Totgeglaubte leben länger! von Annoia ================================================================================ Kapitel 4: Haltlos ------------------ Ryuzaki, Eraldo Coil und Deneuve - Pseudonyme, die in der Welt des Verbrechens für Angst und Schrecken gesorgt hatten. Pseudonyme, die einst bedeutend gewesen waren. Pseudonyme, die jetzt nur noch blasse Erinnerungen waren, weil die Persönlichkeiten dahinter offiziell als tot galten. L hatte sie abgelegt und vermisste sie nicht. Brauchte sie nicht. Nicht mehr. Was er jedoch nicht hinter sich lassen konnte, waren alte Gewohnheiten, die ihn auch mit 31 Jahren weiterhin ausmachten. Aber er hatte gelernt sie kurzzeitig beiseite zu schieben. Treffender formuliert: Watari hatte ihm, während unzähliger Übungsstunden, geduldig eingebläut, dass L in gewissen Situationen unmöglich seine markante Haltung einbehalten konnte. Sie würde ihn einschränken, ihm Grenzen setzen wie ein Tempolimit einem vorpreschenden Transporter. Dem Argument stimmte L definitiv zu.   Ungehemmt rammte sein nackter Fuß das Gaspedal ins Bodenblech des Vierzylinders. Der Motor fauchte in den Fahrtwind. Die Karosserie dröhnte. Dichte Staubwolken umnebelten den gesamten Wagen und versifften den weißen Lack. Sand knisterte gegen die Windschutzscheibe.    Konzentriert starrte L, an knirschenden Scheibenwischern vorbei, auf die vorbeirauschende Landstraße. Mit gekrümmtem Rücken kauerte er hinter dem Lenkrad, welches er nur ab und an für gehetzte Gangwechsel aus der Umklammerung entließ, und steuerte das zweckentfremdete Gefährt durch die Ödnis. Tristesse lag auf den umliegenden Feldern, aber auch auf der Straße, die sich durch das hier nur rar gesäte Fleckchen Natur schlängelte. Wie L erwartet hatte, herrschte keinerlei Verkehr. Zumindest nicht auf dem Boden.    Misstrauisch linste er gen Himmel, als über ihm die Rotorblätter eines Helikopters aufblitzten. Das Logo eines landesweiten Nachrichtensenders verschwamm, während der Hubschrauber durch den Luftraum jagte. In eine Richtung, die L gerade mit Höchstgeschwindigkeit hinter sich ließ. Hinter sich und den beiden Passagieren im Laderaum, von denen einer derzeit noch nicht einmal mitbekam, was um ihn herum geschah.   L prüfte den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass alles wie geplant verlief. Tatsächlich erkannte er darin den blonden Schopf des jungen Mannes, der bewusstlos auf einer Trage lag. Der optimalste Zustand in Anbetracht der gegebenen Situation. Wäre der unfreiwillige Mitreisende nämlich erwacht, wäre das Chaos vorprogrammiert gewesen. Daran hegte L keinerlei Zweifel.    Während der improvisierte Krankenwagen weiter über die Landstraße preschte, fixierte L erneut das Spiegelbild über dem Armaturenbrett. Argwöhnisch suchte er die andere unberechenbare Variable in einer Gleichung, die selbst der weltbeste Detektiv vorab nicht lösen konnte. Er fand sie neben der Trage auf dem Boden des Transporters. An der Außenwand lehnte die junge Frau, deren Gedanken L sogar hinter dem rußverschmierten Gesicht lesen konnte. Was er las, gefiel ihm allerdings nicht.   Er bremste. Schotter knallte gegen die Karosserie wie Trommelwirbel vor einem großen Finale. Dieses polterte im Innenraum.   L sah den blonden Zopf der Frau durch die Luft segeln, ehe der dem Rest von ihr folgte und über den Boden fegte. Ächzend schlug sie auf, rutschte über das Metall nach vorn - und schließlich wieder zurück, als Ls Fuß das Gaspedal wieder herunter rammte. Ruckartig schoss der Wagen vorwärts und Wut in die Miene der Ungehaltenen. L widmete sich zufrieden der Straße.   "Bist du bescheuert?", dröhnte Zorn lauter als der Motor. "Hast du mal an die Liege gedacht?"   "Die Bruchlast der Zurrgurte ist vollkommen ausreichend, um ein solches Bremsmanöver abzufangen. Es bestand keinerlei Gefahr für ihn", stellte L ungerührt klar. Natürlich hatte er jedes Risiko kalkuliert gehabt, was seiner Begleiterin wohl jetzt auch einleuchtete.    Erkenntnis glimmte und schürte ihren Ärger. "Dann war das also Absicht, weil du mich", zischte sie, "umnieten wolltest!" Sie schwankte auf L zu, klammerte sich an seine Kopfstütze und lugte daran vorbei. Ihr Blick sprühte Funken.   L betrachtete sie aus dem Augenwinkel. "Welche Intention hätte mich dazu verleiten sollen?", hakte er monoton nach, obwohl er wusste, dass sie wusste, was er wusste.   An Wissen mangelte es ihnen nicht. Trotzdem forderte die Blondine bissig: "Vielleicht, um ein Versprechen zu brechen?"    "Hätte es dafür einen Anlass gegeben?", lenkte L die indirekte Anschuldigung von sich und gleichzeitig seinen Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Er musste den Ausdruck der jungen Frau nicht länger betrachten; spürte er ihren Vorwurf doch sowieso wie Nadeln in seinem Rücken. Stechend musterte sie ihn.  "Ich habe dir zugesagt, dich im Falle einer fehlgeschlagenen Mission nicht aufzuhalten", wehrte L endgültig ab. "Da dem bisher nicht so ist, unterliege ich auch keinem Versprechen dir gegenüber, Lilith", raunte er und unterstrich ihren Namen mit eindeutigem Unverständnis. Dass er kurz davor war, von Blicken erdolcht zu werden, ignorierte L. "Sollte dich hingegen etwas anderes zu deinem Vorhaben verleitet haben, steht mir durchaus das Recht zu, dich auf eventuelle Fehleinschätzungen hinzuweisen." Gegebenenfalls mit einer Vollbremsung.   L prognostizierte zwei mögliche Reaktionen. Entweder würde ihn gleich vehementer Widerspruch treffen oder Einsicht. Ersteres kündigte sich an, als Lilith nach Luft schnappte. Allerdings entschied sie sich dann offensichtlich doch dagegen, behielt daher den angehaltenen Atem in sich und starrte mit aufgeplusterten Wangen beiseite. Erst als das rechte Vorderrad durch ein Schlagloch rumpelte, nahm sie wieder ihre normalen Konturen an. "Wann sind wir da?", eröffnete sie eine dritte Option: Ablenkung.   Vorerst tolerierte L ihre Wahl und antwortete, ohne die Distanz berechnen zu müssen: "Gleich." Sein Zeigefinger schwebte in die Höhe und markierte den Horizont. Hinter einem Hügel zeichnete sich bereits das Hinweisschild am Rand einer kleinen Ortschaft ab. In sicherer Entfernung zur Großstadt erwartete sie dort ihr Ziel.   "Gut", murmelte seine Begleitung. Zähneknirschend lugte sie in den hinteren Teil des Gefährts.   L starrte in den Rückspiegel. "Wie ist sein Zustand?"    "Lädiert aber lebendig", umschrieb Lilith knapp. "Im Gegensatz zu -" Trotz des Motorenlärms hörte L, wie sie einen scheinbar unüberwindbaren Kloß zu schlucken versuchte. "- wird der Doc ihn bestimmt schnell zusammenflicken können." Deutlich zerbrach ihre Stimme unter dem Druck, bröckelte, bis nichts als ein Hauch übrig blieb, der sich mit schweifenden Gedanken verflüchtigen wollte. In eine unbestimmte Zukunft, von der auch L noch nicht sagen konnte, wie diese aussehen würde. Er schwieg, während ihn schwache Worte umwehten. "Ich hoffe, dass unser größtes Problem sein wird, wie wir sie in der Einrichtung -"   "Festhalten", forderte L und riss das Lenkrad herum. Quietschend schleuderte der Wagen durch die letzte Kurve vor dem Ortseingangsschild. "Wir sind fast da", erklärte er monoton dem leeren Platz hinter sich. Abwartend, ob sein unnötiges Manöver den deutlichen Zweifel ebenso davon geschleudert hatte wie die Zweifelnde selbst.   Sie rappelte sich aus der Versenkung auf und pustete verirrte Strähnen aus ihrem Gesicht. L spürte beinahe, wie sich die Brocken wieder zusammensetzten, ehe sie verbal auf ihn geschleudert wurden. "Ich hab immer befürchtet, Kira würde euch umbringen", lachte Lilith humorlos, ehe sie fauchte: "Dabei bist du hier der Henker! Was sollte das denn schon wieder?"   L verzichtete auf Rechtfertigungen, da diese eh auf taube Ohren gestoßen wären. Erzürnt wie seine Begleiterin nun war, würde sie sein Handeln nicht nachvollziehen können. Das musste sie auch nicht. Was sie aber musste, war sich zusammenzureißen. Und um das zu gewährleisten, waren L einige Mittel recht.   Schweigend nahm er den Fuß vom Gas und steuerte den Transporter in gesittetem Tempo in den Ort. Leerstehende Wohnhäuser säumten die Straße, gefolgt von verlassenen Geschäften, die das Industriegebiet einläuteten. Graffiti verschandelten annähernd jede Backsteinwand. Obwohl Farbe den faden Gemäuern eigentlich gut getan hätte, unterstrichen die bunten Buchstaben bloß den Eindruck einer grauen Welt. "Kira, unser Retter!", "Kira ist Gott!" und "Kira ist Gerechtigkeit!" lauteten die geschmierten Botschaften.    L zerbiss seinen aufkeimenden Missmut mitsamt eines Daumennagels. Auch er durfte seinen Empfindungen jetzt keinen Freiraum gönnen; musste sich zusammenreißen; musste sich daran erinnern, warum er sich Kira nicht erneut gestellt hatte. Aufgrund eines Versprechens, das nicht das seinige gewesen war. Trotzdem war es bedeutend genug, um L, entgegen seiner einstigen Weltanschauung, zu beeinflussen.   "Denk nicht dran", wisperte die Frau hinter ihm. Ihr Blick suchte seinen im Spiegel. "Es gibt wichtigeres."   Nickend konzentrierte er sich wieder auf die Straße. Unauffällig manövrierte L den Transporter durch das Industriegebiet, bis er an dessen Ende eine schmale Abzweigung einschlug. Kies knirschte unter den Rädern, als der Wagen vor dem Garagentor einer alten Lackiererei zum Halten kam. L zog eine Fernbedienung aus seiner Hosentasche, um die Kombination einzugeben, die das Sicherheitssystem deaktivieren würde. Ein Lämpchen glimmte grün und schon setzte sich das Tor in Bewegung. Ratternd fuhr es in die Höhe. Putz bröckelte von den betagten Wänden, hinein in die Schatten der gemauerten Umzäunung. Geschützt vor ungewollter Aufmerksamkeit ließ L den Wagen in die Garage rollen.   "Rick hat wirklich ganze Arbeit geleistet", flüsterte Lilith. "Niemand wird uns überraschen können. Hier sind wir sicher."    L enthielt sich einer Antwort, stellte den Motor ab und öffnete die Fahrertür. Kaum hatte er einen Fuß auf den Betonboden gesetzt, klappten die Türen der Ladefläche.   "Hilf mir mal", hallte es aus dem Innenraum. Gefolgt vom Klimpern der Zurrgurtschlösser und dem anschließenden Schnarren einer Krankentrage, die aus dem Wagen kullerte. "Du nimmst das Kopfende", bestimmte jene, die bereits um die Liege gehuscht war und das Fußende umklammerte.   Wieso sie darauf bestand, ahnte L. Daher umfasste er einfach das Gestell, nachdem er das Sicherheitssystem wieder aktiviert hatte. Grün wandelte sich zu Rot, als sich das Tor senkte. Dunkelheit kroch über das Gesicht des Bewusstlosen.   "Er ist erwachsen geworden", bemerkte L nach kurzer Betrachtung des jungen Mannes. Dessen kindliche Züge waren definierten gewichen. Fehlende Fältchen um Augen und Mundpartie zeugten von einem freudlosen Lebenswandel; dichtes Narbengewebe von Geschehnissen, die kein Mensch durchleiden sollte.   "Aber kein Stück vernünftiger", zerrte Lilith L aus den Beobachtungen und zeitgleich die Trage hinter sich her. "Sonst hätte er wohl kaum diesen dummen Plan ausgeführt, der ihn und -" Sie stockte, als sie einen zweiten Transporter passierten. "- nein", schüttelte sie den Kopf, "sonst hätte er nicht zugelassen, dass das passiert."   Sie hatte recht. L wusste es; verbat sich jedoch jegliche Zustimmung. Immerhin war es genau diese Unvernunft gewesen, die seinen einstigen Nachfolger seit Kindertagen schon ausgemacht hatte, nicht wahr? Sie hatte seine Persönlichkeit, seine Art zu Handeln bestimmt - ihn definiert und letztendlich angetrieben, eigentlich unmögliche Ziele erreichen zu wollen. Im Grunde war es genau diese Eigenschaft, in der L sich wiedererkannte. Auch er hatte gewisse Situationen heraufbeschworen, um schneller Resultate zu fördern. Nicht nur positive.   Stumm schoben sie die Liege aus der Garage. Hinein in einen der grell beleuchteten Gänge, die sich wie ein Labyrinth durch die Einrichtung zogen. Summende Neonröhren begleiteten sie, bis sie endlich den abgelegensten Teil erreichten. Eine Tür auf der rechten Seite des Flurs wurde aufgestoßen.   "Da seid ihr ja", keuchte ein Mann höheren Alters. Graues Haar stand in allen Richtungen ab, obwohl es normalerweise stets ordentlich frisiert war. Derartige Nebensächlichkeiten interessierten ihn jetzt nicht. "Bringt ihn in OP zwei!", orderte er gehetzt an und deutete auf den Raum gegenüber der Tür.    Eiligen Schrittes kamen L und seine Begleitung dem Befehl nach. Sie bugsierten die Liege in ein Zimmer, dessen einziges Fenster Aussicht auf den Flur freigab. Statt Tageslicht erhellten weitere Neonröhren die blanken Wände. Weiß strahlte von allen Seiten auf die spärliche Ausstattung.    "Rick hat angerufen und von der Aktivierung berichtet. Hat es funktioniert?", verlangte der Mann zu wissen, bevor er überhaupt den Raum betreten hatte.    "Ja, Doktor Lewis", reagierte L effektiv, "es gab allerdings Komplikationen, die weder mit dem Death Note, noch mit dem Unfall oder dem Brand in Verbindung standen. Ihm musste zusätzlich Adrenalin verabreicht werden, da sich seine Werte akut verschlechtert hatten."   "Death Note, Unfall und Brand", wiederholte der Arzt. Er schob sich an Lilith vorbei, musterte ihr versteinertes Gesicht, ehe er sich L widmete. "Wenn ihn das nicht umgebracht hat, verwundern mich die Komplikationen umso mehr. Ungewöhnlich. Bei seiner körperlichen Verfassung war eigentlich von einer problemlosen Reanimierung auszugehen."   "Mellos Wesen widerspricht scheinbar einem geregelten Ablauf." L umfasste die Schultern seines Nachfolgers; der Arzt seine Füße. Gemeinsam hievten sie den Patienten auf ein Bett inmitten des Zimmers. "Anderweitig lässt sich das, meiner Meinung nach, nicht begründen."   Dr. Lewis stutzte, nickte dann aber und zerrte ein Stethoskop aus seiner Kitteltasche. Rote Flecken rankten über den weißen Stoff.   "Doc", hauchte Lilith. Bebende Finger zeigten auf die Blutspuren. "Was ist mit -?"   Ihre Stimme brach diesmal endgültig und L wusste, dass kein Manöver dem jetzt entgegenwirken konnte. Keine Bremse und kein Richtungswechsel waren dazu in der Lage, Lilith von einer Kollision mit den Tatsachen abzuhalten. Selbst auf L kamen sie unaufhaltsam drauf zu. Deutlicher sogar, weil er Dr. Lewis' Reaktionen lesen konnte wie ein offenes Buch. Fahrig überprüfte der Mellos Lebenszeichen, ertastete dessen Puls, untersuchte ein geschwollenes Handgelenk. Schweigend. Ohne Lilith auch nur anzusehen.  Verzögerte Antworten wiesen auf negative Diagnosen hin - das wusste L. Und er wusste, dass ausbleibende Antworten die schlimmste aller Möglichkeiten offenbarten.   "Doc!", keifte Lilith. Tränen zeichneten Risse auf ihren rußverschmierten Wangen. "Jetzt sag endlich was! Wie geht es ihm?" Sie stolperte rücklings gegen die Fensterscheibe, krallte sich an das Glas, suchte Halt - wagte es aber nicht, in den gegenüberliegenden Raum zu sehen.   Dr. Lewis atmete tief durch. "Die Nanos haben funktioniert, was schon mal ein großer Vorteil ist", setzte er langsam an. "Hinzu kommt, dass er weder am Kopf, noch an lebenswichtigen Organen getroffen wurde." Sein Blick schweifte an Lilith vorbei - hinüber in OP eins, von dem, trotz ebenso greller Beleuchtung, eine bedrohliche Finsternis auszugehen schien. Als stände man vor einer Höhle, deren bloße Präsenz Unheil verkündete. "Dahingehend hatte er wirklich mehr Glück als man erwarten dürfte", fuhr er behutsam fort. "Allerdings -" Mitleidig bedachte er seine Freundin. "- hat er verdammt viele Kugeln abbekommen. Ich konnte sie entfernen, aber die Wunden sind schwerwiegend. Sein Körper konnte eine solche Strapaze nicht so einfach verkraften." Er schluckte mehrfach, ehe er sich überwand: "Kleines, er liegt im Koma. Ob und wann er aufwachen wird, kann ich leider nicht sagen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)