis geschickt zusammen. „So kann man es auch sagen, ja.“ „Gut, dass wir eh nochmal ne Runde durchs Land drehen“, meint Prompto, „Dann kannst du dir vor Ort ein Bild machen, was die Leute wirklich denken. Und die haben zumindest eine kleine Chance, dir ihre echte Meinung zu sagen…“ „Ich nehme an, Cidney hat die Gelegenheit jetzt schon genutzt?“ Prompto seufzt. „Sie macht sich Sorgen wegen der Siecher. Ne Menge Leute bestellen die neuen Led-Superscheinwerfer bei ihr und sie kann kaum liefern. In den Außenbezirken glaubt kaum jemand daran, dass der Wall im Notfall mehr als Insomnia schützen wird… selbst, wenn sie verstehen, woran es damals lag.“ „Nachvollziehbar. Dann sollten wir die hiesigen Firmen wohl mal antreiben, mehr von diesen Scheinwerfern in die Außengebiete zu liefern – vielleicht lässt sich da mit Steuerfreiheit was machen?“ Ignis nickt und tippt wieder in seinem Handy herum. Hoffentlich nur, um dem neuen Minister die Idee weiterzugeben, nicht, um selbst alles zu arrangieren. „Das Vertrauen in den Wall werden wir so schnell nicht zurückgewinnen“, gebe ich zu, „Dafür mussten die Menschen draußen zu lange ohne ihn leben. Aber wir können den Menschen Sicherheit geben, indem wir ihnen Licht und Soldaten schicken, bevor sie sie brauchen.“ Auf die Weise sind sie auch sicher, sollte ich den Wall nicht halten können. Gestern zum Beispiel hätte ich sterben können, und der Wall wäre mit mir gefallen. Auch wenn ich hoffe, dass es dazu nicht nochmal kommt… Ich will nie wieder sehen, dass Menschen so leiden müssen wie in der langen Nacht. Nicht mal für die paar Stunden einer echten Nacht… Siecher haben in dieser Welt nichts mehr verloren. Ich werde hier gebraucht, zumindest, bis Nyx bereit ist, den Ring zu übernehmen. „Das hab ich auch vorgeschlagen“, meint Prompto, „Cidney meinte, Hammerhead wär so weit sicher, aber auf den Verbindungsstraßen scheint es öfter Angriffe von diesen neuen MI zu geben. Sie meinte, mobile Einheiten von Gleven wären gut – so wie Callus und Nora, wenn sie mit ihrem Wohnmobil unterwegs sind.“ „Keine schlechte Idee“, stimmt Ignis zu, „So können wir auch bei kleinerer Truppenstärke größere Bereiche abdecken und zeigen gleichzeitig Präsenz.“ „Die Uniformen zumindest scheinen die Leute zu beruhigen.“ „Das hab ich in Galahd auch gesehen“, stimmt Gladio mit ein, „Die Gleve wird dort gut aufgenommen, gerade weil die meisten Rekruten selbst von außerhalb kommen und wissen, wie es da zuging. Die meisten agieren direkt in ihrer Heimat.“ Etwas an Gladios Tonfall stört mich. „Höre ich da ein ‚aber‘ raus?“, frage ich nach. „Gute Ohren. Die meisten sind jung und unerfahren. Cor ist ständig unterwegs, um vor Ort Trainings anzuleiten, aber sonst ist es das älteste Kind, das den anderen das Kämpfen und den Umgang mit Magie beibringt. Je weiter wir raus gehen, desto weniger sind die Gleven auf dem Stand der Hauptstadt. Und es sind noch zu wenige in jedem Ort, als dass man einzelne oder kleine Gruppen hier reinbeordern könnte für einen vernünftigen Wochenkurs.“ Ich überlege einen Moment. „Wenn wir die Tour durch Lucis fahren werden wir nicht nur zu viert sein.“ Ich hätte es zwar lieber so gehalten, aber es geht ja auch um die Präsenz. „Wir werden von einer Eskorte begleitet, deren Größe noch nicht genau fest steht. Hauptsächlich die Königsgarde, ein paar Offizielle, die sich um die Organisation kümmern, ein paar Bedienstete… sollte nicht schwer sein, da auch Trainingsequipment und ein paar gute Ausbilder mitzunehmen. Dann können wir vor Ort die Gleven auf Zack bringen während ich meine Ansprachen und Audienzen halte.“ „Klingt nach einem guten Plan. Wie viel Eskorte schwebt dir da vor?“, fragt Ignis. Ich seufze. „Je weniger desto besser, aber ohne wird es nicht gehen. Nur wir vier und der Regalia ist einfach zu wenig im Vergleich zu dem, was die Leute sehen wollen. Fahnenträger, Vertreter der Garde, ein paar Leute, die den Verwaltungsaufwand vor Ort stemmen und Buch führen, Bedienstete für das Gepäck. Ich gehe davon aus, dass uns noch mehr aufgedrängt wird.“ „Der ein oder andere Heiler wäre vielleicht nicht verkehrt“, lenkt Ignis ein, „Für den Fall der Fälle möchte ich mich nicht allein auf Tränke und Zauber verlassen müssen.“ „Crowe wird auch mitwollen wenn sie hört, dass wir nicht allein fahren.“ Ich muss schmunzeln. „Warum nicht? Kinder kommen immer gut an. Wenn Nyx und Crowe mitwollen, dürfen sie das gern. Wenn die Mütter nicht abkömmlich sind, können ja Iris und Talcott auf die Kinder aufpassen.“ Ignis lächelt wissend, stimmt aber recht überzeugend zu. „Das wird sicher ein tolles Abenteuer für die beiden. Um die Entschuldigung vom Unterricht werde ich mich gerne kümmern, eine solche Chance bekommt man in dem Alter ja nicht oft.“ „Ich hoffe nur, die Kleine blamiert mich nicht“, grummelt Gladio. Ich muss lachen, die anderen stimmen mit ein. „Wir sollten langsam los“, meint Ignis schließlich mit einem Blick auf seine Uhr. Er prüft noch einmal, dass meine Kleidung richtig sitzt, bringt Promptos Uniform in Ordnung und scheucht uns raus auf den Gang und in den Star of Lucis. Das Caelum Via ist eigentlich nur einen Fußmarsch entfernt, aber bei dieser Hitze würde ich in der vielschichtigen Kleidung nicht laufen wollen, selbst, wenn man mir so viel bürgerliches Gehabe durchgehen lassen würde. Der König läuft nicht, wenn er sich fahren lassen kann. Geht ja auch um die Vermeidung von Attentaten oder so. Dabei fiele mir zumindest eine Partei ein, die einen Anschlag planen würde, gerade weil ich für fünf Meter Weg das Auto aus der Garage hole. Diesmal braucht es keine Tricks, um auf die Dachterrasse des Caelum Via zu gelangen. Es fragt auch niemand mehr nach meinem Namen, dafür verbeugen sich alle besonders tief, wenn wir vorbeigehen. Ich hasse diese überzogene Ehrerbietung. Wenn ich an denselben Leuten in meiner Alltagskleidung vorbei gehen würde, würde kaum jemand auch nur hallo sagen. Die Dachterrasse ist imposant wie immer, mit reichlich teuren Dekorationen und Speisen für die hochwohlgeborenen Gäste. Man merkt kaum einen Unterschied zum letzten Mal, aber die Gerichte, die heute serviert werden, sind mit lokalen Zutaten und ohne Blattgold gefertigt. Das Zentrum des Buffets wird dominiert von einem Fischgericht, wie man es selten zu Gesicht bekommt, und ich muss schmunzeln, als ich den alten Köderdieb wiedererkenne. So kross gebraten und in dekorative Streifen geschnitten beklaut er sicher keine hilflosen Kinder mehr. Und er riecht fantastisch. Dazu gibt es jungen Wein aus Galahd, in Pfeffer gebratene Kartoffeln aus Leide und generell eine Menge lokaler Spezialitäten in Portionen, von denen unsere weit gereisten Gäste auch satt werden. Aranea zumindest scheint sich arg beherrschen zu müssen, damit noch was für die anderen übrig bleibt. „Wir sind unterwegs ein paarmal von diesen Robotern angegriffen worden, die wie MI aussehen“, erklärt sie mir, als ich mich zu ihr und dem Kaiser an einen der Tische setze, „Und der Weg war lang, ich hab seit heute Früh keinen Bissen mehr zu Essen abbekommen.“ Premierministerin Claustra zieht dennoch eine Augenbraue hoch. Auf ihrem eigenen Teller ist nur Salat, womöglich muss die arme Frau auf ihre Linie achten. Sollte ich eigentlich auch, aber ich verlasse mich darauf, dass Gladio mein Training schon entsprechend anpasst. Da der Tisch nur Platz für acht Leute bietet winke ich Ignis, sich zu setzen und schicke die anderen beiden los, sich sinnvoll im Raum zu positionieren und eventuell andere Gäste zu unterhalten. „Ich entnehme deinen Worten, Aranea, dass diese Roboter nicht von imperialer Machart sind?“, frage ich vorsichtig. Aranea schluckt eine große Portion leidener Röstkartoffeln, aber da hat ihr Bruder schon das Wort ergriffen: „Wenn, wüssten wir nichts davon. Meine Männer haben einige der besiegten Maschinen untersucht, und zumindest einen Magitech-Kern scheinen sie nicht zu haben. Das verwendete Material erscheint mir eher lucischen Ursprungs, wenn mir die Anmaßung erlaubt ist.“ Ich winke ab. „Das hatte ich schon befürchtet“, gebe ich zu, „Diese Maschinen sind unter dem Wall, und wir bekommen immer neue Meldungen über Angriffe. Sie müssen irgendwo innerhalb fabriziert werden, nur weiß ich nicht, von wem.“ „Da ihr den Wall ansprecht, euer Majestät“, beginnt Premierministerin Claustra, „ich habe gehört, der Grund dafür sei die Sichtung eines Siechers?“ Ich warte mit der Antwort auf diese Frage ab, da gerade Ravus den Raum betritt, begleitet von einer Gesandtschaft aus Tenebrae. Prompto ist sofort zur Stelle, und es dauert nicht lange, bis König Ravus und Kanzler Populus an unserem Tisch Platz nehmen. „Entschuldigt die Verspätung“, bittet er, „Der Zug…“ „…funktioniert noch nicht, wie er sollte“, gebe ich zu, „Ich weiß. Wir hatten einige Probleme mit den neuen Gleisstrecken, die mir als geklärt gemeldet wurden. Das war wohl eine inkorrekte Information.“ „Uns wurden leider keine Details genannt, nur, dass es bald weitergeht. Wir standen fast eine Stunde.“ „Das tut mir Leid.“ Ravus scheint sich nichts daraus zu machen, er lächelt freundlicher als ich es je bei ihm gesehen habe. „Tja, die Technik“, meint Kaiser Kain locker, „damit haben wir auch ein ums andere Mal unsere liebe Not.“ „Um wieder auf die letzte Frage zurück zu kommen: Es ging um den Wall von Lucis. Und ja, ich fürchte, ich muss bestätigen, dass es zu einem Zusammentreffen mit etwas kam, was wir sicher als Siecher bezeichnen müssen.“ Ich sehe mich um, ob noch weitere Ohren auf uns gerichtet sind. Es ist laut im Raum, überall wird gesprochen und getratscht – meine leisen Worte werden den Tisch nicht verlassen. „Die Dunkelheit ist zurück, zumindest hier in Lucis. Unter den Menschen in den zerstörten Vierteln ist auch die Plage wieder ausgebrochen. Wenn die Kannagi ihre Kräfte noch nutzen kann, würde ich gerne darum bitten, dass sie sich dieser Menschen annimmt. Aktuell sind sie in einer Quarantänestation des Zentralkrankenhauses untergebracht, aber das ist kein Zustand, den ich lange halten möchte.“ „Natürlich“, meint Ravus und winkt einen seiner Diener heran. Der nickt und beeilt sich, aus dem Raum zu kommen. „Meine Schwester ruht noch in einem der Hotellzimmer, sie wird sich jedoch sofort auf den Weg zu den armen Menschen im Krankenhaus aufmachen. Ihre Kräfte hat sie noch inne, auch wenn bisher noch keine Notwendigkeit bestand, sie nutzen.“ „Es tut mir Leid, die Prinzessin damit behelligen zu müssen.“ „Schon gut, dafür haben die Götter sie ausgewählt.“ Das Leid der Menschen ist groß. Bisher dachten wir, die Menschen hätten sich in den Zeltstätten nur erkältet oder mit anderen weltlichen Erregern zu kämpfen, die in der Nässe und Kälte, und in der Nähe der Menschen in ihren provisorischen Lagern begründet lagen. Ich war schockiert, als man mich gestern ins Krankenhaus rief, noch mehr, als ich die Menschen hinter der Glaswand zu sehen bekam. Wunden, aus denen Dunkelheit trieft, Menschen, die dabei sind, sich in Miasma aufzulösen. Ein kleines Mädchen, das ihre Hände hilfesuchend an die Scheibe legt… ich habe meine Hand auf der anderen Seite über ihre gelegt und versprochen, nach der Kannagi zu schicken. „Wir haben die früheren Sicherheitsmaßnahmen beherzigt“, versichert mir die Premierministerin, „Aber in Accordo wurden bisher weder Siecher noch die Plage entdeckt.“ „In Tenebrae gab es auch keine Sichtungen“, stimmt Kanzler Populus ein. „In Niflheim ist gab es auch keine Übergriffe. Wir haben allerdings bewusst gesucht und in einer der alten Magitech-Fabriken ein paar schwache Siecher entdecken können. Wo diese herkamen konnten wir nicht feststellen, aber der Bereich wurde großflächig abgesperrt und bleibt jetzt beleuchtet. Die Anlage sah aus, als hätte es kürzlich einen Einbruch gegeben.“ „Das klingt nachvollziehbar“, mischt sich Ignis ein, „Diese neuen Magitech-Roboter sehen den uns bekannten sehr ähnlich, womöglich hat jemand nach Blaupausen gesucht und ist fündig geworden. Und wenn er auch die Energiekerne reproduzieren wollte… muss er irgendwo einen Weg gefunden haben, an Miasma zu kommen. Ich sage es nur ungern, aber die Obdachlosen aus den zerstörten Vierteln waren sicher leichte Opfer für Experimente.“ Ich fasse meine Gabel fester und bemühe ich, meinen Ärger nicht an dem toten Fisch auszulassen. Ich denke daran, wie ich am Angelsteg mit ihm gerungen habe und gewinne schnell wieder die Kontrolle über meinen Zorn. „Der Wall jedenfalls dürfte der Dunkelheit einen Dämpfer verpasst haben“, bin ich mir sicher, „Und er lässt auch nichts nach außen, was hier drinnen als Aggressor eingestuft wird.“ „Die anderen Reiche sind also sicher?“ „Soweit ich es sagen kann sollten sie das sein. Wenn jedoch außerhalb von Lucis die Dunkelheit ausbricht kann ich das nicht verhindern.“ „Und wenn euch etwas zustieße würde der Wall brechen“, ergänzt Ravus, was ich nicht auszusprechen wage. „Ich fürchte, dem ist so.“ „Ihr werdet die Grenzen von Lucis wohl auch eine Weile nicht mehr verlassen können, nehme ich an“, ergänzt die Premierministerin. „Auch das ist wahr. Ich suche aber bereits nach einer Möglichkeit, den Wall in Abwesenheit zu halten, damit meine Hochzeit mit Prinzessin Lunafreya wie geplant in Altissia stattfinden kann.“ „Nicht notwendig.“ Das Lächeln auf dem Gesicht der Premierministerin ist freundlich, fast wie das einer liebenden Großmutter. „Im Hafen des Galdin Kais liegt ein Schiff vor Anker, das unter Accordischer Flagge fährt. Ein großes Schiff, auf dem aktuell alles für eine große Feier vorbereitet wird. Ich dachte mir, da wir ohnehin schon alle so zusammen kommen, wäre es eine gute Gelegenheit, die Hochzeit gleich mitzubringen.“ Ich kann die Frau nur anstarren, die Worte fehlen mir. Ignis schmunzelt wissend, und auch sonst ist niemand am Tisch überrascht. „Ihr könnt euch nicht vorstellen wie schwer es war, all die Vorbereitungen zu treffen ohne dass einer von euch Verdacht schöpft“, gibt Ravus zu, und auch er scheint sich ein Lachen nur mit Mühe verkneifen zu können, „Gerade Lunafreya… sie nimmt an den Festlichkeiten hier nicht teil und hat wenig Bedarf an neuer Kleidung, da versuche mal einer, an die aktuellen Maße zu kommen, ohne Verdacht zu erregen.“ „Ich hatte es ja zum Glück etwas leichter“, schmunzelt Ignis, „Nur den Festzug hinunter zum Galdin Kai zu organisieren ohne dass etwas auffällt war eine Herausforderung.“ „Und wann genau…?“ „Direkt im Anschluss natürlich“, erlaubt sich Aranea zu verraten, „Wir wollen schon sehen, wie du die Prinzessin zur Königin machst.“ Sie zwinkert. Dass sie mich ganz unpolitisch mit ‚Du‘ anspricht scheinen alle am Tisch höflich zu ignorieren. Ich seufze tief, das ist nun doch etwas viel nach einer schlaflosen Nacht. „Die Überraschung ist euch jedenfalls gelungen“, gebe ich zu. „Dann war es die Mühe der Geheimhaltung doch Wert.“ „Da wir nun alle wieder bei etwas besserer Laune sind…“, beginnt Ravus erneut, „Es gibt da noch ein Thema, das ich gerne ansprechen würde. Und zwar verfolge ich auch die lucischen Nachrichten, und da kam ein Thema auf, das mein Interesse geweckt hat. Die Götter hätten einen neuen König gewählt?“ Ich nicke bedächtig und sehe mich noch einmal nach lauschenden Ohren um. „Da gibt es einiges, was ich nicht in den Zeitungen lesen will“, gestehe ich, „Wenn es möglich wäre, würde ich diese Unterhaltung gerne in ein privateres Umfeld verlegen.“ Die meisten von uns sind mit dem Essen fertig, ein guter Zeitpunkt also, die öffentliche Party zu verlassen und in den Besprechungssaal der Zitadelle zu verlegen. Gladio und Prompto stehen vor der Tür Wache, der Raum ist aber auch so gut isoliert für private Unterredungen unter Herrschern. Die Stille des Zimmers ist beinahe betäubend nach dem Lärm der Gespräche im Caelum Via. Ein Butler serviert Tee und Gebäck, dann verlässt er den Raum mit einer tiefen Verbeugung und lässt und allein. „Entschuldigt bitte die Notwendigkeit der Geheimhaltung, was ich Euch jetzt erzählen möchte, ist noch zu brisant, als dass ich riskieren möchte, dass Bruchstücke davon unkontrolliert die Runde machen.“ Ich nehme einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. Sieben Paar Augen sind direkt auf mich gerichtet. „Die Götter haben kurz nach meinem Tod einen neuen König gewählt, der den Thron übernehmen würde, sowie er gebraucht wird. Leider können sie diese Auswahl nur zum Zeitpunkt der Geburt treffen, und entsprechend jung ist dieser neue König nun. Er ist noch nicht bereit.“ „Dein Tod ist zehn Jahre her“, erinnert sich Ravus, „Das Kind also entsprechend jünger als das. Weißt du, wer es ist?“ „Ja. Er hat mich um meinen Schutz gebeten, kurz, bevor ich in diese Welt zurückkam. Deswegen stehe ich jetzt hier und nicht er. Dass ich zurückkehren konnte, verdanke ich einem treuen Freund, dass jedoch noch mehr Menschen aus der Welt der Toten zurückgebracht werden ist eine Gnade der Götter. Die neuen Probleme kamen schneller als der König erwachsen wurde, deshalb sind wir wieder hier. Der neue König wird aktuell auf seine zukünftigen Aufgaben vorbereitet, aber er soll noch so lange wie möglich Kind sein dürfen.“ „Das ist jedem zu wünschen, der mit einer solchen Aufgabe belegt wird“, stimmt Ravus zu. Ich sehe ihn direkt an, überlege, wie ich meine weiteren Worte wählen soll. „Es gibt in diesem Zusammenhang noch mehr, was Ihr wissen solltet. Und erst mal nur Ihr.“ Ich atme tief durch, weiß immer noch nicht, wie ich formulieren soll, was ich sagen muss. „Die Götter haben Lucis den Kristall anvertraut und ein Königsgeschlecht gewählt, dass ihn zu nutzen und zu schützen befähigt ist“, beginne ich schließlich, „Die Linie dieser Könige ging mit mir zu Ende. Soviel dürfte allen Anwesenden bekannt sein.“ „Der lucische König bezieht Magie aus dem Kristall, die er und die seinen nutzen können“, fügt Kain hinzu, „Und er kann sein Land mit einem magischen Wall schützen, sowohl vor der Dunkelheit selbst, als auch vor Feinden von außen. Durch die ganze Geschichte hinweg hat dieser Schutz in den anderen Reichen immer wieder für ein gewisses Maß an Neid gesorgt.“ Ich nicke, auch das ist korrekt. „Zu Unrecht, wie ich auf der anderen Seite erfahren habe. Der Kristall in Lucis ist nur einer von vieren, genaugenommen bezeichnen ihn die Götter als Kristall des Himmels. Die anderen Kristalle liegen inaktiv in der Welt verborgen. Der Kristall der Erde in Tenebrae, der des Wassers in Accordo und der Kristall des Feuers letztlich in Niflheim. Und jeder dieser Kristalle hat nun einen König, der ihn nutzen kann.“ In der Stille, die meinen Worten folgt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. Anders als ich war keiner der anwesenden Regenten darauf gefasst, so schnell das Zepter abgeben zu müssen. Zumal in zwei der Reiche nie ein König an der Macht war… „Ich gehe davon aus“, murmelt Kain, der sich als Erster gefasst hat, „Auch diese Könige sind noch Kinder?“ „Nicht älter als zehn Jahre, vermute ich.“ „Woran erkennen wir sie?“, fragt Camelia Claustra, „wissen diese Kinder, wer und was sie sind?“ Ich denke an Nyx und schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht. Sie werden die Kristalle finden, sobald ihre Macht gebraucht wird, ob sie bis dahin selbst bereit sind oder nicht. Ihr erkennt sie daran, dass sie Magie aus ihrer Umwelt ziehen und nutzen können, vielleicht führen sie Tricks wie diesen hier vor.“ Ich lasse einen kleinen Feuerzauber in meiner Hand tanzen und ernte zumindest von einigen der Anwesenden Erstaunen dafür. „Es sind einfache Kinder, vielleicht aus dem Adel, vielleicht sogar aus ganz simplen Verhältnissen. Sie werden sich erinnern, den Kristall berührt zu haben, haben dabei vielleicht eine Stimme gehört. Aber es sind Kinder… Kinder, denen eine große Verantwortung aufgebürdet wird. Ich wünsche mir… dass diese Kinder, so sie zu früh berufen werden, die Zeit bekommen, in Ruhe von euch allen zu lernen, bevor sie selbst regieren müssen. Sie werden Schutz und Führung brauchen um sich den Gefahren zu stellen, gegen die sie die Welt beschützen sollen.“ Nyx lernt fleißig in der Annahme, er würde der neue Hofmarschall werden. Ich habe ihn mehr als einmal in mein Büro eingeladen, ihm gezeigt, was ich dort mache. Er bekommt viel mit und hat gute Voraussetzungen, in Ruhe alles zu lernen, was er wissen muss. So eifrig wie er lernt scheint mir fast er wüsste selbst, wie wenig Zeit ihm dafür bleibt. Im Zimmer herrscht nachdenkliches Schweigen, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Claustra fasst sich als erste ein Herz. „Also ist unsere Aufgabe als heutige Regenten, der neuen Generation den Weg zu ebnen. Ich denke, in meinem Alter sollte ich ohnehin mal an die Pension denken…“ sie lacht kurz, es wirkt untypisch von ihr, „Aber der Gedanke, nochmal den Kindererzieher zu spielen… unser Reich hatte nie einen König. Es wird schwer sein, die Leute darauf umzustellen.“ „Accordo ist eine Demokratie, nicht wahr?“, überlegt Ravus, „Ich denke, der Posten des Premierministers kann in der Funktion als Berater des Königs gut erhalten bleiben. Die Stimme des Volkes am Ohr des Königs, sozusagen, wie es gerade in Tenebrae praktiziert wird. Ich für meinen Teil bin recht erfreut über die Nachricht, man liegt auch mir schon in den Ohren, wann denn Nachwuchs zu erwarten sei… ein bisschen schwierig, wenn man sich zu diesem Zweck eine jüngere Frau suchen müsste.“ „Ach, du bist doch gut erhalten, Ravus“, scherzt Aranea und klopft verspielt gegen dessen künstlichen Arm. „Ich denke dennoch, dass es nicht schaden wird, die Linie versanden zu lassen und auf den neuen König zu vertrauen, wie Noctis es tut. Wenn die Götter die Linie der Kannagi erhalten wollen, werden sie uns schon die Möglichkeit dazu bieten. Da Lunafreya und ich jedoch beide über lange Zeit tot waren und unsere Rückkehr unvorhergesehen gehe ich aber davon aus, dass auch die Kannagi, so nötig, aus einer neuen Linie gewählt werden würde.“ „Tatsächlich ist es vielmehr so, dass die neuen Könige selbst die Macht der Götter abrufen können, wie es zu unserer Zeit, und auch jetzt noch, die Kannagi tut. Mehr Sorgen macht mir, dass die Dunkelheit mit Ardyns Tod komplett hätte verschwunden sein sollen…“ „Die Menschen finden immer einen Weg, neue Dunkelheit zu beschwören“, philosophiert Kain, „Das letzte Mal ist sie ja auch irgendwo hergekommen.“ Er lehnt sich recht entspannt in seinem Stuhl zurück, nimmt einen Schluck Tee und blickt seufzend an die Decke. Aranea knabbert derweil nachdenklich auf einem der Kekse herum. „Ein König mit der Macht des Kristalls und dem Segen der Götter… sollte nicht schwer sein, das den Menschen als etwas Besseres als den Kaiser zu verkaufen. Niflheim sehnt sich nach etwas Neuem, einer Chance, mit der Schuld der Vergangenheit abzuschließen.“ „Die neuen Könige sollen eine neue Zeit des Friedens einleiten“, erkläre ich, „Sie werden Seite an Seite regieren, jeder über sein eigenes Reich, aber doch in Freundschaft zusammen.“ Eine Welt ohne Grenzen... Das war mein letzter Wunsch, als ich gestorben bin. Die Götter meinten, sie würden sich bemühen, es so einzurichten, aber die Menschen seien ‚schwierig‘ und man wolle kein zweites Solheim. Wir verlassen das Zimmer tief in Gedanken um uns noch ein wenig auf dem Vorhof der Zitadelle blicken zu lassen, wohin sich die Party nun verlagert hat. Ein bisschen Konversation hier, ein paar Beziehungen pflegen da, und das die ganze Zeit mit geradem Rücken und einem Lächeln. Ich bin so müde… aber ich finde einfach keine Gelegenheit mehr mich für ein kleines Nickerchen zu entschuldigen, ohne unhöflich zu sein. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Hände ich schon geschüttelt habe, sicher mehr, als Leute hier anwesend sind. Mein Arm fühlt sich taub an. Wie hat Vater das nur immer geschafft? Zum Glück versorgt Ignis mich heimlich mit frischem Kaffee, andernfalls wäre ich sicher längst umgekippt. Ebony... das Zeug trinkt auch nur er freiwillig, aber es hilft. Als der Mittag endlich in den späten Nachmittag übergeht fahren die teuren Schlitten vor, die uns zum Galdin Kai bringen sollen. Voraus fährt ein gepanzerter Wagen der Königsgarde, ich, Gladio und Prompto werden wieder von Ignis im Regalia gefahren. Cidney war so umsichtig den Wagen um optionalen Sichtschutz in den hinteren Fenstern zu ergänzen, den fahre ich jetzt hoch und kann endlich ein wenig schlafen. Ich hatte fast vergessen, wie bequem die Sitze in diesem Auto sind, wenn man nur lange genug unterwegs ist. Das Schiff, das am Galdin Kai auf uns wartet, ist nicht weniger als gigantisch. Ein prunkvoller Luxusliner, der ganze Stolz der accordischen Flotte. Die Werften, aus denen früher zahlreiche Kriegsschiffe gelaufen sind, scheinen ihre Kapazitäten nun besser zu nutzen – die ‚Lady of the Stars‘ ist ein großartiges Schiff und fast schon selbst eine eigene Stadt. Auch der Galdin Kai selbst ist gut auf unsere Ankunft vorbereitet. Bevor es aufs Schiff geht, werden am Pier Getränke gereicht, es gibt ein teuer angerichtetes Buffet und der ganze Ort ist voll von Menschen, die in Erwartung der Hochzeit angereist sind. Anscheinend wusste wirklich absolut jeder außer mir und Luna, dass und wann unsere Hochzeit hier gefeiert wird. Eine Eskorte in accordischen Ausgehuniformen führt uns sicher an dem Trubel vorbei und auf Deck. Meine erste Einschätzung war korrekt – die Lady ist mehr Stadt als Schiff. Keine Metropole wie Altissia, und zu mobil, um auf einer Karte verzeichnet zu sein, aber sicher eine der größeren Städte des Reiches. Auch hier ist alles aufwändig dekoriert und vorbereitet, aber bisher wurde nur wenigen privilegierten Menschen der Zutritt gewährt. Die Hauptstraße über das Deck ist mit roten Kordeln abgesperrt, und ich komme nicht umhin, wieder und wieder stehen zu bleiben um Hände zu schütteln und Grüße auszusprechen. So kommen wir nur langsam voran, haben aber dennoch wenig Gelegenheit, die herrliche Architektur zu bewundern, die hellen, modernen Häuser und Türme. Je weiter wir ins Innere gehen desto mehr entsteht der Eindruck einer echten Stadt, bis schließlich nur das leichte Schwanken der Straße unter meinen Füßen daran erinnert, dass wir uns noch auf dem Wasser befinden. Bald höre ich leise Glockenklänge, rhythmisch wie das Schwanken des Schiffes auf dem Meer. Eine Kirche kommt in Sicht, ein herrlicher Bau im alten accordischen Stil, und wäre sie nicht wie alles hier gänzlich aus Holz gebaut, könnte man fast erwarten, genau so eine Kirche auch in Altissia zu finden. Eine riesige Skulptur der Wassergöttin dominiert den Vorplatz, kunstvoll gewunden und verschlungen dass jeder, der darunter hindurch geht, ehrfürchtig zu ihr aufsehen muss. Auch vor der Kirche stehen zahlreiche Menschen. Ich straffe die Schultern und schreite aufrecht und stolz unter dem aus Holz gemeißelten Abbild Leviathans hindurch, lächle in die Blitze der tausend Kameras und betrete endlich die Kirche, in der meine Hochzeit stattfinden soll. Der Raum ist riesig. Ein herrliches Kirchenschiff, voll behängt mit teuren Bildern in goldenen Rahmen. Einfache Holzbänke reihen sich vor dem Altar, genug, um die Gäste des Gipfeltreffens und noch ein paar weitere Angehörige der höheren Bevölkerungsschichten unterzubringen, sowie ein paar Vertreter der Presse mit ihrem Equipment. Luna ist noch nicht da, aber hinter dem Altar wartet bereits ein milde lächelnder Priester auf mich. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, zumal ich die letzten Meter alleine gehen muss. Ignis als mein Trauzeuge ist noch halbwegs in der Nähe, ich kann seinen Blick in meinem Rücken spüren und fühle mich ein wenig sicherer. Prompto und Gladio nehmen in der ersten Reihe Platz. Wäre mein Vater am Leben, würde er dort bei ihnen sitzen… ich hätte es ihm gewünscht. Ich hätte es auch mir selbst gewünscht, dass er hier sein könnte. Ich bin nervös. Himmel bin ich nervös. Um mich abzulenken lasse ich meinen Blick über die goldgerahmten Bilder und die riesigen Wand- und Deckengemälde schweifen. Jeder der großen Götter ist auf mindestens einem davon zu sehen, aber keiner so oft wie Leviathan, Göttin des Wassers und Schutzheilige von Accordo. Trotz der Zerstörung, die ihr Erwachen in Altissia hinterlassen hat, genießt sie noch immer gewaltiges Ansehen unter den Leuten. Vielleicht auch gerade deshalb… Furcht lehrt die Menschen meist schneller, zu beten. Die Holzbänke füllen sich, als langsam aber sicher die hohen Gäste eintreffen, denen ein Platz im Kirchenschiff vergönnt ist. Viele müssen stehen. Ich lächle in die Kameras, die auf mich gerichtet sind, blicke aber immer wieder auf die Tür. Die Ankunft der Braut ist im Saal zu spüren, lange bevor etwas zu sehen ist. Plötzlich ist alles still. Das Rascheln von Kleidung, das Drängeln in den Bankreihen und dahinter verstummt und alle Aufmerksamkeit wendet sich Richtung Tür. Ich halte automatisch die Luft an, muss mich zwingen, langsam und gleichmäßig aus und wieder ein zu atmen. Die Orgel beginnt zu spielen, aber ich nehme die Töne kaum wahr. Ein Hochzeitsmarsch, vermute ich, aber ich kann es nicht sicher sagen, spüre nur die tiefen Töne, die die ganze Kirche in Vibration versetzen, in meinem Kopf widerhallen. Es ist laut. Dann, endlich, sehe ich sie. Lunafreya Nox Fleuret, meine Braut. Sie trägt ein langes weißes Kleid, extra für sie entworfen und geschneidert. Es ist nicht dasselbe, das ich vor zwanzig in Altissia ausgestellt gesehen habe; anscheinend hat Vivien Westwood es sich nicht nehmen lassen, ihr ein neues, besseres zu gestalten. Eines, das der neuen Zeit würdig ist. Ich habe Luna nicht mehr gesehen, seit sie in Altissia gestorben ist – nicht lebend, jedenfalls. Auf der anderen Seite waren wir die ganze Zeit zusammen, aber dort ist es… anders. Ich weiß nicht, wie Luna heute unter ihrem Schleier aussieht, aber ich bin sicher, sie ist wunderschön. Das ist sie immer. Weil Lunas Eltern beide tot sind ist es ihr Bruder Ravus, der sie zum Altar führt. Ich bin froh, dass er seine Abneigung gegen mich abgelegt hat. Luna hat stets darunter gelitten zu sehen, dass die zwei Menschen, die sie am meisten liebt, einander verfeindet sind. Aber dieser Krieg ist vorbei und jede Schuld, aller Hass vergessen. Ich bin gerne bereit, Ravus als meinen Bruder anzusehen. Ich schlucke trocken, als die beiden die Stufen zum Altar erreichen und meine Hände zittern, als Ravus mir seine Schwester übergibt. Mein Kopf ist komplett leer… ich bemühe mich, den salbungsvoll monotonen Wörtern des Priesters zu folgen, während Luna meine Hand hält, aber es fällt mir schwer. Ich wünschte, ich hätte das vorher mal üben können. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal bei einer Hochzeit dabei gewesen zu sein und habe nur eine wirklich vage Ahnung, was ich hier eigentlich tun soll. Zum Glück erwartet man keine große Rede von mir sondern nur ein einfaches ‚Ja, ich will‘. Soviel bekomme ich gerade noch zustande, sogar mit erstaunlich fester Stimme. Ich mag meine neu entdeckte Fähigkeit, sicher und selbstbewusst zu klingen, obwohl ich innerlich gerade vor Nervosität umkomme. Ohne sie wäre ich als König verloren. Auch Luna wiederholt die Worte, die der Priester ihr vorgibt, und auch ihre Stimme klingt sicher, als wüsste sie, was sie hier tut. Ihre Hand zittert in meiner und ich weiß, dass sie sich genauso fühlt wie ich. Genauso nervös, genauso überfordert und müde. Ein kleiner blonder Junge in niflheimer Kleidung trägt ein rotes Samtkissen zum Altar. Als wir die Ringe darauf entgegennehmen, um sie einander anzustecken fällt mir ein Barcode am Arm des Jungen auf. Er wirkt sehr nervös, aber ich kann nicht mehr tun als im zuzulächeln, bin zu sehr eingespannt in dieses Ritual. Die Ringe passen perfekt, auch da hat jemand gut recherchiert. Ich halte Lunas Hände in meinen und der Priester fordert mich auf, meine Braut zu küssen. Mit zitternden Händen hebe ich den Schleier von ihrem Gesicht. Luna ist älter als ich sie in Erinnerung habe, aber ihre blauen Augen sind noch genau wie bei unserem ersten Treffen: Tiefblau, klar und voller Sterne. Ich kann spüren, wie der Druck in meiner Brust nachlässt, als hätte etwas die ganze Zeit über mein Herz fest umschlossen und jetzt endlich losgelassen. Aufatmend lehne ich mich zu ihr hinunter. Es ist einfach, sie zu küssen, nach all der Anstrengung, bis hier her zu kommen und nach all der Nervosität sogar fast eine Erleichterung. Ihre Lippen sind zart, sie mit meinen zu berühren kommt mir nur zu natürlich vor. Die Menge jubelt, ich muss mich zusammenreißen, nicht erschrocken zurückzuweichen, als draußen Kanonenschüsse erklingen. Kein Angriff, sage ich mir, nur Triumphschüsse. Eine Feier, kein Krieg. Ich atme tief durch und halte weiter Lunas Hände fest. Die Veranstaltung ist noch nicht vorbei… nun geht es aus der Kirche hinaus, den ganzen Weg zurück auf Deck. Der Bug sieht aus wie ein riesiger Festplatz unter offenem Himmel, eine große Tanzfläche, kleine runde Tische und ein großes Buffet. Lichterketten und Laternen sorgen für das nötige Licht, als die Sonne langsam untergeht, und Luna und ich schreiten Hand in Hand auf die vielstöckige Torte zu, die Cactura für uns zubereitet hat. Ein Meisterwerk, fast zu schade zum Anschneiden, und doch tun wir nun genau das. Die Torte ist riesig, ein zehnstöckiger Turm aus lockerem Teig und erlesenen Beeren mit viel süßer Sahne. Zum Glück müssen wir nur den ersten Schnitt machen, denn auch so kommen wir kaum zum Luft holen bevor auch schon das Orchester zum Tanz ruft, den natürlich wir eröffnen sollen. Ich habe noch immer kein Wort mit Luna gewechselt, bin zum Umfallen müde und kann mich nicht im Mindesten erinnern, wann ich das letzte Mal getanzt habe und wie das eigentlich geht. Trotzdem gelingt es mir, irgendwie. Es ist wie beim Kämpfen – je weniger man darüber nachdenkt, desto besser schafft es dem Körper, seine bekannten Abläufe abzuspulen. Ich folge der Musik und lasse meine Füße einfach machen… als Kind habe ich oft mit Luna getanzt, sie kennt mich und meine Schwächen gut genug, nicht in Verlegenheit zu geraten. Fünf Lieder später ist es endlich so spät, dass Luna und ich uns entschuldigen können, um endlich, endlich das Hotelzimmer aufzusuchen, in dem wir unsere Hochzeitsnacht verbringen dürfen. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss und endlich… endlich sind wir allein. Ich muss mich zusammenreißen, nicht an Ort und Stelle umzufallen. Denn auch Luna gegenüber habe ich, leider, Verpflichtungen, die mich vom Schlafen abhalten sollten. Angenehme Verpflichtungen, eigentlich, aber trotzdem… ich will nur einfach schlafen. Dringend. „Ist es… wäre es sehr schlimm, wenn wir heute nicht mehr…?“, versuche ich zu kommunizieren. Luna lächelt wissend und legt mir einen Finger auf die Lippen. „Du bist auch zu müde, was?“, flüstert sie und lehnt sich an meine Brust, „Ist schon in Ordnung, ich will auch einfach nur schlafen. Bei dir, nicht unbedingt mit dir, wenn du verstehst.“ Ich kann sehen, dass sie ein Gähnen unterdrückt, auch, wenn sie es sehr geschickt anstellt. „Nur um eines muss ich dich noch bitten…“ Ich nicke, auch wenn ich kaum verhindern kann, dass mir die Augen zufallen. Ich weiß längst nicht mehr, ob ich Luna umarme, um sie zu halten, oder, damit ich nicht selbst umfalle. Lunas Wärme in meinen Armen fühlt sich gut an, am liebsten würde ich ewig so stehen. Aber in dieser Welt… in der Welt der Lebenden ist es nicht so einfach. Ständig muss man hier gegen die Schwerkraft ankämpfen, und die Zeit läuft auch beständig weiter. Auf der anderen Seite war es einfacher. Dort konnte ich einfach nur da sein, mit Luna an meiner Seite, und musste gar nichts tun. „Hilfst du mir noch aus dem Kleid?“ Lunas Frage weckt mich aus dem Sekundenschlaf. Ich sehe in ihr Gesicht und brauche einen Moment, um die Bitte zu verarbeiten. Aber natürlich… auch Luna trägt Kleidung, die sie unmöglich alleine an- und ausziehen kann. Ich nicke und muss loslassen, damit sie sich umdrehen kann. „Ich werde mit meinem Mantel auch Hilfe brauchen“, nuschle ich und versuche, genug wache Gehirnmasse in Bewegung zu bringen um mit dem Durcheinander an Seidenbändern und Verschlüssen klarzukommen. Wer immer das Korsett erfunden hat gehört definitiv eingesperrt… oder selbst in eines verschnürt. Irgendwie schaffe ich es, die Knoten zu lösen und das ganze System aufzudröseln, bis das Hochzeitskleid zu Boden fällt. Der Anblick meiner Königin in nichts als ihrer Unterwäsche ist sehr angenehm… sie ist immer noch unglaublich schön. Und ich bin immer noch zu müde, um dem Reiz zu folgen. Schlafen… schlafen ist wichtiger als Sex. „Komm her, Noctis“, schnurrt Luna und dreht sich wieder um. Bevor ich noch verstehe, in welche Richtung und wie weit, hat sie auch schon ihre Hände auf meine Schultern gelegt und macht sich an den Verschlüssen zu schaffen, mit denen Ignis heute Morgen zu kämpfen hatte. Sie schaffte es, den Mantel zu lösen, und ich fühle mich, als würde ein halber Berg von meinen Schultern fallen. Ich hatte zuletzt kaum noch gemerkt, wie schwer meine Kleidung eigentlich war. Luna nimmt mir noch die Jacke ab und ich steige aus meiner Hose, bevor ich meine Braut wieder umarme. So müde… und der Weg zum Bett ist so weit. „Ich weiß nicht, ob ich es noch bis ins Bett schaffe“, gebe ich zu, „Der Boden sieht auch bequem aus…“ Luna kichert. Ich weiß nicht, wann ich sie das letzte Mal so ungehalten lachen gesehen habe. Oder ob überhaupt je. „Es sind nur zwei Meter, Schatz“, flüstert sie mir zu, „Komm, das schaffen wir noch.“ Ich brumme ergeben, erlaube ihr aber, mich zum Bett zu ziehen. Die Matratze ist herrlich weich und luxuriös… ich könnte mich einfach fallen lassen und direkt einschlafen. Trotzdem raffe ich mich nochmal auf, vernünftig unter die Decke zu kriechen. Luna folgt mir und schmiegt sich an mich. Ich schaffe es gerade noch, den Arm um sie zu legen, da bin ich auch schon weg. Der lange Tag ist endlich zu Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)