Totgeglaubte leben länger! von Annoia ================================================================================ Kapitel 1: Auf dem Weg in die Hölle ----------------------------------- Mello starb. Er wusste es, als Hitze durch seinen Körper flammte, seinen Atem verbrannte und alles innerhalb des LKW-Cockpits zu einem Klumpen aus Eindrücken verschmolz. Er sah eine Kirche durch die Windschutzscheibe auf sich zurasen, spürte die Kollision mit dem Gemäuer bis ins Knochenmark, hörte Steine auf die Karosserie scheppern, roch Benzin von der Ladefläche hereinströmen. Und schmeckte Blut. Doch Mello reagierte längst nicht mehr, hing bloß wie eine leere Hülle auf dem Lenkrad, während seine Lider sanken und die Welt um ihn herum schwärzten. Erst schwanden seine Sinne, dann sein Puls.  Bubumm. Herzschläge verhallten wie Paukenschläge nach einer Parade. Bubumm.  Mello war so weit gegangen, um den letzten Beweis zu sammeln - einen Namen, der benötigt wurde. Bubumm.  Ob 'Mihael Keehl' Kira überführte? Bubumm. Er würde es nie erfahren, denn sein Weg endete hier. Bubumm. Jetzt. "Vergiss es!", zischte es wie eine Giftschlange im Schutz der Finsternis. Mello sah sie nicht, wurde aber von ihr gepackt und mitgerissen. Worte bissen in seine Bewusstlosigkeit, ohne erfasst zu werden. Sein Geist wandelte zwischen 'Sein' und 'Gewesen' - auf der Grenze von Leben und Tod, schwankte von der Seite, auf der man ihn mit hektischen Silben beschwor, zu jener, die mit Stille lockte, Schweigen, Dunkelheit und ewigem Vergessen. Ruhe, die Mello nie gekannt hatte, hüllte sich wie ein Mantel um seinen Körper, der genau das brauchte. Ruhe. Sie würde alles von ihm fernhalten, bis es bloß noch eines gab: Das Nichts. "... eibst hier!" Erneut vergiftete das Zischen die Stille. Lauter als zuvor, energischer und so wütend, dass Mellos Finsternis pulsierte.  Bubumm. "... gehst nicht, verstanden?" Mello verstand nur, dass er weder ging, noch dazu in der Lage war, sich überhaupt zu regen. Sein Körper war annähernd so leblos wie es sich für einen Toten gehörte, dessen Ruhe man nicht ständig störte. Warum ignorierte die nervige Stimme seinen Wunsch, den Ort erreichen zu wollen, an dem man Frieden fand? Fernab von dieser Welt; von dieser Zeit. Denn hier und jetzt wartete eh niemand auf ihn. Die Hölle auf Erden hielt nichts für ihn bereit, außer der Kälte, die sich plötzlich um ihn legte, und der Härte, über die man ihn schleifte. Wärme und Geborgenheit hingegen existierten einzig in Mellos Erinnerung, seit sie ihm nach und nach genommen worden waren. Zusammen mit Matt, L und M - "Vorsicht!" "Bleib weg!" Krach erstickte die Stimmen. Ein Rumsen wie platzendes Metall, gefolgt vom Rauschen einer Feuerwelle, die Mellos Finsternis für einen Sekundenbruchteil überschwappte, und dem Prasseln von Schutt und Staub. Ob im Leben oder im Tod - was soeben geschehen war, erkannte Mello, da er es schon einmal am eigenen Leib erfahren hatte. Eine Explosion. Zwar schwächer als jene, die er einst selbst auslösen musste, um aus dem Mafiaversteck zu entkommen, aber dennoch gewaltig genug, sodass sie die gleichen Empfindungen wachrief. Wie damals loderte in Mello keine Angst, sondern bloß die Überzeugung, dass - egal was passierte - alles nur noch besser werden konnte. Allerdings erlosch der Hoffnungsschimmer sofort, als Mello erneut in Dunkelheit abtauchte. Über ihm lauerte ein Schatten, der Schutt, Staub und wärmendes Feuer fernhielt. "Ist alles in Ordnung?", echote es monoton im Hintergrund. Die Stimmen kehrten zurück, doch lediglich ein Ausruf erreichte Mello. "Scheiße ..." Er lauschte dem Zorn wie einem beruhigenden Singsang, während er sich auf dem Fluss in Richtung Unterwelt treiben ließ. Mello war müde und wollte einschlafen, um von dem Leben wegzukommen, dessen Sinn er sowieso nicht mehr kannte, hin zu einer Freiheit, die ihm der Tod bot. Freiheit und vielleicht das Glück, auf der anderen Seite wieder ... "Nein nein nein", keifte es über ihm und schwemmte Mello zurück ins Hier. Freiheit und Glück versanken, ehe Mello sie erreichen konnte. War ihm denn tatsächlich nichts vergönnt? Noch nicht einmal diese eine, einfache Sache? Sterben. Heftiger als die Erkenntnis traf ihn der Schmerz, der ihn sogar noch weiter vom ersehnten Ziel fortriss. Stechen und Brennen attackierten seine Brust, als hätte man Mello mit einer Nadel erdolcht, um ihn ans Diesseits zu pinnen. Mello ertrug es nicht länger. Weder die Stimme, die ihn festhielt, noch den Schmerz. Beides wollte er abschütteln, sich dagegen wehren, schreien, blieb aber stumm. Kein Laut entwich ihm. Nichts verließ seinen Körper. Noch nicht einmal das Leben. Gestraft wurde seine Unfähigkeit von einem zweiten Stich in den Brustkorb und wiederholtem Druck, der scheinbar rhythmisch seine Rippen brechen sollte. Warum tat man ihm das an? Hatte er denn nicht schon genug gelitten? Bilder aus längst vergangenen Zeiten blitzen vor seinen verschlossenen Augen auf. Sie zeigten Leichen - aber auch seine Jugend, Ausgelassenheit, Spaß und Freunde. "Lächelst du etwa, du Idiot?" Lächelte er? Bestimmt nicht. Mello lächelte nie! Oder? Trotzdem zupfte etwas an seinen Mundwinkeln, bis sich seine Lippen voneinander lösten und frische Luft vorbei ließen. Erst eine Briese, dann einen Windzug und plötzlich einen Sturm. Wie ein Orkan raste Sauerstoff in seine Lungenflügel, blähte sie auf und ... "Endlich." ... zwang ihn zum Atmen. Mello keuchte. Sein Oberkörper bäumte sich so weit auf, dass die Lederweste knirschte, bevor er wieder zusammensackte und auf hartem Grund liegen blieb. Beton schabte an seinen Schulterblättern, während sich Leben in ihn pumpte, obwohl Mello nur Platz für den Tod gelassen hatte. Er fühlte sich, als würde er in einen Albtraum hinein erwachen. Die ersehnte Ruhe war endgültig fort. Dafür wütete in ihm ein Chaos, das er nicht beherrschen konnte, weil es von Atemzug zu Atemzug von Schmerzen angefeuert wurde, die sich von den Fingerspitzen zu den Zehen durch seine Gliedmaßen brannten. Zudem loderte ein Feuer, welches die Stimme mit ihrem unverständlichen Gefasel immer weiter entfachte. Mello verstand kein Wort, doch Freude hörte er heraus. Wer war so verdammt grausam, sich am Leid eines Menschen zu laben, der es fast geschafft hatte, diese verfluchte Welt hinter sich zu lassen? Mello war dem ewigen Nichts nahe gewesen! Und jetzt? Jetzt war da nicht Nichts, sondern Etwas. Wut auf sich selbst, da er nicht rechtzeitig krepiert war. Ärger auf jene, die längst im Jenseits hockten und dort vermutlich Matts Willkommensparty feierten. Und blanker Hass auf die Tyrannen, die ihn im Diesseits fesselten, weil sie schlichtweg nicht kapierten, wie erlösend ein Herzstillstand war.  Zorn pochte in Mellos Brust wie Hammerschläge auf eine Mauer und betäubte jeglichen physischen Schmerz. Leiden konnte er zu einem späteren Zeitpunkt, sobald es ihm gelungen war, die Unbekannten leiden zu lassen. Vor allem die giftende Stimme sollte begreifen, was Qual bedeutete, da sie einfach nicht aufhörte, ihn mit Gelaber zu belästigen, von dem kaum ein Bruchteil in seine Bewusstlosigkeit vordrang. Mello wollte hören, was sie sagte, und wollte sehen, wie sie auf seine Antworten reagierte, wollte dabei ihre Angst vor ihm wittern, statt ... ja, was roch er gerade eigentlich? Den Duft einer geschnittenen Wiese? Im Morgentau? Oder woher kam der Tropfen, der auf seine Lippen perlte? Und wieso schmeckte der salzig? Mellos Sinne kehrten allmählich zurück. "Wir sollten uns beeilen. Da kommt jemand", hörte er ein monotones Brummen. "Aber..." "Bringen wir ihn nachhause." "Er ist noch zu schwach..." Abrupt versagte sein Gehör, als man ihn bewegte und vom Beton auf etwas weicherem bettete. Bei den Unbekannten handelte es sich also nicht bloß um Unruhestifter, sondern um Entführer, die ihn jetzt über unebenes Gelände transportierten. Mello lag und schaukelte zugleich, während ihm bewusst wurde, wie man ihn zuvor betitelt hatte. Er war schwach? Wie konnte diese verdammte Stimme es wagen? Sein Ego überholte den rasenden Puls, schoss hinter seine Lider und riss sie endlich auf. Licht stach in seine Netzhaut wie Nadeln, die ihn erneut in Schwärze einnähen wollten, doch Mello blinzelte sie weg, um zumindest so lang klar zu bleiben, bis er seinem Hass auf die Nervensäge Ausdruck verliehen hätte. Aufgestauter Frust sammelte sich in seinem Blick und zielte auf den Kopf, der sich über seinem befand. Gleich würde jemand in Angst ausbrechen, panisch zurückweichen und ... Mello war tot. Er wusste es, als er in ein Gemisch aus Blau und Grün starrte, welches seit fünf Jahren, elf Monaten und zwölf Tagen nicht mehr im Diesseits existierte. Feige hatte es sich ins Jenseits gestürzt. In einen Abgrund, in den auch Mello fallen musste. Um frei zu sein. Um wieder er selbst zu sein. Und ... um vielleicht aufgefangen zu werden. Es war soweit. Mello schloss die Augen, ließ endgültig los und sackte in die Finsternis. Kapitel 2: Anderes: _____ ------------------------- "Verdammt, Matsuda! Was ist denn heute nur mit Ihnen los?", knurrte Mogi, während er versuchte wichtige Kira-Akten vom Tisch der Ermittlungszentrale zu retten. Mineralwasser flutete die gesamte Holzplatte und schwemmte einzelne Dokumente davon. Doch Mogi wühlte sich wie ein Schaufelraddampfer durchs Chaos und schnappte Papierstapel, von denen einige knisternd, andere platschend auf dem Boden der Zentrale landeten. Weit entfernt vom sprudelnden Nass und demjenigen, der die Getränke umgestoßen hatte.   Statt seinem Kollegen zu helfen, hob Matsuda entschuldigend die Hände und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Flaschen aneinander kullerten.  "Es tut mir leid", versuchte er die Lage mit einem müden Lächeln zu beruhigen, das kaum an sein sonst überschwängliches Auftreten erinnerte, "wirklich, wirklich leid."   L betrachtete die Szene aus dem Augenwinkel, analysierte das Geschehen und stellte fest, dass es keine Bedeutung für ihn hatte. Daher widmete er sich wieder den Datensätzen, die vor ihm über den Monitor huschten.   "Ich bin heute irgendwie nicht ganz auf der Höhe", murmelte Matsuda und ließ das Lächeln endgültig fallen. Seine Stimme erhob sich zu einem Seufzen, das durch den Raum hallte. "Seit dem Vorfall vorgestern, da ..."   "Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben Angst", fiel Mogi ihm ins Wort. "Immerhin haben Sie sich selbst in diese missliche Lage gebracht! Sollten Sie also nicht eher glücklich sein, dass Sie lebend von diesem Balkon entkommen konnten?"   "Das ist es ja!"   Matsudas Ausruf lockte Ls Neugier nun doch hervor. Mit gespitzten Ohren und einem Daumen zwischen seinen Lippen wandte er sich den Polizisten zu.   "Ich meine", fuhr Matsuda ruhiger fort, fasste sich ins Haar und erklärte: "dass wir alle in großer Gefahr sind, weiß ich ja. Und das bringt mich auch sicher nicht davon ab, Kira überführen zu wollen, aber ... " Sein Kinn sackte auf die Brust. "... bis gestern war mir irgendwie nicht klar, wie schnell alles vorbei sein kann. In einem Moment steht man auf einem Balkon und im nächsten liegt man auf der Straße." Er seufzte erneut. "Da kommt man einfach ins Grübeln. Über sein bisheriges Leben, seine Mitmenschen, verpasste Gelegenheiten ..."   "Matsuda", vernahm L eine weitere Stimme. Unterstützt vom Klirren einer Metallkette, zwang diese jegliche Aufmerksamkeit auf sich. "Uns ist allen bewusst, wie knapp Sie aus dieser Sache herausgekommen sind. Zudem ist es vollkommen verständlich, dass Sie sich im Nachhinein Gedanken über Ihr Leben machen, nur ..."   Während die Worte in einer Kombination aus Verständnis und Missbilligung gesprochen wurden, strich ihr Redner den Stoff seiner Hose auf überschlagenen Beinen glatt.    L lugte zu Light.   "... bedenken Sie bitte, dass Sie Ihre Ängste hinter die Bedürfnisse dieser Taskforce stellen müssen. Wenn Sie unachtsam werden, oder sich sogar noch einmal derart unvorbereitet einmischen, riskieren Sie unsere Ermittlungen."   "Wie man sieht", knurrte Mogi und unterbrach damit kurzzeitig seinen Versuch ein durchtränktes Blatt Papier trocken zu pusten. Nach einem tiefen Atemzug machte er weiter.   "Es tut mir wirklich leid", verneigte Matsuda sich demütig, "ich reiße mich jetzt zusammen. Ganz sicher sogar! Glauben Sie mir bit-" Brechendes Glas schnitt ihm die Worte ab, als eine Wasserflasche vom Tisch auf die Fliesen schepperte. "Oh blöder Mist", verfluchte er die Scherben zu seinen Füßen. Ruckartig richtete er sich auf, bis er Mogi Auge in Auge gegenüberstand, um ihm wie ein Mädchen zuzukreischen: "Das tut mir auch leid. Mir tut alles leid! Ich hole sofort einen Besen." Quietschende Sohlen trugen ihn aus der Zentrale.   Mogi sah ihm nach und stöhnte auf. "Ich begleite ihn lieber." Seine Miene spiegelte erst den Ausdruck einer ausgelaugten Mutter, dann den Tadel eines Vaters wider. "Bei seiner momentanen Stimmung würde es mich nicht wundern, wenn er das Gebäude einreißt." Schnellen Schrittes folgte er seinem Kollegen durch die Tür, welche kurz darauf in den Rahmen klickte und die letzten beiden Anwesenden vom drohenden Chaos abschirmte.   "Gewiss täte es ihm aber leid", meinte L monoton wie eh und je, als er sich zum Bildschirm umwandte.   "Erstaunlich, dass dir deine spitzen Bemerkungen bisher nicht die Zunge abgeschnitten haben", schnaufte Light und widmete sich ebenfalls wieder den Ermittlungen.    ~   "Eine abgetrennte Zunge ziehe ich grundsätzlich einer gespaltenen vor", erklärte L auf dem Weg zu den Schlafgemächern. Nackte Füße schlurften über die Flurteppiche, dicht gefolgt von Lederhalbschuhen.   Light blieb stehen. "Wie bitte?" Kettenglieder klimperten, als er einfach weiter gezogen wurde, um die letzten Meter bis zu der Tür zu überwinden, hinter der sich ihre gemeinsame Unterkunft befand.    Aus den Tiefen seiner Jeans zupfte L die Schlüsselkarte, hielt sie vor den Scanner und steckte sie zurück. Sofort klackte das Schloss, was Light als Signal nutzte, um sich an seinem Mitbewohner vorbei ins Zimmer zu schieben.    L notierte dieses Verhalten mental auf der Liste der Eigenschaften, die er Kira zutraute, und konzentrierte sich anschließend auf das aktuelle Gesprächsthema. "Du meintest, meine Bemerkung bezüglich Matsuda sei derart spitz gewesen, dass meine Zunge Gefahr laufen könnte, abgetrennt zu werden. Daher sagte ich gerade -"   Lights erhobene Hand stoppte ihn. "Das war vor", spähte er auf die Uhr an der Längsseite des Raums, "drei Stunden."   Dass Tageszeiten für L keine Rolle spielten, verdeutlichte er mit dem Zucken seiner Schultern. "Die Ermittlungen hatten Vorrang und sollten nicht aufgrund einer zwecklosen Unterhaltung verzögert werden."   Die Tür klappte zu und Lights Unterkiefer für einen Sekundenbruchteil nach unten. Mit einem kraftlosen Kopfschütteln rückte er ihn wieder zurecht, als er vollends das Schlafzimmer betrat.   Ls Aufmerksamkeit folgte ihm und suchte bei jedem Schritt nach einer Regung, die den Verdacht gegen Light erhärten konnte. Seit Wochen lauerte er wie ein Schatten hinter ihm, doch bisher hatte sich noch nicht einmal das kleinste Indiz abgezeichnet, aus dem sich schließen ließ, dass Light Kira war - oder zumindest einst gewesen ist. Trotzdem hegte L keinerlei Zweifel an seiner Theorie, wenngleich sich ihm der Zusammenhang zwischen einem begabten Studenten und dem gefürchteten Massenmörder nicht offenbarte. Er überlegte zum wiederholten Mal, welches Detail ihm entging, während er einen Daumen an die Oberlippe schob und darüber hinweg seinen derzeitigen Zimmergenossen fixierte.    Light zog sich die Krawatte vom Hals. "Ryuzaki", schluckte er ein Gähnen herunter, "da ich im Gegensatz zu dir noch einen einigermaßen regulären Biorhythmus besitze, würde ich allmählich gern schlafen gehen." Er winkte mit der Kette, deren Klirren das Schlafzimmer flutete.   Automatisiert fischte L den Schlüssel aus seiner Hosentasche und trat damit an seinen Hauptverdächtigen heran, der wie gewohnt seinen Arm ausstreckte und darauf wartete kurzzeitig von der Fessel erlöst zu werden. Zwei mal täglich nutzte er Gelegenheit, um sein Handgelenk zu massieren, während L sie seinerseits nutzte, ihn dabei genau im Auge zu behalten, obwohl er längst begriffen hatte, dass das Reiben einiger Finger an einem Handgelenk keine Menschen tötete. Routine begleitete sie durch Lights Feierabende, die aus nichts anderem bestanden, als sich aufs Schlafen vorzubereiten. L hingegen gönnte sich seit Jahren noch nicht einmal das.   "Wirst du vom ständigen Beobachten niemals müde?", murrte Light, ehe er sein Jacket auszog und es samt der Krawatte auf einen Bügel in den Kleiderschrank neben der Zimmertür hängte. Unter strengster Aufsicht nahm er einen Pyjama aus dem obersten Schrankfach, schlüpfte anschließend aus seinen Schuhen und platzierte sie akkurat im untersten Fach. Satin raschelte zwischen seinen Fingern, als er L einen Seitenblick zuwarf.  "Ryuzaki", schnaufte er und zerknitterte den Pyjama in der Faust, "ist es wirklich notwendig, auch jetzt jede meiner Bewegungen zu studieren? Im Laufe der letzten Wochen sollte dir doch bereits aufgefallen sein, welchem Ablauf ich Abend um Abend folge, daher dürfte es gewiss möglich sein, mich ab sofort dabei weitestgehend in Ruhe zu lassen."   L sah von Lights verkrampfter Hand in dessen bemüht entspannte Miene. "Falls du glaubst, mir läge etwas daran, dir beim Umziehen zuzusehen, muss ich dich enttäuschen", erklärte er emotionslos. "Dies dient einzig meiner Sicherheit."   "Denkst du allen Ernstes, ich könnte dich töten, während ich mir den Pyjama anziehe?", gab Light in einem Ton zurück, den L irgendwo zwischen Sarkasmus und Verzweiflung einordnete.   "Ich denke, Kira würde es versuchen, ja."   "Ich bin aber nicht Kira!" Nun war Lights Stimmlage unschwer einzuschätzen. Wut schoss in seine Worte und in seinen Arm, mit dem er die Schranktür zuknallte, um anschließend mit dem Echo durch den Raum zu stürmen. Vor dem Bett blieb er stehen wie vor einer imaginären Wand. Sein Blick glitt ins Leere, der Pyjama aus seiner Hand auf die Matratze.    L fragte sich, welcher Gedanke Light davon ablenkte, den allabendlichen Disput fortzuführen, der üblicherweise erst endete, sobald er sich schlafen legte. Heute jedoch schienen ihn Ls Anschuldigungen bloß halbherzig zu belasten, während ihn etwas bewegte, das seine motorischen Fähigkeiten einschränkte. Mit bebenden Fingern fummelte er an seinen Hemdknöpfen und brauchte zum Umziehen bedeutend länger als sonst. Darauf, seine Kleidung sorgsam auf dem Bett zu falten, verzichtete er und ließ das Hemd sogar einfach zu Boden fallen, wo es von L gemustert, dann aber umgehend ignoriert wurde. Ihn interessierte kein zerknitterter Stoff, sondern, was hinter Lights gekräuselter Stirn vor sich ging. Allerdings würde er ihn nicht auffordern sich dazu zu äußern, da Light eh ausweichen würde, sollte er darüber nicht sprechen wollen. Doch daran hegte L Zweifel. Lights angespannter Körper schrie regelrecht danach, endlich etwas sagen zu dürfen, wenngleich ausgerechnet seine Lippen zu einer Grenzlinie verschmolzen waren, über die kein Wort flüchtete. Wie lang man einem inneren Zwist standhalten konnte, wusste L nicht zu sagen, also schwieg er ebenfalls, um Lights Kampf gegen sich selbst nicht zu stören, aus dem früher oder später ein Sieger hervortreten musste. Reden oder Schweigen.    L erlaubte seinen Lidern einen Wimpernschlag, bevor er sein Gegenüber erneut fixierte. Der entblößte Oberkörper stach ihm ins Auge und zwang L ein Zitat auf, welches sich häufig in seinen Gedanken manifestierte, sobald er über seinen Hauptverdächtigen sinnierte. "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust". Light, der sich bereits zu Beginn ihrer Bekanntschaft als möglicher Kira herausgestellt hatte, - und ein anderer Light, dessen Persönlichkeit erst im Laufe einer selbstauferlegten Gefangenschaft hervorgetreten war. Nur welcher von ihnen war der, der letztendlich über die menschliche Hülle herrschen würde?   "Ryuzaki?", überwand Light sich zögerlich, nachdem er in den Pyjama geschlüpft war. Routine kehrte zurück, indem er L ein Handgelenk entgegenstreckte, um die gewohnte Fessel angelegt zu bekommen.    Metall klackte. "Ja, Light?"   "Ich weiß zwar, dass ich Matsuda vorhin zurechtgewiesen habe, aber, um ehrlich zu sein, gehen mir seine Worte seitdem nicht aus dem Kopf." Er wich Ls eindringlichem Blick aus und stieg ins Bett, drapierte die Kette über der Decke und fuhr mit dem Finger ihre Glieder nach, als könne er seine Gedanken dadurch aneinanderreihen. "Er hat seine eigene Sterblichkeit leibhaftig vor Augen geführt bekommen und, wenn ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass ich dies bisher wie er ebenfalls ausgeblendet habe. Natürlich war mir von Anfang an klar, worauf wir uns alle einlassen, doch jetzt fühlt sich alles so real an."   "Fürchtest du deinen Tod?" L verzichtete darauf, Mitleid vorzuheucheln, da Light diese Verhörmethode eh durchschaut und anschließend abgeblockt hätte. Ob es ihm gelungen war, auch das Erstaunen aus seiner Stimme fernzuhalten, wusste L jedoch nicht. Lights Offenheit wunderte ihn und schürte zugleich sein Misstrauen.   "Es geht dabei nicht wirklich um mich", senkte Light langsam den Kopf und wirkte dabei aufrichtiger denn je. "Ich dachte eher an meinen Vater. Letztendlich ist er in seinem Herzen noch Polizist und würde sich sicher jederzeit in Gefahr begeben, wenn es darum ginge Kiras Spuren zu verfolgen."   Würde Kira Sorge um seine eigene Familie zeigen, fragte L sich. Oder würden sie ihm als Mittel zum Zweck dienen? Ja, kalkulierte er. Aber wie stand es um Light? Versuchte er seinerseits Mitleid zu erwecken, um den Verdacht, ein Massenmörder zu sein, von sich zu schieben? Sollte er nicht allmählich verstanden haben, dass L sich von keinerlei Emotionen beeinflussen ließ? Rationales Denken hatte Vorrang. "Deinem Vater sowie allen anderen Ermittlern war die Gefahr von Anfang an bewusst. Sie haben ihre Leben in die Waagschale gelegt. Auch Matsuda. Dass ihm das Ausmaß seiner Entscheidung erst jetzt einleuchtet, sollte dich dabei genauso wenig überraschen wie mich."   "Und du solltest nicht so abfällig reden, Ryuzaki." In Lights Augen erlosch etwas, ehe L es deuten konnte. Eine zweite Chance bot ihm der Student auch nicht, da er sein Gesicht bereits halb mit der Bettdecke verhüllte, und seine Stimme durch die Daunen verzerrte. "Immerhin hat Matsuda vorgestern seinen eigenen Tod mit ansehen müssen. Die falsche Leiche auf der Straße ... Das ist wahrlich kein Anblick, den man häufig ertragen muss, oder?"   "Ich weise darauf hin, dass dieser Anblick Matsuda letztendlich gerettet hat." Ls eigene Stimme wurde von Unverständnis verzerrt. Falls Light auf Mitleid für diesen voreiligen Polizisten plädiert hatte, war er kläglich gescheitert.   Aus den Daunen drang ein dumpfes Seufzen. "In dem Punkt hast du recht, Ryuzaki", meinte Light, "nur vergisst du dabei, dass manche Menschen so sensibel sind, dass sie kaum die Vorstellung, die eigene Leiche sehen zu müssen, ertragen. Einige verkraften noch nicht einmal den Gedanken an ihren Tod. Und Matsuda zählt definitiv zu den emotionalsten Personen, denen ich jemals begegnet bin, also wird der Vorfall auf dem Balkon zumindest kleine Spuren bei ihm hinterlassen. Möglicherweise fühlt er sich demnächst durch alles und jeden an seine Sterblichkeit erinnert, was wir natürlich unterbinden müssen, aber nicht verurteilen dürfen."   "Deine Empathie rühmt dich, Light." L bemühte sich weder, den passenden Unterton in seine Aussage zu legen, noch darum, das Gespräch fortzusetzen. Es schien ihm so nutzlos wie der Versuch, Lights Mimik unter der Bettdecke lesen zu wollen. Daher wandte er sich ab und ließ seinen Blick in die Richtung der Fensterfront schweifen.    "Das hat nichts mit Empathie zu tun, Ryuzaki", murmelte Light in den Kissenbezug. "Da gehört immerhin nicht viel zu, sich in Matsudas Lage hineinzuversetzen. Und, wenn ich meinen Vater und die anderen Ermittler richtig einschätze, spukt ihnen das Thema momentan gewiss ebenfalls durch die Köpfe. Also beschäftigt es nicht bloß mich, sondern jeden von uns. Nun ja", gähnte er, "dich wohl eher weniger, nach deinen Aussagen zu urteilen. Wobei mich das nicht sonderlich wundert. Was interessieren dich schon die Sorgen normaler, fühlender Menschen, hm?"   Lights letzte Worte drückten wie Ziegelsteine auf Ls Schultern, obwohl er angenommen hatte, eine ausreichend hohe Mauer gegen solche Vorwürfe errichtet zu haben. Dass dem nicht so war, spürte er in jedem Wirbel, der seinen Rücken krümmte, in jedem überspannten Muskel und jedem Gefäß, durch das sein Blut lautstark pulsierte. Er tastete nach dem Pochen seiner Halsschlagader und zwang sich zu konstanten Atemzügen, während er sich auf die nächtliche Skyline vor dem Fenster konzentrierte. Tokios bunte Lichter schafften es sogar bis ins oberste Stockwerk des Ermittlungsgebäudes, brachen durch die Glasscheiben und teilten sich in unzählige, feine Strahlen, die wie Fäden im Wind an den Wänden entlang schwebten. Ls Puls beruhigte sich so weit, dass er ihn nicht mehr hören konnte und schließlich vollends von Lights leisem Schnarchen übertönt wurde.    ~   Light lag falsch. Sein Körper war mit der Daunendecke zu einem Knäuel verschmolzen, aus dem die Kette so knapp herausguckte, dass L wie jeden Abend dazu genötigt war, seiner Arbeit vom Bett aus nachzugehen. Er lehnte am Kopfende, hatte die Beine angezogen und balancierte seinen Laptop auf den Knien. Tastenanschläge klackerten durchs Schlafzimmer und gaben den Takt für ein melodisches Schnarchen, zu dem gewiss nur Japans Musterstudent fähig war.    L hörte nicht zu. In seinem Kopf schwirrten Wortfetzen, von denen er schon nicht mehr sagen konnte, wie oft er sie mental Revue passieren lassen hatte. Lights Stimme echote: "Möglicherweise fühlt er sich demnächst durch alles und jeden an seine Sterblichkeit erinnert."   Mit einem Klick wechselte L von der Yotsuba-Akte, die er hatte lesen wollen, zu den eMails, die von Watari vorab nach Priorität sortiert und auf den geschützten Server weitergeleitet worden waren. Anfragen an Deneuve waren in blau unterlegt, die für Coil bestimmten in gelb. L überflog sie und schickte sie mit knappen Vermerken an Watari zurück, der sich zu gegebener Zeit um die Beantwortung der eMails kümmern sollte. Anschließend öffnete L die grün markierte Nachricht von Roger Ruvie und kam nicht umhin, über seinen für ihn typischen Telegrammstil zu schmunzeln. Roger war definitiv kein Freund des elektronischen Schriftverkehrs. "Ns Erfolgsquote unverändert Hundert Prozent. M erwartet Entscheidung. Angeordnete psychologische Betreuung der Bewohner erfolgreich initiiert. Gestiegene Fähigkeiten bei Li, Ma und Ro festgestellt."   L nickte und entschied, sich vom Wammy's House vorläufig fernzuhalten, um Linda, einem Mädchen, dessen Portraits längst mit der Qualität von Fotografien konkurrierten, aus dem Weg zu gehen. Denn, wenngleich niemand wusste, um wen es sich bei dem Fremden handelte, der ein Mal im Jahr durch das Waisenhaus streifte, musste vermieden werden, dass Linda sich sein Gesicht einprägte. Ihr Talent entsprach momentan einem Fluch. Bedauerlich, dachte L, als er die Nachricht schloss. Er hatte die kurzen Besuche stets genossen, während derer er sich einen Überblick über die Entwicklung der Kinder verschaffen konnte. Zudem war es ihm eine willkommene Abwechslung gewesen, zu rätseln, welche Lebenswege die Waisen einschlagen würden. Immerhin gab es nur einen Nachfolger unter ihnen. Die anderen erwartete eine Zukunft, die sie selbst bestimmen durften. L erinnerte sich an einen brünetten Jungen namens Stanley, dem er vor zwei Jahren begegnet war. Stanley belegte bis dahin den dritten Platz der Nachfolger und hätte mit etwas Mühe vermutlich um den zweiten Platz konkurrieren können, wenn er sich nicht spontan entschieden hätte, Konditor zu werden. Seither war er laut Rogers Aussage hauptsächlich in der Küche anzutreffen, und jeder akzeptierte das. Allen voran L, was er aber nicht mit der Aussicht auf Süßigkeiten begründete, sondern mit A. Denn niemals wieder sollte sich ein Wammy so sehr unter Druck gesetzt fühlen wie dieses Kind, dessen Selbstmord schon damals Grund genug hätte sein sollen, die Waisen ständig unter psychologischer Betreuung zu halten. L bereute seine verspätete Anordnung seit nunmehr sieben Monaten. Wäre sie früher umgesetzt worden, hätte sie vielleicht einen weiteren Selbstmord verhindert.   Nach einem tiefen Atemzug zwang L seine Aufmerksamkeit zurück zu Stanley, dessen Talent nicht nur im Backen lag, sondern offenbar auch darin, die Vorlieben von ihm unbekannten Personen zu erahnen. Ls Hand folgte dem Gedankengang und wanderte zur Schublade des Nachttischs, aus der sie eine weiße Schachtel mit blauer Samtschleife beförderte. Lautlos segelte das Band zu Boden, ehe L den Deckel hob, um den Inhalt der Schachtel zu inspizieren. Handgefertigte Pralinen waren darin auf transparenten Papier gebettet und lockten mit Kakaoduft, dem L nicht widerstand. Er fischte die erste Praline zwischen Daumen und Zeigefinger heraus und brachte sie ohne Umwege in seinen Mund. Sofort entfaltete sich ein Geschmackserlebnis, dem selbst Ls zuckergewohnte Zunge Hochgenuss bescherte. Erstaunlich, dachte L, dass Stanley ausgerechnet ihm die Pralinen zukommen ließ, obwohl er nicht wissen konnte, wie häufig er Süßigkeiten vertilgte. Womöglich war das detektivische Gespür des Jungen ausgeprägter als erwartet. Vielleicht handelte es sich auch nur um Zufall. L konnte es nicht beurteilen, schätzte die Pralinen aber definitiv als freundliche Geste, von einem Jugendlichen, der L eine Freude hatte machen wollen.   Der ersten Schokoladenkugel schloss sich eine weitere an und landete zwischen Ls Lippen. Vollmilch schmolz, während er unwillkürlich an den Jungen denken musste, dem diese gewiss ebenfalls zusagen würden. Mello teilte Ls Geschmacksnerv, wenn es um Schokolade ging, aber - im Gegensatz zu Stanley - teilte er auch den Wunsch, ein Detektiv zu sein.  "M erwartet Entscheidung", fiel L Rogers Nachricht ein. Mellos Drängen war nicht ungewöhnlich, hatte jedoch keinen Einfluss. Wer letztendlich Ls Nachfolge antrat, durfte nicht übereilt beschlossen werden, da der Posten mit Konsequenzen behaftet war, die niemand vorab einschätzen konnte. Weder Mello, noch Near wussten, worauf sie sich einließen. Und zwar auf eine Existenz, die es erforderlich machte, einen Nachfolger für sich selbst zu finden.   Zwei Pralinen wanderten in seinen Mund, wurden zerbissen und verschlungen, ehe eine dritte folgte, die gegen die Bitternis in Ls Speiseröhre ankämpfen sollte.   "... an seine Sterblichkeit erinnert", hallte Lights Stimme plötzlich wieder in seinem Kopf, als L begriff, warum ihm diese Aussage zuvor schon keine Ruhe gelassen hatte. Matsuda war nämlich nicht der Einzige, der mit seiner Sterblichkeit konfrontiert worden war. Nur musste L keine Leiche betrachten, um sich darüber klar zu werden, denn sein Sinnbild für Vergänglichkeit zeigte sich in den Kindern, von denen eines irgendwann den Platz des weltbesten Detektiven einnehmen würde. Irgendwann. Oder bald.   Während L die Pralinenschachtel auf den Nachttisch stellte, wanderte sein Blick zu dem schlafenden Mann an seiner Seite. Lights unschuldige Miene ruhte auf einem Kissen, welches die Hälfte seines Gesichts verschwinden ließ und erneut den Vergleich mit einer zwiegespaltenen Persönlichkeit weckte. Unweigerlich drängten sich L die Fragen auf: Falls es nicht gelang, Kira rechtzeitig zum Schafott zu führen, würde es dann tatsächlich Light Yagami sein, der die Notwendigkeit eines Nachfolgers bestätigte?  War ihm sein eigener Mörder derzeit so nah?    Das melodische Schnarchen stoppte, als Light im Tiefschlaf durchatmete. Warme Luft wirbelte gegen Ls Hand und jagte kalte Schauer seinen Arm hinauf. Er rückte beiseite, um den Abstand zu dem zu vergrößern, der ihn möglicherweise töten würde, und, um sich genug Platz zu verschaffen, den L für die mentale Mauer brauchte, hinter der er seine Emotionen verschlossen hielt. Gefühle durften nicht durchbrechen. Sonst würden sie ihn brechen.   L lenkte sich ab, indem er seinen Blick wieder auf den Laptop lenkte. Im Monitor spiegelten sich Augen, die selbst für Ls Verhältnisse ungewöhnlich weit aufgerissen waren, wodurch die Ringe darunter schwarzen Furchen glichen. Er versuchte sie mit Zucker zu füllen, tastete nach den Pralinen und steckte sich drei in Mund, biss, kaute, absorbierte Saccharose, um seinen Verstand gegen Kira zu wappnen, um den Mörder aufzuhalten und um ...   L schluckte.   ... zu überleben - eine Existenz weiterzuführen, die ihn als Wesen bestimmte, dessen Intellekt von wenigen erreicht und von vielen gebraucht wurde. So definierte sich L. L kannte seine Aufgabe.   Seine Finger rauschten über die Tastatur, schlossen das eMail-Postfach und holten die Yotsuba-Akte in den Vordergrund. Der Cursor des Schreibprogramms blinkte in Erwartung der Notizen, die L während seiner Recherchen vermerken wollte, als am unteren Bildschirmrand etwas aufploppte, das Ls Eifer zum Stolpern brachte. Ihm glotzte eine animierte Büroklammer entgegen.   Ls Kopf neigte sich unter ehrlicher Verwunderung von einer Schulter auf die andere, doch - egal aus welchem Winkel er ihn betrachtete - der virtuelle Besucher war nicht aus der Ruhe zu bringen. Einzig seine Kulleraugen blinzelten.   Watari hatte sich mit diesem Programm einen Scherz erlaubt, dachte L.   "Sollst du mir Gesellschaft leisten?" Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten seine Mundwinkel in die Höhe, glitten dann aber wieder hinab, als L sich zwang die Sinnlosigkeit seiner Befragung einzugestehen.   Dennoch antwortete die Büroklammer mit einer Sprechblase.   ( Wie kann ich dir helfen? Möchtest du:) ( - Einen Brief schreiben?                       ) ( - Freunde kontaktieren?                       ) ( - Anderes: ___________________      )     L lugte zu einer der Überwachungskameras über dem Bett und fragte sich, ob Watari ihn dabei filmte, wie er gerade von dieser Spielerei verpönt wurde. Galt es als witzig, L mit solchen Auswahlmöglichkeiten zu konfrontieren? Briefe schreiben? Freunde kontaktieren? Nichts davon war jemals wirklicher Bestandteil seines ... L erwiderte das Blinzeln der Klammer und las die Vorschläge erneut. Sein Verstand riet ihm, sich nicht auf dieses Spiel einzulassen, doch sein Körper stellte sich taub. Mechanisch schwebte Ls Hand über die Tastatur, sein Zeigefinger senkte sich und tippte fünf Buchstaben in das freie Feld, bis sie schließlich ein Wort bildeten: Leben.   Es fühlte sich richtig an, obwohl L wusste, wie falsch es in Anbetracht seiner Aufgabe war, überhaupt darüber nachzudenken. Aber, inmitten seiner emotionalen Mauer, keimte leider ein Wunsch, von dem einzig diese unschuldige Büroklammer erfahren durfte. Ja, L wollte leben. Kapitel 3: Auferstehung ----------------------- Ohne Ankündigung öffnete L die Tür am hintersten Ende des Flurs. Grelles Licht strahlte von den Neonröhren in den Raum, wo es sich zu einem weißen Kegel auf dem sonst dunklen Boden bündelte.  L ignorierte das Schauspiel zu seinen Füßen jedoch. "Watari", forderte er stattdessen die Aufmerksamkeit seines Vertrauten.    Dieser löste seinen Blick von unzähligen Monitoren und wandte sich mitsamt seines Schreibtischstuhls um. Hinter ihm blitzten diverse Bilder der Kameras auf, die alle Räume des Hauptquartiers rund um die Uhr überwachten.    "Ryuzaki", nickte Watari ihm entgegen. Stets bereit Ls Anweisungen anzunehmen und auszuführen.   L wusste um die Ergebenheit seines ältesten Begleiters. Zugleich zweifelte er allerdings an der Zuverlässigkeit einiger Personen, die sich derzeit ebenfalls in dem Gebäude aufhielten. Daher verschloss er erst die Tür hinter sich, bevor er sein Anliegen vortrug. "Ich habe eine Bitte, Watari", kündigte er monoton an, obwohl die gegebene Situation eigentlich eine andere Stimmlage verlangt hätte. "Begründet ist sie in der Tatsache, dass wir uns allmählich der Lösung des Kira-Falls annähern. Meinen Berechnungen zufolge, steigt ab jetzt die Wahrscheinlichkeit eines verfrühten Ablebens auf weit über 93 Prozent."   Wataris Reaktion entsprach genau Ls Einschätzung. Betagte Finger zuckten für den Bruchteil einer Sekunde und widerstanden sichtlich nur schwer dem Drang, sich zu Fäusten zu ballen. Wataris gesamte Körperhaltung zeugte von Anspannung. Er rang um Fassung, die ihm noch vor dem nächsten Wimpernschlag zu entgleiten drohte.   L nutzte den knappen Zeitrahmen und fuhr fort: "Es ist zwar anzunehmen, dass Kira einzig meinen Tod anstreben wird, aber gänzlich kann ich nicht davon ausgehen. Unter Umständen wird er uns sogar beide beseitigen."  Auf kalten Fliesen tapste er durch den Raum. Vor den Monitoren hielt er inne. Sein Blick schweifte darüber, ehe er sich aus den Augenwinkeln auf Watari senkte.  "Meine Bitte bezieht sich auf die eben genannte Eventualität", kam er auf den Grund seines Erscheinens zurück.   L wartete den tiefen Atemzug seines Vertrauten ab, der es diesem scheinbar ermöglichte wieder klare Gedanken zu fassen. "Wie lautet deine Bitte?", wollte Watari wissen, als er sich jetzt ebenfalls wieder den Übertragungen widmete. Unter ihm quietschte der Drehstuhl.   "Nun", setzte L an und zeitgleich einen Daumen zwischen seine Lippen, "sollte dieser Fall eintreten, wünsche ich, dass alle Daten auf unseren Servern gelöscht werden. Kira darf sie unter keinen Umständen erhalten."   "Verstehe", nickte Watari knapp. "Ich werde sofort alle nötigen Maßnahmen treffen, um ein unverzügliches Löschen zu ermöglichen. Ein Knopfdruck wird alles vernichten können." Welche Bedeutung er dem Wort 'sofort' zuschrieb, demonstrierten seine Finger, die bereits präzise über eine Tastatur glitten. Konstantes klackern füllte den Raum.   Zufrieden lauschte L der Umsetzung seiner Bitte, da er in dem Geräusch einen Sieg trotz drohender Niederlage zu sehen glaubte. Einer Niederlage, die zu mehr als 93 Prozent feststand und sich kaum mehr abwehren ließ, wenn L die vergangenen Geschehnisse bedachte. Kira, der gefährlichste Massenmörder der Geschichte, hatte bisher schließlich fast jede Gelegenheit genutzt, um seine Karten zum eigenen Vorteil auszuspielen. Und dass er selbst jetzt noch ein Ass im Ärmel hatte, bezweifelte L nicht. Er war sich sogar absolut sicher, dass Kira erneut mit etwas auftrumpfen würde, das sich mit gesundem Menschenverstand nicht einkalkulieren ließ. Tatsächlich war es sogar L selbst, der ihn dazu treiben würde. Ja, L würde ihre letzte Partie eröffnen. Obwohl nicht einmal sieben Prozent dafür sprachen, dass er sie gewinnen könnte.   Ein Raunen entwich Ls Lippen, ehe sein Daumen es stoppen konnte. Daher biss der Detektiv noch energischer auf seinen Nagel, um weitere Anzeichen von Missmut zu verhindern. Zusätzliche Ablenkung suchte er auf den Monitoren. Der größte von ihnen präsentierte den Hauptraum der Sonderkommission, in dem Light mit den übrigen Ermittlern scheinbar weitere Vorgehen besprach. Dem Studenten war keinerlei Unruhe anzusehen. L fragte sich, ob sich das wohl ändern würde, wenn Light von den Tests erfuhr, die ohne sein Wissen angeordnet worden waren. Vermutlich nicht.   Der Scharade überdrüssig, vergönnte sich L ein Blinzeln. Als er wieder aufsah stach ihm allerdings etwas anderes als sein Hauptverdächtiger ins Auge.  "Watari", forderte er einen Teil von dessen Aufmerksamkeit und lenkte sie auf einen kleineren Monitor, "wie ich sehe, wurde nicht nur das Sicherheitspersonal vor dem Haupteingang aufgestockt." Interessiert starrte er auf eine Szene innerhalb eines Raums im Erdgeschoss. Zwei Männer unterhielten sich dort angeregt mit einer Frau. Sie alle waren in weiß gekleidet, wodurch ihre Silhouetten beinahe mit dem Hintergrund verschmolzen.   Das konstante Klackern stolperte kaum merklich. "Ich hielt es für angebracht, medizinisches Personal bereitzustellen", erklärte Watari, während seine Fingerkuppen zum gewohnten Takt zurückfanden. "Eine reine Vorsichtsmaßnahme."   "Reanimationen nach einer durch Kira provozierten Herzattacke sind wirkungslos", erinnerte L. "Auch andere Todesursachen lassen sich bewiesenermaßen nicht abwenden."   Diesmal stoppte das Klackern gänzlich. "Ryuzaki", sprach Watari sanft, "ich möchte nur nichts unversucht lassen." Sein Blick schweifte auf die drei Fremden. "Jede Option ist es wert, bedacht zu werden."   "Dieser These stimme ich zu", nickte L und entschied, seinem Vertrauten den letzten Strohhalm nicht aus der Hand zu reißen. Obwohl der vermutlich längst verdorrt war.    "Ein Unwetter zieht auf", bemerkte Watari mit einem kurzen Fingerzeig auf den Monitor, der das Dach des Hauptquartiers abbildete. Dichte Wolken formten eine schwarze Wand und raubten dem Himmel das Abendrot.   "Welch passende Kulisse für das heutige Schauspiel." L betrachtete die ersten Tropfen auf der Linse der Überwachungskamera. "Ich werde mir den Regen aus der Nähe ansehen", murmelte er auf dem Weg zur Tür. Mit dem Knauf in der Hand setzte er hinzu: "Sobald das Death Note für die Tests einsatzbereit ist, kann der finale Akt beginnen."   ~   Noch an diesem Abend starben L und Watari an den Folgen eines unnatürlichen Herzinfarkts.   ~   Piep. Ein weit entferntes Echo. Piep. Beharrlich in Finsternis. Piep. Wie ein Tropfen, der immer wieder auf den selben Stein prallte. Piep. Um ihn zu zermürben. Piep. Den Stein zu zerbersten. Piep. Die Finsternis zu zerbrechen.   "Ich glaube, er wach-"   Piep.   "Bin schon d-"   Piep.   Knirschend brach die steinerne Hülle. Doch die Finsternis blieb.   Piep.    Gehüllt in Schwärze lauschte L dem schrillen Ton. Einer Frequenz, die durch seinen Kopf hallte und jeden Gedanken daran hinderte, sich zu etwas Greifbarem zu formen.   Piep.    Einzig seine Finger bekamen etwas zu fassen - kühlen Stoff unter seinen Handflächen.   Piep. Piep.   Fremde Wärme glitt an sein Handgelenk; presste sich an seine Haut.   Piep. Piep. Piep.   "Sein Puls stabilisiert sich", kitzelte eine tiefe Stimme Ls Trommelfell. Es kribbelte wie eingeschlafene Beine, die man zum ersten mal nach langem bewegte.    "Gott sei Dank", seufzte eine weitaus höhere Stimme, ehe sie zittrig nachhakte: "Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?"    Gebannt folgte L einer kurzen Unterhaltung, ohne den Inhalt wirklich verstehen zu können. Etwas habe funktioniert. Rechtzeitig sei etwas aktiviert worden. Ein Tod wäre nicht von langer Dauer gewesen. Ein Tod ...   Ein hämischen Grinsen blitzte in der Finsternis auf. Braune Augen glühten rot.   Piep. Piep. Piep. Piep.   "Doktor! Was ist mit ihm?", schrillte die hohe Stimme   Die Wärme schnellte von seinem Handgelenk hinauf und presste sich über Ls Lider. Abrupt wurden sie auseinander gerissen. Grelles Licht stach in seine rechte Pupille.    "Er kommt zu sich", meinte ein Schatten hinter dem Leuchten. Tief murmelte er: "Erstaunlich. Sein Bewusstsein findet schneller als erwartet zurück."   "Das überrascht mich nicht."   L bestätigte die Fremden, indem er von sich aus die Augen öffnete. Verschwommen waberte eine weiße Zimmerdecke über ihm. Risse rankten um eine Neonröhre.   "Wo -?", krächzte er. Das einzelne Wort zog Furchen in seiner trockenen Kehle, reizte seinen Gaumen und brachte ihn letztendlich zum husten. Kraftlos wandte er sich zur Seite, um seinen Speichelfluss anzuregen, aber sein Körper verwehrte ihm diesen natürlichen Reflex. Stattdessen sackte L auf hellen Laken zusammen.   "Warte", keuchte die hohe Stimme. Sie gehörte zu einem in Weiß gehüllten Arm, der an L vorbei schnellte. Kurz darauf schwebte ein Glas vor ihm. Zusammen mit einem Strohhalm, der sich zwischen seine spröden Lippen schieben wollte. "Trink das", forderte man von ihm, aber trotz der verlockenden Flüssigkeit, widerstand L dem Verlangen sie aufzunehmen. "Sei nicht so misstrauisch. Wenn wir dir was antun wollten, hätten wir das längst getan."    Unbändiger Durst verleitete L dazu, der Aussage Glauben zu schenken. Sein Mund umklammerte das Plastik und sog das gebotene Wasser in sich auf. Kühl spülte es die gröbsten Reste seiner Bewusstlosigkeit davon.   "Geht doch", gluckste es neben ihm. Lauter hörte er dann: "Doktor, er trinkt."   Vor L wellte sich eine vergilbte Wand, bei der es sich, wie er erst nach genauerer Betrachtung erkannte, eigentlich um einen Vorhang handelte. Eifrig rauschte ein Mann mittlerer Alters auf ihn zu. Grau meliertes Haar wippte, als er zufrieden nickte. "Hervorragend." Bekannte Wärme punktierte eine Stelle an Ls Hals. "Du bist bald vollständig auf dem Damm. In ein oder zwei Tagen solltest du dich wieder erholt haben." Er ließ von L ab und widmete sich einem Monitor neben dem Vorhang. Bunte Linien hüpften darauf im Takt eines Herzschlags um die Wette. L verfolgte sie, wobei sein Interesse nicht etwa dem Abbild seines eigenen Zustands galt, sondern dem des Monitors selbst. In Form eines weit gefächerten Netzes zogen sich mehrere Risse über das Glas. Sie erinnerten an das Muster an der Zimmerdecke, was L allmählich zu dem Schluss verführte, dass er sich in keinem hochmodernen Krankenzimmer befand.   "Wo bin ich?", vollendete er endlich seine zuvor begonnene Frage. Dass er sich nicht mehr im Hauptquartier der Sonderkommission aufhielt, war ihm bereits bewusst.   "In dem verlassenen Sanitätshaus", erklärte der Arzt ungerührt, bevor er wieder durch den Vorhang verschwand.    Zittrig legte L einen Daumen zwischen seine Lippen, um seinen Verstand zu gewohnten Leistungen zu animieren. Langsamer als sonst durchforstete er sein Gedächtnis, bis er einen Stadtplan darin fand. Tatsächlich erinnerte er sich an das alte Sanitätshaus hinter dem Quartier. L hatte dem Gebäude nie große Beachtung geschenkt gehabt, weil es bereits vor Jahren zum Abriss freigegeben worden war. Weder Gefahr, noch neugierige Blicke waren von dort aus zu erwarten gewesen. Beide Faktoren hatten seine Entscheidung maßgeblich beeinflusst, die Ermittlungszentrale dort bauen zu lassen, wo sie nun stand.   "Praktischerweise liegen die Tiefgaragen verdammt dicht beieinander", kicherte die zweite anwesende Person.    Um auch dieser ein Gesicht zuordnen zu können, blickte L in ihre Richtung. Die Linien auf dem Monitor stolperten, als L wider erwarten kein menschliches Antlitz entdeckte. Stattdessen grinste ihm eine weiße Hasenmaske entgegen.   "Kein Grund zur Panik", winkte die Gestalt hinter dem Plastik ab, "ich bin doch dein Glückshase."   Panik war es nicht, die in L aufkam, sondern Skepsis, die ihm in Anbetracht der vermummten Person durchaus angemessen erschien. Sobald sich jemand hinter einer Maske versteckte, hatte er etwas zu verbergen. Meist weitaus mehr als nur das Gesicht. Da ihm dieses aber gerade vorenthalten wurde, konzentrierte sich L auf die offensichtlichen körperlichen Merkmale des falschen Hasen. Er war schmächtig und reichte L im direkten Vergleich vielleicht gerade einmal bis zur Brust.    "Du musst mir aber keine Pfote abhacken", unterbrach der Ls Analyse mit demonstrativ wedelnden Händen. Zierliche Finger wirbelten durch die Luft. "Mit den Dingern bin ich bestimmt eine größere Hilfe. Zumindest haben meine Pfötchen bisher nicht geschadet."   L biss in seinen Daumennagel. Abschätzend neigte er den Kopf, während er zu verstehen versuchte, was genau der Hase meinte.    Dieser seufzte. "Na ja, dir haben sie nicht geschadet." Bebende Fingerkuppen zupften am Saum eines Kapuzenpullovers. "Aber das Endergebnis zählt, oder?" Trotz des verhüllten Gesichts, konnte L den fragenden Blick auf sich spüren. "Und da du jetzt lebst, würde ich mal behaupten, dass das Ergebnis positiv ist. Kira hat dich nicht gekillt. Das ist das einzig Wichtige." Kira. Vier Buchstaben schnitten durch Ls Geist wie die Sense des Tods persönlich. Wieder reflektierten braune Augen einen roten Schimmer, der jegliche Menschlichkeit vermissen ließ. L stemmte sich auf. Ein Schwindelgefühl ignorierend, das ihn sofort wieder auf die Matratze drücken wollte. Wackelig schwang er seine Bein von der Bettkante. "Hey, hey, hey!" Kleine Hände zerrten an Ls Kragen und verhinderten so, dass er seine Füße auf den Boden setzen konnte. "Du bleibst schön hier! Doc", brüllte die Maske, "ich brauche Hilfe." Alarmiert riss der Arzt den Vorhang beiseite. Er stürmte auf L zu und bugsierte ihn mit einer geübten Bewegung zurück in eine liegende Position. Alles ging so schnell, dass L erst reagieren konnte, nachdem er die Neonröhre über sich erkannte.  "Lassen Sie mich los", forderte er. Monoton aber dennoch bestimmend. "Ganz ruhig, Junge", mahnte der Doktor. Sein professionelles Lächeln schob sich in Ls Blickfeld, obwohl geweitete Pupillen verrieten, dass dem Mann gewiss nicht nach lächeln zumute war. Anstrengung schimmerte auf einer schweißbenetzten Stirn.  Dem Hasen entging das auch nicht. "Soll ich Unterstützung rufen?", wisperte er. "Nein", schüttelte der Arzt den Kopf, "es geht schon. Die letzten Stunden zehren nur etwas an mir. Ich bin halt nicht mehr der Frischeste." Aus der professionellen Miene wandelte sich eine ehrliche. Gebannt starrte L auf das Schauspiel, während auch sein Ausdruck allmählich neue Züge annahm. Seine Augen verdunkelten sich. Schatten eines jungen Mannes schoben sich in seine Erinnerung. Des Mannes, der erst dann sein wahres Gesicht gezeigt hatte, nachdem L seinetwegen zusammengebrochen war.  "Du hattest die ganze Zeit Recht, denn ich bin Kira!", hatte das dämonische Funkeln in seinen Iris' verraten gehabt. Eindeutig. Zweifellos. Zu 100 Prozent.  "Lassen Sie mich los", wiederholte L seine Forderung. Angespannt wandte er sich unter dem Griff des Arztes. "Ich muss Kira überführen." Seine Entschlossenheit wurde vom beschleunigten Piepen des Monitors untermalt. Bunte Linien rasten. "Auf keinen Fall!", fauchte der Hase. Seine Gestalt baute sich zu einer wenig imposanten Größe auf. "Kira hat dich eben erst umgebracht und würde das garantiert sofort wieder tun, wenn er mitkriegt, dass du noch lebst. Nochmal geben wir dem Penner bestimmt nicht die Chance dazu." L interessierte der Einwand des Maskierten jedoch nicht. Stillschweigend schmetterte er ihn ab und konzentrierte sich stattdessen auf einen möglichen Fluchtweg. Analysierend huschte sein Blick durch das heruntergekommene Zimmer. Abrupt blieb er an einer Regung neben L hängen. Der Vorhang raschelte, während er langsam beiseite glitt. Geführt von einer betagten Hand. "Ryuzaki", hauchte eine Stimme aus einem zweiten Bett. Ihr Klang ließ Ls Lebenslinien erneut hektisch hüpfen. "L, sie hat recht." Trockener Husten schallte durch den Raum und ebbte erst ab, nachdem der Hase ein weiteres Wasserglas an den Patienten gereicht hatte.  Unwissend wie er reagieren sollte, starrte L zu demjenigen, von dem er gedacht hatte, ihn nie wiederzusehen. Kraftlos beobachtete er das bleiche Gesicht; den präzise gestutzten Schnurrbart, unter dem gerade ein Strohhalm eintauchte; und die zittrigen Finger, aus denen kurz darauf das Wasserglas genommen wurde.  "Watari", wisperte L. Sein Vertrauter nickte vorsichtig. "Es freut mich, dich wohlauf zu sehen, L." Ungewohnter Glanz füllte Wataris Augen, den dieser mit fahrigem Bewegungen beiseite wischte. Er seufzte. "Ich weiß, was du denkst, L, aber ich muss dich eindringlich darum bitten, dein Vorhaben zu vergessen. Ich habe bei unser beider Leben geschworen, dass du den Kira-Fall nicht erneut bearbeiten wirst." "Du solltest noch nicht so viel reden", mischte sich der Arzt ein. Er ließ von L ab, um sich seinem anderen Patienten zu widmen. Auch dessen Vitalzeichen prüfte er akribisch, ehe er zufrieden einen Daumen in die Höhe reckte. "Puh", seufzte der Hase, "man, bin ich erleichtert. Doc", salutierte er übertrieben, "wir haben es geschafft."  Der Arzt erwiderte mit steifem Gesichtsausdruck: "Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert." Grinsend schob er sich an den Betten vorbei, um von der Tür aus zu verkünden: "Ich gebe den Anderen Bescheid. Ruf mich, falls es Probleme gibt, Kleines." Mit gezücktem Telefon verließ er den Raum.  L hatte jede der gebotenen Szenen eingehend studiert, ohne tatsächlich Antworten auf seine Fragen zu erlangen. Stattdessen schwirrten unzählige neue Variablen durch seine Gedanken, die L weder bestimmen, noch in seine Gleichung einsetzen konnte. Verwunderung resultierte aus seinen Beobachtungen und wuchs sogar zu purem Erstaunen, als Watari dem Hasen freundlich den Kopf tätschelte. "Danke", bekannte er ehrlich. "Ich weiß gar nicht, was ich sonst sagen könnte." "Jede Option ist es wert, bedacht zu werden", zitierte der Hase eine von Wataris Weisheiten. "Daran musste ich nach unserem Treffen immer wieder denken." Zaghaft strichen kleine Finger über Wataris Bettdecke. "In dem Fall waren meine Freunde und ich wohl diese Option und ich bin echt froh, dass du uns die Chance gegeben hast, unser Glück zu versuchen." "Gibst du dich deshalb als Hase aus?", belächelte Watari die Maske. "Um Glück zu bringen?" "Vielleicht", zuckten schmale Schultern. "Ein Freund hat sie mir geschenkt und irgendwie fand ich es passend, das Ding heute zu tragen." L fand in Wataris Lächeln eines, das ihm selbst häufig gegolten hatte. Verständnis zeichnete sich unter seinem Schnurrbart ab. Ebenso in Wataris Blick, der sich aufmunternd auf den Hasen legte. "Nimm die Maske ab. Du musst deine Emotionen jetzt nicht mehr verstecken. Es hat doch alles geklappt", hauchte er liebevoll. Zögerlich kam die kleine Gestalt der Bitte nach. Sie zerrte das Gummiband von ihrem Kopf, um endlich die Person zu offenbaren, welche L definitiv nicht erwartet hätte. "Du?", staunte er an einem Daumennagel vorbei. Offensiv starrte er in das tränennasse Gesicht eines Mädchens. "Wie ist das möglich?" Rot unterlaufene Augen sahen zurück. Schuldgefühle blitzten in unzähligen Facetten auf, ehe das Kind zu einer annähernd selbstbewussten Miene fand. "Tja", tat sie beiläufig, "nicht nur ihr seid von den Toten auferstanden." Kapitel 4: Haltlos ------------------ Ryuzaki, Eraldo Coil und Deneuve - Pseudonyme, die in der Welt des Verbrechens für Angst und Schrecken gesorgt hatten. Pseudonyme, die einst bedeutend gewesen waren. Pseudonyme, die jetzt nur noch blasse Erinnerungen waren, weil die Persönlichkeiten dahinter offiziell als tot galten. L hatte sie abgelegt und vermisste sie nicht. Brauchte sie nicht. Nicht mehr. Was er jedoch nicht hinter sich lassen konnte, waren alte Gewohnheiten, die ihn auch mit 31 Jahren weiterhin ausmachten. Aber er hatte gelernt sie kurzzeitig beiseite zu schieben. Treffender formuliert: Watari hatte ihm, während unzähliger Übungsstunden, geduldig eingebläut, dass L in gewissen Situationen unmöglich seine markante Haltung einbehalten konnte. Sie würde ihn einschränken, ihm Grenzen setzen wie ein Tempolimit einem vorpreschenden Transporter. Dem Argument stimmte L definitiv zu.   Ungehemmt rammte sein nackter Fuß das Gaspedal ins Bodenblech des Vierzylinders. Der Motor fauchte in den Fahrtwind. Die Karosserie dröhnte. Dichte Staubwolken umnebelten den gesamten Wagen und versifften den weißen Lack. Sand knisterte gegen die Windschutzscheibe.    Konzentriert starrte L, an knirschenden Scheibenwischern vorbei, auf die vorbeirauschende Landstraße. Mit gekrümmtem Rücken kauerte er hinter dem Lenkrad, welches er nur ab und an für gehetzte Gangwechsel aus der Umklammerung entließ, und steuerte das zweckentfremdete Gefährt durch die Ödnis. Tristesse lag auf den umliegenden Feldern, aber auch auf der Straße, die sich durch das hier nur rar gesäte Fleckchen Natur schlängelte. Wie L erwartet hatte, herrschte keinerlei Verkehr. Zumindest nicht auf dem Boden.    Misstrauisch linste er gen Himmel, als über ihm die Rotorblätter eines Helikopters aufblitzten. Das Logo eines landesweiten Nachrichtensenders verschwamm, während der Hubschrauber durch den Luftraum jagte. In eine Richtung, die L gerade mit Höchstgeschwindigkeit hinter sich ließ. Hinter sich und den beiden Passagieren im Laderaum, von denen einer derzeit noch nicht einmal mitbekam, was um ihn herum geschah.   L prüfte den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass alles wie geplant verlief. Tatsächlich erkannte er darin den blonden Schopf des jungen Mannes, der bewusstlos auf einer Trage lag. Der optimalste Zustand in Anbetracht der gegebenen Situation. Wäre der unfreiwillige Mitreisende nämlich erwacht, wäre das Chaos vorprogrammiert gewesen. Daran hegte L keinerlei Zweifel.    Während der improvisierte Krankenwagen weiter über die Landstraße preschte, fixierte L erneut das Spiegelbild über dem Armaturenbrett. Argwöhnisch suchte er die andere unberechenbare Variable in einer Gleichung, die selbst der weltbeste Detektiv vorab nicht lösen konnte. Er fand sie neben der Trage auf dem Boden des Transporters. An der Außenwand lehnte die junge Frau, deren Gedanken L sogar hinter dem rußverschmierten Gesicht lesen konnte. Was er las, gefiel ihm allerdings nicht.   Er bremste. Schotter knallte gegen die Karosserie wie Trommelwirbel vor einem großen Finale. Dieses polterte im Innenraum.   L sah den blonden Zopf der Frau durch die Luft segeln, ehe der dem Rest von ihr folgte und über den Boden fegte. Ächzend schlug sie auf, rutschte über das Metall nach vorn - und schließlich wieder zurück, als Ls Fuß das Gaspedal wieder herunter rammte. Ruckartig schoss der Wagen vorwärts und Wut in die Miene der Ungehaltenen. L widmete sich zufrieden der Straße.   "Bist du bescheuert?", dröhnte Zorn lauter als der Motor. "Hast du mal an die Liege gedacht?"   "Die Bruchlast der Zurrgurte ist vollkommen ausreichend, um ein solches Bremsmanöver abzufangen. Es bestand keinerlei Gefahr für ihn", stellte L ungerührt klar. Natürlich hatte er jedes Risiko kalkuliert gehabt, was seiner Begleiterin wohl jetzt auch einleuchtete.    Erkenntnis glimmte und schürte ihren Ärger. "Dann war das also Absicht, weil du mich", zischte sie, "umnieten wolltest!" Sie schwankte auf L zu, klammerte sich an seine Kopfstütze und lugte daran vorbei. Ihr Blick sprühte Funken.   L betrachtete sie aus dem Augenwinkel. "Welche Intention hätte mich dazu verleiten sollen?", hakte er monoton nach, obwohl er wusste, dass sie wusste, was er wusste.   An Wissen mangelte es ihnen nicht. Trotzdem forderte die Blondine bissig: "Vielleicht, um ein Versprechen zu brechen?"    "Hätte es dafür einen Anlass gegeben?", lenkte L die indirekte Anschuldigung von sich und gleichzeitig seinen Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Er musste den Ausdruck der jungen Frau nicht länger betrachten; spürte er ihren Vorwurf doch sowieso wie Nadeln in seinem Rücken. Stechend musterte sie ihn.  "Ich habe dir zugesagt, dich im Falle einer fehlgeschlagenen Mission nicht aufzuhalten", wehrte L endgültig ab. "Da dem bisher nicht so ist, unterliege ich auch keinem Versprechen dir gegenüber, Lilith", raunte er und unterstrich ihren Namen mit eindeutigem Unverständnis. Dass er kurz davor war, von Blicken erdolcht zu werden, ignorierte L. "Sollte dich hingegen etwas anderes zu deinem Vorhaben verleitet haben, steht mir durchaus das Recht zu, dich auf eventuelle Fehleinschätzungen hinzuweisen." Gegebenenfalls mit einer Vollbremsung.   L prognostizierte zwei mögliche Reaktionen. Entweder würde ihn gleich vehementer Widerspruch treffen oder Einsicht. Ersteres kündigte sich an, als Lilith nach Luft schnappte. Allerdings entschied sie sich dann offensichtlich doch dagegen, behielt daher den angehaltenen Atem in sich und starrte mit aufgeplusterten Wangen beiseite. Erst als das rechte Vorderrad durch ein Schlagloch rumpelte, nahm sie wieder ihre normalen Konturen an. "Wann sind wir da?", eröffnete sie eine dritte Option: Ablenkung.   Vorerst tolerierte L ihre Wahl und antwortete, ohne die Distanz berechnen zu müssen: "Gleich." Sein Zeigefinger schwebte in die Höhe und markierte den Horizont. Hinter einem Hügel zeichnete sich bereits das Hinweisschild am Rand einer kleinen Ortschaft ab. In sicherer Entfernung zur Großstadt erwartete sie dort ihr Ziel.   "Gut", murmelte seine Begleitung. Zähneknirschend lugte sie in den hinteren Teil des Gefährts.   L starrte in den Rückspiegel. "Wie ist sein Zustand?"    "Lädiert aber lebendig", umschrieb Lilith knapp. "Im Gegensatz zu -" Trotz des Motorenlärms hörte L, wie sie einen scheinbar unüberwindbaren Kloß zu schlucken versuchte. "- wird der Doc ihn bestimmt schnell zusammenflicken können." Deutlich zerbrach ihre Stimme unter dem Druck, bröckelte, bis nichts als ein Hauch übrig blieb, der sich mit schweifenden Gedanken verflüchtigen wollte. In eine unbestimmte Zukunft, von der auch L noch nicht sagen konnte, wie diese aussehen würde. Er schwieg, während ihn schwache Worte umwehten. "Ich hoffe, dass unser größtes Problem sein wird, wie wir sie in der Einrichtung -"   "Festhalten", forderte L und riss das Lenkrad herum. Quietschend schleuderte der Wagen durch die letzte Kurve vor dem Ortseingangsschild. "Wir sind fast da", erklärte er monoton dem leeren Platz hinter sich. Abwartend, ob sein unnötiges Manöver den deutlichen Zweifel ebenso davon geschleudert hatte wie die Zweifelnde selbst.   Sie rappelte sich aus der Versenkung auf und pustete verirrte Strähnen aus ihrem Gesicht. L spürte beinahe, wie sich die Brocken wieder zusammensetzten, ehe sie verbal auf ihn geschleudert wurden. "Ich hab immer befürchtet, Kira würde euch umbringen", lachte Lilith humorlos, ehe sie fauchte: "Dabei bist du hier der Henker! Was sollte das denn schon wieder?"   L verzichtete auf Rechtfertigungen, da diese eh auf taube Ohren gestoßen wären. Erzürnt wie seine Begleiterin nun war, würde sie sein Handeln nicht nachvollziehen können. Das musste sie auch nicht. Was sie aber musste, war sich zusammenzureißen. Und um das zu gewährleisten, waren L einige Mittel recht.   Schweigend nahm er den Fuß vom Gas und steuerte den Transporter in gesittetem Tempo in den Ort. Leerstehende Wohnhäuser säumten die Straße, gefolgt von verlassenen Geschäften, die das Industriegebiet einläuteten. Graffiti verschandelten annähernd jede Backsteinwand. Obwohl Farbe den faden Gemäuern eigentlich gut getan hätte, unterstrichen die bunten Buchstaben bloß den Eindruck einer grauen Welt. "Kira, unser Retter!", "Kira ist Gott!" und "Kira ist Gerechtigkeit!" lauteten die geschmierten Botschaften.    L zerbiss seinen aufkeimenden Missmut mitsamt eines Daumennagels. Auch er durfte seinen Empfindungen jetzt keinen Freiraum gönnen; musste sich zusammenreißen; musste sich daran erinnern, warum er sich Kira nicht erneut gestellt hatte. Aufgrund eines Versprechens, das nicht das seinige gewesen war. Trotzdem war es bedeutend genug, um L, entgegen seiner einstigen Weltanschauung, zu beeinflussen.   "Denk nicht dran", wisperte die Frau hinter ihm. Ihr Blick suchte seinen im Spiegel. "Es gibt wichtigeres."   Nickend konzentrierte er sich wieder auf die Straße. Unauffällig manövrierte L den Transporter durch das Industriegebiet, bis er an dessen Ende eine schmale Abzweigung einschlug. Kies knirschte unter den Rädern, als der Wagen vor dem Garagentor einer alten Lackiererei zum Halten kam. L zog eine Fernbedienung aus seiner Hosentasche, um die Kombination einzugeben, die das Sicherheitssystem deaktivieren würde. Ein Lämpchen glimmte grün und schon setzte sich das Tor in Bewegung. Ratternd fuhr es in die Höhe. Putz bröckelte von den betagten Wänden, hinein in die Schatten der gemauerten Umzäunung. Geschützt vor ungewollter Aufmerksamkeit ließ L den Wagen in die Garage rollen.   "Rick hat wirklich ganze Arbeit geleistet", flüsterte Lilith. "Niemand wird uns überraschen können. Hier sind wir sicher."    L enthielt sich einer Antwort, stellte den Motor ab und öffnete die Fahrertür. Kaum hatte er einen Fuß auf den Betonboden gesetzt, klappten die Türen der Ladefläche.   "Hilf mir mal", hallte es aus dem Innenraum. Gefolgt vom Klimpern der Zurrgurtschlösser und dem anschließenden Schnarren einer Krankentrage, die aus dem Wagen kullerte. "Du nimmst das Kopfende", bestimmte jene, die bereits um die Liege gehuscht war und das Fußende umklammerte.   Wieso sie darauf bestand, ahnte L. Daher umfasste er einfach das Gestell, nachdem er das Sicherheitssystem wieder aktiviert hatte. Grün wandelte sich zu Rot, als sich das Tor senkte. Dunkelheit kroch über das Gesicht des Bewusstlosen.   "Er ist erwachsen geworden", bemerkte L nach kurzer Betrachtung des jungen Mannes. Dessen kindliche Züge waren definierten gewichen. Fehlende Fältchen um Augen und Mundpartie zeugten von einem freudlosen Lebenswandel; dichtes Narbengewebe von Geschehnissen, die kein Mensch durchleiden sollte.   "Aber kein Stück vernünftiger", zerrte Lilith L aus den Beobachtungen und zeitgleich die Trage hinter sich her. "Sonst hätte er wohl kaum diesen dummen Plan ausgeführt, der ihn und -" Sie stockte, als sie einen zweiten Transporter passierten. "- nein", schüttelte sie den Kopf, "sonst hätte er nicht zugelassen, dass das passiert."   Sie hatte recht. L wusste es; verbat sich jedoch jegliche Zustimmung. Immerhin war es genau diese Unvernunft gewesen, die seinen einstigen Nachfolger seit Kindertagen schon ausgemacht hatte, nicht wahr? Sie hatte seine Persönlichkeit, seine Art zu Handeln bestimmt - ihn definiert und letztendlich angetrieben, eigentlich unmögliche Ziele erreichen zu wollen. Im Grunde war es genau diese Eigenschaft, in der L sich wiedererkannte. Auch er hatte gewisse Situationen heraufbeschworen, um schneller Resultate zu fördern. Nicht nur positive.   Stumm schoben sie die Liege aus der Garage. Hinein in einen der grell beleuchteten Gänge, die sich wie ein Labyrinth durch die Einrichtung zogen. Summende Neonröhren begleiteten sie, bis sie endlich den abgelegensten Teil erreichten. Eine Tür auf der rechten Seite des Flurs wurde aufgestoßen.   "Da seid ihr ja", keuchte ein Mann höheren Alters. Graues Haar stand in allen Richtungen ab, obwohl es normalerweise stets ordentlich frisiert war. Derartige Nebensächlichkeiten interessierten ihn jetzt nicht. "Bringt ihn in OP zwei!", orderte er gehetzt an und deutete auf den Raum gegenüber der Tür.    Eiligen Schrittes kamen L und seine Begleitung dem Befehl nach. Sie bugsierten die Liege in ein Zimmer, dessen einziges Fenster Aussicht auf den Flur freigab. Statt Tageslicht erhellten weitere Neonröhren die blanken Wände. Weiß strahlte von allen Seiten auf die spärliche Ausstattung.    "Rick hat angerufen und von der Aktivierung berichtet. Hat es funktioniert?", verlangte der Mann zu wissen, bevor er überhaupt den Raum betreten hatte.    "Ja, Doktor Lewis", reagierte L effektiv, "es gab allerdings Komplikationen, die weder mit dem Death Note, noch mit dem Unfall oder dem Brand in Verbindung standen. Ihm musste zusätzlich Adrenalin verabreicht werden, da sich seine Werte akut verschlechtert hatten."   "Death Note, Unfall und Brand", wiederholte der Arzt. Er schob sich an Lilith vorbei, musterte ihr versteinertes Gesicht, ehe er sich L widmete. "Wenn ihn das nicht umgebracht hat, verwundern mich die Komplikationen umso mehr. Ungewöhnlich. Bei seiner körperlichen Verfassung war eigentlich von einer problemlosen Reanimierung auszugehen."   "Mellos Wesen widerspricht scheinbar einem geregelten Ablauf." L umfasste die Schultern seines Nachfolgers; der Arzt seine Füße. Gemeinsam hievten sie den Patienten auf ein Bett inmitten des Zimmers. "Anderweitig lässt sich das, meiner Meinung nach, nicht begründen."   Dr. Lewis stutzte, nickte dann aber und zerrte ein Stethoskop aus seiner Kitteltasche. Rote Flecken rankten über den weißen Stoff.   "Doc", hauchte Lilith. Bebende Finger zeigten auf die Blutspuren. "Was ist mit -?"   Ihre Stimme brach diesmal endgültig und L wusste, dass kein Manöver dem jetzt entgegenwirken konnte. Keine Bremse und kein Richtungswechsel waren dazu in der Lage, Lilith von einer Kollision mit den Tatsachen abzuhalten. Selbst auf L kamen sie unaufhaltsam drauf zu. Deutlicher sogar, weil er Dr. Lewis' Reaktionen lesen konnte wie ein offenes Buch. Fahrig überprüfte der Mellos Lebenszeichen, ertastete dessen Puls, untersuchte ein geschwollenes Handgelenk. Schweigend. Ohne Lilith auch nur anzusehen.  Verzögerte Antworten wiesen auf negative Diagnosen hin - das wusste L. Und er wusste, dass ausbleibende Antworten die schlimmste aller Möglichkeiten offenbarten.   "Doc!", keifte Lilith. Tränen zeichneten Risse auf ihren rußverschmierten Wangen. "Jetzt sag endlich was! Wie geht es ihm?" Sie stolperte rücklings gegen die Fensterscheibe, krallte sich an das Glas, suchte Halt - wagte es aber nicht, in den gegenüberliegenden Raum zu sehen.   Dr. Lewis atmete tief durch. "Die Nanos haben funktioniert, was schon mal ein großer Vorteil ist", setzte er langsam an. "Hinzu kommt, dass er weder am Kopf, noch an lebenswichtigen Organen getroffen wurde." Sein Blick schweifte an Lilith vorbei - hinüber in OP eins, von dem, trotz ebenso greller Beleuchtung, eine bedrohliche Finsternis auszugehen schien. Als stände man vor einer Höhle, deren bloße Präsenz Unheil verkündete. "Dahingehend hatte er wirklich mehr Glück als man erwarten dürfte", fuhr er behutsam fort. "Allerdings -" Mitleidig bedachte er seine Freundin. "- hat er verdammt viele Kugeln abbekommen. Ich konnte sie entfernen, aber die Wunden sind schwerwiegend. Sein Körper konnte eine solche Strapaze nicht so einfach verkraften." Er schluckte mehrfach, ehe er sich überwand: "Kleines, er liegt im Koma. Ob und wann er aufwachen wird, kann ich leider nicht sagen." Kapitel 5: Hochmut kommt ... ---------------------------- Für Lily Theodora gab es nur einen Menschen, der ihr wirklich etwas bedeutete: Sie selbst. Sie liebte sich – ihren Charakter, ihre Fähigkeiten und natürlich ihr Aussehen. Letzteres galt es besonders intensiv zu pflegen. "Shampoo, Shampoo, Shampoo", murmelte sie, als sie durch die Gänge eines winzigen Supermarktes stöckelte. "Wo findet man in diesem Saftladen das verflixte Shampoo?" Abfällig schweifte ihr Blick über die Regale, in denen Lily jedoch nichts fand, das ihrer würdig war. NoName-Produkte im Sonderangebot. Lieber hätte sie sich den blonden Schopf rasiert, statt diesen mit billigem Shampoo zu konfrontieren, auf dem ausgemergelte Hausfrauen so unvorteilhaft grinsten, dass man sie eher als Negativbeispiel für Antifaltencreme werben lassen sollte. "Geht doch!" Schwungvoll stieß Lily einen fremden Einkaufswagen beiseite, neben dem sie etwas gefunden hatte, das man wenigstens aus dem Fernsehen kannte. Eine entsetzte Rentnerin eilte dem ratternden Gefährt hinterher. Lily ignorierte die alte Frau. "Na, dann schauen wir mal." Sie zupfte ihren roten Minirock zurecht, beugte sich vor und begutachtete die Fundstücke. Die Flaschen mit Aufschriften wie 'Für brüchiges Haar' waren Lilys Beachtung gar nicht erst wert, weshalb sie sich kurzerhand für eine entschied, die ihrer glänzenden Pracht noch mehr Glanz versprach. Zufrieden schnappte sie das Shampoo, welches sie nach einer eleganten Drehung direkt in ihren Wagen gleiten lassen wollte. Es landete scheppernd im Korb. "Hast du mich erschreckt!", quietschte Lily mit einer Hand auf der Brust. Sie fand aber schnell zu ihrer selbstsichereren Miene zurück und erwiderte damit den Augenkontakt eines kleinen Mädchens, das sie vom Ende des Ganges aus anstarrte. Brünette Strähnen hingen dem Kind im Gesicht, während der Rest der Mähne chaotische Nester auf schmalen Schultern formten. Sie war vollkommen zerzaust und heruntergekommen. Ebenso das gelbe Kleidchen, welches im Februar definitiv unangebracht war. Dünner Stoff und Blümchenmuster gehörten in den Frühling, nicht in den Winter. Lily beäugte das unpassende Outfit noch einige Sekunden; fixierte zierliche Finger, die den Saum des Kleids umklammerten, und entschied dann, das Mädchen vorerst nicht auf ihren Modefauxpas hinzuweisen. So nervös wie die Kleine dastand, hatte sie vermutlich eh kein Ohr für Stylingtipps. Dafür aber definitiv ein Auge für wahre Schönheit. Warum sonst sollte sie Lily so offensiv angaffen? Lily richtete ihr imposantes Dekolleté, ehe sie ihr Haar über die Schulter warf. Ja, sie war ein Blickfang. Wohlgeformte Kurven, eine perfekte Frisur und feine Gesichtszüge vollendeten eine Frau, die ihr Aussehen einzusetzen wusste, um das zu erreichen, was ihr nicht minder ausgeprägter Verstand ausgeklügelt hatte. Nur sah man natürlich nicht, was sich unter dem blonden Schopf versteckte, also war die Faszination des Kindes eindeutig auf äußere Werte zurückzuführen. Damit hatte Lily aber kein Problem. Warum sollte sie einem Gör auch verübeln, was ihr sonst im Umgang mit Menschen wichtig war? Ihretwegen durfte jeder schmachtend glotzen. Ob Mann oder Frau, alt oder jung. Hauptsache Lily zog daraus ihren Vorteil. Nachteilig war es allerdings, wenn man sie so derart penetrant anstierte, dass Lily nicht in der Lage war, ihre eigene Selbstbeweihräucherung zu genießen. Leider war genau das jetzt der Fall. Darum machte sie auf dem Boden der Tatsachen kehrt, schnappte ihren Wagen und stolzierte aus der Kosmetikabteilung. Bohrende Blicke beschleunigten ihren Gang. Klackernde Absätze trugen sie zum nächsten Punkt auf ihrem Einkaufszettel. In die Obstabteilung, von der sie noch weniger erwartete als vom übrigen Teil des Vorstadtlädchens. Zu gern hätte sie lieber den exklusiven Markt ihres Vertrauens besucht, aber aufgrund einiger Umstände und der unerwünschten Aufmerksamkeit gewisser Behörden, war Lily nun mal dazu verdammt, vorläufig in Geschäften einzukaufen, die abgelegener waren. Und nicht videoüberwacht. Seufzend stoppte sie vor den Auslagen, in denen Lily genau das fand, was sie vermutet hatte. Enttäuschung. Äpfel und Birnen. Umfangreicher war das aktuelle Obstangebot nämlich nicht. "Saftladen", maulte sie, verkniff es sich aber, ihrem Unmut lautstark Ausdruck zu verleihen und riss stattdessen bloß energischer als nötig eine Plastiktüte von einer Rolle. Natürlich handelte es sich bei den Tüten um die Sorte, die kein Mensch auf Anhieb öffnen konnte, weshalb Lily erst nach etlichen Anläufen die hauchdünne Folie auseinanderfummelte. Ihre Selbstbeherrschung knisterte gefährlich und drohte gleichermaßen zu zerreißen wie der Henkel ihres derzeitigen Gegners. Wenn jetzt noch die Äpfel, die Lily in die Tüte hatte plumpsen lassen, gleich wieder herausfallen würden, konnte sie für nichts mehr garantieren. Dann würde sie ihrer Wut freie Bahn gewähren, erst einen Aufstand machen und letztendlich dafür sorgen, dass dieser Laden in der technologischen Steinzeit landete. Allerdings müsste Lily anschließend wohl oder übel die nächste Kleinstadt auskundschaften, in der sie sich in den kommenden Wochen mit Lebensmitteln bevorraten konnte. Und darauf hatte sie noch weniger Lust als auf herunterfallende Äpfel und widerspenstige Tüten. Also knotete sie die Enden ihrer Geduldsfäden mitsamt der Henkel wieder zusammen, straffte die Schultern und verfrachtete die mühsam verpackte Beute in ihren Wagen. Erneut schepperte das Gitter. "Du schon wieder!", fuhr sie zusammen, als sie das Mädchen aus der Kosmetikabteilung entdeckte. Die Blümchen des Sommerkleides ließen die übersichtlichen Obstauslage beinahe frisch wirken. Im Gegensatz zu dem Kind selbst, welches noch immer nichts besseres zu tun hatte, als zu glotzen. Diesmal verzichtete Lily jedoch darauf, ihrem Fan Beachtung zu schenken, und entschied sich einfach, den letzten Punkt ihrer Einkaufsliste anzugehen. Mit gerümpfter Nase stöckelte sie an dem Mädchen vorbei und hoffentlich bald aus dem mickrigen Laden heraus, in dem man ständig den gleichen Leuten über den Weg lief. Wie schnell sich eine solche Begegnung wiederholen konnte, lernte Lily vor dem Regal mit den tierischen Erzeugnissen. Ihre Hand ballte sich um eine Packung Milch, deren 3,5 Prozent Fettanteil eigentlich gereicht hätten, um für einen Nervenzusammenbruch zu sorgen. Sie schleuderte ihren Kopf herum und gleichzeitig dem Mädchen all ihren Missmut entgegen: "Hast du ein Problem, verdammt?" Die Kleine stolperte zurück, fing sich aber an einem Eierregal, ohne dabei auch nur einmal wegzusehen. Trübe Augen starrten zwischen brünetten Strähnen hindurch, die sich wie Würmer krümmten, als das Kind endlich den Kopf schüttelte. Lilys Geduldsfaden riss endgültig. "Dann such dir gefälligst jemand anderen, dem du auf die Nerven gehen kannst!" Ihre Zähne rammten sich in ihre Zunge, doch es war zu spät. Lily hatte geschrien. Und zwar laut genug, um genau die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die sie strikt hatte vermeiden wollen. Neugierige Blicke lugten hinter Regalen hervor. Eine Verkäuferin streckte den Kopf über die Kasse. Rentner unterbrachen ihren Plausch und Schüler zückten ihre Handys, von denen Lily wusste, dass sie mit hochauflösenden Kameras ausgestattet waren. Wie viele Leute sich tatsächlich in dem Hinterlandsupermarkt aufhielten, wurde ihr schlagartig klar. "Mist", zischte sie ungehört, ehe sie das strahlendste Lächeln aufsetzte, das sie zu bieten hatte. Ihre Mundwinkel spannten sich schmerzhaft, aber das war Lily jetzt vollkommen egal. Wichtiger war es ihr, dass die verfluchten Kameras keinen Grund fanden sie abzulichten, um dann direkt ihr Foto ins Internet zu spucken. Auf eine Seite, die nur dafür geschaffen worden war, unausstehliche Menschen anzuprangern, damit sie früher oder später einer angeblich gerechten Strafe zugeführt werden konnten. Eine Frau, die ein unschuldiges Mädchen grundlos anschrie, zählte vermutlich zu genau diesen unausstehlichen Menschen. Und Lily wollte nicht herausfinden, ob der Henker namens Kira ein großer Kinderfreund war. "Hör zu, Kleine", säuselte sie so liebenswürdig und laut wie möglich. Jeder Beobachter sollte ihre Entschuldigung hören können. "Es tut mir leid, ja?" Mit mitleiderregender Miene beugte sie sich hinab. "Ich bin heute etwas gestresst, aber ich wollte das natürlich nicht an dir auslassen. Mein Hundewelpe ist krank und meine Mama hat mir vorhin erst erzählt, dass sie weit weg ziehen will", log sie ohne rot zu werden. "Das nimmt mich sehr mit, weißt du? Wobei das natürlich kein Grund ist, dich anzumeckern. Kann ich das wiedergutmachen? Vielleicht -" Ungeschickt zupfte Lily eine Geldbörse aus ihrer Handtasche. Hoffend man würde ihre zittrigen Finger ihrem angeblichen schweren Los zuschreiben und nicht der Angst vor Kira. "- magst du dir als Trost was Schönes kaufen?" Fahrig drückte sie dem Kind einige Geldnoten in die Hände, ehe sie sich überwand und den, mit billigen NoName-Produkten gepflegten, Schopf tätschelte. 'Für brüchiges Haar' ergab plötzlich einen Sinn. Lily atmete auf, als das Mädchen die Scheine im Gürtel ihres Kleidchens verstaute. Kollektiv schien auch jeder andere Anwesende die Entschuldigung zu akzeptieren. Köpfe wandten sich ab. Belanglose Rentnergespräche wurden fortgesetzt. Die Kasse piepte. Und - das war das Wichtigste - Handys verschwanden wieder in der Versenkung. Für wie lang wollte Lily jedoch nicht herausfinden, weshalb sie schleunigst ihren Einkaufswagen packte und damit davonstürmte. ~ Gehetzt schleuderte Lily ihre Einkäufe in den Kofferraum ihres roten MX5. Sie schlug die Klappe zu, stützte sich darauf ab und seufzte erleichtert. Ihr Atem glitt durch die abendliche Winterluft, hinein in die spärliche Beleuchtung des Parkplatzes. "Verdammter Mist", murrte sie. Dass ein paar Besorgungen ebenso aufregend sein konnten wie einige ihrer sonstigen Aktivitäten, hätte sie sich niemals träumen lassen, aber ja, das konnten sie. So absurd es auch war. Lilys Puls raste annähernd so schnell wie Monate zuvor; nach ihrem zweiten Besuch bei einem gewissen Bankdirektor, dessen privaten Laptop sie von Beweismaterial hatte befreien müssen. Manuell, weil dieser Kerl nichts von einer heimischen Internetverbindung gehalten hatte. Umso mehr hatte er aber die Gesellschaft blonder Frauen bevorzugt, was Grund genug für Lily gewesen war, ihn beim ersten Mal persönlich zu beehren. Ein geschickt platzierter USB-Stick hier, ein paar gezielte Klicks da, und schon waren ihr alle Wege offen gewesen, um sich das zu holen, was ihr nicht gehört hatte. Geld. Viel Geld, welches der Bankier sicher mit allen Mitteln zurück geholt hätte, wenn er Lily beim zweiten Besuch erkannt hätte. Zum Glück war es dazu aber nicht gekommen, da er hinter einer betagten Versicherungsagentin niemals die hübsche Verführerin erwartet hatte, die ihn letzten Endes ruinierte. Praktischerweise hatte diese Tarnung Lily nicht einmal den kleinsten Teil ihrer Beute gekostet. Ein Hoch auf die mehr oder minder freiwilligen Mitarbeiter, derer sie sich jederzeit bedienen konnte. Selbstbewusst schluckte Lily die Aufregung herunter und grinste: "Alles Versager." Ihre stolzgeschwellte Brust zwang sie hinter den Reißverschluss einer Lederjacke, ehe sie mit gereckter Nase auf die Fahrertür des Sportwagens zu stöckelte. Elegant glitt sie auf den Alcantarasitz und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Ihr Makeup saß perfekt. "Dann wollen wir mal." 160 PS jaulten nach einer Handdrehung auf. Der Rückwärtsgang knallte ins Getriebe. Reifen knirschten auf dem eisigen Beton. "Nur noch nachhause", stöhnte sie müde. "Scheiße!", keifte sie hellwach. Lilys Kopf schleuderte aufs Lenkrad zu und bremste knapp vor der Hupe. "Was war das denn?" Entsetzt starrte sie vom Rück- in die Seitenspiegel, um das zu finden, was ihre Fahrt nach wenigen Zentimetern gestoppt hatte. Sie fand nichts. Kein Auto, das sie gerammt hatte, und keinen Pfeiler. In der hereinbrechenden Nacht war nichts auszumachen, außer einer entfernten Laterne, die unbehelligt vor sich hin flackerte. "Bitte, nicht schon wieder so ein blöder Hund", flehte Lily, als sie die Tür aufriss. Die Vorhalte einer alten Dackelbesitzerin blitzten durch ihre Erinnerung, ebenso wie die überteuerte Rechnung einer Lackiererei. Dass jetzt aber weder ein Meckern, noch das Quietschen eines Tieres durch die Dunkelheit schrillten, beruhigte Lily vorerst. Dennoch linste sie misstrauisch über den menschenleeren Parkplatz, bevor sie zum Heck ihres Wagens schlich. Vorsichtig lugte sie hinter die Räder. "Oh, mein Gott!" Lily klammerte sich an die Karosserie, als sie erkannte, was sie diesmal erwischt hatte. Brünettes Haar floss über Asphalt, Blümchen schienen auf gelbem Stoff zu verwelken. "Fuck, fuck, fuck!", stampfte Lily auf, während ihr Blick von dem regungslosen Mädchen in die Höhe zuckte. Panisch scannte sie die Umgebung. Suchte Zeugen, Beobachter - jemanden, der bereits dabei war, die Polizei zu rufen. Aber weit und breit gab es niemanden, der sie dem Gesetz oder - schlimmer noch - Kira ans Messer liefern konnte. "Na, wenigstens was", stellte Lily erleichtert fest, ohne wirklich erleichtert zu sein. Immerhin war ihr deutlich bewusst, dass sie trotzdem nicht aus dem Schneider war. Sollte man das Kind nämlich finden, würden die Gaffer aus dem Supermarkt gewiss früher oder später auf die Idee kommen, Lily mit dem Unfall in Verbindung zu bringen. Vielleicht nicht als Verantwortliche, aber bestimmt als vermeintliche Zeugin, die der Polizei Hinweise geben könnte. Und behördliche Aufmerksamkeit galt es schließlich noch immer tunlichst zu vermeiden. Wenn man das Kind aber gar nicht erst fand ... "Du machst mir echt nichts als Ärger!", zischte Lily auf ihr Opfer hinab, während sie es hinter dem Reifen hervorzerrte. Eiskalte Haut brannte in ihren Handflächen, als sie das Kind zur Beifahrertür schleifte. "Ich nehme dich erst einmal mit und dann sehen wir weiter", sprach sie sich selbst Mut zu. Ächzend hievte sie das Mädchen in den Wagen, bugsierte es auf den Sitz und fädelte den Gurt an schlaffen Ärmchen vorbei. In der heimlichen Hoffnung, dass Sicherheit für den kleinen Körper noch eine Rolle spielte. "Du atmest", stellte Lily nüchtern fest, "und blutest scheinbar nicht. Also tu mir den scheiß Gefallen und verreck jetzt ja nicht." Sie schlug die Beifahrertür zu, ehe sie um den Wagen hetzte und Position hinter dem Lenkrad bezog. Motorengeräusche brummten durch den Innenraum. In beruhigender Monotonie, die Lily dabei half, ihr Handy einigermaßen gelassen aus ihrer Jackentasche zu fummeln. Ein tiefer Atemzug festigte ihre Stimme, die, so herrisch es ihr möglich war, in den Hörer fauchte: "Doktor! Ich erwarte Sie in einer halben Stunde bei mir zuhause. Bringen Sie Ihren Koffer mit!" Den Einspruch ignorierte Lily. "Das ist mir scheißegal, was Ihr Lover davon hält. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr kleines Video online geht, machen Sie was ich Ihnen sage! Eine halbe Stunde!" Knurrend beendete sie das Gespräch und stopfte das Telefon wieder in ihre Jacke. Nach einem Blick in den Spiegel, raste Lily davon. Als einziger Zeuge blieb ein Ziegelstein zurück, der neben der Parkbucht im Laternenschein flimmerte. Eine Reifenspur zog sich dunkel über seine Oberfläche. ~ Bereits nach 25 Minuten preschte der MX5 über die Einfahrt eines Appartementhauses im äußeren Gürtel Londons. Zielsicher steuerte Lily ihre Parknische an, die, fernab der übrigen Stellplätze, genügend Schutz vor unliebsamen Blicken bot. Neugierige Nachbarn hatten keine Chance sie hier zu beobachten. Weder Lily, noch das zweite Auto, welches im Schatten des Gebäudes auf sie wartete. Der dunkelgrüne Kombi verschmolz beinahe mit der hereinbrechenden Nacht. "Erst maulen und dann doch überpünktlich hier sein?", fauchte Lily, als sie aus ihrem Wagen stieg. Lieblos warf sie die Tür hinter sich ins Schloss. Ein Mann tat es ihr gleich. Seinen grauen Trenchcoat zog er noch rechtzeitig beiseite, bevor er sich in der Karosserie verfangen konnte. "Glücklicherweise war ich gerade dabei das Krankenhaus zu verlassen, als Sie mich angerufen haben, Miss Theodora. Daher hatte ich es nicht weit", entgegnete er mit deutlich unterdrücktem Missmut. "Warum wollten Sie mich jetzt noch sehen?" "Aber, aber, Doktor Lewis", grinste Lily boshaft, "darf ich Sie nach Ihrem Feierabend nicht mal zu einem schönen Tässchen Tee einladen? Das wäre doch gemütlich, oder? Und wenn wir kuschelig beieinander sitzen, könnten wir uns ja auch ein Video ansehen. Klingt doch lustig, hm?" Was der Arzt eben noch zu unterdrücken versucht hatte, zeichnete sich jetzt unverkennbar in seiner Miene ab. Abscheu zog Riefen zwischen seinen Augenbrauen. Zornesfalten krümmten sich unter einem schwarzem Haaransatz, der allmählich zu ergrauen drohte. Dass Lily selbst für den Farbwechsel verantwortlich war, bezweifelte sie nicht. Tatsächlich erfüllte sie das sogar mit einem gewissen Stolz. "Lassen Sie das Video aus dem Spiel und sagen Sie mir lieber, was Sie wollen", zischte Dr. Lewis. Lily schnaubte verächtlich, während sie den Trotz ihres unfreiwilligen Handlangers abwinkte. "Locker bleiben, Freundchen!", mahnte sie. "Ich hab Sie nicht gerufen, weil ich Sehnsucht hatte, sondern weil ich Ihr Können als Arzt brauche. Sehen Sie!" Auffordernd nickte sie über ihre Schulter hinweg in den Innenraum ihres Wagens. "Na los! Und wenn Sie schon dabei sind, können Sie die Kleine auch gleich in meine Wohnung schleppen. Hier draußen sieht man uns vielleicht noch." Misstrauisch linste Lily an der Glasfront des Gebäudes hinauf. Obwohl sie sicher war, dass man sie hier nicht entdecken konnte, wollte sie jedes Risiko ausschließen. Vorsicht war bekanntermaßen ja besser als Nachsicht, nicht wahr? "Die Kleine?", hakte Dr. Lewis alarmiert nach und eilte um den Sportwagen. Die Beifahrertür flog auf. "Was ist mit ihr?" "Angefahren", erklärte Lily wortkarg, während sie ihre Einkäufe aus dem Kofferraum angelte. Anschließend rammte sie die Klappe zurück ins Schloss. Der entsetzte Blick des Arztes schoss ihr entgegen. "Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen", bestimmte er, als seine Finger den Puls des Kindes suchten, "und die Polizei benachrichtigen. Ihre Eltern sind sicher schon wahnsinnig vor Sorge." Lily ballte die Fäuste. Ihre Stimme knisterte annähernd wie die Tüten in ihren Fingern. "Polizei? Muss ich Sie erst daran erinnern, wie wichtig es Ihnen selbst sein sollte, dass ich keinerlei Kontakt zu irgendwelchen Uniformierten habe? Sie haben ja wohl nicht vergessen, was geschieht, sollte ich eingebuchtet werden. Ihre Karriere wäre bereits 48 Stunden darauf vorbei, Doktor", warnte sie mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen. Trotz der Umstände amüsierte es Lily, dass sie den älteren Mann genauso fest in den Händen hatte wie ihre Lebensmittel. Dr. Lewis knirschte hörbar mit den Zähnen, aber dann formte auch sein Mund etwas, das einem Lächeln ähnlich kam. "Das habe ich natürlich nicht vergessen, Miss Theodora." Er strich dem Mädchen einige Strähnen aus dem Gesicht, zog es an sich und hob es schließlich behutsam aus dem Auto. "Wenn Sie vielleicht so freundlich wären", wandte er sich an Lily, "meine Tasche zu nehmen. Sie steht neben meinem Wagen." Die herrschende Stimmung stand der Winterluft in nichts nach. Lily und Dr. Lewis warfen sich eisige Blicke zu - wissend das einer von ihnen früher oder später diese Nacht bereuen würde. Doch Lily wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie befürchtet hätte, diejenige zu sein, die irgendwann Buße tun müsse. Daher lachte sie hämisch auf. "Aber gern, Doktor." Bepackt mit Einkäufen, einer Ledertasche und ihrem unbezwingbaren Selbstbewusstsein führte Lily den Arzt in das Gebäude. ~ Im dritten Stock des Appartementhauses thronte Lily auf einem lederbezogenen Hocker neben ihrer Kücheninsel. Seit einer halben Stunde beobachtete sie von dort aus bereits den Arzt, wie er mit geübten Handgriffen das Mädchen untersuchte, das inmitten des offenen Wohnraums auf dem gigantischen Ecksofa ruhte, ohne ein einziges Lebenszeichen von sich zu geben. Ja, gut, sie atmete, aber das reichte Lily nicht. Sie wollte das Gör bei Bewusstsein wissen, einigermaßen wohlauf und dementsprechend fähig, bald von hier verschwinden zu können. Raus aus diesen luxuriösen vier Wänden und vor allem raus aus Lilys Leben. Immerhin hatte sie sich nicht jahrelang für ihren Standard abgemüht, nur um jetzt die Koffer packen zu müssen, weil sie einen verdammten Knirps auf dem Gewissen hatte. Oder schlimmer noch: Um jetzt anfangen zu müssen, Krankenschwester für eine Vollzeitbehinderte zu spielen, die so dumm gewesen war, sich anfahren zu lassen. "Die Kleine wird bald zu sich kommen", riss Dr. Lewis sie aus den Gedanken. Er knipste die Tiffanylampe neben der Couch aus und tauchte das Mädchen somit in erholsame Dunkelheit. Bedächtig schlich er über das Parkett, bis er vor Lily innehielt. "Sie hatte Glück, dass sie nicht ernsthaft verletzt wurde." Lily ignorierte den Vorwurf in seiner Stimme. "Dann kann sie also bald verschwinden, ja?" "Ist das Ihr Ernst?", zischte der Arzt. "Sehen Sie sich das Kind doch mal an. Sie ist schmutzig, offensichtlich seit Tagen ohne vernünftige Nahrung unterwegs und zudem eindeutig nicht auf den Winter vorbereitet. Ich weiß zwar nicht, warum sie allein umherstromert, aber wenn sich niemand um sie kümmert -" "Und was geht mich das an?", fuhr Lily dazwischen. Über verschränkten Armen hinweg fixierte sie stur die Nacht hinter der bodentiefen Fensterfront. Schnee rieselte gegen das Glas, nervig laut, als würde er den Worten des Doktors Nachdruck verleihen wollen. "Hören Sie, Lily", übertönte der das bissige Eis. "Wir wissen beide, dass Sie sich nicht durch Ihre Warmherzigkeit auszeichnen, aber jetzt sollten Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, dem Kind Unterschlupf zu bieten. Wenigstens für ein paar Tage." Undefinierbar beäugte er das Sofa, ehe er schweren Herzens seufzte. "Sollten Sie sich dagegen entscheiden, sehe ich mich gezwungen doch die Polizei zu rufen. Unabhängig dessen, was zukünftig mit mir geschehen wird." Lily bedauerte, dass sie anstelle des Görs nicht den Arzt angefahren hatte. Tatsächlich hätte sie es derzeit sogar bevorzugt, sich selbst vor ein Auto zu werfen, wenn sie dadurch den Aufgaben unbezahlten Pflegepersonals aus dem Weg gehen würde. Man sollte sich um sie kümmern. Nicht anders herum. "Sind Sie so ein Gutmensch, dass Sie sich für dieses Mädchen opfern würden?", knurrte Lily. Dr. Lewis schüttelte den Kopf. "Nein. Immerhin würde ich Sie ohne mit der Wimper zu zucken und mit größter Freude ebenfalls opfern. Den Behörden und vor allem Kira. Ich bin mir sicher, dass er Sie für alles, das Sie getan haben, nur zu gern richten würde." Allein die Erwähnung des angeblichen Gottes jagte Lily einen Schauer über den Rücken als würde sie nackt inmitten des Schneegestöbers stehen. Ihre Haut kribbelte schmerzhaft, bis sie es nicht mehr aushielt. Energisch riss sie ihre Aufmerksamkeit von dem weißen Treiben und warf es auf den Arzt. Überzeugung festigte seine sonst so verweichlichte Miene und hätte er jetzt seinen Kittel getragen, hätte der vermutlich wie ein Heldencape geflattert. Lily schnaubte verächtlich. "Sie meinen es ernst, ja?" Dr. Lewis unterstrich sein heroisches Auftreten mit verschränkten Armen. Er nickte. "Gut", winkte Lily gereizt ab. "Das Mädchen kann hier bleiben, bis sie sich erholt hat. Aber danach verschwindet sie wieder. Und jetzt hauen Sie endlich ab!", fauchte sie. "Ich rufe Sie an, falls ich Ihre unqualifizierte Hilfe brauchen sollte." Das verheißungsvolle Schmunzeln des Arztes ließ Lily frösteln und bescherte ihr eine Gänsehaut, die erst Minuten nachdem Dr. Lewis aus der Wohnung gerauscht war, verebbte. ~ Ihre Konzentration hatte den Tiefpunkt erreicht. Trotz diverser Espressos schaffte Lily es einfach nicht, ihre Gedanken auf das zu fokussieren, was ihr Nacht um Nacht genügend Geld einbrachte, um ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Kein Server ließ sich präzise hacken, Daten blieben unauffindbar und Codes weigerten sich, einwandfrei zu funktionieren. Wie sollte man da an Informationen kommen, die man verkaufen wollte? "So ein Dreck", maulte Lily ihr eigenes Spiegelbild im Monitor an, wobei ihr Blick zum unzähligsten Male auf den Teil des Bildschirms huschte, der das Kind im Hintergrund reflektierte. Seit Stunden lag das Gör nun schon unverändert auf dem Sofa, ohne den kleinsten Laut von sich zu geben. Stattdessen schien sie sogar das Zentrum absoluter Stille zu sein, die sich undurchdringlich über die gesamte Wohnung verteilte. Selbst das Summen des Laptops wurde von nervenaufreibender Ruhe verschluckt. Ebenso das Prasseln des Schnees vor der Glasfront. Lily beäugte das weiße Treiben vor sich und gab auf. Ihre Konzentration lag eh längst wie unter einer Lawine begraben, also machten weitere Versuche zu arbeiten definitiv keinen Sinn mehr. Daher wandte sich Lily von der Winternacht ab, drehte sich mitsamt ihres Schreibtischsessels um und fixierte die Dunkelheit im Wohnzimmer. Seufzend stand sie auf. Wenn sie schon nichts Sinnvolles heute mehr zustande bringen konnte, würde sie wenigstens die Ursache allen Übels im Auge behalten. Vorzugsweise aus nächster Nähe. Gereizt schnappte Lily eine Wolldecke von der Sofalehne und ließ sich darin eingewickelt in die Polster plumpsen. Ja, sie würde den Störenfried vor sich jetzt einfach beobachten. Aufpassen, dass das Mädchen gefälligst zu Bewusstsein kam, und ihr dann gleich klarmachen, wie begrenzt ihr Aufenthalt in dem Appartement war. Nichts und niemand würde Lily davon abhalten! ~ Lily schmatzte, um die Ödnis von ihrer Zunge zu vertreiben. Ihr Mund war staubtrocken, ebenso ihre Augen, die sich hinter verklebten Lidern vor der boshaft stechenden Sonne versteckten. Wieso legte es dieser verdammte Feuerball schon wieder darauf an, Lily in eine Rosine zu verwandeln? Und wieso verteidigten die sauteuren Jalousien sie nicht, obwohl es geheißen hatte, dass man sich nichts besseres vor den Schlafzimmerfenstern wünschen könnte? Moment. Lily rieb sich über die verkleisterten Wimpern und langsam dämmerte es ihr, warum die Sonnenstrahlen ihren makellosen Teint ungehindert attackieren konnten. Nämlich aus einem vollkommen einfachen Grund: Hier hingen noch nicht einmal Gardinen. Bestätigend blitzten ihr die nackten Fensterscheiben des Wohnzimmers entgegen. Lily wandte sich murrend ab und quiekte auf. "Meine Güte", keuchte sie mit einer Hand über ihrem wummernden Herzen. Vorwurfsvoll erwiderte sie den Blick des Mädchens, das ihr in aller Seelenruhe auf dem Sofa gegenüber saß und anscheinend mal wieder nichts anderes zu tun hatte, als zu gaffen. "Du bist echt penetrant", knurrte Lily. Schwerfällig kämpfte sie sich aus ihrer Decke in eine einigermaßen aufrechte Position, die sie allerdings nur mit größter Anstrengung beibehalten konnte. Ihr Rücken war einfach nicht für derartige Übernachtungen geschaffen. Sitzen oder liegen - alles dazwischen widersprach ihrer anspruchsvollen Wirbelsäule. "Entschuldigung", wisperte das Kind demütig und senkte endlich den Blick. Staubige Ärmchen schlangen sich um angewinkelte Knie wie um eine Rettungsboje. Lily genoss das ihr vertraute Oberwasser, überschlug die Beine und ignorierte das Knacken ihres Körpers. Es wäre ja wohl auch gelacht gewesen, wenn das Gör nicht gekuscht hätte, oder? Schließlich hatte Lily bisher noch jeden unterdrücken können. Unabhängig von der Tageszeit. "Gut", gähnte sie. Müdigkeit wehte davon und Sauerstoff lüftete ihre Gedanken, bis sie es schaffte, mental ihren Fragenkatalog aufzuschlagen. "Wie heißt du?" Im Gegensatz zu Lilys erwachtem Hirn, herrschte in dem des Mädchens scheinbar noch immer geistige Umnachtung. Als wäre mit der Frage überhaupt nicht zu rechnen gewesen, riss es die Augen auf. Pupillen huschten in die Höhe, zuckten und suchten einen Punkt, den sie fixieren konnten. Sie fanden ihn irgendwo an einer Wand. Lily verfolgte den Blick ihres ungewollten Gastes und fuhr zusammen. Neben einem gerahmten Dalí hockte eine Spinne, deren dicke, schwarze Beine offenbar allzeit sprungbereit waren. Dünne, schwarz bestrumpfhoste Beine waren es ebenfalls, während Lily ihre jetzigen Möglichkeiten durchratterte. Einen unbezahlten Handlanger anrufen. Den bezahlten Hausmeister anrufen. Selbst zur Tat schreiten und mit einem sehr, sehr langen Besen das Ungeziefer zerklatschen, um anschließend doch eine Hilfskraft rufen zu müssen, die das Bild so versetzte, dass man den Fleck an der Wand nicht mehr sehen konnte. "Ich heiße Mary Jane", meldete sich eine unerwartete Option zu Wort. Das Kind war unbemerkt aufgestanden und sammelte gerade den krabbelnden Albtraum von der Tapete. Behutsam sperrte sie die Spinne zwischen ihre Handflächen. "Meine Freunde nennen mich MJ." Lilys Kinnlade hing über ihrem Dekolleté, schnappte aber wieder in die Höhe, als das Kind zielsicher auf den Balkon neben der offenen Küche zusteuerte. Während MJ die Spinne vor die Tür setzte, fragte sich Lily, ob das Gör vielleicht die gesamte Wohnung schon inspiziert hatte. War es ein Fehler gewesen, einzuschlafen? Hatte sie einen Eindringling mit weniger als acht Beinen übersehen? Kichernd verwarf sie die Vorstellung, da MJ sich viel zu dumm anstellte, um tatsächlich gefährlich zu wirken. Sie bekam ja kaum die Balkontür wieder zu, ruckelte an der Klinke und scheiterte kläglich an einem vereisten Schloss. Erst nach etlichen - für Lily äußerst amüsanten - Sekunden rastete das Türblatt im Rahmen ein. "Wie alt bist du eigentlich? Bei deinem Geschick würde ich ja auf Kindergartenalter tippen", gluckste Lily und überhörte dadurch beinahe das geflüsterte: "Warum spielt das Alter immer eine Rolle?" Lauter antwortete MJ: "Ich bin elf." Sie trat von einem Bein auf das andere, bis sie sich überwand ihrerseits eine Frage zu stellen. "Wo bin ich?" Lily berauschte sich noch einen Moment an MJs Verunsicherung, ehe sie sich erbarmte und antwortete: "In London." Grinsend beobachtete sie, wie sich der Unglaube in dem kindlichen Gesicht ausbreitete. MJs Mund stand offen und ihre Augen machten Tischtennisbällen Konkurrenz. Allerdings vermisste Lily darin den panischen Ausdruck eines Kindes, welches gerade erfahren hatte, dass es sich eine gute halbe Autostunde von ihrem Heimatort entfernt befand. Wie langweilig. "Ich besorg dir ein Zugticket, damit du wieder in dein Kaff fahren kannst", fügte Lily deshalb hinzu, um sich selbst zu motivieren. Wenn MJ schon nicht in der Lage war für unterhaltsame Reaktionen zu sorgen, konnte sie immerhin auch schnellstmöglich wieder verschwinden. Wozu sollte sie denn bleiben? Nur um dümmlich in der Gegend herum zu stehen? Ohne zu blinzeln oder sonstige Anzeichen einer Emotion. Dass Lilys vermeintlich nette Aussage dann aber doch für Abwechslung sorgen würde, hatte sie nicht erwartet. "Nein", schreckte MJ aus ihrer Starre, "das ist nicht nötig. London ist schön. Ich wollte schon immer mal nach London. In London gibt es viele Sehenswürdigkeiten, die -" "Du meinst, London ist weit genug von dort entfernt, wo du nicht mehr sein willst", stoppte Lily die eindeutig aufgesetzte Euphorie. Mit erhobener Augenbraue suchte sie den Blick des Mädchens, aber der war nur stur aufs Parkett gerichtet. "Dann kommen wir doch mal zur Preisfrage des Morgens", kündigte sie an. "Bist du etwa von Zuhause abgehauen oder warum warst du allein unterwegs? Und wag es ja nicht, mich anzulügen! Dein bloßer Anblick verrät doch schon, dass du planlos umhergeirrt bist. Im Winter. Mit einem hässlichen Sommerkleidchen." "Ich weiß", schluckte MJ. "Das Kleid ist wirklich hässlich." Lily schnaubte verächtlich, doch bevor sie ihrer eigentlichen Frage Nachdruck verleihen konnte, sah das Mädchen auf. "Ich konnte mich nicht mehr umziehen, weil ... weil ..." "Also bist du abgehauen", stellte Lily fest und rieb sich die Stirn. Falten klafften unter ihren Fingerkuppen, während sie sich ausmalte, wie es wohl aussehen würde, wenn jemand das Kind hier entdeckte. Ein verschwundenes Gör in ihrer Wohnung. Selbst wenn Lily eine Entführung widerlegen könnte, käme doch die Frage auf, warum sie MJ bei sich hatte. Und wie sollte sie das erklären, ohne den Autounfall zu erwähnen? Schließlich würde wohl kaum jemand, der sie kannte, belegen, dass Lily so herzensgut war, sich einer Obdachlosen freiwillig anzunehmen. Gewiss nicht. "Man wird nicht nach mir suchen", zerstreute MJ die unausgesprochenen Sorgen, doch bevor sie weitersprechen konnte, donnerte es gegen die Eingangstür. "Scheiße", zischte Lily und verdrehte die Augen. Es gab nur eine Person, die auf diese herrische Weise aufs Klingeln verzichtete, und eben diese Person brauchte Lily nun wirklich nicht zu dieser frühen Stunde. Am liebsten hätte sie auch gar keinen Gedanken daran verschwendet die Tür zu öffnen, wenn ihr nicht klar gewesen wäre, dass man sie garantiert nicht in Ruhe lassen würde, ehe sie sich der Nervensäge gestellt hätte. Seufzend stand sie auf. "Was?", spie sie in den Hausflur und direkt in das Gesicht ihrer Nachbarin. "Ihnen auch einen guten Morgen, Fräulein Theodora", wehrte die alte Dame mit einem Unterton ab, der das 'guten' in ihrer Begrüßung Lügen strafte. "Sie können sich vermutlich denken, weshalb ich hier bin, oder?" "Um sich meinen Besen zu leihen, weil Ihrer gerade in der Werkstatt ist und Sie noch dringend einkaufen fliegen müssen?" Ohne darauf einzugehen, schob die Dame ihre Nickelbrille höher auf ihren Nasenrücken. Dass sie dafür ihren Mittelfinger nutzte, entging Lily nicht. "Sie sind in der letzten Nacht spät nachhause gekommen, Fräulein Theodora." "Und?" "Sie haben mal wieder vergessen den Haupteingang abzuschließen", tadelte die Nachbarin nicht zum ersten Mal, obwohl sie allmählich verstanden haben sollte, wie egal Lily die Hausordnung diesbezüglich war. "Dabei wissen Sie ganz genau, dass nach 22:00 Uhr die Tür immer -" "Entschuldigung", meldete sich ein Stimmchen aus dem Hintergrund. Leise und schüchtern, aber überraschend genug, um Lilys Herz rasen zu lassen. Wie hatte sie MJ nur vergessen können? Und warum musste sich das entlaufene Rotzgör ausgerechnet dieser Sittenwächterin zeigen? Wenn die Alte auch nur ansatzweise mitbekam, dass MJ vermisst würde, dann ... "Das war meine Schuld. Meine Tante hat mich gestern noch vom Flughafen abgeholt. Ich hab sie bestimmt abgelenkt, sodass sie die Tür vergessen hat. Bitte schimpfen sie nicht mit ihr." Sprachlos schielte Lily über ihre Schulter, wo sie ein Mädchen entdeckte, das sich doch tatsächlich gerade eine Krokodilsträne herausdrückte. Die Morgensonne setzte dem Schauspiel die Krone auf, indem sie MJ in einen bildhaften Unschuldsengel verwandelte. "Oh Süße, mach dir keine Gedanken. So schlimm ist das nicht", säuselte die Nachbarin mit einem Lächeln im Gesicht wie es Lily noch nie zuvor gesehen hatte. "Ich wollte deine Tante nur daran erinnern die Tür immer zu schließen, damit kein Fremder hier ins Haus kommt. Aber jeder kann mal was vergessen." Ihre Mundwinkel froren in der Höhe ein, als sie sich wieder an Lily wandte. "Sie haben also eine Nichte?" "Ähm, ja", nickte das 27-jährige Einzelkind. "Meine viel, viel ältere Schwester hat mich gebeten auf die kleine Mary Jane aufzupassen." "Mary Jane? Ein hübscher Name für so ein süßes Ding", widmete sich die Frau erneut dem Familienzuwachs. "Komm mich doch mal besuchen, ja? Ich wohne gleich am anderen Ende des Flurs." Ein letzter Blick traf Lily wie ein Projektil. "Da kann sie sich auch mal waschen", schoss ihr Vorwurf aus zusammengepressten Zähnen, ehe sie MJ zum Abschied zuwinkte und dann davon tippelte. Lily warf die Tür in den Rahmen, atmete durch und musterte MJ, bis eine Wolke endlich den falschen Heiligenschein überdeckte. "Tante?" "Ich wollte nur helfen. Sie haben mir nach dem Unfall doch auch geholfen." Dass ihre Hilfeleistung nicht uneigennützig gewesen war, behielt Lily für sich. "Ja, schon gut." Gegen das Türblatt gelehnt musterte sie ihre unerwartete Nichte, die sie jetzt wohl nicht so einfach in einen Zug setzen konnte, ohne das Misstrauen der alten Schachtel zu erwecken. "Wie es scheint, wirst du wenigstens für ein paar Tage hier bleiben müssen", seufzte sie. "Wirklich? Aber ich dachte, dass Sie -" Mit erhobener Hand wedelte Lily MJs Erstaunen beiseite. "Das 'Sie' kannst du dir klemmen. Viel zu auffällig. Nenn mich Lily beziehungsweise Tante Lily, wenn uns jemand zusammen sieht. Falls du die Wahrheit gesagt hast und dich wirklich niemand suchen sollte, dürfte es keine Probleme geben." Argwöhnisch achtete sie auf jede noch so kleine Regung in MJs Gesicht, aber darin spiegelte sich kein Anzeichen einer Lüge. Offenbar stimmte es also tatsächlich, dass kein Mensch dieses Kind vermisste. Warum das so war, interessierte Lily allerdings nicht. Immerhin hatte jeder sein eigenes Päckchen zu tragen und Lily Theodora hatte beim besten Willen nicht vor, irgendjemandem einen Teil seiner Last abzunehmen. Lieber lud sie anderen etwas auf. Wie zum Beispiel das Vertreiben von Spinnen oder Nachbarinnen. ~ Gedankenverloren stierte Lily an die Decke über der Kücheninsel. Sie ließ die letzten Stunden Revue passieren und versuchte sich einzureden, dass ihr Familienzuwachs bloß das Resultat einiger Zufälle war. Allerdings meldete sich dabei immer wieder der Pragmatiker in ihr, um ihr mitzuteilen, dass Lily eigentlich überhaupt nicht an Zufälle glaubte. "Ich bin fertig", wurden ihre Überlegungen abgelenkt. Lily löste ihren Blick aus der Höhe und richtete ihn auf MJ, die in der Badezimmertür stand. Befreit von Dreck und diesem furchtbaren Kleidchen. "Gut, dass ich meine alten Sportklamotten noch nicht ausgemistet hab, hm?", deutete Lily auf ihren Pullover, der kaum seinen ursprünglichen Schnitt erkennen ließ. Viel eher formte er jetzt einen übergroßen Kokon und MJ darin eine Baumwollraupe. "Aber denk ja nicht, dass ich dir aus reiner Nächstenliebe meine Sachen und das Gästezimmer überlasse." MJ nickte. "Natürlich. Ich will mich hier auch gar nicht einfach so einnisten, also", warf sie Lily ein warmes Lächeln zu, "was kann ich dafür tun? Wie kann ich mich nützlich machen?" "Stichwort: Haushalt", blockte Lily mit einem kalten Grinsen ab. In ihrem Hinterkopf spukte die Idee einer kostenlosen Bediensteten, die das teure Hausmädchen vorübergehend ersetzen könnte. "Du scheinst ja fit genug zu sein. Von daher wird es wohl nicht schaden, wenn du die Wohnung aufräumst und putzt. Außerdem", zeigte sie auf den Herd hinter der Kücheninsel, "täte es gut, mal wieder vernünftig zu essen. Die ständigen Restaurantbesuche gehen mir nämlich auf die Nerven." Mental genoss Lily bereits die ersten Mahlzeiten, von denen sie annahm, das ein Kind sie schon irgendwie zubereiten konnte, wenn man ihm nur ein Kochbuch vor die Füße warf. Sie verschluckte sich. "Wer stört denn jetzt schon wieder?" Auf dem Tresen brummte ein Handy um Lilys Aufmerksamkeit. "Was will die denn?" Mit einem Finger deutete sie MJ, dass sie ruhig sein sollte. Erst dann nahm sie das Gespräch an. "Was willst du, Candace? Ach ja? Wirklich? Was du nicht sagst." Manikürte Nägel klapperten auf der Arbeitsplatte. "Das ist mir doch egal. Wenn du nicht willst, dass deine Aufenthaltsgenehmigung frühzeitig abläuft, würde ich dir raten, dem Inspektor so lang Honig ums Maul zu schmieren, bis er endlich Ruhe gibt." Lilys Handfläche klatschte auf Granit. "Glaubst du vielleicht, dass es mir Spaß macht abzuwarten? Ich hab auch keinen Bock mehr, ständig aufpassen zu müssen, also kümmer dich gefälligst darum, dass dieser Kerl aufgibt. Nichts 'aber'! Er soll die Ermittlungen abschließen und den Fall zu den Akten packen. Das Geld ist weg, die Bank hat bezahlt." Lily lachte. "Niemand wird Spuren auf den Servern finden, hörst du? Niemand! Kein Mensch schafft das, denn ich bin Lilith! Und was das bedeutet, weißt du! Tu also, was ich dir sage, Candace. So wie jeder andere auch." Das Handy schlidderte über den Tresen, über den Rand hinaus und direkt in MJs Hände. "Ich hoffe für dich, dass dir das gerade eine Lehre war", verkündete Lily mit gereckter Nase. "Sei also nicht so dumm wie dieses Weib am Telefon und mach lieber gleich, was ich will. Und ich will, dass du den Haushalt übernimmst, so lang du hier bist, kapiert?" MJ erwiderte ihren Blick mit weit aufgerissenen Augen und einem großen O auf den Lippen. "Wow, du bist echt willensstark, Lily." Dies entsprach nicht ganz der Reaktion, die Lily erwartet hatte, aber Ehrfurcht war ihr letztendlich ebenso recht wie Angst. "Dann sind wir uns also einig", gluckste sie. "Ja, aber -" "Was 'aber'?", fauchte Lily. "Wieso kommt ihr mir alle mit einem 'aber'?" MJ zuckte zusammen, ehe sie kleinlaut verkündete: "Ich kann nicht kochen." Kapitel 6: ... vor dem Fall --------------------------- MJ hatte nicht gelogen. Sie konnte definitiv nicht kochen. Obwohl Lily ihr unzählige Rezeptbücher vor die Nase gehalten hatte, schien MJ daraus absolut keinen Nutzen zu ziehen. Zumindest keinen, der für Lily nützlich gewesen wäre. Zwar häuften sich jetzt diverse Kräutertöpfe auf dem Balkon, aber kein Blättchen schaffte es in einen Kochtopf. Es war zum verrückt werden. MJs Interesse galt den Pflanzen, aber nicht deren Zubereitung. Einzig, um Tees aufzugießen, erntete das Kind hin und wieder etwas von ihrem Grünzeug. Wobei Lily zugeben musste, dass sie auf genau diese Tees auch nicht unbedingt verzichten wollte. Der Geschmack war unnachahmlich und erinnerte nicht ansatzweise an die Plörre, die man sonst aus Teebeuteln gewinnen konnte. MJ mochte kein Händchen für Nahrungsmittel haben, aber von Heißgetränken hatte sie Ahnung. Normalerweise wäre das natürlich kein Grund für Lily gewesen, MJs Versagen einfach so zu dulden, doch trotzdem drückte sie ein Auge zu. Immerhin bemühte sich das Kind wenigstens, anderweitig ihren Platz in der Wohnung zu rechtfertigen. Und dabei stellte sie sich gar nicht so dumm an. Seit Wochen lag bereits kein Staub mehr auf den Möbeln. Die Böden glänzten. Müll, der hauptsächlich aus Verpackungen diverser Fertiggerichte bestand, wanderte sofort in die Tonnen vor dem Haus. Betten waren gemacht und das Bad stets geputzt. Alles in Allem glich das Appartement einem gut geführten Haushalt. Einem, in dem Lily sich wohlfühlte. Und einer, der bei Weitem günstiger war als jener, den sie zuvor immer teuer bezahlt hatte. Ja, die Putzfrau war endlich überflüssig. Wobei es nicht bloß der Kostenfaktor war, der Lily zufrieden stimmte. Schließlich musste sie sich nun auch keine Gedanken mehr über eine Fremde machen, die vielleicht ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die niemanden etwas angingen. Lilith, Lily Theodoras zweite Identität, schien sicherer als jemals zuvor, denn MJ würde sie bestimmt nicht ausplaudern. Warum auch? Wieso sollte MJ die Frau verraten, die ihr Unterschlupf gewährte? So dumm war sie nicht. Würde sie niemals sein, solang auch Lily kein Interesse daran zeigte, die kleine Ausreißerin irgendwo anzuschwärzen. Man konnte also durchaus davon sprechen, dass sie beide Vorteile aus der Situation zogen. Lily liebte Vorteile - egal welcher Art.   "MJ", rief sie durch die offene Badezimmertür und hustete im gleichen Atemzug. Wasserstoffperoxid reizte ihre Lungen annähernd so sehr wie ihre aktuelle Tätigkeit ihr Nervenkostüm. Lily hasste es, sich die Haare eigenständig blondieren zu müssen, seit sie ihren Friseur des Vertrauens nicht mehr aufsuchen konnte. Noch nicht zumindest. Obwohl ein halbes Jahr nach dem Vorfall in der Bank vergangen war, wagte sie es weiterhin nicht, sich in der näheren Öffentlichkeit blicken zu lassen. Zu groß war die Gefahr, vielleicht doch erkannt zu werden. Der Bankdirektor hatte nämlich bisher nicht aufgegeben, die sexy Blondine ausfindig machen zu wollen. So ungefähr hatte es Candace doch formuliert gehabt, oder? Lily nickte ihrem Spiegelbild zu. Bestimmt hatte er sie derart umschrieben. Als sexy Blondine mit der Statur einer griechischen Göttin. Oder einer römischen? Einer ägyptischen? Oder ...   "Was ist?", stoppte MJ die religiösen Gedanken. Sie tapste ins Bad, bremste knapp hinter der Tür und hielt sich demonstrativ die Nase zu.    "Hab dich nicht so", maulte Lily, ein erneutes Husten unterdrückend. "Komm lieber rein und sag mir, ob ich alles getroffen hab." Mit einem Pinsel in der Hand umwirbelte sie ihren Ansatz wie ein Zauberer seinen Trick mit dem Zauberstab. Lilys Haar verwandelte sich derweil von einem natürlichen Braun in ein unnatürliches Blond.    "Puh", stieß MJ aus, ehe sie sich überwand und endlich näher trat. Auf Zehenspitzen reckte sie sich in die Höhe, um Lilys Kopf begutachten zu können. "Sieht gut aus."   "Das ist ja wohl nichts Neues", grinste Lily. "Aber jetzt geht es um meine Haare. Habe ich die Blondierung überall verteilt?" Durch den Spiegel spähte sie auf das Mädchen hinter sich.    MJ verdrehte die Augen, kicherte dann: "Selbstbewusst wie eh und je." Sie seufzte. Ernsthaftigkeit legte sich auf ihre Miene, als sie fortfuhr. "Ich bewundere das ehrlich. Du wirkst immer so stark und scheinst dich von nichts und niemanden unterkriegen zu lassen. Wie machst du das nur?"   Obwohl Lily keine Freundin der Kindererziehung war, verspürte sie den Wunsch ihre junge Mitbewohnerin nicht vollkommen planlos durchs Leben stolpern zu lassen. "Weißt du", setzte sie an und drehte sich um, "das kommt nicht einfach von jetzt auf gleich. Man wacht nicht morgens auf und fühlt sich plötzlich selbstbewusst oder stark. Um das zu erreichen, muss man erst einmal begreifen, was einen selbst ausmacht. Woraus man diese Stärke beziehen kann, verstehst du?"   Dass MJ es nicht wirklich verstand, sah Lily ihr an der Nasenspitze an, als die sich, während eines zaghaften Nickens, hob und senkte. "Irgendwann findest du sicher raus, was du drauf hast. Vielleicht entwickelst du dich ja sogar zu einer Sexbombe. Oder zu einer Hackerin, vor der die hiesigen Behörden Bammel haben müssen. Beides gleichzeitig wird zwar eher nicht der Fall sein, denn so ein Komplettpaket kann bloß ich bieten", feixte sie und knuffte MJ in die Wangen, "aber hoffnungslos bist du bestimmt nicht."    Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des Mädchens, wuchs und strahlte bald mit der Badezimmerbeleuchtung um die Wette.   "Wobei wir aber jetzt schon mal ausschließen können, dass du eine Köchin wirst." Lilys Grinsen überblendete alles um sich herum. Als MJ schmollte, lachte sie glockenhell auf. "Zieh nicht immer gleich eine Schnute. Und nun hopp, ich hab Hunger." Mit wedelnder Hand deutete sie auf die Tür.   MJ folgte dem Wink. Sie tapste los, drehte sich aber noch einmal um und verkündete: "Für diese Gemeinheit bestelle ich eine Pizza mit so viel Käse, dass du dick wirst." Kichernd wich sie einem fliegenden Handtuch aus.   Lily fischte ein neues aus dem Regal, um es sich um die Schultern zu wickeln. "Ich glaub, ich weiß, welches Talent dich ausmacht. Du wirst einmal die größte Nervensäge, die die Welt je gesehen hat!" Sie warf MJ einen bösen Blick zu, der seine Wirkung nicht verfehlte. Jegliche Albernheit wurde aus dem kindlichen Gesicht geschmettert. Zurück blieb ein verkrampftes Lächeln inmitten eines gesenkten Haupts. "Hey", zwang Lily sie dazu aufzusehen, "bist du etwa beleidigt?"   "Nein", wisperte MJ, "es ist nur so, dass ich bei dem Wort Nervensäge an etwas denken musste. Dabei will ich gar nicht mehr daran denken. Ich will ... ich will nicht ..."   Lily schnaufte. "Was auch immer das ist, woran du denken musst, vergiss es. Es juckt mich nicht, kapiert? Werd erwachsen! Und dazu gehört auch, dass man Vergangenes hinter sich lassen muss. Wie das hier." Demonstrativ zeigte Lily auf ihren blonden Schopf. "Unschönes sollte man einfach überdecken. Apropos -" Ihre Hände vollführten eine schwungvolle Drehung, um dann lieber auf das zu deuten, was Lily tatsächlich als äußerst unschön empfand. "- sobald du alt genug bist, sollten wir dieses Straßenköterbrünett unbedingt sofort von deinem Kopf verbannen. Das geht ja gar nicht."   Perplex glotzte MJ zu ihrer Gönnerin, ehe sie auf einige ihrer eigenen Haarsträhnen schielte, die sich immer wieder aus ihrem Zopf mogelten. "Ähm."   "Nichts ähm", äffte Lily sie nach, "vertrau mir. Eine neue Frisur macht eine ganze Menge aus." Widersprüche verbat sie, indem sie sich abwandte und zeitgleich forderte: "Und jetzt raus hier. Kümmer dich um die Pizza, während ich mir das Zeug abwasche." Sie riss sich das Handtuch von den Schultern, stockte. "Und wehe dir, wenn du extra Käse bestellst, Fräulein!"   Endlich schlich sich das Lächeln zurück auf MJs Lippen. "Alles klar", nickte sie. "Und dazu bereite ich dir einen Tee, ja?"   "Da sag ich nicht nein", gestand Lily, ehe die Badezimmertür hinter dem Mädchen ins Schloss fiel.   ~   Die Blondierung kribbelte ihr noch immer in der Nase, als Lily am Abend vor ihrem Schreibtisch lungerte. Um dem Gefühl entgegenzuwirken schnupperte sie an dem Kräutertee, dessen Dämpfe aus der Tasse krochen wie Nebel über einen See bei Tagesanbruch. "Ah", seufzte sie, "so beruhigend. Wie machst du das bloß?"   "Ich mache gar nichts", winkte MJ ab und plumpste dabei beinahe hin, weil sich ihre Füße in der übergroßen Wolldecke verhedderten, die sie gerade vom Sofa zum Schreibtisch schleppte. "Das sind die Kräuter. Ein Hauch Kamille wirkt Wunder, wenn man runterkommen möchte. Und das, ohne so müde zu machen wie Baldrian", erklärte sie beiläufig, während sie es sich auf einem Stuhl neben Lily gemütlich machte. Sie mummelte sich ein, bis sie etwas darstellte, das an ein Knäuel mit Augen erinnerte.   Lily schmunzelte in ihre Tasse. Obwohl sie nie verstanden hatte, warum sich Menschen Haustiere zulegten, die einen ständig umwuselten, glaubte sie, es allmählich nachvollziehen zu können. Wobei ihr Haustier sogar noch Tricks beherrschte, mit dem kein anderes prahlen durfte. Hunde apportierten vielleicht die Zeitung, entsorgten sie aber nicht mitsamt des restlichen Mülls. Katzen saugten keine Böden und Kaninchen kochten gewiss keine Tees.    "Hab ich zu viel Melisse reingemacht, oder wieso guckst du so entspannt?", kicherte das Knäuel.   Lily boxte gegen den Teil der Decke, unter dem sie MJs Füße vermutete. "Sei nicht so aufmüpfig. Da ist man einmal aufrichtig und wird dafür noch dumm angemacht." Theatralisch seufzte sie in ihren Tee. Dampf stieg auf und vertrieb endlich die letzten Noten der Blondierung aus ihrer Nase. "Das ist ein echtes Wundermittelchen."   "Die Magie der Natur", verkündete MJ und schielte quer durch das Wohnzimmer, direkt zur Balkontür, hinter der sich ihre Kräutertöpfe wacker den nächtlichen Temperaturen stellten. Trotz des nahenden Frühlings, war es nach Sonnenuntergang noch immer eisig kalt. Bei dem Wetter setzte man keinen Hund vor die Tür - und gewiss auch kein anderes Haustier.   Der Tee verteilte eine Wärme in Lily, die sie vor Wochen noch für unmöglich gehalten hatte. Ihr war, als würden die Kräuter sie tatsächlich verzaubern, obwohl das natürlich viel zu blödsinnig klang, um es auszusprechen. Daher sagte sie bloß: "Ernsthaft, dein Zaubertrank tut mir wirklich gut. Ich habe teilweise sogar das Gefühl, weitaus mehr zu schaffen, nachdem ich was davon getrunken hab. Manchmal kommt es mir so vor, als wären die Server nie leichter zu knacken gewesen. Als würde man mir die Türen aufhalten und darauf warten, dass ich mit den bestellten Informationen herausspaziere. Vermutlich könnte ich jeden hacken." Lily betrachtete ihr Spiegelbild in der Tasse und erfreute sich am Glanz ihrer eigenen Augen. Ihr starrte eine Frau entgegen, die in ihrem jungen Leben schon einiges erreicht hatte. Lilith hatte sich zu einer der besten Hackerinnen weltweit entwickelt; zu jemandem, den das Darkweb anhimmelte, die gefeiert wurde, und wichtiger noch, die man nur zu gern dafür bezahlte, dass sie ihre Talente nutzte. Konnte es überhaupt besser werden?   "Jeden?", kicherte MJ. "Na, wie du meinst."   Lily blinzelte und sah auf. Sie blinzelte erneut, bis sie vor ihrem inneren Auge den Faden fand, den sie fast verloren hatte. "Glaubst du mir etwa nicht, dass ich jeden hacken kann?" Das Deckenknäuel bebte. "Doch, doch!" MJ biss in die Wolle, konnte ihr Grinsen damit jedoch nicht tarnen.   "Fräulein", mahnte Lily, "willst du behaupten, ich könnte das nicht?" Sie riss MJ die Decke aus dem Gesicht und lehnte sich vor. Aus nächster Nähe beobachtete sie, wie die Freude deutlicher Skepsis wich. "Ich wette mit dir, dass ich wahre Wunder vollbringen kann."   "Schon klar", winkte MJ ab, schnappte nach der Decke und zupfte sie zurecht, bis sie ihren Kokon wiederhergestellt hatte. Sie gähnte.   "Mein Enthusiasmus scheint dich ja sehr zu langweilen", zischte Lily. Neben ihr knallte die Teetasse auf den Schreibtisch. "Gut, ich beweise es dir!" Warum ihr überhaupt etwas daran lag, sich einem Kind gegenüber zu behaupten, wusste Lily selbst nicht. Ihr Ego war auch viel zu angekratzt, um daran einen Gedanken verschwenden zu wollen.   Im Gegensatz zu ihr, wirkte MJ nicht sonderlich aufgewühlt, bloß eingewühlt in eine Decke, die das Kind jetzt scheinbar endgültig verschlucken wollte.   Lily schnaufte, wandte sich ihrem Laptop zu und atmete durch, um die beflügelnde Energie in sich vollständig entfalten zu lassen. "Erinnerst du dich an diese Fernsehübertragung vor einigen Wochen?", fragte sie, während ihre Finger die ersten Tasten zum Klappern brachten.   "Was meinst du?", nuschelte MJ und wirkte tatsächlich wieder etwas wacher.   Zufrieden darüber, die Aufmerksamkeit geweckt zu haben, erklärte Lily: "Na, als sich dieser L in den Kira-Fall eingeschaltet hat."   Die Decke spuckte MJ aus. Das Mädchen saß kerzengerade auf ihrem Platz und spitzte die Ohren. "Ich versteh nicht."   "Ach ja", murmelte Lily, "du kannst davon wohl nichts wissen. Hör zu." Sie ließ von dem Laptop ab und rotierte auf ihrem Stuhl, bis sie MJ Auge in Auge gegenüber saß. "Im Internet wurden Aufnahmen einer japanischen Fernsehsendung hochgeladen. Mit englischen Untertiteln, damit auch wirklich jeder Depp mitbekommen konnte, was da passiert ist. Nämlich folgendes: Ein Detektiv hat sich Kira entgegengestellt. Erst hat er einen Todeskandidaten als Double vor die Kamera geschickt, um zu sehen, was Kira unternimmt. Der hat es sich nicht nehmen lassen und den falschen Kerl direkt umgebracht. Daraufhin meldete sich eine Computerstimme hinter einem verschnörkelten oldenglish 'L' zu Wort und hat Kira richtig provoziert. Anscheinend mischt da ein schlaues Bürschchen aus dem Verborgenen mit. Ich hab recherchiert. Niemand weiß, wie der Detektiv aussieht oder wo er sich überhaupt aufhält." Lily schnappte nach Luft und zeitgleich die Teetasse, aus der sie einen großen Schluck trank, um ihrer Kehle nach dem Redeschwall wieder etwas Feuchtigkeit zu gönnen.   "L", wisperte MJ.   "Sag ich doch", schmatzte Lily und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Sie warf MJ einen tadelnden Blick zu, ehe sie ihn auf den Laptop richtete. Ihr Gesicht tauchte in den Schein des Monitors. "Bisher war es mir ziemlich schnuppe, wer der Kerl ist, aber da wir ja ein Beispiel suchen, an dem ich dir mein Können demonstrieren kann, kommt der doch ganz gelegen, oder?"   "Aber -"   Lily hörte nicht weiter zu, sprach auch bloß noch zu sich selbst. "Wenn ich herausfinde, welche Frequenz er angezapft hat, kann ich Ls Signal bestimmt zurückverfolgen. Sollte der Computer, von dem aus er seine Nachricht geschickt hat, weiterhin in Betrieb sein, kann ich ihn auch finden. Jedes Gerät hinterlässt Spuren. Nicht nur IP-Adressen, sondern ganz individuelle Abdrücke. Das bedenken viele nicht, aber Profis meines Formats konzentrieren sich auf solche Kleinigkeiten."   "Du willst L hacken?"   MJs Quieken riss Lily aus den Selbstgesprächen. "Ganz genau. Also sieh zu und staune!"   ~    Es war weit nach Mitternacht, als das Appartement noch immer vom Klacken der Tastatur geflutet wurde. Während Lily einen Befehl nach dem anderen einhämmerte, tigerte MJ über das Parkett. Auf Socken zog sie eine Bahn vom Sofa zum Schreibtisch und machte das Staubsaugen dort für die nächsten Wochen überflüssig.   "Ha!" Lily klatschte in die Hände.   MJ stolperte. "Sag bloß -" Sie stürzte auf den Schreibtisch zu, fing sich und gaffte ungläubig auf den Monitor. "- du hast es geschafft?"   Lily wäre beleidigt gewesen, wenn ihr Stolz nicht alle anderen Emotionen übertüncht hätte. "Natürlich habe ich das." Sie warf ihre blonde Mähne über eine Schulter und nutzte den Schwung, um eine ausfallende Geste gen Laptop zu vollführen. "Wie du siehst, ist es mir gelungen, den Computer, den L für seine Auftritt genutzt hat, zu knacken. Es war, so muss ich zugeben, nicht ganz einfach aber trotzdem machbar."    "Unfassbar", hauchte MJ und ließ sich in den Stuhl neben Lily plumpsen. "Was jetzt?"   "Wie, was jetzt?"   "Na, was machst du jetzt?" Große Augen zierten MJs Gesicht, als sie auf den Monitor glotzte. Natürlich gab es darauf nichts für sie zu sehen, außer einem Quelltext, den sie eh nicht lesen konnte.   Lily betrachtete ihre Fingernägel. "Gar nichts." Sie spürte, dass die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sie wanderte, und genoss jede Sekunde, in der MJ sich nicht entscheiden konnte, was sie dazu sagen sollte. Ihr Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. "Menschenskind", stöhnte Lily, "hat es dir echt so die Sprache verschlagen? Krieg dich mal wieder ein. Ich habe den Meisterdetektiven bloß grob ausfindig gemacht und nicht sein ganzes System gehackt. Das", betonte sie, "wäre der Rede wert, aber darauf hab ich absolut keine Lust." Dass sie nicht wusste, ob sie es auch tatsächlich schaffen würde, verschwieg sie. Immerhin hatte es schon Stunden gedauert, L zu orten. Wie viel Zeit würde es dann in Anspruch nehmen, weiter vorzudringen? Viel zu viel. Und mit jeder Minute würde wohl auch die Wahrscheinlichkeit steigen, dass man ihren Eingriff bemerkte. Die Neugier eines Meisterdetektiven auf sich zu ziehen, erschien Lily nicht sonderlich clever.   "Also war es das?", wisperte MJ. So vorsichtig, dass sich nicht sagen ließ, ob sie enttäuscht oder erleichtert war.    "Fast", nickte Lily, verschränkte ihre Finger und brachte sie zum Knacken. Kurz darauf schwebten sie erneut auf die Tastatur. "Aber bevor ich die Verbindung kappe, werde ich noch eine Kleinigkeit zurücklassen. Nichts Besonderes, sondern bloß ein Souvenir, um es mir leichter zu machen, falls einer meiner Auftraggeber mal was von diesem L will."    "Glaubst du, das könnte passieren? Ich dachte, deine Auftraggeber", setzte MJ in Gänsefüßchen, "sind immer auf Geld aus. Es wird doch keiner so irre sein, L auf die Pelle zu rücken, oder? Man wird ihm doch nichts Böses wollen? Das ... das wäre ja ..."   Lily ignorierte die Panik in MJs Stimme, da sie sie für albern hielt. Sich um einen Fremden zu sorgen, war Blödsinn. Zumal Lily - Lilith - eh keinerlei Bedürfnis verspürte, dem Detektiven vorläufig in die Quere zu kommen. Schließlich wollte der Kira überführen und das war immerhin ganz in ihrem Sinne. "Locker bleiben, Mary Jane", winkte sie ab, ehe sie die Tasten wieder zum Klackern brachte. "Keiner meiner Kunden ist so bescheuert, den Typen zu boykottieren, der diesem Kira an den Kragen will. Jeder ist doch froh, wenn der hinter Schloss und Riegeln ist, denn dann normalisiert sich wenigstens wieder alles. Bis dahin halten wir alle brav die Füße still."   "Und trotzdem willst du jetzt irgendwas zurücklassen." MJs Blick bohrte sich in den Monitor, ihr Vorwurf in Lilys Trommelfell. Weiter ließ sie den aber nicht an sich heran.   "Nur eine Kleinigkeit", zuckte sie mit den Schultern, ohne ihr Tippen zu unterbrechen, "ein unauffälliges Programm, das es mir erlaubt, jederzeit von mir aufgespürt zu werden. Und mit unauffällig meine ich auch unauffällig", grinste sie. "Man könnte es glatt als einen Geniestreich bezeichnen, da es nämlich eigentlich total auffällig ist. Karl Klammer kennt immerhin jeder."   Lily erwartete Respekt, Anerkennung, vielleicht sogar Applaus, erhielt jedoch bloß ein "Hm?" von MJ.   "Du bist dafür noch zu jung", schimpfte sie als könne die Elfjährige etwas dafür. "Normalerweise ist Karl Klammer jedem ein Begriff. Das ist eine alte Software, die damals jeder HeimPC installiert hatte. Eine dumme Animation, so unschuldig glotzend, dass dahinter keiner eine Spionagesoftware vermutet."   "Aber L ist doch nicht dämlich", widersprach MJ inbrünstig. Sie sprang sogar auf und riss fast ihren Stuhl um. "Wenn da was installiert ist, das heut niemand mehr -"   "Setz dich wieder hin!", schnauzte Lily und wartete, bis MJ gehorchte und murrend Platz nahm. "So schlau bin ich auch. Deshalb wird Karlchen auch nicht aufploppen, solang er nicht aktiviert wird. Und das geschieht nur, wenn man von hieraus den Befehl gibt." Energischer als zuvor flogen ihre Finger über die Tastatur. "Jetzt halt aber die Klappe, damit ich endlich fertig werden kann."   ~   Ein halbes Jahr später war der Streit längst vergessen. Seither hatte MJ das Thema L nicht noch einmal angeschnitten und schien es auch sonst unbedingt vermeiden zu wollen. Immer, wenn er in den Medien im Bezug auf Kira erwähnt wurde, verstummte sie oder floh sogar aus dem Raum. Lily war das herzlichst egal. Ebenso die Berichterstattungen, aus denen sie nur heraushörte, dass Kira noch nicht gefasst worden war. Ein Umstand, der sie weitaus mehr kostete als ihre Nerven, denn allmählich nahm auch ihr Kontostand unangenehme Werte an. Ihr Guthaben hatte sich deutlich dezimiert und würde sich wohl auch nicht erholen, solang das Damoklesschwert des Killers über den Köpfen aller Krimineller schwebte. Niemand wagte es, in Aktion zu treten. Weder persönlich, noch indem Lilith engagiert wurde, um ihren Klienten Informationen zu beschaffen. Keiner fand den Mut, mit der Hackerin in Kontakt zu treten. Bis zu diesem Tag.   "MJ!", brüllte sie und riss die Tür zum Gästezimmer auf. Ein Zimmer, das MJ für sich nutzen durfte. Das Zimmer, das sich deutlich vom Rest der Wohnung unterschied. Denn hier herrschte Chaos. "Wie sieht's hier schon wieder aus?", ächzte Lily und stoppte im Türrahmen, da sie fürchtete, sich sonst in einer Wäscheberglandschaft zu verlaufen. Jegliche Kleidung, die sie MJ besorgt hatte, lag auf dem Boden verteilt, obwohl geöffnete Schranktüren davon sprachen, dass durchaus genügend Stauraum zur Verfügung stand. Bücher und Zeitschriften bildeten wacklige Türme, von denen Lily nicht sagen konnte, ob die abgebildeten Pflanzen sie zusammenhielten oder, ob nicht tatsächlich etwas aus ihnen wuchs. Naheliegend war der Gedanke. Immerhin ragte unzähliges Grünzeug in die Höhe. Aus Blumentöpfen, die MJ überall dort platziert hatte, wo man vielleicht noch den braunen Teppich hätte erkennen können.   "Ich räume morgen auf", meldete sich MJ von der Seite des Bettes, die nicht zugekramt worden war, zu Wort. Hektisch stopfte sie etwas unter ihr Kissen, ehe sie von der Matratze robbte und im Slalom auf Lily zuflitzte. "Was ist denn? Wieso bist du so aufgeregt?"   Es dauerte einige Sekunden, bis Lily den Anblick des Zimmers verarbeitet und den Grund für ihren Besuch hier wiedergefunden hatte. Der Ärger über das Chaos verflog. "Ich muss dir was zeigen", verkündete sie so laut, dass eine Lawine zwei Zeitschriftentürme zusammenbrechen ließ. "Komm mit!"   MJ hatte keine Chance zu widersprechen, da sie bereits hinter Lily in den Wohnraum gezerrt wurde. Sie musste rennen, um überhaupt mithalten zu können. "Was ist denn los?"   "Das ist los!" Lily bremste vor dem Schreibtisch. MJ rauschte an ihr vorbei, wurde aber von dem Griff um ihr Handgelenk umgeleitet und stolperte zurück. Atemlos stierte sie auf den Laptop, auf den Lily mit freier Hand deutete.    "Wow", schnaufte MJ und verdrehte die Augen, "du hast eine eMail. Wahnsinn."    "Wahnsinn", äffte Lily sie nach, nölte dann: "Sei nicht so sarkastisch. Das hier ist Wahnsinn!" Da sich im Gesicht des Mädchens keinerlei Begeisterung abzeichnen wollte, fuhr Lily fort: "Du schnallst es nicht, hm? Ich habe einen Auftrag. Und zwar einen, der so einfach ist, dass man schon fast ein schlechtes Gewissen haben müsste, wenn man das gebotene Honorar bedenkt."   "Als könntest du ein schlechtes Gewissen bekommen", wisperte MJ, bevor sie lauter nachhakte: "Jemand hat Lilith kontaktiert? Was sollst du denn machen?"   "Das ist ja das Witzige daran", erklärte Lily mit erhobenem Zeigefinger. "Ich muss nichts weiter tun, als ein paar Namen und Fotos herauszufinden. Sobald das erledigt ist, schicke ich das Zeug an meinen Auftraggeber und werde stinkreich." Freudestrahlend plumpste sie auf ihren Schreibtischstuhl.   MJ starrte über ihre Schulter. "Namen und Fotos? Ist das nicht genau das, was Kira braucht? Gibt es deshalb nicht diese Internetseiten, auf denen Leute andere Leute verpfeifen?"   "Und?" Warum MJ skeptisch, statt begeistert klang, begriff Lily nicht.   "Was, wenn dein Auftraggeber jemanden umbringen lassen will?"   "Ach, Kind", seufzte Lily, "was geht mich das an? Manchmal müssen Menschen halt sterben. Falls mein Kunde einen Grund hat, die Leute ans Messer zu liefern, kann mir das egal sein. Mich interessiert bloß die Kohle, die man mir versprochen hat."   "Einen Grund?", wiederholte MJ. "Was rechtfertigt denn einen Mord?"   "Betrug, Verrat, Vertrauensbruch, Neid, Hass und sogar Liebe", zählte Lily auf, als handle es sich um die Zutaten eines Rezepts. Am Ende winkte sie ab. "Wie gesagt: Mir kann es egal sein. Ich hacke einfach nur einen Server, schnappte mir Namen und Fotos und das war es dann."   "Woher willst du denn wissen, nach wem du überhaupt suchst, wenn du weder Namen, noch Bilder hast?"   Wieder schoss Lilys Zeigefinger in die Höhe. "Als Anhaltspunkt habe ich sowas Ähnliches wie Namen bekommen. Spitznamen, denke ich. Aber mein Kunde hätte gern die richtigen."   "Spitznamen", wiederholte MJ erneut. Leise wie ein Echo, das sich unsicher war, ob es gehört werden durfte. Zögerlich fragte sie: "Woher sollst du die Informationen denn holen?"   "Oh", lachte Lily, "das ist das Tüpfelchen auf dem i. Ich muss nicht mal irgendwelche Behörden hacken, sondern in ein Waisenhaus."   "Ein Waisenha -" Diesmal brach das Echo ab. "Wie lauten die Spitznamen?" Endlich schien sie von der Euphorie angesteckt worden zu sein. Ihre Stimme hatte sich beinahe überschlagen.   Lily nickte zufrieden, während sie auf ihren Monitor deutete, auf dem die Namen in der eMail geschrieben standen. "Lies selbst."   Als müsse sie ihren Kopf in ein Wespennest stecken, neigte MJ sich dem Bildschirm entgegen. Ihre Lider waren fest aufeinandergepresst und wagten es kaum sich zu öffnen. Dann schossen sie in die Höhe.    "Lächerliche Namen, oder?", kicherte Lily.   MJ ging nicht darauf ein, stattdessen ging sie wieder auf Abstand. "Und du willst das wirklich tun? Das könnten Kinder sein. Fast in meinem Alter. Unschuldige."   "Das macht doch keinen Unterschied", schnaufte Lily und rieb sich die Hände. "Geld ist Geld. Falls mein Auftraggeber einen Grund haben sollte, die an Kira zu verpetzen, geht mich das nichts an."   "Aber -"   "Jetzt sei ruhig!", fuhr Lily dazwischen. "Ich dachte, du würdest dich mit mir freuen, aber scheinbar interessiert dich die Kohle überhaupt nicht. Warum auch?", keifte sie. "Du lässt dich ja durchfüttern. Außer zum Putzen bist du zu nichts nutze! Und selbst das schaffst du nicht mal in deinem eigenen Zimmer, das ich dir auch noch zur Verfügung gestellt hab. Du taugst gar nichts, Mary Jane, bist bloß ein jämmerliches Anhängsel, das mir am Rockzipfel klebt!" Ihre Hand knallte so heftig auf den Schreibtisch, dass der Laptop wackelte. "Verzieh dich besser, bevor ich mich vergesse!"   Ein Wimmern kroch durch den Raum, ohne Lily zu erreichen. Sie schnaufte zu laut und überhörte dabei bewusst jeden Einwand, der sie von ihrer Mission abhalten sollte. Erst als MJ aufgab und ein "Okay" seufzte, spitzte Lily wieder die Ohren.   "Dann will ich dir nicht im Weg stehen", bedauerte MJ wie die Verlassene aus einer Liebesschnulze. Lily hasste den Klang ebenso wie die Frauen selbst, die sich einfach geschlagen gaben. Ihrer Meinung nach benahmen die sich viel zu unterwürfig und hatten keinerlei Respekt verdient. Erst recht nicht, wenn sie sich selbst noch erniedrigten. "Darf ich dir wenigstens einen Tee zubereiten, während du arbeitest?"   "Du bist echt erbärmlich", knurrte Lily. "Mach, aber danach lässt du mich in Ruhe."   ~   Stille lag über dem Appartement wie Dunst über einem See bei Sonnenaufgang. Der Morgen drückte sich durch die Fensterfront, presste die Nacht in die hintersten Winkel, bis sämtliches Schwarz von feurigem Rot verdrängt wurde. Rot leuchtete auch die Akkuanzeige des Laptops, der Stunden zuvor seinen letzten Befehl entgegengenommen hatte. Eine Anweisung, durch die in einem Waisenhaus die Firewall ausgelöst worden war, um die Bewohner vor dem feindlichen Übergriff zu warnen. Zu etwas anderem war MJ nicht in der Lage gewesen. Obwohl sie Lilith Monate lang über die Schulter gesehen hatte, hatte sie bloß gelernt, wie schnell man erwischt werden konnte, wenn man nicht vorsichtig genug war. Diese Lektion hatte sie beherzigt, hatte bewusst Fehler gemacht und dadurch gerade noch den Download des Namensverzeichnisses verhindern können, ehe es auf dem Bildschirm auftauchen konnte. Neben den beiden Fotos, die MJ seitdem nicht aus den Augen ließ. In ihre Decke gewickelt kauerte sie vor dem Schreibtisch, aber warm war ihr nicht. Kälte zerrte an ihr, obwohl die Heizung ordnungsgemäß arbeitete. Kälte, die aus MJs Inneren kam, die sich in ihr ausbreitete, die ihre Tränen womöglich gefrieren ließ, wenn MJ sie nicht ständig abwischen würde. Ihr Ärmel war bereits durchgeweicht und stank nach vergessener Wäsche. Ein Geruch, der allerdings nicht in der Lage war, den Duft der Maiglöckchen zu übertünchen, der immer wieder aus der Teetasse aufstieg.   "Wieso?", hauchte sie und sah aus dem Augenwinkel zu Lily, die neben ihr auf einem Stuhl lungerte. "Wieso ist Geld so wichtig? Wieso riskiert man dafür das Leben dieser wundervollen Menschen?" MJs Blick schweifte zurück auf den Monitor; auf die Fotos zweier Jungs, die wertvoller waren als alle Reichtümer der Welt. Über ihren Gesichtern prangte eine Fehlermeldung, die von unvollständig geladenen Daten berichtete. MJ ahnte, was das bedeutete. Sobald der Browser aktualisiert würde, wären die Fotos verschwunden. Und das war gut. Besser wäre es sogar, wenn die Bilder gänzlich von irgendwelchen Servern verschwinden würden, denn dann wären die Jungs sicher, nicht wahr?   "Hoffentlich reagieren die auf den Firewallalarm", schluchzte MJ und wischte neue Tränen in ihren Pullover. "Sie müssen einfach. Sonst kommt vielleicht der nächste Hacker, um Informationen zu klauen. Jemand, der die Bilder erst runterlädt, bevor er nach den Namen sucht." Dass sie selbst die Fotos noch immer speichern konnte, wusste MJ, denn wie Screenshots funktionieren, hatte Lily ihr erklärt. Aber sie durfte es nicht. Es war zu gefährlich, etwas aufzuheben, das jemand wie Kira missbrauchen konnte. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als sich die Bilder einzuprägen. Die Gesichter der Jungen, die sie sowieso niemals vergessen würde. Weder das verschmitzte Grinsen des Einen, noch den genervten Ausdruck des Anderen. Beides war so fest in MJ verankert, dass man es mit einem Löffel aus ihren Erinnerungen schälen müsste.   "Ihr würdet bestimmt anders gucken, wenn ihr wüsstet, was ich gemacht hab", wisperte MJ mit einem Seitenblick auf die Teetasse. Sie griff danach und ließ die letzte Pfütze durch die Keramik schwappen. Maiglöckchenduft wirbelte auf. "Ich weiß zwar, dass es richtig war, aber ihr würdet das sicher anders sehen. Ihr seid ja auch schlau und hättet garantiert einen anderen Weg gefunden, um die Daten zu beschützen." Der Strudel in der Tasse riss MJs Gedanken mit sich. Immer tiefer wurde sie auf den Grund gesogen, von dem sie glaubte, dass man sich darin vergraben konnte. Dort unten war es sicher ruhig. Niemand würde ihr Vorwürfe machen. Für gar nichts.    "Lily?", murmelte MJ, ohne die Frau neben sich anzusehen. "Wie schmecken Maiglöckchen?"   Eine Antwort erhielt sie nicht. Lily Theodora blieb stumm, zusammengesackt auf ihrem Stuhl, kauernd in verkrampfter Haltung, die sie vor Stunden eingenommen hatte. Tot wie der Akku, der die Bilder jetzt für immer löschte. Kapitel 7: Die Maske -------------------- Lilith drückte den Lichtschalter und zuckte zusammen, als hätte sie direkt in die Stromleitung gefasst. Geschockt starrte sie in den Überwachungsraum, der unter aufblitzenden Neonröhren nur schwerfällig seine Konturen annahm. Aus den Schatten tauchten weiße Wände und graue Spinte, die nicht ansatzweise so stocksteif dastanden wie Lilith selbst - oder ihr Herz. Erst das Pling der Lampen brachte es wieder zum Schlagen.   "Was zum Henker?", keuchte sie mit einer Hand auf der Brust. Ihre andere zitterte, während sie auf den Verursacher des Schrecks deutete, der mit stoischer Ruhe und einer Hasenmaske vor dem Gesicht auf dem Drehstuhl vor den Monitoren hockte, die das Geschehen in der Garage, dem Aufenthaltsraum, den Fluren und den Krankenzimmern zeigten.   "Hast du dich beruhigt?", wollte der Mann wissen, der jedes übertragende Bild gleichzeitig betrachtete, obwohl das theoretisch vollkommen unmöglich war. Praktisch war er dazu definitiv in der Lage, wie er schon häufig bewiesen hatte. Womöglich behinderte ihn dabei auch keine Maske.   "Noch nicht", gestand Lilith und stützte sich in den Türrahmen, da sich das Beben ihres Herzens jetzt auch in ihren Beinen bemerkbar machte. Sie fühlte sich an ihre ersten Versuche auf Schlittschuhen zurückerinnert. "Du hast mir echt einen Schock eingejagt!", maulte sie. "Was soll der Mist?"   L schob das grinsende Hasengesicht auf seine Stirn und präsentierte darunter seine eigene ungerührte Miene. "Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken." Er neigte den Kopf und fixierte Lilith eingehend. "Deine Reaktion erscheint mir übertrieben, wenn ich bedenke, dass es sich bei der Maske um dein Eigentum handelt. Allerdings -"   "Stimmt", stutzte Lilith. "Hast du die aus meinem Zimmer geklaut? Die Maske hing doch eigentlich an meinem Regal."   "- war meine Frage nach deinem Befinden nicht auf die jetzige Situation bezogen", überging L ihren Einwand und neigte seinen Kopf auf die andere Schulter, als wolle er Lilith aus jedem möglichen Winkel betrachten.   Sie wich seinem Blick aus. "Was meinst du?"   "Deinen emotionalen Ausbruch, nachdem wir Dr. Lewis in Mellos Zimmer angetroffen haben."   "Ach das", murmelte Lilith und hoffte, wenigstens etwas gefasster zu klingen als sie sich fühlte. Erfolglos. Ihre Stimme flatterte, zitterte annähernd wie ihre Hände, die sie eilig in den Ärmeln ihres weißen Pullovers verschwinden ließ. "Ich habe mich ein bisschen beruhigt, ja", stammelte sie weiter. "Weil der Doc gerade noch mal meinte, dass die OP ganz gut verlaufen sei. Was das Koma angeht, hat er seine Meinung aber nicht geändert." Fahrig zupfte sie an den Bündchen, krallte sich in ihnen fest, zerrte sie über ihre Fingerkuppen, obwohl sie wusste, dass jedes Versteckspiel überflüssig war. Etwas vor L zu verbergen war schlichtweg unmöglich. Sie hatte es lang genug versucht.   "Verstehe", raunte er nach abschließender Musterung und nickte. "Setz dich." L glitt aus seiner Hocke. Blanke Füße landeten auf den Fliesen, umrundeten den Drehstuhl und platzierten sich dahinter. Seine Aufmerksamkeit schweifte umgehend zurück auf die Monitore, doch Lilith wusste, dass sie dadurch nicht aus den Beobachtungen entlassen war. Natürlich könnte sie sich der Analyse entziehen, indem sie einfach ging, Ls Aufforderung ignorierte und sich in ihrem Zimmer verbarrikadieren, aber wozu? Um mit ihren Gedanken allein zu sein, die sofort zu dem Patienten abschweifen würden, von dem niemand wusste, ob er überlebte? Was brachte das? Am Ende würde Lilith ja doch wieder in den Überwachungsraum zurückkehren, der ihre einzige Möglichkeit bot, ein Auge auf den komatösen Mann zu werfen. Mehr konnte sie nicht tun.   "Verdammt", verfluchte sie sich selbst und ballte die zittrigen Hände zu ebenso zittrigen Fäusten. Ihre Muskeln zuckten unkontrolliert, während sie den Platz neben L anvisierte, darauf zu schwankte und schließlich in das Polster sackte. Der Drehstuhl knarzte, als Lilith sich den Bildschirmen widmete. Einem nach dem anderen. Die Flure waren verlassen, die Garage in Dunkelheit gehüllt und im Aufenthaltsraum wurde das Abendessen vorbereitet. Die Krankenzimmern mied sie. "Sieht alles ganz ruhig aus, hm? Niemand ist uns hierher gefolgt. Und falls doch, würde Ricks Sicherheitssystem bestimmt funktionieren, oder?"   Lilith hielt den Atem an, als Ls Kopf neben ihren schwebte wie eine Spionagedrohne. "Natürlich", erklärte er aus nächster Nähe, ohne zu blinzeln. Beiläufig fügte er hinzu: "Der Alarm würde sofort ausgelöst, sollte sich ein Unbefugter in unseren Räumlichkeiten aufhalten. Zudem ist das Verteidigungssystem einsatzbereit. Die Gasbehälter sind ausreichend gefüllt."   "Klingt doch gut. Auf Rick ist eben Verlass."   "Wieso siehst du nicht auf die Monitore, die die Krankenzimmer zeigen?", wollte L wissen. "Ich hatte angenommen, dass dein Interesse vorrangig diesen gelten würde." Sein Daumen schob sich zwischen seine Lippen. "Möglicherweise vermeidest du es aber, da -"   "Ich vermeide gar nichts", zischte Lilith. "Glaubst du etwa, ich hätte Angst, ihn anzusehen, während er dort im Bett um sein Leben kämpft? Schwachsinn! Wenn das so wäre, wäre ich wohl kaum hierher gekommen, oder?", keifte sie weiter, riss den Kopf zu L und zuckte zusammen, als sein Daumennagel vor ihrer Nase knackte.   "Nein", raunte er monoton. "Möglicherweise vermeidest du die Betrachtung durch die Monitore, weil du es bevorzugst, lieber direkt zu ihnen zu gehen."   Lilith konnte ihre geweiteten Augen in Ls erkennen - wie in einem Spiegel, den man nicht vorgehalten bekommen wollte. "Und nochmal: Schwachsinn", betonte sie. "Du weißt ganz genau, dass ich das garantiert nicht will. Mich ihnen zu zeigen steht wirklich ganz weit unten auf der Liste der Dummheiten, die ich anstellen werde."   "LIFO", setzte L so trocken dagegen, dass Lilith schlucken musste. "Last in - first out. Nur weil etwas ganz unten auf einer Liste steht, bedeutet das nicht, dass es zuletzt abgearbeitet wird. In diesem Fall geht es um Prioritäten. Und deine oberste sollte es sein, persönlich die Patienten zu besuchen."   Lilith konnte dem durchdringenden Blick nicht länger standhalten. Schnaufend wandte sie sich ab und kreuzte die Arme vor ihrer Brust, presste sie an sich, als könne sie dadurch ihr Herz davon abhalten gegen ihre Rippen zu donnern. Ls Einwurf regte sie auf. Wütend war sie jedoch nicht. "Warum?", murrte sie in die Richtung der nächstbesten Wand. "Warum sollte ich das machen?"   "Muss ich dich an die Wahrscheinlichkeit erinnern, dass zumindest einer unserer Gäste sterben könnte?"   "Wie kannst du sowas sagen?", schoss Lilith zurück und Tränen in ihre Augen. Hektisch wischte sie diese beiseite, ehe sie sich zu L umdrehte und ihn warnend anstarrte.   "Ich beziehe mich auf die Aussage des Doktors", argumentierte L gewohnt sachlich, biss dabei allerdings energischer als sonst auf seinen Nagel. "Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Daher musst du dir bewusst werden, dass dies deine letzte Chance sein könnte, ihm nahe zu sein. Sollte er nicht aus dem Koma erwachen, gibt es keine weiteren Gelegenheiten für dich."   Ein Schlag in die Magengrube hätte Lilith nicht heftiger treffen können. Sie fuhr zusammen, duckte sich unter der Wahrheit, die L in den Raum geworfen hatte, und konnte ihr doch nicht ausweichen. Natürlich hatte er recht. "Aber", wimmerte sie, "aber falls er wach wird, während ... während ich ... dann ..."   "Das ist nicht ausgeschlossen", bekannte L mit einer Nuance in seiner Monotonie, die Lilith aufhorchen ließ. Sie blinzelte, um genau erkennen zu können, worauf er hinauswollte. "Dein Wunsch anonym zu bleiben, beherrscht deine Gedanken nach wie vor", erklärte er weiter. "Aufgrund dessen schlage ich dir vor, das hier zu nutzen." Endlich entließ er den Daumen zwischen seinen Lippen, führte ihn an seine Stirn und zupfte sich die Hasenmaske vom Kopf.   "Was? Ich kapier nicht", keuchte Lilith. "Was soll ich damit?" Wie hypnotisiert starrte sie auf das weiße Plastik, welches an einem Gummiband vor ihrer Nasenspitze baumelte.   "Aufsetzen", meinte L. Das Hasengesicht plumpste in Lilith' Schoß. "Wie damals, bei meinem Erwachen."   "L", seufzte sie, "das war doch nur, weil ..." Sie stockte, schob sich einige blonde Haarsträhnen hinters Ohr und atmete durch. Erst dann wagte sie es, die Maske behutsam in die Hände zu nehmen, um sie sich nach Jahren wieder genau zu betrachten. Den pausbäckigen Hasenkopf zierte ein Grinsen, das sich fast von einem Ohr zum anderen zog. Eine Stupsnase stach unter schwarzen Augen hervor, durch die man nur sehen konnte, wenn man die Maske selbst trug. Alles in allem handelte es sich um ein gewöhnliches Accessoire, das man in jedem Discounter kaufen konnte, aber auch um ein ungewöhnliches Geschenk, über das sie sich einst sehr gefreut hatte. Vor langer Zeit. "Die Situation ist jetzt eine ganz andere, also ..."   "Du hast damals deine Emotionen dahinter verborgen", erinnerte L. "Zusätzlich bliebe nun auch dein Gesicht unerkannt, ebenso deine Stimme, da das Material sie verzerrt. Somit", folgerte er, während er auf die Tür zu tapste, "besitzt du ein Element, das deine Identität effektiv unter Verschluss hält."   "Element?", gluckste Lilith humorlos. "Das Ding ist ein Spielzeug." Sie wollte lachen, Ls Vorschlag als Blödsinn abtun, ihm Abfälligkeiten an den Hinterkopf werfen - konnte es aber nicht. Stattdessen starrte sie auf die Maske, schwenkte sie, drehte sie von der Vorder- auf die Rückseite, schwenkte sie wieder. Das leichte Plastik wog unerwartet schwer in ihren Händen.   "Ein Spielzeug", wiederholte L, als er die Tür erreichte. "Dann solltest du damit spielen." Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in den Flur und trottete davon.    Lilith hörte seine sich entfernenden Schritte wie das Ticken einer Uhr. Sekunden verstrichen, formten Minuten, in denen sie bloß regungslos auf dem Stuhl saß, die Maske betrachtete und nachdachte. Über ein Versprechen, das sie sich selbst einst gegeben hatte, und über einen Wunsch, den sie sich so gern erfüllen wollte, obwohl sie genau damit das Versprechen brechen würde. Sollte sie? Oder sollte sie nicht? Wollte sie? Oder wollte sie nicht?   Sie wollte; hatte es seit Jahren gewollt, aber nie den Mut aufgebracht, diesem Willen nachzugeben. Bis jetzt.    "L sagt, dass ich mich hier hinter verstecken kann", murmelte sie, "also kann doch nichts schief gehen, oder?" Unbewusst kippte sie das Hasengesicht, damit es ihr zunickte, sie bestätigte, ihr Mut machte und die Angst vor dem nahm, das kommen könnte.  "Ja", hauchte Lilith, "es wird bestimmt klappen. Er wird mich nicht erkennen, falls -" Sie schüttelte den Gedanken von sich. "- sobald er aufwacht. Und wenn er es überstanden hat, werde ich einfach wieder verschwinden. Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut", versuchte sie sich einzureden und den Zweifel in ihrer eigenen Stimme zu ignorieren. "Alles wird gut. Alles wird gut", wiederholte sie unablässig, bis sie ihrer Lüge beinahe glaubte und es endlich wagte von der Maske aufzusehen. Ihr Blick suchte den Monitor, der das erste Krankenzimmer zeigte, in dem Dr. Lewis gerade nach dem Patienten sah. Routiniert prüfte er die Verbände und den Tropf, der neben dem Bett angeschlossen worden war, kontrollierte die Vitalwerte auf den Geräten und verließ schließlich das Zimmer. Ob er nun zu Mello in den gegenüberliegenden Raum ging, wollte Lilith nicht wissen. Sie achtete einzig auf das rote Haar des Mannes, den das Koma gefangen hielt, starrte auf sein bleiches Gesicht, das man auf dem weißen Kissen kaum ausmachen konnte, und erkannte einmal mehr, wie sehr sie sich danach sehnte seine Wangen zu streicheln. Vielleicht - nur vielleicht - würde er es spüren und dadurch wissen, dass es noch jemanden gab, der über ihn wachte und ihn so liebte wie bloß Lilith es konnte. Sagen konnte sie es ihm zwar nie wieder, aber es zu zeigen war möglich. Zumindest jetzt.   "Ich bin bei dir", hauchte Lilith an dem Kloß vorbei, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Sie schluckte, straffte die Schultern und stand auf, ohne den Patienten aus den Augen zu lassen. Erst als sich ihre Sicht durch die Hasenaugen verdunkelte, wandte sie sich ab. "Gleich." Fahrig zog sie sich das Gummiband über den Kopf und zupfte es über ihren zerzausten Dutt. "Gleich bin ich da", versprach sie, richtete das Plastik vor ihrem Gesicht und stülpte sich ihre Kapuze über. Zittrige Fingerkuppen ordneten den Stoff, bis er so saß, dass weder Haut, noch Haar hervorblitzten. Sie atmete ein. Und aus. Roch den künstlichen Duft, fühlte einen warmen, feuchten Film, der sich auf ihre Wangen legte, wie ein Schutzschild, hinter dem sie sich verstecken konnte. Lilith verschmolz mit der Maske. Ja, so war sie sicher; unbekannt für diejenigen, die sie nicht erkennen durften. Eine undurchschaubare Fremde, die irgendwann einfach wieder verschwinden würde, sobald die Zeit gekommen war. Doch bis dahin wollte sie da sein. Für ihn.  "Mail, ich komme", hauchte sie und trat in den Flur. Kapitel 8: Has(s)en ------------------- Der Duft frischer Kräuter wehte vorbei und verschwand im Nichts, als Mello die Augen aufschlug und erkannte, dass das Totsein nicht so war, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte stets gedacht, es wäre ... härter. Nicht wie das Liegen in einem Bett. Dunkler. Ohne penetrantes Licht, das einem die Lider zusammenschweißen wollte. Und - vor allem - ruhiger. Im Jenseits von schrillem Piepen in den Wahnsinn getrieben zu werden, hatte Mello nicht erwartet. Dabei hatte er mit Vielem gerechnet. Mit grausamen Szenen aus seiner Vergangenheit, die man ihm immer und immer wieder in Dauerschleife präsentierte. Vielleicht sogar mit dem Teufel persönlich, der sich einen Spaß daraus machte, Mello ins Fegefeuer zu schubsen. Doch dass seine Hölle letztendlich aus einem grell beleuchteten Raum bestand, in dem man ihm mit besagtem Piepen beschallte, war definitiv das abwegigste Szenario, das er sich jemals hätte ausmalen können. Am Ende verdiente er wohl aber nichts Besseres. Nur Einsamkeit in tristem Weiß. Warum hätte es auch anders sein sollen?   "Schöne Scheiße", knurrte Mello und bereute es sofort. Die Vibration seiner Stimmbänder echote ohne Umweg direkt in seinem Schädel, den er sich zu gern einfach vom Hals gerissen hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Das war er nicht. Er konnte sich kaum rühren, sich weder aufsetzen, da ihn die weiche Matratze regelrecht einsog, noch auf die Seite drehen. Allein der Versuch brachte Mello zum gequälten Stöhnen, als ihn ein Schmerz traf wie einst nach der Explosion des Mafiaquartiers. Geprellte Rippen waren zwar nichts im Vergleich zu fleischfressenden Brandwunden, aber jetzt - ohne verkohlte Hautfetzen, die einen ablenkten - war der Schmerz in seiner Brust verdammt intensiv. Aus Reflex presste Mello die Hände auf seinen Oberkörper und stöhnte noch lauter, als ein harter Gegenstand unvermittelt auf seine Rippen prallte.   "Fuck!", brüllte er und riss die Hände in die Höhe - an seinen Kopf, in dem sein Aufschrei schallte wie das Pfeifen einer Dampflok, die Mello prompt überrollte, als der harte Gegenstand auf seine Schläfe schepperte.   "Fuck! Verdammte ... Fuck!" Mit voller Wucht stieß er den Gegenstand von sich, spürte, dass er neben ihm auf die Matratze plumpste und von dort aus eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper jagte. Benebelt vom Pochen, Ziehen und Reißen, ächzte Mello auf, biss die Zähne zusammen und starrte auf die Ursache allen Übels. Ein Gips ummantelte sein linkes Handgelenk.    "Was zum Teufel?", knurrte er, während er seinen Arm anhob, um ihn eingehender zu mustern und festzustellen, dass es sich tatsächlich um einen stinknormalen Gips handelte, wie man ihn in Krankenhäusern verpasst bekam. Gab es Krankenhäuser in der Hölle? Wurden die Seelen erst zusammengeflickt, ehe man sie in der Ewigkeit zermarterte? Wohl kaum.    Allein diese Erkenntnis genügte, um Mello daran zu erinnern, dass man ihm den Tod nicht gegönnt hatte. Irgendjemand hatte sich zwischen ihn und das endgültige Nichts gestellt, aber wozu? Nur damit er jetzt in dieser weißen Einöde versauerte, die sich kaum Krankenzimmer nennen durfte, weil die gesamte Ausstattung schlichtweg improvisiert war? Nicht einmal das Bett war ein wirkliches Bett, sondern bloß eine Liege, wie sie Sanitätshäuser ausrangierten. Der Schrank gegenüber des Fußendes bestand zudem eindeutig aus drei Werkstattwagen, die man nebeneinander gestellt hatte, um Arbeitsfläche zu schaffen.   "Ich bin doch kein beschissenes Auto", fauchte Mello, stockte aber, da das fortwährende Piepen plötzlich mitsamt seiner Stimme anschwoll. Er riss den Kopf zur Seite, bis er die Quelle des schrillen Tons ausmachte. Rechts, unmittelbar in seiner Nähe stand ein altbackener Vitalmonitor, auf dem bunte Linien um die Wette hüpften. Jene, die Mellos Puls beschrieb, lag deutlich in Führung. Sie war rot und somit ein krasser Kontrast zu dem allgegenwärtigen Weiß, an das sich Mellos Augen nicht gewöhnen wollten. Egal wohin er sah, wurde er mit unnatürlicher Helligkeit konfrontiert. Selbst hinter dem einzigen Fenster, das sich neben dem Monitor befand, herrschte weiß. Weiß, weiß, weiß. Mellos Puls raste, bis sich die rote Linie fast überschlug. Überall Weiß und Leere, die von weiterem Weiß gefüllt wurde. Wo war er? Und wie kam er überhaupt hier hin?   Mello kramte durch sein Gedächtnis, ohne Hinweise zu finden, die seine Fragen beantworteten. Das einzige, woran er sich erinnerte, war der LKW, den er über die Landstraße gehetzt hatte, bevor sämtliche Lichter vom Schmerz in seiner Brust ausgeblasen worden waren. Danach gab es nichts. Bloß Dunkelheit, wo sich eigentlich die letzten Stunden befinden sollten. Nein, falsch. Da sollte gar nichts sein. Bloß der Tod, den Mello einberechnet hatte, als er die letzte Runde im Kampf gegen Kira eröffnete. Seinen Tod. Nur seinen.   "Matt", blitzte der Erinnerungsfetzen auf, den Mello jetzt absolut nicht vor seinem geistigen Auge sehen wollte. Daher wischte er ihn schleunigst davon und rieb sich die Stirn, obwohl er sich jeden Gedanken an seinen toten Freund lieber mit dem Gips aus dem Hirn geprügelt hätte. Aber das musste warten. Zuvor galt es herauszufinden, warum Mello hier war und wer ihm den Verband angelegt hatte.   Erneut beäugte er seinen linken Arm, reckte ihn in die Höhe, hielt ihn vor die penetranten Neonröhren, blinzelte und ließ ihn wieder sinken. Natürlich brachte das keine Erleuchtung, außer der, dass man bei dem grellen Licht auch dann keine Spuren entdecken würde, wenn sie denn da wären. Der Gips verschmolz einfach mit dem Weiß wie eine Schneeflocke mit einer Lawine. Ebenso alles andere um Mello herum, abgesehen von der roten Lebenslinie, die nicht aufhörte im Takt des Piepens auf und ab zu springen.    Mello warf dem Monitor einen giftigen Blick zu, der abprallte und schnurstracks zum Fenster schnellte. Etwas bewegte sich. Ein Schatten waberte hinter einer zweiten Scheibe, welche in eine gegenüberliegende Wand eingelassen worden war. Erst jetzt erkannte Mello den Flur, durch den sich Neonröhren schlängelten wie die, die ihn schon die ganze Zeit belästigten. Nur strahlten diese weitaus energischer, flackerten und raubten jegliche Sicht auf alles, das sich hinter dem anderen Fenster befand. Konturen verschwammen zu einem weißen Brei - aber Mello war klar: Dort gab es noch ein Zimmer!   "Andere Gefangene?", keuchte er, während er sich langsam aufsetzte. Es kostete ihn größere Kraft als er sich eingestand, seine unverletzte Hand in die Matratze zu drücken und sich irgendwie in eine aufrechte Position zu bringen. Seine Rippen protestierten gegen jede Bewegung, aber das hielt Mello nicht auf. Gebremst wurde er erst von dem Schwindel, der sein Hirn überschwappte wie Sirup und alles verschleierte, das sich vor Mello abspielte. Er wollte sich ohrfeigen, um die Benommenheit loszuwerden, kippte allerdings, als er den Arm hob und hielt sich doch lieber fest, um nicht von der Liege zu rauschen. Vorerst sitzenzubleiben war die bessere Strategie. Zumal er jetzt immerhin aus dem Fenster starren konnte, ohne sich den Nacken zu verrenken. Weitere Vorteile gab es nicht. Der Flur war trotzdem viel zu grell, um wirklich etwas sehen zu können.    Mello begann, jegliches Licht zu hassen. Sogar noch intensiver als das Piepen, welches sich in den letzten Minuten auf so ungesunde Frequenz beschleunigt hatte, dass ein Dauerton bei weitem erträglicher war. Dieser fiepte durch den Raum, als Mello den Pulsfühler von seiner Fingerkuppe rupfte und ihn in eine Ecke schleuderte. Wenigstens etwas Freiheit hatte er sich zurück erkämpft. Um den Rest würde er sich demnächst kümmern. Dann, wenn derjenige, der Mello hierher verschleppt hatte, begriff, wie falsch das gewesen war. Niemand sperrte ihn einfach ein, umwickelte ihn mit Gipsverbänden, schloss ihn an Monitore an und kam damit davon.   "Das wirst du büßen", grinste Mello verheißungsvoll und ignorierte dabei das Reißen seiner trockenen Mundwinkel ebenso wie den Wasserbecher, der ihm von einem Tischchen neben seinem Bett ins Auge stach. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Schatten, der hinter dem zweiten Fenster von rechts nach links schwebte, was natürlich blödsinnig war, da der Schatten definitiv zu einem Menschen gehörte und der gewiss nicht schwebte. Mello schärfte seine Sicht so gut es ging, blendete die Neonröhren aus und stierte durchs Glas, folgte den Schritten, blinzelte nicht. Ein Klacken. Mellos Aufmerksamkeit zuckte nach links. Dort, gegenüber seiner Tür, öffnete sich eine andere. Der Schatten trat heraus. Mello blinzelte. Blinzelte. Und blinzelte.    "Was zum Henker?", stutzte er und fauchte dann, "Bin ich in einem beschissenen Irrenhaus, oder was?"   Im Flur stockte eine Gestalt als hätte man ihr gerade einen Eimer Eiswasser übergekippt. Wie festgefroren stand sie da, rührte sich nicht und verschmolz annähernd mit der Umgebung. Der weiße Pullover war nur noch ein Fleck vor den weißen Wänden. Fast unsichtbar aber definitiv existent. Daran erinnerte sich scheinbar auch die Gestalt, denn allmählich kehrte das Leben in sie zurück. Sie drehte ihren Kopf. Schwarze Punkte unter einer Kapuze richteten sich auf Mello, der regungslos auf seiner Liege saß und nicht wusste, ob er lachen oder sich selbst eine verpassen sollte, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Ein Traum. Ganz bestimmt. In der Realität würde ihm wohl kaum ein menschengroßer Hase entgegen starren.   Letztendlich tat er nichts dergleichen. Mello verharrte, musterte die Maske, beobachtete, dass sie ihn beobachtete. Wie Beutetiere, die darauf warteten, wer von ihnen den ersten Schritt wagte. Mello wagte ihn. Er glitt von der Liege, stützte sich, bis sich seine Beine an die Last seines Körpers gewöhnt hatten, und schwankte anschließend auf das Fenster zu.    Dahinter wich der Hase zurück. Bloß ein paar Zentimeter, aber das genügte, um sich zu verraten.    "Ah", grinste Mello, "bist du etwa scheu, kleines Häschen? Hast du Angst vor dem großen, bösen Wolf?" Spott triefte aus jedem einzelnen Wort und Mello liebte sich dafür. Er wusste von seiner Wirkung, die er auf andere Menschen hatte; wusste, wie einfach es war, jemanden einzuschüchtern; wusste, dass jeder vor ihm einknickte, wenn er es wollte; wusste nicht, wie falsch er damit gerade lag.   Der Hase straffte die Schultern und trat wieder vor, bis ihn nur noch ein halber Meter und die Fensterscheibe von Mello trennten. "Ich bin ein Hase und nicht Rotkäppchen, Blödmann. Von wegen großer, böser Wolf", höhnte eine verzerrte Stimme hinter der Maske. "Wobei ich zugeben muss, dass du echt eine große Schnauze hast."   Mellos Faust krachte gegen das Fenster. "Was?", keifte er. "Sag das nochmal, du scheiß Karnickel!"   "Du hast eine große Schnauze", wiederholte der Hase. Schwarze Plastikaugen erhoben sich und fixierten Mellos verkrampfte Finger, die keinen Hehl daraus machten, was sie am liebsten zermalmen würde.   Glas vibrierte, als Mello erneut dagegen donnerte. "Hab ich das, ja?", keifte er. "Na, warte. Wenn ich dich in die Finger kriege, zeig ich dir, wie groß meine Schnauze ist. Dich zerfleische ich, bevor du überhaupt weißt, was mit dir passiert!"   Die Maske lachte. "Wirklich? Dann hab ich echt Glück, dass du mich nicht in die Finger kriegen wirst." Gespielt mitleidig neigte sie den Kopf, setzte hörbar zu weiterem Spott an und verschluckte sich an einem Keuchen. Ihr Blick ruckte zur Seite und, obwohl er es nicht sehen konnte, wusste Mello, dass sich die menschlichen Augen hinter dem Plastik weiteten. Die Gestalt verspannte sich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange, versteifte, starrte auf einen Punkt in der Nähe, wieder zurück durchs Glas, erneut auf den Punkt und hechtete los.   Mello reagierte. Er stürmte dem Hasen hinterher, auf die Tür zu, die bloß in den Rahmen gelehnt war, verfluchte sich dafür, genau das nicht sofort gesehen zu haben, packte den Knauf und merkte, wie er ihm aus der Hand gerissen wurde. Blitzschnell griff Mello zu, zerrte das Türblatt in seine Richtung, ließ es nicht im Schloss einschnappen.   Auf der anderen Seite ächzte der Hase. "Lass los!" Ein Turnschuh samt Fuß rammte gegen die Zarge, stemmte sich dagegen.   Mello tat es ihm gleich, presste sein Bein gegen den Rahmen, stöhnte auf und krümmte sich, als seine Rippen unter der Anspannung zu brechen drohten. In seinem Brustkorb bündelte sich Schmerz, der augenblicklich explodierte. Mello schrie, gab aber nicht auf.    "Lass los, Blödmann!", kreischte der Hase. "Denk an deine Verletzungen!"    Mello dachte gar nicht daran, an irgendwelche Verletzungen zu denken. Stattdessen schmetterte er den Gipsarm auf den Knauf, versuchte das Metall zu packen, scheiterte aber, da seine Fingerkuppen immer wieder und wieder abrutschten. Trotzdem schaffte er es mit einer Hand den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu vergrößern.   "Du verdammter Dickschädel!", brüllte der Hase und rüttelte am Griff, als könne er Mello dadurch abschütteln. Der Turnschuh quietschte an der Zarge, bohrte sich ins Holz.   "Gleich", stöhnte Mello, "bin ich hier raus." Siegessicher zerrte er weiter. Zentimeter um Zentimeter weitete sich der Spalt, bis der Ausgang halb offen war.    Der Hase verlor den Halt, rutschte mit dem Fuß ab, stolperte und schlidderte über die Fliesen in den Raum. Schnaufend rappelte er sich auf, ließ den Griff dabei endgültig los, wirbelte herum und kickte so energisch gegen die Tür, dass sie vollends aufsprang.    Mello wich dem Türblatt aus und schwankte zurück. Er lachte, war überzeugt gewonnen zuhaben, als der Hase ein Funkgerät aus seiner Pullovertasche rupfte. Unverzüglich dröhnte es hinter der Maske: "Ich brauche Hilfe! Der Kerl will abhauen."    Wie auf Kommando zischte es. Alarmiert flog Mellos Blick an die Decke. Gaswolken schossen aus mehreren Düsen, strömten durcheinander und tauchten das gesamte Zimmer in dichten Nebel. Er musste hier raus. Schnell. Mello torkelte vorwärts. Seine Sicht verwischte bereits, verschwamm wie das Spiegelbild in einem trüben Fluss - nur war es nicht sein Bild, das vor seinen Augen waberte, sondern der Hase, der die Plastiknase schützend in eine Armbeuge presste. Das Grinsen der Maske war dadurch zwar verdeckt, aber nichtsdestotrotz war Mello überzeugt es sehen zu können. Man lachte ihn aus. Ganz bestimmt. Zweifellos. Und dafür sollte der Hase bezahlen, schwor Mello, als er das Bewusstsein verlor.   ~   "Er hat sich keine weiteren Verletzungen zugezogen", murmelte eine tiefe, männliche Stimme hinter dem Lichtstrahl, der in Mellos Pupillen stach. "Und wie es aussieht, wacht er sogar schon wieder auf."   Mello wollte die fremden Finger von seinen Augen wischen, wollte demjenigen, der ihn blendete, die Lampe ins Gesicht rammen, ballte bereits die nicht eingegipste Hand, scheiterte jedoch kläglich daran sie zu heben. Etwas fixierte sein Gelenk. Beide Gelenke; und offensichtlich auch seine Füße, da diese tiefer als gewöhnlich in eine Matratze einsanken. Worauf er schon wieder lag, musste sich Mello gar nicht ausmalen. Er erinnerte sich noch zu gut an das improvisierte Bett.   "Das Kerlchen ist echt hart im Nehmen", gluckste eine helle, weibliche Stimme zu seiner Linken. "Na, bloß gut, würde ich sagen, oder? Was meinst du, Lilith?"   Nur ein Schnaufen. Mehr musste Mello nicht hören, um zu wissen, wen die Frau angesprochen hatte. Trotzdem sah er auf, schielte in die Richtung, aus der das Schnaufen gekommen war, und fand den Hinterkopf des Hasen, der vor dem Fenster stand und ungerührt in den gegenüberliegenden Raum blickte. War das tatsächlich der gleiche Hase, mit dem Mello um die Tür gekämpft hatte? Er war so winzig, mickrig, reichte Mello vermutlich gerade einmal knapp bis zur Nasenspitze. Und muskulös wirkte er - oder sie? - auch nicht, was umso ärgerlicher war, wenn man den Kraftakt am Türknauf bedachte. Mello schob seine Fast-Niederlage auf geprellte Rippen und einen Gips.   "Seien wir froh, dass es ihm, den Umständen entsprechend, gut geht", mischte sich der Mann ein.   Mello richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn und stöhnte genervt, als er zwei Köpfe über sich entdeckte, die halb hinter weißen Masken versteckt waren. "Was soll der Scheiß?", knurrte er. "Warum trägt jeder von euch Spinnern eine Maske?"   Die Köpfe tauschten amüsierte Blicke, ehe die Frau ihr Gesicht freilegte und breit lächelte. "Aus Hygienegründen, du Stinkstiefel. Oder wäre es dir lieber, wenn wir dich versehentlich anhusten oder so? Das ist doch eklig." Ihre brünetten Locken hüpften, als sie mit dem Kopf schüttelte.    "Wie rücksichtsvoll", zischte Mello. "Angehustet zu werden ist natürlich weitaus schlimmer als eingesperrt und angebunden zu sein."   "Die Ledermanschetten hast du dir selbst zuzuschreiben", tadelte der Mann, während er sich ebenfalls den Mundschutz hinabzupfte. Der weiße Stoff hing unter seinem Kinn wie ein Grinsen, das seine Lippen anstiftete ein Lächeln zu formen. "Normalerweise sehen wir von solchen Methoden gern ab, aber nach deinem Benehmen unserer Lilith gegenüber, hast du uns leider keine andere Wahl gelassen."   "Lilith?" Mello beäugte den Hasen, von dem er nicht wusste, ob die menschlichen Ohren unter den Plastelöffeln zuhörten oder nicht. "Ist das der Name dieser Irren da drüben? Klingt ziemlich bescheuert."   Lilith hatte zugehört. "Es kann ja nicht jeder so einen wunderschönen, wohlklingenden, imposanten - ach was - durchweg perfekten Namen haben, Mello", konterte sie über ihre Schulter hinweg. Sie drehte sich um, lehnte sich rücklings an die Scheibe und verschränkte die Arme vor der Brust.   Mello blieb nichts anderes übrig, als sich in die Laken zu krallen.    "Hey, nicht kaputt machen", schimpfte die gelockte Frau und klapste Mello auf die unverletzte Hand. "So viel Bettzeug haben wir nicht, also geh sorgsam damit um."   Ungläubig linste Mello in die Höhe, dann auf seine Hand und wieder in die Höhe. Wurde er tatsächlich gerade wie ein Kind behandelt, das Kekse aus einer Büchse gemopst hatte?   Das Lächeln des Mannes schwoll an. "Hör auf unsere Cara. Wenn es um solche Dinge geht, versteht sie keinen Spaß."    "Ach, Dr. Lewis", winkte Cara ab, während sich ein Rotschimmer auf ihre Wangen legte, "sag sowas nicht."   "Doktor?", schnappte Mello auf, ohne der ausgelassenen Stimmung Beachtung zu schenken. "Heißt das etwa, dass Sie tatsächlich Arzt sind?" Misstrauen zog seine Brauen zusammen. "Oder ist das bloß Teil dieser verdammten Freakshow?"   "Hey!", keifte Lilith im Hintergrund. "Reiß dich gefälligst zusammen. Die beiden haben dir nichts getan, also fahr die Krallen wieder ein, kapiert?" Sie stampfte auf das Bett zu, kam allerdings kaum merklich näher, trat sogar wieder einen Schritt zurück, als Mellos gereizter Blick sie traf.   "Wem ich meine Krallen zeige, geht dich einen Scheiß an, Karnickelvisage!"   Diesmal war es Lilith, die die Hände ballte. Fäuste bebten neben ihren Hüften, aber sie sagte nichts, schwieg, brodelte vor sich hin, was Mello ausreichend Genugtuung verschaffte, um sie links liegen zu lassen und sich wieder den anderen Anwesenden zuzuwenden.   "Tacheles", bestimmte er. "Was soll der Mist? Wieso bin ich hier? Was wollt ihr von mir? Wie lang wollt ihr mich gefangen halten?"   "Eine ganze Weile", gab Dr. Lewis mit einer Selbstverständlichkeit zurück, die keinen Zweifel an seinen Worten zuließ und sogar Rodds Gelassenheit nach einer Entführung in den Schatten stellte.   Für einen Sekundenbruchteil überlegte Mello, ob es womöglich vernünftig war, vorsichtiger zu werden, allerdings hatte Vorsicht noch nie zu Resultaten geführt, weshalb er jegliche Vernunft in der abgelegensten Ecke seiner Persönlichkeit vergrub. "Klasse", murrte er, "und wie stellt ihr euch das vor? Sperrt ihr mich hier ein und werft den Schlüssel weg? Bleibe ich auf diesem Alibibett, bis euch einfällt, was ihr mit mir machen wollt? Oder -" Er lachte humorlos. "- habt ihr vor, meinen Willen zu brechen, um mich für irgendwelche perfiden Pläne zu missbrauchen?"   "Mensch, bist du anstrengend", seufzte Cara und pustete eine Locke von ihrer Stirn. "Da war es ja damals leichter mit -"   "Cara!", donnerte Lilith dazwischen.   Auch Dr. Lewis sah sie mahnend an, fand jedoch schnell zu seiner freundlichen Miene zurück und erklärte, an Mello gerichtet: "Nein, wir haben nichts dergleichen vor. Ich meine", kratzte er sich den Nacken, "ja, du wirst eingesperrt bleiben, aber in diesem Raum wirst du weitestgehend deine Bewegungsfreiheit bekommen. Jemanden in einer einzigen Position zu fixieren, schadet der Gesundheit, was eher kontraproduktiv wäre. Die Mahlzeiten werden dir in regelmäßigen Abständen gebracht. Währenddessen hast du dich dort hinten", deutete er auf die entfernteste Wand, "aufzuhalten, bis wir dein Essen abgestellt und den Raum wieder verlassen haben."   Mellos Mundwinkel zuckten. Rechtzeitig brachte er sie unter Kontrolle, bevor sie ein Grinsen formen konnten.   "Denk gar nicht daran", warnte Lilith. "Solltest du es auch nur wagen, einem von uns zu nahe zu kommen, wird das Betäubungsgas aktiviert. Manuell, weil du nämlich ständig unter Beobachtung stehst." Ihr Finger ruckte in die Luft und punktierte vier Kameras, die in den Zimmerecken installiert worden waren. "Wenn du Scheiße baust, landest du schneller auf dem Boden, als du fluchen kannst."   "Dann sollte ich nicht in der Nase bohren, hm?", schnaufte Mello verächtlich.   Lilith setzte zu einer Antwort an.   "Und mir keinen runterholen. Könnte peinlich werden."   Lilith verschluckte sich, hustete und wandte sich eiliger ab als eine Nonne in einem Stripclub.   Diesmal gab Mello seinen Mundwinkeln nach und grinste. Dass er es selbst in seiner aktuellen Lage schaffte, Menschen zu verunsichern, befriedigte ihn auf eine Weise, die jeden Orgasmus übertrumpfte.   "Nun", räusperte sich Dr. Lewis, "sollte dir danach sein, empfehle ich dir, die Toilette aufzusuchen." Schnellen Schrittes stakste er durch den Raum, zu einer weißen Tür, die beinahe mit den weißen Wänden verschmolz. Mello musste die Lider zusammenkneifen, um überhaupt einen Umriss zu erkennen. "Ein Waschbecken steht dir ebenfalls zur Verfügung."   Allmählich ging Mello das Schauspiel auf die Nerven. Man verkaufte ihn für dumm. Definitiv. Diese Leute wirkten vielleicht nicht wie professionelle Kerkermeister, aber sie wussten was sie taten. Sie boten Mello den Umständen entsprechenden Komfort, wollten ihn dadurch in Sicherheit wiegen, ihn mit ihrer lockeren Art ruhig halten, um unnötigen Ärger zu vermeiden, doch damit schnitten sie sich bloß ins eigene Fleisch. Mello durchschaute sie. Die Erklärungen des Arztes waren zu explizit, folgten zu schnell, um spontan zu sein. Nein, spontan war hier gar nichts. Jedes winzige Detail der Gefangenschaft war durchorganisiert und - allein in Anbetracht der Kameras - wohl überlegt. Irgendjemand hatte dieses Szenario von vornherein geplant und vermutlich dabei alle Fluchtmöglichkeiten ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit etwas zu finden, das Mello bei einem Ausbruch helfen konnte, sank rapide. Trotzdem würde er suchen. Nicht nur Gegenstände, sondern auch Informationen. Egal wie belanglos sie schienen.   "Gibt es da drin eine Dusche?", startete Mello sein heimliches Verhör. Mit etwas Glück ...   Dr. Lewis stutzte. "Nein", erklärte er, als er wieder an die Liege trat, "um ein vollständiges Bad handelt es sich nicht."   Bingo! Mello witterte seine Chance; einen Anhaltspunkt, auf dem er seine Flucht aufbauen konnte. "Auf Dauer bloß mit Katzenwäschen leben zu müssen, ist nicht sonderlich hygienisch, Herr Doktor", plädierte er. "Das wird ja klar sein, oder? Dachte ich zumindest, nach dieser ganzen Mundschutz-Geschichte. Es sei denn -", zog er in die Länge und unterlag dem Drang, dem Hasen noch einmal eine reinwürgen zu wollen. Für die bloße Frechheit, ihn nicht aus dem Raum gelassen zu haben, sollte diese Lilith büßen. Langsam schweifte seine Aufmerksamkeit zu ihr. "- ich werde ausgiebig gewaschen. Dann gibt es sicher keine Probleme."   Wider Erwarten hielten ihm die Plastikaugen stand wie schwarze Löcher, die die Provokation einfach schluckten. "Das übernehme ich liebend gern", säuselte Lilith zuckersüß und kostete den nächsten Moment vollends aus. "Wir haben in der Garage bestimmt einen Kärcher, mit dem ich dich abduschen kann. Die paar Bar mehr werden einem so harten Typen wie dir doch nicht schaden, oder? Schließlich bist du ja ein echter Fels von einem Mann. Granit auf zwei Beinen. Ein ganz zäher Kerl."   Ihr Spott krachte auf Mello ein und sprengte fast seine eh viel zu labile Selbstbeherrschung. Er biss sich auf die Zunge, unterdrückte jeden Fluch, jede Beleidigung, jedes Wort, das ihn länger als nötig an diese verdammte Liege bannen würde. Innerlich brüllte er Mantras: Nicht ausrasten! Zusammenreißen! Das Laken spannte unter Mellos rechter Hand. Ein Klaps befreite den Stoff.   "Na, na, na", kicherte Cara, "bleib locker. Wenn du dich nicht beruhigst, machen wir die Fesseln nicht ab, weißt du?"   Mello schmeckte Blut, als er die Zähne aus der Zunge löste. Sie pochte und war betäubt genug, um den Hasen nicht versehentlich doch noch verbal in der Luft zu zerreißen. Vorerst.  Ein tiefer Atemzug verhalf ihm zu der widerlich freundlichen Stimme, die er bei Cara für angebracht hielt. Diese Frau machte auf ihn den normalsten Eindruck und normale Leute waren erfahrungsgemäß leicht zu beeinflussen. "Ich bin ganz ruhig", beteuerte er.   "Verkauf uns nicht für blöd!", fauchte die Frau, von der Mello längst wusste, dass sie garantiert nicht normal war. Seine Freundlichkeit raste ins Nirwana. Dicht gefolgt von Mantras, die er ebenso schnell vergaß wie sich selbst und seine Vorsätze.   "Das fällt mir bei dir verdammt schwer", brüllte er Lilith entgegen. "Wie soll ich eine Nervensäge mit Hasenmaske nicht für blöd halten? Bist du eigentlich zurückgeblieben oder so potthässlich, dass du dich verstecken musst?" Es war raus. Er hätte es nicht sagen sollen. Absolut nicht, denn jetzt waren seine Chancen auf Bewegungsfreiheit hinüber. Aber es tat gut. So unfassbar gut, diesem Weib die Meinung zu geigen, da sie schlichtweg nichts besseres verdiente. Schlimmeres sogar, da sie seinen ersten Fluchtversuch verhindert hatte. Wenn dieser blöde Hase nicht gewesen wäre, wäre Mello längst aus diesem weißen Höllenknast herausspaziert. Sie sollte es bereuen - bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Dafür würde Mello sorgen, egal wie. Mit Worten, mit Taten, mit allem, zu dem er fähig war. Er schnaufte verächtlich, starrte in die Maskenaugen und hasste es, dass er darin keine Reaktion erkannte.   Stattdessen reagierte Cara. "Wow", keuchte sie, "also das war echt gemein."   Mello warf ihr einen Blick zu, der sie warnen sollte, ihn nicht noch weiter zu reizen, doch Cara beachtete ihn überhaupt nicht. Sie sah über ihn hinweg zu Lilith, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und wandte sich letztendlich sprachlos ab.   "Cara", sagte Lilith vollkommen emotionslos, "bleib ruhig. Es spielt keine Rolle, ob er rummotzt, hörst du? Es ist ganz egal. Lass ihn reden. Das ändert gar nichts." Sie trat einen Schritt vor, stopfte ihre Hände in die Taschen ihrer weiten Stoffhose und richtete sich an Mello: "Ich meine es ernst. Unser Plan steht, unabhängig davon, wie du dich hier aufführst. Du bleibst in diesem Zimmer, bekommst etwas zu essen und - denn darauf wolltest du vorhin ja raus -", gluckste sie trocken, "hin und wieder wird dich einer von uns in ein naheliegendes Bad begleiten, damit du dich nicht über mangelnde Hygiene beschwerst. Mach dir aber bloß keine Hoffnung. Derjenige, der das übernimmt, wird auf dich aufpassen wie ein Schießhund. Glaub also nicht, dass du ihn überwältigen und dann fliehen kannst. Das kannst du nicht. Du steckst hier fest, solang wir wollen."   Zum dritten Mal krallte Mello sich in das Laken. Es riss laut ratschend, doch keinen interessierte das.    Lilith fuhr ungerührt fort. "Wie angenehm dein Aufenthalt wird, entscheidest du. Wenn du ein Arsch sein willst, bitte, tu es, sei ein Arsch", meinte sie mit einem Unterton in der Stimme, der Mello aufhorchen ließ. "Denk darüber nach. Du wirst genug Zeit haben. Leute?", winkte sie ihre Freunde mit einer Hand heran, während ihre andere mitsamt eines Zerstäubers aus der Hosentasche auftauchte. "Lassen wir ihn allein."   Dr. Lewis trat neben sie. "Soll ich?"   "Ja", nickte Lilith und richtete den Zerstäuber auf Mello. "Nach einem Nickerchen hast du erstmal deine Bewegungsfreiheit zurück. Ich bin echt gespannt, ob du dich benehmen kannst, Blödmann."   Mello glotzte auf die trübe Flüssigkeit vor seiner Nase. "Was ist das?", knurrte er, zerrte erfolglos an seinen Fesseln, keifte: "Was ist das für ein Zeug, Mistvieh? Was habt ihr vor?" Nebel schoss in sein Gesicht, ehe er den Kopf wegdrehen konnte. Kräuterduft zwickte seine Schleimhäute wie Brennnesseln. "Du scheiß Karnickel!", hustete er. "Ich mach dich fertig, kapiert? Wenn ich dich in die Finger kriege, dann -"    Schwarz. Kapitel 9: Ärztliche Hilfe -------------------------- Die Morgensonne brannte durch die Glasfront. Ungehindert drang das Licht in Lilys Appartement, legte sich wie Glut über die Einrichtung und verfremdete alles. Dabei waren es gar nicht die Möbel, welche sich verändert hatten, sondern das Mädchen in ihrer Mitte. MJ kauerte mit angezogenen Knien auf dem Boden vor dem Sofa und dachte nach. Über sich. Über das, was sie getan hatte. Über Konsequenzen. Über richtig und falsch. Über Familie. Über Freunde. Über Lily. Über Trauer. Über Reue. Über Erleichterung. Über Angst. Ihre Gedanken rasten, überholten sich, bremsten einander aus, erreichten kein Ziel, von dem aus MJ vorwärts blicken könnte. Da war nichts. Nur sie selbst, ein Mord und die Frage 'Was nun?'.   Sie schielte auf die Zimmertür, hinter der sich bis zum Vortag ein kleines Reich befunden hatte, in dem sie einigermaßen glücklich gewesen war. Jetzt existierte es nicht mehr. Obwohl darin noch immer alles an Ort und Stelle lag, war das Reich verschwunden. Es handelte sich bloß um einen Raum mit Klamotten, die MJ nicht mehr zustanden. Ob sie die Sachen trotzdem mitnehmen dürfte? Aber wohin mitnehmen? Auf die Straße? In ein Hotel, das sie vielleicht mit Lilys Ersparnissen vorübergehend beziehen könnte? Oder sogar ins ...   "Nein!", stoppte sie sich lautstark und erschrak beim Klang ihrer eigenen Stimme. Sie war rau und kratzig aufgrund der heruntergeschluckten Tränen, die ihre Augen nicht erreichten. MJ wollte weinen. Wirklich. Aber sie konnte es nicht; durfte es nicht; verbat es sich, da es schlichtweg heuchlerisch gewesen wäre. Schließlich war sie an ihrer Situation selbst schuld. Zu trauern würden Zweifel bedeuten und diese hatte sie nicht. Oder?   Sie zuckte zusammen, als Beethovens fünfte Symphonie durchs Wohnzimmer schallte. Lilys aktueller Klingelton. Entsetzt starrte MJ auf den Leichnam, der unverändert im Schreibtischstuhl hing wie eine vergessene Puppe. Ausgespielt. Natürlich. Irgendwann würde ja jemand Kontakt zu der Hackerin aufnehmen und feststellen, dass diese unerreichbar war. Für immer. Aber musste man ausgerechnet jetzt schon dahinter kommen?    "Verdammt", fluchte MJ und rappelte sich auf. Taube Füße trugen sie zu Lily hinüber - taube Finger fischten das Telefon aus deren Hosentasche. Was jetzt? Sollte MJ rangehen und behaupten, Lily wäre gerade unter der Dusche? Einkaufen? Auf einem Handy-losen Kurzurlaub? Wie viel Zeit könnte MJ schinden, ehe man ihr auf die Schliche kam?    "Verdammt, verdammt, verdammt!" Die Symphonie begann von vorn. Der Anrufer war hartnäckig. MJ lugte auf das Display, auf dem nicht etwa eine Telefonnummer, sondern tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein Name angezeigt wurde. Lily hatte sich stets Mühe gegeben, ihrer Abneigung anderen gegenüber Ausdruck zu verleihen.    "Doktor Inkompetent", las MJ und versuchte dem Namen einen richtigen Namen zuzuordnen, obwohl das eigentlich überhaupt keine Rolle spielte. Immerhin brauchte sie nicht ranzugehen, könnte somit ihr Geheimnis noch hüten und die Zeit möglicherweise nutzen, um von hier zu verschwinden. Wer sollte sie schon aufhalten? Die Nachbarn wohl kaum, da man die eh selten zu Gesicht bekam. Bis man Lily fände, würde es also etwas dauern. Aber früher oder später wäre es dann soweit. In einem Appartementhaus blieb keine Leiche auf Ewig unentdeckt. Ab da wäre es allerdings heikel, denn mindestens eine Nachbarin wusste zumindest von MJs Existenz. Sicher würde die sich wundern, wo Lilys Nichte plötzlich steckte. Ob sie gleich begreifen würde, was hier geschehen war? MJ schüttelte den Kopf. Nein, so weit dachte die Kuchentante vom anderen Ende des Flurs bestimmt nicht. Trotzdem wäre ein fehlendes Kind ungewöhnlich. Man würde sie suchen. Möglicherweise sogar eine Vermisstenanzeige auf Milchtüten drucken. Landesweit. Mit einem Phantombild, welches spätestens einem alten Mann auffiele, der seinen Tee stets mit H-Milch aus dem Karton streckte.   "Man, ja, nu hör doch mal auf", keifte MJ, als der Klingelton die dritte Runde einläutete. Beethoven drängelte und beschleunigte ihre Überlegungen. Zu verschwinden war also keine so gute Idee. Bleiben. MJ musste hier bleiben und weiterhin die Nichte mimen, von der niemand wusste, woher sie kam, aber das war immerhin erstmal besser als ganz England auf sich aufmerksam zu machen. Irgendeine Lüge zu finden, durfte doch nicht so schwer sein, oder? Zur Not konnte MJ behaupten, sich absichtlich bei Lily eingemogelt zu haben, um sich für etwas zu rächen. Lilith' Identität war sowieso bald kein Geheimnis mehr und bei ihrer Vergangenheit hätte niemand Zweifel an MJs Worten. Sollte dann auch noch der Mord entdeckt werden, gab es also Wichtigeres für die Behörden zu klären. Anstalt oder Jugendknast? Beides war weitaus verlockender als die Milchtüte, wobei MJ das Gefängnis durchaus vorgezogen hätte. Von Therapeuten und denen, die es werden wollten, hatte sie genug. Ärzte halfen nicht, sie machten alles bloß schlimmer, waren zu dumm Probleme zu erkennen oder Diagnosen zu erstellen.   "Hm." In MJ keimte ein Gedanke und reifte zu einer Venusfliegenfalle, die die sprichwörtliche Klatsche ersetzte. Vielleicht ließen sich wirklich zwei Fliegen mit einmal erledigen. Wenn man nämlich einen inkompetenten Arzt alarmierte, der Lilys Tod für natürlich hielt und keine Untersuchungen veranlasste, wäre MJ aus dem Schneider, oder? Von Mord würde nie die Rede sein, sobald der Tee im Abfluss verschwunden war, und MJ müsste ihren Aufenthalt nicht rechtfertigen. Sich weiterhin als Nichte auszugeben, sollte dem Doktor genügen. Danach bräuchte MJ sich nur noch von der Nachbarin verabschieden und behaupten, zu ihren Eltern zurückzukehren. Alle Probleme wären mit einem Schlag vom Tisch.   Beethoven setzte von Neuem an und MJ redete sich ein, eine gute Entscheidung zu treffen. Als der Klingelton seinen musikalischen Höhepunkt erreichte, drückte sie den grünen Hörer. Noten verstummten - ebenso MJs Atem. Es war mucksmäuschenstill, als sie das Telefon an ihr Ohr hob und lauschte, innerlich flehte keinen Fehler begangen zu haben und gleich keinen zu begehen.   "Lily? Hier spricht Doktor Lewis", meldete sich ein Mann, an den sich MJ dunkel erinnerte. "Ich rufe für Herrn Morrison an -"   "Sei nicht so förmlich!", bellte eine tiefe Stimme so harsch aus dem Hintergrund, dass MJ erschrak und sich eine Hand auf den Mund pressen musste, um nicht zu japsen.   Dr. Lewis räusperte sich. "Nun, er wollte wissen, wo sich genau der Mann befindet, dem er in Ihrem Namen einen Besuch abstatten soll. Sie haben ihm nur das Hotel genannt, allerdings keine Zimmernummer und die bräuchten wir, da wir uns bereits auf dem Weg dorthin befinden."   Das Rauschen eines fahrenden Autos strömte durch die Leitung.   "Lily? Sind Sie dran?"   Galle kroch MJs Kehle hinauf, als sie begriff, wer dort mit ihr sprach. Dr. Lewis, der Mann, der sie nach ihrem Unfall untersucht hatte und mit ziemlicher Sicherheit genau wusste, dass sie nicht Lilys Nichte war. Ausgerechnet derjenige, der misstrauisch werden konnte, lauerte jetzt auf eine Antwort. Und er würde noch weitere verlangen.   "Lily? Hallo? Sind Sie dran?"   "Doktor", wisperte MJ und versuchte sich zu sammeln. Nicht nervös werden. Keinen Fehler machen. Noch standen die Chancen gut, nicht entlarvt zu werden. Schließlich hatte der Arzt damals während MJs Untersuchung schon Mist gebaut und dadurch längst bewiesen, dass ihm Diagnosen nicht lagen. Andernfalls hätte er Lily sicherlich gewarnt. MJs Blick fiel auf die tote Fratze, die ihr vorwurfsvoll entgegen glotzte. "Hier ist MJ, Mary Jane, das Mädchen, das Lily aufgenommen hat, wissen Sie noch?" Sie wandte sich ab, spürte die Anklage aber weiterhin deutlich in ihrem Rücken.   "Natürlich", bestätigte der Arzt und atmete laut durch. Das Rauschen im Hintergrund überdeckte beinahe sein Flüstern: "Die Kleine, von der ich dir erzählt hab." Dann gewannen die Fahrgeräusche. Augenblicke verstrichen, in denen MJ nichts weiter tun konnte, als dem Rauschen zu horchen und ihre freien Finger um den Daumen zu ballen, bis sie ihren Puls in der ganzen Handfläche spürte. "Was ist passiert, Mary Jane?", drang Doktor Lewis' Stimme endlich wieder zu ihr durch.    Sein gelassener Tonfall überzeugte MJ davon, dass er kaum sonderlich motiviert war, geschweige denn komplizierte Fragen stellen würde. Wenn sie jetzt überzeugend genug war, käme der Arzt doch nie dahinter, was hier vorgefallen war, nicht wahr? "Lily", schluckte sie, "etwas stimmt nicht mit ihr. Sie bewegt sich nicht und ist ganz kalt. Ich weiß nicht, was ich machen soll." Es war nicht gelogen. Trotzdem kratzte jedes Wort wie Rasierklingen, die die ganze Wahrheit aus MJ herausschneiden wollten.   "Ach je", seufzte Doktor Lewis völlig gefasst. "Dann sollte ich vielleicht vorbeikommen, ja? Eventuell kann ich helfen. Bleib wo du bist, Kleines. Ich bin in circa zwanzig Minuten bei dir."   Bevor sie reagieren konnte, legte er auf. In der Leitung tutete es noch einige Sekunden, bis MJ das Telefon vom Ohr nahm und auf den Schreibtisch legte. Der erste Schritt war getan, ein inkompetenter Arzt informiert und somit der Verdacht beseitigt, dass hier was nicht stimmte. Immerhin hatte MJ Hilfe gerufen. Wenn auch zu spät. Doch, wer würde ihr das schon vorhalten? Sie war ja bloß ein Mädchen, das in ihrer Angst nicht wusste, wie es handeln sollte. Gewiss hätte jeder Verständnis für eine Elfjährige, die beim Anblick ihrer toten Tante die Nerven verloren hatte. Wer würde zweifeln? Niemand, der sich in ihre Panik hineinversetzen würde.   "Panik", wiederholte MJ ihren Gedankenfetzen und kam sich plötzlich unsagbar leer vor. Etwas fehlte. Ein Teil von ihr war nicht da, obwohl er seit über zwei Jahren zu ihr gehörte wie die Haut, in der sie sich gerade schrecklich unwohl fühlte. Als wäre sie nicht sie selbst. Verkleidet in einem Kostüm, das einfach nicht passte, wenngleich sie es immer hatte anziehen wollen. Möglicherweise würde sie irgendwann hineinwachsen, aber jetzt war denkbar der schlechteste Zeitpunkt dafür.   "Panik, Panik, Panik", murmelte sie weiter und betastete ihr Gesicht. Trocken. "Wer kauft mir denn das panische Mädchen ab, wenn ich nicht mal flenne, verdammt? Los, MJ, jetzt solltest du aber echt mal heulen! Mach schon!" Patsch, patsch, patsch. Eifrig klatschte sie die Hände an ihre Wangen, kniff sogar, doch nichts tat sich, abgesehen davon, dass ihre Haut glühte wie von Brennnesseln gestochen. "Das darf nicht wahr sein", jammerte sie. "Warum klappt das nicht? Eben wart ihr blöden Tränen noch da, also macht schon, kommt jetzt raus! Diesmal dürft ihr. Heut ist keiner hier, der deswegen lacht oder schimpft. Keiner, der euch wegwischt und in seinen Pulli schmiert. Ihr habt freie Bahn." Es nutzte nichts. Sogar die Erinnerungen an diejenigen, die MJ so oft hatten weinen sehen, brachen den Damm nicht, den die Anspannung um sie mauerte. Dabei war ihr von Minute zu Minute stärker nach weinen zumute. Die Zeit rannte. Bald würde Dr. Lewis eintreffen, Lily finden und zumindest wissen wollen, was vorgefallen war. Sicherlich würde er keiner Antwort glauben, wenn sie von einem Mädchen mit versteinertem Gesicht gesprochen wurde. "Verdammter Mist", stampfte MJ auf, "wäre ich doch bloß nicht ans Telefon gegangen, dann hätte ich mir in Ruhe was überlegen können. Aber nein", warf sie den Kopf in den Nacken, "jetzt steck ich natürlich fest wie eine -" Sie stockte, als etwas auf der Küchenzeile aufblitzte und sie direkt im Augenwinkel traf. MJ schielte durch den Wohnraum. Hinüber zu einem verchromten Korb, der auf der Arbeitsplatte stand und unsinnigerweise immer befüllt war, obwohl niemand in diesem Appartement jemals gekocht hatte. Braune Schalen lugten durch das Gitter.   Eine absurde Idee lockte MJ in die Küche. Sie beäugte den Korb und fischte eine Zwiebel daraus. Schalenkrümel bröckelten auf die Arbeitsplatte, als MJ die Knolle von einer Hand in die andere kullern ließ. Unsicher, ob die Idee tatsächlich absurd oder vielleicht sogar ziemlich clever war. Da es momentan sowieso keine Alternativen ab, entschied MJ sich für zweiteres. Zumal ihr gerade eine Pflanze den Hintern rettete und Pflanzen hatten sie noch nie enttäuscht, nicht wahr? Warum dann also keiner Zwiebel das eigene Schicksal anvertrauen? "Allein für den Gedanken hätte ich vor einem Jahr sicher eine Kopfnuss verpasst bekommen", belächelte sie sich, während sie ein Messer aus einer Schublade angelte. Die Klinge glänzte im Schein der Morgensonne wie das bissige Grinsen eines alten Freundes, an den MJ nun wirklich nicht denken sollte, wenn sie sich nicht versehentlich in die Finger schneiden wollte. Tief atmete sie durch, um das aufkommende Zittern ihrer Gliedmaßen in sich aufzusaugen, ehe es ausbrechen konnte. Erst dann setzte sie das Messer an die Zwiebel und teilte sie in Hälften, aus denen der typische Saft austrat und seinen stechenden Geruch verteilte. Wieder atmete MJ tief durch. Diesmal direkt über der Zwiebel. Die beißenden Dämpfe kribbelten in ihrer Nase und reizten die Drüsen, aus denen sofort Tränen herausströmten und gar nicht mehr versiegen wollten. So war es gut. Wenn auch hinderlich, da MJ jetzt erst einmal kaum etwas sah. Aggressiv brannten sich die Tränen ihren Weg ins Freie, liefen in Rinnsalen über ihre Wangen und tropften auf die Küchenfliesen, wo sie für MJ vollkommen unsichtbar wurden. Allein das Messer auf dem Tresen ausfindig zu machen, wurde mit jedem Blinzeln immer schwieriger. Ihre Sicht verschwamm hinter einem Schleier aus falscher Trauer, bis sie es nicht mehr aushielt und sich über die Augen wischte, was natürlich nichts brachte, solang der Übeltäter weiter auf der Theke lauerte. Daher schnappte MJ blind nach den Zwiebelteilen und torkelte damit quer durch die Küche in die Richtung des Mülleimers. Nach drei Anläufen erwischte sie den Tritthebel, der den Deckel öffnete, und versenkte die garstige Knolle zwischen unzähligen Fertiggerichtverpackungen. Scheppernd schloss sich der Eimer wieder. "Das wäre geschafft", schniefte sie und wischte erneut über ihre Lider. Endlich klärte sich ihr Blick, der auf den verchromten Mülleimerdeckel fiel, in dem man sich spiegeln konnte. Ganz nach Lilys Wünschen. MJ stockte, als sie ihre geröteten Augen erkannte. War es nicht wirklich bitter, dass alles so hatte enden müssen? Mit falscher Traurigkeit über eine falsche Tante?   Der Gedanke festigte sich nicht, da er vom Schellen der Türklingel zerfetzt wurde.  "Verdammt." Schauer krochen MJ bis ins Mark. Es war soweit. Doktor Lewis stand bereits vor dem Eingang und gleich würde sich zeigen, ob MJs Zwiebelscharade funktionierte.  Eilig warf sie das Messer in den Geschirrspüler und knallte ihn zu, ehe sie um die Kücheninsel huschte und zur Tür hetzte. Davor hielt sie inne, zögerte. Das nächste Klingeln zwang sie allerdings zum Handeln. Sie drückte den Türsummer neben der Gegensprechanlage, ohne überhaupt zu horchen, wer vor dem Hauseingang um Einlass bat. Wer, außer dem Arzt, sollte es schon sein? Lily hatte nie Besuch bekommen, wenn sie den nicht ausdrücklich befohlen hatte. Niemand war diesem Ruf jemals nicht gefolgt. Nie. Denn Lilys Argumente waren stets überzeugend gewesen.   MJ lugte über ihre Schulter hinweg zu der Toten, die in ihrem Leben so viele Menschen beeinflusste, dass es sowohl erschreckend, als auch beeindruckend war. Das gestand MJ ihr ein, wenngleich das nicht ganz neidlos war. Gern hätte sie von solch einer Willensstärke und Durchsetzungskraft gelernt, aber diese Chance war wohl mit Lily gestorben.   "Schade", murmelte MJ, als es klopfte. Sie zuckte zusammen und riss den Kopf herum, um die Tür anzustarren, die plötzlich ins Unermessliche wuchs. Gigantisch ragte das Türblatt in die Höhe wie die Pforte in eine bizarre neue Welt. Einer Welt, in der MJ entweder als bedauernswerte Nichte weiter existierte, oder als überführte Mörderin im Jugendgefängnis verrottete. Die Entscheidung lag längst nicht mehr in ihrer Hand. Dafür jedoch der Türknauf, den sie nach einem letzten Atemzug drehte.   Zusammen mit der Tür öffnete sich der Vorhang für MJs Schauspiel. "Doktor Lewis", wimmerte sie auf abgenutzte Trekkingschuhe hinab, von denen einer ungeduldig auf den Flurteppich tippelte. Dunkelbraune Cargohosen umhüllten scheinbar endlose Beine und verschwanden unter dem Saum eines Windbreakers. Oberhalb des Kragens thronte ein markantes Gesicht mit einem Dreitagebart, der akkurat in raspelkurze, braune Haare überging.  MJ schluckte bei Betrachtung des Mannes und stellte fest: Das war nicht Doktor Lewis. Sie schwankte zurück, wollte vor dem Fremden fliehen, kam aber bloß einen Schritt weit, da sie über ihre eigenen Füße stolperte. Rumsend landete sie auf dem Parkett, während sich die Tür wie von Zauberhand weiter öffnete. Auf Hochglanz polierte Lederhalbschuhe, Jeans und ein graues Jacket betraten die Wohnung. Zusammen mit der freundlichen Miene des Arztes.   "Beruhige dich, Mary Jane", schmunzelte Dr. Lewis und reichte ihr eine Hand. "Mein Begleiter tut dir nichts, okay?"   MJ war nicht überzeugt, nickte trotzdem und ließ sich auf die Beine helfen. Sprachlos stierte sie zwischen den Männern hin und her.   "Darf ich vorstellen? Jacob Morrison", deutete der Doktor auf den Riesen, der jetzt ebenfalls die Wohnung betrat und, nach einem prüfenden Blick in den Hausflur, die Tür hinter sich schloss.   "Der Mann, den Sie am Telefon erwähnt haben", wagte MJ festzustellen, obwohl Jacobs Präsenz jedes Wort im Umkreis von zwei Meilen zu verbieten schien.   Dr. Lewis war allerdings immun. "Ganz recht, Mary Jane. Oder ist dir MJ lieber?", wollte er wissen, wartete auf ihre stumme Bestätigung und fuhr direkt fort, "Wir waren gemeinsam unterwegs, weshalb ich dachte, er könne mich zu dir begleiten. Was mich zum Grund unseres Besuchs bringt: Was ist mit Fräulein Theodora?"   Endlich erinnerte sich MJ wieder an die Rolle des besorgten Kindes. Schluchzend zeigte sie quer durch den Eingangsbereich hinüber zu Lilys Arbeitsplatz. Vor der Glasfassade hing ihr Körper unverändert im Schreibtischstuhl.   Dr. Lewis trat gemächlich an sie heran und rümpfte die Nase. Als müsse er Unrat aus dem Abfluss sammeln, zupfte er an Lilys Pulloverbündchen, versuchte ihren Arm anzuheben und beließ es auch genau bei diesem einen Versuch, da sich schlichtweg nichts mehr an der Frau regte.  "Tja", meinte er beiläufig, "sie ist tot. Da kann man wohl nichts machen, hm?"   Jacobs Schnaufen echote undeutbar durch die Wohnung. War er amüsiert? Angewidert? Zufrieden? Gelangweilt?    Perplex glotzte MJ von Jacob zum Arzt, der kaum desinteressierter an der Leiche sein konnte. Stattdessen richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die Glasfront. "Bei den Temperaturen hinter den Fenstern, lässt sich kein genauer Todeszeitpunkt feststellen. Die Sonne hat die Leichenstarre beeinflusst", verkündete er und sah sich weiter um. Sein Kopf neigte sich, als sein Blick auf den Schreibtisch fiel. "Sag, Kleines, was genau ist eigentlich passiert?"   Die Frage traf MJ unvorbereiteter als ein Eimer Eiswasser. Kälte rann über ihre Wirbelsäule, während sie die Schultern straffte, um ihre Lüge vorzutragen. "Na ja", haspelte sie, "ich bin heut morgen aufgestanden und hab Lily dann so gefunden. Kurz danach haben Sie schon angerufen. Mehr weiß ich auch nicht."   Stoff raschelte, als Jacob auf seine Armbanduhr guckte. "Es ist jetzt kurz vor halb Sieben. Gegen Sechs haben wir angerufen. Stehst du immer so früh auf?"   "Ja, also nein, aber heute da war es halt so, weil ich einen Albtraum hatte?"   "Ist das eine Frage?", brummte Jacob. Stechend braune Augen pinnten MJ an Ort und Stelle. Sie traute sich kaum zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Alles an ihr schien die Lüge verraten zu wollen.   "Möglicherweise waren der Traum und Lilys Anblick so verstörend, dass MJ nun verwirrt ist", gab Dr. Lewis zu bedenken und lehnte sich rücklings gegen die Schreibtischplatte. Über verschränkten Armen hinweg, visierte er MJ ebenfalls an. Nicht so stechend, aber trotzdem eingehend. "Sieh doch, Jacob. Das Kind ist ganz aufgelöst. Sie hat sich offensichtlich beinahe die Augen ausgeweint. So rot wie die sind."   "Genau", nickte MJ hektisch.   "Und dann hat sie sich erst einmal eine Zwiebel zum Frühstück gemacht, um ihre Nerven zu beruhigen", erklärte der Arzt weiter und tippte sich bedeutsam an die Nasenspitze.    Wieder schnaufte Jacob, doch diesmal stand außer Frage, dass er sich amüsierte.   Wie das Kaninchen zwischen zwei Füchsen starrte MJ von Dr. Lewis zu Jacob und zurück.  "Ich, ich ...", stotterte sie, "ich hab gestern gekocht, aber nicht genug gelüftet. Deshalb -"   "Kochst du gern, Kleines?", zog der Arzt die Schlinge weiter zu.   "Ja, genau."   "Auch Tees?"   MJs Blick rauschte von Dr. Lewis zu der Tasse, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Die hatte sie vergessen. Vollkommen vergessen. Wie konnte man bloß so bescheuert sein? Der Zorn auf sich selbst riss MJ aus der Schockstarre. Sie stürmte voran, schnappte die Tasse, ignorierte das Grinsen des Doktors, preschte in die offene Küche und kippte den restlichen Tee ins Waschbecken. Gluckernd verschwand das Gift im Abfluss.   "Wusstest du, dass sich viele Ärzte während ihres Studiums mit Maiglöckchen auseinandersetzen, weil die bei zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle spielen?", dozierte Dr. Lewis. "Laut aktueller Forschungen regt der Duft die Entscheidungsfreudigkeit in der Partnerwahl an. Ich erinnere mich sogar noch sehr genau", lachte er leise, "an eine Kommilitonin, die auf Grundlage dessen Versuche an unserem halben Studiengang durchgeführt hat. Sie roch drei Semester lang nach einer überdimensionalen Blume. Ihre Bemühungen waren wirklich spaßig, aber auch einprägsam. Keiner von uns wird jemals den Geruch vergessen, geschweige denn die Sicherheitsbelehrungen unseres Professors, der uns eingebläut hat, niemals Maiglöckchen zu verzehren, da sie giftig sind. Welch Ironie, hm?"   Die Falle schnappte zu. MJ hörte es lauter als das Scheppern der Tasse, die aus ihren Fingern in das Waschbecken knallte und sofort zerbrach. Regungslos starrte sie über die Kücheninsel hinweg zu dem Arzt, der sie keinen Moment aus den Augen ließ.   "Müssen wir erst die Ergebnisse von Lilys Obduktion abwarten, oder sagst du uns lieber gleich, was genau hier vorgefallen ist, Kleines?"   "Und erspar uns irgendwelche Lügen", murrte Jacob. "Wir sind nicht dämlich, kapiert?" Allmählich begab er sich nun auch näher in den Raum hinein, visierte die Leiche an und musterte sie von oben bis unten. Abschätzend hob er den Daumen und linste darüber hinweg.   "Entschuldige ihn bitte", seufzte Dr. Lewis. "Jacob ist den Umgang mit Mädchen nicht gewohnt. Dennoch gebe ich ihm recht. Uns anzulügen wird dich tatsächlich keinen Deut weiter bringen. Zumal wir längst wissen, dass du durchaus nicht so unschuldig bist wie du vorgaukelst, Kleines."   "Was?" MJ brauchte die Entsetzte gar nicht erst spielen, da sie es tatsächlich war. Dass die Männer ihre Tat derart schnell durchschauen würden, hatte sie niemals erwartet. Noch weniger, dass sie so seelenruhig darüber sprachen. Was stimmte denn nicht mit denen?   "Deine Gesichtszüge sprechen Bände, Kleines", schmunzelte Dr. Lewis, wurde jedoch schnell wieder ernst. "Es überrascht mich, gebe ich zu. Nach deinem Unfalltheater damals, habe ich dich für abgebrühter gehalten."   "Was?" Entsetzen wandelte sich in Schock, als MJ begriff, worauf der Arzt anspielte. Kalter Schweiß kroch aus ihren Poren und fror jedes Fitzelchen ihres Körpers ein. Ihre Gliedmaßen wurden taub. MJ wurde schlecht, würgte aber noch heraus: "Was meinen Sie?"   Jacob stöhnte genervt und warf den Kopf in den Nacken.    Der Arzt war geduldiger. "Kleines", begann er im väterlichen Singsang, "vergiss bitte nicht, dass ich meinen Doktortitel nicht in der Lotterie gewonnen habe. Ob jemand bewusstlos ist, erkenne ich. Und, ob jemand angefahren wurde, ebenso. Mir war damals, nachdem ich dich dort", deutete er auf das Sofa, "untersucht habe, sofort klar, dass du weder verletzt, noch weggetreten warst. Letzteres hätte jeder Trottel durchschaut, da du deine Lider so fest zusammengekniffen hattest, als wolltest du damit Nüsse knacken." Ein Grienen verjüngte sein Gesicht um etliche Jahre, bevor sich kindliche Neugier darauf abzeichnete. "Allerdings musst du mir eines verraten, ja? Wie kam Lily Theodora überhaupt auf die Idee, dass sie dich angefahren hätte? Du wirst wohl kaum auf die Motorhaube gehüpft sein, oder? Ohne Kratzer wärst du dabei definitiv nicht davon gekommen."    Für einen Sekundenbruchteil dachte MJ daran, alles abzustreiten. Aber, da die Katze im Grunde eh aus dem Sack war, konnte sie doch auch ehrlich sein, oder? Nicht um der Ehrlichkeit willen, sondern schlichtweg aus Stolz. Immerhin hatte sie selten eine so gute Idee gehabt, geschweige denn, diese so spontan und formvollendet umgesetzt. Und wenn sie damit schon nicht vor denen angeben durfte, die sie sowieso für dumm hielten, dann wenigstens vor den Männern, die gerade ihr Schicksal in der Hand hatten.  "Nun", zupfte sie ihren Pullover zurecht, "das war ganz einfach. Ich hab damals schnell einen Stein hinter Lilys Hinterrad gepackt und, nachdem sie dagegen gekracht ist, hab ich den noch schneller weggenommen und mich selbst dahingelegt."   Dr. Lewis gab ein verstehendes "Aha" von sich, ehe er meinte: "Wirklich clever."   Durch die ungewohnte Anerkennung angestachelt, fand MJ den Mut, ebenfalls Antworten zu verlangen. "Wieso haben Sie mich nicht verpfiffen, wenn Sie wussten, dass ich nicht angefahren wurde?"   Diesmal schien sie den Arzt eiskalt erwischt zu haben. Er wich ihrem Blick aus und rieb sich den Nacken. "Nun", gestand er zögerlich, "ich war einfach interessiert, würde ich sagen. Dass jemand Lily austrickst, kam bis dato nie vor, also wollte ich schlichtweg wissen, was passiert. Und", sah er ihr wieder direkt entgegen, "ich fand es lustig, Lily ein Kuckucksei ins Nest zu legen, um das sie sich dann auch noch kümmern musste. Sie war immer so überheblich und hielt sich für unantastbar. Da konnte ich wirklich nicht widerstehen, sie ins offene Messer rennen zu lassen." Mit einem Funkeln in den Augen eröffnete er die nächste Fragerunde. "Wobei ich natürlich nicht wusste, warum du dich bei dieser Frau eingeschlichen hast. Verrat es mir, Kleines. Was wolltest du von ihr?"   Nach allem, was die beiden Männer bereits wussten, glaubte MJ, dass sie sich nicht noch weiter in Schwierigkeiten reiten konnte. Zumal ihre Gründe damals tatsächlich unschuldig gewesen waren. Kaum der Rede wert, aber genau das wollte MJ jetzt. Reden. Vor Leuten, die möglicherweise die letzten waren, die ihr zuhörten, ehe irgendein Erwachsener das endgültige Urteil über ihre Zukunft fällte. Wie all die anderen, die sich niemals wirklich in ihre Lage versetzt hatten, weil sie voreingenommen gewesen waren. Dr. Lewis und Jacob wussten hingegen nicht genug, um MJ gleich abzustempeln. Also vielleicht - nur vielleicht - würden die beiden sie endlich mal ernst nehmen? "Sie werden mir vermutlich nicht glauben oder meinen Grund blöd finden", nuschelte MJ in die Spüle. "Aber wenn Sie es echt wissen wollen, gut. Zuerst muss ich allerdings erklären, dass ich richtig großes Glück hatte, Lily zu begegnen. Man hatte mir vorher von ihr erzählt, wobei das mehr eine Beschreibung war. Jemand", schluckte sie und verknotete ihre zitternden Finger ineinander, "hat von Lilith gesagt, dass sie eine Hackerin sei, die blond, hübsch, mit toller Figur und einem roten Sportwagen unterwegs ist. Zufälligerweise hab ich dann diese Frau gesehen. Vor einem Discounter. Sie hat telefoniert und über einen Bankserver gequatscht, was ja das letzte große Ding ist, das sie angestellt hat. Dann hab ich eins und eins zusammengezählt, bin ihr in den Supermarkt gefolgt und danach", seufzte sie, "na ja, sie wissen ja, was dann passiert ist."   "Das beantwortet die Frage aber nicht", warf Jacob scharf in den Raum.   "Haben Sie nicht zugehört, man?", giftete MJ zurück. Ihr Blick bohrte sich in in seinen, als sie fortfuhr. "Ich hatte die Gelegenheit eine Frau zu treffen, die so beeindruckend war, dass meine", vergrub sie ihre Hände in ihren Achseln, "dass jemand von ihr total begeistert erzählt hat. Lilith war so cool und genial. Ich dachte, wenn ich auch nur einmal mit ihr reden könnte, wüsste ich vielleicht, wie man auch so wird. Im Supermarkt hab ich mich aber einfach nicht getraut, sie anzusprechen. Und als sie dann auf dem Parkplatz war, musste ich halt schnell reagieren, bevor meine Chance für immer flöten gegangen wäre."   Während Dr. Lewis schweigend im Hintergrund blieb und nichts weiter tat, als MJ zu mustern, baute sich Jacob zu einem Ein-Mann-Verhör-Kommando auf. Er wuchs so weit an, dass niemanden überrascht gewesen wäre, wenn er die Deckenlampe gepackt und direkt auf MJ gerichtet hätte. "Wenn du ein Fan von dieser Erpresserin warst", bellte er, "warum hast du sie dann umgebracht? Um zu beweisen, dass du auch cool sein kannst? Um dein Ego zu stärken? Um dich ihr überlegen zu fühlen? Um -"   "Um zu verhindern, dass sie den Menschen, die mir am wichtigsten sind, was antut, Sie verdammter Mistkerl!", brüllte MJ und knallte ihre Handflächen auf die Ablage neben der Spüle. Edelstahl vibrierte. MJs Stimme war felsenfest. "Wenn ich es nicht getan hätte, hätte Lily ihre gehackten Namen und Fotos an einen Auftraggeber verkauft. Ihr war es egal, was dann passiert wäre. Also musste ich es tun. Sie zu betäuben, wär Schwachsinn gewesen, weil sie mich danach bloß bestraft und trotzdem mit dem Verkauf weitergemacht hätte. Was sollte ich also machen, hm? Zusehen, wie sie die in Gefahr bringt, die alles sind, was ich noch habe? Ja? Das kann ich nicht! Ich kann vielleicht nicht viel, aber sie in dem einen Moment beschützen, das konnte ich. Und ich würde es wieder machen! Und wieder und wieder und wieder!"   Jacob setzte zu einem weiteren lautstarken Angriff an, doch Dr. Lewis hielt ihn zurück. "Warte", beschloss er. "Das genügt. Ich glaube ihr, also provoziere sie bitte nicht weiter."   "Bist du sicher?", brummte Jacob und warf einen Blick über seine Schulter, auf die sich die Hand des Arztes legte.   "Natürlich bin ich das, mein Lieber." Besänftigend strich Dr. Lewis an Jacobs Oberarm hinab und lächelte. "Du doch auch, oder? Immerhin ist sie wohl kaum der undurchsichtigste Teenager, den wir kennen."   MJ begriff gar nichts mehr. Eben noch von Wut getrieben, stand sie jetzt von Verwirrung gebannt an Ort und Stelle. Edelstahl kühlte ihre Finger, die auf der Ablage neben der Spüle verharrten und sich in die Rillen des Wasserablaufs krallten ohne sie wirklich greifen zu können. Wie ein Gitter, das irgendwie da war und irgendwie auch nicht.  "Komme ich jetzt ins Gefängnis?", sprach sie ihren Gedanken, ehe der sich überhaupt gefestigt hatte.   In vollkommener Einigkeit wanderten die Blicke der Männer zu MJ hinüber. Synchron neigten sie ihre Köpfe. "Warum?", wollte Dr. Lewis wissen. "Weil du eine Verbrecherin davon abgehalten hast, etwas Schreckliches zu tun?"   Allmählich wurde es MJ zu viel. Erst enttarnten die beiden mit Leichtigkeit den Mord, dann zwangen sie sie zu einem Geständnis und nun taten sie so, als wäre nichts gewesen? "Spielen Sie nicht mit mir", schluchzte sie. "Ich weiß, dass ich einen Menschen umgebracht hab. Und ich weiß, dass Sie genau das wissen. Also tun Sie nicht so, ja? Sie müssen nicht auf verständnisvoll machen, wenn Sie mich eh gleich zur Polizei bringen. Damit machen Sie mich fertig, okay? Das hab ich trotz allem nicht verdient!"   "Da hast du Recht, Kleines", säuselte der Arzt, während er zu ihr hinter die Theke trat. Vor MJ ging er in die Hocke und sah ihr direkt in die nassen Augen. "Du hast das nicht verdient. Lily Theodora, Lilith, hingegen hat sehr wohl verdient, was hier vorgefallen ist. Hör mal", schob er eine Strähne aus MJs Stirn, "du hast in den letzten Monaten doch sicher mitbekommen, was diese Frau alles angestellt hat, oder?"   Das Mädchen nickte.   "Sie war nie tatenlos, obwohl man ihr in letzter Zeit keine größeren Aufträge überlassen hat. Trotzdem ging sie ihrer furchtbaren Arbeit weiter nach, hat Datenbanken gehackt und Informationen verkauft. Und nun, kleine MJ, sag mir, was denkst du, was beispielsweise den Menschen widerfahren ist, deren Adressen Lilith aus den Servern des FBIs gefischt hat? Den Menschen, die unter Zeugenschutz standen", betonte er eindringlich. "Glaubst du, dass Lilith' Auftraggeber damit was Gutes angestellt haben? Nein, mein Kind. Mit ziemlicher Sicherheit sind die untergetauchten Leute jetzt tot, weil Lily Theodora ihren Aufenthaltsort verraten hat. Aus purer Habgier und mit dem Wissen, welches Schicksal die vielen Unschuldigen dadurch ereilen wird. Andere sind gestorben, weil sie deren persönliche Informationen - Geheimnisse - gestohlen hat." Sein Ausdruck verfinsterte sich. "Sie hat mehr Leben auf dem Gewissen, als du dir vorstellen kannst. Nur für Geld. Und diejenigen, die sie nicht ans Messer geliefert hat, hat sie erpresst, um sich ihr eigenes Leben zu erleichtern. Du hingegen", schenkte er MJ ein Lächeln, "hast getan, was du tun musstest, weil du andere Menschen beschützen wolltest."   "Worauf der nette Onkel hinaus will -", mischte sich Jacob ein. Unbemerkt war er ebenfalls herangetreten, lehnte auf der gegenüberliegenden Seite der Arbeitsplatte und beäugte den Arzt, dessen Lippen die Worte 'nette Onkel' schmollend nachformten. "- ist, dass uns jetzt klar ist, warum die Hexe heut das zeitliche gesegnet hat. Um ehrlich zu sein, sind wir nicht traurig darüber, aber ganz glücklich auch nicht. Deshalb sind wir nämlich hier."   "Jacob", murrte der Doktor, richtete sich auf und fixierte seinen Begleiter, "ich hätte das Thema gleich diskreter angesprochen."   "Für Diskretion haben wir nur leider nicht mehr so viel Zeit."   Dr. Lewis seufzte.    "Sie sind Achtundvierziger", entwich es MJ schneller als ein Blitz einer Gewitterwolke. "Jetzt kapiere ich auch, warum Sie hergekommen sind. Ich hab mich schon gewundert, wieso Ihnen die Leiche so scheißegal ist, Sie aber trotzdem mit mir reden. Sie setzen mich die ganze Zeit unter Druck, weil Sie Schiss vor dem Countdown haben und rauskriegen wollen, wie Sie den stoppen können!"   Die Männer tauschten vielsagende Blicke, die MJ sofort bestätigten. "Ich hab also Recht", fauchte sie und trat einen Schritt zurück. "Deshalb waren Sie so nett, Doktor. Und jetzt werden Sie gleich nicht mehr nett sein, sondern fies werden, um zu bekommen, was Sie wollen. Sie sind doch genau wie Lily!"   "Wie Lily?", knurrte Jacob.   Der Arzt stoppte ihn mit erhobener Hand, sah aber auf MJ hinab. "Du denkst, wir wollen dich erpressen?"   "Natürlich", zischte sie und wich noch weiter zurück. "Erst tun Sie so, als würden Sie mich nicht ins Gefängnis stecken wollen, um mich um den Finger zu wickeln. Und wenn ich nicht tue, was Sie sagen, holen Sie doch die Polizei, oder?"   "Das wär doch zumindest ein Plan", schnalzte Jacob mit der Zunge.   "Meiner ist es aber nicht", lenkte Dr. Lewis augenblicklich ein. "Ja, so gesehen sind wir tatsächlich wegen des Countdowns hier. Zudem wollte ich aber auch wissen, was du für ein Mensch bist, in der Hoffnung dich einfach um die Informationen bitten zu können, die wir benötigen. Und, da ich glaube in dir ein gutes Mädchen zu sehen, mache ich das jetzt: Bitte, Mary Jane, sag uns, wie wir verhindern können, dass die Informationen, die Lily über uns gesammelt hat, nicht innerhalb von 48 Stunden ins Netz hochgeladen werden."   Ungläubig gaffte MJ dem Arzt entgegen. War der echt ehrlich? Nein, oder? Wahrscheinlich war das bloß eine Masche. Garantiert. "Pah", trotzte sie über verschränkten Armen, "und sobald ich Ihnen das verraten hab, verraten Sie mich bei der Polizei. Ich bin doch nicht blöde."   "Ihre Gedankengänge gefallen mir", grinste Jacob.   Dr. Lewis sah ihn tadelnd an. "Das hilft jetzt nicht weiter, mein Schatz. Wenn du so redest, vertraut sie uns nie, das ist dir ja wohl klar, nicht wahr?"   "Schatz?", wiederholte MJ und beobachtete dabei die ertappte Miene des Arztes. Röte krabbelte seine Wangen hinauf, bis sie aussahen wie zwei überreife Tomaten.    Jacob reagierte weitaus entspannter, schmunzelte sogar, ehe seine Lippen zu einem Strich verschmolzen. Über seiner Nase wuchs eine Falte senkrecht in die Höhe, die sich wieder glättete, als Jacob den Mund öffnete. "Hör mal, MJ", sprach er sie zum ersten Mal in normalem Tonfall an. "Wenn ich das richtig sehe, ticken wir beide ähnlich. Du denkst wie ich an deiner Stelle denken würde. Und", deutete er hinter sich zu Lily, "handelst auch so. Daher werde ich dir jetzt etwas verraten, das dich womöglich überzeugt, uns zu unterstützen."   "Jacob", wisperte Dr. Lewis und schüttelte den Kopf.    "Schon gut", winkte der ab. "Ich halte es nur für fair, dem Kind zu sagen, womit Lilith mich in der Hand hatte. Zum einen wären wir dadurch quitt, weil wir dann nicht nur ihr Geheimnis kennen, sondern sie auch meines, was das gegenseitige Erpressen ziemlich unnötig machen wird. Und zum anderen glaube ich, wird sie es verstehen und womöglich überzeugen, uns zu helfen."   Vorläufig verstand MJ überhaupt nichts. Aber was konnte es schon schaden, Jacob anzuhören? "Okay", winkte sie auffordernd, "schießen Sie los."   "Pass auf", begann er, zog einen Barhocker heran und setzte sich. Seine Hände faltete er auf dem Tresen und presste die Daumen so fest aneinander, dass sich ihre Spitzen weiß färbten. "Vor vier Jahren ungefähr bin ich diesem Kerlchen da begegnet", nickte er dem älteren Arzt zu. "Das war während meiner Zeit bei der British Army. Ich war einer der Nahkampfausbilder und der Doc vorübergehend für unser körperliches Wohl zuständig. Wir verstanden uns auf Anhieb, wenn auch nicht gleich so, wie ich es mir gewünscht hatte. Nichtsdestotrotz konnte der Gute meinem Charme nicht lang widerstehen und drei Monate später gehörte er endlich mir." Ein knappes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, ehe sie nach unten sanken. "Niemand wusste davon. Aber irgendwann bekam ein homophobes Arschloch aus meiner Truppe mit, dass sich der Doc abends heimlich mit einem von uns traf. Er hat ihm während des Ausgangs in einer Seitengasse aufgelauert und wirklich verdammt übel zugerichtet. Daraufhin bin ich ausgerastet."   "Sie haben -", schluckte MJ.   Jacob bejahte stumm. "Ich kam rechtzeitig, bevor der Wichser sich richtig auslassen konnte, und bin direkt auf ihn los. Viel weiß ich nicht mehr, außer, dass am Ende mehr Hackfleisch als Mensch vor mir lag."   "Und Lily hat davon was mitbekommen?", vermutete MJ und beide Männer nickten.   "Ja", wisperte Dr. Lewis, "die Überwachungskamera eines nahen Geldautomaten hat alles aufgezeichnet. Zu dem Zeitpunkt war Lilith mal wieder auf der Jagd nach jedem, den sie irgendwie erpressen konnte, um ihr Portemonnaie zu füllen. Schlechtes Timing, sag ich dir."   Wie grausam Lily Theodora gewesen war, wurde MJ erneut schlagartig bewusst. Sie hatte vor gar nichts Halt gemacht. Weder vor einem Mann, der seinen Geliebten gerettet hatte, noch vor Kindern eines Waisenhauses, die sie ohne zu Zögern ausliefern wollte.  "Ich verstehe, was Sie sagten, Jacob", gestand sie. "Sie haben auch jemanden beschützt, der Ihnen wichtig ist. Darin sind wir uns ähnlich, nicht wahr?"   "Ja", bestätigte er, "mit der gleichen Konsequenz. Der Wichser ist tot. Man hat mich zwar nie überführt, aber trotzdem habe ich den Tod eines Menschen zu verantworten", sprach er mit einer Überzeugung, die MJ an jemanden erinnerte, an den sie immer noch nicht denken wollte. Jacobs nächster Satz bohrte sich wie ein Pfeil in ihr Herz. "Und ich würde diese Schuld immer wieder auf mich laden, wenn ich damit den Mann schützen kann, den ich liebe."   "Lilith hat das Video der Kamera irgendwo gespeichert", seufzte Dr. Lewis. "Und falls sie tatsächlich mal die Wahrheit gesagt hat, wird es nach 48 Stunden ins Internet geladen, sobald ihr etwas zugestoßen ist. MJ", flehte er schließlich, packte sie an den Schultern, sank auf die Knie und zog sie an sich, "ich bitte dich inbrünstig. Sag uns, wie wir das stoppen können. Sonst war alles umsonst. Man wird Jacob verhaften. Das verkrafte ich nicht. Ich will ihn nicht verlieren, hörst du?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)