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Totgeglaubte leben länger!

von

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Has(s)en

Der Duft frischer Kräuter wehte vorbei und verschwand im Nichts, als Mello die Augen aufschlug und erkannte, dass das Totsein nicht so war, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte stets gedacht, es wäre ... härter. Nicht wie das Liegen in einem Bett. Dunkler. Ohne penetrantes Licht, das einem die Lider zusammenschweißen wollte. Und - vor allem - ruhiger. Im Jenseits von schrillem Piepen in den Wahnsinn getrieben zu werden, hatte Mello nicht erwartet. Dabei hatte er mit Vielem gerechnet. Mit grausamen Szenen aus seiner Vergangenheit, die man ihm immer und immer wieder in Dauerschleife präsentierte. Vielleicht sogar mit dem Teufel persönlich, der sich einen Spaß daraus machte, Mello ins Fegefeuer zu schubsen.

Doch dass seine Hölle letztendlich aus einem grell beleuchteten Raum bestand, in dem man ihm mit besagtem Piepen beschallte, war definitiv das abwegigste Szenario, das er sich jemals hätte ausmalen können. Am Ende verdiente er wohl aber nichts Besseres. Nur Einsamkeit in tristem Weiß. Warum hätte es auch anders sein sollen?

 

"Schöne Scheiße", knurrte Mello und bereute es sofort. Die Vibration seiner Stimmbänder echote ohne Umweg direkt in seinem Schädel, den er sich zu gern einfach vom Hals gerissen hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Das war er nicht. Er konnte sich kaum rühren, sich weder aufsetzen, da ihn die weiche Matratze regelrecht einsog, noch auf die Seite drehen. Allein der Versuch brachte Mello zum gequälten Stöhnen, als ihn ein Schmerz traf wie einst nach der Explosion des Mafiaquartiers. Geprellte Rippen waren zwar nichts im Vergleich zu fleischfressenden Brandwunden, aber jetzt - ohne verkohlte Hautfetzen, die einen ablenkten - war der Schmerz in seiner Brust verdammt intensiv.

Aus Reflex presste Mello die Hände auf seinen Oberkörper und stöhnte noch lauter, als ein harter Gegenstand unvermittelt auf seine Rippen prallte.

 

"Fuck!", brüllte er und riss die Hände in die Höhe - an seinen Kopf, in dem sein Aufschrei schallte wie das Pfeifen einer Dampflok, die Mello prompt überrollte, als der harte Gegenstand auf seine Schläfe schepperte.

 

"Fuck! Verdammte ... Fuck!" Mit voller Wucht stieß er den Gegenstand von sich, spürte, dass er neben ihm auf die Matratze plumpste und von dort aus eine neue Schmerzwelle durch seinen Körper jagte. Benebelt vom Pochen, Ziehen und Reißen, ächzte Mello auf, biss die Zähne zusammen und starrte auf die Ursache allen Übels. Ein Gips ummantelte sein linkes Handgelenk. 

 

"Was zum Teufel?", knurrte er, während er seinen Arm anhob, um ihn eingehender zu mustern und festzustellen, dass es sich tatsächlich um einen stinknormalen Gips handelte, wie man ihn in Krankenhäusern verpasst bekam. Gab es Krankenhäuser in der Hölle? Wurden die Seelen erst zusammengeflickt, ehe man sie in der Ewigkeit zermarterte? Wohl kaum. 

 

Allein diese Erkenntnis genügte, um Mello daran zu erinnern, dass man ihm den Tod nicht gegönnt hatte. Irgendjemand hatte sich zwischen ihn und das endgültige Nichts gestellt, aber wozu? Nur damit er jetzt in dieser weißen Einöde versauerte, die sich kaum Krankenzimmer nennen durfte, weil die gesamte Ausstattung schlichtweg improvisiert war? Nicht einmal das Bett war ein wirkliches Bett, sondern bloß eine Liege, wie sie Sanitätshäuser ausrangierten. Der Schrank gegenüber des Fußendes bestand zudem eindeutig aus drei Werkstattwagen, die man nebeneinander gestellt hatte, um Arbeitsfläche zu schaffen.

 

"Ich bin doch kein beschissenes Auto", fauchte Mello, stockte aber, da das fortwährende Piepen plötzlich mitsamt seiner Stimme anschwoll. Er riss den Kopf zur Seite, bis er die Quelle des schrillen Tons ausmachte. Rechts, unmittelbar in seiner Nähe stand ein altbackener Vitalmonitor, auf dem bunte Linien um die Wette hüpften. Jene, die Mellos Puls beschrieb, lag deutlich in Führung. Sie war rot und somit ein krasser Kontrast zu dem allgegenwärtigen Weiß, an das sich Mellos Augen nicht gewöhnen wollten. Egal wohin er sah, wurde er mit unnatürlicher Helligkeit konfrontiert. Selbst hinter dem einzigen Fenster, das sich neben dem Monitor befand, herrschte weiß. Weiß, weiß, weiß. Mellos Puls raste, bis sich die rote Linie fast überschlug. Überall Weiß und Leere, die von weiterem Weiß gefüllt wurde. Wo war er? Und wie kam er überhaupt hier hin?

 

Mello kramte durch sein Gedächtnis, ohne Hinweise zu finden, die seine Fragen beantworteten. Das einzige, woran er sich erinnerte, war der LKW, den er über die Landstraße gehetzt hatte, bevor sämtliche Lichter vom Schmerz in seiner Brust ausgeblasen worden waren. Danach gab es nichts. Bloß Dunkelheit, wo sich eigentlich die letzten Stunden befinden sollten. Nein, falsch. Da sollte gar nichts sein. Bloß der Tod, den Mello einberechnet hatte, als er die letzte Runde im Kampf gegen Kira eröffnete. Seinen Tod. Nur seinen.

 

"Matt", blitzte der Erinnerungsfetzen auf, den Mello jetzt absolut nicht vor seinem geistigen Auge sehen wollte. Daher wischte er ihn schleunigst davon und rieb sich die Stirn, obwohl er sich jeden Gedanken an seinen toten Freund lieber mit dem Gips aus dem Hirn geprügelt hätte. Aber das musste warten. Zuvor galt es herauszufinden, warum Mello hier war und wer ihm den Verband angelegt hatte.

 

Erneut beäugte er seinen linken Arm, reckte ihn in die Höhe, hielt ihn vor die penetranten Neonröhren, blinzelte und ließ ihn wieder sinken. Natürlich brachte das keine Erleuchtung, außer der, dass man bei dem grellen Licht auch dann keine Spuren entdecken würde, wenn sie denn da wären. Der Gips verschmolz einfach mit dem Weiß wie eine Schneeflocke mit einer Lawine. Ebenso alles andere um Mello herum, abgesehen von der roten Lebenslinie, die nicht aufhörte im Takt des Piepens auf und ab zu springen. 

 

Mello warf dem Monitor einen giftigen Blick zu, der abprallte und schnurstracks zum Fenster schnellte. Etwas bewegte sich. Ein Schatten waberte hinter einer zweiten Scheibe, welche in eine gegenüberliegende Wand eingelassen worden war. Erst jetzt erkannte Mello den Flur, durch den sich Neonröhren schlängelten wie die, die ihn schon die ganze Zeit belästigten. Nur strahlten diese weitaus energischer, flackerten und raubten jegliche Sicht auf alles, das sich hinter dem anderen Fenster befand. Konturen verschwammen zu einem weißen Brei - aber Mello war klar: Dort gab es noch ein Zimmer!

 

"Andere Gefangene?", keuchte er, während er sich langsam aufsetzte. Es kostete ihn größere Kraft als er sich eingestand, seine unverletzte Hand in die Matratze zu drücken und sich irgendwie in eine aufrechte Position zu bringen. Seine Rippen protestierten gegen jede Bewegung, aber das hielt Mello nicht auf. Gebremst wurde er erst von dem Schwindel, der sein Hirn überschwappte wie Sirup und alles verschleierte, das sich vor Mello abspielte. Er wollte sich ohrfeigen, um die Benommenheit loszuwerden, kippte allerdings, als er den Arm hob und hielt sich doch lieber fest, um nicht von der Liege zu rauschen. Vorerst sitzenzubleiben war die bessere Strategie. Zumal er jetzt immerhin aus dem Fenster starren konnte, ohne sich den Nacken zu verrenken. Weitere Vorteile gab es nicht. Der Flur war trotzdem viel zu grell, um wirklich etwas sehen zu können. 

 

Mello begann, jegliches Licht zu hassen. Sogar noch intensiver als das Piepen, welches sich in den letzten Minuten auf so ungesunde Frequenz beschleunigt hatte, dass ein Dauerton bei weitem erträglicher war. Dieser fiepte durch den Raum, als Mello den Pulsfühler von seiner Fingerkuppe rupfte und ihn in eine Ecke schleuderte. Wenigstens etwas Freiheit hatte er sich zurück erkämpft. Um den Rest würde er sich demnächst kümmern. Dann, wenn derjenige, der Mello hierher verschleppt hatte, begriff, wie falsch das gewesen war. Niemand sperrte ihn einfach ein, umwickelte ihn mit Gipsverbänden, schloss ihn an Monitore an und kam damit davon.

 

"Das wirst du büßen", grinste Mello verheißungsvoll und ignorierte dabei das Reißen seiner trockenen Mundwinkel ebenso wie den Wasserbecher, der ihm von einem Tischchen neben seinem Bett ins Auge stach. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Schatten, der hinter dem zweiten Fenster von rechts nach links schwebte, was natürlich blödsinnig war, da der Schatten definitiv zu einem Menschen gehörte und der gewiss nicht schwebte. Mello schärfte seine Sicht so gut es ging, blendete die Neonröhren aus und stierte durchs Glas, folgte den Schritten, blinzelte nicht. Ein Klacken. Mellos Aufmerksamkeit zuckte nach links. Dort, gegenüber seiner Tür, öffnete sich eine andere. Der Schatten trat heraus. Mello blinzelte. Blinzelte. Und blinzelte. 

 

"Was zum Henker?", stutzte er und fauchte dann, "Bin ich in einem beschissenen Irrenhaus, oder was?"

 

Im Flur stockte eine Gestalt als hätte man ihr gerade einen Eimer Eiswasser übergekippt. Wie festgefroren stand sie da, rührte sich nicht und verschmolz annähernd mit der Umgebung. Der weiße Pullover war nur noch ein Fleck vor den weißen Wänden. Fast unsichtbar aber definitiv existent. Daran erinnerte sich scheinbar auch die Gestalt, denn allmählich kehrte das Leben in sie zurück. Sie drehte ihren Kopf. Schwarze Punkte unter einer Kapuze richteten sich auf Mello, der regungslos auf seiner Liege saß und nicht wusste, ob er lachen oder sich selbst eine verpassen sollte, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Ein Traum. Ganz bestimmt. In der Realität würde ihm wohl kaum ein menschengroßer Hase entgegen starren.

 

Letztendlich tat er nichts dergleichen. Mello verharrte, musterte die Maske, beobachtete, dass sie ihn beobachtete. Wie Beutetiere, die darauf warteten, wer von ihnen den ersten Schritt wagte. Mello wagte ihn. Er glitt von der Liege, stützte sich, bis sich seine Beine an die Last seines Körpers gewöhnt hatten, und schwankte anschließend auf das Fenster zu. 

 

Dahinter wich der Hase zurück. Bloß ein paar Zentimeter, aber das genügte, um sich zu verraten. 

 

"Ah", grinste Mello, "bist du etwa scheu, kleines Häschen? Hast du Angst vor dem großen, bösen Wolf?" Spott triefte aus jedem einzelnen Wort und Mello liebte sich dafür. Er wusste von seiner Wirkung, die er auf andere Menschen hatte; wusste, wie einfach es war, jemanden einzuschüchtern; wusste, dass jeder vor ihm einknickte, wenn er es wollte; wusste nicht, wie falsch er damit gerade lag.

 

Der Hase straffte die Schultern und trat wieder vor, bis ihn nur noch ein halber Meter und die Fensterscheibe von Mello trennten. "Ich bin ein Hase und nicht Rotkäppchen, Blödmann. Von wegen großer, böser Wolf", höhnte eine verzerrte Stimme hinter der Maske. "Wobei ich zugeben muss, dass du echt eine große Schnauze hast."

 

Mellos Faust krachte gegen das Fenster. "Was?", keifte er. "Sag das nochmal, du scheiß Karnickel!"

 

"Du hast eine große Schnauze", wiederholte der Hase. Schwarze Plastikaugen erhoben sich und fixierten Mellos verkrampfte Finger, die keinen Hehl daraus machten, was sie am liebsten zermalmen würde.

 

Glas vibrierte, als Mello erneut dagegen donnerte. "Hab ich das, ja?", keifte er. "Na, warte. Wenn ich dich in die Finger kriege, zeig ich dir, wie groß meine Schnauze ist. Dich zerfleische ich, bevor du überhaupt weißt, was mit dir passiert!"

 

Die Maske lachte. "Wirklich? Dann hab ich echt Glück, dass du mich nicht in die Finger kriegen wirst." Gespielt mitleidig neigte sie den Kopf, setzte hörbar zu weiterem Spott an und verschluckte sich an einem Keuchen. Ihr Blick ruckte zur Seite und, obwohl er es nicht sehen konnte, wusste Mello, dass sich die menschlichen Augen hinter dem Plastik weiteten. Die Gestalt verspannte sich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange, versteifte, starrte auf einen Punkt in der Nähe, wieder zurück durchs Glas, erneut auf den Punkt und hechtete los.

 

Mello reagierte. Er stürmte dem Hasen hinterher, auf die Tür zu, die bloß in den Rahmen gelehnt war, verfluchte sich dafür, genau das nicht sofort gesehen zu haben, packte den Knauf und merkte, wie er ihm aus der Hand gerissen wurde. Blitzschnell griff Mello zu, zerrte das Türblatt in seine Richtung, ließ es nicht im Schloss einschnappen.

 

Auf der anderen Seite ächzte der Hase. "Lass los!" Ein Turnschuh samt Fuß rammte gegen die Zarge, stemmte sich dagegen.

 

Mello tat es ihm gleich, presste sein Bein gegen den Rahmen, stöhnte auf und krümmte sich, als seine Rippen unter der Anspannung zu brechen drohten. In seinem Brustkorb bündelte sich Schmerz, der augenblicklich explodierte. Mello schrie, gab aber nicht auf. 

 

"Lass los, Blödmann!", kreischte der Hase. "Denk an deine Verletzungen!" 

 

Mello dachte gar nicht daran, an irgendwelche Verletzungen zu denken. Stattdessen schmetterte er den Gipsarm auf den Knauf, versuchte das Metall zu packen, scheiterte aber, da seine Fingerkuppen immer wieder und wieder abrutschten. Trotzdem schaffte er es mit einer Hand den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu vergrößern.

 

"Du verdammter Dickschädel!", brüllte der Hase und rüttelte am Griff, als könne er Mello dadurch abschütteln. Der Turnschuh quietschte an der Zarge, bohrte sich ins Holz.

 

"Gleich", stöhnte Mello, "bin ich hier raus." Siegessicher zerrte er weiter. Zentimeter um Zentimeter weitete sich der Spalt, bis der Ausgang halb offen war. 

 

Der Hase verlor den Halt, rutschte mit dem Fuß ab, stolperte und schlidderte über die Fliesen in den Raum. Schnaufend rappelte er sich auf, ließ den Griff dabei endgültig los, wirbelte herum und kickte so energisch gegen die Tür, dass sie vollends aufsprang. 

 

Mello wich dem Türblatt aus und schwankte zurück. Er lachte, war überzeugt gewonnen zuhaben, als der Hase ein Funkgerät aus seiner Pullovertasche rupfte. Unverzüglich dröhnte es hinter der Maske: "Ich brauche Hilfe! Der Kerl will abhauen." 

 

Wie auf Kommando zischte es. Alarmiert flog Mellos Blick an die Decke. Gaswolken schossen aus mehreren Düsen, strömten durcheinander und tauchten das gesamte Zimmer in dichten Nebel. Er musste hier raus. Schnell. Mello torkelte vorwärts. Seine Sicht verwischte bereits, verschwamm wie das Spiegelbild in einem trüben Fluss - nur war es nicht sein Bild, das vor seinen Augen waberte, sondern der Hase, der die Plastiknase schützend in eine Armbeuge presste. Das Grinsen der Maske war dadurch zwar verdeckt, aber nichtsdestotrotz war Mello überzeugt es sehen zu können. Man lachte ihn aus. Ganz bestimmt. Zweifellos. Und dafür sollte der Hase bezahlen, schwor Mello, als er das Bewusstsein verlor.

 

~

 

"Er hat sich keine weiteren Verletzungen zugezogen", murmelte eine tiefe, männliche Stimme hinter dem Lichtstrahl, der in Mellos Pupillen stach. "Und wie es aussieht, wacht er sogar schon wieder auf."

 

Mello wollte die fremden Finger von seinen Augen wischen, wollte demjenigen, der ihn blendete, die Lampe ins Gesicht rammen, ballte bereits die nicht eingegipste Hand, scheiterte jedoch kläglich daran sie zu heben. Etwas fixierte sein Gelenk. Beide Gelenke; und offensichtlich auch seine Füße, da diese tiefer als gewöhnlich in eine Matratze einsanken. Worauf er schon wieder lag, musste sich Mello gar nicht ausmalen. Er erinnerte sich noch zu gut an das improvisierte Bett.

 

"Das Kerlchen ist echt hart im Nehmen", gluckste eine helle, weibliche Stimme zu seiner Linken. "Na, bloß gut, würde ich sagen, oder? Was meinst du, Lilith?"

 

Nur ein Schnaufen. Mehr musste Mello nicht hören, um zu wissen, wen die Frau angesprochen hatte. Trotzdem sah er auf, schielte in die Richtung, aus der das Schnaufen gekommen war, und fand den Hinterkopf des Hasen, der vor dem Fenster stand und ungerührt in den gegenüberliegenden Raum blickte. War das tatsächlich der gleiche Hase, mit dem Mello um die Tür gekämpft hatte? Er war so winzig, mickrig, reichte Mello vermutlich gerade einmal knapp bis zur Nasenspitze. Und muskulös wirkte er - oder sie? - auch nicht, was umso ärgerlicher war, wenn man den Kraftakt am Türknauf bedachte. Mello schob seine Fast-Niederlage auf geprellte Rippen und einen Gips.

 

"Seien wir froh, dass es ihm, den Umständen entsprechend, gut geht", mischte sich der Mann ein.

 

Mello richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn und stöhnte genervt, als er zwei Köpfe über sich entdeckte, die halb hinter weißen Masken versteckt waren. "Was soll der Scheiß?", knurrte er. "Warum trägt jeder von euch Spinnern eine Maske?"

 

Die Köpfe tauschten amüsierte Blicke, ehe die Frau ihr Gesicht freilegte und breit lächelte. "Aus Hygienegründen, du Stinkstiefel. Oder wäre es dir lieber, wenn wir dich versehentlich anhusten oder so? Das ist doch eklig." Ihre brünetten Locken hüpften, als sie mit dem Kopf schüttelte. 

 

"Wie rücksichtsvoll", zischte Mello. "Angehustet zu werden ist natürlich weitaus schlimmer als eingesperrt und angebunden zu sein."

 

"Die Ledermanschetten hast du dir selbst zuzuschreiben", tadelte der Mann, während er sich ebenfalls den Mundschutz hinabzupfte. Der weiße Stoff hing unter seinem Kinn wie ein Grinsen, das seine Lippen anstiftete ein Lächeln zu formen. "Normalerweise sehen wir von solchen Methoden gern ab, aber nach deinem Benehmen unserer Lilith gegenüber, hast du uns leider keine andere Wahl gelassen."

 

"Lilith?" Mello beäugte den Hasen, von dem er nicht wusste, ob die menschlichen Ohren unter den Plastelöffeln zuhörten oder nicht. "Ist das der Name dieser Irren da drüben? Klingt ziemlich bescheuert."

 

Lilith hatte zugehört. "Es kann ja nicht jeder so einen wunderschönen, wohlklingenden, imposanten - ach was - durchweg perfekten Namen haben, Mello", konterte sie über ihre Schulter hinweg. Sie drehte sich um, lehnte sich rücklings an die Scheibe und verschränkte die Arme vor der Brust.

 

Mello blieb nichts anderes übrig, als sich in die Laken zu krallen. 

 

"Hey, nicht kaputt machen", schimpfte die gelockte Frau und klapste Mello auf die unverletzte Hand. "So viel Bettzeug haben wir nicht, also geh sorgsam damit um."

 

Ungläubig linste Mello in die Höhe, dann auf seine Hand und wieder in die Höhe. Wurde er tatsächlich gerade wie ein Kind behandelt, das Kekse aus einer Büchse gemopst hatte?

 

Das Lächeln des Mannes schwoll an. "Hör auf unsere Cara. Wenn es um solche Dinge geht, versteht sie keinen Spaß." 

 

"Ach, Dr. Lewis", winkte Cara ab, während sich ein Rotschimmer auf ihre Wangen legte, "sag sowas nicht."

 

"Doktor?", schnappte Mello auf, ohne der ausgelassenen Stimmung Beachtung zu schenken. "Heißt das etwa, dass Sie tatsächlich Arzt sind?" Misstrauen zog seine Brauen zusammen. "Oder ist das bloß Teil dieser verdammten Freakshow?"

 

"Hey!", keifte Lilith im Hintergrund. "Reiß dich gefälligst zusammen. Die beiden haben dir nichts getan, also fahr die Krallen wieder ein, kapiert?" Sie stampfte auf das Bett zu, kam allerdings kaum merklich näher, trat sogar wieder einen Schritt zurück, als Mellos gereizter Blick sie traf.

 

"Wem ich meine Krallen zeige, geht dich einen Scheiß an, Karnickelvisage!"

 

Diesmal war es Lilith, die die Hände ballte. Fäuste bebten neben ihren Hüften, aber sie sagte nichts, schwieg, brodelte vor sich hin, was Mello ausreichend Genugtuung verschaffte, um sie links liegen zu lassen und sich wieder den anderen Anwesenden zuzuwenden.

 

"Tacheles", bestimmte er. "Was soll der Mist? Wieso bin ich hier? Was wollt ihr von mir? Wie lang wollt ihr mich gefangen halten?"

 

"Eine ganze Weile", gab Dr. Lewis mit einer Selbstverständlichkeit zurück, die keinen Zweifel an seinen Worten zuließ und sogar Rodds Gelassenheit nach einer Entführung in den Schatten stellte.

 

Für einen Sekundenbruchteil überlegte Mello, ob es womöglich vernünftig war, vorsichtiger zu werden, allerdings hatte Vorsicht noch nie zu Resultaten geführt, weshalb er jegliche Vernunft in der abgelegensten Ecke seiner Persönlichkeit vergrub.

"Klasse", murrte er, "und wie stellt ihr euch das vor? Sperrt ihr mich hier ein und werft den Schlüssel weg? Bleibe ich auf diesem Alibibett, bis euch einfällt, was ihr mit mir machen wollt? Oder -" Er lachte humorlos. "- habt ihr vor, meinen Willen zu brechen, um mich für irgendwelche perfiden Pläne zu missbrauchen?"

 

"Mensch, bist du anstrengend", seufzte Cara und pustete eine Locke von ihrer Stirn. "Da war es ja damals leichter mit -"

 

"Cara!", donnerte Lilith dazwischen.

 

Auch Dr. Lewis sah sie mahnend an, fand jedoch schnell zu seiner freundlichen Miene zurück und erklärte, an Mello gerichtet: "Nein, wir haben nichts dergleichen vor. Ich meine", kratzte er sich den Nacken, "ja, du wirst eingesperrt bleiben, aber in diesem Raum wirst du weitestgehend deine Bewegungsfreiheit bekommen. Jemanden in einer einzigen Position zu fixieren, schadet der Gesundheit, was eher kontraproduktiv wäre. Die Mahlzeiten werden dir in regelmäßigen Abständen gebracht. Währenddessen hast du dich dort hinten", deutete er auf die entfernteste Wand, "aufzuhalten, bis wir dein Essen abgestellt und den Raum wieder verlassen haben."

 

Mellos Mundwinkel zuckten. Rechtzeitig brachte er sie unter Kontrolle, bevor sie ein Grinsen formen konnten.

 

"Denk gar nicht daran", warnte Lilith. "Solltest du es auch nur wagen, einem von uns zu nahe zu kommen, wird das Betäubungsgas aktiviert. Manuell, weil du nämlich ständig unter Beobachtung stehst." Ihr Finger ruckte in die Luft und punktierte vier Kameras, die in den Zimmerecken installiert worden waren. "Wenn du Scheiße baust, landest du schneller auf dem Boden, als du fluchen kannst."

 

"Dann sollte ich nicht in der Nase bohren, hm?", schnaufte Mello verächtlich.

 

Lilith setzte zu einer Antwort an.

 

"Und mir keinen runterholen. Könnte peinlich werden."

 

Lilith verschluckte sich, hustete und wandte sich eiliger ab als eine Nonne in einem Stripclub.

 

Diesmal gab Mello seinen Mundwinkeln nach und grinste. Dass er es selbst in seiner aktuellen Lage schaffte, Menschen zu verunsichern, befriedigte ihn auf eine Weise, die jeden Orgasmus übertrumpfte.

 

"Nun", räusperte sich Dr. Lewis, "sollte dir danach sein, empfehle ich dir, die Toilette aufzusuchen." Schnellen Schrittes stakste er durch den Raum, zu einer weißen Tür, die beinahe mit den weißen Wänden verschmolz. Mello musste die Lider zusammenkneifen, um überhaupt einen Umriss zu erkennen. "Ein Waschbecken steht dir ebenfalls zur Verfügung."

 

Allmählich ging Mello das Schauspiel auf die Nerven. Man verkaufte ihn für dumm. Definitiv. Diese Leute wirkten vielleicht nicht wie professionelle Kerkermeister, aber sie wussten was sie taten. Sie boten Mello den Umständen entsprechenden Komfort, wollten ihn dadurch in Sicherheit wiegen, ihn mit ihrer lockeren Art ruhig halten, um unnötigen Ärger zu vermeiden, doch damit schnitten sie sich bloß ins eigene Fleisch. Mello durchschaute sie. Die Erklärungen des Arztes waren zu explizit, folgten zu schnell, um spontan zu sein. Nein, spontan war hier gar nichts. Jedes winzige Detail der Gefangenschaft war durchorganisiert und - allein in Anbetracht der Kameras - wohl überlegt. Irgendjemand hatte dieses Szenario von vornherein geplant und vermutlich dabei alle Fluchtmöglichkeiten ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit etwas zu finden, das Mello bei einem Ausbruch helfen konnte, sank rapide. Trotzdem würde er suchen. Nicht nur Gegenstände, sondern auch Informationen. Egal wie belanglos sie schienen.

 

"Gibt es da drin eine Dusche?", startete Mello sein heimliches Verhör. Mit etwas Glück ...

 

Dr. Lewis stutzte. "Nein", erklärte er, als er wieder an die Liege trat, "um ein vollständiges Bad handelt es sich nicht."

 

Bingo! Mello witterte seine Chance; einen Anhaltspunkt, auf dem er seine Flucht aufbauen konnte. "Auf Dauer bloß mit Katzenwäschen leben zu müssen, ist nicht sonderlich hygienisch, Herr Doktor", plädierte er. "Das wird ja klar sein, oder? Dachte ich zumindest, nach dieser ganzen Mundschutz-Geschichte. Es sei denn -", zog er in die Länge und unterlag dem Drang, dem Hasen noch einmal eine reinwürgen zu wollen. Für die bloße Frechheit, ihn nicht aus dem Raum gelassen zu haben, sollte diese Lilith büßen. Langsam schweifte seine Aufmerksamkeit zu ihr. "- ich werde ausgiebig gewaschen. Dann gibt es sicher keine Probleme."

 

Wider Erwarten hielten ihm die Plastikaugen stand wie schwarze Löcher, die die Provokation einfach schluckten. "Das übernehme ich liebend gern", säuselte Lilith zuckersüß und kostete den nächsten Moment vollends aus. "Wir haben in der Garage bestimmt einen Kärcher, mit dem ich dich abduschen kann. Die paar Bar mehr werden einem so harten Typen wie dir doch nicht schaden, oder? Schließlich bist du ja ein echter Fels von einem Mann. Granit auf zwei Beinen. Ein ganz zäher Kerl."

 

Ihr Spott krachte auf Mello ein und sprengte fast seine eh viel zu labile Selbstbeherrschung. Er biss sich auf die Zunge, unterdrückte jeden Fluch, jede Beleidigung, jedes Wort, das ihn länger als nötig an diese verdammte Liege bannen würde. Innerlich brüllte er Mantras: Nicht ausrasten! Zusammenreißen!

Das Laken spannte unter Mellos rechter Hand. Ein Klaps befreite den Stoff.

 

"Na, na, na", kicherte Cara, "bleib locker. Wenn du dich nicht beruhigst, machen wir die Fesseln nicht ab, weißt du?"

 

Mello schmeckte Blut, als er die Zähne aus der Zunge löste. Sie pochte und war betäubt genug, um den Hasen nicht versehentlich doch noch verbal in der Luft zu zerreißen. Vorerst. 

Ein tiefer Atemzug verhalf ihm zu der widerlich freundlichen Stimme, die er bei Cara für angebracht hielt. Diese Frau machte auf ihn den normalsten Eindruck und normale Leute waren erfahrungsgemäß leicht zu beeinflussen. "Ich bin ganz ruhig", beteuerte er.

 

"Verkauf uns nicht für blöd!", fauchte die Frau, von der Mello längst wusste, dass sie garantiert nicht normal war. Seine Freundlichkeit raste ins Nirwana. Dicht gefolgt von Mantras, die er ebenso schnell vergaß wie sich selbst und seine Vorsätze.

 

"Das fällt mir bei dir verdammt schwer", brüllte er Lilith entgegen. "Wie soll ich eine Nervensäge mit Hasenmaske nicht für blöd halten? Bist du eigentlich zurückgeblieben oder so potthässlich, dass du dich verstecken musst?" Es war raus. Er hätte es nicht sagen sollen. Absolut nicht, denn jetzt waren seine Chancen auf Bewegungsfreiheit hinüber. Aber es tat gut. So unfassbar gut, diesem Weib die Meinung zu geigen, da sie schlichtweg nichts besseres verdiente. Schlimmeres sogar, da sie seinen ersten Fluchtversuch verhindert hatte. Wenn dieser blöde Hase nicht gewesen wäre, wäre Mello längst aus diesem weißen Höllenknast herausspaziert. Sie sollte es bereuen - bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Dafür würde Mello sorgen, egal wie. Mit Worten, mit Taten, mit allem, zu dem er fähig war. Er schnaufte verächtlich, starrte in die Maskenaugen und hasste es, dass er darin keine Reaktion erkannte.

 

Stattdessen reagierte Cara. "Wow", keuchte sie, "also das war echt gemein."

 

Mello warf ihr einen Blick zu, der sie warnen sollte, ihn nicht noch weiter zu reizen, doch Cara beachtete ihn überhaupt nicht. Sie sah über ihn hinweg zu Lilith, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und wandte sich letztendlich sprachlos ab.

 

"Cara", sagte Lilith vollkommen emotionslos, "bleib ruhig. Es spielt keine Rolle, ob er rummotzt, hörst du? Es ist ganz egal. Lass ihn reden. Das ändert gar nichts." Sie trat einen Schritt vor, stopfte ihre Hände in die Taschen ihrer weiten Stoffhose und richtete sich an Mello: "Ich meine es ernst. Unser Plan steht, unabhängig davon, wie du dich hier aufführst. Du bleibst in diesem Zimmer, bekommst etwas zu essen und - denn darauf wolltest du vorhin ja raus -", gluckste sie trocken, "hin und wieder wird dich einer von uns in ein naheliegendes Bad begleiten, damit du dich nicht über mangelnde Hygiene beschwerst. Mach dir aber bloß keine Hoffnung. Derjenige, der das übernimmt, wird auf dich aufpassen wie ein Schießhund. Glaub also nicht, dass du ihn überwältigen und dann fliehen kannst. Das kannst du nicht. Du steckst hier fest, solang wir wollen."

 

Zum dritten Mal krallte Mello sich in das Laken. Es riss laut ratschend, doch keinen interessierte das. 

 

Lilith fuhr ungerührt fort. "Wie angenehm dein Aufenthalt wird, entscheidest du. Wenn du ein Arsch sein willst, bitte, tu es, sei ein Arsch", meinte sie mit einem Unterton in der Stimme, der Mello aufhorchen ließ. "Denk darüber nach. Du wirst genug Zeit haben. Leute?", winkte sie ihre Freunde mit einer Hand heran, während ihre andere mitsamt eines Zerstäubers aus der Hosentasche auftauchte. "Lassen wir ihn allein."

 

Dr. Lewis trat neben sie. "Soll ich?"

 

"Ja", nickte Lilith und richtete den Zerstäuber auf Mello. "Nach einem Nickerchen hast du erstmal deine Bewegungsfreiheit zurück. Ich bin echt gespannt, ob du dich benehmen kannst, Blödmann."

 

Mello glotzte auf die trübe Flüssigkeit vor seiner Nase. "Was ist das?", knurrte er, zerrte erfolglos an seinen Fesseln, keifte: "Was ist das für ein Zeug, Mistvieh? Was habt ihr vor?"

Nebel schoss in sein Gesicht, ehe er den Kopf wegdrehen konnte. Kräuterduft zwickte seine Schleimhäute wie Brennnesseln. "Du scheiß Karnickel!", hustete er. "Ich mach dich fertig, kapiert? Wenn ich dich in die Finger kriege, dann -" 

 

Schwarz.



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