Die Wölfe 1 ~Der Patenmörder~ von Enrico (Teil I) ================================================================================ Kapitel 5: ~Raphaels Entschuldigung~ ------------------------------------ Toni ist gar nicht so schlimm, wie Taylor und seine Freunde behaupten, er ist ganz nett. Sein überraschtes Gesicht, während er das Eis gegessen hat, war zum Schreien komisch gewesen. Schade, dass er noch nicht wusste, ob er heute Abend Zeit hat in den Park zu kommen. Die Jungs aus der Zehnten würden sicher über sein Können staunen und dann nicht mehr so schlecht über ihn sprechen. Ob ich ihn wiedersehen werde? Gedankenverloren zeichne ich den Drachen seiner Jacke. Den Block habe ich auf meine Sporttasche gelegt und mich auf die Treppe vor dem Schulgebäude gesetzt. Während ich das Maul des Drachen ausmale, öffnet sich die Tür hinter mir, ein Schatten fällt auf mein Blatt. „Hey, das sieht gar nicht schlecht aus. Zeichnen liegt dir deutlich besser als Basketball spielen“, spricht mich Taylor an. Ich lächle verlegen. Nach ihm verlassen seine Freunde das Gebäude, auch sie schauen sich die Zeichnung an. „Ist das nicht der Drache von der Jacke des unheimlichen Kerls, der gestern vor unserer Schule herumgelungert ist?“ „Jab!“, entgegne ich und radiere die überflüssigen Bleistiftstriche weg, „Aber er ist nicht unheimlich, sondern ganz lustig.“ Der Kapitän setzt sich zu mir auf die Stufe. „Hab´ ich dir nicht gesagt, dass du dich von dem fernhalten sollst? Der hat Dreck am Stecken.“ „Das haben mir die Jungs aus der Neunten über euch auch gesagt“, erwidere ich. Taylor und seine Freunde schmunzeln. „Toni kann unglaublich gut Körbe werfen. Ich habe ihn für heute Abend eingeladen. Vielleicht hat er ja doch Zeit und kann vorbeikommen“, berichte ich. „Ach ja? Da bin ich gespannt. Wenn du so große Stücke auf ihn hältst, könnt ihr ja zu zweit gegen uns antreten“, schlägt Taylor vor. Mit Tonis Treffsicherheit nehmen wir es locker mit den älteren Jungs auf. „Abgemacht!“, erwidere ich. „Du bist echt Größenwahnsinnig, weißt du das?“ Ich grinse breit. Ja, das ist mir schon oft gesagt wurden. „Na dann, bis heute Abend, Kurzer.“ Taylor erhebt sich. Als er geht wuschelt er mir durch die Haare. „Hey!“, murre ich und stoße seine Hand weg. Er lacht, dann schließt er zu seinen Freunden auf, mit ihnen tritt er den Heimweg an. Ich versuche meine Frisur zu richten, als ein Motorrad auf mich zuhält. Es kommt direkt vor der Treppe zum Stehen. Raphael? Woher hat er denn die Maschine? Ist das etwa der Schrotthaufen, an dem er schraubt, seit er Mechaniker geworden ist? Das Teil fährt endlich? Er nimmt die Schutzbrille ab und sieht den Jungs aus der Zehnten nach. „Bist du etwa mit denen befreundet? Sind die nicht eine Stufe über dir?“, will er wissen. „Ja, wieso?“ „Ach, schon gut.“ „Was machst du hier?“, frage ich. Meinen Zeichenkram packe ich in meine Schultasche. „Ich komme, um dich abzuholen“, entgegnet er. Aus seiner Jackentasche zieht er eine Schutzbrille und wirft sie mir zu. „Aber ich hab´ doch noch Training.“ Hat Raphael vergessen, dass ich immer freitags Baseball spielen gehe? „Das wirst du heute schwänzen. Los komm, steig´ auf!“ Er klopft auf den Sitz hinter sich. Ich lege mir meine Sporttasche um, dann gehe ich zu ihm. „Darf ich fahren?“, frage ich. Raphael lacht spöttisch. „Du hast keinen Führerschein.“ „Na und? Ich kann es trotzdem schon. Der große Bruder von Alex hat es mir gezeigt.“ „Ich habe nein gesagt!“ „Ach bitte!“ „Jetzt hör auf zu quengeln und steig‘ auf!“ Ich setze mich hinter meinen Bruder. „Musst du heute nicht arbeiten?“ Raphael lenkt das Motorrad auf die Straße. „Ich habe verschlafen. Mein Chef meinte, dann kann ich auch gleich daheim bleiben. Ich soll erst heute Abend die Schicht für Maik übernehmen, er hat sich wohl an der Hebebühne verletzt.“ Erst heute Abend? Das heißt ich habe den ganzen Nachmittag mit meinem Bruder? „Außerdem habe ich was wieder gut zu machen“, fügt Raphael an. „Ja, hast du! Ich hab´ mir voll Mühe mit dem Frühstück gegeben.“ „Ich weiß, tut mir leid. Dafür habe ich eine Überraschung für dich, wenn wir zu Hause sind.“ Raphael nimmt den kürzesten Weg. Als wir in unsere Straße einbiegen, fällt mir ein Berg Dachschindeln auf, der neben unserem Haus aufgetürmt liegt. Ist das etwa die Überraschung? Irgendwie habe ich mir mehr erhofft, als ein Wochenende auf unserem Dach zu verbringen. Einen Dachdecker können wir nicht bezahlen, die Schindeln werden teuer genug gewesen sein. „Was hast du?“, fragt Raphael. „Haben wir jetzt überhaupt noch Geld fürs Essen?“, will ich wissen. So, wie ich unsere Finanzen kenne, geht nur Essen oder ein trockenes Haus. Ich für meinen Teil habe lieber etwas zu Essen auf dem Tisch. „Ja, du sechsköpfige Raupe. Der Vorratsschrank ist voll.“ Ich atme erleichtert durch. „Ich habe mit der Überraschung aber was Anderes gemeint“, sagt mein Bruder. „Wirklich? Was denn?“, frage ich euphorisch. Raphael parkt das Motorrad in unserer Einfahrt, wir steigen ab. Er schweigt und grinst dabei, ich muss es wohl selbst herausfinden. Eilig laufe ich zur Haustür und schließe sie auf. Ein Duft nach Blumen und Reinigungsmittel schlägt mir entgegen. Der Boden ist blankpoliert, ich trete ein. „Zieh gefälligst die Schuhe aus!“, meckert Raphael. Die Vorschrift ist neu, aber in Anbetracht des sauberen Bodens verständlich. Ich streife mir die Schuhe von den Füßen. Mein erster Weg führt mich in die Küche. Das dreckige Geschirr ist verschwunden, ich kann den Ofen und die Spüle erkennen. In den Regalen stapeln sich saubere Tassen und Teller. Unser Esstisch hat eine blanke Oberfläche. Auch der Boden, der sonst mit den unterschiedlichsten Flecken gesprenkelt war, ist nun gescheuert. Mir bleibt der Mund offen stehen. Wie hat Raphael das in so kurzer Zeit geschafft? Allein die Küche muss ihn Stunden gekostet haben. Ob das Wohnzimmer auch so ordentlich ist? Ich laufe den Flur entlang, in den zweiten Raum links. Der Teppich ist gefegt, unser Couchtisch ist sauber. Ob er auch mein Zimmer aufgeräumt hat? Verstohlen sehe ich durch den Spalt meiner Zimmertür. Natürlich nicht! Abgesehen von den Wäschebergen, die verschwunden sind, tobt dort das übliche Chaos. Als ich zu meinem Bruder zurückschaue, sagt er: „Dein Zimmer kannst du selber aufräumen!“ Na gut. Er hat wirklich schon genug gemacht. Als ich nicht sofort losstürme, betrachtet Raphael mich mahnend. „Was ist? Du kannst gleich damit anfangen. Ich mache uns in der Zeit etwas zu essen.“ Ehrlich? Er kocht? Wenn er nicht gerade todmüde von der Arbeit heim kommt, kann Raphael ganz vernünftig kochen. „Okay, einverstanden!“ Ich laufe in mein Zimmer. Meine Sport- und die Schultasche werfe ich aufs Bett, dann schaue ich aus dem Fenster. Auf etlichen Wäscheleinen hängen alle Kleidungsstücke, die sich zuvor in unserem Haus verteilt haben. Hat er etwa alles gewaschen? Ganz allein? Das ist einfach unmöglich! Aber umso besser, so kann ich mir das am Wochenende sparen. Was kann es Schöneres geben? Das bisschen Zimmer aufräumen ist dagegen ein Witz. Raphael folgt mir, in den Händen hält er einen Eimer mit Wasser und einen Lappen, in ihm schwimmt ein Stück Seife. „Wenn du schon dabei bist, dann mach es ordentlich!“, verlangt er. Ich nicke, den Eimer nehme ich ihm ab. „Und vergiss die Fenster nicht!“, fügt er an. Ich lege mir die flache Hand mit der Kante an die Stirn. „Aye, aye, Sir!“, sage ich und mache mich ans Werk. Während meine Möbel langsam zum Vorschein kommen und das Licht nun ungehindert durch meine sauberen Fensterscheiben dringt, duftet es bereits köstlich aus der Küche. Irgendetwas brät Raphael. Es wird also Fleisch geben? Ich beeile mich die letzten Bücher ins Regal zu räumen und die Schallplatten vom Boden aufzuheben. Als auch sie verstaut sind, muss ich noch mein Bett richten und den Boden wischen. Der köstliche Duft wird intensiver. Jetzt bin ich mir sicher, dass es Hase geben wird. Mein Lieblingsgericht, aber der braucht doch länger als ein paar Minuten. Hat Raphael auch den schon vorbereitet? Er muss Hilfe gehabt haben, eindeutig. Ich nehme mir fest vor, ihn danach zu fragen. Den letzten Fleck auf dem Boden wische ich weg. Jetzt kann man wieder gefahrlos mein Zimmer betreten, ohne über irgendetwas zu stolpern oder kleben zu bleiben. Stolz betrachte ich mein Werk, dann frisst mich die Neugier auf. Den Putzlappen werfe ich in den Eimer und laufe in die Küche. Ich schaue um den Türrahmen. Raphael holt tatsächlich einen Hasenbraten aus dem Ofen. Auf unserem Tisch sind bereits zwei Plätze eingedeckt. In einer dampfenden Schüssel liegen Kartoffeln, auf den Tellern häuft sich jeweils ein Berg Rotkraut. „Bist du schon fertig?“, fragt Raphael. Mir läuft bei dem Anblick des Essens das Wasser im Mund zusammen. Ich vergesse zu antworten und setze mich auf meinen Platz. „Enrico?“ „Ja, bin fertig, jetzt schneide an, ich hab´ Kohldampf!“ Ich greife mein Besteck. „Du bist wahrlich eine zehnköpfige Raupe“, tadelt mein Bruder. Er holt ein Messer und eine große Gabel. Ich grinse, während ich mir ein paar der Kartoffeln aus der Schale fische. Eine von den kleinen schiebe ich mir im Ganzen in den Mund. „Kannst du nicht warten?“, fragt Raphael ärgerlich. Ich schüttle mit dem Kopf. Die ganze Zeit habe ich diesen leckeren Geruch in der Nase, da kann ich einfach nicht anders. Mein Bruder rollt mit den Augen und schneidet eine Keule vom Hasenbraten ab. Raphael mustert mich einen Moment lang, dann gibt er mir die erste Keule. Ja! Als er die Zweite abschneidet, schaue ich weiter auffordernd. Ohne ein Wort sagen zu müssen, gibt er mir auch diese. Super! Ich bemühe mich zu warten, bis er sich ebenfalls etwas auf seinen Teller gepackt hat, doch es fällt mir so schwer, dass ich auf meinem Stuhl hin und her rutsche. Als er endlich Platz nimmt, stürze ich mich auf die Mahlzeit. „Das Tischgebet können wir uns wohl sparen, was?“, fragt er. Als wenn wir seit Vaters Tod je eines gesprochen hätten. Ich lasse mich von seinem Einwand nicht beim Essen stören. Er kann ja eines sprechen, wenn ihm danach ist. „Wie war die Schule?“, fragt er schließlich. Es ist lange her, dass wir uns richtig unterhalten haben. Da gibt es so vieles, was ich ihm noch nicht erzählt habe. „Ich bin der Basketballmannschaft beigetreten! Und heute Abend treffe ich mich mit den Jungs aus der Zehnten im Park. Ach ja, und Toni kommt vielleicht auch vorbei.“ „Toni?“, fragt er. Stimmt ja, der Name ist neu für ihn. „Eigentlich heißt er Antonio, aber das war mir zu lang. Ich habe ihn heute Morgen im Park kennengelernt. Ab und zu habe ich ihn auch schon bei uns vor der Schule gesehen. Er hat 'ne echt coole Lederjacke, außerdem kann er wahnsinnig gut Basketball spielen. Die anderen Jungs halten ihn alle für gefährlich, aber er scheint ganz okay zu sein.“ „Warum halten sie ihn denn für gefährlich?“, fragt Raphael, Sorge ist seiner Stimme anzuhören. Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung! Vielleicht weil er immer so grimmig schaut.“ Ich stopfe mir ein großes Stück der Keule in den Mund. Meinen Blick lasse ich durch die Küche schweifen. Raphael hat sogar die Fenster geputzt und alle Schränke sind abgewischt. „Sag Mal, du hattest doch Hilfe beim Aufräumen, oder?“, frage ich. „Ja, Simone und ihre Mutter haben sich angeboten.“ Die hübsche Blonde von nebenan, hinter der er schon seit einem Jahr her ist? Na, wenn das Putzen nicht ein Vorwand war, ihr näher zu kommen. „Aha!“ Ich setze einen vielsagenden Blick auf. „Was denn?“, fragt Raphael, während seine Wangen rot werden. „Also, wenn sie dir freiwillig bei dem Saustall hier geholfen hat, dann solltest du sie wirklich nach einem Date fragen“, schlage ich vor. Raphaels Blick wird nachdenklich. Einen Moment grübelt er über meine Worte, dann schaut er grimmig drein. „Seh' ich so aus, als wenn ich Beziehungstipps von meinem kleinen Bruder brauche?“ Und wie er die braucht. Während ich mich vor Liebesbriefen nicht retten kann, hat er noch nie eine Freundin mitgebracht und das, obwohl er sieben Jahre älter ist als ich. „Du brauchst dringend 'ne Freundin, Bruderherz!“ Raphael zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe, er mustert mich verständnislos. „Wie kommst du darauf?“ „Na ja, wenn du 'ne Freundin hast, die uns im Haushalt hilft, bleibt nicht mehr so viel an mir hängen. Außerdem bist du dann kein verbitterter Griesgram mehr.“ „Idiot, ich schleppe dir bestimmt keinen Mamaersatz an“, schimpft er. „Warum nicht?“ „Weil meine Freundin, wenn überhaupt, nur für mich putzen und kochen soll.“ Wir schauen uns einen Moment lang schweigend an, dann müssen wir Lachen. Als ob sich in unseren Männerhaushalt tatsächlich eine Frau verirren würde. Hier hält es doch kein weibliches Wesen auch nur eine Woche aus. Wir brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis wir uns wieder beruhigen, dann schaut Raphael so ernst wie immer. „Mal was anderes, kannst du in deinem Freundeskreis nachfragen, ob jemand am Wochenende Zeit hat?“ „Wofür?“ „Laut Wetterbericht soll es nächste Woche regnen, ich wollte das Dach bis dahin fertig haben.“ „Was ist denn mit deinen Leuten?“ Die sind alle viel älter und stärker als meine Freunde. „Die haben schon was vor oder sind nicht schwindelfrei.“ Stimmt ja, seine Freunde kommen höchstens zum Party machen vorbei, weil wir hier immer sturmfrei haben, aber wenn es um Arbeit geht, sind sie selten zu gebrauchen. „Ich höre mich mal um“, sage ich. Keine Ahnung ob sich einer meiner Freunde das Wochenende auf diese Art versauen will. Es ist Freitag, etwas kurzfristig, um da jemanden zu mobilisieren. „Gut, ich hab` mir zwar extra Morgen und am Sonntag frei genommen, aber wenn wir eher fertig werden, können wir endlich den Ausflug in den Park machen, der schon so lange aussteht.“ Das ganze Wochenende hat er frei? Das ist seit gut einem Jahr nicht mehr vorgekommen. „Ich finde jemanden, der uns hilft!“, verspreche ich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)