Welt ohne Grenzen von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 18: Zauberkraft (Ignis Scientia) ---------------------------------------- Irgendwie befremdlich, so ganz normal zu Hause zu sein. Ich war bisher als Kriegsinvalide mehr oder weniger pensioniert, und nach der Hochzeit mit Clara hat sich meine Rolle schnell zu der eines Vollzeitvaters gewandelt. Selbst, wenn Nyx in der Schule war gab es immer genug zu tun: Aufräumen, sauber machen, Dinge vorbereiten… jetzt, wo ich wieder sehen kann, erledige ich all das in der Hälfte der Zeit. Ich hatte gar nicht mehr bemerkt, wie sehr mich mein fehlendes Sehvermögen eigentlich einschränkt, aber jetzt, im direkten Vergleich… man arbeitet doch effektiver mit offenen Augen. Und so steht man plötzlich da und weiß nicht mehr, wohin mit der Zeit. Dafür fallen mir tausend Dinge ein, die ich in der Zitadelle noch zu tun hätte. Dinge, die, da bin ich sicher, auch andere Menschen erledigen können. Noct hat Recht, ich brauche diesen Urlaub. Ein wenig Zeit, die ich einfach mal für mich habe, um mich wieder daran zu gewöhnen, dass ich nicht den ganzen Tag rotieren muss. Einfach mal Zeit, die eigenen Gedanken zuzulassen. Seufzend setze ich mich auf das Sofa. Ich bin… weggerannt, zehn Jahre lang. Habe mich in Aktivität geflüchtet, um nicht zurücksehen zu müssen. Habe nachts mit Albträumen gerungen, in denen ich gegen Ardyn gekämpft habe, wieder und wieder, bin jede Nacht gestorben bei dem vergeblichen Versuch, das Schicksal zu ändern, das doch unausweichlich war. Bis zu jeder Nacht… als ich den Kampf plötzlich für mich entschieden habe. Habe ich nach dem Aufwachen wirklich erst bis ins Bad laufen müssen um zu merken, dass ich tatsächlich sehen kann? In meinem Traum habe ich alles geopfert, um Noct zu retten, aber er hat das Opfer abgelehnt. Ich bin nicht erblindet… und er ist nicht gestorben. Und dann wache ich auf und kann sehen. Und Noct lebt… er ist tatsächlich zurück. Ein Wunder. Im Fernsehen läuft die Millionste Diskussion über sein letztes Interview. Der Strom, der Wall, die Hochzeit mit Lunafreya… und der neue König. Ja, es gibt einen neuen König, Nocts Rückkehr war von den Göttern nicht geplant. Trotzdem ist er es, der den Thron bestiegen hat, in Vertretung, bis der neue König bereit ist. Die Diskussion im Fernsehen dreht sich im Kreis, immer dieselben Fragen, immer dieselben Meinungen. Ich schalte ab und lehne mich zurück. Noct wird weiter schweigen. Er weiß mehr als er zugibt, und er wird erst reden, wenn er es für nötig hält. Bis dahin hat es wenig Sinn, auf Antworten zu drängen, die er nicht geben will. „Ich bin wieder zuhause!“ „Willkommen daheim, Nyx!“ Junge, ist es wirklich schon so spät? Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich mich auf den akustischen Alarm meines Handys verlassen hatte, um die Zeit zu wissen. Regelmäßig auf die Uhr zu sehen ist wohl auch etwas, was ich mir langsam wieder angewöhnen sollte. Vielleicht ist es aber auch nur, dass ich tatsächlich die Zeit habe, untätig herumzusitzen, was meine innere Uhr durcheinanderbringt. „Mama ist noch nicht da, oder? Wir haben keine Hausaufgaben auf heute, darf ich vor dem Abendessen noch etwas alleine spielen?“ „Natürlich, wenn du möchtest.“ Ein wenig enttäuscht bin ich schon, dass mein Junge mich hier einfach sitzen lässt. Acht ist noch ein wenig jung für dieses Bedürfnis an Privatsphäre… aber er hat ein Recht darauf. „Gibt es denn etwas, was dich beschäftigt?“, frage ich dennoch, um mein Gewissen zu beruhigen. „Sind die anderen Kinder inzwischen netter zu dir?“ Nyx seufzt tief, wirft seine Schultasche in die Ecke und setzt sich zu mir. „Nicht wirklich“, gibt er zu, „Also, nicht, dass sie vorher nicht nett waren, aber es ist eher so… aufgesetzt, weißt du? Vorher war es, weil du ein Held bist, jetzt, weil ich den König kenne. Alle wollen meine Freunde sein, aber eben nur, weil ihre Eltern sagen, dass ihnen das was bringt. Wie Gerald und die Mädchen…“ Ich lege schützend den Arm um mein Kind und streiche ihm die Haare aus dem Gesicht. „Echte Freunde zu finden ist nicht leicht“, gebe ich zu, „Vor allem, wenn man so viel nachdenkt wie du oder ich. Aber es geht… und du wirst wissen, wenn du sie gefunden hast.“ „Woran denn?“ Ich lache leise. „An nichts Bestimmtem, leider. Nur daran, dass sie dich lieben und für dich da sind, wenn du sie brauchst, so wie Onkel Prompto für mich da war, als du noch ganz klein warst. Wir haben uns dauernd gestritten, weil es uns beiden nicht gut ging, trotzdem ist er fast jeden Tag gekommen und hat mir die Bücher vorgelesen, die ich nicht in Blindenschrift finden konnte. Hat mir beim Putzen geholfen, Sachen aufgehoben, über die ich sonst gestolpert wäre, und generell alles getan, dass ich mich schnell in der neuen Situation zurechtfinde. Und das ohne irgendwas zu verlangen.“ „Du hast ihm Essen gemacht“, wendet Nyx ein, „Jeden Tag. Und seine Wäsche hast du auch oft mit gewaschen, damit er das nicht selbst machen muss.“ „Das stimmt. Ich hätte ihn gleich hier wohnen lassen können. Wenn ich gewusst hätte, dass er zu Hause in einem Zeltlager schlafen muss… aber das hat er mir verschwiegen. Weil er wusste, dass ich den Abstand brauche, wenn er nachts geht. Wie gesagt, es war schwer, miteinander klar zu kommen.“ Nyx blickt nachdenklich drein. „Aber wenn es euch so schwer gefallen ist, zusammen zu sein, warum wart ihr dann Freunde?“ „Weil es vorher auch mal einfacher war. Und das ist es jetzt wieder. Man hört nicht auf, befreundet zu sein, nur weil es zwischendrin mal schwierig ist. Oder nicht mehr vorteilhaft. Echte Freunde halten einander auch fest, wenn es mal wehtut.“ „Als ich in der Zitadelle war… da hat Gerald mich gezwungen, den Ring anzuziehen. Ich dachte, ich sterbe vielleicht… aber ihm war das egal. Er weiß nicht richtig, was es bedeutet, zu sterben. Wie sehr die Leute um einen weinen, und dass man dann für immer weg ist. Er dachte, das ist einfach ein Spaß, wie in den Morbol-Cartoons. Aber das ist nicht wahr. Jetzt lacht er darüber, wie viel Angst ich hatte, aber dass er sich selbst eingenässt hat gibt er nicht zu.“ „Er ist ja höchst mutig weggelaufen, als er den König gesehen hat, nicht wahr? Er und die Mädchen kamen mir am Eingang schreiend entgegen und riefen etwas von einem Dämon aus Feuer. Einen Moment lang dachte ich fast, ich müsste mit Ifrit rechnen.“ „Ich hab kein Feuer gesehen“, überlegt Nyx, „Kein echtes, jedenfalls. Nur die Asche, die überall war. Als ich den Ring anhatte, war es dunkel, und die Geister haben geredet. Miteinander hauptsächlich, nur Noctis hat mich direkt angesprochen. Er war nett… hat gesagt, dass er mich beschützen will. Er hat mich ein bisschen an dich erinnert, weißt du? Die Art, wie er redet und wie ruhig er ist, meine ich.“ „Wir haben als Kinder viel Zeit miteinander verbracht, das wird einen gewissen Effekt gehabt haben.“ „Wart ihr damals denn schon Freunde?“ „Das war etwas komplizierter“, muss ich lachend zugeben, „Aber wir haben uns von Anfang an gut verstanden.“ „Du verstehst dich mit allen gut. Auch wenn sie dich nur ausnutzen oder gemein zu dir sind.“ „Das täuscht, Nyx. Da steckt viel Politik dahinter… oder eben auch einfach Dinge, die vorher schon passiert sind und alles ein wenig anders machen, als es in der Gegenwart aussieht.“ Wie meine vielen Gefechte mit Gladio. Was wir uns im Streit alles an den Kopf geworfen haben… für einen Außenstehenden muss sich das angehört haben, als würden wir einander den Tod wünschen, aber tatsächlich war es so, dass jeder von uns sich nur selbst vorgeworfen hat, am Leben zu sein, obwohl Noct es nicht war. Als hätten wir ihn retten können. Und beide haben wir gegen Prompto gewettert, der Nocts Tod als einziger akzeptieren konnte. Dass er ihn vielleicht noch schmerzlicher vermisst hat als wir… das hätten wir sehen müssen. Das habe ich gesehen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich dem so zu stellen, wie er. Nyx hat die Knie an die Brust gezogen. Eigentlich sollte ich ihn für den Mangel an Haltung rügen, die Füße gehören nicht mit auf die Couch, setz dich gerade hin, was Clara sonst noch so wichtig ist. Aber wir sind hier zu Hause, und ich kann spüren, dass es meinem Jungen nicht gut geht. Da ist noch etwas, was er sich nicht zu sagen traut. Letztendlich hebt er schweigend die Hand und beschwört eine kleine Flamme herauf, die zwischen seinen Fingern tanzt. „Ich kann sowas seit ich mit Crowe den Kristall gefunden habe“, gesteht er, „Ist das normal?“ Mir bleibt erst mal einen Moment der Atem weg. Vorsichtig lege ich meine Hand auf die meines Sohnes, lasse die Flamme erlöschen. „Erzähl mir, was damals genau passiert ist.“ „Wir haben in der Zitadelle gespielt, ganz normal“, fängt Nyx an, „Das war glaube ich letztes Jahr oder so, als Crowe zum letzten Mal zu Besuch war, bevor in Galahd die Schule für sie angefangen hat. Wir sind runter in den Keller geschlichen, wo ganz viele Steine lagen. Crowe wollte welche finden, die schön glitzern, wir haben Schatzsucher gespielt. Und dann haben wir zusammen den Kristall entdeckt. Weiß nicht mehr, wer von uns ihn zuerst gesehen hat, aber ich wusste sofort, was es war. Jedenfalls hat der Kristall plötzlich zu leuchten angefangen und die ganze Zitadelle hat gebebt… und dann war da diese Stimme, wie ein knurrender Drache.“ Nyx zittert bei der Erinnerung und lehnt sich an mich. Er fühlt sich kalt an. „Crowe ist abgehauen. Ich halte ihr das nicht vor, sie war erst fünf, sie ist immer noch ein Kind. Nur wenn sie angibt, zieh ich sie damit auf.“ „Verständlich“, gestehe ich ein, „So würde ich es auch machen. Aber du bist nicht mit Crowe weggelaufen? Hattest du denn keine Angst?“ „Doch“, gibt Nyx zu, „sehr sogar. Aber ich konnte nicht wegrennen. Ich musste hingehen, weißt du? Der Drache hat gesagt, ich soll kommen. Ich hab meine Hand auf den Kristall gelegt… und dann war plötzlich alles wieder normal. Also bin ich Crowe suchen gegangen und wir sind zusammen nach Hause gelaufen. Ich… weiß nicht, wann ich das erste Mal die leuchtenden Stellen gesehen habe. Die waren einfach da, überall.“ „Leuchtende Stellen?“ „Ja, in den Wänden und zwischen Felsen, meistens da, wo es viel Natur gibt. Wenn ich meine Hand darüber halte kann ich Energie sammeln, mit der ich dann zaubern kann. Feuer, Eis und Blitze.“ Wieder hebt er die Hand, diesmal, um einen kleinen Blitz durch seine Finger zucken zu lassen. „Kannst du das auch?“ Nein. Nein kann ich nicht. Diese ‚leuchtenden Stellen‘ sieht nur einer… um Nyx nicht zu beunruhigen hebe ich meine eigene Hand und aktiviere einen einfachen Eiszauber darin. „Meinst du so?“ Der Junge lächelt erleichtert. „Gut, dann wird es langsam Zeit, das Essen vorzubereiten. Wenn du willst, kannst du noch ein bisschen spielen, bis Mama kommt. Und Nyx…“ „Ja, Papa?“ „Erzähl niemandem von der Magie und den leuchtenden Stellen, ja? Es ist besser, wenn das erst mal unter uns bleibt. Wenn du willst, gehen wir dafür morgen früh auf den Campingplatz zum Angeln.“ Ich muss dringend mit Noct sprechen, und der Angelsteg am Campingplatz ist in den frühen Morgenstunden so verlassen und neblig, dass er sich wunderbar für ein privates Gespräch anbietet. Und Nyx geht gerne Angeln. Er erinnert mich ein wenig an Noct in dem Alter, still und in sich gekehrt, aber doch so bemüht, geliebt zu werden. Das war mein Trost in all der Zeit… ein Kind, um das ich mich kümmern konnte, eine Zukunft, die mir über die Vergangenheit hinweghilft. Prompto hat uns nie zum Angeln begleitet, das war etwas, was er nicht konnte. So leicht es ihm fiel, über Noct zu reden, an einem Angelsteg stehen und jemand anderem zusehen konnte er nicht. Clara kommt tatsächlich pünktlich zum Essen, froh, nicht mehr selbst kochen zu müssen, nachdem sie schon den ganzen Tag in der Hotelküche gestanden hat. Das Restaurant im Caelum Via hat gerade Hochbetrieb, vieles wird auch bereits für den Gipfel nächste Woche vorbereitet. Zumindest das Begrüßungsevent wird wieder auf der Dachterrasse stattfinden, wenn auch die eigentliche Besprechung in der Zitadelle Platz findet. Die ist inzwischen wieder vollständig restauriert und bereit, den hohen Besuch zu empfangen. Hoffentlich ist Gladio bis dahin auch wieder fit. Wie ich die Nacht rumgebracht habe, weiß ich nicht genau, aber ich bin vor dem Wecker wach und auch Nyx ist wunderbar zeitig fertig und bereit, im Morgennebel ein paar Fische aus dem frisch gesäuberten Palastsee zu ziehen. Es ist kalt auf dem Steg, aber ich beschwere mich nicht, stelle nur sicher, dass Nyx warm eingepackt ist und dass ich Kleidung zum Wechseln im Auto habe, falls er ins Wasser fällt, weil der Fisch doch zu groß war. Eine Weile stehe ich still neben meinem Sohn, gebe ein paar Tipps und passe auf, dass er rechtzeitig die Schnur auswechselt, bevor sie reißt. Nicht, dass ihn das vor allem schützen würde, gerade die großen Fische sind einfach noch zu viel für den Achtjährigen und seine leichte Kinderangel. „Na, beißt was?“ Die Stimme lässt mich aufschrecken, ich hatte Noct im Nebel gar nicht kommen gehört. „Ja, vor allem die großen Köderdiebe“, gebe ich zurück, „Aber wir haben auch schon einen kronlosen Blaukiemling erwischt.“ Nyx hat wieder etwas an der Angel, diesmal ist es ein gehörnter Blaukiemling, den er uns voll stolz präsentiert. Wir loben eifrig, dann nimmt Noct mich zur Seite. „Du wolltest nicht nur angeln, oder? Wollen wir uns mit den beiden Fischen erst mal ein Stück weit zurückziehen, während der Kleine hier weitermacht?“ Ich nicke und Noct bedeutet Monica und Dustin, meinen Sohn im Auge zu behalten. Ich nehme die Blaukiemlinge mit zu einem der Campingtische, wo wir sie ausnehmen und in Ruhe reden können. „Nyx hat mir gestern eröffnet, dass er leuchtende Stellen sieht, aus denen er Magie ziehen kann. Seit er den Kristall berührt hat. Ich weiß außerdem von einem neunjährigen Verbrecher namens Gerald, dass Nyx den Ring der Lucii anlegen konnte, ohne Schaden davonzutragen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass das bedeutet, was ich denke, dass es bedeutet?“ Noct weicht meinem Blick aus, seufz tief und schafft es dann doch, mir in die Augen zu sehen. „Tut mir Leid, dass ich es dir verschwiegen habe, Ignis.“ „Nur verständlich.“ „Die Götter haben nicht viel Verständnis dafür, dass Menschen als Kinder zur Welt kommen und erst lernen müssen. Sie haben den Kristall und den Ring an die Welt zurückgegeben und einen neuen König gewählt, der beides finden sollte, sowie er gebraucht wird. Wir alten Könige haben zugestimmt, unsere Macht auch der neuen Linie zur Verfügung zu stellen, aber als ich gesehen habe, wie jung er noch ist… wusste ich, dass ich nicht nur euretwegen zurückkommen würde. Dass der Schwertgott noch einen anderen Grund hatte.“ „Um Nyx zu unterstützen, bis er alt genug ist.“ „Ja.“ „Wann wolltest du es mir sagen?“ Noct seufzt tief, konzentriert sich wieder auf den Fisch, dessen Schuppen er gerade abschabt. „Weiß nicht“, gibt er schließlich zu, „Am liebsten gar nicht. Ansonsten, wenn du es wissen musst… wenn ich den Wall nicht fallen lassen kann, bevor es nach Altissia geht, werde ich ihn Nyx übergeben müssen. Weiß nicht, ob ich ihm dann gleich alles sage. Ist ein bisschen viel für ein Kind in seinem Alter, meinst du nicht?“ „Würde er den Wall denn halten können? In dieser Größe?“ „Ich denke schon, ja. Er ist jung, er hat viel Energie. Und den Wall zu halten ist leicht, die Schwierigkeit besteht nur darin, ihn erst mal aufzubauen, zu vergrößern, oder Angriffe abzufangen. Solange dafür keine Notwendigkeit besteht, wird Nyx den Aufwand kaum spüren.“ „Mir gefällt der Gedanke nicht, ihn mit einer solchen Aufgabe zurückzulassen, während wir in Altissia sind“, murmle ich. „Ich werde Iris mit seinem Schutz betrauen“, versichert Noct, „Alle anderen werden denken, ich hätte einen Weg gefunden, den Wall auch von außerhalb zu halten. Aber eigentlich hoffe ich, dass während unserer Fahrt durch Lucis schon etwas aufkommt, was den Wall unnötig macht. Dass wir herausfinden, woher die Siecher kommen, und dem ein Ende bereiten können, meine ich. Laut Monicas Rückmeldung wurden in den anderen drei Reichen noch keine Siecher gesehen. Nur diese neuen MI sind überall.“ „Also keine Siecher außerhalb von Lucis?“ Merkwürdig. „Und hier ist jetzt das ganze Land vor der Dunkelheit beschützt.“ „Ja. Es scheint, als wären die Siecher hier entstanden. Der Wall unterbindet das, also kommen sie auch nicht nach außerhalb. Fragt sich nur, was sie zustande bringt… Dieser Behemoth war ja nicht gerade ein kleines Exemplar. Und so nahe an der Stadt…“ „Es hat hier viel Unruhe gegeben. Meinst du, es war die Wut und Machtlosigkeit der Menschen hier, die die Dunkelheit gerufen hat?“ Noct zuckt nur mit den Schultern. „Alles weiß ich auch nicht.“ „Verzeih mir. Ich denke nur laut nach.“ „Weiß ich doch. Kenn dich ja nun auch schon etwas länger.“ Nyx kommt zu uns an den Tisch, er sieht traurig aus. Ein großer Fisch hat ihm die Schnur abgebissen und seinen Lieblingsköder mitgenommen. Ich nehme meinen Jungen tröstend in den Arm und Noct verspricht, den bösen Fisch für ihn zu fangen. Also gehen wir zu fünft zurück an den Steg, damit Noct die Angel auswerfen kann. „So Nyx. Dann zeig mal, siehst du den Fisch, der deinen Köder hat?“ Nyx zeigt aufs Wasser. Unter der spiegelnden Oberfläche ist ein riesiger Schatten zu sehen, der langsam seine Kreise schwimmt. In seinem Mundwinkel glitzert etwas, vermutlich der Mogryköder, den Iris gemacht hat. Einen für Nyx und einen, um ihn Noct ans Grab zu legen. Der zieht den seinen jetzt auch heraus, legt einen Drachenbart als Schnur ein und wirft die Angel aus. Die Spule zurrt, der Mogry fliegt und fällt platschend ins Wasser. Noct wirkt äußerlich ruhig, aber ich kann die Anspannung in ihm spüren, wie er da steht, die Augen fest auf den handgefertigten Köder gerichtet, den er jetzt vorsichtig einholt, um den Dieb damit anzulocken. Langsam, in kleinen Sprüngen hüpft der Mogry über die glatte Oberfläche des Sees wie eine leckere Fliege. Der Fisch ist interessiert, aber vorsichtig. Sicher ahnt er die Falle. Noct holt den Köder ein, wirft ihn nochmal aus, wiederholt das Spiel. „Siehst du, wie sich der Köder bewegt?“, flüstere ich Nyx zu, „Genau wie eine richtige Fliege. Der Fisch muss denken, dass sein Futter vor ihm wegläuft. Dann wird er unvorsichtig und schnappt zu, dass sich der Haken in seinem Maul verfängt.“ Nyx nickt und blickt gebannt auf den See, wo der Fisch langsam sehr nahe an den Mogry herangeschwommen ist. Er zögert, überlegt, und als Noct einen winzigen Moment inne hält schnappt er zu. Der Ruck ist auf dem ganzen Steg zu spüren. Noct federt ihn gekonnt ab, richtet die Angel nach dem Fisch aus und atmet tief durch, bevor er vorsichtig zu kurbeln beginnt. Nur ein, zwei Umdrehungen, bevor er den Druck wieder heraus nimmt. Die vorher so glatte Wasseroberfläche ist in hellem Aufruhr. Riesige Flossen werfen hohe Wellen auf, als der Fisch gegen die Schur in seinem Maul ankämpft. Noct pariert die Bewegung, holt die Schnur noch ein Stück weiter ein. Ich ziehe Nyx nach hinten, damit Noct Platz hat, die Angel ganz nach rechts und links zu schwenken. Er ist hoch konzentriert, und hier zeigt sich seine wahre Stärke: In Sekundenbruchteilen wechselt er von nahezu absoluter Untätigkeit zu blitzschneller Reaktion, schwenkt die Angel in Richtung des kämpfenden Fisches, kurbelt, lässt ab, kurbelt wieder. Der Fisch springt hoch aus dem Wasser und einen Moment lang kann ich seinen schuppigen Körper in der aufgehenden Sonne glänzen sehen, da ist er auch schon wieder eingetaucht. Noct hat den Sprung gut abgefangen, nutzt die momentane Verwirrung des Tieres, ein ganzes Stück Schnur einzuholen, richtet die Rute neu aus und hält wieder still. Die Schnur ist zum Zerreißen gespannt, der Fisch zappelt schnell von rechts nach links und wieder zurück und Noct hat alle Mühe, ihm hinterherzukommen, damit die Spannung nicht zu groß wird. Immer wieder findet er kurz Zeit, die Kurbel zu drehen, muss dann wieder inne halten. Ein weiterer Sprung, ein weiterer Kampf, den Noct für sich entscheidet. Ich kann beinahe hören, wie gespannt die Schnur ist, fühle jeden Schaden, den sie nimmt, in der Vibration der Luft um sie herum. Aber der Fisch ist jetzt näher am Steg, und auch seine Kraft lässt nach. Verzweifelt stemmt er sich gegen die Schnur, peitscht mit der kräftigen Schanzflosse gegen die Wasseroberfläche und sucht nach der rettenden Strömung, die ihn wieder weiter ins offene Wasser trägt. Auch Noct hält den Atem an. Hochkonzentriert arbeitet er gegen die Bewegungen des Fisches, kurbelt kurz, wann immer es die Spannung der Schnur erlaubt. Die letzten Zentimeter sind der härteste Teil, hier entscheidet sich, wer den Sieg davon trägt. Die Schnur hält nicht mehr lange durch, aber auch dem Fisch geht die Kraft aus. Ein letztes Mal schlagen seine Flossen hilflos gegen den Steg, da ist Noct auch schon über ihm. „Helft mir mal!“, fordert er. Jetzt wäre Gladio praktisch, aber ich beschwere mich nicht sondern springe einfach ins Wasser. Der Fisch ist fast zwei Meter lang und wiegt gefühlt eine Tonne, aber zum Glück packen Monica und Dustin mit an und zusammen schaffen wir es, den Köderdieb aus dem Wasser auf den Steg zu wuchten. „Meine Güte, was für ein Kerl… der trägt seinen Namen auch nicht zu Unrecht“, meint Noct und sieht sich den Fisch an. In seinem breiten Maul hängen nicht weniger als zehn Köder, sicher finden wir beim Ausnehmen noch ein paar weitere. Der ganze Karpfen ist so lang wie Gladio hoch ist und dabei alles andere als schlank, da wird die Palastküche ordentlich zu tun haben. „Wenn wir den lebend mitnehmen könnten wir ihn auf dem Gipfel servieren. Das wäre doch was, ein ganzer, gebratener Fisch in der Größe.“ „Klingt nach einem Gericht, mit dem man angeben kann, ohne viel Geld auszugeben“, stimme ich zu und zücke mein Handy, um den Lebendtransport des neu ernannten Festmahles zu organisieren. Inzwischen sind auch ein paar andere Gäste am Steg, die dem Fisch und seinem Meister bewundernde Blicke zuwerfen. Noct zieht verlegen die Kappe tiefer ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden. Nyx freut sich, dass er seinen Köder wieder hat, lässt sich von Noct noch eine neue Angelschnur schenken und wir fangen – jetzt wirklich entspannt – noch ein paar weitere Fische fürs Mittagessen. Monica hilft mir mit der Zubereitung, und als Clara in ihrer Mittagspause vorbeischaut, hat sie auch gleich ein paar fertige Beilagen dabei. Nyx hat noch einen weiteren Blaukiemling erwischt, Noct steuert ein paar Insomnia Karpfen hinzu – wenn auch keinen mehr in der Größe des Köderdiebes – und wir gönnen uns ein reichhaltiges Mittagessen zu sechst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)