Welt ohne Grenzen von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 9: Die letzten Meter (MI N-iP01357/05953234) ---------------------------------------------------- Nach Hause. Ich muss nach Hause. Meine Freunde warten auf mich. Ich weiß kaum noch wirklich, wer ich eigentlich bin, aber dieses Gefühl treibt mich vorwärts. Noch einmal raffe ich mich auf, knote das zerrissene Hemd fester um meinen schmerzenden Arm und schleppe mich weiter. Ein Auto, das wär’s jetzt. Zu Fuß ist es so weit… Dabei bin ich schon so weit gekommen. Eine Weile dachte ich fast, ich wäre bald zu Hause… jetzt habe ich gar nichts mehr. Keinen Namen, keine Waffen, nichts. Nur die zerrissene Uniform, die man mir gegeben hat, und eine Nummer. Selbst meine Erinnerungen verblassen. Einzig der Gedanke, dass da noch jemand ist, der mich vielleicht sehen will, jemand, dem ich wichtig bin, treibt mich vorwärts. An diesen Gedanken halte ich mich. Er trägt mich, wenn meine Füße es längst nicht mehr tun. Nach Hause… Zu meinen Freunden. Mein Arm tut weh. Mir ist heiß. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch auf den Beinen halten kann. Hinter einem Felsen finde ich etwas Schatten, ein wenig Schutz vor der Sonne, die unbarmherzig auf meine nackten Schultern brennt. Das Hemd, mit dem ich meinen Arm verbunden habe, ist schon ganz nass vor Blut. Mir ist kalt, dann wieder heiß, und unruhige Schatten tanzen vor meinen Augen. Ich muss durchhalten… nur noch ein bisschen. Ein Schritt nach dem anderen. Ich kann ein Auto heranfahren hören. Es muss etwas größeres sein, vielleicht ein Lastwagen. Erst denke ich, er fährt vorbei, aber dann wird der Motor leiser, Bremsen quietschen, und der Schatten eines Wohnmobils fällt auf mich. Stimmen, Bewegung, eine Gestalt beugt sich über mich. Halblange, schwarze Haare, helle Augen. Etwa so groß wie ich. „Glaubst du, das ist er?“, die Stimme einer Frau. Irgendwie bin ich enttäuscht… hatte ich in der Silhouette jemand anderen erwartet? Schlanke Hände berühren mein Gesicht, meine Schultern. Nehmen schließlich meinen unverletzten Arm hoch. „Da, das muss der Barcode sein. Das ist er.“ Eine Männerstimme brummt im Hintergrund. Unwirsch, abweisend. „Müssen wir ihn mitnehmen?“ „Du kennst unsere Befehle“, fährt die Frau ihn unwirsch an, „Der König will, dass wir den MI zu ihm bringen. Lebend und so gesund wie nur irgendwie möglich.“ Der Mann gibt ein wütendes Schnauben von sich, die Silhouette der Frau beugt sich wieder über mich. Ich kann das Klirren und Brechen von Glas hören, dann ergießt sich der Inhalt einer Heiltrankampulle über meinen Arm. Fast kann ich spüren, wie die Haut sich wieder zusammenfügt. Ich fühle mich etwas besser, kann die Frau vor mir erkennen. Sie ist jung, kaum dem Teenageralter entwachsen, und sieht freundlich aus. „Kannst du mich verstehen?“, fragt sie und legt die Hand auf meine Stirn, als wollte sie meine Temperatur messen, „Wie heißt du?“ Die Frage bewegt etwas in mir. Angst. „I-ich… MI N-iP Null eins drei fünf sieben, Scharfschütze“, antworte ich mit zitternder Stimme, „Seriennummer null fünf neun fünf zw…nein, drei zwei… den Rest hab ich vergessen.“ Ich bilde mir ein ich könnte den verdienten Stromschlag schon spüren, aber er kommt nicht. Die Frau über mir lächelt. „Du bist Sanni, richtig? Darf ich dich Sanni nennen? Mein Name ist Nora.“ „No…“ einen Moment lang rührt sich etwas in meiner Erinnerung, aber der Gedanke verfliegt, bevor ich ihn greifen kann. „Nora. Kannst du Nora sagen?“ Ich kann nicht. Ich kann die Frau nur mit offenen Augen anstarren. Sie erinnert mich an jemanden… einen meiner Freunde? Ich muss nach Hause. Ich muss weiter gehen. „Vergiss es, Nora, er ist nur eine dumme Maschine.“ Ich rapple mich hoch, versuche zu stehen. Das nasse Hemd rutscht von meinem Arm, es fühlt sich schwer und klebrig an. Mir ist immer noch schwindelig, abwechselnd heiß und kalt, und ich bin verwirrt. „Hey, bleib hier! Du hast Fieber…“, Nora hält mich fest, zieht mich zurück. Ich will mich wehren, muss nach Hause… aber ihre Hände sind sanft. „Komm her, Sanni. Komm mit uns, wir kümmern uns um dich.“ „Ich will ihn nicht in meinem Wohnmobil haben.“ „Wir haben Befehle, Callus. Den MI finden und gesund nach Insomnia zum König bringen. Soll er in seinem Zustand etwa laufen? Wenn ich mich recht erinnere lautete der Befehl sogar, wir sollen den MI wie einen Freund behandeln.“ König. Irgendwas sagt mir das. Der König will, dass man mich zu ihm bringt. Sollte mir das Angst machen? Irgendwie tut es das nicht. Nora und ihr böser Freund tragen Uniformen, die mir bekannt vorkommen. Dunkel, aus edlem Stoff. Es gibt einen Namen dazu, aber er fällt mir nicht ein. Es hat etwas mit dem König zu tun… und der langen Nacht. Aber vor allem mit dem König, das ist wichtig. Der König ist wichtig. Nora will mich zu ihm bringen… ich glaube, ich will das auch. Zum König, der zu den schönen Uniformen gehört. Dem König des Lichts. Er hat einen Namen… ich glaube ich kenne seinen Namen, aber er fällt mir nicht ein. Ich will nur zu ihm. Letztendlich gibt Callus klein bei und erlaubt Nora, mich in den Wohnwagen zu schieben. Dort gibt es ein Bett… nichts Luxuriöses, einfach ein kleines Campingbett in einem Wohnwagen. So habe ich oft geschlafen, glaube ich. Es ist warm und trocken, und es riecht gut. Ich kenne diesen Geruch, er erinnert mich an zu Hause. „Den Dreck machst du dann weg“, beschwert sich Callus. „Ja, mach ich. Wir kaufen ihm an der nächsten Tankstelle neue Klamotten. Vielleicht können wir da auch endlich wieder im Motel schlafen, mit einer richtigen Dusche und allem!“ „Was hast du gegen meinen Wohnwagen?“ Der Streit klingt auch ein bisschen nach zu Hause. Meine Sprache, meine Uniform, meine Heimat. Fast schon zu Hause… hier kann ich endlich etwas schlafen, ohne Angst. So wie früher bei meinen Freunden. „Mecker du ruhig weiter, ich rufe jetzt jedenfalls Monica an“, seufzt Nora schließlich, „Und sag ihr, dass wir den MI gefunden haben. Sie wird sicher bestätigen, dass ich recht habe und wir nett zu ihm sein sollen.“ „Und ich halte ihn immer noch für gefährlich.“ Ich bin zu schwach und zu müde, mich in den Streit einzumischen. Das Bett ist weich und warm und es ist nur zu einfach, die Augen zu schließen und für den Moment einfach nur das Gefühl zu genießen, ganz nah an zu Hause zu sein. Als ich wieder aufwache habe ich einen Moment lang das schreckliche Gefühl, wieder ans Bett gefesselt zu sein, doch es sind nur die Gurte, die mich während der Fahrt halten sollen. Trotzdem schnalle ich mich panisch ab und falle unsanft auf den Boden des ruckelnden Fahrzeugs. „Woah, Vorsicht, Sanni!“, mahnt Nora. Auch sie schnallt sich ab und kommt von der Fahrerkabine nach hinten. Ich weiche ihren Versuchen, mich zu fassen, erschrocken aus bis ihre beruhigenden Worte in mein Gehirn vordringen. Alles okay. Dir passiert nichts. Wir passen auf dich auf. „Ich bin eine Freundin, Sanni. Ich tu dir nichts.“ Freundin… bis gestern kannte ich Nora nicht, aber sie ist nett zu mir. Es ist nicht dasselbe… nicht die Art Freundschaft, die mich am Leben hält und nach Hause treibt. Aber es ist etwas Gutes. Ich halte still und lasse zu, dass Nora mich in einen der Sitze neben dem Seitenfenster bugsiert und dort anschnallt. Sie selbst setzt sich mir gegenüber und legt ebenfalls den Gurt an. „Siehst du? Gar nicht schlimm“, beruhigt sie mich und lächelt. „Wir sind bald in Hammerhead, da kaufen wir dir neue Kleidung. Unser Wohnmobil ist leider nicht so schnell wie die Autos der anderen Gleven, aber Callus will sich einfach nicht von dem alten Ding trennen, weißt du? Ich glaube, er hat ein bisschen Angst vor allem, was neuer ist als sein Kopf.“ „Hey, hast du mich gerade alt genannt?!“ „Nein, ich hab nur gesagt, dass du zu alt bist, dich an neue Sachen zu gewöhnen. Wie alt bist du eigentlich, Sanni?“ Ich blicke Nora nur an. Ich… verstehe ihre Wörter gut, auch ihre Frage, aber ich weiß nicht, wie ich darauf antworten soll. Wer ich eigentlich bin. Was soll ich auch sagen? Ich bin nur eine Nummer, einer von vielen MI. Wie alt bin ich? Keine Ahnung. Wie heiße ich? Wenn du mich Sanni nennst, wird das wohl mein Name sein. Kann ich mir besser merken als die Nummer. „Na, sehr gesprächig bist du ja nicht. Aber wirst sehen, sobald wir in Hammerhead sind, bekommst du erstmal eine gründliche Dusche, Medizin gegen das Fieber und was Schönes zum Anziehen. Die haben da ein tolles neues Klamottenlabel gebaut, hast du das schon mal gesehen? Voll süß die Sachen da, und ich brauch unbedingt so einen Mogry-Pulli. Magst du Mogrys? Oder lieber Chocobos?“ Chocobos… ich glaube, ich mag Chocobos. Aber ich erinnere mich kaum. „Ja, du bist glaube ich mehr so der Chocobo-typ. Das Gelb passt sicher auch gut zu deinen Haaren. So ein schönes Blond, wenn man sich den Dreck mal wegdenkt.“ Ja, blond bin ich. Das weiß ich… genau wie all die anderen Nummern. Blonde Haare, blaue Augen, alle das gleiche Gesicht. Alle aus Reagenzgläsern geboren und in Tanks hochgezogen. Oder? Oder hatte ich doch noch ein anderes Leben? Freunde… ich weiß, dass ich Freunde hatte. Irgendwas in mir wehrt sich gegen den Gedanken, nur eine Maschine zu sein. Das bin ich nicht, ich bin ein Mensch… ich will ein Mensch sein, keine Nummer. Ich hatte auch mal einen Namen. Einen richtigen Namen. Der Wohnwagen kommt stotternd zum Stehen, der Wohn und Schlafraum schwankt gefährlich, als es um die Kurve in den Parkplatz geht. Einen Moment bleiben wir noch sitzen, dann schnallt Nora mich ab und führt mich nach draußen. Die Sonne blendet mich, ich muss die Hand heben, um mich zu schützen und schäme mich gleichzeitig dafür, dass man so meinen Barcode sieht. Sieht, was ich bin. „Du kommst erstmal mit mir.“ Die grobe Stimme erschreckt mich, mehr noch, wie rücksichtslos Callus meinen Arm packt. Trotzdem falle ich einfach in den Trott, lasse mich fügsam mitziehen, um weitere Schmerzen zu vermeiden. Der Mann ist groß, breitschultrig, und nur wenig älter als Nora. Seine Haare und Augen sind dunkel, sein Gesicht hart wie Stein. Er macht mir Angst, aber ich wage nicht, mich zu wehren, als er mich in die Waschräume neben der Tankstelle zieht und mir den Rest meiner erbärmlichen Kleidung herunterreißt. Die Wunde an meinem Arm ist verheilt, ebenso die Fesselspuren an meinen Handgelenken und Knöcheln, aber noch sind tiefe Narben zu sehen. Das einzige, was mal wieder unversehrt geblieben ist, ist dieser blöde Barcode… als Kind habe ich mal versucht, ihn mit einem Schürhaken raus zu brennen, aber das hat nichts gebracht außer einem langen Aufenthalt im Krankenhaus. Der Code ist unversehrt, unzerstörbar. Ein ewiges Zeichen dafür, was ich bin. Das Wasser ist kalt, als Callus die Dusche über mir anstellt, und ich schreie erschrocken auf, versuche, mich in die Ecke zu verkriechen, aber er hält mich fest. Zitternd bleibe ich stehen, wo er mich haben will, kneife fest die Augen zusammen und wappne mich gegen den Schmerz. Callus ist grob, aber… aber es ist weniger schlimm, als ich befürchtet habe. „Weiß nicht, was der König mit dir vorhat“, schimpft er, während er mich grob abschrubbt. Die Seife brennt in meinen Augen, aber ich wage es nicht, mich zu beschweren. „Ihr MI habt genug Schaden angerichtet, ich will keinen von euch in meiner Stadt haben. Wie einen Freund behandeln… pah, du bist nicht mal ein Mensch!“ Ich wimmere leise, widerspreche aber nicht. Nein, ich bin kein Mensch. Ich bin ein künstliches Wesen, das jemand im Labor geschaffen hat. Eine Kampfmaschine, oder ein Zuchtgefäß für Plasmodien… ein geborener Soldat und Siecher. Ich sehe nur aus wie ein Mensch. Atme, Esse und fühle wie ein Mensch. Aber eigentlich bin ich nur eine Kreatur, die unter den Menschen nichts verloren hat. Warum habe ich Freunde? Ich habe doch Freunde, oder? Denn wenn nicht… wofür kämpfe ich dann? Für mich selbst etwa? Mein eigenes Leben? Nein, das ist es nicht… ich bin nichts, wofür man kämpft. Freunde… für meine Freunde. Dafür bin ich noch am Leben. Meine Augen brennen, ob vor Tränen oder wegen der Seife weiß ich nicht. Callus reibt mich grob mit einem Handtuch trocken und zieht ein Messer aus der Tasche. „Halt still“, befiehlt er, und ich schließe vor Angst die Augen. Zu scharf, zu nah… viel zu nah an meinem Gesicht. Aber es tut nicht weh. Als er die Klinge wieder wegnimmt, schubst Callus mich vor einen Spiegel. „So, jetzt siehst du wenigstens aus wie ein Mensch. Zufrieden? Ich mag die Befehle meines Königs nicht gut heißen, aber ich achte sie.“ So ruhig wie er sich jetzt präsentiert sieht der Callus im Spiegel gar nicht mehr so böse aus. Grimmig, vielleicht, und sehr ernst, aber nicht mehr böse. Mein eigenes Gesicht ist auch leichter. Der stoppelige Bart der letzten Tage ist weg, auch meine Haare sind wieder gekämmt und sauber geschnitten. Hat er das wirklich alles nur mit seinem Jagdmesser gemacht? Okay, ein bisschen gruselig ist der Mann schon. „Bin fertig, ihr auch?“ Noras Stimme ist ausgelassen und fröhlich, und ich kann nur entsetzt schauen, als sie einfach ins Bad platzt. Ich habe absolut nichts an! „Hey, gut siehst du aus! So schön sauber! Hier, ich hab dir was zum Anziehen gekauft. Ich wusste deine Kleidergröße nicht, aber da du ungefähr so groß bist wie ich, dachte ich, wird dir das hier passen. Probier mal an!“ Nora selbst trägt einen dicken weißen Pulli mit Mogryaufnäher über ihrer Uniform. Einen ähnlichen hat sie für mich mitgebracht, aber in Gelb mit einem Chocobo darauf. Der Aufnäher ist aus einem anderen Stoff und fühlt sich weich an wie echte Chocobo Federn. Ich halte den Pulli in der Hand und starre den Rest der Kleidung an, für den Moment mit der ganzen Situation überfordert. Callus stöhnt und verdreht die Augen. „Nora – raus“, befiehlt er und schiebt seine Freundin aus dem öffentlichen Bad, „Und du komm her, MI.“ Er packt mich am Oberarm und zieht mich auf die Füße, bis ich taumelnd zum Stehen komme, nimmt mir den Pulli weg und zieht stattdessen eine Packung bedruckter Unterhosen aus der Einkaufstüte. Ich kann Nora vor der Tür schimpfen hören, kann mich aber nicht auf ihre Worte konzentrieren. Immerhin muss ich irgendwie die Balance finden, in die Boxershorts zu steigen, und Callus ungeduldige Hilfestellung macht es mir nicht leichter. Die Jeans anzuziehen ist auch nicht gerade leicht, der Stoff ist schwer und steif, ich glaube, normal trage ich eher andere Kleidung. Solche, in der man sich bewegen kann… Mit den Hosen ist aber schon das schwerste geschafft, ein T-Shirt und den Pulli zieht Callus mir einfach so über, ohne dass ich viel mitmachen muss, und Socken und Schuhe darf ich mir schließlich allein anziehen, als wir wieder im trockenen Vorraum sind. Meine Hände zittern, und ich bin froh, nach draußen zu kommen und mich wieder an Nora halten zu können. „Oh, du siehst voll süß aus!“, quietscht sie und umarmt mich. Ich fahre erschrocken zusammen, die Berührung bin ich nicht mehr gewohnt. Aber ich war es mal, fällt mir ein, als sie mich weiter festhält, es war mal normal, so von anderen Menschen berührt zu werden. Liebevoll, und ganz selbstverständlich. Freunde… ja ich hatte ganz sicher Freunde. „Der Pulli steht dir voll. Und ohne den Bart siehst du viel jünger aus!“ Nora packt die Kapuze meines neuen Pullis und zieht sie mir kichernd über den Kopf. Ich wehre mich nicht dagegen, im Gegenteil. Ich fühle mich sogar irgendwie ein bisschen glücklich. „Komm, lass uns shoppen gehen“, schlägt Nora vor und nimmt mich wieder an der Hand. Die Ärmel des Pullis sind so lang, dass der Barcode darunter versteckt ist, so fühle ich mich gleich wohler. „Warst du nicht gerade shoppen?“, fragt Callus aufgebracht und deutet auf noch viel mehr Tüten mit bunter Kleidung, die jetzt wohl er in den Wohnwagen räumen muss, weil Nora mich gerade in die Tankstelle zieht. „Sind doch nur Klamotten!“, ruft sie ihm zu, „Wir brauchen auch wieder Heilmittel. Und Zeug! Was die hier alles haben!“ Sie lässt meine Hand los um in Ruhe stöbern zu können und ich stehe etwas verloren herum. Diese Tankstelle… hier war ich schon mal. Viele Male. Fast wie von selbst zieht es mich zu einem ganz bestimmten Regal. In der Vitrine darüber sind Kameras ausgestellt, teure Kameras mit großen Objektiven. Auch eine brandneue LOKTON LX-X1R… so eine wollte ich immer schon mal haben. Das Preisschild allerdings… puh. Keine Chance. „Ich bin fertig~ was schaust du da, Sanni? Gefallen dir die Kameras?“ Ich blicke Nora an, unschlüssig, wie ich reagieren soll. Sie wirkt immer so fröhlich und munter… so wäre ich auch gern. Wieder fällt mein Blick auf die teure Kamera. „Magst du eine? Die große da ist ja echt teuer… Aber so eine kann ich dir kaufen“, sagt Nora und deutet auf ein günstigeres Modell. Auch von LOKTON, aber kleiner und eher so für einfache Schnappschüsse gedacht als für ernsthafte Fotografie. Trotzdem… trotzdem nicke ich. Der Preis jedenfalls ist deutlich attraktiver. „Gefällt dir auch, ja? Dann komm!“ Und so einfach zieht sie mich vor zum Schalter und drückt mir nur ein paar Minuten später die neue Kamera in die Hand. Das Modell ist super leicht und handlich, gerade recht bei meinem aktuell miesen Trainingsstand. Sie löst schnell aus und die Bildqualität ist, zumindest in der besten Auflösung, gar nicht mal übel. Ich schieße ein paar Fotos von der Katze unter dem Auto neben uns, während Nora sich wieder mit Callus streitet. Ich bin… irgendwie glücklich. Erst recht, als sich die Katze unter dem Auto hervortraut und mir auf den Schoß springt. Ich mache schnell ein Selfie mit dem hübschen Tier, bevor der fremde Autofahrer uns beide verscheucht. Anscheinend ist sein Tank schneller voll als der unsere… oder es gibt ein anderes Problem. „Ganz ehrlich, du gehst hier lustig shoppen, kaufst dem MI noch ne Kamera und lässt ihn hier unbeaufsichtigt rumrennen, und ich darf wieder alles allein machen!“, beschwert sich Callus und stemmt die Motorhaube seines Wohnmobils auf. Dichter Rauch dringt hervor und bringt ihn zum Husten. Ich blicke ihm über die Schulter, die neue Kamera sicher in ihrem Holster an meinem Gürtel verstaut, und sehe sofort, wo das Problem liegt: Irgendwer hat das arme Auto beschossen, und mindestens eine der Kugeln hat den Schlauch für das Kühlwasser getroffen. „Hätte schlimmer kommen können“, meint Nora, „Immerhin sind wir hier in Hammerhead, die haben die beste Werkstatt in ganz Lucis.“ „Ja, wenn sie nicht gerade zu wäre, jedenfalls!“ Schade. Irgendwie hatte mich die Erwähnung der Werkstatt gefreut, als wäre da etwas, oder jemand, der mir wichtig ist. Aber Callus hat Recht, das Rolltor ist heruntergelassen, die Notiz spricht von Urlaub. Ich weiß, dass der alte Besitzer Cid hieß und letztes Jahr gestorben ist. Den Laden leitet jetzt seine Enkeltochter Cidney, und ich glaube sie ist es, die ich kenne. Sicher würde mir mehr einfallen, wenn ich sie sehen würde… Noch fällt es mir schwer, meine Gedanken und Erinnerungen zu sortieren. „Aus persönlichen Gründen geschlossen“ steht auf dem Schild. Der Zettel riecht gut, die Handschrift ist mir vertraut. Ich überlasse Callus und Nora ihrem Streit, lege vorsichtig meinen neuen Pulli ins Wohnmobil zurück, rolle die Ärmel meines T-Shirts nach oben und fische in der Ersatzteil- und Werkzeugkiste, die Callus aufgebaut hat, einen neuen Schlauch heraus. Die Montage ist super einfach bei dem alten Fahrzeug, nur den kaputten Schlauch raus, den neuen rein, sichergehen, dass alles bombenfest sitzt, Kühlwasser nachfüllen, nochmal prüfen ob alles dicht hält, Motor starten. Läuft. Der Motor raucht nicht mehr, der Schlaucht tropft nicht mehr. Dafür kommt Callus auf mich zu und zieht mich fluchend vom Fahrersitz. „Was soll der Scheiß?!“ Ich halte vor Schreck die Luft an, mache mich auf das Schlimmste gefasst. „Hey, ich glaub, er hat den Wagen repariert!“, rettet mich Nora, „Sieh mal!“ Callus hält mich immer noch fest, seine Hand wie einen Schraubstock um meinen schmerzenden Arm zugezogen. Aber er sieht sich den Motorraum an, beißt die Zähne zusammen, brummt anerkennend und lässt mich endlich los. „Geh dich nochmal wachen“, weist er mich an, „und du, Nora, sieh zu dass er dir nicht abhaut. In einer Viertelstunde fahren wir weiter.“ Ich bin froh, dem wütenden Mann einen Augenblick zu entgehen, und lasse mich von Nora zum Bad bringen. Sie ist deutlich netter als er… und sie lässt zu, dass ich mich selbst wasche, auch, wenn ich dafür etwas länger brauche. „Du bist ja richtig geschickt!“, lobt sie, „Und die Fotos, die du gemacht hast, sind so süß! Machst du eines von uns beiden zusammen? Ich kann die Daten auf mein Handy ziehen und dem König schicken, dann weiß er, dass wir dich gefunden haben. Vielleicht freut er sich dann?“ Ich lächle. Es fühlt sich komisch an, weil es schon so lange her ist, aber gleichzeitig irgendwie gut. Ich trockne meine frisch gewaschenen Arme ab, ziehe Nora zu mir und mache ein Foto, wie sie es wollte. Diesmal stört es mich nicht, dass mein Barcode darauf zu sehen ist… schließlich wollte der König, dass man mich holt. Schadet nicht, wenn er gleich prüfen kann, ob ich der richtige MI bin. Die richtige Nummer… Nora jedenfalls freut sich sehr, als ich ihr das Foto zeige. „Wir müssen noch eines machen, wenn du auch deinen Pulli an hast!“, fordert sie, „Dann sind wir im Partnerlook! Das wäre toll. Weißt du, Callus ist schon ein netter Kerl, wenn man ihn erstmal kennt, aber er hat einfach keinen Humor. Also so richtig gar nicht, den hat er sich echt mal rauslasern lassen, glaube ich… Du bist eher jemand, mit dem man Spaß haben kann. Und das, obwohl du sogar älter bist als er!“ Ich erlaube mir, mich ein bisschen von der guten Laune anstecken zu lassen. Zumindest, bis wir wieder im Wohnwagen und im Einflussbereich von Callus‘ zorniger Aura sind. Trotzdem ziehe ich mir den Pulli wieder an und mache noch ein paar Selfies mit Nora, weil sie sich so darüber freut. Zumindest, bis Callus hinter kommt, uns zusammenfaltet, weil wir immer noch nicht angeschnallt sind und uns zwingt, brav auf den Sitzen Platz zu nehmen und da zu bleiben bis zum nächsten Halt. Eine Weile starren wir beide uns still an und versuchen, brav ernst zu bleiben, dann fängt Nora an zu kichern und ich kann nicht anders, als mitzumachen. Callus ist so ein Griesgram… aber Nora hat Recht, bestimmt ist er trotzdem ganz nett. Es ist schön, wieder mit Freunden unterwegs zu sein, so wie früher. Früher… ich erinnere mich an ein edles Cabrio, fast immer mit offenem Dach. An den Wind in meinen Haaren und die drei Männer, die mit mir reisen. Noch ist das Bild sehr unscharf, ohne Namen und Gesichter, aber ich erinnere mich an das Gefühl… das Gefühl, nicht allein zu sein. Das Gefühl, glücklich zu sein, dazu zu gehören. Vertrauen… und Liebe. Ich will diese Freunde wiedersehen. Diese drei… meine besten Freunde. Sie warten auf mich, das spüre ich ganz deutlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)