Welt ohne Grenzen von SoraNoRyu ================================================================================ Kapitel 2: Der König kehrt zurück (Noctis Lucis Caelum) ------------------------------------------------------- Es ist schön, wieder am Leben zu sein.   Die Luft in der Zitadelle fühlt sich wunderbar frisch an, und das Licht, dass durch die Fenster fällt, ist ein lang entbehrter Luxus. In einem der kaputten Stützbalken hat sich eine Familie bunter Vögel eingenistet, das Zwitschern klingt wie Musik in meinen Ohren.   Einen Moment blicke ich zurück auf die Blumen vor dem Thron – selbst zertrampelt wie sie sind hat der Anblick der weißen Lilien im Sonnenlicht etwas Magisches an sich. Beinahe kann ich die Liebe und Zuneigung spüren, die meine Freunde an diesen Ort getrieben hat um meiner zu gedenken. Selbst jetzt wo ich weiß, dass man im Tod nichts mehr von der Welt der Lebenden mitbekommt, rührt mich der Gedanke, dass man mich in all den Jahren nicht vergessen hat.   Ich drücke das Kind in meinen Armen an mich und seine Wärme ist tröstend. Der kleine Mann sieht Ignis zum Verwechseln ähnlich – kurze, ordentlich frisierte blonde Haare, strahlend grüne Augen und eine Haltung, die von guter Erziehung und einigem Ehrgeiz spricht.   „Wie lange wart Ihr denn jetzt eigentlich tot, König Noctis?“, fragt er vorsichtig.   „Weiß nicht genau. Wie alt bist du denn?“   „Acht Jahre.“   „Dann war ich wohl mindestens neun Jahre tot. Eher mehr.“   Immerhin war Ignis noch Single, oder zumindest nicht verheiratet, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Und aus dem Nichts kommt so ein Kind ja auch nicht, wenn ich recht informiert bin. Und mein Sexualkundelehrer hat mich sehr gut auf meine Pflichten im Hinblick auf die Thronfolge aufgeklärt… besser, als es mir damals Recht war, ehrlich gesagt.   „Wenn Ihr gestorben seid, als die Lange Nacht zu Ende gegangen ist, dann müssen es zehn Jahre sein.“   „Oje, so lange schon?“   Großartig, damit habe ich jetzt offiziell die Hälfte meines Lebens verschlafen. Ich hör Gladio jetzt schon lästern.   „Ja. Papa hat Euch sehr vermisst… er hat oft im Schlaf Euren Namen gerufen, wenn er schlecht geträumt hat. Dann hat er oft gesagt, es sei seine Schuld. Dass er nicht genug getan hat, dass er das Schicksal hätte ändern können, wenn er sich nur mehr angestrengt hätte.   Stimmt das?“   „Nein, das ist Unsinn“, wehre ich ab, „Niemand kann das Schicksal ändern, egal, wie sehr er sich anstrengt. Dein Papa hat wirklich mehr als genug für mich getan… schlimm genug, dass er deswegen blind ist. Er denkt nur immer, er muss alles perfekt schaffen, da sieht er manchmal gar nicht mehr, wie gut er es eigentlich schon hinbekommen hat.“   „Mama sagt auch, es ist nur ein dummer Albtraum. Und, dass das vom Krieg kommt, dass Papa so weint, wenn er aufwacht.“   „Da hat deine Mama Recht.“   Den Albtraum, den der Junge da erwähnt, hat Ignis, seit wir Altissia verlassen haben… seit er blind ist. Er hat uns gegenüber behauptet, er würde sich nicht mehr an alles erinnern, aber ich glaube er wusste, was die Götter mir vorherbestimmt hatten… dass ich sterben muss, um Ardyn zu besiegen. Sicher hat er nicht nur gekämpft, um mich an Ort und Stelle zu beschützen sondern auch, um gegen das Schicksal anzukämpfen. Ein unmögliches Unterfangen, natürlich, aber Ignis wäre nicht Ignis wenn er es nicht zumindest versucht hätte.   Wie mit den Süßigkeiten aus Tenebrae… auch da ist er erstaunlich weit gekommen mit seiner unnachgiebigen Haltung. Aber manche Dinge lassen sich eben nicht mit Geduld lösen.   „Glaubt Ihr, Papas Albtraum geht weg, jetzt, wo Ihr wieder da seid, Hoheit?“, fragt Nyx hoffnungsvoll.   „Besser wär’s“, meine ich, „Im Zweifelsfall erzählen wir ihm einfach ich wäre zurückgekommen, weil er die Götter doch noch weich gekriegt hat. Ist vielleicht nicht mal gelogen…“   Zumindest bilde ich mir ein, Ignis‘ Stimme gehört zu haben, bevor der Junge den Ring berührt hat. Irgendjemand hat mich bewusst gerufen, und derjenige muss bei den Göttern einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Ich hoffe nur, dass sie dafür kein zu großes Opfer verlangt haben… Wenn auch nur einer meiner Freunde für meine Rückkehr leiden muss mach ich Bahamut persönlich die Hölle heiß.   Der alte Teppich staubt furchtbar mit jedem Schritt, und ich bin mir nicht sicher ob ich mehr Staub an meine Schuhe bekomme als ich Asche auf dem Teppich verteile oder umgekehrt. Die Spuren der Kinder sind jedenfalls deutlich im Staub zu sehen.   „Spielt ihr hier öfter?“, frage ich neugierig.   Nxy blickt ziemlich ertappt drein und ist mir damit sofort sympathisch. Da spielt wohl noch jemand gern, wo’s die Eltern nicht erlauben… macht aber auch am meisten Spaß, wenn man das Kindermädchen erstmal losgeworden ist.   „Eigentlich dürfen wir hier gar nicht spielen“, gibt er zu.   „Kann ich mir vorstellen. Ist ja ganz schön baufällig das alles, da tut man sich schnell mal richtig weh.“   Oder Schlimmeres. Der Boden unter der umgestürzten Säule ist ganz schön rissig und bricht zum Teil weg, als ich auf die falsche Stelle trete. Ich mache schnell einen Ausfallschritt zurück, als Teile des Bodens wegbrechen, und blicke durch das Loch im Teppich nicht nur ein, sondern gleich zwei Stockwerke nach unten. Nyx schluckt hörbar. Wenn ich die Spuren im Staub richtig deute ist eines der Kinder genau hier vor nicht allzu langer Zeit hingefallen… das war knapp.   Vorsichtig, das Kind immer noch fest im Arm, klettere ich über die umgestürzte Säule.   „Ich weiß ja, dass verbotene Orte am coolsten sind“, gebe ich zu, „aber hier spielt ihr besser echt nicht mehr.“   „Versprochen“, versichert mir Nyx und klammert sich ängstlich an meine Schultern.   Ich teste meine Kräfte aus, in dem ich erst einen einfachen Dolch und dann eine kleine Flamme in meiner Hand erscheinen lasse und es beruhigt mich, wie leicht mir beides fällt. Im schlimmsten Fall sollte ich in der Lage sein, mich mitsamt dem Kind in Sicherheit zu warpen. Schon komisch, dass die Zitadelle in den letzten zehn Jahren nicht repariert wurde. Auf der anderen Seite gab es ja auch keinen König mehr, also war das Gebäude wohl einfach nicht mehr wichtig?   Noch ein paar Treppenfluchten runter, möglichst nicht auf die losen Stufen treten – ich frage mich langsam echt, wie die Kinder hier lebend rein gekommen sind. Oder bin ich einfach zu schwer für die brüchigen Steine? Andererseits sind Ignis und die anderen ja auch irgendwie bis zum Thronsaal und wieder zurück gekommen.   Im Erdgeschoss angekommen fühle ich mich dann doch etwas sicherer, hier scheint der Boden auch nicht so angegriffen wie in den oberen Stockwerken. Vorsichtig setze ich Nxy wieder am Boden ab, halte aber weiter seine Hand, um ihn notfalls mit in den Warp ziehen zu können, wenn unter uns etwas wegbricht.   Es ist erstaunlich leicht sich in der Ruine zu orientieren. Es ist vieles zerstört und Teile des alten Gemäuers fehlen ganz, aber die Zitadelle ist immer noch mein Zuhause. Meine Füße finden den Weg zum Vordereingang fast schon von selbst… oder sie würden es, müsste ich mich nicht stetig dazu ermahnen, jeden einzelnen Stein auf seine Trittfestigkeit zu prüfen. Nicht weit von Eingang höre ich plötzlich Schritte, die uns entgegen kommen. Ich bleibe stehen um zu lauschen, und tatsächlich erkenne ich das Geräusch – genau diese Schritte haben mich schon fast mein ganzes Leben lang begleitet.   „Ignis!“   „Noctis“, die vertraute Stimme klingt erstaunlich gelassen, gerade so, als wäre Ignis kein bisschen überrascht, mich hier zu treffen. Trotzdem werden seine Schritte etwas schneller, bis er den Torbogen erreicht hat und wir uns endlich direkt gegenüber stehen. Nyx geht vorsichtshalber hinter mir in Deckung.   Um den Jungen nicht im Stich zu lassen bleibe ich bei ihm stehen und breite lediglich einladend die Arme aus, bevor mir einfällt, dass Ignis das vermutlich gar nicht sehen kann. Aber der kommt zum Glück trotzdem auf mich zu und umarmt mich wie einen Bruder.   Die Wärme seines Körpers fühlt sich unglaublich gut an, er riecht nach Gewürzen und dem fruchtigen Shampoo, dass er so gerne benutzt und er stört sich kein bisschen daran, dass ich Asche und Staub und Dreck auf seiner saubere Kleidung verteile. Die tröstende Nähe tut unglaublich gut und mir kommen schon wieder die Tränen. Ich versuche noch, mich zusammenzureißen, aber Ignis hat längst gespürt, wie sehr ich zittere, und drückt mich fester an sich. Ich kann nichts weiter tun als in seine Schulter zu weinen bis der ganze Stress und die Anspannung endlich von mir abfallen und Ignis lässt es sich wortlos gefallen, hält mich fest, streichelt mir über die Haare und spricht beruhigend auf mich ein, wie er es immer getan hat, wenn es mir schlecht ging.   „Meine Güte, wie du wieder aussiehst…“, schnurrt er, „du kommst daheim gleich unter die Dusche, aber ohne Widerrede.“   Ich sehe trotzig hoch in sein Gesicht und mache mich bereit, zu widersprechen – ich bin kein Kind mehr, zumindest waschen kann ich mich selbst, die üblichen Proteste eben – da fallen mir zwei wichtige Dinge auf: Ignis weiß, wie dreckig ich gerade aussehe, und seine Augen sind genauso klar und strahlend grün wie früher.   „Du kannst wieder sehen?“, frage ich erstaunt.   „Seit etwa heute Morgen, ja. Ich bin noch ein klein wenig überfordert nach all der Zeit, aber immerhin lag ich richtig mit der Vermutung, dass das noch das kleinste Wunder des heutigen Tages sein würde.“   Ich weiß nicht, was ich darauf noch erwidern soll und bleibe einfach nur mit offenem Mund stehen, während Ignis einen Kamm aus der Tasche zieht und sich an meinen Haaren zu schaffen macht. Es ziept furchtbar und mir fällt ein, dass ich noch gar keinen Spiegel gesehen habe unterwegs… und vielleicht will ich auch gar nicht wissen, wie ich gerade aussehe. Wahrscheinlich wie der letzte Penner, der in ‘nem Kohleschacht geschlafen hat.   „Deine Haare sind ganz schön lang geworden“, fällt Ignis auf und ich brumme genervt, „Allerdings wesentlich weniger lang als man nach zehn Jahren vermuten würde.“   „Wie auch immer“, wehre ich ab, „Ich bin mir sicher, du bekommst das schon wieder hin.“   „Natürlich, dafür bin ich ja da.“   Ich würde gerne weiter schmollen, aber im Moment bin ich einfach zu glücklich, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Ich bin wieder zu Hause, Ignis kann wieder sehen, ich werde betüddelt wie ein kleines Kind und muss mich auf keine dunkle Zukunft mehr einstellen. Es ist wieder wie früher, nur, dass da jetzt noch ein kleines Kind mit im Raum ist, das den Austausch zwischen mir und seinem Vater mit absolutem Unglauben verfolgt.   Ich kenne die Art, wie Ignis den Kleinen gerade ignoriert, und weiß nur zu gut, dass da einiges an Ärger auf den jungen Mann zukommt, wenn er nicht genau die richtigen Knöpfe drückt… Jahrelange Erfahrung hat mir beigebracht, wie ich Ignis nach jeder Schandtat gnädig stimmen kann, aber ob der Junge das in seinem zarten Alter auch schon so gut hinbekommt ist ungewiss.   „Ich hatte mir eigentlich ein größeres Empfangskomitee erwartet“, gebe ich zu, um noch ein wenig abzulenken.   „Ah, ja. Gladiolus und Prompto sind leider Momentan nicht in der Stadt. Ich hab sie auf meine Ahnung aufmerksam gemacht aber… nun, es ist etwas schwierig im Moment.“   „Inwiefern schwierig?“, hake ich nach. Die Formulierung, und Ignis‘ reservierte Haltung dabei, versetzen mich in Alarmbereitschaft. „Ihr habt euch aber nicht zerstritten, oder?“   Ignis weicht meinem Blick aus und beißt getroffen die Zähne zusammen. „Zerstritten würde ich es jetzt nicht nennen“, wendet er ein, „es ist nur… es war nicht leicht in den letzten zehn Jahren. Dein Tod hat uns alle ziemlich hart getroffen, obwohl wir wussten, dass es so kommen musste.“   Ignis seufzt tief und streicht abwesend, und völlig erfolglos, über die Ascheflecken auf meiner Jacke.   „Mit dem Schmerz geht einfach jeder anders um. Prompto wollte darüber reden, ich konnte genau nicht darüber reden und Gladio ist bei jeder Erwähnung des Themas in die Luft gegangen wie eine schlecht gesicherte Munitionskammer. Da sind einige Wörter und Sätze gefallen, die man nicht mehr so leicht zurücknehmen kann, verstehst du? Letztendlich… letztendlich war es das Beste, erstmal ein wenig Abstand zu einander zu suchen, bis die Wunden ein wenig verheilt sind.“   Ich blicke traurig zu Boden bei dem Gedanken, dass meine besten Freunde sich meinetwegen so in die Haare bekommen haben. Mir fallen die Blumen wieder ein, die vor dem Thron gelegen haben, und mir wird jetzt erst richtig klar, wie viel Schmerz damit verbunden gewesen sein muss, sie dort für mich abzulegen.   Ignis lacht leise und ich blicke verwirrt zu ihm hoch.   „Es ist alles nicht so schlimm, wie es sich vielleicht gerade anhört, Noct. Wir haben uns am Ende schon wieder vertragen, es hat uns nur ein wenig auseinander gezogen. Und dann sind da Dinge passiert die… nun, darüber reden wir besser später. Wir sind immer noch ein gutes Team, und wir nehmen einander nicht übel, was im Streit gesagt wurde. Hast du den kleinen Altar gesehen, den Prompto für dich aufgebaut hat?“   Ich schlucke heftig. „J… ja, also“ nun bin ich es, der irgendwie abwiegeln muss. Ich seufze tief und entscheide mich, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. „Was davon noch übrig ist. Die Kinder… und damit meine ich nicht Nyx, sondern die Drecksgören, die ihn hier reingeschleift haben, haben sich leider ziemlich daneben benommen.“   Die Sache mit dem Ring behalte ich mal lieber für mich, das zumindest muss Ignis nicht unbedingt wissen… oder jedenfalls nicht von mir.   „Aber die Fotos zumindest sind heil geblieben. Ich hab mich sehr darüber gefreut.“   Der letzte Satz kommt mir schwer über die Zunge, denn schon wieder drängen sich Tränen an die Oberfläche. Der Gedanke, wie Prompto sich gefühlt haben muss, ganz allein da vor dem leeren Thron mit den ganzen alten Fotos aus einer Zeit, in der wir noch alle zusammen glücklich waren… Ignis‘ Hände auf meinen Schultern sind beruhigend, und ich habe mich schnell wieder unter Kontrolle.   „Ich bin sicher er wird sich freuen, das zu hören“, versichert mir Ignis, und in seiner Stimme schwingt etwas mit, was mir Sorgen macht. Meine Hand tastet nach den Fotos in meiner Brusttasche und mir wird einen Moment lang fast übel vor Angst.   „Kommt jetzt, alle beide. Wenn ihr vor dem Essen noch baden wollt – und da bestehe ich darauf – sollten wir uns langsam beeilen. Clara muss ja nicht unbedingt erfahren, wo ich unseren Jungen wieder erwischt habe, nicht wahr Nyx?“   Nyx schluckt hörbar und stimmt eilig zu. Anscheinend ist es wohl doch eher die Mutter, die die großen Strafen anordnet, und nicht Ignis selbst. Hätte ich mir fast denken können, denn so sehr Ignis oft schimpft, er ist doch immer derjenige, der am Ende einfach seufzend hinnimmt, wenn man mal wieder das Gemüse nicht isst. Ich kann echt froh sein, ihn zu haben.   Entsprechend gerne lasse ich zu dass Ignis seinen Arm um mich legt und mich sicher aus der Zitadelle heraus schiebt. Nxy greift seine freie Hand und beeilt sich, Schritt zu halten. Der arme Junge sieht auch ganz schön fertig aus, sicher ist er erleichtert, dass sein Vater die Schimpftirade stecken gelassen oder vielmehr vertagt hat. Ich sollte später wohl auch der Mutter gegenüber ein gutes Wort für den Kleinen einlegen, damit er nicht zu viel Ärger bekommt… er hat genug erlebt, um weitere Abenteuer erstmal unattraktiv zu machen.   Ignis lebt anscheinend nicht weit von der Zitadelle in einem kleinen Appartement. Diese Gegend hat schon früher zu den eher besseren Orten der Stadt gehört, und sie scheint auch fast vollständig wiederhergestellt worden zu sein; von den Schrecken des Krieges ist kaum noch etwas zu sehen, nur die Bäume auf den Grünanlagen sind zierlicher und deutlich jünger als früher.   Das Apartment selbst ist angenehm groß, ordentlich bin hin zu pedantisch, dabei aber hell und offen. Im Gegensatz zur Zitadelle ist der einzige Staub hier der, den wir gerade herein tragen, und ich fühle mich plötzlich erst richtig schmutzig. Selbst Ignis‘ vorher so saubere Kleidung ist inzwischen ganz schwarz vor Ruß, aber das scheint ihn gar nicht zu stören.   „Willst du zuerst unter die Dusche, Nyx?“, fragt Ignis und der Junge nickt eifrig.   „Sehr schön, dann können wir Großen uns nachher etwas Zeit lassen. Clara müsste bald zurück sein, vielleicht kannst du ihr von unserem Gast erzählen und dann beim Kochen helfen?“   „Ja, gute Idee“, stimmt Nxy zu und eilt ins Bad. Immerhin hat so auch er in der Hand, ob er seiner Mutter den Ausflug in die Zitadelle beichten will oder lieber nicht.   „Clara also, ja?“, spreche ich nun doch endlich die Frage aus die mir auf dem Herzen legt, seit ich den Mini-Ignis zum ersten Mal gesehen habe.   Am liebsten würde ich mich auf das bequeme Sofa fallen lassen, aber ich bin immer noch voller Ruß und das helle Wildleder sieht nicht aus, als sollte ich es im Moment anfassen… also bleibe ich trotz der langsam einsetzenden Erschöpfung stehen und bemühe mich, meinen Dreck nur auf den Parkettboden rieseln zu lassen.   „Ja, Clara“, Ignis schmunzelt etwas, fast, als wollte er konkretere Fragen provozieren, lässt sich dann aber doch zu einer ausführlicheren Antwort herab: „Die Tochter der Palastköchin in Tenebrae. Ich habe sie während der langen Nacht in Leide kennen gelernt, sie hat mir damals sehr geholfen, das Kochen neu zu lernen.“   „Du hast uns nie von ihr erzählt“, werfe ich ihm vor.   „Ja, das kann sein. Irgendwie gab es immer etwas Wichtigeres zu besprechen als mein Liebesleben. Zumal ich mir damals selbst nicht erlaubt habe, mir diese Gefühle einzugestehen, bevor meine Pflicht erledigt und die Welt gerettet ist.“   „Keine Zeit glücklich zu sein solange andere leiden, was? Typisch Ignis…“   Ich klopfe meinem alten Freund liebevoll gegen die Brust und ernte nur ein verlegenes Lächeln dafür.   „Und dann habt ihr gleich geheiratet und dieses süße Kind in die Welt gesetzt, was? Der kleine sieht dir total ähnlich.“   „Ja, das sagen eigentlich alle, die ihn sehen. Und sie haben wohl Recht, auch wenn ich das heute zum erstem Mal selbst wirklich bestätigen kann.“   Muss grausam sein, blind durch eine Welt zu gehen, in der alle anderen sehen können. Da bekommt man gleich viel mehr Respekt für Ignis‘ Entschlossenheit, trotzdem für einen neuen Tag zu kämpfen, damit für alle außer ihn wieder die Sonne scheinen kann.   Nyx kommt, in einen flauschigen bunten Bademantel gewickelt, zurück ins Wohnzimmer und Ignis nimmt das zum Anlass, dafür mich ins Bad zu schieben. Mir fällt auf, dass er die Augen die meiste Zeit über geschlossen hält, fast so, als könnte er sich in seinem zu Hause blind besser orientieren als mit sehenden Augen. Als er die Tür hinter uns abschließt macht er die Augen kurz auf um dann wie geblendet zurück zu schrecken. Kein Wunder – der ganze Raum ist voller Spiegel, ein Kabinett von optischen Täuschungen, mit denen sich sein Gehirn seit Jahren nicht mehr auseinander setzen musste.   „Alles okay?“, frage ich besorgt und berühre vorsichtig seinen Arm.   „Ja, mir ist nur etwas schwindelig. Ich muss mich wohl erst wieder an diese optischen Reize gewöhnen…“   „Lass dir Zeit. Diesmal zumindest kannst du ja einfach die Augen schließen, wenn dir die Alternative zu viel wird.“   „Das ist in der Tat eine Stufe einfacher als andersherum, ja“, lacht Ignis und streichelt mir über den Kopf. Faszinierend, wie treffsicher er inzwischen geworden ist… ich frage mich, ob die Schärfe seiner anderen Sinne irgendwann wieder nachlässt, wenn er seine Augen wieder nutzen kann. Sicher wird sein Gehirn wieder einige Kapazität auf die Auswertung der optischen Reize verwenden müssen, und diese Bereiche fehlen dann wieder den anderen Sinnen… wäre ja sonst auch echt unfair uns normalen Menschen gegenüber.   Ignis stellt mir einen kleinen Korb hin, in den ich meine Taschen leeren kann, bevor meine Klamotten im Wäschekorb landen. Ich lege die Fotos und den Angelköder hinein und krame zur Sicherheit noch alle anderen Taschen durch… Ein paar Heiltränke, vor Jahren abgelaufen natürlich, eine zerknitterte Phönixfeder, eine Kaktorfigur, die ich eigentlich mal Talcott geben wollte, Spielmünzen aus Altissia, die ich vergessen hatte einzulösen… was man nicht alles findet wenn man mal in den alten Klamotten gräbt. In den Tiefen meiner Hosentasche findet sich sogar noch ein rostiger Chocobo-Poppeck, von dem der Angelhaken abgebrochen ist. Warum habe ich den eigentlich nie weggeworfen? Ich zucke die Schultern und lege ihn trotzdem zu den anderen Sachen in den Korb, bevor ich Ignis erlaube, mir die Jacke von den Schultern zu ziehen.   Eigentlich lege ich schon einen gewissen Wert darauf, dass ich, selbst als König, in der Lage bin mich wie ein normaler Mensch selbst zu waschen und umzuziehen. Im Moment allerdings ist es einfach ganz angenehm, sich dem Luxus hinzugeben und Ignis einfach machen zu lassen… nicht, weil ich mich unbedingt faul zurücklehnen will, sondern auch um ihn die Chance zu geben, zumindest ein wenig der verlorenen Zeit nachzuholen.   „Die Asche ist ja sogar IN der Kleidung“, stellt er entrüstet fest und ich muss lachen.   „Ja, das Zeug kommt überall hin. Das passiert wohl, wenn man wie Phönix aus der Asche wieder aufersteht…“   Ignis stimmt in mein Gelächter mit ein und wirft die schmutzige Jacke in den Wäschekorb. Ob es sich wirklich lohnt, das alte Ding nochmal zu reinigen ist die andere Frage… und der Rest meiner Kleidung sieht auch nicht viel besser aus. Da steht wohl demnächst eine ausgedehnte Shoppingtour an.   „Fürs erste kann ich dir etwas von meinen Sachen leihen, das sollte zumindest für heute Abend genügen“, überlegt Ignis, während er die Wassertemperatur prüft, „Wird nicht ganz perfekt passen aber es ist besser als nichts.“   „Und besser als die alten Lumpen“, stimme ich zu, „Ich brauch dringend neue Sachen.“   Insbesondere, wenn der Rest der Welt mitbekommt, dass ich zurück bin. Die werden ihren König sicher nicht in seiner zwanzig Jahre alten, gut genutzten Kampfuniform sehen wollen… bäh.   Ignis öffnet wieder kurz die Augen um seine eigene Kleidung zu prüfen, runzelt die Stirn und wirft Hemd und Hose auch gleich in den Wäschekorb, bevor er mich zu sich unter die Dusche zieht. Das Wasser ist erschreckend angenehm und verfärbt sich fast sofort pechschwarz, als es über meine Haut auf den Boden rinnt.   „Da haben wir ja was vor“, meint Ignis tapfer, und der altbekannte Tonfall bringt mich schon wieder zum Lächeln. Seufzend schließe ich die Augen und genieße das Gefühl, wie Ignis Hände die Seife auf meinem Körper verteilen, bis langsam der Duft des Duschgels den penetranten Geruch nach Ruß verdrängt. Die sanfte Massage tut gut, ich hatte vorher gar nicht gemerkt, wie verspannt ich eigentlich war. Seufzend lehne ich mich gegen Ignis Brust, lasse mich wieder im Arm halten während er mir die Haare wäscht, ganz wie früher, als ich noch ein kleines Kind war. Wir haben oft zusammen gebadet damals. Ich weiß gar nicht mehr wann ich angefangen habe, dagegen zu protestieren. Und warum, vor allem.   „Du bist ja richtig anhänglich heute“, bemerkt Ignis, während er mir vorsichtig den Schaum aus den Haaren wäscht.   „Mja… hab halt Nachholbedarf.“   Und ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn und die anderen so lange alleine gelassen habe. Aber das sage ich lieber nicht laut… Ignis weiß auch so, dass er mir wichtig ist, und ich möchte ihn nicht unbedingt darauf aufmerksam machen, dass ich gemerkt habe, wie sehr er meine Nähe sucht. Als würde ich wieder verschwinden, wenn er mich zulange loslässt.   „Ich bin auch froh, dass ich dich wieder habe“, gibt Ignis schließlich ganz von selbst zu und drückt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, „Ich hab dich wirklich vermisst, kleiner Bruder.“   Die Worte treffen mich direkt ins Herz und ich erwidere die Umarmung stürmisch. Mich so zu nennen hat Ignis sich nicht mehr getraut, seit wir ganz klein waren… seit eines meiner Kindermädchen ihn darauf aufmerksam gemacht hat, dass mein Vater es sicher anders gemeint hat, als er sagte, Ignis solle sich wie ein großer Bruder um mich kümmern.   Ich erinnere mich noch genau, wie enttäuscht ich damals war. Ich hätte gerne einen großen Bruder gehabt. Natürlich war mir immer klar, dass trotzdem ich König werden und regieren müsste, weil Ignis und Vater nicht wirklich verwandt waren, aber in allen anderen Belangen wäre es ja trotzdem schön gewesen, mal ein wenig Verantwortung anzugeben und einfach nur das verwöhnte Kind sein zu dürfen. Immerhin das hat mir Ignis aber auf jeden Fall gegeben, und zwar bis zuletzt. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sicher auch an meiner statt mit dem Ring gegen Ardyn gekämpft und wäre für mich gestorben. Kein schöner Gedanke. Aber jetzt ist ja alles gut.   Einen kurzen Moment kann ich die feste Umarmung noch genießen, dann klopft Ignis mir sachte auf die Schulter und ich muss loslassen, damit er mich abtrocknen kann. Schade eigentlich, aber langsam wird es tatsächlich etwas kalt.   Ignis Kleidung passt erstaunlich gut, etwas eng um die Hüfte, dafür um Meilen zu lang, aber ansonsten ganz passabel. Und außerdem natürlich warm, sauber und ohne unnötige Löcher. Inzwischen scheint auch die Dame des Hauses anwesend zu sein und wir erreichen das Esszimmer gerade rechtzeitig zum Essen. Und wie gut das duftet! Besser könnte es eigentlich nur sein, wenn Ignis gekocht hätte, aber seine Frau hat auch Talent. Natürlich schmeckt es auch nochmal um einiges besser, wenn man in einer geschlossenen Wohnung an einem richtigen Tisch isst, was in einer richtigen, gut ausgestatteten Küche entstanden ist anstatt über dem Lagerfeuer. An die Stadt könnte ich mich schon schnell wieder gewöhnen. Muss ja nicht gleich die Zitadelle sein, nur einfach mal kein Zelt.   „Wolltest du nicht noch den anderen Bescheid sagen, dass ich zurück bin?“, fällt mir ein, als ich mich ausreichend vollgefressen habe. Ignis entsperrt wortlos sein Handy und schiebt es mir zu.   Das Modell ist neu – schön zu sehen, dass die Technik nach dem Krieg wieder Fortschritte macht, die nichts mit Waffen zu tun haben – aber ich finde mich trotzdem in den wichtigsten Funktionen zurecht. Ignis scheint das Gerät hauptsächlich über die Sprachsteuerung bedient zu haben, auch seine Chatverläufe bestehen nicht aus Textnachrichten, sondern aus kurzen Sprachaufnahmen. Die letzte hat er heute Morgen verschickt.   Seine Stimme zittert dabei, er muss sie aufgenommen haben, kurz nachdem er bemerkt hat, dass er wieder sehen kann. Die Sätze sind verworren und abgehakt, aber die Nachricht ist deutlich – kommt heim, kommt zu Zitadelle, ich traue mich nicht zu sagen was ich hoffe, aber da passiert etwas Großes.   Dass er wieder sehen kann hat er mit keinem Wort erwähnt. Trotzdem sollte allein der Klang seiner Stimme eigentlich reichen, um unseren Freunden deutlich zu machen, dass etwas Wichtiges passiert. Klar regt Ignis sich leichter mal über Kleinigkeiten auf als über Dinge, die normalen Menschen Angst machen würden, aber in diesem Fall…   Gladio hat nur eine kurze Nachricht zurückgeschickt. Bin gerade unterwegs, ist grad schlecht, meld‘ dich nochmal, wenn du was Konkretes sagen kannst. Der Tonfall ist ungewohnt ruppig, beinahe ablehnend. Sagte Ignis nicht, der Streit wäre vom Tisch? Ich will gerade fragen, da spüre ich seine Hand auf meinem Arm.   „Denk dir nichts dabei, Gladio steht im Moment unter großem Stress“, beruhigt er mich.   Sicher hat er aus den Worten unseres Freundes um einiges mehr herausgehört, alle Nuancen, die ein sehender Mensch eher im Gesicht als im Tonfalls seines Gegenübers suchen würde. Ganz abgesehen von den zehn Jahren Kontext, die mir fehlen.   „Gladiolus hilft noch beim Wiederaufbau in Galahd, nicht wahr?“, mischt sich Clara ein, „Sicher ist er einfach nur sehr beschäftigt. Ein kräftiger Kerl wie er wird bestimmt hart rangenommen, wenn es irgendwo etwas zu Heben und zu S chleppen gibt. Wenn er hört, dass sein König zurück ist, lässt er bestimmt alles stehen und liegen.“   „Und fährt unterwegs vermutlich noch ein paar Blitzer um, fürchte ich“, seufzt Ignis.   Trotzdem nehme ich mir heraus, eine Nachricht zu schreiben. Schön ganz in Großbuchstaben und ohne Zeichensetzung, damit auch ja klar ist, dass der Text nicht von Ignis stammt: DER KÖNIG IST ZURÜCK   Einfach mal absenden und sehen, was passiert.   An Prompto hat Ignis dieselbe Nachricht geschickt, aber der Chatverlauf mit ihm sieht komplett einseitig aus. Ich muss ganze vier Monate zurückgehen, bis Promptos letzte Nachricht auf dem Bildschirm erscheint, obwohl Ignis ihm recht regelmäßig eine kurze Sprachnachricht geschickt hat.   Irgendwas stimmt nicht mit Prompto.   Der Gedanke, der mir schon in der Zitadelle kam, als Ignis plötzlich gemauert hat, drängt sich wieder nach vorne. Und mit ihm die Angst. Trotzdem, und um den Gedanken zu verdrängen, dass Prompto die Nachrichten vielleicht gar nicht mehr bekommt, schreibe ich auch ihm einen kurzen Text: Noct ist zurück. Machen uns alle Sorgen um dich.   Ich schiebe Ignis das Handy wieder zurück.   „Du wolltest mir vorhin noch etwas erzählen… wegen Prompto.“   Ignis wirft einen schnellen Blick in Richtung seines Sohnes, der uns verwirrt ansieht.   „Ignis Kleidung ist dir ein wenig zu groß, nicht wahr, Noctis?“, fällt Clara auf, und ihr Tonfall lässt vermuten, dass sie nur vom Thema ablenken will, „Wie wäre es, wenn ich mit Nyx in die Stadt fahre und ein paar schöne Sachen kaufe?“   „Gute Idee, Clara“, stimmt Ignis zu, und auch seine Stimme hat diesen lass-dir-vor-dem-Kind-nichts-anmerken-Tonfall in sich, „Wir beide bleiben derweil einfach hier und machen es uns ein wenig bequem, wenn es dir nichts ausmacht.“   Er steckt sein Handy wieder zu sich und macht sich daran, den Tisch abzuräumen, während seine Frau den Jungen in den Flur scheucht. Keiner hat nach meiner Kleidergröße gefragt. Ich schnappe mir eilig selbst einen der dreckigen Töpfe und folge Ignis in die Küche. Nicht unbedingt, um beim Abwasch zu helfen – ich will ihn nur nicht wieder ausweichen lassen.   Leider muss ich dafür wirklich das Geschirr abtrocknen, während wir reden.   „Tut mir Leid, dass ich das Thema aufgeschoben habe“, entschuldigt sich Ignis, während er mir einen nassen Teller reicht, „Es ist nicht ganz einfach das alles zu erklären, und Nyx weiß nicht viel davon.“   „Worum geht es genau? Was ist passiert in den letzten zehn Jahren?“   Ignis seufzt tief und schrubbt verdächtig lange an einem bestimmten Fleck herum. Am liebsten würde ich ihn anschreien, dass er endlich mit der Sprache rausrückt, aber ich weiß, dass ich ihm Zeit lassen muss, die richtigen Worte zu finden. Auch, wenn es schwerfällt.   „Es ist schwer zu erklären“, gesteht er, „Hauptsächlich, weil es so schwer zu verstehen ist, selbst für uns, die wir die ganze Zeit dabei waren. Zuerst mal geht es mit der Politik los: Wir haben – oder hatten – keinen König mehr in Lucis. Da bleibt natürlich die Frage, wer jetzt die wichtigen Entscheidungen trifft, gerade nach dem Krieg, wo niemand wirklich wusste wer nun gewonnen hat. Es gab noch einige kleinere Schlachten, Niflheim wurde in die alten Grenzen zurückgedrängt und man hat sich über lange Diskussionen darauf verständigt, die Gebiete wieder so zu sortieren, wie sie lagen, bevor Niflheim seinen Siegeszug angefangen hat.“   „Das dürfte denen dort nicht gefallen haben“, vermute ich.   „Mag sein, aber letztendlich waren auch die Niflheimer froh, dass der Krieg vorbei ist. In den eroberten Gebieten hat es sich wohl ohnehin nicht so gut gewohnt, alles voller Rebellen, alles zerbombt, überall Soldaten und Kasernen… das gemeine Volk hatte nicht viel davon. Dass die Ressourcen aus anderen Ländern erbeutet statt erkauft wurden hat vielleicht kurzzeitig die Steuern gesenkt, aber das wurde schnell wieder geändert, um Geld für das Militär abzuzweigen.“   „Und jetzt wo Frieden herrscht gibt es auch wieder freien Handel?“   „Ja, und soweit ich weiß ist der neue Kaiser auch ein recht anständiger Mensch. Aranea zumindest scheint ihm zu vertrauen. Sie hat im Übrigen den Posten des Kanzlers übernommen.“   „Dann kann er ja so schlecht nicht sein. Klingt also, als wäre zumindest Niflheim schon mal ganz in Ordnung.“   „In der Tat.“   Wieder diese mauernde Haltung. Mir schwant übles.   „Accordo ist immer noch unter der Regierung von Camelia Claustra. Sie wird nicht jünger, aber sie weiß was sie tut und hat die Stadt fast vollständig wieder aufgebaut. Sie profitiert im Moment am meisten vom Frieden, der offene Handel mit allen drei Reichen schwemmt ordentlich Geld nach Altissia. Und Touristen, die mal was anderes sehen wollen als die heimischen Ruinen… da lohnt ein Besuch in der Stadt des Wassers.“   „Kaum vorzustellen nach der Zerstörung, die wir da hinterlassen haben.“   „Premierministerin Claustra ist eben eine sehr tüchtige Frau“, meint Ignis, „und sie nimmt uns nicht übel, was damals passiert ist. Wie gesagt, der Frieden mit seinen Bequemlichkeiten kommt ihr und der Stadt sehr gelegen, dafür ist sie dankbar.“   Ich trockne weiter schweigend das saubere Geschirr ab während Ignis eine weitere Pause einlegt, um den Topf vernünftig auszuspülen.   „Tenebrae hat es schwerer gehabt“, fährt er fort, „Ohne Ravus und Lunafreya war vom Königshaus nicht mehr viel übrig, die Regierung hat also eine Weile gestrauchelt, bis sich ein Ersatz gefunden hat. Anscheinend haben sie es dort mit einer demokratisch gewählten Regierung versucht und das scheint ganz gut funktioniert zu haben. Der Kanzler scheint seine Sache gut zu machen, der Aufbau geht, wenn auch langsam, voran und die Menschen zeigen sich recht zufrieden.“   „Demokratie, hm?“, frage ich. Das Wort kenne ich noch aus den alten Büchern, die ich in meiner Ausbildung als Kronprinz wälzen musste, „das ist ja ein ziemlich veraltetes System.“   „Ja, und es ist in der Vergangenheit auch schon mal schief gegangen. Aber wenn es funktioniert ist es sehr gut, die Bürger fühlen sich mit einbezogen und es ist ein recht sicheres System, das einer Machtergreifung, wie beispielsweise in einer Diktatur, entgegen wirken soll.“   „Außer man macht es wie der erste niflheimer Kaiser und ruft den Notstand aus, um künftige Wahlen ‚vorübergehend‘ außer Kraft zu setzen und die nächsten Generationen eine schöne Alleinherrschaft zu führen. Bis irgendwann alle vergessen haben, dass der Kaiser ursprünglich vom Volk gewählt wurde statt von den Göttern.“   Ignis seufzt. „Jedes politische System kann scheitern“, meint er, „Und zumindest jetzt und in Tenebrae scheint die Demokratie zu funktionieren. Zumal wohl eine Floskel eingebaut wurde, dass der gewählte Kanzler im Falle einer Rückkehr der Kannagi, oder dem Auftauchen einer neuen Kannagi, mit sofortiger Wirkung zurücktritt.“   „Das heißt, wenn Luna auch wieder am Leben wäre, wäre sie sofort wieder an der Macht?“   „Ja. Bei uns sieht es da, fürchte ich, etwas anders aus.“   Ah, kommen wir also doch endlich zum interessanten Teil.   „Wie anders?“   Ignis seufzt tief und kratzt weiter an seinem Topf herum. „Die Menschen hier waren… sagen wir mal, etwas überfordert. Niflheim hat seine Niederlage ganz gut weggesteckt, vermutlich, weil Aranea schon vorher wusste, dass es so kommen würde. Tenebrae wurde seit Jahren unterdrückt und hat sich leicht wieder aufgerappelt, der Tod der Kannagi, und der ihres Bruders, lagen auch schon weit genug zurück um sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Die Leute hier waren, gelinde gesagt, überrumpelt vom Tod ihres Königs. WIR wussten dass du sterben würdest, aber die Mehrheit der Menschen hat sich keine Gedanken gemacht.“   Endlich reicht mir Ignis den Topf zum Trocknen, wenn auch nur, um im Spülwasser nach der nächsten Ablenkung zu suchen.   „Als in Tenebrae die Idee mit der Demokratie aufkam und umgesetzt wurde hat man hier das gleiche versucht, nur mit weniger natürlich gewachsenem Vorlauf und mit weit auseinander gehenden Meinungen und Zielen der einzelnen Parteien. Anstatt, wie in Tenebrae, einen Kanzler zu wählen, der das ganze Land vertritt, hat man hier in den einzelnen Bezirken aus einer Auswahl von Parteien ausgewählt, die dann jeweils aus ihren Reihen einen Vertreter gewählt haben der dann seine Partei in die eigentliche Regierung innerhalb der Stadt zu wählen versucht. Da dabei keine eindeutige Mehrheit zustande kam wurde von jeder Partei, die mindestens zehn Prozent aller Stimmen bekommen hat, ein Kanzler ausgewählt, und diese Kanzler haben dann unter sich wiederum einen Regenten.“   „Ich glaub, bei der Sache mit den Bezirken hast du mich verloren“, gestehe ich, „klingt auf jeden Fall irrsinnig kompliziert.“   „Irrsinnig trifft es ganz gut“, seufzt Ignis und kratzt mit einem Schwamm in der Pfanne herum.   „Also… haben wir jetzt mehrere Kanzler, die zusammen regieren, und das Volk bestimmt demokratisch, oder…?“   „Nein. Wir haben mehrere Kanzler, die demokratisch untereinander abstimmen, was gemacht werden soll und wer offiziell als regierender Kanzler auftritt, und das Volk hat die Vertreter gewählt, die diese Kanzler über drei Ecken ausgesucht haben.“   „Ah. Toll. Klingt ja effektiv.“   Ich beginne zu verstehen, warum mitten in meiner Stadt eine baufällige Ruine steht, in der Kinder zu Schaden kommen können. Ignis seufzt wieder.   „Der Beginn der Wahlen war damals der Aufhänger, dass Gladio, Prompto und ich uns wieder zusammengerauft haben. Wir haben eine Partei der Königstreuen gegründet mit dem Anspruch, so zu regieren, wie es die Könige seit jeher im Sinne des Volkes getan haben, den Kristall zu schützen und, sollte ein neuer König nach Lucis kommen, diesem die Stadt Insomnia und die umliegenden Länder in einem Zustand zu übergeben, auf den die alten Könige stolz gewesen wären. War ein netter Versuch und Monica hatte als Kanzlerkandidatin einige Anhänger, aber wir haben die zehn Prozent nur ganz knapp geschafft und wenn sich die anderen Parteien in einem einig sind dann darin, dass sie grundsätzlich gegen uns sind. Bei den Neuwahlen vor drei Jahren sind wir dann mit wehenden Fahnen untergegangen.“   In Ignis‘ Worten liegt eine Menge Ärger und mir wird klar, wie viel Energie er in diese Partei gesteckt hat in dem Versuch, Lucis vor einer politischen Katastrophe zu schützen.   „Und das ist noch nicht mal das Schlimmste“, murmelt er, „Kaum, dass Monica aus dem Rat raus war hat der Wahnsinn mit dieser Maschine angefangen…“   „Was für eine Maschine?“, frage ich und wittere langsam die Wurzel allen Unheils.   „Eine… wahnwitzige Idee, die aus reißerischer Propaganda entstanden ist“, erklärt Ignis, und die Worte gehen ihm nur schwer über die Lippen, „Sieben Jahre… sieben Jahre lang war schon Frieden, aber einige Parteien haben nicht aufgehört, Angst zu schüren. Du musst dir das mal vorstellen, Noct. Seit dem Ende des Krieges hat niemand mehr einen Siecher gesehen. Die MI sind alle an Ort und Stelle zusammengefallen, kein einziger hat sich wieder bewegt, wenn nicht ein lebender Mensch daran gerüttelt hat. Sieben Jahre, acht Jahre, zehn Jahre und die Menschen haben immer noch Angst.“   Er wirft einen Blick auf die saubere Pfanne, als wäre sie allein an allem schuld, und taucht sie wieder ins Wasser um noch einmal drüber zu putzen.   „Und dann kam jemand auf die Idee, wir bräuchten einen neuen Wall. Ohne einen König, der die Magie des Kristalls nutzen kann, natürlich ein alberner Gedanke, aber einer der Kanzler – zufällig aus der besagten ‚Partei für Heimat und Ehre‘, hatte bereits Pläne für eine Maschine, die er den ‚Wall der Menschlichkeit‘ genannt hat und die praktisch alle MI aus der Stadt vertreiben und in der Folge fernhalten sollte.“   „Und wie soll das funktionieren? Ich meine, wenn es doch überhaupt keine lebenden MI mehr gibt?“   Ignis Blick verfinstert sich und mir wird plötzlich etwas schmerzhaft bewusst.   „Nicht etwa…?“   „Wir haben uns erst auch gefragt, was eine Maschine tun soll“, meint er mit zitternder Stimme, „Aber wir sind davon ausgegangen, dass sie einen gut sichtbaren Schutzschild aufbauen würde, der eventuell die Funktion des Kristalls nachahmt und sich gegen Plasmodium richtet, wo noch welches zu finden ist. Das wäre jedenfalls logisch gewesen… und weitestgehend vernünftig.“   Ignis wirft einen letzten Blick auf die Pfanne und reicht sie mir. Seine Hände zittern, auch, als er wieder im schaumigen Wasser wühlt.   „Dann hat Prompto angefangen, über Kopfschmerzen zu klagen. Wir haben uns erst nichts dabei gedacht, du kennst ihn ja, er jammert ständig. Irgendwann hat er dann aufgehört zu jammern, das hat uns dann schon Sorgen gemacht. Den Zusammenhang mit der Maschine haben wir aber erst begriffen, nachdem Gladio ihn ein paar Mal aus der Stadt rausgebracht hat.“   „Ich nehme an, da wurden die Kopfschmerzen plötzlich besser?“   „Ganz genau. Je weiter Prompto aus Insomnia raus war, desto besser ging es ihm. Also haben wir ihn erst mal in Hammerhead einquartiert und er ist nur noch nach Insomnia gekommen, um nach dem Altar in der Zitadelle zu sehen. Hat neue Fotos gebracht, damit du auf dem Laufenden bleibst, die Kerzen ausgetauscht, solche Sachen. Meinte, das sei die Schmerzen wert… Irgendwann lief ihm Blut aus den Augen, wenn er zu lange in der Stadt war. Da hat er schon lange nicht mehr gejammert…“   Ignis‘ Stimme zittert und das Messer, dass er gerade abgewaschen hat, fällt glucksend zurück ins Wasser.   „Ich hab… ich hab das erst nicht gemerkt, weißt du? Ich hab das Blut gerochen, aber er meinte nur, das sei nicht so schlimm. Ich hab gespürt, dass sein Gesicht nass ist, aber ich dachte, er weint nur. Letztendlich… war es Gladio, der mich darauf angesprochen hat, wie fertig Prompto aussieht, dass es nicht mehr nur einfache Kopfschmerzen sind, sondern dass er sich praktisch lebendig auflöst, wenn er zu lange in der Stadt ist.“   Ich kann nur schweigend zusehen, wie Ignis wieder nach dem Messer wühlt, während er um Fassung ringt. Die Pfanne tropft mir auf die Arme und ich erinnere mich, dass ich sie trocknen sollte. Prompto… mein bester Freund. Der mit mir zusammen in Insomnia aufgewachsen ist, mit unseren Werten und Geschichten, unserer Sprache, unseren Liedern. Und diese Maschine erkennt ihn als Feind und greift ihn an. Der Gedanke, dass er trotzdem wieder und wieder in die Stadt gekommen ist, nur um ein paar Blumen vor den leeren Thron zu legen, nur für MICH, ist unerträglich.   „Ich musste Prompto versprechen, dass ich mich um den Altar kümmere“, erzählt Ignis weiter, „dass ich jede Woche, jeden Tag dorthin gehen und mit dir sprechen würde, damit er sicher in Hammerhead bleibt. Wir haben Cidney eingespannt, damit sie auf ihn aufpasst.“   „Aber es hat nicht gereicht?“   „Eine Weile schon. Eine Zeit lang ging es gut, Gladio ist regelmäßig nach Hammerhead gefahren, hat sich Fotos und Blumen für dich mitgeben lassen und sie zu mir in die Stadt gebracht, dafür hat er Prompto mit meinem Essen versorgt und nach dem Rechten gesehen. Und dann ging es wieder los mit den Kopfschmerzen. Weil die Maschine einfach so ihren Radius vergrößert hat. Ohne Warnung, ohne Ankündigung, aber als wir bei der Partei nachgefragt haben hieß es, dass sei so gewollt, dass die Maschine letztlich ganz Lucis schützen sollte.“   „Also habt ihr Prompto weiter raus gebracht?“   „Ja. Gladio hat sein Zelt eingepackt und hat Prompto losgeschickt. Die erste Zeit ist er noch mit dem Auto gefahren, hat eine Weile in Lestallum gewohnt und uns beiden regelmäßig Nachrichten geschickt. Gladio war ständig dran, ist ihm immer wieder nach, hat ihm Essen und Geld mitgebracht, Potions, was man halt so braucht, wenn man plötzlich nur noch von der Jägerzentrale bezahlt wird, anstatt in der Stadt zu arbeiten. Du hast den Chatverlauf gesehen… hör ruhig mal rein, Promptos Nachrichten klangen immer recht fröhlich, trotz der Situation.“   „Aber irgendwann hat er nicht mehr geantwortet.“   „Ja. Irgendwann war plötzlich Stille. Und bis dahin… sagen wir mal, er war nicht der Einzige. Der Kristall hat das Miasma, das Plasmodium, diese ganze Krankheit vernichtet und damit auch alle echten MI. Aber es gab noch mehr Kinder wie Prompto… besonders nach dem Fall des Imperiums konnten einige Kinder aus den diversen Einrichtungen gerettet werden. Uninfizierte Kinder. Und dann ist uns klar geworden, wie die Maschine ihre Ziele findet.“   „Die Barcodes?“, rate ich.   „Schlimmer. Die DNS“, korrigiert Ignis, „Alle Magitech Soldaten wurden aus Besithias eigener DNS gezogen, teilweise bis zu hundert aus einer einzigen von ihm befruchteten Eizelle. Keine Klone in dem Sinne, aber genetisch identisch, wenn sie aus derselben Reihe stammen, und Besithia hatte nicht viel Auswahl an Eizellenspendern, deswegen sind fast alle MI Voll- oder zumindest Halbgeschwister. Die Maschine greift bewusst Menschen an, deren DNS den gegebenen Parametern ähnelt.“   „Aber das ist doch Irrsinn“, wende ich ein, „Das funktioniert vielleicht, wenn es wirklich alles Klone wären, und selbst dann trifft es die Menschen, die zu MI hätten werden sollen, und nicht die eigentlichen MI. Und wenn du nur die Mütter austauschst hast du schon wieder so viel Abweichung drin dass es auch Menschen treffen könnte, die überhaupt nichts mit den MI zu tun haben!“   „Das tut es, Noct, das tut es. Cidney ist anfällig, und selbst ich fange langsam an, den Einfluss zu spüren… tendenziell schein es vor allem Menschen zu treffen, die blond, blauäugig oder beides sind. Und der Einfluss erstreckt sich inzwischen weit über Lucis hinaus, selbst Niflheim ist betroffen… dort sind die Verluste natürlich am schlimmsten. Und in Lestallum ist erst kürzlich ein Kind gestorben, dass man mit starkem Blutverlust ins Krankenhaus gebracht hat – keiner hat verstanden, warum das alles nur schlimmer gemacht hat, bis man den Barcode auf dem Arm des Kindes entdeckt hat. Es ist kurz nach Kriegsende als Baby aus dem Labor geborgen worden und wurde seitdem liebevoll aufgezogen. Ein normales Kind, genau wie Prompto.“   „Warum schaltet man die Maschine dann nicht ab? Spätestens wenn sowas in die Presse geht…“   „Propaganda, Noct. Das Kind hatte einen Barcode am Arm, es war definitiv ein MI. Kanzler Rashin kann verdammt gut reden wenn es darum geht, Leute auf seine Seite zu ziehen.“   „Und was ist mit den Leuten, die keine MI sind? Leute wie Cidney, oder du?“   „Elektrosmog“, meint Ignis und reicht mir das saubere Messer, Griff voraus wie es sich gehört, „Das hat nichts mit der Maschine zu tun, das sind die bösen Handys und Fernseher und überhaupt dieser ganze neumoderne Schrott. Zu viele Medien, zu viel Informationen. Die Politik von Insomnia wiegelt das ganz geschickt ab und die meisten Menschen glauben das.“   „Aber nicht in Niflheim, nehme ich an?“   „Eine Delegation von dort wird heute Abend hier eintreffen, ebenso der Kanzler von Tenebrae und die Premierministerin Accordos. Wenn die Gespräche schlecht laufen, gibt es einen neuen Krieg. Niflheim will den Frieden halten nach seiner letzten Niederlage, aber dort sind eine Menge Menschen gestorben, allen voran Kinder und Senioren. Das werden sie so nicht hinnehmen.“   „Also fordern sie, dass Lucis die Maschine abschaltet. Glaubst du, die Regierung geht darauf ein?“   „Besser wäre es. Aber ich fürchte, das wird sie eher nicht tun.“   Ich blicke auf das Messer in meiner Hand. Ein schlichtes Küchenmesser, scharf, aber schwer, gemacht um zu schneiden, nicht um zu töten. Keine Waffe, sondern ein Haushaltsgegenstand. Ich wische mit dem Geschirrtuch über die Klinge und sehe das Spiegelbild meines Gesichts darin. Noctis Lucis Caelum, der König des Lichts. Ich weiß, warum ich hier bin.   „Meinst du, wir sind auch zu der Party eingeladen?“   Ignis grinst. „Ich denke, Gladio wird uns schon reinbringen, wenn es nötig ist.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)