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Welt ohne Grenzen

von

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Morgenlicht (Ignis Scientia)

Da ist er wieder, dieser Traum.
 

Hier bin ich wieder, nass bis auf die Haut, im eisigen Keller von Zegnautus. Es ist dunkel hier, das einzige Licht ist das des Kristalls. Ein warmer violetter Schein, unwirklich in dieser so kalten, mechanischen Welt. Hier gehört er nicht her… hier will er nicht sein. Ich spüre seine Macht, ebenso die des Rings in meiner Hand. Ich weiß, was ich tun muss, was ich tun kann. Ich habe diesen Traum jede Nacht, seit nunmehr zwanzig Jahren. Seit ich den Ring in Altissia angelegt habe geht mir nicht mehr aus dem Kopf dass es vielleicht noch einen anderen, besseren Weg gegeben hätte. Dass ich Ardyns Vorschlag folgen und mit ihm nach Zegnautus gehen hätte sollen. Dass ich die Möglichkeit, nein, die Macht gehabt hätte, etwas zu ändern, hätte ich den Ring hier, im Licht des Kristalls angesteckt. Mit all der Macht von Lucis hätte ich das Schicksal vielleicht noch ändern können.
 

Um das Schicksal zu ändern braucht es ein Opfer.
 

Nimm meine Sinne.
 

So fängt es an, jede Nacht. Ich spüre den Schmerz, als die Macht des Ringes mir die Augen ausbrennt. Die Wunden sind lange verheilt, aber in meinem Traum ist der Schmerz frisch. Jedes mal wieder stellen mich die alten Könige und der Kristall vor die Wahl, und jedes Mal ist meine Entscheidung gleich. Für Noctis… für meinen König, meinen Bruder. Aufgeben ist keine Option, mein Leben vielleicht gerade wertvoll genug, das seine zu retten. Ich sehe Ardyn vor mir, überrascht vielleicht, aber nicht besorgt. Noch nicht. Heute Nacht werde ich ihn besiegen. Blitze zucken durch mein Sichtfeld, Zeichen und Symbole. Ich weiß, dass ich nur durch Magie noch sehen kann, meine Augen sind längst zerstört, gerade noch in der Lage, hell und dunkel zu unterscheiden, aber durch die Macht des Rings ist mein Sichtfeld klar. Ich fasse meine Dolche in beiden Händen und stürze auf Ardyn zu. Wie jede Nacht… aber heute verliere ich nicht. Er mag unsterblich sein, aber ich habe diesen Kampf schon so oft gekämpft dass ich genau weiß, wie ich handeln muss.
 

Jede Nacht seit zwanzig Jahren… jede Nacht sterbe ich hier. Es ist grausam, schmerzhaft. Ich jage Ardyn durch den Raum, spring über Hindernisse, wechsle zwischen den Elementen, versuche seine Angriffe abzufangen und zu kontern. Ein Fehler und alles ist vorbei. Es ist nur ein Traum, aber die Schmerzen sind echt. Auch die Angst… und die Kälte meiner nassen Kleidung. Zwanzig Jahre… siebentausenddreihundert Nächte. Siebentausenddreihundert Mal bin ich hier unten gestorben, nass, ausgebrannt, einsam. Ich will nicht allein sterben.
 

Die Kraft des Ringes lässt nach. Um das Schicksal zu ändern ist ein größeres Opfer vonnöten.
 

Nimm meinen Körper.
 

Der Schmerz zerreißt mich, als die Kraft des Rings in meine Glieder fährt. Ich höre mich schreien, sicher habe ich wieder das ganze Haus aufgeweckt. Die Szene flackert, aber ich halte daran fest, kämpfe weiter. Ich kann jetzt nicht aufgeben… heute gewinne ich den Kampf. Für Noct… für ihn halte ich durch. Ardyn lacht, aber es klingt weniger sicher als vorhin. Er weiß, dass ich ihn besiegen kann. Unsterblich vielleicht, aber nicht unbesiegbar… ich werde Ardyn zu Fall bringen und ich werde einen Weg finden dafür zu sorgen, dass er stirbt ohne Noct mitzunehmen. Ich kann das Schicksal ändern. Ich muss. Weil ich es kann.
 

Meine Bewegungen werden sicherer, mein Timing besser. Es geht schneller als sonst, Ardyn lässt nach. Meine Strategie geht auf, meine Angriffe sitzen, eine Riposte nach der anderen trifft ins Schwarze. Ich sehe nur durch die Macht des Rings, kann mich nur durch sie bewegen, aber solange ich den Ring trage verfüge ich über ungeheure Kraft. Nicht nur die Kraft der alten Könige, nein, auch die des Kristalls… genug Kraft, diesen Kampf für mich zu entscheiden. Wieder flackert das Bild, wieder spüre ich die Kraft schwinden. Es macht mir keine Angst, ich weiß, was kommt… so weit bin ich schon oft gekommen. Aber diesmal war es leichter, diesen Punkt zu erreichen. Heute gelingt es mir, das weiß ich. Heute Nacht werde ich das Schicksal ändern.
 

Die Kraft lässt nach. Und das Schicksal zu ändern ist ein größeres Opfer nötig.
 

Nimm mein Leben.
 

Ab jetzt läuft die Zeit. Die Schmerzen sind unerträglich. Meine Sinne, mein Körper, mein Geist, alles steht in Flammen. Mehr tot als lebendig stemme ich mich hoch, die Energie des Kristalls zerreißt meinen Körper, als sie ihn mit unfassbarer Macht füllt.
 

Drei Minuten… in drei Minuten ist es vorbei. Aber diesmal wird Ardyn vor mir sterben. Ich stürze mich auf ihn mit Feuer, Blitz und Eis, mein Körper nur noch ein brennender Spielball der Geister, die ich beschworen habe, mein Fokus allein auf dem Kampf. Mein Herz schlägt nicht mehr. Aber das muss es auch nicht.
 

Noch zwei Minuten. Ardyn wirkt langsam verzweifelt, seine Angriffe werden immer heftiger, immer unkontrollierter und flächendeckender. Ein einziger davon genug mich zu töten, und doch werfe ich mich direkt hinein, blocke und werfe sie zurück. Einen nach dem anderen. Ich habe keine Angst, ich bin bereits tot. Ardyn strauchelt, schreit.
 

Noch eine Minute. Ein letzter Angriff mit brennenden Klingen und der Gegner ist besiegt. Es ist vorbei… ich habe gewonnen. Endlich… nach all den Jahren habe ich das Schicksal bezwungen. Ich falle zu Boden, spüre, wie mein Körper sich in Rauch auflöst. Es wird dunkel. Es wird still. Ich habe erreicht was ich wollte, die Macht des Rings verlässt mich. Zurück bleibt nichts. Ich habe alles gegeben, alles geopfert. Zumindest im Traum ist mir gelungen, was ich vor zwanzig Jahren schon hätte tun müssen. Eine einzelne Träne rinnt über mein Gesicht. Ob die anderen wohl gekommen wären, um mich zu finden? Ich will nicht allein sterben… aber ich hätte es für ihn in Kauf genommen, jederzeit.
 

Unter meinen Händen ist Sand. Ich kann ihn nicht fühlen, all meine Sinne sind fort, aber ich weiß, dass er da ist, der Sand. Feiner Sand, wie am Meer. Heller, weißer Sand, leicht rosa in der tiefstehenden Sonne. Möwen fliegen im zartblauen Himmel, ich kann nicht hören, aber ich weiß, dass sie kreischen. Noch einmal rapple ich mich auf, stolpere auf das Meer zu, dessen warme Wellen über den Sand waschen, stetig, ruhig. Auf dem Steg steht ein Mann, mit dem Rücken zu mir, und hält eine Angel ins Wasser. Die Gestalt ist mir vertraut. Ich fühle mich glücklich.
 

Meine letzte Kraft verlässt mich, ich falle zu Boden. Ich spüre die Planken unter meinem Körper nicht, sehe sie nicht, aber weiß, dass sie da sind. Eine merkwürdige Welt. Friedlich. Auch meine Schmerzen sind fort.
 

„Du solltest nicht hier sein, Ignis. Es ist viel zu früh.“
 

Noctis beugt sich über mich, legt eine warme Hand auf meine Schulter. Es ist sein Geist, der mich berührt in dieser unwirklichen Welt. Ich brauche keinen Körper, keine Sinne um hier zu sein… hier bei ihm.
 

„Geh wieder zurück. Ich habe nicht um dieses Opfer gebeten.“
 

„Noctis…“
 

„Geh. Du gehörst hier noch nicht her.“
 

„Komm mit mir zurück.“
 

Noctis schweigt. Seine Hand streichelt mein Gesicht, sanfte Finger berühren meine geschlossenen Augen. Ich kann seine Wärme spüren, seine Zuneigung. So viel Liebe… ich will hier bei ihm bleiben. Ich habe so hart gekämpft… ich will Noct nicht wieder verlieren. Bitte… bitte lasst ihn mit mir kommen.
 

„Geh Ignis.“
 

Die Welt verblasst. Ich will daran festhalten, aber ich kann nichts tun. Der Sand, das Meer, der Himmel… alles verblasst, verschwindet wieder in der Dunkelheit, die mich seit zwanzig langen Jahren gefangen hält. Ich spüre das Bett unter mir, die schweißnassen Laken, das harte Brett am Kopfende. Tränen auf meinem Gesicht aus Augen, die zu nichts anderem mehr nutze sind.
 

„Wir sehen uns wieder, wo wir uns verabschiedet haben“, höre ich eine leise Stimme. Weit weg, von der anderen Seite, dann nur noch meinen Wecker mit der morgendlichen Radiosendung. Sieben Uhr, Sonntag früh. Das Bett neben mir ist leer, sicher ist Clara schon in der Arbeit. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich heute Nacht nicht geweckt hat. Vielleicht hat es nichts gebracht, aber…
 

…aber ich habe Noct getroffen. Einen kurzen Moment nur, aber ich konnte ihn sprechen. Ein paar Wörter, eine kurze Berührung.
 

Ich vermisse ihn so sehr.
 

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass nach langer Zeit zum ersten Mal wieder die Sonne aufgegangen ist. Damit besteht der Frieden nun fast auf den Tag genauso lange wie die Nacht, die ihm voraus ging, gedauert hat. Naja, wenn man von Frieden sprechen kann in der momentanen Situation… aber immerhin geht jeden Morgen die Sonne auf. Selbst, wenn ich davon nicht mehr mitbekomme als dass es tagsüber ein wenig heller wird. Es reicht nicht, um sich zu orientieren, aber es ist ein schönes Gefühl zu sehen, wie das Licht vor meinen Augen der Welt eine Art Gestalt gibt. Heute allerdings ist es mehr als nur das.
 

Verwirrt blicke ich über das Waschbecken an die Wand, in dessen glatter Oberfläche ich seit Jahren einen Spiegel vermute. Es war mir beim Aufstehen noch nicht recht aufgefallen, aber jetzt, nach einer gründlichen Dusche… da sind Farben. Das Bild vor meinen Augen ist unscharf wie eh und je, aber in die vagen Schlieren von Hell und Dunkel haben sich, ganz nebenbei, Farben gemischt.
 

Ich taste nach dem Glas vor mir und wische mit zitternden Fingern das Kondenswasser von der Oberfläche. Fast glaube ich, einzelne Finger ausmachen zu können, dahinter ein Bild, das, wenn auch unscharf, mein eigenes blasses Gesicht sein könnte.
 

Ich glaube, ich muss mich erstmal setzen.
 

Zitternd lasse ich mich auf den Badezimmerboden sinken und vergrabe mein Gesicht in beiden Händen. Erstmal einfach nur atmen… einfach ruhig atmen. Nach all der Zeit, die ich mich jetzt schon im Dunkeln bewegt habe – zwanzig Jahre, fast die Hälfte meines Lebens – erinnere ich mich kaum noch daran, was ich mit visuellen Reizen anfangen soll.
 

Sicher, an besonders hellen Tagen habe ich schon mal mein Gesicht in die Richtung gedreht, in der ich die Sonne vermuten konnte, und einfach die Wärme auf meiner Haut und das Wissen um den hellen Tag genossen, aber richtige Bilder zu sehen… das ist etwas, woran ich schon zu lange nicht mehr gedacht habe.
 

Ich nehme meine Hände von den Augen und blicke auf die zitternden Finger, unschlüssig, was ich mit der Information anfangen soll. Ich weiß, wo meine Hände sind. Das ist zumindest eines der Dinge, deren ich mir immer sicher war, meine Hände finde ich auch ohne zu sehen. Was also soll ich mit der Flut an visuellen Reizen, die da plötzlich über mich hereinfallen?
 

Das Bild wird mit jedem Augenblick schärfer. Ich erkenne immer mehr Details und schließe eilig wieder die Augen, um mich der Flut an Eindrücken zu entziehen. Farben, Spiegelungen, die einzelnen Wassertropfen auf den Fliesen und das verwirrende Bild hinter den vielen Spiegeln, die meine Frau hier aufgehängt hat. Mir ist beinahe schlecht vor Überforderung.
 

Viel wichtiger noch:

Warum?

Und warum jetzt?
 

Ich atme tief ein und aus um mich zu sammeln und meine Gedanken zu sortieren. Sehen, wenn auch lang vergessen, ist etwas was ich schon einmal gekonnt habe, und ich werde mich bald wieder daran gewöhnen. Mit geschlossenen Augen richte ich mich auf und beende meine Morgentoilette. Erstmal fertig kämmen, rasieren und anziehen, dann vielleicht noch ein kleines Frühstück.
 

Und dann auf zur Zitadelle.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sargeras
2018-10-27T21:07:00+00:00 27.10.2018 23:07
Ein Interessanter Anfang. 20 Jahre Blindheit und nun kommt das Sehvermögen zurück. Hmm, würde sich Ignis sofort fragen weshalb? Obwohl, passt schon. Er hat sich ja auch sofort gefragt warum der Kanzler ihnen helfen sollte.
Schön auch zu lesen wie er seine 'Blindheit' freiwillig verlängert, einfach weil er sich so lange an sie gewöhnt hat. Mal sehen was daraus in den nächsten Kapiteln wird.
Antwort von:  SoraNoRyu
29.10.2018 01:01
Ich halte Ignis für einen dieser Menschen die sich immer fragen, weshalb. Und überhaupt immer über alles nachdenken.

Das Kapitel war eigentlich auch noch etwas länger gedacht, das fiel mir aber erst ein, als ich es schon komplett abgetippt habe. Als Prolog funktioniert es so aber fast besser, denke ich.


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