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Mosaik

Urban Fantasy Thriller
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht es. Dieses Mal mit Michael ... dem "Chef" Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute im Kapitel lernt ihr Robert kennen. Die einzige Person, für die Joanne nie gestorben ist. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal gibt es ein Kapitel, dass tatsächlich da ansetzt, wo das letzte aufgehört hat. Ja, das wird es später häufiger geben. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo meine Lieben!

Hier erst einmal das letzte Kapitel vor Weihnachten, da es über die Weihnachtstage ein kleines Special zu Mosaik geben wird, das als Sidestory hochgeladen wird.

Das nächste reguläre Kapitel kommt daher erst kommenden Freitag, den 28.12.

Frohe Feiertage! :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute nur ein kurzes Kapitel, dass sich thematisch allerdings wunderbar an das Weihnachtsspecial Wunschlos anreiht. *hust* Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal wieder ein Kapitel mit Illustration! :3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier das fehlende Kapitel! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nur ein kurzes Kapitel heute. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe festgestellt, dass ein Kapitel zwischen dem letzten und dem vorletzten fehlt. Das muss irgendwie zwischen verschiedenen Dateiversionen abhanden gekommen sein. Ich werde es die Tage ergänzen. Sorry. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich wieder ein Action-Kapitel! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und hier lernen wir Murphy kennen. Sein Charaktersteckbrief ist übrigens verlinkt worden. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie, was, Heidenstein? Verdächtig? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, wegen Masterarbeit kam jetzt über eine Woche lang nichts mehr. Tut mir sehr leid dafür.

Jetzt kommt dafür ein langes Kapitel und dazu gibt es noch von Gestern ein kleines Special. ;) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Frohe Ostern/Frohes Frühlingsfest Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Okay, das Kapitel mag nun einige eventuell irritieren. Warum fehlt der eigentliche Kampf? Nun, die Begründung ist recht leicht: Weil der Kampf aus Sicht von Plot und Charakteren wenig zur Handlung beigetragen hat. Deswegen ist diese Mission auch nicht das Finale von dem Handlungsabschnitt. Das eigentliche Finale kommt später ;) Also bitte, seid nicht zu sehr verwirrt darüber. es ist bewusst so gewählt Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Sorry dafür, dass das Kapitel verspätet ist. Ich habe es noch mal überarbeitet. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh je. Blödes langes Wochenende. Hatte gestern im Kopf es sei Montag.

Das nächste Kapitel kommt daher auch wieder an einem Montag! Damit wir wieder in den üblichen Rhythmus kommen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir super leid, dass letzte Woche kein neues Kapitel kam. Hatte einen unfreiwilligen kurzen KH Aufenthalt. x.x Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vorletztes Kapitel von der ersten Sequenz. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir leid, dass es eine Woche später weitergeht, als geplant. Grund dafür ist, dass meine Hand letzte Woche geschient war und ich daher nicht ordentlich hieran arbeiten konnte. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Alice hat ihren ersten Auftritt Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Falls sich jemand über das ausbleiben von Updates über zwei Wochen wundert: Das Haus, in dem ich gelebt habe, hat vorletzte Woche gebrannt. Ich bin noch immer mitgenommen und hatte anderes im Kopf. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
*hibbel* OH MEIN GOTT! Ich bin endlich soweit! Endlich ist dieses Kapitel da! :D Es ist absolut DER Wendepunkt in Joannes Charakterarc! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir leid, dass es erst heute kommt und nicht am Wochenende kam. x.x Ist gerade ein wenig viel los bei mir. Hatte diesen Monat schon 3 Nahtoderfahrungen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, ja. Ich weiß. Ich habe seit zwei Monaten nicht mehr geupdatet. Mea Culpa. Ich ....... habe es einfach immer vergessen. Ich weiß. Ich weiß. Es tut mir leid Q.Q Komplett anzeigen

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[17.03.2011 – X01 – Überleben]


 

MOSAIK

[MASCHINEN]
 

[RIGHT][17.03.2011 – X01 – Überleben][/RIGHT]
 

Seit sie gestorben war, hatte Joanne drei Dinge gelernt.

Erstens: Magie war real.

Zweitens: Man vertraute besser niemanden, außer sich selbst.

Drittens: Wer überleben wollte, hatte auch für's Backup ein Backup.

Letzteres galt vor allem für Pläne. Normal begab sie sich nicht auf einen Einsatz, ohne mindestens drei Ersatzpläne bereit zu haben, doch der laute Knall von der Rückseite des Gebäudes einer Explosion verriet ihr, dass ihr dritter Plan gerade in Flammen aufgegangen war.

Natürlich war sie nicht wirklich gestorben. Sie lebte noch, selbst wenn sie im Moment nicht sicher war, wie lang dieser Zustand noch anhielt. Dennoch hatte sie ihr altes Leben sehr wohl zu Grabe getragen.

Und jetzt lief sie.

Ihre Blick erfasste so viele Details, wie möglich, als sie sich nach links wandte und die Straße hinablief. Sie musste von hier weg.

Es waren mindestens sechs Gegner und sie hatte keine Ahnung, ob aus ihrem Team noch jemand stand. Die Sprachkanäle waren gestört, sie hatte Polo nicht mehr gesehen, seit sie die alte Lagerhalle verlassen hatte und war sich recht sicher, dass Cris gemeinsam mit dem Fluchtwagen in die Luft geflogen war.

Verzweifelt suchten ihre Augen den Himmel über ihr ab, in der Hoffnung eine von Aix' Drohnen zu sehen, die die Lage hatten überwachen sollen. Soweit entdeckte sie nichts.

Sie brauchte einen Plan, um zu entkommen.

Schüsse schnitten hinter ihr durch die Luft, verfehlten sie jedoch. Sie war zu schnell.

Rufe in Zulu hallten durch die Nacht, gefolgt von raschen Schritten. Okay, sie sollte von der breiten Straße, die zwischen den großen Lagerhallen verlief, die zum Hafen von Durban gehörten. In der offenen Fläche stellte sie ein zu leichtes Ziel.

Da hinten, noch knapp hundert Meter weiter, war das Fabrikgebäude irgendeiner Firma – inklusive eines durchgehenden Zauns aus Metallplatten. Das würde ihr mehr Sicherheit geben, auch wenn sie ohne den Wagen aktuell keine Möglichkeit hatte gänzlich zu entkommen. Außer zu rennen. Schneller rennen.

Weitere Schüsse. Einer streifte sie an der rechten Seite des Halses, entlockte ihr ein schwaches Keuchen. Trotzdem rannte sie weiter. Sie hatte gelernt Schmerzen zu ignorieren. Wenn die kleine Truppe dahinten, bei der sie nicht einmal sicher war, wer sie waren, sie zu Fassen bekam, würde sie mit ganz anderen Schmerzen rechnen müssen.

Eine weitere Kugel traf sie in den Rücken, wurde jedoch von ihrer Weste aufgehalten. Ein Hämatom würde es dennoch geben.

Sie hatte den Zaun fast erreicht und sammelte auf den letzten Metern ihre Energie, um sich mehr Kraft für den Absprung zu geben. Dann sprang sie. Problemlos bekam sie den oberen Rand des knapp zweieinhalb Meter hohen Zauns zu fassen und schwang sich in einer fließenden Bewegung darüber. Auf der anderen Seite kam sie auf weichem, wenngleich leicht eingetrocknetem Rasen auf.

Kurz wanderte ihr Blick über den Innenhof der Firma, die den Reklamen nach zu urteilen Farben herstellte oder vermarktete. Der Banner, der sich um das moderne Gebäude herumschlang, zeigte Pinsel, die in bunten Farben malten. Dazwischen das Logo der Firma auf weißem Grund. Auch gut.

Sie wusste, dass sie keine Zeit hatte, sich auszuruhen. Die Schritte ihrer Verfolger kamen bereits näher. Weitere Rufe.

Sie sollte wirklich ihr Zulu aufpolieren.

Wohin jetzt? Sie könnte versuchen auf das Dach des Gebäudes zu kommen, doch hier im Hafengebiet, wo die Lagerhallen und Firmengebäude weit auseinander lagen, würde es ihr wenig bringen.

Nach kurzem Zögern entschloss sie sich, um das Gebäude zu rennen. Vorhersehbar, ja, aber es konnte reichen, um zumindest etwas Abstand zu gewinnen. Die andere Seite des Gebäudes lag in Richtung Südwesten – in Richtung der Stadt. Wenn sie es schaffte in die belebteren Teile der Stadt zu kommen, wäre sie sicher. Sie glaubte nicht, dass man ihr dort folgen würde.

Also rannte sie. Wieder sprang sie problemlos über den Zaun, froh, dass das Firmengelände unbewacht gewesen war. Glück hatte sie an diesem Tag jedoch nicht. Wieder schoss jemand auf sie.

Wieder sah sie sich um, erkannte ihre Verfolger, die sich offenbar um den Zaun des Geländes herum verteilt hatten. Links von ihr standen sie bereits, rechts von ihr kamen zwei am Zaun vorbei gelaufen.

Fuck.

Direkt vor ihr war nur ein weiteres Gebäude – sie könnte vielleicht hochkommen, allerdings war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man sie dabei erschießen würde.

Was blieb ihr für eine Wahl?

Sie rannte nach rechts, da die beiden Verfolger hier sich bisher nicht positioniert hatten. Sie bevorzugte es, Waffengewalt zu vermeiden, doch wer auf sie schoss, musste damit rechnen, dass sie zurückschoss.

Mit einem Haken zur Seite, ging sie hinter einem am Straßenrand geparkten Van in Deckung und zog ihre Pistole, eine SIG Sauer P250, aus dem Holster an ihrer Hüfte. Mit der Waffe in der Hand kam sie hinter dem Wagen hervor und schoss auf die Angreifer. Sie zielte auf den ersten der beiden Angreifer und drückte ab. Ein Schuss, ein zweiter, dann ein dritter, unterbrochen von kurzen Pausen, um ihr Ziel zu justieren.

Der erste traf, wie gezielt, den Mann in der rechten Schulter, riss ihn nach hinten. Der zweite verfehlte, der dritte traf die Hüfte, noch während der Mann fiel.

Im Adrenalinrausch und dank ihrer Magie erschien der Schrei des Mannes um eine Ewigkeit verzögert.

Sie ignorierte es. Stattdessen legte sie auf den zweiten an. Wieder drei Schuss – eins, zwei, drei, Schulter, Schulter, Beine – wie sie es trainiert hatte. Dieses Mal verfehlte der erste, der zweite aber traf, wenngleich zu nah am Körperzentrum, ehe der dritte sich in das Knie bohrte.

Ein weiterer Schrei.

Sie hörte nicht. Sie rannte. Sie musste weiter in Richtung der Stadt.

Endlich: Ein Rauschen in ihrem Ohr. Gefolgt von einer leicht verzerrten Stimme. „Pakhet?“

Endlich. „Aix?“

„War gejammt“, erklärte die Hackerin kurz angebunden. „Was ist passiert?“

„Keine Zeit zum Sprechen“, erwiderte Joanne. Pakhet war der Name, den sie als Söldnerin benutzte. Ein Codename, der nach ihrem vermeintlichen Tod zu ihrer neuen Identität geworden war. „Verfolger. Bin auf der“ – ihre Augen suchten nach einem Straßenschild – „Crabtree Road Richtung Westen. Brauche dringend eine Fluchtroute.“

Einem Instinkt folgend, sprang sie zu ihrer linken Seite, als mehrere Schuss erklangen.

„Was ist mit den Wagen?“, fragte Aix.

„Explodiert.“ Mehr sagte Pakhet nicht. Sie hatte genug Erfahrung mit langen Läufen, um zu wissen, dass Gespräche der Ausdauer entgegenwirkten.

Endlich erreichte sie die nächste Straßenecke Richtung Südwesten. Sie bog ab.

Wo blieb die Polizei? Immerhin gehörte das Industriegebiet selten zu den Stadtteilen, in denen bewaffnete Straßenschlachten ignoriert wurden. Sie war in einer Hafengegend. In Häfen wurde nachts gearbeitet. Jemand musste sie gehört haben.

Es war besser für sie, wenn keine Polizei kam, solange sie entkam. Dessen war sie sich allerdings nicht vollkommen sicher.

Wieder erklang das Rauschen einer aktiven Leitung. „Wenn du dich weiter südlich hältst, kommst du zu der nächsten Wohngegend. Knapp fünfhundert Meter.“

„Gut. Hast du Sichtkontakt?“, fragte Pakhet.

„Positiv.“ Eine kurze Stille. „In zwanzig Metern links, danach die nächste rechts.“

Pakhet erwiderte nichts. Wieder waren Schüsse zu hören, doch schienen ihre Verfolger zurückgefallen zu sein.

Sie wandte sich kurz um. Da waren nur noch zwei.

Wieder gab sie zwei Schüsse ab, Warnschüsse dieses Mal.

Sie war sich nicht sicher, ob ihre Schüsse auf den zweiten Angreifer zuvor tödlich gewesen waren. Zumindest lag es im Rahmen des Möglichen. Der zweite Schuss hatte potentiell Organe oder Aorta verletzt.

Die Warnschüsse schienen Wirkung zu zeigen: Für einen Moment zögerten die beiden verbleibenden Verfolger.

Noch immer wusste sie nicht, wer ihre Verfolger waren. Ihre Erfahrung hatte ihr allerdings gelehrt, dass es meist nicht sinnvoll war ein Gespräch mit Menschen anzufangen, die versuchten auf einen zu schiesßen. Also rannte sie.

Sie bog ab, hielt sich nahe an dem Bürogebäude, das nun zu ihrer Rechten lag, und konnte bereits die schlichten Reihenhäuser in der Ferne erkennen. Sie erlaubte sich inne zu halten und sich zu ihren Verfolgern umzusehen.

Sie blieben zurück. Endlich.

Dennoch rannte Pakhet weiter. Sie musste sicher gehen.

Kurz bevor sie die Gebäude – schmucklose, dreistöckige Betonbauten, wie sie früher oft in Arbeitervierteln hochgezogen worden waren, allerdings mit neu hinzugefügten gußeisernen Balkonen – erreichte, steckte sie ihre Waffe weg, ehe sie sprang.

Sie besaß selbst wenig magische Kräfte, war jedoch fähig ihre Körperkraft weit genug zu beeinflussen, als dass sie mit ihrem Sprung den Balkon im zweiten Stock erreichen und sich an dessen Geländer in die Höhe ziehen zu können. Für eine Sekunde hielt sie inne, sprang dann auf das Flachdach und wandte sich dort ein letztes Mal um.

„Ding dong“, säuselte eine Stimme in ihr Ohr. „Sie haben das Ziel erreicht.“

„Was machen die Ärsche?“, fragte Pakhet.

„Rückzug“, antwortete Aix schlicht. Sie hielt inne, wohl um etwas nachzuschauen. „Also, brauchst du Hilfe, um zum Safe House zu kommen oder kennst du den Weg?“
 


 

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[19.03.2011 – F01 – Management]

Pakhets Laune war nicht auf der Höhe, als sie zwei Tage nach der Katastrophe, die Durban gewesen war, das dunkle Bürogebäude betrat, in dem sie – zumindest offiziell – arbeitete. Das Missionsziel war erfüllt, man konnte ihr nichts vorwerfen, und dennoch wurmte es sie, dass sie nicht nur zwei Leute, sondern auch einen nicht unerheblichen Teil ihrer Ausrüstung verloren hatte, zur Flucht gezwungen worden war. Sie wusste auch jetzt nicht, wer ihre Verfolger gewesen waren.

Das Gebäude war innen, wie außen modern. Die Fassade dunkel und verspiegelt gehalten, das Gebäude insgesamt vier Stockwerke hoch und weitläufig. Etwas zu groß für eine einfache Security Firma, doch kam es selten vor, das jemand das hinterfragte. Sie waren international tätig. Damit konnte man vieles erklären.

Auch die Flure wirkten modern: Die Wände teilweise mit abstrakten Mustern verziert, teilweise mit moderner Kunst behangen, die Bürotüren schlicht weiß, aber mit eckig geformten Türklinken, die Brandschutztüren dagegen aus dunklen Rahmen und fein gesäuberten Glas. Nichts, worauf sie viel gab.

Sie war auf dem Weg zu einem Büro in der obersten Etage. Eins der größten Büros. Das Büro, in dem jemand saß, an dem sie ihre schlechte Laune auslassen konnte.

Mit langen Schritten marschierte sie den Flur entlang. Sie hatte die Treppe genommen, die auf der Rückseite des Gebäudes lag. Dann schlug sie, ohne zu klopfen, die Tür auf und musste sich im nächsten Moment beherrschen, nicht in das Gesicht zu schlagen, das sie nun angrinste.

„Ah, Pakhet, meine Liebe, ich sehe, du bist wieder da“, flötete Michael Forrester, ihr Chef. Ihr nomineller Chef, der offenbar an seinem Rechner gearbeitet hatte.

Michael wirkte absolut durchschnittlich. Er war zwar hübsch, aber nicht auffallend hübsch. Er war normal groß, nicht unsportlich, aber auch nicht athletisch gebaut. Sein Haar war braun. Seine Augen grau. Sein Lächeln auf den ersten Blick geübt freundlich – wenn man genauer hinsah kühl und berechnend. Er musterte sie.

„Und wieder beweist du deine Fähigkeit das Offensichtliche festzustellen“, erwiderte sie missmutig.

Er setzte sich in seinem ledernen Bürostuhl auf, um ihr seine volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. „Aber, aber, hast du etwa was Schlechtes gegessen?“

Sein Büro war protzig. Viel zu groß, mit einem verzierten, teuer wirkenden Schreibtisch aus poliertem Holz, die Fensterfront dahinter, irgendeinem modernen Gemälde, inklusive eigener Beleuchtung, an der Wand und – für den besonderen Arschloch-Faktor – einem ausgerollten Golf-Teppich auf der einen Seite des Zimmers.

Pakhet ignorierte diese Frage. „Was war das für ein Scheiß, Michael? Die ganze Aktion war ein Hinterhalt, verdammt!“

„Ja, dessen bin ich bereits informiert worden“, stellte Michael nüchtern fest.

„Verdammt noch mal, es ist deine Aufgabe, Informationen zu beschaffen, um genau so etwas zu verhindern!“

Michael zuckte mit den Schultern. „Es ist meine Aufgabe, Leute zu beauftragen, diese Informationen zu beschaffen. Aber du weißt, wie es ist. Die meisten Leute sind ihren Aufgaben einfach nicht gewachsen.“

„Fick dich, Michael. Polo und Cris sind tot!“

Wieder musterten seine Augen sie kalt. „Seit wann regst du dich so darüber auf? Es waren nicht die ersten Teammitglieder, die du hast sterben sehen, es werden nicht die letzten sein. So ist das halt. Berufsrisiko. Wie du sehr wohl weißt.“

„Ich rege mich so auf, seit ich den Eindruck habe, dass jemand mit Informationen verschwiegen hat.“ Sie wusste, dass es nicht professionell war, kannte Michael aber lang genug, um zu wissen, dass er vor allem zwei Dinge war: Gewissenlos und berechnend. Sie wusste nicht, aus welchem Grund er sie in eine Falle locken würde – doch etwas an dem gesamten Einsatz erschien ihr faul.

Natürlich nahm er sie nicht ernst. Er seufzte übertrieben und ließ sich wieder gegen die Rückenlehne zurückfallen, die Ellenbogen auf den Armlehnen aufgestützt. „Ich kann dir garantieren, dass ich dir keine Informationen verschwiegen habe, meine Liebe“, erwiderte er mit aalglatter Stimme. „Es ist dumm gelaufen.“

Sie fixierte ihn, wollte zu einer Antwort ansetzen, kam aber nicht dazu.

„Was für einen Grund sollte ich haben, dich loszuwerden?“, fragte er und setzte ein gewinnendes, jedoch übertriebenes Grinsen auf.

„Ich weiß es nicht“, zischte sie.

„Siehst du“, erwiderte er. Sein Lächeln wurde wieder zu einem Grinsen. „Ach komm, hab dich nicht so. Es ist halt blöd gelaufen. Jetzt entspann dich“ – er hielt inne – „oder auch nicht. Also je nachdem, wie es dir beliebt.“

Sie verschränkte die Arme. „Fick dich, Michael.“

„Nicht mein Stil, wie du wohl weißt.“ Er strahlte sie an. „Nun. Du bist angeschossen worden, nicht? Willst du es noch einmal nachsehen lassen? Wir haben einen neuen Medic.“ Auch wenn es eher wie eine Frage formuliert war, wusste Pakhet, dass es eine indirekte Aufforderung darstellte.

Sie hatte den Streifschuss selbst noch in der Nacht ihres knappen Entkommens versorgt, hatte ihn mit einem großen Pflaster bedeckt. Es war nur eine oberflächliche Wunde, nicht weiter der Rede wert, doch so sehr sie auch Lust hatte, sich weiter mit Michael anzulegen, so wenig Sinn lag darin.

Sie zuckte mit den Schultern. „Dann sehe ich mir mal unseren neuen Medic an.“

„Gut.“ Michaels Lächeln wurde wieder geschäftsmäßig. Er schob die Finger ineinander und beobachtete sie. „Smith hat übrigens ein paar Neulinge angeheuert.“

Pakhet hob den Blick. Was sollte sie dazu sagen? „Okay“, meinte sie schlicht und wandte sich zum Gehen.

„Wann bist du für den nächsten Job einsatzbereit?“, fragte Michael, gerade als sie die Hand auf die Türklinke legte.

Ein weiteres Schulterzucken von ihr. „Immer.“ Sie warf ihm einen letzten Blick über die Schulter zu. „Solange ich deinen Hintergrundchecks in Zukunft weiter vertrauen kann.“

„Wie gesagt“, antwortete er leichthin, „Fehler passieren.“

„Ja.“ Damit drückte sie die Türklinke herunter und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

[19.03.2011 – D01 – Medic]

Auch wenn außen vor dem Bürogebäude das Schild dem „normalen Menschen“, der eventuell daran vorbei fuhr oder mit dem Hund vorbei spazierte, weismachen wollte, dass sie eine einfache Firma für private Sicherheit waren, so war die Realität eine andere. Zwar nahmen normale Sicherheitsaufträge an, jedoch waren die meisten Aufträge eher delikater Natur: Militärunterstützung, Spionage, speziell Betriebsspionage, Auftragsmorde, Erpressungen, sowie eher ungewöhnlichere Jobs, wie Exorzismen und das vertreiben von andere, paranormalen Kreaturen, oft von belebten Orten.

Was diese Einsätze zumeist gemeinsam hatten, war, dass sie mit allerhand Gesundheitsrisiken einher gingen. Von der üblichen Gefahr einem Unfall zum Opfer zu fallen einmal abgesehen, sah man sich relativ regelmäßig als Ziel von Waffen jedweder Art, von Magie und ab und an auch von Monstern, die entweder territorial waren oder Menschenfleisch für schmackhaft hielten.

Kurzum: Es hatte einen Grund, warum sie einen eigenen, kleinen Krankenflügel hatten, warum mehrere Ärzte für sie arbeiteten und warum manche dieser Ärzte, so genannte Medics, auf gefährlich eingestufte Einsätze mitkamen. Auch wenn Michael nie besonders betroffen davon war, so waren Tote oder eingeschränkte Angestellte, mit finanziellen Ausfällen verbunden – und daran hatte er Interesse.

Entsprechend waren die Ärzte gut bezahlt. Viele von ihnen hatten, wie auch die einfachen Söldner, einen Militärhintergrund, wussten entsprechend mit einer Waffe umzugehen.

Die „medizinische Abteilung“ befand sich im Erdgeschoss in der nordöstlichen Hälfte des Gebäudes. Wenn man einmal mithilfe der Mitarbeiterkarte die Sicherheitstür vor dem Gebäudeabschnitt passiert hatte, konnte man den Eindruck bekommen, sich in einem Krankenhaus zu befinden. Die Flure waren breiter, als im Rest des Gebäudes, der Boden mit demselben PVC belegt, wie man es meistens im Krankenhaus fand. Einzig die Schilder, die in Krankenhäusern die Räume und Abteilungen ausschilderten, fehlten. Dasselbe galt für eine Rezeption, doch Pakhet wusste, wohin sie sollte.

Sie wandte sich, kurz nachdem sie die Abteilung betreten hatte, nach rechts und klopfte an der zweiten Tür. Ohne auf eine Antwort zu warten, betrat sie den Raum – das Untersuchungszimmer, in dem man zu jeder Zeit mindestens zwei Ärzte auffand.

Den Krankenhausverordnungen hätte dieses Zimmer trotz oberflächlicher Ähnlichkeit nicht entsprochen. Es gab, wie in den Ambulanzen vieler Krankenhäuser mehrere Liegen, um die herum Vorhänge gezogen werden konnten, die üblichen weißen Schränke, in denen das medizinische Equipment aufbewahrt wurde, und zwei Schreibtische mit Computern, alles übliche Einrichtung. Doch war es in Krankenhäusern für gewöhnlich verboten in den Behandlungsräumen zu essen und hier fand sich eine Kaffeemaschine, mitten auf einem der unteren Schränke, und Dr. Heath, eine der beiden Ärzte, aß in Ruhe einen Donut.

Dr. Heath war eine dunkelhäutige Frau, die Pakhet auf Anfang vierzig schätzte. Das kurze krause Haar der Ärztin war – ähnlich wie Pakhets kurze Stoppeln – rot gefärbt. Ihr Gesicht war faltig und eine Narbe an ihrem Kiefer verriet, dass sie als Medic tätig gewesen war. Mittlerweile arbeitete sie jedoch ausschließlich vor Ort.

Der andere Arzt arbeitete an einem der beiden Rechner. Das musste der Neue sein, von dem Michael gesprochen hatte. Ihn schätzte sie um die fünfzig. Sein Haar musste einst dunkel gewesen sein, war jetzt jedoch von grau-weißen Stoppeln durchsetzt. Sein Gesicht war kantig, aber auch faltig. Er wirkte müde.

Die meisten Ärzte, die hier anfingen, waren bereits am Ende ihrer Karriere angelangt.

Dr. Heath hob den Kopf. „Pakhet.“ Sie musterte sie. „Was kann ich für dich tun?“

Von dem Streifschuss war nichts zu sehen. Aufgrund der Jahreszeit trug Pakhet einen einfachen, dunklen Pullover, der das Pflaster verdeckte. Sie war daran gewöhnt, sich die Folgen von Verletzungen nicht anmerken zu lassen.

Sie setzte ein distanziertes Lächeln auf. „Mr Forrester schickt mich, wegen einer Verletzung vom letzten Einsatz“, erklärte sie. „Streifschuss.“

Dr. Heath nickte stumm und stand auf. „Ich schaue es mir an.“ Mit dem Kopf deutete in Richtung der ersten Liege.

Pakhet kam der unausgesprochenen Aufforderung nach, ging zur Liege hinüber und wartete auf die Ärztin, zog sich bereits den Pullover aus. Sie trug einen schwarzen Sport-BH drunter, entblößte sich daher nicht vollständig. Wie so oft bliebt der Pullover beim Ausziehen an den Gurten ihrer Armprothese hängen, doch Dr. Heath kannte sie gut genug, um ihr keine Hilfe anzubieten.

Stattdessen wartete die Ärztin, bis der Pullover ausgezogen war und Pakhet auf der Liege saß.

„Was ist genau passiert?“, fragte Dr. Heath, während sie begann, das Pflaster, das an Pakhets rechter Schulter anlag, abzuziehen.

„Es gab einen Hinterhalt“, erklärte sie knapp. „Jemand hat den Fluchtwagen gesprengt.“ Eine Tatsache, die ihr noch immer zu Denken gab. Wer sollte es wann getan haben? Vielleicht war es auch eine Granate gewesen, die sehr glücklich gelandet war – oder ein Zauber. „Ich musste zu Fuß fliehen. Verfolger haben auf mich geschossen. Daher der Streifschuss.“

„Seither irgendwelche Auffälligkeiten?“

Pakhet deutete ein Kopfschütteln an.

Die Ärztin schwieg und knipste die Lampe über der Liege an, um sich die Wunde unter dem Licht genauer anzusehen. „Sieht nicht dramatisch aus“, schloss sie nach einer knappen Untersuchung. „Es braucht keine Stiche. Ich werde die Wunde aber neu auswaschen.“

„In Ordnung.“ Pakhet nickte, während sie zu dem neuen Arzt hinübersah.

Sein Blick ruhte auf ihr. Als er jedoch bemerkte, wie sie ihn fixierte, wandte er sich rasch ab. Wahrscheinlich hatte er die Gurte bemerkt und daher ihren Arm genauer in Augenschein genommen. Jetzt aber, tippte er weiter, die Augen auf den Bildschirm des Rechners gerichtet.

„Irgendwelche anderen Wunden?“, fragte Dr. Heath, während sie destilliertes Wasser, Jod und Salbe, sowie Pflaster und Topfer aus dem Schrank holte. „Irgendwelche Probleme wegen der Explosion? Klingeln in den Ohren? Desorientierung?“

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Pakhet zu nahe bei einer Explosion gestanden hatte. Es würde auch nicht das letzte sein. Sie kannte die Gefahren, die üblichen Symptome, wusste, worauf sie achten musste. „Nein. Nichts.“

„Gut.“ Die Ärztin begann mit ihrer Arbeit. „Dann werden Sie keine weiteren Probleme haben.“

Pakhet nickte wieder stumm und wartete. Noch einmal blickte sie zum neuen Arzt hinüber, sagte aber nichts. Sie fragte sich, ob er sie auf die Prothese ansprechen würde, wie es zu viele taten. Für den Moment jedoch schwieg er.

Während sie darauf wartete, dass Dr. Heath ihre Arbeit beendete, wanderte Pakhets Blick zur Kaffeemaschine. Vielleicht sollte sie sich einen Kaffee schnorren – doch auf der anderen Seite würde ein Kaffee mit Gesprächen einher gehen, die sie zu vermeiden mochte. Davon abgesehen, wartete zuhause ihre Kaffeemaschine und vor allem ihr Kaffee auf sie, der sehr wahrscheinlich von weit höherer Qualität war, als das hier verwendete Pulver. Also würde sie warten, bis sie daheim war.

Keine fünf Minuten später war die Wunde neu versorgt und mit einem neuen, wasserfesten Pflaster bedeckt.

„Ich gebe Ihnen Ersatzpflaster mit“, sagte Dr. Heath. „Und eine Salbe.“

„Danke.“ Pakhet nickte. „Sonst noch etwas?“

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Nein. Von meiner Seite aus nicht.“

„Gut.“ Damit zog sie sich den Pullover wieder über und bewegte vorsichtig die Schulter, um sicher zu gehen, dass das Pflaster sie nicht behinderte. Dann wartete sie darauf, dass Dr. Heath ihr die versprochenen Pflaster gab, auch wenn sie zu Hause genügend hatte.

„Danke“, meinte sie, als sie schließlich Pflaster und Salbe in der Hand hielt. „Dann will ich nicht weiter stören.“

Die Ärztin nickte. „Gute Besserung.“

„Danke.“ Damit schritt sie zur Tür.

Zwar sah der neue Arzt noch einmal auf, sagte aber nichts, und so verließ sie ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

[24.03.2011 – R01 – Pizza]

Pakhet konnte es sich nicht verkneifen, leise aufzustöhnen, als der große Held auf dem Bildschirm – in bester Actionfilmmanier – rückwärts durch ein Fenster sprang, das prompt zerbrach, während er gleich zwei Pistolen abfeuerte.

Robert verdrehte die Augen. „Denk nicht zu viel darüber nach.“

Sie warf ihm einen übertrieben gereizten Blick zu. „Ach bitte, du regst dich auch über jedes unrealistische Beschleunigungsmanöver auf.“

Mit einer Hand nahm er ein Stück Pizza aus dem Karton, zuckte dabei mit den Schultern. „Ich habe einen Pet Peeve. Ich rege mich nicht über alles auf.“

„Wir könnten auch eine Doku schauen“, bot sie sarkastisch an.

Daraufhin war er es, der stöhnte. „Bloß nicht.“

Sie lächelte. „Dann wirst du meine Genervtheit über dich ergehen lassen müssen.“

„Na großartig“, murmelte Robert und ließ sich auf ihrem Sofa zurücksinken. Während er begann, das Stück Pizza zu verschlingen, wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Film zu.

Auch Pakhet nahm ein Stück Pizza. Es war eine Pepperoni-Pizza, die zusätzlich mit Pilzen belegt war. Ihre einzige Schwäche, wenn es um Fastfood ging. Ab und an konnte sie es sich erlauben, solange sie nicht übertrieb.

Es war Mittwoch und damit Filmabend. Wie jeden oder eher fast jeden Mittwoch hieß das schlechte Actionfilme, blöde Kommentare und Pizza – selbst wenn sich die Kommentare beinahe wöchentlich wiederholten. Sie war nicht einer jener Leute im Internet, die genug Zeit hatten, um lustige Kommentare zu allen möglichen Filmen zu machen. Mehr noch: Sie besaß nicht die nötige Kreativität.

Wozu brauchte sie das auch? Die Kommentare gehörten genau so zur Tradition, wie die fettige Pizza.

„Na endlich“, seufzte sie, als schließlich die Credits über den Bildschirm liefen.

Robert lachte. „Jetzt übertreib' mal nicht. So schlimm war es nun auch nicht!“

„Nein, viel schlimmer“, erwiderte sie trocken und stand auf, um in die Küche zu gehen und sich einen Kaffee zu machen.

„Jedes Mal dasselbe mit dir“, beschwerte sich Robert, der auf dem Sofa sitzen blieb und den Karton zuklappte.

„Ja ja.“

Die Küche war, wie alles im Haus, nur mit dem nötigsten versehen und sah nahezu genau so aus, wie an dem Tag, da sie in das bereits zuvor möbilierte Haus eingezogen war. Weiß. Sauber. Modern.

Sie nahm die Kaffeedose von der Anrichte neben dem Fenster, holte einen Filter aus dem Schrank hervor und machte sich an die Vorbereitung.

Robert schwieg, hatte seine Aufmerksamkeit wahrscheinlich auf sein Handy oder die Filmcredits gerichtet. Er redete ungern mit ihr, wenn sie nicht im selben Zimmer war.

Als sie schließlich mit der Tasse Kaffee zurückkam, schenkte er ihr einen entgeisterten Blick, den sie sehr wohl kannte. Er sagte: „Wie kannst du um diese Zeit noch Kaffee trinken?“

Wie immer beantwortete sie den Blick mit einem knappen Lächeln und setzte sich wieder neben ihn auf das weiße Kunstledersofa.

Robert war ein Jahr jünger als sie, 32, hatte rotbraunes, kurzes Haar, war kräftig gebaut und besaß ein ungewöhnlich gewinnendes Lächeln, wenn er nicht – wie im Moment – einen übertriebenen Schmollmund zog. Auch zierten Sommersprossen seine Nase.

„Du erzählst mir ja auch nicht“, kommentierte er gespielt beleidigt.

„Ich bin mir relativ sicher, dass du nichts von den fünf Leuten wissen willst, die ich letzte Woche getötet habe.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu.

Er schluckte, wich ihrem Blick aus. „Wirklich?“

„Nein“, antwortete sie. „Aber du weißt genau so gut wie ich, dass du nichts über meine Arbeit wissen willst.“

Bestenfalls würde er sich Sorgen machen, schlimmstenfalls würde er wieder verschreckt sein. Er hatte in der Vergangenheit mehr als einmal zum Ausdruck gebracht, dass er ihren Job als unmoralisch empfand.

Daher seufzte er, wechselte das Thema. „Bei mir gibt es wenig neues. Mehr Autos. Die üblichen Kunden.“ Er zögerte. „Der neue Chauffeur von Mr Thomson hat den Wagen mal wieder vorbei gebracht.“

„Aha?“ Pakhet musterte ihn über die Kaffeetasse hinweg..

Robert lächelte verträumt. „Ja. Netter Typ.“

„Nett nett?“, fragte Pakhet.

Robert zuckte mit den Schultern und seufzte. „Ja. Aber nicht  …“ Er ließ den Satz ausklingen, doch Pakhet verstand.

Sie nickte. „Du solltest mehr rausgehen.“

„Sagt die Richtige“, erwiderte Robert und verzog den Mund erneut zu einem Schmollen.

Zur Antwort verdrehte sie die Augen und trank einen weiteren Schluck des schwarzen Kaffees. Als er nichts weiter sagte, meinte sie: „Anders als du, bin ich nicht auf der Suche. Und ich behaupte, dass ich häufiger rausgehe als du.“ Wenngleich mit einem anderen Ziel, als er.

Robert schürzte die Lippen. „Flirten ist nicht meins.“

„Ja ja“, murmelte sie. „Warte darauf, dass Prinz Charming vor deiner Haustür steht.“ Sie nahm einen weiteren Schluck und zog ihre Beine aufs Sofa.

Robert antwortete nicht. Vielleicht gab er ihr heimlich Recht, vielleicht schmollte er, vielleicht war es eine Mischung aus beidem, doch leerte sie ihren Kaffee fast komplett ehe er wieder sprach.

„Davon abgesehen, kriege ich nächste Woche vielleicht einen F-Type rein. Vielleicht magst du vorbeischauen“, meinte er.

„Klingt gut“, antwortete sie.

Wieder herrschte Schweigen.

Schließlich holte Pakhet Luft und erhob die Stimme. „Wann willst du mich das nächste Mal ins Kino entführen?“

„Hmm?“ Er schaute zu ihr. „Weiß noch nicht. Mal sehen. Nächsten Monat wollte ich mit Kollegen gehen. Vielleicht magst du mitkommen.“

Nächster Monat? Er sagte es, als würde er erwarten, dass sie wusste, wovon er redete. Doch sie musste überlegen. Dunkel erinnerte sie sich, das wieder einer dieser Superheldenfilme herauskommen würde.

Sie seufzte. „Mal sehen.“

Bevor sie das Gespräch weiterführen – oder sich Roberts Gründe dafür, warum dieser Film ganz bestimmt toll werden würde, anhören konnte – klingelte ihr Handy. Eine Pushnachricht von einer ihrer abonnierten Newsseiten.

Sie tapte drauf und zog im nächsten Augenblick die Augenbrauen zusammen, als sie sah, dass es Kapstadt betraf.

„Was?“, fragte Robert besorgt.

Sie zeigte ihm den kleinen Bildschirm. „Explosion. Hier. Im Hafen.“ Dann nahm sie das Handy, um den Artikel zu überfliegen. Ein Warenlager am Hafen war in die Luft geflogen. Chemische Fabrik. Aktuell war man sich nicht sicher, ob es sich um einen Unfall oder einen Anschlag handelte.

Wahrscheinlich ersteres. Dennoch  … Sie hatte ein ungutes Gefühl.

[25.03.2011 – S01 – Babysitter]

Pakhet hätte wissen müssen, dass es irgendetwas mit Michael zu tun hatte. Sie hätte ahnen müssen, dass es die Neulinge gewesen waren. Sie hätte damit rechnen müssen, dass es auf sie zurückfallen würde!

Bemüht ihre Fassung zu wahren, starrte sie Smith an. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Smith erwiderte ihren Blick. Er stand auf, klopfte ihr auf die Schulter und lächelte. „Jetzt sieh' es nicht so eng, Pakhet.“

Sie schnaubte. „Du weißt genau so gut, wie ich, dass es Michaels Plan ist, mir auf den Keks zu gehen“, erwiderte sie.

Verlegen seufzte Smith. Er war ein großgewachsener Mann, der trotz seines deutlich zu bemerkbaren Alters noch immer kräftig wirkte. Seine Haut war dunkel, sein Bart glattrasiert. Aktuell zierte ein ordentlicher Drei-Tage-Bart sein Kinn. „Ich möchte nicht ausschließen, dass Mr Forrester weiterführende Gründe für seine Entscheidung hatte.“ Er räusperte sich. „Doch ich stimme ihm zu. Unsere Neulingsgarde braucht erfahrene Unterstützung. Du bist erfahren. Du hast schon öfter Teams angeführt. Entsprechend liegt die Entscheidung nahe.“

„Warum sind die fünf überhaupt noch hier?“, fragte Pakhet. „Sie haben es vergeigt. Aber so richtig. Wieso zur Hölle haben wir sie nicht ausgeliefert und das ganze als einen Terroranschlag verkauft?“

Smith biss sich kurz auf die Lippen. Er lächelte verlegen. „Ich vertrete noch immer die Meinung, dass jeder eine zweite Chance verdient.“

Erzählte er ihr gerade wirklich, dass er sie nicht herausgeworfen hatte, da er es moralisch nicht hätte vertreten können? Ja, fraglos war Smith das absolute Gegenteil von Michael, wenn es zur Frage des Charakters kam, doch sie arbeiteten in einem Feld, wo Entscheidungen pragmatisch getroffen werden mussten. Emotionale oder gar moralische Entscheidungen führten, wenn man übertrieb, zum Tod oder zum Scheitern der Mission.

„Nicht, wenn er damit die Leben anderer Menschen gefährdet“, warf sie ein.

„Jetzt komm schon, Pakhet“, meinte Smith. „Versuch es.“ Er hielt ihr ein Tablet hin, auf dem offenbar die Lebensläufe ihrer explosiven Neulinge waren.

Lebensläufe war zu viel gesagt. „Bisherige Erfahrungen“ war die direktere Bezeichnung.

Mit einem Seufzen ließ sie sich zurück auf den Stuhl fallen, nahm das Tablet und sah die Unterlagen an.

Ihr Bauchgefühl am Vortag hatte sie nicht betrogen. Es waren die Neulinge, von denen Michael ihr erzählt hatte, gewesen, die für die Explosion im Hafen verantwortlich gewesen waren. Eigentlich hatte Smith sie losgeschickt, um Daten aus der Fabrik zu stehlen. Es war ein Probeauftrag gewesen, um zu sehen, ob die fünf etwas taugten. Und dann hatte sie jemand bemerkt, einer von ihnen war panisch geworden und hatte es für eine glorreiche Idee gehalten, den Sprengstoff als Ablenkung zu zünden.

Das von den fünf dabei niemand gestorben war, grenzte an ein Wunder.

Die fünf waren: Ein Möchtegern-Meisterdieb mit Namen Spider. Dessen Bruder, zumindest wenn sie Smiths Notiz glauben durfte, mit dem einfallsreichen Namen Mik. Ein Hacker namens Agent. Ein Magier, namens Orion, und ein einfacher Kämpfer, dessen Name Punches alle anderen in Sachen Einfallsreichtum bei weitem übertraf. Ob er so einfallslos war oder einfach nur wenig auf Codenamen gab? Es hatte nicht jeder Verständnis für das System. Wenn sie ehrlich war, fand auch sie es manchmal albern, selbst wenn sie die Notwendigkeit gerade bei internationalen Aufträgen sah und sich lange an ihren Namen gewöhnt hatte. Meistens dachte sie von sich selbst als Pakhet, nicht mehr als Joanne.

Allerdings war unter den Daten von Mr Punches ein Vermerk von Smith: „Nicht zurückgekehrt.“

Sie sah auf. „Nicht zurückgekehrt?“

„Ist abgehauen“, erwiderte Smith und zuckte mit den Schultern. „Ich gehe persönlich davon aus, dass er derjenige mit dem explosiven Gemüt war.“

Pakhet seufzte. „Okay.“

„Dafür haben wir noch jemanden“, meinte Smith und bedeutete ihr, die nächste Datei zu öffnen.

Sie tippte auf den Button, blätterte weiter und hob im nächsten Moment die Augenbraue. „Der neue Doktor?“, fragte sie und überflog das Profil des Arztes, der sich unter dem Codenamen „Doctor Heidenstein“ eingetragen war. Kein sonderlich guter Codename, da diese idealer Weise kurz waren, um schnell Anweisungen oder Warnungen geben zu können. Er würde das Schicksal jedes anderen teilen, dessen Codename mit „Doctor“ begann: Man würde ihn einfach „Doc“ nennen.

„Ja“, erwiderte Smith. „Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass diese Gruppe einen Arzt brauchen wird.“

„Sie sollten selbst erste Hilfe lernen“, erwiderte Pakhet tonlos und hob dann wieder den Blick, um Smith zu mustern. Eine Sache verstand sie nicht. „Warum ein Team? Das ist nicht, wie wir normal vorgehen.“

„Ich dachte, es wäre einmal ein Experiment wert“, antwortete Smith mit einem fröhlichen Lächeln. „Ich meine, wir haben gesamt vier Dreier-Teams, ein Vierer-Team und sie sind effizienter, da sie aufeinander eingespielt sind. Also dachte ich mir, ich versuche, selbst ein Team zu bauen.“ Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Und Mr Forrester hat mir zugestimmt.“

Langsam verstand sie. „Und zugleich beschlossen, dass ich die arme Sau bin, die das Experiment leiten darf.“

Smith zuckte mit den Schultern und streckte die Hand aus, um das Tablet zurück zu nehmen. „So in etwa.“

Pakhet verdrehte die Augen und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie stöhnte genervt, verzog dann aber den Mund zu einem grimmigen Lächeln. Manchmal erinnerte Michael sie an das Arsch, wegen dem sie überhaupt in dieser Situation gelandet war. An denjenigen, der sie vermeintlich vor sieben Jahren getötet hatte. Nur, dass Michael nichts tat, weil sie eine Frau war – er tat es, um ihr persönlich auf den Keks zu gehen, sich mit ihr zu messen. Er tat es, um sich zu amüsieren, wenn sie die Beherrschung verlor, und ihm eine verpasste. Auf irgendeine masochistische Art und Weise schien ihn das mehr als alles andere zu amüsieren. Nein, es ging ihm darum, zu zeigen, dass er ihr überlegen war.

Sollte er doch krepieren!

Diese Truppe würde es nicht lange tun. Sie würden sterben oder gefangen genommen werden. Wahrscheinlich sterben. Sie hatte keine Lust, dafür verantwortlich zu sein – aber was hatte sie für eine Wahl?

„Von mir aus“, sagte sie mit grimmiger Stimme. „Bring mich zu den Chaoten.“ Sie seufzte. „Dann sehen wir, was wir mit ihnen machen können.“

„Sieh es als Herausforderung“, meinte Smith.

Sie richtete sich auf. „Was meinst du, das ich tue?“

[30.03.2011 – D02 – Reperaturservice]

Wie hatte sie sich dazu überreden lassen?

Sie war sich nicht sicher. Es hatte mit ihrem Drang zu tun, sich zu beweisen, und ebenso damit, dass sie nicht riskieren wollte, dass ihr ein weiteres Fahrzeug explodierte.

Also fuhr sie an diesem Mittag vor Roberts Werkstatt vor, um sich den Wagen, den die Chaostruppe von einem Gebrauchtwagenhändler gekauft hatte, genauer anzusehen.

Sie war mit ihrem Motorrad hergekommen, einem roten Enduro von Yamaha, dass sie bei normalen Einsätzen viel zu selten nutzen konnte. Dabei war es wahrscheinlich unauffälliger als ihr normaler Wagen.

Die Chaostruppe, so würde sie fortan die Gruppe der Neulinge nennen, die nun ihre Verantwortung waren. Wenn man sie fragte waren Spider und sein vermeintlicher Bruder Mik – beide kaum Älter als zwanzig – ein Beispiel von Dumm und Dümmer. Von allem, was sie gehört hatte, war Spider an der Idee mit dem Sprengstoff beteiligt gewesen, auch wenn es Mr Punches gewesen war, der das Zeug hatte hochgehen lassen.

Agent, der selbsternannte Superhacker, war ein alter Sesselfurzer – sie schätzte ihn auf Mitte Vierzig – mit einem Ego, dass an das von Michael heranreichte. Wenn man ihn fragte, war er wohl der Gruppenanführer. Vielleicht sollte sie ihn wegen der ganzen Explosion zur Rechenschaft ziehen.

Und dann war da Orion, der Meistermagier. Er hatte angeben wollen. Sie hatte ihn gelassen. Er war gescheitert. Sein Unsichtbarkeitszauber war nicht sonderlich unsichtbar, sein Charme bei weitem nicht so überzeugend, wie er es glaubte.

Zuletzt war da Heidenstein, aka „der Doc“. Er hatte geschwiegen, hatte beobachtet und hatte dann aus dem Nichts angeboten, sich um den Wagen zu kümmern, als sich Spider und sein Bruder gegenseitig darin übertrumpft hatten, wie dringend sie einen Wagen brauchten – am beste einen Transporter. Irgendwie hatte Michael es ihnen erlaubt.

Tja, und hier war sie.

Roberts kleiner Familienbetrieb, den er von seinem Vater übernommen hatte, war eine Mittelgroße Autowerkstatt. Sie hatten mehrere Plätze, mehrere Hebebühnen, um sich die Wagen anzuschauen und so war es ein leichtes, einen davon für einen kleinen Betrag zu mieten.

Der Geruch von Motoröl, Lack und Staub lag in der Luft.

Auf dem Parkplatz vor der Werkstatt stand bereits ein weißer Transporter, an dem ein Mann lehnte. Heidenstein. Also war er da geblieben. Was hatte sie erwartet?

Sie stieg von dem Motorrad ab, nahm den Helm ab und ging raschen Schrittes zu ihm hinüber. „Hast du lange gewartet?“, fragte sie und musterte Heidenstein, der eine Nachricht auf seinem Handy las.

Er sah auf; musterte sie. „Ah.“ Er zögerte. „Pakhet.“ Einmal blickte er sich um, schüttelte dann den Kopf. „Nein. Nicht besonders lang.“

„Gut.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist der Wagen?“

„Ja“, erwiderte er. „VW T6. Standard Transporter. Drei Jahre alt. Gehörte vorher offenbar einem Malereibetrieb.“

Ein weiteres Schulterzucken. So etwas musste sie nicht wissen. „Hast du eine Möglichkeit zur Firma oder“ – sie hielt kurz inne – „nach Hause zu kommen?“ Wenn er den Wagen hergefahren hatte, bräuchte er wohl jemanden, der ihn abholte.

„Nein“, erwiderte er. Auch er zögerte. „Ich dachte, ich könnte helfen.“

„Helfen?“

„Ich habe dich richtig verstanden, oder? Du willst den Wagen selbst reparieren, oder?“

Sie seufzte. Eigentlich hatte sie den Wagen mit Roberts Hilfe reparieren wollen. Immerhin wusste Robert was er tat – anders, als sie es von einem Arzt erwartete, wenn es um Wagen ging. Doch Robert wollte nicht in diese Sachen mit hineingezogen werden. Sie konnte es verstehen. „Hast du Ahnung von Automechnanik?“

„Ich kenne die Grundlagen“, erwiderte er.

„Und das heißt?“

„Ich weiß, wie man Zündkerzen austauscht. Ich habe Ahnung von üblichen Fehlern. Ich habe das ein oder andere Mal einen Jeep repariert.“

„Ah.“ Sie verkniff sich ein genervtes Stöhnen. „Und was ist mit Grundüberprüfung?“

Er schenkte ihr ein geübtes Lächeln. „Was soll damit sein?“

„Schon mal gemacht?“

„Nein. Aber ich dachte mir, du kannst mir die Grundlagen zeigen. Man lernt immer dazu.“

Na großartig. Also sollte sie selbst für ihn noch Lehrerin spielen? „Solche Services kosten normalerweise.“

„Und was könnte ich tun, um dafür zu bezahlen?“

„Das ist es ja“, erwiderte sie grimmig. „Nichts.“

„Zu schade.“ Er zuckte mit den Schultern.

Pakhet wandte sich ab, als ihr doch etwas einfiel. „Vielleicht gibt es eine Sache“, erwiderte sie. „Warst du bei der Jungfernmission der Chaostruppe dabei?“

„Chaostruppe?“ Er hob eine Augenbraue hoch, schien aber sehr wohl zu verstehen. „Ja, das war ich tatsächlich. Mr Smith hatte mich als Backup mitgeschickt.“

„Gut.“ Sie wandte sich ab. „Dann erzähl mir, wie das ganze so schief gehen konnte und wir können darüber reden.“

„Deal“, erwiderte er, aber sie war bereits auf dem Weg zu Robert.

Sie brauchte den Schlüssel für das Tor zu der seitlichen Garage, die ebenfalls eine Hebebühne hatte, halbwegs aber vom Rest der Werkhalle getrennt war. Dort würde sie in Ruhe arbeiten können. Soweit in Ruhe zumindest, wie es der Doktor mit dem zu langen Namen zulassen würde. Worauf hatte sie eigentlich eingelassen?

Die Werkstatt unterschied sich nicht großartig von den meisten anderen. Sie bestand aus einer einzelnen großen Halle und zwei Garagen. Daneben fand sich ein kleiner Shop, hinter diesem ein Büro, von dem aus Robert arbeitete.

Zielstrebig schritt sie zum Shop und in diesem zur Tür neben der Kasse. Sie klopfte und wartete auf Roberts Antwort.

Schritte erklangen. Dann wurde die Tür geöffnet. „Hey, Jo.“ Robert lächelte sie an und deutete kurz eine Umarmung an. „Also, wo ist der Patient?“

Sie konnte sich den Witz nicht verkneifen. „Beim Doktor.“

Verwirrt schaute Robert sie an.

Mit einem leisen Seufzen erklärte sie: „Einer meiner Kollegen hat den Wagen hergebracht. Ein Medic. Doctor Heidenstein. Und er will eine Einweisung in die Grundlagen der Fahrzeugkontrolle, scheint mir.“

„Dann schick ihn weg“, erwiderte Robert nüchtern.

Sie zuckte mit den Schultern. „Er weiß etwas, was ich wissen will. Also habe ich ihm einen Deal angeboten.“

„Das wird nur zu Schwierigkeiten führen“, murmelte Robert und Joanne seufzte.

„Wird es. Wahrscheinlich.“

Für einen Moment seufzte Robert. Dann griff er in sein Büro rein und holte einen Schlüssel hervor. „Hier.“

„Danke. Du bist ein Schatz.“

„Und du schuldest mir eine Pizza.“

„Darüber können wir reden.“ Sie zwinkerte ihm zu und brachte sogar ein mattes Lächeln zustande, ehe sie zur Tür lief und die Hand zum Abschied hob, ehe sie den kleinen Shop verließ.

Sie eilte zur Garage hinüber, wo sie den Tür in das Schloss neben dem schweren, automatischen Tor steckte und umdrehte.

Der Motor erwachte dröhnend zum Leben und hob das Tor an. Als es schließlich mit einem Knacken einrastete, winkte sie Heidenstein hinüber, der nickte, in den Wagen einstieg und ihn hineinfuhr.

Zumindest hatte er genug Kontrolle über den Wagen, als dass der kleine Transporter schon nach dem ersten Versuch auf den Schienen der hydraulischen Bühne stand.

„Mietest du die Garage?“, fragte er, als er ausstieg.

„Ja“, erwiderte sie. „Mr Forrester zahlt am Ende aber.“ Das war natürlich gelogen, doch Doctor Heidenstein musste das nicht wissen.
 

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„Ah.“ Er seufzte, während sie den Wagen umrundete. Sie machte das Licht an und begann den Wagen von außen zu inspizieren. Zuallererst wollte sie sicher gehen, dass kein Blechschaden vorlag – nicht das dieser die Leistungsfähigkeit des Wagens beeinflusste.

Sie entdeckte auf Anhieb einige Kratzer im Lack. Das hieß, sie würden auf Dauer neu lackieren müssen. Vielleicht besser, denn wenn man genau hinsah konnte man sehen, wo einst das Logo der Malerei gewesen war.

„Mir ist eine Beule in der Kühlerhaube aufgefallen“, merkte Heidenstein an.

„Dazu komme ich gleich“, erwiderte sie. „Ich will erst einmal wissen, was auf dieser Mission schief gegangen ist.“

„In Ordnung.“ Er wirkte amüsiert und lehnte sich lächelnd an den Wagen. „Was weißt du?“

„Ich weiß so viel: Ihr solltet einen Ordner aus dem Büro in der Chemiefabrik stehlen. Ihr wurdet von Security überrascht. Jemand hielt es für eine tolle Idee, irgendetwas hochgehen zu lassen.“

Heidenstein schmunzelte. „Das ist arg vereinfacht ausgedrückt.“

Mittlerweile war sie bei der Kühlerhaube angekommen und sah, wovon er zuvor gesprochen hatte. An der rechten Seite war das Heck eingedellt. Wahrscheinlich war einmal jemand an einer Mauer oder vergleichbaren langgeschrabt. Man hatte mit einem Lackstift den Lackschaden notdürftig verdeckt.

Fuck. Dieses Fahrzeug war ein Wrack. Aber dafür war es wahrscheinlich billig gewesen.

„Erzähl“, meinte sie.

„Gut. Grundlegend hast du Recht. Wir sollten Informationen holen. Keinen Ordner. Daten von einem Rechner. Forschungsdaten. Mr Smith hatte extra etwas herausgesucht, für das man einen ITler brauchte.“

„ITler im Feld sind immer eine beschissene Idee“, murmelte Pakhet, während sie sich auf den Wagen stützte und dagegen drückte, um zu sehen, ob die Federn davon allein nachgaben.

Heidenstein ignorierte sie. „Wir sind ohne große Probleme reingekommen. Mik hat jemanden bequatscht, der dort arbeitet. Er hatte einen Schlüssel. Soweit also alles kein Problem. Spider, er, Punches und Agent sind rein. Orion und ich sind draußen geblieben. Erst schien alles wunderbar zu laufen, aber dann wurden sie von einem Hund entdeckt.“ Er machte eine dramatische Pause und brachte sie damit dazu, die Augen zu verdrehen, während sie zur Kontrolle der Bühne ging.

„Und dann?“

„Und dann haben sie den Hund erschossen“, erwiderte Heidenstein nüchtern. „Und haben damit noch mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Bevor wir draußen viel mitbekommen haben, hatten sie weitere Security gerufen. Wir wollten nachziehen, aber Mr Punches“ – sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er den Namen genau so albern fand, wie sie – „meinte, er hatte einen Plan.“

„Und dann Bumm?“, fragte sie.

„So in etwa. Sie haben noch etwas gerufen, dass wir sie in Richtung Stadtmitte treffen sollen. Und dann   … Dann ist das ganze Gebäude in die Luft geflogen. Offenbar haben sie das Sprengstoff im Lacklager deponiert.“

„Und wie sind die Idioten rausgekommen?“, fragte Pakhet.

„Kanalisation“, erwiderte Heidenstein.

„Lecker.“

„Absolut.“

Sie seufzte. „Und wer war es, der das Zeug hat hochgehen lassen?“

„Punches. Soweit ich es verstanden habe. Aber es war ein gemeinschaftlicher Plan.“

Wundervoll. Sie duckte unter den Wagen. Womit hatte sie das alles nur verdient?

„Und du machst das schon lange?“, fragte er, als er ihr unter den Wagen folgte und eine kleine Taschenlampe aus seiner Jacke hervorholte.

Mit Absicht tat sie, als würde sie ihn nicht verstehen. „Was?“

„Söldnerei“, erwiderte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Seit einer Weile.“ Es hatte ihn nicht zu interessieren. „Und du bist genau so neu, wie die Chaoten.“

„Kann man so nicht sagen“, erwiderte er.

„Das heißt?“

Er lächelte. „Wer weiß.“

Sie würde ihn nicht bedrängen. Es ging sie genau so wenig an, wie es umgekehrt der Fall war. „Also, Doc, was kannst du mir zu dem Wagen sagen?“

„Doc?“, meinte er.

„Doctor Heidenstein ist für einen Codenamen zu lang“, erwiderte sie. „Also, der Wagen.“

„Der Wagen ist deutlich mitgenommen“, meinte er. „Die Aufhängung ist ausgeleiert, das Blech an mehreren Stellen demoliert. Vor allem aber sind die Antriebswelle ziemlich mitgenommen. Und wenn du mich fragst, brauch der Motor allgemein ein wenig Zuwendung.“

Sie machte einen halb amüsierten Laut. „Das war besser als erwartet.“

„Ich habe doch gesagt, ich habe ein wenig Erfahrung.“ Damit warf er ihr ein kurzes Lächeln zu.

„Ich merke es.“

Er betrachtete. „Und Heidenstein ist zu lang? Schade.“

„Schade?“

„Ich dachte, der Name wäre amüsant.“

„Nun, du weißt schon, dass der Doktor Jekyll war und Hyde das Monster, oder?“, erwiderte sie. Zumindest war sie zu dem Schluss gekommen, dass Heidenstein eine Zusammensetzung von Hyde und Frankenstein war.

„Vielleicht wollte ich darauf hinaus“, meinte er.

„Und was? Plötzlich wird der Doktor Grün?“

Er zuckte mit den Schultern, lachte aber leise. „Ich denke, das ist das falsche Universum.“

[08.04.2011 – T01 – Konflikt]

„Warum bringen wir ihn nicht einfach um?“, fragte Orion. „Er hat unsere Gesichter gesehen.“

Pakhet schloss die Augen und zwang sich tief durchzuatmen. „Weil wir explizit beauftragt wurden ihn morgen wieder gehen zu lassen.“

„Ja, und?“ Der Magier funkelte sie an. „Es war halt ein Unfall.“

Sie konnte nicht glauben, dass sie diese Diskussion führen mussten. Wie unprofessionell konnte man sein? Sie schnaubte. Gerne hätte sie ihm vorgehalten, dass ihre Auftraggeberin vom MI6 war, dass sie ernsthafte Probleme hätten, wenn sie diesen Auftrag vermasselten. Doch sie verkniff sich diese Bemerkung.

„Jetzt streitet euch doch nicht.“ Spider trat zwischen sie. Der gerade einmal 20jährige wirkte sehr jugendlich. Man hätte ihn äußerlich kaum für mehr als einen Teenager gehalten. Wahrscheinlich weil er unterernährt war. Er war hager, wirkte schlacksig und sein blondes Haar war so hell, dass es beinahe weiß wirkte. „Wir wurden beauftragt, ihn morgen laufen zu lassen, also lassen wir ihn morgen laufen.“

Für jemanden, der an dem Plan beteiligt war, das Gebäude in die Luft zu jagen, klang er ja fast vernünftig.

„Können wir mit ihm reden?“, fragte derweil Mik. Wie Spider war er dünn, wirkte aber kräftiger. Er konnte nicht mehr als Spiders Halbbruder sein, denn seine Haut war dunkel, sein Haar schwarz und kraus.

Pakhet musterte ihn. „Worüber?“

„Na, warum wir ihn überhaupt festhalten sollen“, meinte Mik. „Wäre doch interessant.“

„Wäre es nicht“, erwiderte sie kühl. „Es geht uns nichts an.“

„Fuck, Lady, du hast einen verdammten Stock im Arsch“, warf Orion ein.

„Und du hast gleich eine Kugel in der Schulter, wenn du nicht die Klappe hältst.“

Der Magier – selbst gerade einmal Mitte zwanzig, aber mit kurzem braunen Haar und ebenso kurzem braunen Goatie – gab ein verächtliches Geräusch von sich. Seinem Dialekt nach, war ursprünglich aus Australien. Warum hatte er hierher kommen müssen? „Muss ich mir echt etwas von einem Krüppel sagen lassen?“

Heidenstein, der die ganze Zeit bei ihrem vorübergehenden Gefangenen gesessen hatte, den sie mit auf den Rücken gefesselten Armen und mit einem Sack über den Kopf in der Ecke der Garage abgelegt hatten, stand auf. „Es reicht, Orion.“

„Sagt wer?“, erwiderte der Magier, der sich offenbar in Rage geredet hatte.

„Sage ich“, entgegnete Heidenstein sachlich und hatte die Hand an seiner Waffe.

„Oder was?“ Orion musterte ihn herausfordernd. „Sonst haust du mir einen Betäubungspfeil rein? Oh, ich zittere schon vor Angst.“

„Ich habe auch andere Sachen im meinem Repertoire. Willst du sie ausprobieren?“ Die Stimme des Medics klang freundlich, zuvorkommend.

Es war ihm und seiner kleinen Pfeilpistole zu verdanken gewesen, dass sie den Mann, der unter dem Decknamen Sebastian McDall agiert hatte, überhaupt hatten stellen können. Denn ganz offenbar war McDall vorgewarnt gewesen, als sie gekommen waren. Da ihr Auftrag gewesen war, ihn nach Möglichkeit nicht zu verletzen, wäre es ohne den Betäubungspfeil weit komplizierter geworden.

Pakhet war von der Pistole beeindruckt. Wenngleich das Gerät deutlich größer war, als eine übliche leichte Pistole, so hatte sie doch eine bessere Reichweite und Genauigkeit, als sie es in der Vergangenheit bei anderen Pfeilpistolen gesehen hatte. Sie fragte sich, woher er diese Waffe hatte.

Orion funkelte ihn an.

„Ich sage dir was“, meinte Pakhet und gab ihrer Stimme einen festen, aber auch leicht wütenden klang. „Entweder du spielst mit oder du gehst. Ich bin aktuell die Leiterin dieses Teams und habe keine Lust, mich mit deinen Kindereien abzugeben. Du kannst von mir aus gehen. Wir brauchen dich nicht mehr. Aber wenn du ihm“ – sie zeigte auf McDall – „nur ein Haar krümmst, dann kannst du froh sein, wenn ich nur dafür sorge, dass du gefeuert wirst.“ Sie starrte ihn für einen langen Moment an, wohl wissend. „Also: Bleib oder Geh. Aber halt dich an den Auftrag.“

Die untere Lippe des Magiers zitterte, als er sie aus seinen grauen Augen ansah. Er zog die Nase an, als wäre er angeekelt und für einen Moment glaubte sie, dass er etwas versuchen würde. Er beließ es bei einem wütenden Schnauben, drehte sich auf dem Absatz um und stampfte zur Tür der kleinen Garage, die zu einem verlassenen Firmengelände am Rand der Stadt gehörte. „Dann gehe ich, Bitch“, verkündete er und marschierte durch die Tür, um sie einen Moment später hinter sich zuzuknallen.

Sehr erwachsen.

Pakhet holte tief Luft und wandte sich Mik zu. „Und wir werden auch nicht mit ihm reden.“

Mik verdrehte die Augen und lehnte sich gegen die Werkbank am Rand der Garage. „Von mir aus.“

„Sonst noch jemand?“, fragte sie und schaute die verbleibenden drei an. Von Heidenstein erwartete sie keine Widerworte. Er schien ihr zuzustimmen. Anders sah es mit Agent aus.

Dieser saß jedoch mit seinem Laptop auf einem Campingstuhl und schenkte ihr keine größere Aufmerksamkeit.

Stille senkte sich über die Garage, ehe Spider die Hand hob, als wäre er in der Schule.

Sie seufzte. „Ja?“

„Wenn wir die Nacht über auf ihn aufpassen“, meinte er, „darf ich dann vorher etwas zu essen holen.“

Noch einmal schloss sie die Augen. Atmete durch. Seufzte. „Mach.“

Er grinste. Dann zögerte er.

„Was?“

Verlegen sah er sie an. „Kannst du mir etwas Geld leihen?“

[08.04.2011 – D03 – Marke Eigenbau]

Die Arme auf die Beine abgestützt, starrte sie geistesabwesend in den Raum, trank dabei einen Schluck.

Der Kaffee war bereits kalt. Verdammt. Sie hatte keine Kaffeemaschine mehr hier in ihrer Garage, wie früher einmal.

Sie verzog die Lippen und wandte sich den anderen zu.

Agent war vor einer Stunde aufgestanden und hatte gefragt, ob man ihn überhaupt brauchte. Die Antwort war „Nein“ gewesen. Daraufhin war er wortlos gegangen.

Spider und Mik saßen in der Fahrerkabine des Tranporters und schliefen.

Selbst McDall schien zu schlafen. Vielleicht tat er auch nur so. Sie wusste es nicht. Am Ende war es egal. Er lag still auf der dunklen Isomatte, auf der sie ihn abgelegt hatten. Pakhet konnte recht sicher sagen, dass er wie sie war. Er arbeitete auf Auftragsbasis. An sich lag ihm wenig an der Schwarzmarktauktion, von der sie ihn fernhielten. Wahrscheinlich hatte die Auftragsgeberin statt seiner einen Spitzel hingeschickt. Das war der logische Grund für ihren Auftrag.

Heidenstein saß nehmen ihr. Er war wach, hatte einen Notizblock herausgeholt und schrieb.

Er bemerkte ihren Blick und lächelte kurz. Er hatte das übliche, freundlich distanzierte Lächeln eines Arztes, schaffte es dabei dennoch eine gewisse Wärme auszustrahlen. Er wirkte zu weich für diese Arbeit.

„Was ist?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Die Pistole. Darf ich sie mal sehen?“ Sie hatte bereits seit einer Weile überlegt danach zu fragen.

Sein Lächeln veränderte sich. Es wurde verschmitzt. „Sicher.“ Er griff zum Holster, das er an der Brust trug und holte die längliche Waffe heraus. „Hier.“

Sie nahm die Pistole entgegen. Sie hatte einen länglichen, runden Lauf, wie er bei älteren Revolvern üblich war. Der Rahmen war etwas breiter, um den Druckluftbehälter unter zu bringen, der für die Beschleunigung des Schusses sorgte. Am unteren Ende war eine seltsame Vorrichtung angebracht.

Pakhet nahm sie genauer in Augenschein. Es war ein Ventil, aber auch eine elektrische Schaltung, glaubte sie. Sie hatte eine Ahnung, wofür es gedacht sein könnte. Befüllung des Druckbehälters?

Halb unter den Lauf angebracht war ein kleines Magazin. Sie kannte die hier verwendete Mechanik. Natürlich baute sie auf demselben System auf, wie normale Magazine, doch es schien, als sei es ein modifiziertes Magazin von einer dieser Spielzeugwaffen, die Styroporbolzen verschossen.

Gar nicht so dumm. Es war ein wenig zu groß, doch allgemein lag die Waffe erstaunlich gut in der Hand. Sie schien größtenteils aus Plastik zu sein. Weiß noch dazu. Wahrscheinlich würde eine einfache Kontrolle es wirklich für ein Spielzeug halten.

„Nicht schlecht“, stellte sie fest und hob die Waffe probehalber. Sie musste irgendwie beschwert sein, um keinen zu starken Vorwärtsdrall durch den langen Lauf zu haben. „Woher?“

Heidenstein lächelte geheimnisvoll und streckte die Hand aus, um die Waffe zurück zu nehmen.

Pakhet verdrehte die Augen und nahm wieder den Kaffee auf, den sie auf dem Boden abgestellt hatte. Wenn er nicht reden wollte, würde sie ihn nicht zwingen.

Er ließ ein leises Lachen hören. „Marke Eigenbau“, kommentierte er.

Überrascht warf sie der Waffe einen Blick zu. „Wirklich?“ Die Waffe war intelligent gebaut.

„Ja“, erwiderte er.

Sie nickte anerkennend. „Wow.“ Dann zögerte sie. Sie trank einen Schluck. „Warum?“

„Sagen wir es so“, meinte er, „ich bevorzuge es nicht unnötig zu töten.“

„Falscher Job“, murmelte sie.

Er zuckte mit den Schultern, lächelte aber. „Vielleicht auch genau der richtige.“

Sie musterte ihn. Wie auch immer er dazu gekommen war, ausgerechnet als Medic hier zu arbeiten. Er schien nicht die richtige Person dafür zu sein. Aber er hatte zuvor Orion widersprochen. Dafür hatte er ihren Respekt.

Kurz überlegte sie. „Könntest du so eine Waffe noch einmal bauen?“ Die Pistole faszinierte sie.

Ein weiteres Schulterzucken war seine Antwort. Sein Lächeln wurde zu einem weichen Grinsen. „Sicher.“

„Wie viel?“, fragte sie.

Wieder lachte er und überlegte. „Dreihundert. Inklusive Erstausstattung.“

„Deal.“ Sie wandte sich ihm halb zu und streckte ihre Hand aus.

Weiterhin lachend nahm er ihre Hand, musterte sie dabei. „Darf ich dich etwas fragen?“, meinte er schließlich.

Sie ahnte, worauf er hinauswollte. „Hat es mit dem Arm zu tun?“

Kurz schürzte er die Lippen, nickte jedoch. „Ja.“

Pakhet seufzte. Sie wich seinem Blick aus. „Dann nein.“

[18.04.2011 – F02 – Schießübungen]

Die Waffe war leicht. Beinahe zu leicht für Pakhets Bedarf. Es war ungewohnt damit zu zielen. Die Tatsache, dass die Pfeile bei weitem nicht dieselbe Geschwindigkeit erreichten, wie normale Kugeln taten, machte es schwerer.

Deswegen übte sie.

Heidenstein hatte sich ihren Respekt für diese Waffe verdient, wenn er sie wirklich selbst gebaut hatte.

Sie kam dennoch nicht umher sich zu fragen, wieso er überhaupt hier arbeitete, ja, sogar mit aufs Feld zog, wenn er solche Fertigkeiten hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass das Militär daran Interesse hätte. Er könnte damit Geld machen. Mehr Geld, als mit Söldnerarbeit. Also. Wieso?

Am Ende ging es sie nichts an. Sie sollte nicht weiter darüber nachdenken. Es ging sie nichts an.

So leerte sie ihre Gedanken und konzentrierte sich auf das Ziel, das aktuell in fünfzig Metern Entfernung errichtet war. Sie hob die Waffe, justierte etwas weiter nach links und schoss.

Der Pfeil blieb zwei Ringe vom Zentrum entfernt im Styropor stecken.

Nicht gut genug.

Sie holte tief Luft. Justierte erneut. Atmete aus. Schoss.

Ein Ring vom Zentrum entfernt, genau auf der schwarzen Linie. Noch immer nicht gut genug, aber besser.

Sie senkte die Waffe, musste neue Darts nachfüllen. Das mit fünf Pfeilen Umfang sehr kleine Magazin war ein definitiver Nachteil der Waffe.

Die Tür zum Schießstand wurde geöffnet. Schritte verrieten, dass jemand den Raum betreten hatte.

„Neues Spielzeug?“ Das war Michaels Stimme.

Sie ließ ein genervtes Seufzen hören, antwortete nicht. Stattdessen hob sie die Waffe erneut. Luft holen. Zielen. Ziel justieren. Ausatmen. Schießen.

Dieses Mal lag sie mitten im inneren Ring.

„Was ist das für eine Waffe?“, fragte Michael und trat hinter sie.

„Pfeilpistole“, erwiderte sie leise. Wieder senkte sie die Waffe und sah Michael an. „Was machst du hier?“

„Ich wollte nur hören, wie es dir mit deiner kleinen Chaostruppe ergeht“, meinte er und lehnte sich gegen eine der Barrieren, die eine Schießbahn von dem Rest des Raums trennte. Er verschränkte die Arme und grinste sie an. Er hatte seine Krawatte offenbar gelockert, bevor er herunter gekommen war. „Leise Waffe. Gefällt mir. Aber nur ein Spielzeug, hmm?“

Sie seufzte. „Die Chaostruppe ist chaotisch.“

„Wunderbar“, erwiderte er strahlend.

„Fick dich, Michael“, meinte sie. Probehalber hob sie die Waffe, als wolle sie auf ihn schießen. Da die Darts aktuell nicht mit Gift gefüllt waren, würde sie ihn nicht wirklich verletzen – selbst wenn sie schießen würde.

„Vorsicht, wohin du damit zielst, meine Liebe.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Wie lange soll ich mich noch mit diesen Idioten abgeben?“

„Nun, der gute Smithy hat einen Plan für die Idioten“, erwiderte Michael. „Einen wirklichen Einsatz. In drei Monaten.“

Sie ließ die Waffe sinken und starrte ihn entgeistert an. „Du willst, dass ich die Truppe für drei Monate babysitte?“

„Ja.“ Michael grinste sie an.

„Warum?“

„Vielleicht, weil ich glaube, dass du die einzige bist, die es kann“, erwiderte er süffisant. „Vielleicht aber auch“ – seine Stimme wurde tiefer, warnend – „weil ich dir eine Lektion erteilen will, Joanne. Du bist mir in letzter Zeit zu aufmüpfig.“

„Ich war immer schon so aufmüpfig“, entgegnete sie.

„Dann ist die Lektion vielleicht schon lange über“, meinte er und lächelte. „Wie gesagt, nur vielleicht.“ Damit stieß er sich von der Absperrung ab und wandte sich zum gehen.

Sie stöhnte genervt auf. „Hey, Michael. Was für eine Mission?“

„Frag Smithers“, meinte Michael in einem fröhlichen Singsang.

„Fick dich, Michael“, rief sie ihm hinterher, woraufhin er in der Tür stehen blieb.

„Sagen wir es einmal so: Was ganz besonderes. Geheimes Forschungslabor. Richtig spannend.“ Er zwinkerte und verschwand damit durch die Tür. „Noch einen schönen Tag“, klang seine Stimme, ehe die Tür gänzlich schloss.

Pakhet seufzte und sah auf die Waffe in ihrer Hand. Verdammt. Betriebsspionage? Geheimes Labor? Nie im Leben würde sie die fünf Chaoten innerhalb von drei Monaten dazu bekommen. Sie würden sterben. Und wenn sie Pech hatte sie gleich mit ihnen. Oh, war ihr Leben nicht wunderbar?

„Fick dich, Michael“, zischte sie der Tür zu, ehe sie sich wieder dem Schießtraining zuwendete.
 

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[19.04.2011 – X02 – Hotelzimmer]

Ein dünner Lichtstrahl fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Er malte einen dünnen, bläulichen Strich auf den hellen Teppichboden des Hotelzimmers.

Von draußen drang die Musik einer Diskothek bis hierher hinauf. Die Fenster waren kaum gegen Lärm isoliert, so dass sogar das Gespräch ein paar Angetrunkener auszumachen war, das sich offenbar unten auf der Straße abspielte. Es störte Pakhet nicht.

Noch einmal blickte sie sich zu dem Mann, der auf dem Hotelbett hinter ihr lag, um. Er war nicht viel jünger als sie. Ein Sekretär, hatte er gesagt. Sekretär mit Aufstiegsambitionen. Sie glaubte nichts, das daraus viel werden würde, doch sie hatte es ihm nicht gesagt. Es ging sie nichts an. Sie traf sich nicht mit Leuten, um mit ihnen zu reden.

Jetzt schlief er den Schlaf der Selbstgerechten. So oder so ähnlich. Er war eingeschlafen. Wie so viele.

Das machte es leichter.

Sie hob ihren BH vom Boden auf – nicht, dass sie wirklich einen brauchte, da ihre Oberweite kaum vorhanden war. Sie bevorzugte es dennoch einen zu tragen. Normalerweise jedoch sportlichere Modelle als dieses.

Sie zog ihn sich an, hob dann ihre Unterhose auf und schlüpfte auch in diese. Dann stand sie auf.

Sie war hierher, nach Camps Bay, gekommen, um Ablenkung zu suchen und hatte sie gefunden. Es gab diese Tage, an denen sie Ablenkung brauchte. Ablenkung vom Job. Ablenkung von ihrem normalen Leben. Im Moment Ablenkung von der verdammten Chaostruppe, die sie weiterhin babysittete.

Es war ein verdammtes Wunder, dass sie noch lebten.

Gut, sie hatten die meiste Zeit trainiert. Was bedeutete, dass sie vor allem Spider und Mik trainiert hatte. Agent beharrte darauf, dass er physisches Training nicht brauchte. Orion war ein Arschloch. Und auch wenn sie feststellte, dass sie Heidenstein respektieren konnte, so war auch er nicht angetan von der Aussicht auf Ausdauertraining. Schusstraining? Sicher. Bisher war er jedoch auf mysteriöse Weise angerufen worden, wann auch immer sie versucht hatte, die Truppe zum Fitnesstraining zu bekommen.

Und verdammt, die fünf konnten nervig sein.

Agent tat, als stünde er über allem. Orion hatte ein Ego, mit dem seine reale Performance nicht mithalten konnte. Mik war ein Besserwisser. Und Spider verhielt sich eher, wie ein Zwölfjähriger. Zumindest war er begeisterungsfähig und gehorchte meistens.

Fakt war: Sie hatte Ablenkung gebraucht. Sie hatte Ablenkung gefunden.

Selbst für sie war es leicht. Sie war nicht hässlich, aber zu kräftig, zu hager, zu groß, um als hübsch zu gelten. Und sie trug eine Prothese, selbst wenn viele diese dank Schminke und einem matten Glamour, der in einen Armreif gebunden war, nicht einmal bemerkten. Meistens kam es darauf nicht an, wenn man wusste, wie man auftrat. Sie hatte viele Jahre damit verbracht, ihr Auftreten zu perfektionieren. Es war Teil ihres Jobs.

Nun zog sie die schwarze Seidenbluse über und fühlte sich damit dennoch halb nackt. Sie hasste es, etwas zu tragen, dass sie vor Angriffen nicht schützte.

Was sollte sie tun? Der Wagen war nahe geparkt.

Sie schlüpfte in die enge Hose, dann in ihre Schuhe und drehte sich ein letztes Mal zu dem dunkelhaarigen Mann zurück. Er schlief noch immer selig.

Sie zuckte mit den Schultern, hob ihre Handtasche auf und ging.

[28.04.2011 – T02 – Moralvorstellung]

Der Mann stöhnte vor Schmerzen und streckte die Hand nach ihr aus. „Okay, verdammt“, presste er hervor. „Ihr könnt das Mädchen haben, wenn ihr mir nur helft, zu einem Krankenhaus zu kommen.“

Pakhet musterte ihn. Sie war sicher, dass der deutlich übergewichtige Mafioso nicht schwer verwundet war. Schmerzhaft, ja, aber nicht schwer. Sie sah sich jedoch nicht verpflichtet, ihm das mitzuteilen. „Deal“, meinte sie und kniete sich neben ihn. Sie wollte ihn auf die Seite hieven, um ihn zum einen in der stabilen Seitenlage zu haben und zum anderen seinen blutenden Arm besser ansehen zu können, als ein Schuss erklang.

Blut spritzte und sie brauchte einen Moment zu erkennen, dass der Ursprung des Blutes der Kopf des Mannes war.

Ein letztes Zucken ging durch seinen Körper, dann war er tot. Ein rotes, unförmiges Loch zierte die Seite seiner Stirn.

„Was zur Hölle  …“, begann sie und hob den Blick.

Orion stand mit hartem, bleichen Gesicht neben dem Toten, die Waffe in der Hand und wandte sich jetzt dem nächsten Verletzten zu, der nach dem Kampf zu Boden gegangen war.

„Orion“, knurrte Pakhet und stand auf. Sie legte die Hand auf die eigene Pistole. „Lass die Waffe fallen! Jetzt!“

Der junge Magier zitterte, das Gesicht seltsam verzerrt. „Du kannst mir nichts vorschreiben.“ Er drückte ab.

Der halbohnmächtige Ganger stöhnte, als die Kugel ihn im Brustraum traf.

Orion schoss erneut, traf ihn dieses Mal in die Seite des Kopfes.

Was zur Hölle tat er da? Was versuchte er?

Wut durchströmte Pakhet und sie zog ihre eigene Waffe. Sie zielte auf ihn. „Hör mir zu. Du lässt deine Waffe fallen und hebst deine Hände hoch.“

Er warf ihr einen kühlen Blick zu. „Oder was? Du wirst mich nicht erschießen, Bitch. Du hast sogar versucht, diesen Abschaum nicht zu töten.“

Das stimmte. Natürlich. Sie tötete nicht, wenn es sich nicht vermeiden ließ und ihr Auftrag es nicht verlangte. Seit Jahren nicht mehr. Sie bereute nur nicht, wenn sie dennoch tödlich traf.

„Orion!“

Sie standen auf einem Parkplatz hinter einem alten Restaurant am Ende der Riebeek Street. Der Boden war noch nass von einem kurzen Regenschauer am Mittag, auch wenn das Wetter wieder trocken war. Es war dämmrig, aber noch nicht dunkel.

Verdammt, das hätte eigentlich eine einfache Mission sein sollen. Sie waren in Kapstadt. Es war eine Standardmission: Sorgt dafür, dass die örtliche Mafia-Truppe das zur Erpressung entführte Mädchen gehen lässt. Einfach. Es war auch alles nach Plan verlaufen – selbst wenn weder Orion, noch Spider oder Mik eine große Hilfe gewesen waren.

Auch jetzt hockten Spider und Mik hinter einem alten Nissan, dessen Kühlerhaube von acht oder neun Einschusslöchern geziert wurde.

Um sie herum: Drei tote Männer. Ein weiterer Verwundeter. Und eine junge Frau, die ihre Waffe hatte fallen lassen und nun auf dem Boden kniete. Sie zitterte, als Orion als nächstes auf sie zielte.

Fuck. Der Idiot würde sie erschießen. Aus Mordlust? Aus Panik? Aus Rache? Was wusste sie schon? Alles, was sie wusste, war, dass sie es verhindern musste.

Und doch   …

Wenn sie auf ihn schoss, konnte sie ihn töten.

Wenn sie ihn waffenlos angriff, wäre sie zu langsam, um die Frau zu retten.

Also musste sie seinen Tod in Kauf nehmen, wenn sie die Frau retten wollte.

Es sei denn   …

„Lass mich einfach in Ruhe, Bitch“, knurrte er und machte einen weiteren Schritt auf die nun weinende Frau zu.

Mit einer ruhigen Bewegung gab Pakhet ihre Pistole in die linke Hand und griff zum zweiten Holster an ihrer Brust. Die Waffe, die Heidenstein gebaut hatte. Sie hatte Betäubungsdarts geladen, hatte sie bisher jedoch nicht an einem lebenden Subjekt ausprobiert. So würde Orion die Ehre zukommen.

Sie zog die Waffe, als Orion einen weiteren Schritt auf die Frau zustolperte.

Sein Finger spannte sich auf dem Abzug an.

Dann schoss sie. Der Dart traf ihn im Nacken.

Für einen Moment blieb Orion stehen. Dankbarerweise drückte er nicht ab, wandte sich stattdessen zu ihr um. „Was zur Hölle   …?“ Er griff nach dem Dart. „Bitch.“ Seine Hand begann zu zittern, als er den Dart betrachtete. Seine Waffe fiel zu Boden. Er schwankte. Für einige Sekunden kämpfte er, machte einen wackeligen Schritt auf sie zu. „Bitch“, wiederholte er. Dann kippte er um,

Pakhet atmete auf und hastete zu ihm hinüber. „Spider!“, rief sie und kickte die Waffe in Richtung des Wagen, hinter dem die beiden anderen sich versteckten.

Sofort sprang Spider hervor. „Jawohl!“

Dann bückte sich Pakhet zu Orion hinab, fühlte seinen Puls.

Er war schwach und unregelmäßig. Vielleicht hatte sie zu stark dosiert.

Sie blickte zu der jungen Frau. „Lauf weg“, wies sie sie an. Sie hatte keine Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen und wenn sie zu einer Familie gehörte, hatte sie fraglos eine Zuflucht.

Die junge Frau nickte. Sie stand auf. Dann lief sie.

[28.04.2011 – D04 – Straßenklinik]

„Ähm. Heidenstein hier“, meldete sich die mittlerweile halbwegs vertraute, müde Stimme des Docs am anderen Ende der Leitung.

„Ich bin's“, erwiderte sie rau, „Pakhet.“

„Ah, Pakhet.“ Er klang verwirrt. „Was kann ich für dich tun? Ich habe gerade zu tun.“

„Ich habe einen Notfall“, antwortete sie. „Und brauche deine Hilfe.“

„Notfall?“

„Medizinischer Notfall“, erklärte sie. „Orion.“

„Warum bringst du ihn nicht zur Zentrale?“

Sie holte tief Luft und schürzte die Lippen. „Ich habe guten Grund, es nicht zu tun.“

Stille. Er verstand. Dann räusperte er sich. „Okay. Von mir aus. Bring ihn her.“

„Wohin?“

Erneutes schweigen. Heidenstein räusperte sich nervös. „Ich habe eine kleine Straßenklinik im Norden der Cape Flats. Im Keller des Anderson Hospitals.“

„Danke“, antwortete sie leise und gab den Namen des Krankenhauses bereits in ihr Smartphone ein.

Sie fuhr – schnell, aber darauf bedacht, sich an das Geschwindigkeitslimit zu halten. Sie wollte nicht unbedingt riskieren, angehalten zu werden. Wenn jemand den Kofferraum öffnete und den halbtoten Orion vorfand, hätte sie ein Problem. Kein Problem, dass sich nicht beheben ließe, aber dennoch: Ein Problem.

Natürlich hatte Heidenstein recht. Sie könnte Orion auch zur Zentrale zurückbringen. Ihn da versorgen lassen. Doch hatte sie einige Gründe, es nicht zu tun. Vor allem wollte sie Orion nicht länger in ihrem Team haben – und sie wusste, dass sie sich selbst darum kümmern musste. Sonst würde es nur als Gegenwehr gegen die Teamidee als solche gesehen.

Daher fuhr sie keine fünfzehn Minuten später auf dem Parkplatz des Anderson Hospitals vor.
 

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Sie kannte das Krankenhaus nicht, was jedoch nicht viel heißen wollte. Sie besuchte selten normale Krankenhäuser. Noch seltener besuchte sie Krankenhäuser in der Nähe der Flats. Tatsächlich überraschte es sie, dass es hier draußen überhaupt eins gab. Die einzige Möglichkeit es zu erreichen, wenn man nicht durch die Flats fahren wollte, war über die M2. Das Gebäude lag am nordöstlichen Ende des Ghettos.

Es wirkte auf den ersten Blick heruntergekommen – kaum verwunderlich für die Gegend. Das fünfstöckige, längliche Gebäude wirkte leer, auch wenn sie nicht sagen konnte warum. Es mochte eventuell an dem beinahe gänzlich verlassenen Parkplatz liegen, auf dem nur vereinzelte Fahrzeuge standen – gesamt nicht mehr als fünfzehn. Ein hoher, gesicherter Zaun umgab den Parkplatz.

Es hatte definitiv Horrorfilmästhetik.

Heidenstein hatte ihr eine Nachricht geschickt: Sie solle zum Hintereingang fahren und die beiden Männer, die dort standen ansprechen. Dubios, aber gut. Was erwartete sie von einer Straßenklinik?

Sie kannte solche Einrichtungen aus anderen Städten: Ärztliche Notfallpraxen für diejenigen, die normale Ärzte nicht besuchen konnten. Vielleicht, weil sie Verbrecher waren oder sich illegal im Land aufhielten, oft aber auch, weil sie magischer Abstammung waren und ihre Krankheiten oder Verwundungen auf ihre magische Natur schließen ließen. Dankbarerweise gab es magische Ärzte, die sich auf magische Wunden spezialisiert hatten und die oftmals aus solchen Kliniken heraus agierten.

Offenbar war Heidenstein einer von ihnen.

Was zur Hölle machte er als Medic bei ihnen?

Sie fuhr um das Gebäude herum, bis sie die Tür mit den zwei davorstehenden Herren in Anzügen entdeckte. Sah ganz so aus, als wäre auch dieser Laden unter Mafiaführung.

Es konnte ihr egal sein.

Sie stieg aus, nickte den beiden zu und ging um den Wagen herum. Sie öffnete den Kofferraum, hievte Orion heraus, um ihn sich über die Schultern zu werfen.

Er atmete noch. Gut. Egal was für ein Arschloch war: Sie hatte ihn nicht töten wollen.

„Ich suche Doctor Heidenstein“, sagte sie, als sie die beiden Herren erreichte.

Die beiden nickten synchron. Golems?

Zumindest ließen sie sie passieren, als sie die Tür mit einem Stoß aufkatapultierte.

Sie fand sich vor dem Treppenhaus des Krankenhauses. Es gab einen Aufzug, doch bevorzugte sie die Treppe. Es war nur eine Etage.

Langsam wurde Orion auf ihren Schultern deutlich schwer.

Angespannt blickte sie sich um. Im Flur hinter der Feuerschutztür brannte Licht, also würde sie es dort versuchen. Sie stieß die Tür auf und eilte hindurch, um sich in einem üblichen Krankenhausflur mit grünlichem Linoleumboden wiederzufinden.

Niemand war hier.

„Heidenstein!“, rief sie.

„Hier“, antwortete er. Eine Tür schwang auf, auch wenn er sich nicht sehen ließ.

Sie lief zur Tür hinüber und schaute in den dahinterliegenden Raum.

Dort saß er, offenbar damit beschäftigt eine unschöne Kratzwunde am Arm eines kräftigen, bärtigen, dunkelhäutigen Mannes zu nähen. Ein Werwolf, seinen noch immer goldlichen Augen nach. Die Wunde sah ebenfalls nach Werwolfskrallen aus.

„Bring ihn in den nächsten Raum“, sagte Heidenstein ohne aufzusehen.

Pakhet nickte. Sie beschloss, dass er den Raum rechts von diesem meinte und ging zur entsprechenden Tür weiter. Es war eine Schiebetür, die sie mit Schwung öffnete.

Dahinter lag ein Behandlungsraum, wie man ihn in vielen Notaufnahmen im Land fand. In der Mitte eine Liege unter einer Operationsleiste. Zwei Hocker, zwei Stühle, ein Schreibtisch mit Rechner, mehrere Schränke und Regale.

Sie trat zur Liege hinüber und legte Orion ab. Er hatte noch immer Puls, wenngleich er trotz Ohnmacht zitterte und sich ein dünner Schaum vor seinem Mund gebildet hatte. Ab und an machte er leise Laute.

Was auch immer das Toxin mit ihm anstellte: Er hatte es nicht besser verdient.

Mit diesem Gedanken setzte sie sich auf einen der Hocker und verschränkte die Arme. Sie wartete. Eine Minute. Fünf Minuten. Zehn Minuten.

Irgendwann hörte sie Stimmen im Nachbarraum. Schritte. Jemand ging.

Dann wurde die Tür, die beide Behandlungsräume direkt miteinander verband geöffnet und Heidenstein kam hindurch. „Entschuldige, dass es etwas gedauert hat“, meinte er ruhig. Er musterte Orion. „Was ist passiert?“

„Kurzfassung: Er hat angefangen ein paar Leute ohne Grund abzuknallen und ich habe ihm einen Dart mit Betäubungstoxin gesetzt“, antwortete sie. „Dann hat er angefangen zu zittern. Dann zu sabbern. Sein Puls ist schwach und unregelmäßig. Überdosis, nehme ich an.“ Sie wusste, dass die letzten Aussagen unnötig waren, da Heidenstein ihn selbst untersuchte.

Auch er überprüfte den Puls, den Blutdruck, sah dem Magier in die Augen und horchte auf dessen Atem. „Überdosis“, bestätigte er schließlich. Er warf ihr einen missmutigen Blick zu. „Ich habe dir gesagt, du musst damit vorsichtig sein. Hat er in den letzten Tagen Blut verloren?“

„Er ist heute Mittag angeschossen worden und hat sich selbst geheilt“, erwiderte sie.

Heidenstein nickte. „Daran wird es liegen.“ Er ging zu einem Schrank hinüber, holte ein Fläschchen hervor, dann eine Spritze aus einem anderen. „Warum wolltest du ihn nicht zur Zentrale zurückbringen?“

„Weil er sich meinen Anweisungen widersetzt hat“, erwiderte sie. „Er hat sinnlos getötet. So etwas dulde ich nicht.“

„Sagt die eiskalte Söldnerin?“, meinte Heidenstein, während er Orion das Mittel verabreichte.

„Ich hasse sinnlose Gewalt.“ Sie musterte ihn kühl. „Als jemand, dessen bevorzugte Waffe eine Betäubungspistole ist, gehe ich davon aus, dass du das verstehst.“

„Sicher“, antwortete er und lächelte.

Zu ihrer Überraschung wirkte das Lächeln aufrichtig.

Nach einigen Sekunden seufzte er leise, fühlte erneut Orions Puls. „Und was hast du dann mit ihm vor?“

„Ich sehe ihn als Gefahr für die Gruppe und die Firma“, erwiderte sie. „Deswegen schicke ich ihn fort.“

Nun musterte Heidenstein sie. Er schwieg, überlegte, leckte sich schließlich über die Lippen, während er vorsichtig eine Frage formulierte: „Was ist mit Mr Smith? Mr Forrester?“

„Sie werden sich damit abfinden müssen, dass Orion die Stadt verlassen hat“, antwortete sie. „Es wäre nicht das erste Mal.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Es sei denn, du willst sie darüber in Kenntnis setzen?“

Für einige Sekunden – sie konnte nicht sicher sagen, wie lange genau – trafen sich ihre Blicke. Zweifel schien aus seinen Augen zu sprechen, ehe er langsam den Kopf schüttelte. „Nein“, sagte er. „Ich stimme dir zu.“ Er lächelte matt. Eine ungewisse Reue lag in dem Lächeln. „Aber wie willst du ihn davon überzeugen?“

Sie zuckte mit den Schultern und betrachtete kühl zu dem ohnmächtigen Magier, der aufgehört hatte zu zittern. „Ich habe meine Methoden.“ Immerhin hatte sie einen Ruf.

[28.04.2011 – T03 – Drohgebärden]

Die Zeit sickerte nur schwerfällig dahin. Im Behandlungsraum hing eine Uhr, deren Minutenzeiger jedes Mal ein lautes „Tock“ erklingen ließ. Wie konnte man so arbeiten?

Pakhet hatte die Beine übereinandergeschlagen und wartete. Sie wartete, dass Orion wieder aufwachte. Heidenstein hatte ihm ein Gegenmittel gegeben, das gegen die Überdosis wirken sollte. Er hatte jedoch auch gesagt, dass es dauern konnte, bis der Magier aufwachte.

Oh, wie sehr Magier sie doch immer wieder nervte. Sie waren selten genug, als dass diejenigen von ihnen, die ihren Weg in die Söldnerei gefunden hatten, einen Kopf zu groß für ihre Schultern besaßen. Nicht wenige von ihnen waren zudem auf die eine oder andere Art und Weise durchgeknallt. Kam wohl mit dem Feld.

Deswegen bevorzugte sie es nicht mit ihnen zu arbeiten. Zu unverlässlich. Zu unvorhersehbar. Unvorhersehbare Objekte gefährdeten eine Mission.

Sie nippte an ihrem Kaffee. Heidenstein war im Nachbarraum, um seinen nächsten Patienten zu behandeln.

Zur Hölle, wie lange würde es dauern, bis der Magier aufwachte? Sie wollte nach Hause, wollte sich ausruhen. Das war zu viel.

Aber aktuell war alles zu viel.

Was hätte sie nicht für eine einfache Mission allein gegeben?

Ein schmerzerfülltes Stöhnen breitete sich im Raum aus. Orions Hand zuckte, ließ die Handschellen klirren, mit denen sie ihn an die Liege gefesselt hatte.

Sie hatte zudem seine Augen verbunden. Magier zauberten entweder auf Berührung oder auf Sicht. Solang er sich nicht auf sie konzentrieren konnte, sollte es ihm schwer fallen, einen Zauber auf sie zu legen Auch wenn er nicht kompetent war: Sie wollte nichts riskieren. Gegen einen Zauber half auch ihre Weste nicht viel.

Langsam wurde Orion sich seiner Situation bewusst. Er spannte die Arme an, kämpfte gegen die Handschellen an. Sie hatte zwei Paar verwendet. Eins links, eins rechts.

Jetzt strampelte er mit seinen Beinen. „Fuck“, murrte er.

Das war wohl ihr Stichwort.

Sie stellte den Kaffee auf dem Schreibtisch neben der Zimmertür, an dem sie gesessen hatte, stand auf. „Guten Morgen, Orion.“ Einen leicht zynischen Unterton konnte sie sich nicht verkneifen.

Er hielt in seiner Bewegung inne, legte dann den Kopf auf die Seite, als wollte er sie erspähen. „Pakhet?“

Sie antwortete nicht.

Er knurrte. „Fuck. Bitch. Fick dich, Bitch.“

„Ich sehe, deine Manieren sind immer noch nicht besser geworden“, erwiderte sie.

„Was hast du gemacht? Verfluchte Hure, mach mich los!“

Sie kam nicht umher leicht zu grinsen. Ein sadistischer Teil ihrer Selbst genoss diese Situation. „Deine Flüche verbessern deine Situation nicht, mein Lieber.“

„Was willst du denn von mir?“

„Ah, ich sehe, du kommst direkt zum Punkt“, antwortete sie. Sie seufzte und griff nach ihrer Pistole, die noch immer in dem Holster an ihrem Gürtel hing. „Was ich will, ist relativ leicht.“

Wieder knurrte er, wartete aber auf ihre nächsten Worte.

„Zum ersten will ich wissen, was heute Nachmittag passiert ist.“ Sie sprach langsam, beobachtete seine Körperhaltung dabei. Auch wenn sie ihn nicht für fähig hielt und die Benommenheit von der Betäubung es schwerer für ihn machen sollte, sich zu konzentrieren, war es nicht auszuschließen, dass er sich mit Magie befreite. „Warum hast du die Leute erschossen?“

„Das geht dich nicht an, verfickte Hure“, erwiderte er.

Sie hob ihre Waffe, zog die Sicherung langsam zurück, auf die Art, dass auch er das Knacken deutlich würde hören können.

„Mach mich los!“, versuchte er es noch einmal.

Pakhet hatte nicht vor ihn zu erschießen, doch das musste er nicht wissen. Probehalber hob sie die Waffe, richtete sie in seine Richtung. Konnte er es wahrnehmen?

Einige Sekunden verstrichen. Ein lautes Tock verkündigte, dass eine weitere Minute verstrichen war.

„Okay, verdammt“, knurrte er schließlich. „Ich habe Schulden bei den Palazzolo. Wenn die mitbekommen, dass ich hier bin ...“

„Dann werden die dich umbringen lassen?“, schloss Pakhet.

Ein wütendes Schnauben. „Aber ich nehme an, jetzt wissen sie es. Dank dir, Bitch.“ Er atmete einige Male tief durch, ehe er in Frustration aufschrie. „Fuck!“

Nun, diese Information kam ihr entgegen.

Das sollte die folgende Aufforderung leichter machen.

„Nun“, sagte sie nüchtern, „ich denke, dann können wir uns darauf einigen, dass es besser für uns beide ist, wenn du Kapstadt verlässt. Was denkst du?“

Ein weiteres Stöhnen. Er knurrte. Irgendwie erinnerte er mehr an einen Hund, als einen Magier. Doch was wusste sie schon. Vielleicht war er ja von einem Hundegeist besessen. „Fick dich, Bitch?“

Sie verdrehte die Augen, auch wenn er es nicht sehen konnte. Sie wusste bereits, dass sie das hier gewinnen würde. Er musste hier weg.

Vorsichtig legte sie die Mündung der Waffe auf seine Stirn. „Orion. Du hast genau drei Möglichkeiten: Entweder du bleibst, gehst mir weiter auf den Senkel und wartest, bis ich genug habe und dich töte. Oder du bleibst, bis dich die Palazzolo finden oder dich irgendwer“ - wahrscheinlich sie selbst - „an sie verrät. Oder du nimmst deine Beine sprichwörtlich in die Hand und verduftest. Geh nach Joburg. Geh irgendwohin. Mir egal wohin. Versuch es da noch mal von vorne. Aber geh.“

Er bewegte den Kopf weg, als er die Kälte des Metalls spürte. Die Oberlippe wütend hochgezogen und den Kiefer angespannt, schwieg er für eine Weile.

Tock. Eine weitere Minute.

„Orion“, flötete sie. „Was sagst du?“

Er schnaubte wütend, fauchte. „Ganz wie du willst, Hure. Aber sei dir dessen bewusst ...“

„Dass ich mir einen Feind gemacht habe, den ich fürchten sollte?“, ergänzte sie und lachte. „Glaub mir. Du bist nicht der erste.“

[30.04.2011 – S02 – Ersatz]

„Du weißt, dass ich dir nicht glaube“, meinte Smith und seufzte, wenngleich seine Stimme amüsiert klang.

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Das erwarte ich auch nicht von dir. Du musst es einfach nur so dokumentieren.“ Sie sah ihm fest in die Augen, bis er den Kopf schüttelte und sich wieder dem Computerbildschirm zuwandte.

Sie hatte ihm bereits zum zweiten Mal ihre Geschichte über den vermissten Orion dargelegt: Er hatte die Stadt verlassen, weil er von der Mafia verfolgt wurde.

Es war nicht einmal eine Lüge. Er hatte die Stadt verlassen und er wurde von der Mafia verfolgt. Einzig die Kausalität war nicht so gegeben, wie sie es dargestellt oder zumindest impliziert hatte. Vielmehr mochten es Drohungen ihrerseits, ihn an den Mob auszuliefern, gewesen sein, der ihn dazu bewegt hatte, die Stadt zu verlassen.

„Ob du es glaubst oder nicht: Das habe ich schon“, erwiderte er. „Es ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl.“ Sein Blick verharrte auf ihrem Gesicht. „Du wirst mir nicht erzählen, was wirklich passiert ist, oder?“

„Nein“, antwortete sie. „Aber wenn es dich beruhigt versichere ich: Er lebt noch und hat noch alle Finger.“

Smith nickte. Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen. „Nun, du wirst dich freuen, dass ich bereits einen Ersatz für den guten Orion gefunden habe.“

„Aha?“, fragte sie. Sie seufzte. Sie war froh gewesen, die Anzahl der Idioten um eins reduziert zu haben. Doch wusste sie auch, dass Smith ein funktionierendes Team haben wollte. Ein funktionierendes Team, in dem alle wichtigen Rollen gefüllt waren. Wenngleich sie nicht sicher war, was überhaupt Orions Rolle gewesen war.

„Ja.“ Er lächelte. „Ein magischer Conartist namens Murphy.“

„Conartist, eh?“, meinte sie. Klang nicht besonders vielversprechend. Schon gar nicht in Kombination mit Magier. Diese waren ihr nie ganz geheuer.

Smith sagte nichts, sondern schob ihr das Tablet hin, während er selbst wieder auf den Bildschirm sah.

Sie schaute drauf. Zu sehen war ein junger Mann, um die 20. Hellhäutig, sommersprossig, dunkelhaarig. Er zeigte ein weites, gewinnendes Lächeln, das sie in erster Linie an Michael erinnerte. Musste sie sich das wirklich antun?

In den Daten zu ihm fand sie eine Auffälligkeit: „Alter: Unbekannt.“ Was hatte das zu heißen? Normalerweise schätzte Smith das Alter. Irgendetwas sagte er ihr noch nicht und sie ahnte, dass sie es – was auch immer es war – nicht mögen würde.

Als sie das Tablet zurückschob, räusperte sich Smith. „Er kann erst in zwei Wochen bei uns anfangen. Was etwas spät ist, aber wir können daran nichts machen. Er braucht körperliches Training.“

„Okay.“ Das brauchten sie doch alle. Na ja, jedenfalls ein Großteil der Chaoten.

„Hast du Mr Forrester schon davon erzählt?“, fragte Smith.

„Von Orion?“ Sie schürzte die Lippen, schwieg.

Smith ließ ein leises Lachen hören. „Habe ich mir schon gedacht. Ich denke mir was aus, ja?“

Pakhet schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Danke.“

[03.05.2011 – D05 – Auftrag]

Interessiert schaute sie über Heidensteins Schulter, während er die beiden Einzelteile, die er vorbereitet hatte, zusammenschraubte.

Er spannte eine Feder nach und zeigte ihr dann die mehr oder minder fertige Waffe. „Es wundert mich noch immer, dass du so etwas nie gemacht hast“, meinte er, während sie die Pistole in der Hand abwog.

„Ich weiß, wie ich übliche Waffen, die aufgeteilt transportiert werden, zusammensetze“, antwortete sie. „Das reicht.“ Immerhin war es nicht eine gängige Fähigkeit – auch unter Söldnern nicht – aus ramponierten Einzelteilen verschiedener Waffen wieder eine funktionierende zusammensetzen zu können. Schon gar nicht aber, war es ein Standard, neue Waffen entwerfen zu können.

„Das sagt jemand, der sein Auto beinahe komplett selbst gebaut hat“, meinte Heidenstein amüsiert. Auf ihren Blick hin, lachte er leise. „Ja, es ist mir aufgefallen.“

Pakhet zuckte mit den Schultern. Dann lächelte auch sie matt. „Vielleicht habe ich bisher einfach keinen Lehrer gefunden.“

Er schenkte ihr einen Vielsagenden Blick. „So?“ Damit streckte er die Hand aus, um die Waffe entgegen zu nehmen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal eine Schülerin hätte.“

Sie verdrehte die Augen und setzte sich neben ihn.

Sie waren in dem kleinen Werkraum, der ebenfalls im Keller des Krankenhauses war – selbst wenn dies sicher keinen Hygieneanforderungen entsprach. Es war ein kleiner Raum, der ursprünglich einmal als Abstellraum gedient haben musste, nun aber eine Werkbank, einen Werkzeugschrank, zwei einfache Hocker und einen Safe beherbergte.

Blasses Licht flutete von einer Neonröhre an der Decke.

„Nein, aber ernsthaft, Doc“, meinte Pakhet, „wie hast du das gelernt? Oder eher, warum? Als Arzt nicht unbedingt eine übliche Fertigkeit.“

Sein Lächeln wirkte geheimnisvoll, als er sich ihr mit verschränkten Armen zuwendete. „Sagen wir es einmal so: Ich bin ein viel bereister Mann. Und habe auf meinen Reisen die ein oder andere nützliche Sache gelernt.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Du weißt, dass ich einfach jemanden beauftragen könnte, es herauszufinden.“

„Aber das würdest du nicht tun“, stellte er sachlich fest. „Es würde mein Vertrauen verletzen.“

„Und du glaubst, dass mir daran etwas liegt? Ich meine, ich bin eine hartgesottene Söldnerin.“

„Ja“, erwiderte er. „Ja, ich denke, dass dir etwas daran liegt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich könnte auch Leute befragen, was es mit deiner Prothese auf sich hat, aber ich tue es nicht.“

Sie ließ ein Stöhnen hören, bemüht es gen¬ervt klingen zu lassen. Es klang wie ein halbes Lachen. „Idiot“, murmelte sie und fragte sich gleichzeitig, wie es dazu gekommen war, dass sie so mit ihm redete. Sie verbrachte für gewöhnlich keine Freizeit mit ihren Kollegen, doch die Neugierde hatte am Ende gesiegt. Sie hatte wissen wollen, wie zur Hölle er die verdammte Waffe gebaut hatte und hier saßen sie und unterhielten sich.

Er war angenehme Gesellschaft. Intelligent. Teilte ihren Humor.

„Ja ja, ich bin ein Idiot“, murmelte er amüsiert. Er grinste, schürzte die Lippen und dachte über irgendetwas nach. Dann räusperte er sich und betrachtete. „Sag einmal, Pakhet“, meinte er.

Als er den Satz nicht fortführte, hob sie eine Augenbraue. „Ja?“

Noch einmal räusperte er sich. „Du kennst Mr Smith und Mr Forrester schon länger, nicht?“

„Relativ lang, ja“, bestätigte sie. Sie arbeitete für Michael, seit sie Pakhet war.

„Gut.“ Er überlegte kurz, ehe er seine Gedanken in Worte fasste. „Wie sieht es aus, wenn ich selbst einen Auftrag an die Firma vermitteln wollte  … Könntest du mir dabei helfen?“

„Sicher“, antwortete sie und runzelte die Stirn. Das war eine Anfrage, mit der sie nicht gerechnet hatte. „Woran hattest du gedacht?“

Er lächelte verlegen, sah sie dabei jedoch mit seltsam durchdringendem Blick an. „Ganz genau weiß ich es noch nicht“, erwiderte er nach kurzem Schweigen. „Es ist so  … Der Leiter von diesem Krankenhaus hat Interesse, bestimmte Forschungsunterlagen zu bekommen und ich habe angeboten danach zu fragen.“

„Also wäre es nicht dein Auftrag?“ Misstrauisch beobachtete sie ihn. Etwas an seinen Worten wirkte auf sie verdächtig. Sie wusste jedoch nicht sicher, was es genau war.

„Sozusagen“, antwortete er. „Ich hatte die Hoffnung, dass man, wenn die Chaostruppe speziell beauftragt wird, einen Nachlass aushandeln könnte.“

Bei Michael? Sicher nicht. „Ich glaube nicht, dass das geht“, erwiderte sie.

„Man könnte es versuchen.“ Er zuckte mit den Schultern. „So oder so. Kannst du Smith und Forrester deswegen ansprechen?“

Sie verschränkte die Arme, nickte aber. „Ich werde mein Möglichstes tun.“

„Danke.“

Pakhet wandte sich den unsortierten Waffeneinzelteilen zu, die auf der Werkbank vor ihnen lagen und seufzte. Sie war sich noch immer nicht sicher, was sie über ihn denken sollte. Heidenstein. Denn ein Teil von ihr kam nicht umher, davon auszugehen, dass er ihre Verbindung zu Michael und Smith ausnutzen wollte. Seine Frage gerade schien sie zu bestätigen. Die Tatsache, dass Vory in seiner Klinik ein uns ausgingen, machte ihn verdächtiger.

Als sie begann, sich die Teile herauszusuchen, wie sie es vorher bei ihm beobachtet hatte, seufzte er und räusperte sich erneut. „Ich hoffe, du denkst nicht zu negativ über mich.“

Verdammt. War er in Gedankenleser? „Nein, nein“, murmelte sie und lächelte matt. „Ich denke nur, dass du ein verdammter Idiot bist.“

Er lachte auf. „Gut.“ Sein Lachen erfüllte für einen Moment den Raum. „Dann ist gut.“ Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, als sein Handy klingelte. Ein weiterer tiefer Luftzug, ehe er abhob. „Ja? Doctor Heidenstein hier.“ Kurz herrschte Stille, während eine für sie kaum hörbare Stimme etwas am anderen Ende der Leitung sagte. Heidenstein wurde ernst und stand auf. „Da? Adin mament.“ Mit wenigen Schritten war er bei der Tür und trat hindurch.

Pakhet runzelte die Stirn. Wenn sie nicht vollkommen irrte, war das Russisch gewesen. Er konnte also auch Russisch. Aber wer würde ihn auf Russisch anrufen? Wenn nicht ein russischer Mafioso.

Wahrscheinlich nur ein Patient. Vielleicht hatte er einen Versorgungsvertrag.

Oder  …?

Ach, jetzt fing sie schon an, Verschwörungstheorien zu entwickeln.

Sie schraubte weiter an den Einzelteilen, bis Heidenstein in das Zimmer zurückkam. Er blieb unsicher in der Tür stehen und schaute sie an. „Ich fürchte, ich muss gehen.“

Sie betrachtete ihn. „Notfall?“

Er zögerte. „Auftrag.“

„Von der Firma?“

Heidenstein schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. „Ein Freund von mir hat eine Bitte.“ Ein weiteres Zögern. „Ich könnte Hilfe gebrauchen.“

War das sein Ernst? „Was für ein Auftrag? Und was für ein Freund?“

„Sein Name ist Viktor“, erwiderte Heidenstein. „Und es geht um ein paar Mädchen, die verschwunden sind.“

Mädchen? Ihr Gehirn brauchte einen Augenblick, um diese Information zu entschlüsseln. „Prostituierte?“

Wieder schürzte er die Lippen, nickte aber.

„Fuck“, flüsterte sie und verfluchte ihr Leben. Es konnte auch nie einfach sein.

[04.05.2011 – R02 – Mittagspause]

„Du wirkst müde“, stellte Robert fest und fixierte sie über seinen Schreibtisch hinweg.

Sein Büro war das absolute Gegenteil von dem Michaels: Klein und vollgestopft mit Kram. Sein Schreibtisch war ein billiges IKEA-Modell, über den allerhand Papierkram verteilt lag. Er sollte dringend wieder aufräumen.

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Es war eine anstrengende Nacht.“

„Ah.“ Roberts Stimme klang ausdruckslos. Er wollte nicht über ihren Job reden.

„Ich habe nur einem Freund ausgeholfen“, meinte sie matt, um ihn zu beruhigen. Sie lächelte ihn über die Plastikschüssel Salat, die sie sich mitgebracht hatte, während sie für ihn Pommes und Burger geholt hatte, an. „Mehr nicht.“

„Oh“, meinte Robert und tunkte gedankenverloren eine Pommes in den Ketchup, als er auf einmal die Stirn runzelte. „Freund?“

Pakhet räusperte sich. „Kollegen“, verbesserte sie sich rasch.

Robert musterte sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugierde. „Wer?“

„Willst du das wirklich wissen?“, erwiderte sie nüchtern und pikste weitere Salatblätter und ein Stück Tomate auf ihre Gabel.

Es war Mittagspause. Für sie und für ihn. Eigentlich hatte sie gedacht, sie täte Robert und sich einen Gefallen, wenn sie bei ihm vorbeischaute – der einen Person, von der sie halbwegs sicher war, dass er sie nicht verraten würde. Jetzt bereute sie es fast. Robert kannte sie zu gut.

Die letzte Nacht war chaotisch gewesen. Sie hatte Heidenstein begleitet. Sie hatten die Mädchen gefunden und waren dabei halb in einen verdammten Turfwar hinein geraten. Was heißt halb? Sie hatten sich eine Schießerei mit einer Gang geliefert, die der Meinung gewesen waren, der Gang des besagten Viktors Turf streitig machen zu können. Wobei Pakhet beinahe sicher war, dass die „Gang“ Viktors eigentlich Teil der Vory v Zakone war, der russischen Mafia. Jedenfalls waren auch die Mädchen russisch gewesen und Pakhet fragte sich, ob sie überhaupt freiwillig hier waren. Sie hatten froh gewirkt, gerettet zu werden, aber das konnte viel bedeuten.

„Joanne?“, fragte Robert lauter und riss sie damit aus ihren Gedanken.

„Entschuldige“, meinte sie mit einem müden Lächeln auf den Lippen und aß weiter.

„Du bist heute sehr komisch, weißt du das?“, fragte er.

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, es war eine anstrengende Nacht.“

Robert schüttelte verständnislos den Kopf. „Du hast aber nicht  …?“ Er ließ die Frage offen ausklingen, so dass sie für einen Moment brauchte, um die Implikation zu verstehen.

Da war eine Spur von Wut aus seiner Stimme zu hören. „Nein“, erwiderte sie mit Nachdruck. „Sicher nicht.“

Robert sah sie an. Nun war es er, der mit den Schultern zuckte.

[06.05.2011 – D06 – Überraschungen]

Nervös blickte Pakhet zur Straßenecke, dann wieder in den Rückspiegel, wo der trotz seiner dunklen Haut blass wirkende Mann in seinem teuren, dreckigen Anzug saß. Er wirkte verängstigt und gleichzeitig wütend.

„Nun fahren Sie endlich!“, forderte er – übrigens nicht zum ersten Mal.

Sie sagte nichts, wartete, sah wieder zur Straßenecke. Wo blieb er? Verdammt. Heidenstein. Wahrscheinlich hätte sie ihn nicht mitnehmen sollen. Nein, sie hätte ihn nicht zurücklassen sollen, hätte nicht auf ihn hören sollen.

Wieso waren sie nur zu zweit?

Sie saß in ihrem Wagen. Der kanariengelben Chimäre, die sie über die Jahre hinweg mit Robert zusammengebaut hatte. Es wäre unmöglich gewesen zu sagen, von welcher Marke er war, da sie diverse Teile aus anderen Wagen zusammengeräubert hatten. Die kanariengelbe Lackierung gab dem Wagen seinen eigenen Charme. Sie war absolut auffällig – weshalb niemand erwarten würde, dass es damit etwas Seltsames auf sich hatte. Immerhin verwendeten die meisten Verbrecher weiße Transporter oder schwarze Mercedes, nicht?

Die Straßenlaterne an der Ecke flackerte. Halb rechnete Pakhet damit, dass sie ganz ausgehen würde, doch erholte sich die Lampe nach einigen Sekunden und strahlte wieder anhaltend. Dabei war es nicht ungewöhnlich, im Sprawl ganze Straßen ohne Lampen zu haben.

Wieder schaute sie in den Rückspiegel. Ja, wenn er wirklich ein ernsthafter Geschäftsmann war, war sie die Königin von England. Drogenboss? Waffenhändler? Was auch immer  … Eine Sache war er sicher: Ein absoluter Feigling.

„Wenn Sie nicht fahren, dann  …“, fuhr er sie an und richtete sich etwas auf.

„Dann was?“, fragte Pakhet.

Der Mann biss sich auf die Unterlippe und fiel wieder in den Rücksitz zurück.

Da. Endlich. Eine Gestalt hastete um die Ecke. Allem Anschein nach war es Heidenstein. Zumindest trug die Gestalt dieselbe feste Jacke, die Heidenstein trug und schien die richtige Größe zu haben.

Sie startete den Wagen. Wartete.

„Sie werden nicht sein Leben über meine Sicherheit stellen!“, rief der Mann aus.

Erneut schenkte sie ihm nur einen entgeisterten Blick über den Rückspiegel. „Entspannen Sie sich. Es scheint nicht, als würde er verfolgt. Es gibt keine konkrete Gefahr für Sie.“ Hatte Heidenstein es geschafft, die Eloko loszuwerden? Hatte er sie getötet? Denn Pakhet war sich nicht sicher, ob seine Betäubungsdarts gegen Fae wirkten. Zur Hölle, was hatte Mr Ungeduld überhaupt mit Fae am Hut gehabt?

Heidenstein hatte den Wagen fast erreicht, umrundete nun die Kühlerhaube.

Pakhet öffnete ihm die Tür und er ließ sich mit einem unterdrückten Stöhnen auf den Beifahrersitz fallen. Jetzt erkannte sie warum: Der Schaft eines Pfeils ragte aus seiner Schulter. Das Geschoss hatte ihn sehr hoch getroffen und steckte nicht tief. Dennoch konnte sie Blut glitzern sehen.

„Was ist passiert?“, fragte sie, während sie losfuhr.

„Nichts weiter“, erwiderte er. Er biss die Zähne zusammen, griff nach dem Schaft, schloss die Augen und zog den Pfeil mit einem Ruck aus seiner Schulter hinaus. Ein leises Keuchen kam über seine Lippen. „Fuck.“

„Du fluchst?“

„Jeder flucht mal“, antwortete er, die Augen noch immer geschlossen.

„Blut mir nicht die Sitze voll“, meinte sie scherzhaft und warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, ehe sie sich wieder auf die Straße und speziell darauf konzentrierte, dass ihr nicht ein weiterer Eloko auf die Fahrbahn sprang. Was wusste sie, woher die Viecher auftauchen konnten?

Heidenstein hatte weiterhin die Zähne zusammengebissen. „Ich bemühe mich.“ Damit legte er die Hand gegen seine Schulter. Als sie ihm den Blick erneut zuwandte, wirkte er etwas entspannter.

Heilmagie? Es sah ganz danach aus. Also war der gute Doc auch noch ein Magier? Ein echtes Überraschungspaket. Sie sagte jedoch nichts.

„Ihre Firma hat uns beauftragt, sie im Parkhaus abzuliefern“, erklärte sie stattdessen ihren missmutigen Fahrgast, der mit den Schultern zuckte.

„Gut.“

Ein richtiger Charmeur.

Sie schürzte die Lippen und wandte die Augen wieder der Straße zu. Jetzt gab es kaum funktionierende Straßenlaternen zu beiden Seiten der Straße. Also sollte sie besser aufpassen, dass ihr keine kleinen Kriecher auflauerten. Wenn es keine Fae waren, konnte es auch anderer Kram sein.

Ihr Blick wanderte über die kleinen, halb zerfallenden Häuser des Sprawls, und andere Unterkünfte, die nicht einmal wirkliche Häuser waren. Kaum jemand war draußen. Wegen den Fae? Oder lief aktuell noch etwas anderes, wovon sie nicht wusste?

Es konnte ihr egal sein, solange es sie nicht aufhielt. Und es hielt sie nicht auf.

Sie erreichte das Parkhaus des alten Einkaufszentrums, das seit langem leer stand und allerhöchstens von Squattern genutzt wurde. Auch hier brannten die Lampen, die einst auffahrt und Parkflächen erhellt hatten, nicht mehr und so war ihr Sichtfeld gänzlich auf den Lichtkegel der Scheinwerfer eingegrenzt.

Dennoch kam sie zur dritten Ebene von vier und fuhr, wie im Auftrag beschrieben, um das halbe Parkhaus herum, um einen alten, grünlich grauen und stark angerosteten Van am Ostende zu finden.

Der Wagen hatte Schiebetüren an den Seiten und gesamt fünf Leute lungerten – drei von ihnen dunkelhäutig, die anderen beiden hell – um das Fahrzeug herum. Zwei saßen an der offenen Seitentür, rauchten, einer lehnte an der Haube, einer am Heck, der andere Stand daneben. Sie alle sahen zu ihnen.

Es war recht klar, welcher der fünf der Anführer war. Derjenige, der nicht gegen den Wagen lehnte, trug eine recht schmucke Jacke und Pakhet erkannte außerdem einen schmucken Siegelring an seiner Hand. Definitiv ein Mitglied von einer der vielen Flat-Gangs. Vielleicht auch Mafia.

Dieses Empfangskomitee gefiel ihr so gar nicht.

„Sieht aus, als würde man Sie schon erwarten“, meinte sie.

Der Mann nickte und zögerte.

Mit einem genervten Stöhnen öffnete sie die Fahrertür und stand auf, um die Hintertür aufzureißen. „Komm, lass uns Feierabend machen, ja?“

„Ihnen fehlt grundlegender Respekt“, erwiderte der Mann, ganz so, als wäre er Adel.

Sie verdrehte die Augen. „Respekt ist ein Luxus, den man sich verdienen muss“, zischte sie und packte ihn beim Arm, um ihn aus dem Wagen zu ziehen. Sie wandte sich den Typen mit dem Van zu. „Ich nehme an, er gehört zu Ihnen?“

„Sehr wohl“, erwiderte der Typ mit der guten Jacke. Er schenkte ihr ein Lächeln, das so falsch wie das Michaels wirkte.

Auf irgendetwas schien er zu warten.

Sie starrte ihn an. „Was?“

„Bezahlung?“, meinte der Kerl.

Sie hob eine Augenbraue. Fuck, darüber hatte sie nicht nachgedacht. Wenn sie große Aufträge machten, erfolgten die Bezahlungen online. Bitcoins. Lokale Ganger legten aber selten Geld in Bitcoins an. Wieso hatte ihr Michael nichts gesagt? Viel mehr noch: Wieso fühlte es sich wie eine verdammte Falle an?

Sie holte ihr Handy heraus und schrieb eine kurze Nachricht an Michael. „Was zur Hölle? Keine Vorbezahlung?“ Mit der Prothese hielt sie Mr Ungeduld zurück, der sich offenbar doch entschlossen hatte, zu seinen Kumpanen hinüber zu gehen.

„Was is' los, Snow?“, meinte das Grinsegesicht mit der schmucken Jacke.

„Moment“, grummelte sie zur Antwort. Normal brauchte Michael nicht mehr als zwei Minuten für eine Antwort. Weniger, wenn es um Geld ging.

Immer wieder sah sie zu den Gangern hinüber. Sie wollte darauf vorbereitet war, wenn jemand auf sie schoss. Sie hasste das Gefühl, dass es wie eine Falle wirkte. Ach, verdammt. Sie machte den Job lang genug. Es war eine Falle. Sie wusste es. Daran änderte es auch nichts, als ihr Handy knappe dreißig Sekunden später vibrierte und eine Nachricht auftauchte: „Nope. Eilauftrag. Ich wäre dir verbunden.“

„Fick dich, Michael.“ Seufzend funkelte sie die Nachricht an, ehe sie ihren geretteten „VIP“ mit der linken Hand griff. Sie hoffte, dass ihn das Gefühl des harten Metalls unter ihrer vermeintlichen Haut verunsicherte.

Der Mann warf ihr einen kühlen Blick zu, ließ sich aber eskortieren, während sie den Boss der anderen Ganger im Auge behielt, während dieser ein Bündel Scheine aus seiner Innentasche hervorholte.

Bargeld! Michael hasste Bargeld. Sie hasste Bargeld.

Sie blieb knapp zwei Meter vor dem Typen stehen und hielt seinen unfreiwilligen Kompagnon zurück. Eine Hand streckte sie dem Typen entgegen in einer eindeutigen Geste.

Er lächelte sie an und legte das Scheinbündel in ihre Hand. Sie nahm es entgegen, schätzte es ab. Es waren 200-Rand-Scheine und eine nicht unerhebliche Menge davon. Wenn sie nicht vollkommen irrte, waren es etwa achttausend Rand. Internationale Jobs zahlten besser.

„Gut“, knurrte sie und schubste Mr Ungeduld vor.

Dass die vier herumstehenden Ganger ihre Waffen zogen, wunderte sie nicht. Sie hatte damit gerechnet.

Der erste von ihnen – einer der Beiden, die in der hinteren Tür gesessen waren – war nur knapp eineinhalb Meter von ihr entfernt. Sie war bei ihm, noch bevor er zielen konnte, schlug seine Waffe mit dem linken Arm zur Seite und versetzte ihm einen Kinnhaken mit dem rechten.

Er knallte mit dem Hintertür gegen die Tür des Wagens und ging zu Boden. Nicht ohnmächtig, aber desorientiert genug, als dass sie seine Waffe unter den Minibus kicken konnte.

Sie war hinter dem Typen, der sie bezahlt hatte, versetzte ihm einen Tritt in die Kniekehlen und schubste ihn nach vorne, während die drei anderen die Waffen gehoben hatten.

Zwei von ihnen waren zu ihrer Linken, einer zu ihrer Rechten, am Buk des Wagens. Im Bruchteil einer Sekunde traf sie die Entscheidung, ihn zu priorisieren. Er schoss, doch wie viele Ganger priorisierte er viele Schüsse über Genauigkeit.

Es war wenig verwunderlich, dass die ersten beiden Schüsse zu hoch waren, zumal er seine beiden Kollegen hinter ihr nicht treffen wollte. Mehr als zwei Schüsse schaffte er nicht, ehe sie bei ihm war und seine Waffe erneut mit einem Rückhandschlag der linken Hand zur Seite wischte.

Ein weiterer Schuss traf den Wagen, dann drehte sie die Hand, legte die Rechte nach und riss die Waffe nach vorn, während sie erst gegen die Innenseite seines Knie trat und ihm schließlich das eigene Knie im Magen versenkte.

Unwillkürlich ließ er die Waffe los und sie riss sie ihm aus der Hand. Sie setzte einen Schuss in sein Bein, ehe sie um das Buk des Wagens lief, als die Kugeln von hinter ihr flogen.

Sie ging in die Hocke, sah um die Haube des Wagens herum, um zu sehen, wie die beiden Typen mit erhobenen Waffen auf sie zu kamen.

Auch ihr verdammter geretteter VIP hatte sich eine Waffe geschnappt – von wo auch immer er die hatte. Arschloch. Sie hatten ihm sein verfluchtes Leben gerettet!

Generell war diese Aktion deutlich unüberlegt. Ein paar halbstarke Gänger, die meinten, sich einen Dienst erschleichen zu können, indem sie den Beauftragten ermordeten. Wussten sie nicht, dass Leute wie Michael ihnen das Leben zur Hölle machen würden?

Da fiel der nächste.

Pakhet erkannte einen Pfeil in seinem Nacken.

Sie sah zu Heidenstein, der mit erhobener Waffe bei ihrem Wagen stand, halb hinter diesem in Deckung.

Er schoss wieder, traf ihren eben noch geretteten Mr Ungeduld in den Nacken.

Sie schoss mit der dem Ganger abgenommenen Waffe, zielte auf den Arm des Typen, der sie gezahlt hatte und sich wieder berappelte.

Er schrie auf, als sie ihn traf, holte aber dennoch eine Waffe unter seiner Jacke hervor und zielte auf sie. Das war eine halbautomatische.

Schnell verschwand Pakhet wieder hinter der Kühlerhaube. Sollte er doch seinen eigenen Wagen zerschießen! Sie kroch um den Wagen herum, um den letzten Typen von hinten erwischen zu können, sofern Heidenstein es ihr nicht abnahm.

Während sie lief tauschte sie die Waffe gegen die Pfeilpistole aus.

Sie lugte hinter dem Wagen hervor.

Da war Nr. Fünf.

Sie beschloss zu probieren, ob die Darts Jeansstoff durchdringen konnten und zielte auf sein Bein. Dann drückte sie ab.

Der Pfeil bohrte sich in sein Bein und entlockte ihm einen kurzen Aufschrei. Er fuhr zu ihr herum, hob seine Waffe, schoss.

Pakhet duckte wieder in Deckung, während ein zweiter Schuss folgte. Ein dritter. Dann ein verwirrtes Stöhnen.

Auch die anderen Schüsse verklangen.

Sie schloss die Augen und zählte bis zwanzig, ehe sie um den Wagen herumkam.

Die Ganger lagen am Boden. Entweder KO oder zumindest unfähig sich zu rühren. Derjenige, den sie als erstes entwaffnet hatte, sah sie mit unfokussierten Augen an.

„Fick dich, Boer“, lullte er.

Pakhets Blick wanderte zu Heidenstein, der von seiner noch immer angeschlagenen Schulter abgesehen unverletzt schien, auch wenn sie die Spuren von zwei Kugeln in der Tür ihres Wagens sehen konnte. Sie nickte ihm zu, er erwiderte das Nicken.

Dann blickte sie zu dem Ganger und verdrehte die Augen. „Ich bin Amerikanerin.“ Die Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen.

Sie nahm das Geld aus ihrer Tasche, entrollte das Bündel und überprüfte es. Es schien zumindest echt zu sein. Also zuckte sie mit den Schultern und eilte zum Wagen zurück.

Sie merkte, wie Heidenstein zögerte.

Dann aber nickte er und stieg mit ihr in den Wagen ein.

[08.05.2011 – M01 – Plangemäß]

„Ich weiß nicht, was du hast“, meinte der junge Mann mit lauter Stimme, da er gegen den durch die Einschusslöcher pfeifenden Wind anschrie. „Ist doch alles bestens.“

„Ja, glorreich“, grummelte Pakhet und fragte sich, warum er überhaupt in ihrem Auto saß.

Der junge Mann war Murphy, der magische Conartist. Er grinste und war bester Laune, während ihr Wagen aktuell in Konsistenz und Farbe Schweizerkäse glich, nachdem eine automatische Waffe es einmal seitlich erwischt hatte.

Das waren zu viele Aufträge für wenige Tage gewesen. Scheiß auf das Geld. Sie musste die Reparatur des Wagens am Ende selbst bezahlen. Es lohnte sich kaum.

Sie konzentrierte sich auf die Straße, froh um die Dunkelheit, die sich über die Straße gesenkt hatte. Sie musste es irgendwie schaffen, bis nach Kapstadt zu kommen, ohne dass jemand aufgrund des Zustands des Wagens die Polizei rief. Was für ein großartiger Tagesabschluss. Wirklich großartig.

Vielleicht sollte sie doch auf einen Minibus umsteigen. Bei denen wunderte es zumindest niemanden.

„Mach dir keine Gedanken. Im Notfall halte ich dir den Rücken frei“, versicherte Murphy.

Er hatte die Gestalt eines durchschnittlich großen, jungen Mannes mit braunem Haar, blauen Augen und heller Haut, aber sie wusste, dass es nicht viel bedeutete. Sie hatte gesehen, wie er seine Gestalt nach freiem Willen veränderte. Wenn er wollte, könnte er innerhalb weniger Minuten langes, wallendes blondes Haar haben. Wahrscheinlich konnte er seinen Körper sogar weiblich formen. Sein Aussehen war nicht konsistent und sagte damit wenig über ihn aus.

„Sicher. Wie du's draußen getan hast, hmm?“, meinte sie und spielte damit auf sein zurückhaltendes Verhalten im Kampf an. Er hatte ihnen geholfen, den vermaledeiten Vampir, den sie verfolgt hatten, aufzuhalten. Aber sobald sich herausgestellt hatte, dass der Vampir eine Waffe hatte, hatte er Deckung gesucht.

„Ich habe nur meine wichtigsten Assets beschützt“, erwiderte der junge Mann süffisant. „Kannst du es mir vorwerfen, Lady?“

„Nenn' mich nicht Lady“, grummelte sie zum dreiundzwanzigsten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte.

„Pakhet ist ein komischer Name“, kommentierte er und zuckte mit den Schultern.

Sie seufzte, verdrehte ihrem Schicksal ergeben die Augen und konzentrierte sich wieder auf die Straße, als ihr Handy, das in der an der durch ein Wunder unversehrten Frontscheibe hängenden Haltung lag, klingelte.

Heidensteins Nummer.

Sie hob ab. Das Handy war im Freisprechmodus. „Was gibt's?“

„Ich habe einen Vorschlag zu machen“, erwiderte Heidenstein's Stimme.

„Schieß' los.“

Der junge Mann neben ihr kicherte. War der Wortwitz wirklich so albern?

„Wir fahren zum Krankenhaus. Dann müssen wir mit den demolierten Wagen nicht in die Stadt reinfahren.“

Was so viel hieß, als dass sie ihren Wagen dort lassen musste. Sie mochte diesen Gedanken nicht, wusste jedoch, dass sein Vorschlag nicht dumm war. „Klingt gut, danke.“

„Krankenhaus?“, fragte Murphy.

„Er hat noch einen anderen Job“, erwiderte Pakhet. „Kennst du Straßenkliniken?“

„Du meinst, wo man mit einem Werwolfsbiss hingehen kann?“, meinte er.

Sie nickte schweigend, während sie in Gedanken die beste Route zu finden suchte. Wenn sie vom Norden kam, würde sie am wenigsten Stadtstraße fahren müssen – das hieß auch die wenigste Überwachung.

„Klar, kenn ich.“ Murphy wartete offenbar auf eine Antwort. „In sowas arbeitet er?“

Wieder war ein Nicken Pakhets einzige Antwort.

Sie hätte zu gern gewusst, wo Heidenstein mit dem Chaosmobil war – dem mittlerweile neu ramponierten Van, in dem auch Spider, Mik und der eigentlich nutzlose Hacker waren.

Missmutig schaute sie zur Tür zu ihrer Rechten, deren Glasscheibe komplett zertrümmert war, während auch das Blech von mehren Löchern geziert wurde. Die Tür würde ersetzt werden müssen. Dasselbe galt für die Hintertür auf Fahrerseite. Auch das Blech der Haube hatte einiges abbekommen. Sie würde Robert anrufen müssen. Ob sie den Wagen so lange würde am Krankenhaus stehen lassen können?

Würde der Besitzer des Krankenhauses keine Fragen stellen?

So lange sie nicht Michael bitten musste, sich für sie um die Bullen zu kümmern, war es wahrscheinlich egal.

Ach, verdammt. Das war das letzte, was sie jetzt noch hatte gebrauchen können. Als wäre ihr Job als glorifizierter Babysitter nicht schlimm genug.

[09.05.2011 – D07 – Unterkunft]

„Doc?“, rief sie den dunklen Flur hinab. „Doc?“ Sie grummelte genervt. „Hey. Heidenstein!“

Keine Antwort. War wirklich niemand hier? Verdammt.

Sie erinnerte sich daran, dass sie ein Taxi rufen konnte, doch fühlte sie sich nur bedingt wohl bei dem Gedanken, ihr ramponiertes Auto in der Garage, die eigentlich für Krankenwagen gedacht war, stehen zu lassen.

Morgen würden die Ersatzteile kommen. Dafür jedoch musste der Wagen morgen hier noch stehen.

Morgen  …

Wenn sie den Wagen nicht direkt reparieren konnten, würde sie Robert bitten müssen, sie mit zu ihrer Wohnung zu nehmen. Dann würde sie später mit ihrem Motorrad herfahren.

Morgen …

Sie blickte auf die Uhr an der Wand des Flurs, in dem nur jede zweite Lampe brannte. Es wäre faktisch heute. Es war bereits nach Mitternacht. Als hätte sie nicht schon genug Schlafmangel über die letzten Tage angesammelt.

„Doc?“, versuchte sie es erneut, ehe sie fluchte. „Fuck.“

Unschlüssig stand sie dort. Vorsichtig schlich sie zu einem der Behandlungsräume. Verdammt noch mal, sie hatte keine Lust am nächsten Morgen erst wieder mit einem verfluchten Taxi hierher zu fahren. Da konnte sie ebenso gut hier bleiben.

Wenn niemand hier war, würde sie auch niemand aufhalten.

Etwas wunderte es sie, dass es hier keine Patienten gab, die über Nacht blieben. Doch auf der anderen Seite  … Seit sie mit der Firma in der Stadt waren, hielten sich die Magier aus mehr und mehr Konflikten heraus. Das örtliche Werwolfsrudel würde Heidenstein nicht trauen. Und Kriminelle? Die blieben wahrscheinlich ungerne hier.

Was scherte es sie?

Sie durchsuchte die Schränke in dem Behandlungsraum und fand schließlich eine Wolldecke, mit der sie sich auf die Liege an der Wand legte. Besser als noch weniger Stunden Schlaf, beschloss sie und schloss die Augen, froh gelernt zu haben, in so ziemlich jeder Situation einschlafen zu können.

Das Licht ging flackernd an und ließ sie aufschrecken.

„Pakhet?“ Das war die Stimme Heidensteins.

Sie blinzelte. Mit einem Blick auf die Uhr über der Tür wurde ihr klar, dass sie bereits drei Stunden geschlafen hatte. Es fühlte sich an, als hätte sie erst gerade die Augen geschlossen.

„Guten Morgen, Doc“, erwiderte sie scherzhaft.

Ungläubig starrte er sie an. Er hatte einen Arztkittel an, so, als würde er arbeiten wollen. „Was machst du hier?“

„Ich habe geschlafen, bist du mich geweckt hast.“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen nüchternen Klang zu geben.

Mit offenem Mund starrte er sie an. „Warum hast du nicht gefragt?“

„Ich habe dich nicht gefunden und dachte, du wärst nach Hause gefahren. Da niemand da war, dachte ich, es würde niemanden stören.“

Heidenstein brauchte einen Moment um sich zu sammeln, dann seufzte er, schüttelte den Kopf. „Verstehe.“ Er lächelte matt, seufzte wieder. „Komm mit. Ich bekomm' einen Patienten. Notfall.“

„Okay“, meinte sie und stand auf. Innerlich fluchte sie. Sie war so verdammt müde.

Sie folgte ihm den Gang hinab, bemüht sich die Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Es würde sich kaum lohnen, daheim noch zu schlafen, wenn sie bald doch wieder herkommen müsste. „Ich kriege in vier Stunden Ersatzteile hierher geliefert“, erklärte sie. „Für den Wagen.“

„Wenn mit dem Patienten alles gut geht, kann ich dir helfen“, bot er an.

Sie zuckte mit den Schultern. „Danke.“

Anders als erwartet, führte er sie nicht in Richtung des Treppenhauses, sondern in die entgegengesetzte Richtung, wo sich hinter einer Biegung des Flurs die Hauptaufzüge des Krankenhauses fanden.

„Ich nehme lieber die Treppe“, meinte sie nüchtern. Er wusste es mittlerweile.

Er musterte sie wortlos, rief den Aufzug und wartete. Wie so oft, wenn er nervös war, schürzte er die Lippen.

Misstrauisch beobachtete sie ihn. „Planst du mir, eine Niere rauszunehmen?“

Er schüttelte den Kopf und versteckte die Händen in den Taschen des Kittels, als der Aufzug ankam.

Heidensteil ließ ihr den Vortritt und wählte dann, als er die metallene Kabine betrat, die oberste Etage aus.

„Was soll das?“, fragte sie und runzelte die Stirn.

„Wart's ab.“
 

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Sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich tun sollte, schwieg dennoch. Er hatte keine Waffe bei sich und sie war sich sehr sicher, dass sie ihm im Nahkampf jeder Zeit überlegen wäre. Also verschränkte sie die Arme und wartete.

Die Tür öffnete sich mit einem „Pling“ und offenbarte einen verlassenen, dunklen Flur.

Direkt bei den Aufzügen war eine Tür, die nicht aussah, als würde sie hierher, in die oberste Etage eines Krankenhauses gehören: Es war eine schwere Doppeltür, vom Modell einer Brandschutztür, mit einem Kartenschloss daneben.

Er hielt eine Karte davor und öffnete die Tür. „Du kannst hier schlafen“, meinte er dann nüchtern und beobachtete sie.

Sie runzelte die Stirn. Schon wollte sie etwas darüber sagen, dass sie sich hinter der Tür wie eine Gefangene fühlen würde, als er das Licht anmachte.

Vor ihr lag ein Zimmer, das ohne Frage – obwohl es keine Fenster hatte, da es wohl eigentlich als ein Wartezimmer gedacht war – als Wohnzimmer genutzt wurde. Da war ein Sofa, ein Wohnzimmertisch, ein Fernseher, ein Bücherregal.

Hinter dem Sofa war freier Raum, das Bücherregal schien einen Teil des Raums abzugrenzen, von dem aus zwei Türen abgingen.

Heidenstein trat zu einer von ihnen.

„Du wohnst hier?“, fragte Pakhet ungläubig. Das ergab keinen Sinn. Wer lebte in einem verdammten Krankenhaus?

Zur Antwort zuckte er mit den Schultern. „Sieh es als Gästezimmer“, meinte er, als er die Tür öffnete.

Sie sammelte sich. Was sollte sie dazu sagen? Wieso lebte er hier? Wieso erlaubte das Krankenhaus, dass er hier lebte? Es ergab keinen Sinn. Sie war zu müde. „Danke“, stammelte sie matt und musterte ihn lange.

„Kein Problem“, antwortete er und lächelte sie an. „Ich muss dich nur bitten, niemanden davon zu erzählen.“

Er meinte in der Firma. Klar. Niemand sollte wissen, wo er lebte. Hatte er auch bei Michael die falsche Adresse angegeben? Sie sollte morgen darüber nachdenken. „Klar“, erwiderte sie und ging an ihm vorbei.

Heidenstein nickte ihr zu. „Ich muss nach unten.“

Pakhet erwiderte das Nicken, sagte nichts mehr, als er die Hand zum Abschied hob und sich abwandte. Sie sah ihm nach, wie er durch die Wohnungstür verschwand und sie so in seiner „Wohnung“ allein ließ.

Er war verrückt. Vertraute er ihr wirklich?

Sie schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken und trat in den Raum hinein. Es war ein kleiner Raum, der gerade einmal Platz für ein einfaches Bett – ein Krankenhausbett – einen alten Nachtschrank und einen schmalen Schrank ließ.

Warum lebte Heidenstein hier?

Nein. Das war die falsche Frage. Die bessere Frage war: Wer zur Hölle war er?

[09.05.2011 – X03 – Heidenstein]

Pakhet hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ein Becher Kaffee stand vor ihr auf dem gläsernen Wohnzimmertisch, während sie Fernsehen schaute.

Ihre Prothese lag im Schlafzimmer, um aufzuladen, weshalb der verkrüppelte Rest ihres linken Arms nutzlos zu ihrer Seite hing.

Sie hasste es, doch sie hatte gewusst, dass der Akku der Prothese den Tag nicht überstehen würde. Leider waren die meisten Prothesen darauf ausgerichtet, maximal 24 Stunden ohne Wiederaufladen zu schaffen. Die Tatsache, dass ihre eine Hochleistungsprothese war, änderte daran wenig. Die Akkus waren zwar leistungsstärker, aber die Prothese hatte dafür auch mehr einzelne Motoren, die entsprechend mehr Strom verbrauchten.

Mit einem Seufzen sah sie dem kläglichen Armstumpf hinab, konzentrierte sie dann wieder auf den Fernseher.

Ihr Wagen stand noch immer bei Heidenstein in der Krankenhausgarage. Sie hatten einen Teil der Bleche heute wieder beheben können, jedoch nicht genug, als dass sie hätte in die Innenstadt fahren können, wo so ziemlich jeder zweite Quadratmeter von Sicherheitsfirmen videoüberwacht wurde. Natürlich war sie mitgezogen, auch wenn sie anders als ihre alten, weißen Nachbarn wusste, dass die Wahrscheinlichkeit hier in der Gegend ermordet zu werden, verschwindend gering war.

Kapstadt hatte eine hohe Kriminalitätsrate. Doch diese Kriminalität spielte sich in den äußeren Bezirken und vor allem in den Cape Flats ab.

Pakhet sah zum Bildschirm. In den Nachrichten gab es wenig Neues. Wieder war das Budget der Polizei gekürzt worden. Man hatte kein Geld. In den USA schon wieder ein Drama um das Recht Waffen zu tragen. Ein Bericht über diesen Wikipediarechtsstreit in England.

Eine Sache schwirrte ihr noch immer im Hinterkopf herum: Heidenstein.

Er war verrückt, dass er ihr gezeigt hatte, wo er lebte. Er war wirklich verrückt. Vertraute er ihr oder spielte er nur etwas vor? Mit welchem Ziel? War er wirklich so gutgläubig?

Sie war es zumindest nicht. Zwar hatte sie erlaubt, dass er sie ins Viertel fuhr, jedoch hatte sie sichergestellt, dass er sie fast einen Kilometer von ihrem Haus entfernt absetzte und hatte gewartet, dass er gefahren war, ehe sie ihren Heimweg angetreten hatte.

Sie verstand ihn nicht.

Dennoch gab es da eine andere Frage, die an ihrem Bewusstsein nagte. Wer war er? Wer zur Hölle war er, dass er in einem Krankenhaus, das nicht wirklich in Betrieb zu sein schien, lebte. Warum hatte er überhaupt eine Straßenklinik in einem Krankenhaus in den Flats? Da draußen war doch alles, was Klinik war, effektiv eine Straßenklinik. Niemand kontrollierte sie. Niemand käme auf die Idee. Man konnte da draußen keine Klinik betreiben, ohne von zumindest einer größeren Gang Schutz zu bekommen oder viel Geld in private Sicherheit zu stecken.

Aber wer war er, dass er in dem Krankenhaus lebte?

Er vertraute ihr. Sie sollte ihm nicht hinterher spionieren und trotzdem konnte sie sich kaum beherrschen.

Sie holte ihr zweites Handy heraus, das sie beinahe ausschließlich nutzte, um auf das Internet zuzugreifen. Es hatte den Vorteil, dass es sich leicht mit nur einer Hand bedienen ließ. Und so lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und legte die Füße auf den Tisch, bevor sie den Namen des Krankenhauses in die Suchleiste eingab: „Anderson Hospital, Kapstadt“.

Natürlich fand sie die Adresse des Krankenhauses. Sogar eine funktionierende Webseite. Damit hätte sie nicht gerechnet. Nicht bei einem Krankenhaus in den Flats. Doch ja, da war eine Webseite, wenngleich diese zuletzt vor einem Jahren geupdated war.

Sie zeigte das Krankenhaus und das Gelände in einem gänzlich anderen Zustand. Neuer. Gepflegter, als das was Pakhet da draußen gesehen hatte. Offenbar hatte man damals noch Geld gehabt. Oder vielleicht war es, bevor diverse Gangs die halbe Inneneinrichtung auf der Suche nach Drogen oder entsprechenden Zutaten zerlegt hatten.

Nach einigem herumklicken auf der Webseite, die den üblichen Eindruck eines Krankenhauses vermittelte, fand sie den Betreiber: Eine Pharmazeutikfirma. ABC Technologies.

Was ein einfallsreicher Name.

Kurz überlegte sie, zuckte dann sie mit den Schultern, als sie den Gedanken verwarf, dass es sich nicht lohnte.

Sie suchte nach dieser Firma. ABC Technologies.

Sie fand einen Eintrag. Eine Webseite. Ebenfalls schon seit über einem Jahr nicht wirklich geupdated. Warum?

Dennoch konnte sie einige Sachen daraus lesen: Die Firma war erst vor acht Jahren in den UK gegründet worden. Sie hatte sich auf Pharmazeutik, genauer auf Gentherapien spezialisiert. Auch investierte sie aktiv in der Forschung und in dem Aufbau einer medizinischen Infrastruktur in weniger ausgeprägten Ländern und Gegenden.

Das erklärte das Anderson Hospital.

Sie suchte weiter und stolperte über einige ältere Zeitungsartikel. Warum las sie den Kram eigentlich?

Letzten Endes konnte sie ohne ihren Arm ohnehin nicht viel tun. Training hatte keinen Sinn und es war spät. Heute würde sie auch nicht mehr arbeiten und wirklich Lust auf Fernsehen hatte sie nicht. Also konnte sie lesen.

Nach und nach setzte sich ein Bild in ihrem Kopf über die soweit kurze Geschichte der Firma zusammen. Sie war vor acht Jahren von einem Dr. Anderson gegründet worden, nachdem dieser eine neue Art der genetischen Behandlung einer bestimmten Krebsart entdeckt hatte. Dieser Dr. Anderson hatte ursprünglich bei der Konkurrenzfirma Westa gearbeitet. Trotz des stark von wenigen Firmen beherrschten Marktes, hatte es die Firma geschafft, recht schnell erfolgreich zu sein. Laut einem Marktforscher vor allem dank Investitionen in den aufstrebenden asiatischen Markt. Und dann war, vor zwei Jahren der Gau gekommen: Westa hatte Klage gegen Anderson erhoben. Er hätte Forschung von innerhalb der Firma gestohlen.

Das Gericht hatte ihnen Recht gegeben. Er hatte Wiedergutmachungen zahlen müssen. Genug, um eine mittelgroße Firma zu ruinieren. Der Grund, schloss Pakhet, für die fehlenden Updates im letzten Jahr: Die Firma hatte kein Geld mehr, viele Leute anzustellen. Wenn überhaupt jemanden.

Leider fand sie dazu keine Daten. Selbst auf Wikipedia nicht.

Dafür fand sie einen Artikel über Dr. Anderson. Der Typ war offenbar eins dieser jungen Genies. Er hatte mit 21 bereits seinen Doktortitel gehabt, hatte die Firma mit 27 gegründet. Und war dann mit 35 bereits ruiniert gewesen. Eine echte Sternschnuppe.

Sie betrachtete das Bild des Mannes. Ein veraltetes Bild von einer Messe 2007. Ein junger, energetisch wirkender Mann mit kurzem, schwarzen Haar, das bei nur wenigen Millimetern mehr kraus gewesen wäre. Er wirkte groß und für einen Arzt kräftig.

Ihr Blick glitt über seinen Lebenslauf. Er hatte nach dem Studium eineinhalb Jahre in Kenia verbracht. Sozialarbeit.

Was wohl aus ihm seit dem Ruin seiner Firma geworden war? Hatte er persönlich Heidenstein das Krankenhaus vermietet? Oder wurde es jetzt von jemand anderen verwaltet.

Ein Gedanke kam ihr. Sie musterte auf das Bild genauer und schüttelte den Kopf.

Nein. Heidenstein war zu alt. Er war mindestens fünfzig und nicht Ende dreißig.

Aber, warf eine dünne Stimme in ihrem Hinterkopf ein, es war nicht neu, dass Menschen unter enormen Stress rapide altern konnten.

Dann wiederum  … Sie hatte gesehen, wie Heidenstein Magie eingesetzt hatte und ein Magier war nicht Firmenbesitzer, oder? Ein Magier würde nicht Pharmazeutik und Medizin lernen, wenn er magisch heilen konnte. Oder?

Sie könnte ihn danach fragen. Doch dann wiederum  … Warum sollte sie? Es ging sie letzten Endes nichts an.

[16.05.2011 – S03 – Frühsport]

Pakhet war auf dem Laufband, als sich die Tür zum Trainingsraum öffnete und – zu ihrer Überraschung – Smith hereinkam.

Sie ließ sich vom Laufband nach hinten tragen und sprang ab, um ihn anzusehen. Sie konnte sich nicht davon abhalten, etwas Misstrauen in ihren Blick zu legen. „Was machst du hier?“

Smith lehnte an die Wand in dem ansonsten leeren Raum. Es war noch früher Morgen und die wenigsten neigten dazu, ihren Tag mit Sport zu beginnen. Normalerweise war auch sie um diese Zeit daheim, trainierte mit ihren eigenen Geräten, doch Heidenstein hatte sich mit ihr um halb neun treffen wollen. Deswegen war sie bereits hier.

„Ich hatte gehört, dass du schon da bist“, meinte er. „So früh sieht man selbst dich nicht hier.“

Pakhet nahm sich ihr Handtuch, wischte sich das Gesicht. „Und deswegen wolltest du ein Pläuschchen halten?“

Smith lachte. „Gut, gut. Ich hatte gestern 'ne Mail vom Doctor bekommen. Einen Auftrag. Ich nehme an das, worauf du mich angesprochen hattest.“

Zur Antwort zuckte sie mit den Schultern. „Nehme ich auch an.“

„Weißt du schon, worum es geht?“

Die Antwort war: „Nein, nicht wirklich“, aber so sagte sie es Smith nicht. Heidenstein hatte einige Andeutungen gemacht, war aber sehr zurückhaltend gewesen, wirklich darüber zu reden. „Noch nichts genaueres.“

„Er will das Team, um eine Krankenhausausrüstung zu stehlen“, erklärte Smith.

Das sollte sie eigentlich nicht überraschen. „Wahrscheinlich für seine Straßenklinik. Du weißt davon, oder?“

„Natürlich.“ Smith musterte sie. „Aber es wäre mir neu, dass eine Straßenklinik hochspezialisiertes Equipment braucht.“

Subtil war etwas anderes. Wieder zuckte sie mit den Schultern. „Wer weiß. Normalerweise hinterfragen wir die Aufträge von Kunden nicht.“

„Sicher“, meinte Smith. Er musterte sie. „Du scheinst gut mit dem Doc klarzukommen, eh?“

„Er ist intelligenter als viele andere hier.“ Sie sah zu Smith und fragte sich, ob er etwas andeuten wollte. „Das weiß ich zu schätzen.“ Dann schüttelte sie den Kopf und schaute auf die Uhr über der Tür. Es war kurz vor acht. Sie brauchte dringend den nächsten Kaffee. „Wieso?“

„Es ist mir aufgefallen“, antwortete Smith. „Und hey, du weißt. Ich sehe euch gerne als Team zusammenarbeiten. Ich finde es hat Vorteile.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn du das meinst.“ Matt seufzte sie. „Kommst du mit auf einen Kaffee?“

Erneut lachte Smith. Er schien heute wirklich gut aufgelegt zu sein. Anders als bei Michael machte es ihr bei Smith jedoch weniger Sorgen. „Liebend gerne, Madame.“

[16.05.2011 – D08 – Privatauftrag]

Der kleine Besprechungsraum im Erdgeschoss der Zentrale sah aus, wie man es wohl von einem Besprechungsraum in einem Bürogebäude erwartet hätte: Sechs schwarze Tische in einer Hufeisenform, Stühle, Projektor, weiße Wände, große Fenster, durch die Paarden und den dahinter liegenden Hafen zu sehen war. Man hätte einen ähnlichen Raum wohl in diversen Bankfilialen und Computerfirmen gefunden.

Allerdings wurden weder in Bankfilialen, noch in Computerfirmen Überfalle, Entführungen, Morde oder auch nur groß angelegte Sicherheitsoperationen oder Gangraids geplant.

Wenn Pakhet den Worten Smiths Glauben schenkte, würden sie hier einen Überfall planen.

Heidenstein war bereits da. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Aktenkoffer, aus dem er einige Papiere hervorholte. Er war etwas fahrig, wirkte nervös.

Als er sie nicht bemerkte, räusperte sie sich.

„Ah, Pakhet. Du bist schon da“, meinte er und stand auf.

Sie hob eine Augenbraue und sah auf das Papier. Es schienen Zeit- oder Fahrpläne zu sein. „Ich bin schon seit zwei Stunden hier“, antwortete sie.

„Früher Vogel, eh?“ Er zwinkerte ihr zu und brachte sie damit dazu, die Augen zu verdrehen.

Sie zog den Stuhl neben ihn bei Seite und setzte sich. „Du willst also wirklich die Chaostruppe engagieren, eh?“

„Das war der Plan, ja“, meinte er. „Chaostruppe plus eins.“

„Plus eins?“

Heidenstein nickte. Er ließ ein kurzes Seufzen hören und schürzte kurz die Lippen. „Ich hatte mich letztens um ein Mädchen aus der Firma gekümmert. Hackerin. Ich dachte, ich nehme sie als externen Support mit dazu. Ich werde mehr als einen Hacker brauchen.“

Pakhet seufzte. „Hättest du nicht dafür sorgen können, dass sie Agent ersetzt?“ Sie war froh, wenn sie den alten Hacker nicht ertragen musste. Er war ein elendiger Besserwisser. Davon abgesehen, dass sie bei einem Großteil der Missionen, die sie bisher mit dem Team abgearbeitet hatte, nicht eingesehen hatte, wofür sie einen Hacker brauchte. Sie hatten den anderen Söldner entführt – ohne dass der Hacker großartig geholfen hatte. Sie hatten das eine Mädel vom Mob befreit – ohne, dass der Hacker geholfen hatte. Sie hatten eine Mission einen Geschäftstypen aus den USA Personenschutz gewährt – ohne Hacker. Und sie hatten der Polizei geholfen, ein Drogenlabor ausfindig zumachen – dafür hatte der Hacker zumindest geholfen, indem er Informationen gesucht hatte.

Alles in allem: Hacker waren praktisch, um Informationen zu finden. Hacker waren praktisch zum Hacken. Hacker halfen manchmal, digital verschlossene Türen zu öffnen. Doch waren Hacker sinnvoller auf Bedarfsbasis dazu zu holen, anstelle davon permanent in einem Team zu arbeiten, dass sie die meiste Zeit nicht brauchte.

„Ich fürchte 'Nein'“, erwiderte Heidenstein.

„Zu schade.“ Sie verzog das Gesicht und trank einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. „Also. Was ist jetzt dein großer Auftrag?“

Er lächelte verschmitzt – etwas nervös. „Kannst du nicht bis nachher warten?“

„Und da habe ich dich schon mit Smith in Verbindung gebracht.“ Sie schützte vor zu schmollen. Dann seufzte sie. „Schon gut.“

„Gut.“

Keine fünf Minuten fand sich Agent ein. Natürlich war er der erste. Er war ein Besserwisser, nahm jedoch alles sehr genau. Eine Minute später glitt ein Schatten in den Raum, verschwand in die hinterste Ecke und versteckte sich dort hinter einem Laptop. Es war ein asiatisch wirkendes Mädchen, mit schwarzem Haar und einer einzelnen blauen Strähne, die in sein Gesicht hing.

Murphy kam kurze Zeit später. Heute trug er lange blonde Haare und eine hagere Gestalt, die an einen Rockmusiker nach zu viel Drogenkonsum erinnerte. Wäre seine Körperhaltung nicht gewesen, hätte man angenommen, er wäre nur zufällig reingelaufen. Er setzte sich auf einen Stuhl, schlug die Beine auf den Tisch und grinste dann zu ihnen hinüber. „Hi, Pakhet. Hi, Doc.“

„Murphy?“, fragte Heidenstein.

„Genau der.“ Ein breites Grinsen.

Pakhet schüttelte den Kopf und leerte ihre Kaffeetasse.

Murphy blickte zu dem asiatischen Mädchen. „Wer ist sie?“

„Unterstützung“, erwiderte Heidenstein.

Murphy richtete sich neugierig auf, schrumpfte etwas und sein Haar bekam eine dunkle Färbung. Er grinste zu dem Mädchen und hob die Hand. „Hi.“

Das Mädchen sah kurz vom Bildschirm ihres Laptops auf, bemerkte ihn, errötete und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Rechner zu. Sie starrte auf den flimmernden Bildschirm. „Hi.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.

Verständnislos schaute Murphy zu ihnen. Seine Mimik sagte eindeutig: „Habe ich etwas falsch gemacht?“

Niemand machte sich die Mühe zu antworten.

Es folgten Spider und Mik – mit drei Minuten Verspätung. Immerhin keine Viertelstunde.

Das würde wohl vorerst das Team sein.

Pakhet sah zu Heidenstein, klopfte ihm auf die Schulter. Sie nickte, sprach aber nicht. Er würde schon verstehen.

Er schien tatsächlich angespannt, nickte aber. Er holte tief Luft, stand auf, trat in die Mitte des Raums. Dort blieb er stehen und räusperte sich. „Smith hat euch schon informiert, richtig?“

„Mr Smith sagte, dass Sie dieses Mal einen Auftrag für uns haben“, meinte Agent. Er sprach ruhig, distanziert.

„Richtig.“ Heidenstein nickte. Noch einmal räusperte er sich. „Um genau zu sein vermittel ich nur. Ich agiere im Interesse eines Bekannten, der dringend Hilfe braucht.“

„Worum geht es denn?“, fragte Spider mit der nörgelnden Stimme eines Grundschülers, der fragte, wann endlich Pause sei.

Heidenstein legte die Pläne hin. „Ähm, der Medizinkonzern Westa soll in zwei Monaten ein neues Krankenhaus in Outshoorn in Betrieb nehmen. Und die Lieferungen werden im Verlauf der kommenden Woche geschehen.“

Westa also. Pakhet musterte ihn, bemüht sich nichts anmerken zu lassen. Hatte sie Recht mit ihrer Vermutung? War dieser Mann Doktor Joachim Anderson? Sie beobachtete ihn, versuchte ihn zu lesen. Sie könnte ihn darauf ansprechen. Nicht vor den anderen. Später. Besser nicht. Es ging sie nichts an. Normal war sie nicht so neugierig. Zu viel Neugierde brachte einen in Probleme.

„Also sollen wir verhindern, dass die Lieferungen ankommen?“, fragte Agent.

„Nicht ganz“, meinte Heidenstein. „Ich möchte, dass ihr mir helft, die Ware zu stehlen.“ Damit nahm er die zusammengehefteten Papiere aus dem Aktenordner und verteilte sie.

Pakhet nahm ihre Kopie. Wie sie schon vorher gesehen hatte, enthielt die kleine Mappe Zeitpläne. Darüber hinaus aber auch zwei Karten und das Profil einer Firma. Viljoen Logistik.

„Hazel, Agent“, sagte Heidenstein und sah zu den beiden Hackern, „ich möchte, dass ihr uns als neue Fahrer für die Firma Viljoen eintragt. Es gibt speziell vier Lieferungen, die ich umleiten möchte.“

Zum Krankenhaus, da war sich Pakhet sicher. Zum Anderson Hospital in den Cape Flats. Wenn nicht direkt, dann auf Umwegen. Er wäre töricht, wenn er die anderen direkt dahinfahren ließ.

„Das wird nicht unbemerkt bleiben“, meinte Agent mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Schon, wenn wir die richtigen Leute abstechen“, erwiderte Spider strahlend.

Murphy verdrehte die Augen, machte ein verächtliches Geräusch. „Oder die richtigen Leute bestechen.“

Pakhet betrachtete ihn an. „Ich nehme an, du meldest dich freiwillig?“ Sie schenkte ihm ein süffisantes Lächeln, das er gekonnt erwiderte.

„Immer gern, Lady.“

Sie seufzte. Ihr fielen aus dem Stehgreif zwanzig Wege ein, wie all das schief gehen konnte.

[18.05.2011 – M02 – Conartist]

Noch immer war Pakhet davon überzeugt, dass etwas schief gehen musste. Sie war sich sehr sicher. Soweit jedoch verlief alles nach Plan.

„Sei einfach entspannt“, flötete Murphy und klopfte ihr auf die Schulter.

Sie trugen T-Shirts, wie sie zu Vieljoen Transport gehörten. Alles in allem wirkten sie unauffällig. Murphy hatte die Gestalt eines dunkelhäutigen jungen Mannes angenommen, sie trug eine dunkle, lange Perücke und hatte sich älter geschminkt, als sie eigentlich war. Sie sollten normal wirken. Doch irgendetwas konnte dennoch schief gehen.

Was war, wenn die Firma nicht korrekt eingetragen war? Was wenn die falschen Trucks auffielen? Sie war sich bei weitem nicht so sicher, wie Murphy, dass es funktionieren würde.

Eigentlich war die Idee einfach: Hazel und Agent hatten die Daten von Westa Pharma verändert, so dass ein anderes Unternehmen, dass ähnlich zu Viljoen Logistics klang, die Ware nun in Joburg abholen würde.

Sie saß neben Murphy in dem großen Truck. Sie fuhr.

Auch wenn der Junge geschworen hatte, er würde das auf die Reihe bekommen. Sie hatte Erfahrung damit große Trucks zu fahren. Sie hatte einige Male für andere Jobs getan. Es war ein nützlicher Skill. Bei Murphy war sie sich nicht sicher. Zumal sie das Gefühl nicht los wurde, dass er sehr kindlich wirkte.

Das Gelände von Westa Pharma kam in Sicht. Auf dem Gelände wurden keine Medikamente hergestellt. Es beherbergte vor allem ein Krankenhaus und eine private Universität, in der offenbar im Bereich der Medizintechnik geforscht wurde. Bei weitem nicht so detailliert, wie es in den UK der Fall war. Vielleicht doch. Jedenfalls war es der Firmensitz in den UK, der die meiste internationale Anerkennung bekam.

Was sie mehr als Krankenhaus und Universität interessierte, waren die Lagerhallen. Vier große Lagerhallen am Rückende des Geländes. Laut den Informationen Heidensteins, wurde es vor allem als Durchgangslager für Westa verwendet. Hier kamen Waren, meist Medizintechnik und Laborequipment, die zu anderen Firmensitzen in Südafrika und den benachbarten Ländern weitergeleitet wurden. Hier sollten sie sich melden.

Unsicher suchte sie die Einfahrt für Lieferanten. Sie fand ein großes Tor an der Rückseite einer Parkanlage auf dem Gelände.

Ein Wächterhäuschen stand links neben dem Tor, angestrahlt durch eine darüber befestigte Straßenlaterne.

Ein Mann öffnete die Tür und schob sich hindurch. Dunkelhäutig, wahrscheinlich Mitte 30, dünn. Er trug eine graue Uniform und eine dunkle Kappe, kam zu ihnen hinüber.

„Ja, bitte?“

Murphy beugte sich an ihr vorbei. „Hey, wir sind von Vieljoen Transport und sind wegen der Lieferung nach Kaptstadt da.“ Er nannte die Liefernummer. „Uns wurde gesagt, wir sollen uns hier melden.“

„Einen Moment.“ Der Mann holte ein Handy hervor, rief eine Liste auf und schaute nach. Dann nickte er. „Ich lasse sie durch. Melden Sie sich bei Halle 2.“

„Klar.“ Murphy schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.

Der Mann kehrte in das Häuschen zurück und betätigte einen Knopf. Das weiße Tor fuhr langsam auf und ließ sie so passieren.

Sie fuhren hindurch, rauf auf eine schmale Straße, zu deren rechten die Lagerhäuser lagen. Links von ihnen war die Parkanlage.

Murphy grinste Pakhet zu und zeigte mit den Daumen nach oben.

Sie verdrehte nur die Augen.

So fuhr sie am ersten Lagerhaus vorbei. Vor dem zweiten sah sie Leute stehen. Arbeiter. Bereit Sachen aufzuladen. Gut.

Niemand durfte verdacht schöpfen. Dann wären sie in einer Stunde von ihr weg. Nur eine Stunde.

„Überlass das Reden mir, ja?“, meinte Murphy grinsend.

„Wie du meinst, Junge“, murmelte sie und seufzte. Sie stieg dennoch aus. Jemand würde ihren Ausweis – ihren gefälschten Ausweis – sehen wollen.

Während sie aus dem Fahrerhäuschen kletterte, sprang Murphy förmlich vom Beifahrersitz hinab. Er kam auf dem Boden auf und lief um das Häuschen herum, um an ihrer Seite zu sein. Schien amüsiert und zu lebhaft, für die späte Stunde.

Pakhet bemerkte, wie seine Augen über die Arbeiter huschten, ehe sie den am wichtigsten Aussehenden fanden. Einen Vorarbeiter in einer dunklen Lageruniform.

Er hielt auf diesen zu. Winkte. „Hey.“

Einige Pakete waren bereits vor das Lagerhaus gebracht worden. Sie waren durchweg in hölzerne Kisten gepackt, sollten aber, wenn alles korrekt verlief, die Einzelteile eines besseren Röntgengeräts und einiges an Laborzubehör beinhalten.

„Ihr seid die Lieferanten?“, fragte der Vorarbeiter ohne ein Wort des großes. Er schlurfte auf sie zu, streckte ihnen die Hand entgegen. Sein Handschlag war fest, selbstbewusst. Das lockige, kurze Haar des Mannes war an einigen Stellen angegraut, größtenteils jedoch schwarz.

„Ja, wir sind von Vieljoen Transport“, erwiderte Murphy mit breitem Grinsen.

„Ihr seid früh“, stellte der Mann fest.

„Gute Verkehrslage“, antwortete Murphy.

Der Mann musterte sie beide. „Deine Kollegin wirkt angespannt.“ Er runzelte die Stirn.

„Ach, ihr ist es nur zu spät“, kommentierte Murphy. „Schau sie dir an. Vollkommen übernächtigt, die Gute.“

„Sollte sie dann überhaupt fahren?“, meinte der Vorarbeiter. Sein Namensschild wies ihn als „N. Moers“ aus.

„Er läuft auf Kaffee“, scherzte Murphy und log damit nicht einmal.

„Na gut“, grummelte der Mann. „Wir haben hinten eine Kaffeeküche. Wenn ihr mögt könnt ihr euch da reinsetzen, bis wir verladen haben.“

„Klar.“ Murphy grinste. „Danke.“

„Geht an der Lagerhalle vorbei und dann links. Hinter Lagerhalle Drei. Da wo die Fenster sind. Nicht zu verfehlen.“

Erneut zeigte Murphy mit dem Daumen nach oben. „Bis später.“ Damit klopfte er Pakhet auf die Schulter und dirigierte sie in die Gasse neben dem Lagerhaus. Es war finster hier, da die Gasse von bloß zwei Lampen gesamt erhellt wurde.

Pakhet verkniff sich ein Seufzen, stapfte neben Murphy her und versuchte sich zu entspannen. Wenn sie hier weg waren, sollte nichts mehr schief gehen. Jedenfalls nicht für sie. Anders würde es mit dem Team von Heidenstein aussehen, bestehend aus ihm und Mik. Halb war sie darauf vorbereitet, die beiden früher oder später aus einem Gefängnis befreien zu müssen.

Sie bogen um die Ecke hinter dem Lagerhaus, fanden die angesprochenen Fenster und eine nur angelehnte Tür. Die Kaffeeecke, deren Wände gänzlich aus Blech bestand, war klein, aber gemütlich. Obwohl sie heruntergekommen wirkte, schien die Kaffeemaschine neu. Es gab außerdem einen uralt wirkenden Süßigkeitenautomaten.

„Siehste? Kein Grund zur Anspannung“, meinte Murphy und klopfte ihr auf die Schulter.

„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. Zumindest wirkte der Junge kompetent.

„Klar.“ Er grinste und studierte die Kaffeemaschine.

Derweil zog sie einiges Kleingeld aus ihrer Tasche hervor und steckte es in den Automaten. „Kid?“

Murphy drehte sich zu ihr herum, als sie ihm den Snickers-Riegel zuwarf.

„Hier.“

Der Junge schaute auf den Riegel in seiner Hand und grinste. Verstand er, worauf sie hinauswollte? „Danke.“

[19.05.2011 – D09 – Dank]

Zwei durchgearbeitete Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie schlief am Tag nicht so lang wie nachts. Entsprechend war sie noch müde, als sie gegen Mittag aufwachte.

Sie war im Krankenhaus, im Gästezimmer Heidensteins.

Noch immer konnte sie nicht glauben, dass die ganze Sache gut gegangen war. Sie hatten die Ware gestohlen, hatten sie in ein Lagerhaus, das Smith für sie gebucht hatte, gebracht. Dort gingen Agent und Hazel sicher, dass keine Tracker an den Kisten befestigt waren – eine solche Taktik war nicht unüblich für große Firmen und teure Ware. Auch wenn die Tracker gestört sein sollten. Sie hatten Aluminiumdecken über die Kisten gelegt.

Mehr als alles andere verwunderte sie, dass Mik und Heidenstein nicht aufgefallen waren. Sie hatte Murphy dabeigehabt, der jeden Verdacht reflektierte, wie ein Schild.

Sie schleppte sich in die Küche, setzte Kaffee auf, wartete, ging ins Badezimmer, um sich frisch zu machen.

Sie hatte am Vorabend nicht mehr nach Zentralkapstadt reinfahren wollen. Zu gefährlich. Sie war ohnehin übermüdet gewesen. Zumindest war sie sich mittlerweile sicher, dass niemand ihr hier eine Niere entnehmen würde.

Heidenstein war nicht hier. Vielleicht war er in seiner Straßenklinik. Vielleicht war er auch im Lagerhaus. Sie würden mit anderen Lastwagen die Ware später hierherbringen lassen.

Agent und Hazel hatten falsche Daten für die Lieferungen in die Datenbank der örtlichen Klinik gegeben, falsche Bestätigungen gesendet. Wenn alles gut lief, würde der Diebstahl erst in fünf Tagen auffallen. Wenn alles gut lief  …

Die Tür zur improvisierten Wohnung öffnete sich und Heidenstein kam herein. Sie war sich nicht sicher, wie er es machte, doch manchmal schien es, als würde er keinen Schlaf brauchen.

„Ah, wir sind schon wach, hmm?“, scherzte er, als er sie bemerkte. „Guten Morgen.“

„Uhum.“ Sie nickte müde. Gähnte. „Ich brauche einen Kaffee.“

„Irgendwie habe ich langsam, aber sicher das Gefühl, mit einem Junkie befreundet zu sein.“ Er zwinkerte. Er hatte beste Laune.

„Vielleicht bist du das auch“, meinte sie. „Was weiß ich schon über deinen Freundeskreis.“ Sollte es sie nicht beunruhigen, dass er sie als „Freund“ ansah?

Er musterte sie. „Hat der Junkie noch etwas Kaffee für mich über?“

„Wenn der Kaffee denn durchgelaufen wäre.“ Sie warf der Kaffeemaschine einen ungeduldigen Blick zu.

Das Wasser zischte, gluckste, war laut Stand der Maschine aber erst halb durchgelaufen.

Pakhet wandte sich zurück an Heidenstein. „Du wirkst bester Laune.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe Grund zu feiern, nicht? Es ist alles bestens gelaufen.“

„Wohl wahr.“ Sie seufzte. „Bisher.“

„Pessimistin“, murmelte er.

„Realistin“, verbesserte sie.

Er verdrehte die Augen, lächelte aber, als er sie ansah. „Danke.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es war ein Job.“ Mehr oder weniger. Auch wenn es eine Sache gab, über die sie nachdachte. „Die Sachen sind für das Krankenhaus, oder?“

„Ja“, meinte er.

Pakhet musterte ihn für einen Moment. „Der eigentliche Besitzer des Krankenhauses“ – also er selbst, doch sie sagte es nicht – „ist der Auftraggeber, oder?“

Zur Antwort nickte Heidenstein. Sein Blick glitt zum Fenster, durch das man die rückseitige Zufahrt des Krankenhauses, den kleinen Verschlag für die dortigen Müllcontainer und das dahinterliegende trockene Grasland sehen konnte. Er wich ihrem Blick aus. Ein weiterer Punkt für ihre Theorie. „Er will das Krankenhaus gerne wieder normal in Betrieb nehmen.“

„Ich habe Geschichten gehört“, meinte sie, „dass er Leute aus den Flats umsonst behandelt hat.“

Heidenstein schürzte die Lippen. Sein Gesichtsausdruck war deutlich ernster als zuvor. „Ja. Er hat sich bemüht, Gutes zu tun, denke ich. Bevor  … Bevor er in finanzielle Probleme gekommen ist. Hier draußen wird es ohnehin wenig bezahlte Arbeit geben. Du weißt schon.“

„Sicher“, meinte sie. Es war nicht so, dass niemand in den Flats versichert war. Doch viele waren es nicht. „Ich dachte nur  … Wenn er die Sachen dafür einsetzt. Er muss zumindest mich nicht bezahlen. Kannst du ihm das sagen?“

Heidenstein schaute sie an. Für einen Moment schien er unsicher zu sein, was er sagen sollte. Er räusperte sich, holte Luft. „Das werde ich ihm ausrichten“, sagte er schließlich. „Danke. Pakhet. Das ist  … Überraschend  …“ Er suchte nach den richtigen Worten.

„Ich weiß aufrichtige Arbeit zu schätzen“, erwiderte sie. „Ich weiß zu schätzen, wenn jemand versucht anderen zu helfen.“ Sie musterte zu ihm, fragte sich, ob er etwas sagen würde.

Er schwieg.

Sie wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu, deren trockenes Zischen verriet, dass sie durchgelaufen war. Sie stellte die Maschine aus und fischte zwei Tassen aus dem Schrank über der Spüle. „Hier.“ Damit reichte sie kurz darauf eine der gefüllten Tassen Heidenstein.

Er nickte und musterte sie noch immer. „Danke.“

[20.05.2011 – X04 – Ablenkung]

„Wie ist das überhaupt passiert?“ Der Mann strich über ihren Arm.

Pakhet schürzte die Lippen und seufzte genervt. Manche Leute hatten kein Taktgefühl. „Ein Drache hat meinen Arm gefressen.“

Der Kerl – er hatte sich als Daniel vorgestellt und war recht sicher ein Tourist – schwieg für einen Moment. „Entschuldige.“

Sie erwiderte nichts, starrte zum Fenster des Hotelzimmers. Warum konnte der Typ nicht endlich einschlafen? Normalerweise wartete sie darauf, ehe sie ging, doch langsam aber sicher spannte er ihre Geduld hart auf die Probe.

„Es tut mir wirklich leid“, meinte er. „Ich wollte nicht taktlos sein.“

„Warst du aber“, erwiderte sie.

„Wie gesagt. Es tut mir leid.“ Seine Stimme klang, als würde er es meinen.

Er kuschelte sich näher an sie heran, brachte sie damit dazu, ihrerseits weiter vorzurücken.

Erneut seufzte sie genervt und setzte sich auf. Es hatte keinen Sinn darauf zu warten. Daniel hatte eindeutig andere Vorstellungen davon, wie er die Nacht verbringen wollte, als sie. Da hatte es auch keinen Sinn, weitere Freundlichkeiten vorzuschützen.

Zumindest verstand er, was sie vorhatte. „Gehst du?“, fragte er bedrückt.

„Ja.“ Sie ließ ihre Stimme nüchtern klingen und machte Anstalten gänzlich aufzustehen, als er nach ihrer Hand griff – dieses Mal ihrer Rechten.

„Bitte. Warte.“

Was war sein Problem?

Auch er setzte sich auf und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Bitte, bleib noch etwas. Ich mach', was du willst.“

Oh, verdammt. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er einsam war. Dabei versuchte sie einsame Männer zu meiden. Sie wollte kurzen, unverbindlichen Spaß, nicht mehr. Sie wollte Ablenkung, aber sie wollte niemanden verletzen.

„Ich sollte gehen“, meinte sie nüchtern.

„Kann ich irgendetwas machen, damit du bleibst?“, fragte er.

Verdammt. Was erwartete er denn? „Nein.“

„Nur noch etwas“, flüsterte er und küsste ihren Nacken.

Und am Ende spielte er all das nur vor und war in Wahrheit ein Menschenhändler. Als ob es für jemanden wie sie einen Markt gab. Dürr, muskulös, einarmig. Sicher, es war erstaunlich leicht, Bekanntschaften für eine einzelne Nacht zu finden, wenn man richtig aufzutreten wusste – zumal ihre Prothese auf die Ferne beinahe jeden täuschte – aber wer würde schon dafür zahlen?

Sie verdrehte die Augen, während seine Lippen zu ihrer Wange wanderten. Sie wusste, dass sie gehen sollte.

„Okay“, meinte sie leise und drehte sich zu ihm herum. Er war dunkelhaarig und hatte strahlend blaue Augen. „Ich bleibe. Nicht mehr als eine Stunde. Wenn du verdammt noch mal die Klappe hältst.“ Sie war nicht hier um zu reden.

Daniel verstand. Er sah sie an, nickte. „Okay.“

Es war eine dumme Idee, doch sie war genervt, verspannt, sie brauchte Ablenkung, brauchte Sex und wenn sie ihn schon hier hatte, konnte sie es genau so gut nutzen. Er sollte verstanden haben, dass es für sie nicht mehr war, als Sex. Sie musste kein schlechtes Gewissen wegen ihm haben. Sie würde ihn ohnehin nie wieder sehen.

Und so fickte sie ihn noch einmal. Das dritte Mal diese Nacht. Ob er eine natürliche Ausdauer hatte oder Medikamente geschluckt hatte?

Sie war froh, dass er zu seinen Worten stand und schwieg.

Dennoch glitt sie schließlich, vielleicht vierzig Minuten später, aus dem Bett, stand auf und hob ihre Unterhose vom Boden auf, schlüpfte hinein.

Er beobachtete sie schweigend, wie sie auch ihren schwarzen BH wieder anzog und die dunkle, halb durchsichtige Bluse überzog. Dann aber erhob er wieder die Stimme, als sie in ihren Rock schlüpfte: „Wie war noch einmal dein Nachname, Mary?“ Seine Stimme klang unsicher. Er wusste, dass sie nicht antworten würde, wollte die Hoffnung aber nicht aufgeben.

Selbst wenn sie ihm den falschen Nachnamen der falschen Identität – Mary Montgomery – gab, würde es ihm wenig bringen. Doch tat sie es nicht. „Ich habe keinen.“

Er war es, der daraufhin seufzte. Enttäuscht. „Oh.“

Sie zog den kurzen Rock hoch und setzte sich auf den blauen Sessel des komfortabel eingerichteten Zimmers, um ihre Stiefel anzuziehen. „Denk' dir nicht zu viel, wegen dieser Sache“, meinte sie und musterte ihn.

Er nickte still.

„Sollte ich dich in irgendeiner Form verletzt haben, tut es mir leid.“ Warum sagte sie das überhaupt?

Daniel drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Er seufzte ein weiteres Mal und leckte sich über die Lippen. „Schon gut. Du hast deine Intention deutlich genug gemacht“, erwiderte er tonlos. „Ich bin nur ein Idiot.“

Was auch immer er überhaupt an ihr gefunden hatte.

Sie atmete leise aus, nahm ihre Tasche und schritt eilig zur Tür. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Genau deswegen wartete sie meistens, bis ihre etwaigen Partner eingeschlafen waren. „Noch  …“ Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Tür. „Gute Nacht.“

„Mach's gut“, kam es leise von ihm zur Antwort.

Sie trat durch die Tür, schloss sie, hielt inne und atmete tief durch. Sie hasste solche Situationen. Doch was sollte sie tun?

Mit einem Kopfschütteln machte sie den ersten Schritt und ging den Gang hinab. Ach, verdammt. Sie wollte gerade nichts mehr, als eine warme Dusche, einen heißen Kaffee und  … Sie wusste nicht einmal was.

[23.05.2011 – D10 – Untot]

Savanne, strahlende Sonne, Hitzeflimmern und eine Horde Zombies. Gab es etwas, das im Kopf eines US-Amerikaners klischeehafter „Afrika“ sagte?

Pakhet rannte. Das Ganze lief so gar nicht, wie sie es erwartet hatte. Verflucht, ihr Auftragsgeber hätte sie verdammt nochmal vor den Zombies warnen können. Aber das war ihm wahrscheinlich entfallen. Fuck.

In alten Filmen waren Zombies langsam gewesen, hatten sich in Zeitlupe bewegt, doch wenn man sich reale Untote ansah, musste man feststellen, dass neue Filme weit näher an der Realität waren. Die meisten Leute, die sich in Zombies verwandeln ließen, taten dies, zum einen, um dem Tod durch Krankkeit zu entkommen, zum anderen aber auch, um stärker, schneller, fitter zu werden. Reale Zombies wurden erschaffen und entstanden nicht durch Bisse oder irgendwelchen illegalen Laboren entkommenen Viren.

Dabei war sie nicht einmal sicher, ob diese Zombies real waren oder teil der Taschendimension, in der sie waren.

Sie sah hinter sich. Die Horde Untoter – fünfzehn oder sechzehn von ihnen – war hinter ihr zurückgefallen. Allerdings traf dasselbe auch für Heidenstein zu.

Heidenstein hatte sie begleitet, als sie den Auftrag bekommen hatte. Sie hätte wissen sollen, dass es schief gehen würde. Sie korrigierte sich. Sie hätte es nicht wissen können. Heidenstein war ein akzeptabler Kämpfer, ein guter Schütze und dachte taktisch. Sie hatte nicht gewusst, dass die Hälfte des Auftrags umfassen würde, von Zombies fortzulaufen.

Was nun?

Sie setzte über einen Busch hinweg – es gab hier keine Wege – und blickte wieder über ihre Schulter. „Doc!“, rief sie.

Die Zombies waren nur knapp fünf Meter von ihm entfernt.

Sie selbst hatte etwas mehr als fünfzehn Meter Vorsprung.

Verdammt, sie mussten bloß aus der Taschendimension herauskommen, dann wären sie in Sicherheit. Es war schwer zu schätzen, wie weit sie vom Ausgang entfernt waren. Vielleicht noch fünfzig Meter, vielleicht hundert.

Sie lief weiter, konnte jedoch nicht anders, als sich wieder umzudrehen, um nach Heidenstein zu sehen. Er fiel weiter zurück. Verdammt.

Was konnte sie tun?

Sie wollte sich sicher nicht im Kampf mit fünfzehn Zombies anlegen. Das war Selbstmord. Vor allem, da Zombies gegen diverse Wunden unempfindlich waren. Sie spürten keinen Schmerz.

Also. Was?

Sie hatte einen Notfallplan, auch wenn nicht garantiert war, dass dieser in einer Taschendimension funktionierte. Aber hatte sie eine Wahl?

Sie wechselte ihre Pistole in die Hand ihrer Prothese und griff an die Seite ihres Gürtels. Zwar mochte sie keine Granaten, doch waren sie oftmals eine gute Methode, um sich den Rücken freizuhalten. Sie waren unschön. Sie hatten oftmals unbeabsichtigte Nebenwirkung. Im Moment hatte sie keine Wahl.

Kurz schloss sie die Augen, um den Plan genauer zu fassen. Wenn sie die Granate knapp hinter die Zombies warf, konnte sie – hoffentlich – den Zombies genug Schaden zufügen, um sie zumindest zu verlangsamen und Heidenstein zu retten. Sie musste es probieren. Die Chancen waren zumindest besser, als würde sie allein mit nur einer Pistole gegen fünfzehn Untote antreten.

Mit den Zähnen zog sie den Sicherungsbolzen der Granate, die klein genug war, um in die Innenfläche ihrer Hand zu passen. Aus der Laufbewegung heraus drehte sie sich, schleuderte die kleine Kugel. „Doc, spring!“, rief sie und verfolgte mit den Augen die Flugbahn der Granate.

Erkenntnis zeigte sich in Heidensteins Gesicht, dann Schreck. Er versuchte zu springen, schaffte es aber nicht. Nicht weit genug zumindest.

Die Granate landete, zog die Aufmerksamkeit von zumindest drei Zombies auf sich, die innehielten. Die Granate war zwischen ihnen gelandet, nicht hinter ihnen.

Verdammt.

Pakhet setzte zur Drehung an, um weiterzulaufen, als der Knall der Explosion erklang. Die Druckwelle fegte an ihr vorbei, trug vereinzeltes Schrapnell mit sich – nicht genug, um sie zu ernsthaft verletzen. Ihre Lederjacke schützte sie.

Anders jedoch sah es mit Heidenstein aus. Er war zu nah gewesen. Die Druckwelle riss ihn zu Boden.

„Doc!“, rief sie und hielt inne. Sie sollte weiterlaufen, verdammt! Sie musste weiterlaufen!

Die Explosion hatte acht der Zombies zerfetzt – wortwörtlich. Die Granate hatte die vier, die ihr am nächsten gewesen waren, in Stücke gerissen. Vier andere hatten ebenfalls schweren Schaden erlitten, lagen blutend am Boden, rührten sich nicht. Die anderen sieben waren auseinandergestoben. Drei von ihnen hatten Schrapnell abbekommen, schienen angeschlagen, verwirrt, und für den Moment gingen alle sieben in Deckung zwischen den trockenen Büschen und Bäumen der Savanne.

Nur Heidenstein rührte sich nicht.

Fuck. Hatte sie ihn getötet?

Sie sollte weiterlaufen. Sie wusste es. Der gold-rote Stein, wegen dem sie überhaupt hergekommen waren, lag schwer in ihrer Tasche. Irgendein magisches Artefakt. Pakhet konnte nicht sagen, was seine Aufgabe war. Alles, was sie wusste, war, dass der Auftraggeber es hatte haben wollen, bereit war, viel Geld dafür zu zahlen. Und, dass das letzte Team, das versucht hatte, es zu holen, nicht zurückgekommen war. Sie hatten ihre Überreste gesehen.

Sie sollte mit dem Ding verschwinden, solange sie konnte, oder sie würde auch als ein paar abgefressene Knochen in einer magisch erschaffenen Savanne enden. Also warum verdammt nochmal lief sie nicht? Warum machte sie einen Schritt in die andere Richtung.

Sie konnte Heidenstein nicht einfach zurücklassen. Wahrscheinlich war er tot, doch vielleicht  … Er konnte überlebt haben. Sie musste es sicherstellen.

War sie wahnsinnig geworden?!

Wahrscheinlich. Sie setzte den anderen Fuß, wurde schneller, hatte Heidenstein in wenigen Schritten erreicht und hockte sich neben ihn.

Sie warf den Zombies einen raschen Blick zu. Soweit schienen sie verunsichert. Ja, da wo die eine Granate hergekommen war, könnten noch mehrere sein. Gut. Sollten sie sich fürchten.

„Doc“, flüsterte Pakhet.

Er war Blut überströmt. Es war schwer zu sagen, warum genau, doch hatte er deutliche Verletzungen am Rücken. Deutlich genug, als dass das Blut auf seiner leicht gepanzerten Jacke glänzte.

Er stöhnte.

Also war er nicht tot.

Gut.

„Verdammter Idiot“, seufzte sie und steckte ihre Waffe weg „Warum kannst du nicht springen, wenn man es dir sagt?“ Sie redete Unsinn. Sie war erleichtert.

Kurz überlegte sie, auf einen der Zombies zu schießen, tat es aber nicht. Stattdessen steckte sie die Waffe weg und drehte Heidenstein in die Seitenlage. Dann hievte sie ihn hoch, warf ihn sich über die Schulter – froh, die nötige Stärke zu haben – und entlockte ihm damit ein schmerzerfülltes Stöhnen.

Darauf konnte sie für den Moment keine Rücksicht nehmen. Wie sagte man? Erstes: Das Opfer aus der Gefahrenzone bringen. Die verdammte Taschendimension war eine einzige Gefahrenzone!

Mühsam kämpfte Joanne sich auf die Beine und stolperte einen Schritt zurück, ehe sie das Gleichgewicht fand. Noch einmal verlagerte sie Heidensteins Gewicht, ehe sie ihre zweite Granate vom Gürtel fischte.

Während sie die ersten schnellen Schritte machte, entfernte sie den Pin, legte einen Hebel um. Er gab ihr fünf Sekunden, Abstand zu gewinnen.

Damit ließ sie die Granate fallen und beschleunigte ihren Schritt.

Rennen konnte sie nicht, mit Heidenstein auf den Schultern. Er war für seine Größe erstaunlich leicht, wog dennoch mindestens achtzig Kilo, was selbst mit Militärtraining und magischer Stärke nahe an ihrem Maximum lag. Weit würde sie ihn so nicht tragen können. Doch weit musste sie nicht. Nur bis zum Ausgang – jenem kleinen Loch, das wie ein Fenster in der Luft schimmerte und sie nach Kapstadt zurückführen würde.

Sie waren noch immer in Kapstadt. Sie waren von einem alten Tunnel in den Flats hierhergekommen. Die Dimension war wahrscheinlich von einem Hexendoktor erschaffen worden oder einem Moti.

Die Explosion erklang, zusammen mit dem kreischenden Schreckensschrei von einigen der Zombies.

Dann Stille, die auf ihre Ohren drückte. Da hinten war es. Der ovalförmige Ausgang hing aus dieser Perspektive beinahe schwarz in der Luft, war der Tunnel dahinter doch dunkel, verglichen mit dem hier herrschenden gleißenden Licht.

Sie würde es schaffen. Sie würde  …

Das Geräusch von schnellen, nackten Füßen auf staubig trockenem Boden erklang. Also hatten zwei oder drei von ihnen trotz allem beschlossen, dass sie beide eine zu vielversprechende Mahlzeit waren. Oder sie versuchten, den verdammten Stein zurückzuholen.

Es war auch egal. Pakhet besaß so etwas wie Ehre. Sie würde den Stein nicht zurücklassen. Es war schlimm genug, dass sie die Mission riskiert hatte, um Heidenstein zu retten.

Sie beschleunigte ihren Schritt. Mit Heidenstein auf der Schulter konnte sie nicht schießen. Sie musste den Ausgang erreichen. Und dann  …

Ob die Viecher ihr würden folgen können? Sie konnte nur hoffen, dass es nicht der Fall war.

Es waren vielleicht noch dreißig Meter.

Instinktiv wusste sie, dass der erste Zombie sie fast erreicht hatte. Was konnte sie tun? Nicht viel, außer herum zu fahren und ihrem Instinkt folgend ihren stahlkappenbesetzten Schuh gegen seine Brust zu kicken. Sie warf den Zombie damit zurück, doch der nächste war knapp dahinter. Wieso musste alles so schiefgehen?

„Lass mich runter“, meinte Heidenstein schwach.

„Ja, sicher“, knurrte sie, verlagerte sein Gewicht erneut und fummelte ihre Waffe ungeschickt aus dem Holster. Sie schoss auf den Zombie. Einmal. Zwei Mal. Drei Mal. Vier Mal. Kurz hintereinander. Sie war aktuell nicht besonders genau. Dennoch traf eine Kugel den Untoten in den Hals.

Dahinter kamen zwei weitere, für die weder Zeit, noch Munition hatte. Wenn sie sich nicht verzählt hatte, wäre ihr Magazin mit drei weiteren Schüssen leer.

Also sammelte sie ihre Energie ein letztes Mal und sprintete, sich dem Geräusch der nackten Zombiefüße hinter ihr deutlich bewusst.

Noch fünfundzwanzig Meter, noch zwanzig, zehn, acht, fünf  …

Etwas griff nach ihrem Fuß, brachte sie beinahe zum Fall, doch sie trat nach hinten aus, riss sich los und schoss blind. Lief weiter.

Noch drei Meter. Zwei. Sie sprang. Das Oval schwebte knapp einen halben Meter über den Boden und als sie es passierte, fühlte es sich an, als würde sie versuchen, in eine zähflüssige Substanz einzudringen. Sie merkte, wie eine unsichtbare Haut gegen sie sträubte – die magische Barriere der Dimension – schließlich aber nachgab und sie durchließ.

Sie fiel und landete zusammen mit Heidenstein unsanft auf dem dreckigen Tunnelboden hinter dem Portal.

Sie waren zurück in der physischen Welt, wo es nach feuchter Erde, Schimmel und Pisse roch.

Mühsam richtete sie sich wieder auf – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie einer der Zombies ihnen springend folgte.

Instinktiv hob Pakhet die Waffe und feuerte ihre letzten zwei Schüsse ab. Einer davon bohrte sich in die Stirn des Zombies, warf ihn zurück.

Jenseits des Portals landete er auf dem trockenen Savannenboden.

Für einen Moment verschnaubte sie, dann wandte sie sich Heidenstein zu, wollte ihn aufheben, nur um überrascht festzustellen, dass er sich selbst aufgerappelt hatte.

Schwach krabbelte er zum Portal hinüber, richtete sich dort – an die rötliche Tunnelwand gestützt – auf und streckte eine Hand aus.

Pakhet ging zu ihm, packte ihn bei der Schulter. „Was zur Hölle machst du?“ Jenseits des Portals waren weitere Zombies. Sie konnte sie sehen.

„Das Portal schließen“, keuchte er. Schweiß stand auf seiner Stirn. „Lass mich. Bitte.“

„Verdammter Idiot!“, rief sie aus und wollte ihn zurückreißen. Dann aber hielt sie inne. Sie wusste, dass es das richtige zu tun war. Wenn er noch die Kraft hatte.

Ein Zittern lief durch Heidensteins Körper. Fast dachte sie, dass er es nicht schaffen würde, doch dann begannen die Ränder des Ovals zu verschwimmen, ehe das Portal in sich zusammenfiel.

Es war Dunkel im Tunnel, nun, da magische Licht der falschen Savanne fehlte. So hörte Pakhet nur ein Stöhnen, gefolgt von dem dumpfen Aufschlag, des in sich zusammensackenden Heidensteins.

[23.05.2011 – D11 – Notversorgung]


 

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Die beiden Wachen wechselten einen Blick, als Pakhet mit Heidenstein durch die Tür des Krankenhauses trat.

„Schaut nicht so blöd“, grunzte sie, froh, jemanden zu haben, an dem sie ihre schlechte Laune auslassen konnte.

„Was ist passiert?“, fragte der eine – ein glatzköpfiger, kräftiger Russe – in gebrochenem Englisch.

„Mission. Unfall.“ Mehr sagte sie nicht dazu. „Kann mir jemand helfen? Oder zumindest den Aufzug rufen?“ Sie trug Heidenstein nicht mehr, stützte ihn nur, da er darauf bestanden hatte, selbst zu laufen. Laufen war dabei als Begriff hoch gegriffen, da er seine Beine eher unkoordiniert voreinander setzte, während sie einen guten Teil seines Gewichtes stützte.

Zumindest verstand der Wächter. Er hängte seine Waffe an den Gürtel und eilte zum Aufzug, um den Knopf zu drücken, ehe er zurückkam, um den anderen Arm Heidensteins zu nehmen.

Der andere Wächter blieb stehen. Es war besser, wenn einer hierblieb.

Irgendwie schafften sie es gemeinsam, Heidenstein in den Keller zu bringen, wo Pakhet sich unsicher umsah. Sie wusste, dass drei der sechs Räume zur Linken Behandlungsräume waren. Die anderen waren Abstellraum, ein Patientenzimmer mit sechs Betten und zuletzt das kleine Werkzimmer.

„Wohin?“, fragte sie schließlich an Heidenstein gewandt.

„Hinten. Rechts“, erwiderte er.

Sie hob die Augenbraue. Sie wusste nicht, was das für ein Zimmer war, doch nickte sie dem Wachmann zu. Sie schleppten Heidenstein zu der Tür, die durch ein Zahlenschloss gesichert war.

Heidenstein nahm seinen Arm von der breiten Schulter des Russen und gab eine Nummer ein, woraufhin sich die Tür mit einem grellen Piepsen öffnete. Dahinter lag, was einige wohl als magisches Refugium bezeichnet hätten: Ein Raum, dessen Boden ein offenbar aus irgendeinem festen, dunklen Material gegossenener Ritualkreis zierte. War es schwarzes Glas? Diverse Kräuter, Steine, Kerzen standen in einem einfachen Holzregal am Rand des Zimmers.

Pakhet schloss die Augen und seufzte. Sie wandte sich an den Wachmann. „Danke. Ich komm schon allein mit ihm klar.“

Etwas unsicher musterte der Wächter sie und dann Heidenstein, der jedoch ebenfalls nickte, ehe er sich in das Zimmer schleppte. Also nickte der Russe und wandte sich ab, um zu seinem Posten zurückzukehren.

Pakhet kam nicht umher, sich zu fragen, ob er wirklich ein Vory war. Von allem, was sie über Heidenstein und seine Verbindung zu den Vory wusste, konnte es nicht anders sein. Wie auch immer Joachim Anderson Kontakt zu den Vory v Zarkone aufgebaut hatte. Gab es in den UK nicht weit mehr Mitglieder der Cosa Nostra?

Sie wartete, dass der Wächter den halben Gang hinter sich gelassen hatte, ehe sie vortrat und Heidenstein vorsichtig bei der Schulter griff. „Du wirst jetzt keine Anstalten machen, dich selbst zu heilen“, zischte sie.

„Was soll ich sonst tun?“, erwiderte er.

„Dich von mir verarzten lassen.“ Zur Hölle! Sie hatte ihn im Wagen bereits notversorgt, hatte ihn vor allem aus seiner vermeintlich kugelsicheren Weste geschält, die ganz offenbar selbst zersplittert war. Wie auch immer es dazu gekommen war  … Er hatte den ganzen Weg auf der Ladefläche des Teamvans, der aktuell ohnehin die meiste Zeit in Heidensteins Garage parkte, verbracht. Jetzt bereute sie, dass sie ihm von dem Schmerzmittel, dass sie in seinem eigenen Notfallkoffer gefunden hatte, verabreicht hatte.

„Du bist keine Ärztin“, antwortete er und machte Anstalten sich in den Zirkel zu setzen.

Sie hielt ihn zurück. So schnell gab sie nicht auf. Sie mochte keine Ärztin – und auch keine Magierin – sein, aber sie wusste, dass er Blut verloren hatte, dass er schwach war, und dass Magie in diesem Zustand verdammt gefährlich war. „Du kommst jetzt mit.“

„Lass mich“, grummelte er. Wie hatte er überhaupt noch die Energie, sie abzuwehren?

„Du kommst mit oder ich setze dir einen deiner eigenen verdammten Giftpfeile in den Nacken“, zischte sie. Es war schwer, ihn festzuhalten, ohne seinen verwundeten Rücke zu belasten. Sie beschloss dennoch, dass ihre Priorität notfalls wäre, ihn abzuhalten, sich mit einem Zauber selbst umzubringen.

„Du weißt, dass das gefährlich wäre“, erwiderte er.

„Ja, verdammt, weiß ich, du Idiot!“ Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Ihre Stimme wurde lauter. „Aber, fuck, ich weiß auch, dass irgendein Zauber dich im Moment umbringen könnte.“ Damit schaffte sie es irgendwie, seinen Arm über ihre Schulter zu bekommen und zerrte ihn von seinem Septagrammkreis fort. „Jetzt hör auf, dich zu wehren.“

„Aber  …“

„Oh, verflucht noch mal, Doc, merkst du nicht, dass ich dir helfen will?“

„Ich zweifle nur an, dass es viel gibt, was du für mich tun kannst“, murmelte er. Zumindest gab er die Gegenwehr auf. Er verstand zu haben, dass sie es ernstmeinte, wusste, dass er keine Chance hatte, wenn er mit ihr rangelte.

„Wieso habe ich nur das Gefühl, dass ich beleidigt sein sollte?“ Sie zerrte ihn mit sich in das nächste Behandlungszimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs und legte den Lichtschalter um. Dann schleppte sie Heidenstein zur Liege. „Leg dich hin.“ Sie sah sich im Zimmer um, versuchte herauszufinden, wo sie was finden würde. Sie kannte sich mit Notfallkoffern aus, nicht mit Krankenhauszimmern. Und natürlich waren die Schränke nicht beschriftet.

Da sie wenig Wahl hatte, öffnete sie Schränke einen nach dem anderen. Nierenschalen. Ein Anfang. Da, ein Korb mit Einmalpinzetten. Die würde sie brauchen. Tupfer. Gut. Wo zur Hölle war Material zum Nähen? Und Jod?

Sie fluchte leise, drehte sich um, um die Nierenschale mit den Sachen auf einen jener fahrbaren metallenen Tische, wie sie Ärzte oft benutzten, zu stellen.

Heidenstein stand noch immer, halb gegen die zweite, bei der Wand stehende Liege gelehnt.

Sie stöhnte. „Leg dich hin!“

Er beobachtete sie schweigend.

Idiot! Sie hatte keine Zeit sich mit ihm abzugeben. Erst einmal brauchte sie ein paar Sachen. Der Lagerraum. Da sollte sie Stereolösung finden. Vielleicht auch das verdammte Jod!

Also marschierte sie zielstrebig aus dem Raum und zum Lagerraum am anderen Ende des Gangs. Auch dieser war mit einem Zahlenschloss gesichert, aber sie kannte die Nummer – 8845 – die sich dankbarerweise nicht geändert hatte, seit Heidenstein sie letzte Woche losgeschickt hatte, um Bandagen für Spider zu holen.

Der Junge hatte, wie sich herausgestellt hatte, eine magische Anziehungskraft für Pistolenkugeln.

Tatsächlich fand sie hier, was sie suchte: Infusionslösung, Schmerzmittel und eine große Flasche Jod. Gut.

Wahrscheinlich war es nicht übliches medizinisches Vorgehen, doch sie nahm alle drei Behälter und eilte damit in das Zimmer zurück, in dem Heidenstein gerade auf dem Weg zur Tür war.

Okay. Das reichte jetzt. „Leg dich verdammt noch mal hin!“, fuhr sie ihn an. Sie legte die drei Behälter vorsichtig auf der Arbeitsfläche von einem der Schränke ab und schob Heidenstein dann zur Liege zurück.

„Was  …“ Er schaute zu den Sachen, sein Blick unfokussiert. „Was hast du da?“

„Stereo für deinen Kreislauf, Morphine und Jod.“ Sie presste ihn gegen den Rand der Liege. „Jetzt leg dich hin oder ich überlege mir das mit dem Pfeil noch mal.“

Für einen Moment schwieg Heidenstein, blickte zwischen dem Beutel Stereo und ihr hin und her. Dann seufzte er und kletterte mit einem leisen Stöhnen tatsächlich auf die Liege, wo er sich vorsichtig auf den Bauch legte.

Erleichtert atmete sie durch und begann, die Infusion vorzubereiten. Einen entsprechenden Ständer fand sie in der Ecke des Raums. Schlauch und Nadeln in einer Schublade. Sie war nicht besonders gut darin, Infusionen zu legen. Immerhin waren die meisten ihrer Erste-Hilfe-Fähigkeiten der Selbstversorgung geschuldet. Sie konnte sich jedoch selbst keine Infusion legen. In einer Prothese machte diese wenig Sinn, gleichzeitig war sie mit der Prothese aber nicht geschickt genug, sich selbst einen Zugang in den rechten Arm zu legen. Entsprechend fehlte es ihr an Erfahrung. Nicht, dass sie es Heidenstein gegenüber erwähnen würde.

Da er auf dem Bauch lag, konnte sie die Nadel nicht einmal in die Armbeuge stecken. Großartig.

„Was machst du da?“, hauchte er matt, während sie versuchte, die Nadel in die Vene an seinem Handrücken zu fimmeln.

Sie brauchte drei Anläufe, bekam aber schließlich Blut. Also sollte die Nadel stecken. Sie fixierte sie mit einem Fixierpflaster. „Dir einen Zugang legen?“

Er murmelte etwas Unverständliches und sie beschloss, es zu ignorieren. Stattdessen schloss sie die Nadel am Ende des Schlauchs an den Infusionsbeutel an, ließ die Flüssigkeit durch den Schlauch laufen und drehte ihn an die Kanüle, nachdem die ersten Tropfen herauskamen. Dann ging sie zur Ablagefläche zurück, kramte eine Spritze aus der Schublade hervor und zog diese mit dem Morphin auf. Für einen Moment zögerte sie. Sie wusste in etwa, wie die Dosierung sein musste, wusste aber nicht, wie viel er wog. Auf der anderen Seite: Sie konnte nicht so weit daneben liegen, als dass es ihm zu sehr schadete. Also schätzte sie nach ihrem Gefühl. Sie hatte ihn vorher zum Wagen geschleppt. Achtzig Kilo klang richtig.

Sie spritzte die Flüssigkeit in den Beutel, wie sie es selbst bei Ärzten am Zentrum gesehen hatte.

Vielleicht wäre es besser gewesen, hätte sie ihn dorthin gebracht – doch die Strecke war weiter gewesen. Es war ihr so viel logischer vorgekommen, ihn hierher zu bringen.

Okay. Sie brauchte eine Verbandsschere. Sie würde ihn sicher nicht aus dem dünnen Shirt schälen, dass blutdurchtränkt an seiner Haut klebte. Erneut blickte sie sich um, fand aber dieses Mal schneller, was sie suchte.

Sie schnitt den Stoff am Rücken auf. Es war schwerer, als gedacht, da der Stoff in Fetzen hing. Doch sie scherte sich nicht drum.

Wortlos schob sie seine Hose ein Stück herunter, da auch diese Spuren von Blut und einige Löcher zeigte.

Seine gesamte Rückseite war brutal zugerichtet. Alles war von Blut überströmt – auch wenn keine der einzelnen Wunden besorgniserregend stark blutete – und an mehreren Stellen ragten Splitter, sowohl von seiner Weste, als auch Schrapnell der Granate, aus der Haut. Er hatte wirklich Pech gehabt. Und es war ihre Schuld gewesen.

Fuck.

Sie nahm einen Kanister destillierten Wassers von der Arbeitsfläche und begann seinen Rücken soweit möglich abzuwaschen, um besser arbeiten zu können. Dann machte sie sich an die eigentliche Arbeit.

Ihre Prothese behinderte sie, doch hatte sie genug Gefühl in den cybernetischen Fingern, um ihrer rechten Hand zu assistieren, mit der sie zuerst die groben Splitter entfernte. Mit der Prothese drückte sie Tupfer gegen die Wunden, um die erste Blutung zu stillen, während sie mit der anderen Splitter und Schrapnell entsorgte.

Die Arbeit brauchte Konzentration, wofür sie dankbar war. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was gerade geschehen war.

Es waren so viele Wunden. Ein Teil von ihnen musste genäht werden, bei den meisten lohnte es sich kaum. Die Splitter und das Schrapnell waren zu klein. Ein richtiger Arzt hätte an manchen Stellen vielleicht die Haut weiter beschnitten, aber sie hielt sich zurück. Nur sechs Mal schnitt sie mit dem Skalpell, um an Schrapnell zu kommen, das sich besonders tief in sein Gewebe gebohrt hatten.

Zumindest schwieg Heidenstein. Vielleicht war er auch eingeschlafen, doch das leise Zischen, das er ab und an von sich gab, wenn ein Stück sich nicht sofort lösen wollte, sprach dagegen. Er hatte offenbar eingesehen, dass Widerstand zwecklos war.

Am Ende waren es 54 Stücke, die sie aus Heidensteins Haut und dem darunterliegenden Gewebe entfernte, ehe sie die Wunden verband. Nur drei der größeren Schnitte nähte sie notdürftig.

„Noch wach?“, fragte sie betont sanft.

Er grunzte leise.

„Ich bin fertig“, meinte sie. „Du kannst versuchen, dich aufzusetzen.“

Mittlerweile war auch der Beutel Stereo durchgelaufen.

Mühsam drehte Heidenstein sich auf die Seite, ließ seine Beine über die Seite der Liege hängen und nutzte ihre Masse, um sich aufzusetzen.

Er war mittlerweile gänzlich nackt. Sie hatte kaum eine andere Wahl gehabt, als seine Hose ganz auszuziehen, als sie die Wunden an seinen Beinen behandelt hatte. Da allerdings auch sein Hintern einiges abbekommen hatte, war es kaum verwunderlich, dass Schmerz auf seinem Gesicht erkennbar war.

Zumindest einer Sache wurde nun klar: Er war nicht so alt, wie er vorgab. Streifen auf seinem Gesicht sprachen für Make-Up. Make-Up unterstützt mit einer Maske. Auch sein Körper war nicht der eines fünfzig- oder sechzigjährigen Mannes. Anders, als in Haupthaar und Bart zeigte sich an Armen, Beinen und Brust kein Grau.

Er musterte sie, verzog das Gesicht. „Im Vorratszimmer findest du Krankenhaushemden“, meinte er in einem geschlagenen Tonfall. „Hol mir eins, ja?“

Sie nickte, stand auf und ging, um das Hemd zu holen – froh, dass er dieses Mal wartete.

„Danke“, flüsterte er leise, als sie ihm half, in das Hemd zu schlüpfen.

„Kein Problem.“ Sie bot ihm ihren Arm an, um ihm aufzuhelfen. „Ich nehme an, du willst oben schlafen, oder?“

Der Schatten eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Dann nickte er und stand vorsichtig auf. „Ja.“

[24.05.2011 – D12 – Krankenschwester]

Der Fernseher lief, als die Tür zum improvisierten, fensterlosen Wohnzimmer geöffnet wurde.

„Du bist noch immer hier?“, fragte Heidenstein matt.

Pakhet blinzelte. Sie brauchte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass sie beim Fernsehschauen am Abend zuvor eingeschlafen sein musste. Verdammt. Sie hatte eigentlich wachbleiben wollen, um nach ihm zu sehen. Immerhin war sie sich der Gefahr eines Wundschocks bewusst.

„Ja“, erwiderte sie.

Ein mattes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, ehe er vorsichtig durch das Zimmer schlurfte und im Badezimmer verschwand.

Pakhet setzte sich auf und rieb sich die Augen. Erst jetzt merkte sie, wie steif ihr Nacken geworden war. Die Couch war nicht sonderlich bequem gewesen, hatte dank ihrer Müdigkeit jedoch dennoch gereicht.

Mit einem Seufzen schaltete sie den Fernseher, der einen Dokukanal zeigte, aus. Sie wartete.

Die Toilettenspülung im Bad rauschte, dann hörte sie Wasser laufen und ein leises, schmerzerfülltes Fluchen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich öffnete sich die Tür und Heidenstein schleppte sich in sein Zimmer zurück.

Ironischerweise wirkte er jünger, als am Abend zuvor. Das Make-Up schien er abgewaschen zu haben.

Sie kommentierte es nicht.

In der Tür zu seinem Zimmer hielt er inne. „Danke für gestern.“

Sie grunzte zur Antwort, zuckte mit den Schultern. Sie wandte den Blick ab. Es war ihre Schuld gewesen, dass es überhaupt passiert war. „Wie fühlst du dich?“

„Als hätte ich auf einem Stachelschwein geschlafen“, meinte er. Sein Humor war schnell zurückgekehrt. Er seufzte. „Besser. Wirklich. Danke.“

Ein weiteres Schulterzucken war ihre Antwort. „Soll ich dir etwas Frühstück machen?“

„Das würdest du tun?“ Er wirkte amüsiert.

„Ja“, murmelte sie, stand auf, um sich in die Küche zu schleppen. Bisher hatte sie hier nie gegessen, auch wenn sie mittlerweile vier Mal hier übernachtet hatte. Alles, was sie jedoch wusste, war, wo der Kaffee war. Und das auch nur, weil sie ein eigenes Paket Päckchen im Kabinett über dem Herd deponiert hatte. Heidenstein hatte bis dahin billigen Instantkaffee getrunken. Widerlich!

Also setzte sie Wasser auf, bereitete einen Kaffeefilter vor und durchsuchte dann die Schränke nach Brot und Aufstrich. Im Kühlschrank fand sie alles. Auch Butter, Käse und Wurst. Und Tomaten. Nach kurzem Zögern verarbeitete sie ungeschickt all das zu Sandwiches. Zwar hatten diese einige eingerisse Ränder, würden aber essbar sein.

Und so brachte sie einen Teller und eine Tasse Kaffee in sein Zimmer.

„Danke“, meinte er, während er sich vorsichtig aufrichtete und ein Kissen so in seinen Rücken legte, dass es ihn etwas abpolsterte.

Unterbewusst notierte sie, dass er junger aussah als normal. Schminkte er sich auf älter?

„Bitte.“

Er lachte leise. „Wow.“

Pakhet hob eine Augenbraue, musterte ihn. „Was?“

„Es ist ungewöhnlich, dass du so freundlich bist, ohne nicht mindestens einen zynischen Spruch hören zu lassen.“ Er lächelte.

Sie seufzte und kehrte in die Küche zurück, um sich ihre eigene Portion zu holen. Als sie mit dieser auf dem Stuhl neben seinem Bett saß, seufzte sie noch einmal. „Doc. Es tut mir leid, was gestern passiert ist.“

„Was?“, fragte er.

Verarschte er sie? „Die Granate.“

Er lächelte matt. „Pakhet. Du hast versucht, mir den Arsch zu retten. Das verstehe ich.“ Sein Lächeln wandelte sich in ein Grinsen. „Auch wenn du dadurch mir besagten Arsch mit Splittern durchlöchert hast.“

Für einen Moment war sie nicht sicher, ob sie lachen sollte. Sie verdrehte die Augen. „Das mag sein, aber ich habe einen Fehler gemacht und dich damit beinahe umgebracht.“

„Und du bist zurückgekommen, um mich da raus zu holen“, erwiderte er. Er seufzte, als sie nichts erwiderte. „Pakhet. Du bist auch nur menschlich. Vielleicht hast du dich mit der Granate verschätzt, aber hättest du sie nicht geworfen, hätten die Biester mich erwischt. Tot per Granate klingt immer noch angenehmer, als bei lebendigem Leib gefressen zu werden.“

Sie stöhnte frustriert – über ihn oder sich selbst? „Dennoch. Es tut mir leid.“

„Schon gut“, antwortete er. Vorsichtig nahm er einen Schluck Kaffee und lehnte sich wieder entspannter zurück.

Sie tat es ihm gleich und biss dann in das erste ihrer Sandwiches rein. Obwohl die Tomaten zu wässrig waren, war es genießbar.

Schließlich war es Heidenstein, der wieder ein Gespräch anfing. „Du hast also medizinisches Training?“ Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: „Warum hast du das nie erwähnt?“

„Weil ich kein ‚Training‘ in der Hinsicht habe. Ich habe nur oft genug mich selbst und andere zusammengeflickt.“ Und sie hatte eine entsprechende militärische Grundversorgung. „Ich hätte dich gestern besser zur Zentrale zurückbringen sollen.“

„Warum hast du es nicht getan?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich war leicht panisch.“

Heidenstein lachte leise. „Nun, ich bin nicht gestorben und es scheint, als hätte ich auch keine Schwermetallbelastung.“

„Du nimmst das ganze zu leicht“, meinte sie und schüttelte matt mit dem Kopf.

„Ich überspiele den Schmerz mit Humor“, antwortete er. „Was ich sagen will: Was du gestern gemacht hast, war erstaunlich professionell – für jemand, der kein Arzt ist und nur einen Arm hat.“

„Ich musste dich auch nur davon abhalten, dich mit einem Zauber selbst umzubringen“, erwiderte sie.

„Das tut mir leid“, meinte er. „Worauf ich hinauswill: Du hättest vorher mal was sagen können. Ich könnte ab und an ein wenig Hilfe gebrauchen.“

„Ich bin normal froh, dass du dich um Wunden von etwaigen Idioten kümmerst.“

„Hilfe wäre dennoch praktisch. Und  … Vielleicht könnte ich dir das ein oder andere noch zeigen.“

Worauf wollte er eigentlich hinaus? Wollte er sie zu seiner Krankenschwester machen? Sie seufzte. „Mal sehen.“ Dann wechselte sie das Thema. „Ich werde dir nachher etwas Schmerzmittel holen. Hast du jemanden, der rüberkommen kann, um auf dich aufzupassen?“

Heidenstein sah sie an, zögerte, schüttelte aber den Kopf. „Ich fürchte nicht.“

Wieso hatte sie es nur geahnt? „Ich muss das verdammte Artefakt zu Michael bringen. Danach hole ich ein paar Sachen aus meinem Haus und komme zurück.“ Was hatte sie auch sonst für eine Wahl? Jemand musste sich um ihn kümmern, solange er noch verletzt war. „Kannst du solange allein bleiben?“

Er lächelte, nickte. „Ich denke schon.“

Idiot.

[26.05.2011 – R03 – Gewissensbisse]

„Ah, Joanne.“ Robert betrachtete sie durch die offene Wohnungstür. „Ich hatte nicht mit dir gerechnet.“

„Ich hatte dir geschrieben.“ Sie hob ihr Handy, wusste aber was er meinte. Sie hatte sich fast zwei Wochen nicht mehr bei ihm gemeldet – und das, obwohl er ihr bester und eigentlich einziger Freund war. Zumindest war er bis vor kurzem ihr einziger Freund gewesen. Und das war das Problem: Zwischen den Jobs der letzten Tage hatte sie meistens Zeit mit Heidenstein verbracht. Er hatte Hilfe gebraucht. Sie hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, wegen dem Missgeschick mit der Granate.

„Ich weiß.“ Robert zog die Lippen hoch. „Ich meine nur. Ich dachte, du würdest am Ende doch nicht können.“ Er seufzte. „Du arbeitest zu viel, Joanne.“

Auch Pakhet seufzte leise. „Vielleicht. Es ist halt vorrangig die Chaostruppe, die ich betreue. Aber es ist nicht mehr lang.“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Nächsten Monat ist ihr großer Job und wenn wir alle lebend rauskommen, dann bin ich danach nicht mehr für die Chaoten zuständig und habe wieder mehr Zeit für dich.“

„Dann hoffe ich, dass du solange überlebst“, murmelte Robert und schüttelte den Kopf. Er trat zur Seite um sie in seine Wohnung zu lassen. Wer Robert kannte war beinahe überrascht, dass er nicht bei seinen Eltern lebte, mit denen er ein gutes Verhältnis hatte. Sie waren eine jener Familien, die zu Boerzeiten hergekommen waren und nun bereits in der neunten Generation in Südafrika lebten. Dafür war seine Wohnung das übliche Bachelor-Heim: Mittelguter Wohnkomplex, ein Ein-Zimmer-Apartment mit Bad und einer kleinen, durch eine halbhohe Mauer, die mit einer Arbeitsplatte abgedeckt war, abgetrennte Küche.

Das eigentliche Zimmer war zweigeteilt: Neben der großen Fensterfront, die zu einem kleinen Balkon führte, war sein Bett, dem gegenüber sein Fernseher inklusive Spielekonsole stand. Ein schmales, aber breites Regal aus dunklem Metall, das mit allerhand Videospielen und Film-BluRays gefüllt war, trennte den Schlafbereich von einem Wohnzimmer, in dessen Mitte ein hoher Glastisch stand. Der Rahmen war ebenfalls aus dunkel gefärbten Metall, so dass alles zusammen sehr geschmackvoll wirkte. Dennoch wirkte die Wohnung eingelebter als Pakhets eigenes Haus.

„Was hast du für heute Abend geplant?“, fragte Robert und ließ sich auf das Ende seines Bettes fallen, neben dem eine offene Bierflasche stand.

„Ich werde mich nach dir richten, mein Lieber“, meinte sie und schenkte ihm ein weiteres Lächeln. „Das bin ich dir Schuldig, oder?“

Er sah sie fragend an, als wartete er auf ein „Aber“.

Wenn er unbedingt wollte, sollte er es haben: „Aber eigentlich hatte ich überlegt, dass ich dich zum Essen einladen könnte. Der Vorteil an all der Arbeit ist, dass ich einiges verdient habe.“

„Woran hast du gedacht?“, fragte Robert.

„Giovanni's“, antwortete sie. „Ich habe auf acht zwei Tische bestellt.“

Robert starrte sie an. Giovanni's war eins der besseren Restaurants der Stadt. „Wow, du hast echt ein schlechtes Gewissen“, stellte er schließlich fest.

Sie lächelte matt, schwieg.

Robert ging zu seinem sehr schmalen Kleiderschrank – weiß, aus verschiedenen würfelförmigen Kästen zusammengesetzt – und öffnete eine der Kastentüren. „Da muss ich mir ja etwas ordentliches Anziehen.“

„Wirst du“, bestätigte sie. Sie verdrehte die Augen, als er begann, durch seine Hemden zu gehen und gleich drei anzuprobieren. Bei jedem anderen wäre es ihr zumindest etwas unangenehm gewesen, daneben zu sitzen. Doch Robert war anders. Er war ihr bester Freund, fast wie ein Bruder. Er war der einzige aus ihrem alten Leben, mit dem sie bis heute Kontakt hatte. Davon abgesehen würde zwischen ihnen nie etwas passieren – da sie für viele Männer vielleicht zu männlich, für ihn aber sicher zu weiblich war.

Und so entschloss sich Robert schließlich für ein rotes Hemd und eine dunkelgraue Hose. „Acht Uhr, sagtest du?“

Sie selbst trug eine schwarze Bluse und eine enge, ebenfalls schwarze Hose. „Jap.“ Es war bereits halb. „Wir sollten uns sputen.“

Er lächelte, legte seine Hand auf ihre Schulter. „Danke. Aber  …“ Er zögerte. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns dennoch öfter sehen würden.“

„Bemühen wir uns“, meinte sie. Sie trat zur Tür und hielt sie ihm auf. „Nach dir.“

Er musterte sie und ging an ihr vorbei. „Dafür, dass du dich in letzter Zeit mit den Chaoten rumschlagen musst, hast du erstaunlich gute Laune“, kommentierte er auf dem Weg zum Aufzug. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn und drückte auf den Knopf neben der Aufzugtür. „Ist irgendetwas passiert?“

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes.“

Robert hob misstrauisch die Augenbrauen und grübelte. „Du bist doch nicht etwa verliebt, oder?“

Sie lachte schnaubend. „Ich?“

„Natürlich nicht.“ Er verdrehte die Augen, als der Aufzug mit einem „Ping“ bei ihnen im fünften Geschoss ankam.

[27.05.2011 – M03 – Wetteinsatz]

„Ich muss ja ganz ehrlich sagen, ich war noch nie bei einem solchen Arenakampf“, erzählte Murphy frei heraus, als sie aus Pakhets Wagen ausstiegen.

Pakhet warf ihm einen Seitenblick zu, sagte aber nichts. Sie glaubte ihm nicht. Jemand wie er war mindestens einmal da gewesen und sei es nur um herauszufinden, ob es dort Mädchen zum Aufreißen oder Möglichkeiten zum Geldverdienen gab.

Die Location war tatsächlich unüblich, aber durchaus passend. Das große, rechteckige Gebäude war früher einmal die Sporthalle einer schon lang geschlossenen Schule gewesen und bot damit wohl beste Voraussetzungen in einen Ring verwandelt zu werden. Sie lag am südlichen Ende der Cape Flats, wo die Gegend nicht mehr ganz so schlecht war, dass die Umliegende Häuser meistens Wellblechhütten waren, aber auch nicht so gut, als dass die Polizeipräsenz erwähnenswert war. Hier wurde die Sicherheit von privaten Securityunternehmen gestellt und diese beschützten meisten den, der dafür zahlte.

Diese Ringe wurden meistens von Drogenkartellen unterhalten. Vielleicht auch von einer ausländischen Mafiagruppe. Sie würden sehen, wen man dort antreffen würde.

Smith hatte sie mit Tickets versorgt. Diese waren auf rotem, billigem Papier gedruckt und mit der Aufschrift „Colosseum – 1 Person, Night Entry, May 27th 11“ versehen. Colloseum. Natürlich. Wie einfallslos.

„Spricht irgendetwas dagegen, dass ich kämpfe?“, fragte Mik, der mit verschränkten Armen in die Arena marschierte.

„Wenn du dich darum bemühst, dich nicht umbringen zu lassen“, kommentierte sie. „Wegen meiner.“ Selbst wenn man ihn umbrachte, würde Smith ihn wohl ersetzen. Vielleicht durch diesen Maximilian.

„Oh. Oh.“ Spider sah sie an. „Darf ich auch?“

„Du weißt, dass darin Waffen meistens nicht erlaubt sind, oder?“, erwiderte sie. Spider war kein schlechter Nahkämpfer, aber wirklich zu gebrauchen war er nur, wenn er sein heiß geliebtes Katana dabeihatte.

„Sind sie“, kommentierte Mik. „In den tödlichen Kämpfen.“

Natürlich. „Nein, Spider. Bei so etwas machst du nicht mit.“

„Ach man.“ Er kickte eine leere Bierbüchse, die auf dem Boden lag.

„Du könntest teilnehmen“, meinte Murphy und grinste sie an. „Dann könnte ich auf dich Wetten und abkassieren. Ich wette, würdest du den Arm aufgeben, könnte ich bessere Quoten bekommen.“

So eine Idee konnte nur von dem Jungen kommen – dem Jungen, der aktuell in der Gestalt eines Anfang dreißigjährigen dunkelhäutigen Mannes herum lief.

„Kein Interesse“, kommentierte sie. „Ich bin nur hier, um den Typen zu finden und mit ihm zu reden.“

„Wäre in der Arena doch am leichtesten, oder?“, meinte Murphy, nun ganz begeistert von der Idee.

„Murphy. Ich mache bei so etwas nur mit, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“ Die Erinnerung an eine „Töte ihn“ rufende Menge kroch in ihr hoch. Nein, so etwas brauchte sie nicht unbedingt noch einmal. „Wir suchen diesen Max und wenn wir ihn gefunden haben, schauen wir, dass wir in Ruhe mit ihm reden. Am besten übernimmst du das.“

„Ich?“ Er tat überrascht.

„Ach, komm, du könntest 'nem Inuit 'nen Kühlschrank verkaufen, wenn du wolltest.“

„Ich fühle mich durch dein Vertrauen geehrt“, meinte er grinsend.

Sie kamen an der kurzen Schlange vor dem von zwei brennenden Fässern erleuchteten Halleneingang an. Hier waren zwei bullige und bewaffnete Typen, die die Tickets kontrollierten.

Die anderen Leute, die hier in der Schlange standen, wirkten größtenteils wie einfache Leute. Sie waren wirklich nur als Zuschauer hier, oder? Sie würden herausstechen. Sie machte sich jetzt schon auf einige Anmerkungen gefasst.

Diese kamen auch prompt, als sie an der Reihe waren. „Ist denn schon Winter?“, meinte der Typ, der ihre Karte kontrollierte. Er hatte einen dicken Akzent und trug bloß ein Trainingstop, wie sie letztes Jahr bei der Fußball WM in Massen verkauft worden waren.

Sie schenkte ihm ein knappes, humorloses Lächeln und er ließ sie passieren.

Innen schlug ihnen der Gestank von Feuer, Schweiß, Sand und auch etwas, das deutlich nach getrocknetem und lange Zeit nicht fortgewischtem Blut roch, entgegen.

Lecker.

Sie bugsierte ihre jungen Begleiter in die Richtung, wo sie die eigentliche Halle vermutete. Licht schimmerte ihnen von dort entgegen. Licht und das Grölen durcheinanderredender Stimmen.

„Lass mich einmal fragen“, meinte Murphy.

„Ich will mich erst umsehen“, antwortete sie.

„Pakhet. Die Spiele gehen in einer halben Stunde los und ich fände es vorteilhaft, wenn wir ihn vorher finden würden.“

„Aha.“ Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas im Schilde führte. Sie ahnte sehr wohl was. Dennoch seufzte sie ergeben. „Ich schwöre dir, wenn du irgendwelche Scherze versuchst …“

„Ich doch nicht.“ Er grinste und löste sich von ihr, um in die Richtung zu laufen, in der in der Sporthalle wohl einst die Umkleidekabinen gewesen waren.

Sie drängte derweil weiter durch die auch hier stehende Menge und erreichte eine gläserne, aber mit roter Farbe übermalte Doppeltür, die zur Halle führte. Sie drückte eine der beiden Türen auf.

Lärm und Gestank schlugen ihr noch stärker entgegen, als zuvor. Die Halle war selbst für eine Sporthalle groß, erinnerte sie eher an Hallen, wie sie sie in den USA kennen gelernt hatte. Man hatte aus Holz Tribünen für die Zuschauer gebaut und an einem ebenfalls hölzernen Stand wurden Wetten angenommen und gleichzeitig Getränke verkauft. Pisswarmes Dosenbier. Ekelhaft.

Während Spider und Mik blindlings zum Stand watschelten, versuchte sie sich einen Eindruck der Halle zu verschaffen. Die Tribünen waren um einen etwa zwanzig oder fünfundzwanzig, mal fünfzehn Meter großen Bereich, der mit Sand gefüllt war, aufgebaut. Selbst in der ersten Reihe, saß man knapp eineinhalb Meter über dem eigentlichen Geschehen.

Gesamt war die Halle geschätzt um die sechzig Meter lang und vielleicht fünfunddreißig Meter breit.

Sie kletterte eine Tribüne hinauf, überrascht zu sehen, dass auf der gegenüberliegenden Seite der Halle, ein ganzer Block hellhäutiger Menschen saß. Konnte es sein? Sie ging davon aus, dass sie irgendeiner kriminellen Gruppe angehörten und die zwei Gruppen, die hier den größten Einfluss hatten, war die russische Mafia und das, was man wohl als „niederländische Mafia“ bezeichnen konnte. Sie nannten sich die Likedeeler und waren die kläglichen Überreste der Verbündeten irgendeines legendären europäischen Piraten. Sie hatte es einmal nachgelesen und die Geschichte dann als Unsinn abgetan.

Sie blickte sich um. Es war noch eine Weile, bis der eigentliche Kampf losging, doch die Menge – und es war voll – zitterte bereits förmlich vor Aufregung.

Sie schürzte die Lippen. Persönlich erfreute sie sich nicht daran, zu sehen, wie Leute einander töteten. Wenn der Junge es vorher schaffte, diesen Max hier herauszuholen, war es besser. Sofern dieser Max keine Verpflichtungen hatte. Das konnte sie so gar nicht gebrauchen – jemanden freikaufen zu müssen. Es würde ihnen noch mehr Probleme bereiten.

Sie seufzte.

Abwarten.

Und so wartete sie. Spider gesellte sich nach fünf Minuten zu ihr. Mik hatte sich offenbar angemeldet. Sollte ihr Recht sein. Sie war kein Babysitter und wäre sie nicht mit ihm hier gewesen, hätte er vielleicht dasselbe getan.

Weitere sieben Minuten später drängte sich Murphy durch die Menschenmasse zu ihnen hindurch.

Er zupfte am Ärmel ihrer Jacke. „Pakhet?“

Sie schaute zu ihm auf. „Was ist?“

Er lächelte ein unschuldiges Lächeln. „Du. Dieser Max – die nennen ihn hier Crash – hat einen ganzschönen Fanclub.“

„Und weiter?“

„Die lassen mich nicht zu ihm. Er ist der große Star, weißt du?“

„Aha?“ Sie hob eine Augenbraue.

„Deswegen habe ich gesagt, ich wäre dein Manager und dich für einen Kampf eingetragen. Wenn du drei Kämpfe gewinnst, kannst du gegen ihn antreten.“

Wieso hatte sie das nur geahnt?

„Murphy?“

Er grinste. „Sorry. Aber wenn du gewinnst, gehen wir mindestens zwanzigtausend Rand reicher hier heraus. Ich teile natürlich mit dir.“

[27.05.2011 – X05 – Arena]

Warum hatte sie sich darauf eingelassen? Es musste andere Möglichkeiten geben, mit Max oder Crash zu reden.

Schlechtgelaunt stand sie in der Umkleide, umgeben fast ausschließlich von Männern, von denen die meisten dunkelhäutig waren. „Crash“ sah sie nirgends. Natürlich nicht. Er war ganz offenbar der Star der ganzen Veranstaltung.

Sie hatte sich mehr als eine Anmerkung anhören dürfen, seit sie hier war. „Hey, sollte ein Krüppel nicht besser zuhause bleiben?“ und „Wo hast du den deinen Arm verloren, Schätzchen?“. Wenn Murphy ihre Prothese verlor, würde sie ihn den Rest seines Lebens  … Sie wusste es noch nicht. Aber es würde keine gute Konsequenz für ihn haben.

„Bist du dir sicher, dass du hier richtig bist, Lady?“, knurrte ein Mann, der dem Aussehen nach persischer Abstammung war.

„Ja, ich bin mir sehr sicher“, erwiderte sie. „Ich bin mir ebenso sicher, dass du hier nicht richtig bist. Dein Platz ist eher“ – sie blickte sich im Raum um und zeigte dann auf die am weitesten entfernte Ecke – „da drüben.“

„Fick dich doch, Lady“, schnauzte er und erntete damit ein Messer an der Kehle.

Er zuckte zurück. Aus seiner Sicht war das Messer wahrscheinlich aus dem Nichts erschienen.

Sie schenkte ihm einen langen Blick, anstatt weiterer Worte und nickte auf die hinterste Ecke, in die er sich verzog.

Ach, verdammt. Sie hasste es, nur einen Arm zu haben. Die Prothese war nicht so schnell, nicht so geschickt und nicht so gut zum Kämpfen geeignet, wie ihr normaler, rechter Arm, ersparte ihr aber zumindest einen Teil der Anmerkungen.

Murphy hatte allerdings recht: Sie war zwar kräftig gebaut, jedoch eher im athletischen Sinn. Sie war kein Muskelprotz, wie zwei der anderen Frauen, die sie hier gesehen hatte und die meisten der Männer. Ein nicht unerheblicher Teil ihrer Kraft kam aus ihrer Fähigkeit, Magie in ihren Körper aufnehmen zu können, und aus ihrer Technik. Mit nur einem Arm würden fraglos die meisten gegen sie wetten. Und hey, wenn sie die Möglichkeit hatte, hier ein wenig Geld rauszuholen, würde sie es nutzen.

Dennoch ihr eine Sache nicht: Sie hatte ihre Messer behalten. Auch andere hier trugen Äxte, Messer, Schwerter, Stäbe. Und das bedeutete eindeutig, dass sie in der tödlichen Klasse gelandet war, wenn sie Miks Worten von vorher glauben schenken durfte. Eine Sache war sicher: Sie würde nicht zur Unterhaltung irgendwelcher anderer Leute morden.

Aus der Halle hörte sie Rufe, Brüllen. Wahrscheinlich waren die Vorkämpfe die nicht tödlichen, waffenlosen.

Großartig.

Zeit verging. Es gab eine Uhr, aber diese war wahrscheinlich bereits vor Jahren stehen geblieben.

Dann wurden die ersten von hier rausgerufen. Immer zwei auf einmal. Viele schenkten sich obzöne Gesten, Beleidigungen, knurrten einander wie wilde Tiere an, ehe sie in zwei unterschiedliche Gänge geführt wurden.

Es stand zu vermuten, dass man unter den Tribünen Gänge gebaut hatte, so dass die Kontrahenten von zwei verschiedenen Seiten in die Arena kamen. So war es dort gewesen, wo sie das letzte Mal gekämpft hatte.

Irgendwann – mindestens eine Stunde war vergangen – wurde auch sie rausgerufen. „The Iron Bitch“, oh, sie würde sich etwas ausdenken, um Murphy für diesen Namen zu bestrafen.

Ihr Kontrahent war ein kräftiger, aber allgemein dünner Typ mit einem Schwert. Einem Katana natürlich – weil alle coolen Kinder meinten, dass sie Katana brauchten.

„Sicher, dass du nicht nach Hause gehen willst, Bitch“, zischelte er.

Sie schenkte ihm bloß einen kühlen Blick, ehe sie in den linken Gang ging, der – ganz wie erwartet – unter der Tribüne hindurch führte.

Es stank hier. Gott, die Veranstalter schienen wenig auf Hygiene zu geben. Großartig. Das bedeutete, dass selbst, wer schwerverletzt überlebte, am Ende gute Chancen hatte, an einer Blutvergiftung zu krepieren.

Sie trat vor ein Tor, durch das Licht schimmerte und wartete, dass der Typ, der hier offenbar der Wächter war, es öffnete. Aus der Halle hörte sie die Stimme eines Ansagers. Er sprach Afrikaans.

Ihr Kontrahent nannte sich offenbar „Kuzimi“. Wie auch immer.

Gelaber. Einarmig. Erstes Mal in der Arena. Der Ansager hoffte, dass man sie schnell töten würde. Es wäre doch unfair.

Sicher. Sie hatte Mr Kuzimi gesehen und er sah nicht sonderlich intelligent aus. Sie war sich sicher, schneller zu sein als er. Und am Ende zählte Geschwindigkeit mehr, als alles andere.

Schließlich wurde das Tor geöffnet und sie trat hinaus. Im ersten Moment blendete das Licht sie. Die Dumpfbacken hatten Baustellenbeleuchtung als Scheinwerfer installiert. Wundervoll.

In Momenten wie diesen, war sie dankbar für das magische Glasauge, das es ihr schnell erlaubte, wieder eine Übersicht über ihre Umgebung zu bekommen.

Sie blieb stehen, das erste ihrer Messer in der Hand und wartete.

„Damit gebe ich den Ring frei“, sagte der Ansager in Afrikaans.

So viel zum Thema warten.

Kuzimi kam auf die zugelaufen, dass Katana erhoben. Viel zu weit, wie sie feststellte. Er hatte keinerlei Deckung. War es zu viel verlangt, jemanden zu haben, der zumindest ein wenig formales Training genossen hatte?

Sie duckte sich leicht, spannte ihre Beine an und wartete, bis er sie fast erreicht hatte. Dann sprang sie an seiner rechten Seite vorbei, schnitt ihn mit dem Messer in die Seite. Es war kein tiefer Schnitt, doch war er genau unter seiner Schultersehne, würde ihn behindern.

Er fuhr zu ihr herum. „Bitch.“

Sie konnte sich einen Kommentar nicht gänzlich verkneifen: „Ja, das ist hier offenbar mein Name.“

Er schlug mit dem Schwert zu, doch ein einfacher Schritt nach links reichte ihr, um auszuweichen. Den nächsten Schlag wich sie durch einen kurzen Sprung aus. Der hatte absolut keine Ahnung, wie man mit einem Katana umging. Er hieb wieder und wieder zu, stolperte dabei vorwärts, machte viel zu viele Schritte, wann auch immer sie leicht zur Seite trat. Beinarbeit hatte er nie gelernt.

Sie hörte Rufe aus dem Publikum. „Jetzt mach schon!“ – „Worauf wartest du?“ – „Das ist doch nur ein Krüppel!“ – „Zieh für die Bitch keine Samthandschuhe an.“

Amüsant.

Sie brachte sich in Position, dass er sie direkt von vorn attackieren konnte. Natürlich versuchte er es. Er wollte einen Hieb in ihre Schulter setzen. Pakhet wartete den Schlag ab und fing sein Schwert mit ihrem Messer, das einen knappen Parierschutz hatte. Genug für ein Katana.

Hätte sie nicht ihre Fähigkeiten gehabt, wäre sie im Nachteil gewesen. Er hatte den längeren Hebel. Doch die Magie in ihren Muskeln erlaubte es ihr, entgegen zu halten. Sie machte einen Schritt nach vorne, ließ mit Schwung ihr Messer an am Katana entlanggleiten. Die japanische Waffe hatte keinen wirklichen Parierschutz.

Sie hatte volle Kontrolle über sein Schwert, obwohl sie nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde brauchte, um bei seinen Händen anzukommen. Sie nutze das Messer als Hebel, überspannte seine Hände, sich dessen bewusst, ihm das Schwert so nicht entwinden zu können. Sie brachte ihn aber aus dem Gleichgewicht.

Er sah sie wütend an, konnte sie aber nicht aufhalten. Sie nahm ihr Messer, stach in seine Hand und trat im Moment, als er aufschrie zu. Ihr Tritt war in seine Hüftgegend gerichtet und erreichte, was er sollte: Mit dem Messer noch in seiner Hand steckend, fiel er nach hinten. Er wollte sich zur Seite rollen, aber war bereits auf ihm, trat auf seine Schulter und ließ ihn aufschreien.

Das Messer steckte in seiner rechten, doch noch immer hielt er mit der Linken das Katana umklammert. Er hob es. Nichts, was sie nicht erwartet hätte.

Sie hob ihr Bein und rammte ihre Ferse in seine Armbeuge.

Kuzimi schrie auf. Seine Hand öffnete sich und das Schwert viel in den Sand, wo es liegen blieb.

Ihre Ferse hatte einen blutigen Abdruck in seinem Arm hinterlassen.

Es blieb noch eine Sache. Sie ging in die Knie und setzte einen Fingerschlag knapp unterhalb seiner Kehle. Eine andere Möglichkeit hatte sie ohne Gifte nicht.

Doch es reichte. Sein Schrei verstummte und damit auch das Publikum.

Sie sah sich um, hob ihr Messer auf, wischte es ab und steckte es wieder ein, stand auf.

Einer der Wächter, die am Rand der Arena Wache gehalten hatte, kam hinüber und fühlte den Puls. Er wandte sich zur Tribüne, wo der Kommentartor auf einer Art kleinem Podium stand.

„Er lebt noch!“

„Und das bleibt auch so“, erwiderte Pakhet und marschierte zum Tor zurück. „Wenn ihr ihn sterben sehen wollt, bringt ihn selber um.“

[27.05.2011 – C01 – Champion]

Die kommenden Kämpfe waren nicht viel anders. Als zweites kämpfte sie gegen Zamo, eine große afrikanische Frau, die zumindest etwas Kampftraining zu haben schien und einen Stab benutzte. Sie war eindeutig fähiger, als Kuzimi. Am Ende waren es Pakhets Reflexe, die den Kampf gewannen und es ihr erlaubten die Kämpferin auszuschalten. Murphy dürfte sich freuen.

Anders sah es mit den anderen Zuschauern aus. Sie buhten sie aus, verlangten, dass man sie disqualifizierte, weil sie nicht tötete. Verdammt noch mal, sie mordete, wenn es notwendig war. Nur, wenn es notwendig war.

Am Ende disqualifizierte sie niemand und sie kämpfte gegen, Bhima. Der Typ war der indische Mann, der sie zuvor im Warteraum angepöbelt hatte.

Sie ließ sich nicht beirren. Die meisten Fehler hier im Ring geschahen, da die Kontrahenten sich von ihren Gefühlen übermannen ließen. Wut, Angst – beide vernebelten das Urteilsvermögen.

Sie hatte gelernt all das auszublenden.

Zumindest war Bhima eine größere Herausforderung als die beiden zuvor. Er hatte sein großes Messer, aber auch kurze Wurfmesser, die es im erlaubten, den Abstand zu suchen. Seine Taktik war, seinen Kontrahenten ausweichen zu lassen, ihn auf Abstand zu halten und derweil geworfene Messer einzusammeln. Tatsächlich schaffte er es ein einziges Mal Pakhet am linken Armstumpf zu erwischen, wo sich ein blutiger Schnitt bildete. Sie würde die Wunde später reinigen lassen müssen.

Womit er nicht rechnete war, dass sie die Messer abwehrte. Es reichte ihr, nachdem sie sein Spiel für eine Weile mitgespielt hatte. Ihre Reflexe waren gut genug um einen langsamen Gegenstand wie ein Wurfmesser aus der Luft zu schlagen. So blieb sie an einer Stelle stehen, bis er nur noch drei Messer hatte.

Dann rannte sie auf ihn zu. Er zog sein Schwert, war aber zu langsam. Sie duckte sich unter seinem Schlag weg, versetzte auch ihm einen Schnitt unter den Arm, drehte sich hinter ihm, schnitt seinen Rücken. Während er sich umdrehte, trat sie in seine Kniekehle, brachte ihn damit automatisch zum einknicken. Sie hinterließ einen weiteren Schnitt in seinem Nacken. Dann versetzte sie einen flachen Schlag gegen seinen Solarplexus und schaltete ihn damit aus.

Zumindest hatte er nicht geschrien.

Wieder buhten die Zuschauer, was sie kalt ließ. Sie hatte nicht vor ein gefeierter Champion zu werden. Wäre Murphy nicht gewesen, wäre sie nicht hier unten.

Ruhig kehrte sie in den mittlerweile leeren Umkleideraum zurück. Sie fragte sich, ob wirklich alle anderen, die zuvor hier gewesen waren, tot waren. Es war mehr als genug Blut in der Arena verschüttet worden, das nun den Sand verklebte.

Sie wartete, trank Wasser, wusch die Wunde an ihrem Arm aus. Dieses Mal dauerte es nicht lange, bis man sie rief und sie wieder durch den Tunnel zurückging. Der Champion hatte wohl seinen eigenen Zugang.

Oh man. Wie sollte sie das anstellen? Wenn dieser Crash – der mehr als einen Kopf größer als sie sein würde – wirklich so umfeiert wurde, war er wahrscheinlich brutal Sie wollte eigentlich nicht gegen ihn kämpfen, wollte nur mit ihn reden. Doch das konnte sie kaum in der Arena machen.

Großartig.

Sie wusste nicht einmal viel darüber, wie er eigentlich kämpfte.

Nur halb hörte sie auf die Ansage, schnappte aber eine Sache auf: „Mit seinen Speeren.“ Also nutzte dieser Crash Speere? Auch gut. Beim Namen Crash hatte sie eher auf einen Hammer getippt. Wohl zu Klischee.

Sie betrat langsam die Arena, wo sie für einen Moment von den Wachen abgesehen allein war. Dann öffnete sich die zweite Tür und Crash kam heraus.

Er wirkte noch massiger, als auf den Fotos, musste sich bücken, um durch das Tor zu kommen. Seine Haut wirkte sogar für afrikanische Verhältnisse dunkel, beinahe schwarz. Sein Haar lag in Rasterzöpfen locker über seine Schultern, erinnerte an eine Mähne. Sein Oberkörper war muskelbepackt und schwer. Seine Gang war entschlossen. Er trug nur eine offene Lederjacke, deren Ärmel abgerissen waren. Sein Sixpack war darunter deutlich zu sehen. An den Beinen trug er eine stark mitgenommene Jeans. Er war barfuß.

Und tatsächlich: Speere. Er hatte einen Köcher mit Speeren über der Schulter hängen. Pakhet zählte sieben Stück.

Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Durch seine Größe würde er ihre Reichweite bei weitem übersteigen, die Speere gaben ihm extra Reichweite.

Ob er damit schon Zuschauer ausversehen umgebracht hatte?

Sie zögerte. Sie hätte kein Problem ihn umzubringen, doch das war nicht ihr Ziel.

Das Publikum jubelte seinen Namen, als er sich umsah, jedoch ohne ein einziges Mal zu lächeln.

Schließlich wandte er sich Pakhet zu, ein seltsames Schimmern in den Augen.

War es magisch? Dann hatte Smith Recht.

„Ich habe gehört“, brummte er auf Afrikaans, „dass du dich nicht an die Regeln hältst.“ War es Show?

„Ich töte nicht, nur damit andere sich amüsieren“, erwiderte sie.

Er grummelte und nahm einen Speer aus seinem Köcher. „Dann wirst du ein Problem haben. Mein Schädel ist zu dick.“ Er grinste verschlagen.

Pakhet machte sich bereit. „Das werden wir sehen.“ Mehr würde sie nicht sagen.

Sie wartete auf den Ansager. Das teils jubelnde, teils buhende Publikum blendete sie aus. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, fokussierte sich auf Maximilian Verway – Crash, der seinen Speer in der Hand abwog.

Dann endlich die erwarteten Worte. „Ich gebe den Ring frei.“ Gut!

Crash hob den Arm, warf den Speer, der mit immenser Geschwindigkeit durch die Luft sauste. Wie viel Kraft hatte der Typ?

Dieses Mal brauchte sie einen gewagten Sprung, um weg zu kommen.

Der Speer blieb im Sand stecken, grub sich gute fünfzehn Zentimeter in den blutgetränkten Boden. Fuck!

Sie rollte sich ab, kam rasch auf die Beine. Sofort richtete sie ihren Blick auf Crash, der den nächsten Speer zog und sie musterte. Er war selbstsicher. Er konnte diesen Kampf nicht verlieren – weil sie nicht töten wollte.

„Kein Gegenangriff, Lady?“, knurrte er.

Sie antwortete nicht, musterte ihn. Wie konnte sie an ihn herankommen? Sie musste erst einmal sehen, wie gut seine Reflexe waren. Und sie musste die Speere aus der Rechnung streichen.

Langsam ging sie zurück dahin, wo sie hergekommen war, den Blick auf ihn gerichtet. Er wartete, wollte sie angreifen lassen.

Sie nahm den Speer, hielt das Ende fest, trat auf den Schaft, zerbrach ihn. Einer weniger. Es blieben fünf.

Er ließ ein Grunzen hören, das „Ich verstehe“ zu sagen schien. Dann rannte er auf sie zu.

Na toll. Der Typ war nicht nur stark, sondern auch noch schnell. Er war groß und kräftig und schaffte es beides für den Lauf einzusetzen. Es waren acht Meter zwischen ihnen gewesen, die er mit sechs schnellen Schritten überwand. Er wirbelte den Speer herum, vorrangig zur Show, zielte dabei jedoch auf ihre Brust.

Dankbarerweise ließen ihre Instinkte sie nicht im Stich.

Sie ließ sich in die Hocke fallen und sprang dann nach vorn, so dass sie hinter ihm war. Erneut versuchte sie, seine Kniekehlen zu erwischen, aber er war schneller. Er fuhr herum, entging ihrem Tritt, zwang sie dazu, rückwärts zu springen.

Seine Geschwindigkeit war übermenschlich – wie ihre. Gestaltwandler klang immer wahrscheinlicher. Das half ihr aber nicht, hier lebend rauszukommen.

Was konnte sie tun? Sie musste ihn irgendwie zu fassen bekommen.

Wieder hieb er nach ihn und sie zog ihr Messer. Es war ein Kampfmesser, wie sie es bei der Armee zu nutzen gelernt hatte. Etwas größer als die übliche Ausführung. Die Klinge war knapp fünfzehn Zentimeter lang.

Sie brauchte den richtigen Winkel.

Mit zwei Ausfallschritten links schräg nach hinten wich sie den kommenden zwei Hieben aus – rechts, links – so dass der nächste Hieb wieder von rechts kam. Sie hob das Messer, fokussierte ihre Energie in den Arm, um es nicht fallen zu lassen, und schaffte, was sie plante. Sie zerschnitt den Speer, durchtrennte den Schaft etwa dreißig Zentimeter von der Spitze entfernt.

Crash hielt inne, blickte auf den Holzscheit in seiner Hand und grinste. Er schmiss das Holz weg und stellte sich vor sie. Er wollte sie zu einem Angriff provozieren.

Wenn sie es richtig anging, konnte sie ihn vielleicht zum Fall bringen. Sein muskulöser Oberkörper gab ihm einen hohen Schwerpunkt. Das konnte ihr Vorteil sein.

Sie machte einen Schritt nach links, gefolgt von einem weiteren. Dann sprang sie vorwärts, instinktiv ein neues Ziel vor Augen.

Er griff nach ihr, doch sie duckte sich weg. Ihr Messer schnellte vorwärts, mit einem Ziel: Den Lederriemen, der seinen Köcher hielt. Sie traf ihr Ziel. Köcher und Speere fielen zu Boden.

Während das Publikum buhte, ging sie wieder auf Abstand. Er musterte sie, hob den nächsten Speer, dann noch einen, den er in seiner Linken hielt.

Er hatte noch vier.

Sie wich bis kurz vor die hölzerne Wand, die die Arena umgab, zurück. Einen guten Plan hatte sie noch immer nicht. Ihr größtes Problem, war ihr Mangel eines Hebels. Hätte sie beide Arme, könnte sie ihn eventuell lang genug würgen, um ihn so auszuschalten, aber dank Murphy war sie einarmig und würde es so kaum schaffen ihn lang genug fest zu halten.

Verdammt. Sie hatte ein Problem.

Es sei denn  …

Er warf den ersten Speer und sie rollte sich zur Seite. Der Speer schoss durch das Holz, verschwand gänzlich auf der anderen Seite.

Wenig überraschend war der zweite Speer auf die Stelle gezielt, wo sie eigentlich gelandet wäre, hätte sie sich nicht vorher abgebremst. Keine zwei Zentimeter von ihrer Brust entfernt, bohrte sich auch dieser Speer durchs Holz, sie drehte sich ab, lief am äußeren Rand der Arena entlang, während er die anderen beiden Speere aufhob. Sie konzentrierte ihre Energie in die Beine.

Crash drehte sich, während sie an ihm vorbei lief, den Speer zum Wurf bereit.

Schließlich schlug sie einen Haken, lief auf ihn zu.

Wenig überraschend holte er mit dem Speer aus. Er schien ihn ihr direkt in die Brust rammen zu wollen. Sie nutzte ihre gesammelte Energie, sprang über den Speer und seinen Arm hinweg und landete auf seiner Schulter.

Damit hatte er nicht gerechnet. Mit einem Tritt sollte sie ihn aus dem Gleichgewicht bringen können. Doch er fuhr herum. Er hob den linken Arm und gerade, als sie sich abstoßen wollte, bekam er sie zu fassen. Sie spürte, wie sich seine Hand – fast schon eine Pranke – um ihr Fußgelenk schloss.

Dann wurde sie gen Boden geschleudert.

Sie keuchte auf, als ihr Kreuz auf dem Sand aufschlug. Luft entwich ihrer Lunge und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Wären ihre Kräfte nicht gewesen, hätte sie sich nicht rühren können, aber so half ihr ihre Magie. Noch bevor sie sah, wusste sie, dass der Speer auf sie zusauste und schaffte es sich zur Seite zu drehen, froh, dass Crash ihr Bein losgelassen hatte.

Die Spitze des Speers schnitt in die Seite ihres rechten Arms, verletzte aber nur Haut.

Sie trat dahin, wo sie instinktiv wusste, dass Crash' Beine waren, zielte auf die Kniescheibe. Er stöhnte auf und sie trat nach. Dann rollte sie sich weiter, kämpfte sich wieder auf die Beine.

Er fuhr herum, doch wieder duckte sie sich weg, während die Welt langsam wieder in den Fokus kam. Noch immer war ihr Atem flach. Ihre Schultern schmerzten und verdammt, sie gab Murphy die Schuld dafür.

Ihr Messer lag auf dem Boden. Sie brauchte es! Also drehte sie sich, sprang dahin. Sie bekam es zu fassen, wich erneut dem Speer aus, duckte sich zur Seite und Schnitt in seinen Oberarm.

Er zischte, schrie aber nicht, als sie erneut sprang. Dieses Mal schnitt sie in seine Schulter, ehe sie sich zu Boden fallen ließ, unter seinem Arm hinweg tauchte und hinter ihm war.

Wieder fuhr er herum, doch dieses Mal nicht schnell genug. Sie schnitt in seine Seite.

Die Verletzungen würden ihn nicht zu Boden gehen lassen, da machte sie sich nichts vor. Allerdings würden die Wunden ihn ablenken. Sie sollten ihn unvorsichtiger werden lassen.

Sie wich seinem Speer erneut aus, brachte erneut Abstand zwischen sich und ihn.

Das Rot seines Blutes wirkte auf seiner dunklen Haut beinahe Schwarz.

Er knurrte, warf nun den Speer und zwang sie damit, wieder auszuweichen. Dieses Mal sprang sie nach vorne. Sie musste ihn wieder in ihre Distanz bekommen.

Das war jedoch ein Fehler. Vielleicht hatte er damit gerechnet, vielleicht hatte er nur Glück. Er bekam sie zu fassen, erst an der Schulter, doch bevor sie sich seinem Griff entwinden konnte, war seine Pranke an ihrer Kehle. Er drückte sie gegen die Holzwand und das Publikum johlte.

Verdammt. Seine Hand war groß genug, um ihren Hals fast komplett zu umfassen. Mit seiner Linken, griff nach ihrer Hand, um ihr das Messer zu entwinden.

Sie hatte ein Problem.

Schon spürte sie das Blut in ihren Ohren rauschen, spürte den Druck in ihrem Kopf. Sie hielt sich davon ab, nach Atem zu ringen, wusste, dass es keinen Sinn hatte.

Er griff fester zu. Er könnte ihr Genick brechen, da war sie sich sicher.

Sie hatte nur eine Chance.

Halb blind und gänzlich durch ihre Instinkte geleitet, schlug sie mit dem Messer nach seiner Hand. Sie spürte Widerstand. Seine Handfläche und für einen Moment hielt seine Linke inne.

Sie stach mit dem Messer nach seinem Arm, schnitt ins Handgelenk und trat dann aus – nach seinem Magen.

Am Ende wusste sie nicht, was von diesen drei Dingen es war, doch für einen Moment lockerte sich sein Griff und sie schaffte es, seine Hand zu fassen zu bekommen.

Sie ließ sich fallen, holte tief Luft.

Dieses Mal brauchte sie zwei Sekunden um sich zu fangen. Zwei Sekunden, die er ihr nicht geben wollte. Er schlug zu, die Faust dahin gezielt, wo ihr Kopf war.

Es waren gänzlich ihre Instinkte, die reagierten. Sie sprang an ihm vorbei, schnitt erneut. Dieses Mal hinterließ sie eine längere Wunde auf seiner Schulter.

Dann war sie hinter ihm. Sie musste ihn zu Boden bringen oder  …

Sie sammelte noch einmal ihre Kraft, sprang, gerade als er zu ihr herumfuhr. Wieder war sie auf ihm, doch dieses Mal nahm sie weniger Rücksicht. Er schien ein tougher Kerl zu sein, den man nicht so schnell töten konnte. Sie hoffte drauf. Also trat sie nach seinem Nacken, traf gut genug, um ihn für einen Moment zu betäuben.

Dann landete sie, trat in seine Kniekehlen und warf sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen ihn.

Endlich ging er zu Boden und sie war auf ihm. Ihre Beine positionierte sie gegen seine Schultern, um seine Bewegung besser zu kontrollieren, das Messer drückte sie gegen seine Halsschlagader.

„Crash! Crash!“, rief das Publikum. Und: „Steh auf! Steh auf!“

Das war ihre eine Chance. „Hör mir zu, Großer. Ich weiß von deiner Schwester, Alice. Mein Auftraggeber bietet die die Mittel an, sie ohne diesen Scheiß zu beschützen. Ich werde nachher am Swadesh warten, klar?“ Er sah sie aus den Augenwinkel an, spannte die Muskeln an und wollte sich wieder aufrichten, doch sie versetzte einen flachen Schlag gegen seinen Nacken, der ihn zumindest für zwei Minuten ausknocken sollte.

Seine Augen schlossen sich und sie richtete sich auf. Nach einigen schweren Atemzügen marschierte sie zum Tor.

Würde man sie gehen lassen?

Noch immer rief das Publikum: „Steh auf!“ Nur langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass er ausgeknockt war.

Dann kam das Buhen.

[28.11.2011 – C02 – Wechsel]

Sie saßen im Swadesh, einem indischen Pub – besser konnte Pakhet es nicht beschreiben – am Rand der Flats. Der Betreiber war Veer Dhebar, ein älterer indischer Mann, zusammen mit seiner Familie. Ein freundlicher Mann, der gerne bereit war, das ein oder andere, was er mitbekam, zu ignorieren.

Das Essen war scharf. Der Kaffee nicht gut, dafür aber der Tee.

Ruhi, Veers Tochter, hatte Pakhets Wunden gereinigt. Mehr Service, als sie erwartet hatte. Doch die Dhebars waren nett.

„Glaubst du, dass er noch kommt?“, meinte Spider und schaute zur Tür.

Mik neben ihm, hatte aus seinem Kampf eine Beule und ein blaues Auge davon getragen. Er brummte nur und nuckelte an seinem Bier.

„Schauen wir mal.“ Murphy war bester Laune. Irgendwie hatte er es geschafft, trotz dessen, dass sie gegen die Regeln verstoßen hatte, indem sie niemanden getötet hatte, das Geld abzukassieren. 28 000 Rand hatte er aus der ganzen Sache gezogen.

Das war eine verdammte Menge.

„Du bist mir so etwas was Schuldig, Murphy“, grummelte sie.

„Vierzehntausend reichen doch wohl“, meinte er.

„Wenn du mich fragst, verdien' ich das ganze Geld.“ Sie trank einen Schluck Tee und sah zur Tür. Ihr Arm schmerzte, da die Prothese nun genau gegen die Wunde drückte, die das Wurfmesser hinterlassen hatte. Verdammt, sie wollte einfach nach Hause. Eine heiße Dusche und eine Nacht Schlaf waren gerade verführerisch.

„Wäre ich nicht gewesen, hätten die dich umgebracht.“

„Wärst du nicht gewesen, wäre ich nicht in der Arena fast von dem Riesen erschlagen worden.“

„Ach, iwo, du willst mir doch nicht erzählen, dass er eine Chance gehabt hätte“, flötete Murphy glücklich. Sein Blick wanderte zum Fernseher, der über der Theke hing und irgendeinen Bullywood-Film zeigte, in dem gerade eine bunte Tanzeinlage zum besten gegeben wurde.

Sie grummelte, beließ es dabei ihren Tee zu trinken.

„Also falls dich das irgendwie tröstet, Pakhet“, meinte Spider, „ich fand dich da ziemlich cool. Hatte aber für einen Moment echt gedacht, der hätte dich erwischt.“ Er redete wie immer mit der Begeisterung eines Zehnjährigen.

Mik brummte. Er schien miese Laune oder vielleicht eine Gehirnerschütterung zu haben.

Da öffnete sich die Tür und jemand trat hindurch. Jemand großes, dessen lange Rasterlocken über seinen Schultern hingen.

Crash trug jetzt eine echte Lederjacke mit Fellkragen – eine Pilotenjacke – dieses Mal geschlossen. Seine Hose hatte er gegen eine feste, dunkle Hose getauscht. Auch trug er nun Schuhe.

Er wirkte misstrauisch, wütend, sah kurz zu Veer, der an den Tresen stand und hielt dann auf sie zu. Bei ihnen angekommen nahm er einen Stuhl vom Nebentisch, drehte diesen um und setzte sich breitbeinig auf ihn, stützte seine verschränkten Arme auf der Rückenlehne auf. Dann wandte er sich an Pakhet.

Ohne ein Wort des Grußes, fragte er: „Woher weißt du von Alice?“

„Mein Auftraggeber“, erwiderte sie.

„Für wen arbeitest du?“

„Ich bin Söldnerin und arbeite für einen Mann namens Smith“, entgegnete sie. „Wir arbeiten in einer Art Söldnerei-Firma. Denk dir Privatsicherheit.“

„Woher weiß dieser Smith von mir oder Alice?“ Seine Stimme war tief, vibrierte Gefährlich.

Sie zuckte mit den Schultern. „Smith hat dich kämpfen sehen. Er denkt, dass deine Talente woanders besser angebracht sind. Und dass du anders Alice besser beschützen könntest. Ich weiß nicht, wie er über sie herausgefunden hat.“

Crash brummte missmutig. „Ich arbeite nicht für jemanden, dessen Gesicht ich nicht kenne.“

„Vielleicht willst du dir das überlegen, mein Lieber“, meinte Murphy und fischte einen Umschlag aus dem Inneren seiner Jacke hervor. Er schob ihn Crash hin. „Das ist das Angebot.“

Crash, der sicher drei Köpfe größer als der Junge in dieser Gestalt war, blickte ihn abschätzig an. „Und wer bist du?“

„Mein Name ist Murphy.“ Er grinste breit und schob aufdringlich den Brief noch weiter über den Tisch auf Crash zu. „Das ist das Angebot. Du kannst doch lesen, oder?“

Crash brummte und nahm den Briefumschlag. Für einen Moment schien es, als wollte er ihn zerreißen, ehe er ihn jedoch öffnete und den eigentlichen Brief entfaltete. Seine Augen flogen über die Zeilen.

„Also, ganz ehrlich“, meinte Murphy dabei, „wenn ich du wäre, würde ich das Angebot annehmen. Gerade wenn du eine Schwester hast, hinter der die halbe Mafia her ist. Denn einmal ganz unter uns, hätte Pakhet es wirklich darauf angelegt, hätte sie dich töten können und das weißt du selbst. Es wäre nicht einmal ein so langer Kampf gewesen, mein Lieber. Du hast nur Glück, dass sie so ehrenhaft ist und  …“

„Kannst du nicht mal das Maul halten, Pimpf?“, grummelte Crash und warf ihn einen vernichtenen Blick zu.

„Alles was ich sage ist  …“

„Murphy.“ Pakhet schenkte dem Jungen einen warnenden Blick. „Versuch einmal, Leuten weniger  …“ Sie schüttelte den Kopf. „Denn wenn wir einmal ehrlich sind, könnte ich dir das Geld auch einfach abnehmen.“

Er streckte ihr in einer gänzlich kindischen Geste die Zunge heraus, verdrehte dramatisch die Augen und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, wippte mit dem Stuhl vor und zurück.

Schließlich legte Crash den Brief auf den Tisch und musterte Pakhet.

Sie merkte, dass er ihr in die Augen sehen wollte, und erwiderte den Blick eisern. Er war offenbar die Art Mann, der wissen wollte, mit wem er es zu tun hatte.

„Was bist du?“, fragte er. „Du bist kein normaler Mensch.“

„Latente magische Begabung. Ich bin kräftiger und schneller als die meisten Menschen. Nicht mehr.“

Er brummte eine Bestätigung, dass er verstand.

„Du bist ein Gestaltwandler?“

Seine Augenbrauen schoben sich zusammen, dann aber brummte er erneut, deutete ein Nicken an.

„Was?“

„Büffel.“

Sie hob die Augenbrauen. Einen Büffelgestaltwandler traf man selbst hier selten. Werwölfe und -ratten waren diejenigen, die sich beinahe überall verbreitet hatten. Ab und an traf man hier in der Gegend auch noch Hyänen, Löwen oder Leoparden. Doch Büffel, Elefanten und die anderen Tiere der Savanne waren selten.

„Was sagst du zum Angebot?“, fragte sie schließlich.

„Was für ein Mann ist dieser Smith?“

„Er ist in Ordnung“, erwiderte sie. „Aufrichtig. Er steht zu seinem Wort. Ich will dich dennoch vor Michael warnen.“

„Wer ist das?“

„Der eigentliche Inhaber unserer 'Firma'.“ Sie seufzte. „Er ist berechnend. Eine echte Schlange.“

„Warum sagst du mir das?“

„Weil du jemand zu sein scheinst, dem Ehrlichkeit viel bedeutet.“

Wieder brummte er. Ohne zu fragen griff er nach Murphys Teller, auf dem noch immer einige Tandoori-Hühnchenstücke und zwei Naan lagen.

„Hey“, protestierte Murphy, erntete von dem Hühnen jedoch nur einen herausfordernden Blick, der Murphy dazu brachte, sich wieder mit verschränkten Armen in den Stuhl fallen zu lassen.

Während er aß, herrschte Stille, ehe es Spider war, der sich nicht mehr beherrschen konnte: „Darf ich anmerken, dass die Speere 'ne coole Sache finde?“

Wieder brummte Crash nur, während er aß. Er schluckte. „Und ihr seid?“

„Ich bin Spider und das ist Mik.“

Crash musterte Mik. „Der sollte sich hinlegen.“ Er grinste verschlagen und sah dann zu Pakhet. „Kann ich diesen Smith persönlich treffen? Ich mag es nicht, Geschäfte mit Boten abzuschließen.“

Pakhet nickte. „Ich denke, dass lässt sich einrichten.“ Für jemand, der sie beinahe umgebracht hatte, war er in Ordnung. Wenn sie sich nur nicht täuschte  …

[31.05.2011 – D13 – Anruf]

Pakhet hatte die vergangenen zwei Tage in Joburg verbracht. Sie hatte einen Tapetenwechsel dringend gebraucht.

Ihre Wunden vom Arenakampf waren dank magischer Heilung vollkommen verheilt und hatten nicht einmal Narben hinterlassen. Es hätte also weitaus schlimmer sein können.

In Joburg hatte sie einen Club besucht, hatte mit Kerlen geflirtet und sich einen Abend in einem Spa gegönnt. Sie hatte die Entspannung wirklich brauchen können.

Laut Smith hatte Crash derweil seinem Angebot zugestimmt. Zumindest ein Erfolg.

Sie hasste diese Arenen. Es erschien ihr als furchtbar unsinnig für so viele, oft junge Leute, ihr Leben in diesen Kämpfen wegzuwerfen. Doch wusste sie, dass viele von ihnen in Situationen waren, wo sie nur zwischen dem Hungertod oder solchen Dummheiten entscheiden konnten.

Sie sprang von ihrem Laufband ab. Sie hatte heute ihr morgendliches Training hinter sich und würde erst morgen zur Arbeit gehen. Eine Sache lungerte bereits fünf Tage in ihrem Hinterkopf, auch wenn sie es hasste, es zuzugeben: Heidenstein hatte sich seit über einer Woche nicht mehr bei ihr gemeldet und langsam begann sie, sich Sorgen zu machen.

Wieso machte sie sich um den Idioten Sorgen?

Sie ging unter die Dusche, aber auch als sie darunter hervorkam, ihre Prothese wieder an ihrer Schulter befestigt hatte und sich mit einer Kaffeetasse in der Hand auf das Sofa fallen ließ, kreisten ihre Gedanken noch im Heidenstein. Missmutig nahm sie ihr Handy vom Wohnzimmertisch.

Egal, wie sie es wandte: Sie betrachtete Heidenstein als einen Freund. Und da damit die Anzahl ihrer Freunde auf zwei angestiegen war, war sie nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Sie hasste es, jemanden hinterher zu spionieren. Dann wiederum konnte sie seine Hilfe auf der Arbeit gebrauchen. Er war immerhin ihr verdammter Teamarzt!

Sie wählte seine Nummer, hob das Handy mit der Prothese ans Ohr und wartete.

Es tutete. Ein Mal. Zwei Mal. Drei Mal. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Vier Mal. Endlich: Ein Knacken und seine Stimme erklang.

„Heidenstein hier.“

„Hey, Doc“, meinte sie.

„Pakhet?“ Eine Anspannung, die sie nicht näher hätte beschreiben können, lag in seiner Stimme.

„Ja“, antwortete sie. „Ich frage mich langsam, wo du steckst.“

Er räusperte sich, wie immer, wenn er nervös war. „Ich habe zu tun. Ich habe doch gesagt  … Ein Freund.“

„Probleme mit den Vory?“, fragte sie vorsichtig.

Er schwieg.

„Wenn du Hilfe brauchst, musst du nur etwas sagen.“

Erneut folgte längeres Schweigen. Dann räusperte er sich wieder. „Es ist eine Privatsache. Kein Grund zur Sorge. Ende der Woche, sollte ich wieder da sein.“

Nun schwieg sie. Sie schürzte die Lippen. Irgendetwas an seiner Stimme irritierte sich. Etwas war nicht in Ordnung. „Sicher?“

„Ja, sicher, Pakhet.“ Er holte tief Luft. „Es ist nur ein Job.“

Sie seufzte leise, bemüht, ihn davon nichts hören zu lassen. „Okay.“

„Ich sollte auch wieder, Pakhet“, meinte er kurz angebunden. „Wir sehen uns später.“

„Sicher“, antwortete sie, als er bereits aufgelegt hatte.

Sie sah misstrauisch auf ihr Handy. Was zur Hölle war nun wieder los? Hatte er Probleme als Anderson?

Ach, verdammt. Vielleicht war es wirklich etwas Privates. Etwas, das sie nicht anging. Vor allen anderen Sachen waren sie Kollegen und sie hatte kein Recht, sich in seine Sachen einzumischen.

Dennoch wurmte es sie.

„Idiot“, grummelte sie und legte ihr Handy weg. Sie trank einen Schluck Kaffee und schaltete den Fernseher an. „Verfickter Idiot.“

[03.06.2011 – F03 – Untypisch]

Die Firma war nie verlassen. Allerhöchstens in den frühen Morgenstunden. Immerhin war die Nacht ein willkommener Komplize für einige ihrer Jobs. Nein, die Tageszeit beeinflusste wenig, wie leer oder voll das Gebäude von Forrester Security Inc. war. Viel eher beeinflusste die Auftragslage, wie vielen Kollegen Pakhet auf den Fluren über den Weg lief. An diesem Abend war es ruhig.

Sie hatte wieder mit Spider und Murphy trainiert. Mit Spider, Murphy und Crash, den Smith vorerst unter ihrer Aufsicht gelassen hatte.

Sie war noch nicht gänzlich sicher, was sie von ihm denken sollte. Er schien in Ordnung, aber schweigsam.

Mit den anderen beiden war es dasselbe wie immer gewesen: Spider war begeistert, Murphy wollte am liebsten fort. Mik lag mit seiner Gehirnerschütterung im Krankenzimmer. Idiot.

Sie war im Erdgeschoss, lief gerade an einer der Kaffeeecken vorbei, als Schritte hinter ihr erklangen.

„Pakhet, meine Liebe.“

Michael.

Sie drehte sich um. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg nach Hause. Seltsam, man konnte normal meinen, er lebte in seinem Büro.

Natürlich wusste sie, dass er eine Wohnung in Sea Point hatte – sie war sogar das ein oder andere Mal dort gewesen – doch war es selten, dass man ihn kommen oder gehen sah.

Moment. Hatte er sie abgepasst?

„Michael“, erwiderte sie und gab ihrer Stimme einen leicht sardonischen Klang.

Er grinste sein humorloses, eisiges Grinsen. „Na, wie geht es unserer Crew Neulinge.“

„Bestens, wenn wir von einer Gehirnerschütterung absehen“, antwortete sie nüchtern.

„Na, glaubst du, die Truppe ist für den großen Einsatz bereit?“ Er schlug einen Plauderton an, aber in seinen Augen erkannte sie etwas anderes. Etwas Berechnendes. Das war nicht, weshalb er mit ihr sprach.

Der große Auftrag. Die Betriebsspionage. Es waren kaum mehr als zwei Wochen bis dahin. Sie war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Speziell, wenn sie daran dachte, was Smith ihr gesagt hatte: Sie sollten aufs Meer vor Langebaan hinaus. Und sie wussten wenig über die Sicherheit vor Ort.

„Das werden wir sehen, wenn es soweit ist.“

Michaels Grinsen veränderte sich, wurde ironischer. „Ja, tun wir wohl“, meinte er. Er musterte sie. „Du scheinst erstaunlich gut mit den Noobs klarzukommen.“

„Was verschafft dir diesen Eindruck?“

„Du hast keinen von ihnen ernsthaft verletzt.“

„Hast du Heidenstein vergessen?“

Michael seufzte melodramatisch. „Okay. Einen. Den anderen geht es aber erstaunlich gut. Das ist eine bessere Quote, als ich erwartet habe.“

Pakhet zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür. „Ich habe mich unter Kontrolle.“

Er lächelte, ignorierte diese Anmerkung. „Man könnte fast meinen, dass du Freundschaften schließt.“

Dies würdigte sie keiner Antwort. Sie schnaubte.

„Wer hätte das gedacht. Ich meine, du hattest ja immer deinen kleinen Mechaniker, aber ich habe mir halt gedacht, dass jeder seine eine Sache braucht. Manche haben Haustiere, manche halt den Sandkastenfreund, hmm?“

Sie verdrehte die Augen. Wut stieg in ihr hoch, doch sie unterdrückte sie. Sie hasste es, wenn er so über Robert redete. Sie hasste es, daran zu denken, dass Michael eines Tages Robert gegen sie benutzen könnte.

Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um. „Worauf willst du hinaus, Michael?“

„Ich bin nur überrascht, wie gut du mit dem guten Doktor auskommst. Mir ist aufgefallen, dass du öfter bei ihm gewesen bist.“

„Spionierst du mir nach?“

„Ich schaue nur ab und an, wie es meinen Assets so geht.“

Wieder schnaubte sie und funkelte ihn an. Nicht, dass sie Vergleichbares nicht schon lange von ihm gewohnt war. „Das geht dich nichts an.“

Michael musterte sie amüsiert. „Weißt du, ich bin nur überrascht. Ich hatte dich nicht als so jemand eingeschätzt.“

„So jemand?“, grummelte sie.

„Na, eine Romantikerin, weißt du?“

Sie wandte sich ab und ging. Sie hatte auf diesen Scheiß keinen Bock.

„Pass besser auf, Pakhet“, rief Michael ihr hinterher. „Pass auf, dass es nicht zur Schwäche wird.“

Sie sah über ihre Schulter. „Fick dich, Michael. Der Doc hat sich ohnehin seit zwei Wochen nicht mehr gemeldet. Und weißt du was? Es ist mir egal.“

Er grinste. „Sicher.“

Pakhet schwieg, eilte zur Garage. Manchmal hasste sie Michael. Ach, verflucht, sie hasste ihn beinahe immer, nachdem sie mit ihm geredet hatte.

[06.06.2011 – C03 – Nahkampf]

Wieder entwich die Luft ihrer Lunge, als sie bäuchlings auf den Matten landete. Sie spürte das breite Knie des Riesen in ihrem Nacken, als er ihren rechten Arm hinter den Rücken zog. „Fuck.“ Mit der flachen Hand der Prothese schlug sie auf die Matte und er ließ sie los.

Crash richtete sich auf und ihr damit aufzustehen. Er machte keine Anstalten ihr aufzuhelfen, nachdem sie ihm beim ersten Mal einen wütenden Blick geschenkt hatte. Er grinste.

„Ich schaffe es noch“, knurrte sie und streckte sich.

Fakt war: Im reinen, waffenlosen Nahkampf und ohne einander zu verletzen, war er ihr allein durch die Masse weit überlegen. Sie hasste es. Und sie würde einen Weg finden, auch ihn auf den Boden zu bringen.

Man sagte, dass gute Martial Artists fähig waren auch weit größere Gegner zu Boden zu befördern. Das mochte wahr sein, doch galt es nur, wenn der Gegner generell unerfahren im Nahkampf war, keine Techniken kannte, Würfe zu kontern.

Crash hatte fraglos nicht in einer asiatischen Schule gelernt. Sie konnte seinen Stil nicht genau einordnen, schätzte aber, dass er eine Mischung aus Dambe und irgendeinem asiatischen Stil war. Dennoch war seine Art sich zu bewegen die eines ausgebildeten Kämpfers, nicht die eines einfachen Schlägers.

„Nimm's dir nicht zu Herzen, Lady“, meinte er und wandte sich Murphy, Spider und Mik zu. Er brummte und sie wusste, was er meinte.

Die anderen saßen seit einer halben Stunde daneben. Murphy beobachtete sie mit verschränkten Armen, Spider hatte ab und an geklatscht. Mik schien nicht ganz wieder bei Sinnen zu sein. Er lehnte mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Wahrscheinlich gehörte er ins Bett.

Pakhet verkniff sich ein Seufzen. „Murphy.“ Sie schenkte ihm ein fieses Lächeln.

Er hob abwehrend die Hände. „Ich habe genug gesehen.“

„Murphy.“ Ihre Stimme wurde warnend, doch noch immer wehrte er ab.

„Ich lerne durch's zusehen!“, versicherte er.

„Ja, sicher. Murphy, du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du trainierst mit mir oder mit ihm.“ Sie nickte in Richtung Crashs, der sich neben ihr aufbaute.

Murphy sah Crash an. Dann sie. „Option C?“

„Dann trainierst du mit Spider.“ Sie schaute zu Spider, der sofort bereitwillig aufsprang.

„Komm, Murph!“

Murphy seufzte und stand auf. Missmutig lief er zur Matte hinüber und ging auf Abstand. Wieder hatte er die Gestalt des jungen, dunkelhaarigen Mannes. Er beobachtete Spider, der sich bereit machte, was bei ihm mit einigem Herumhampeln einherging. Dann sah Murphy zu Pakhet. „Muss ich?“

Sie brummte eine Bestätigung und lehnte sich gegen das Fenster, während Crash sich auf der gegenüberliegenden Seite gegen die Wand lehnte.

Murphy grummelte etwas Unverständliches und nahm halbherzig Haltung an. Wie die anderen auch, trug er einfache Trainingssachen.

Spider kam auf ihn zu und versuchte Murphy am Hosenbund zu fassen zu bekommen, doch Murphy wich zurück. Spider machte einen Seitenschritt. Murphy folgte. Er zeigte keine Anstalten, selbst anzugreifen, wich immer nur zurück.

Knapp eine Minute ging es hin und her. Murphy war darauf bedacht, mindestens eineinhalb Meter zwischen sich und Spider zu halten, der dennoch neue Angriffe versuchte. Schließlich war es eine Finte, die es ihm erlaubte, Murphy zu packen zu bekommen. Während die Bewegungen der beiden immer schneller wurde – zwei Schritte rechts, drei Schritte links – deutete Spider einen Angriff von rechts an, brachte Murphy damit dazu nach links zu gehen, doch Spider machte einen gewagten Sprung nach links, schaffte es dabei Murphys Kragen zu fassen zu bekommen und fegte ihm dann die Füße unter den Beinen weg.

Murphy landete rücklings auf der Matte und keuchte auf. „Autsch. Das macht keinen Spaß!“

Crash lachte leise und erntete damit einen beleidigten Blick.

„Das ist nicht lustig“, protestierte Murphy.

Crash lachte weiter. Ein leises, tief rollendes Glucksen. „Schon. Du hast es dir selbst eingehandelt. Hörst nicht auf die Lady.“

Der Junge rappelte sich auf und streckte die Schultern. „Och, ich höre schon.“

„Du hast die Lady in der Arena zum Kampf angemeldet“, stellte Crash fest. „Ohne ihr Einverständnis.“

„Das  …“ Er schaute zu Pakhet. „Hast du ihm das erzählt?“

Crash trat auf den Jungen zu. „Ich kann meinen Teil denken.“ Er grinste ihn an.

„Was soll das heißen?“, fragte Murphy und sah ihn an. Wieder wirkte er deutlich wie ein trotziger Teenager, der die Kritik eines Lehrers abschmettern wollte.

„Die Lady verdient eine Entschuldigung.“

Woher kam das denn? Zugegebenermaßen war auch Pakhet überrascht, dass Crash sich das ganze zusammengereimt hatte. Doch sie wusste, dass sein Körperbau und seine oft knappen Sätze dazu einluden, ihn als dumm zu stereotypisieren, was nicht der Wahrheit entsprechen musste. Er hatte fraglos genug gehört, um sich das zusammenzureimen.

Murphy erwiderte seinen Blick trotzig. „Warum darfst du sie Lady nennen?“

Crash erwiderte nichts, sah auf ihn hinab und brummte.

Für einige Sekunden trafen sich die Blicke der beiden, ehe Murphy sich abwandte. Er wollte an Crash vorbei zur Tür gehen. Doch soweit kam er nicht.

Schneller, als dass Murphy reagieren, ja, schneller, als dass der Junge schauen konnte, hatte Crash ihn umgeworfen. Keine Sekunde später presste der Hühne den vermeintlichen jungen Mann bäuchlings gegen die Matten.

„Du wolltest nicht etwa gehen, oder?“ Wieder grinste er.

Murphy zögerte. „Ähm. Nein?“ Er versuchte den Kopf weit genug zur Seite zu drehen, um ihm ein unschuldiges Lächeln zu schenken.

Crash brummte zufrieden und wartete, während Murphy mit den Armen zappelte, um dem einfachen Haltegriff – wenn man es so nennen wollte, da Crash ihn eigentlich nur mit einer Hand auf den Boden drückte – zu entkommen.

Es dauerte fünf oder sechs Sekunden, bis Murphy aufgab. Er seufzte schwer und ergeben. Beinahe schon glaubte Pakhet, dass er sich ergeben und tun würde, was Crash verlangte. Doch natürlich nicht.

Stattdessen schrumpfte der Junge auf einmal zusammen, ehe eine Dohle wütend krächzend unter Crash hervorflog, der nur noch Murphys Kleidung hielt.

Beeindruckend. Sicher, sie hatte von Smith gehört, dass der Junge magischen Gestaltwandel beherrschte, hatte es aber bisher nie gesehen.

Crash allerdings zeigte keiner Überraschung. Seine Hand schnellte in die Luft und bekam den Vogel an den Füßen zu greifen.

Die Dohle flatterte, krächzte noch wütender, hackte nach der großen Hand, die sie hielt, doch sie schaffte es nicht, sich zu befreien. Egal wie sehr sich Murphy wand, egal wie sehr er sich wehrte, er konnte nicht entkommen. Schließlich ergab sich auch die Dohle ihrem Schicksal.

Der Hüne brummte zufrieden. „Du weißt, was ich will.“

Ein gekränktes Krächzen war die Antwort. Dann wuchs die Krähe und ein nackter Murphy, wieder in derselben Gestalt wie zuvor, landete auf dem Boden. Er stöhnte auf, als er auf der Matte aufschlug und fluchte leise. Nach ein paar Sekunden Verschnaufspause seufzte er genervt und sah zu Pakhet auf. Er verzog das Gesicht und holte tief Luft. „Das mit der Arena tut mir Leid.“

Crash brummte drängend, woraufhin der Junge die Augen verdrehte.

„Ich dachte halt, du kommst klar, weißt du? Konnte nicht wissen, dass der Große  …“

Crash unterbrach ihn: „Ich habe einen Namen.“

Noch ein Augenverdrehen folgte. „Konnte ja nicht wissen, dass Crash“ – er betonte den Namen extra – „wirklich so stark ist. Ich wollte dich nicht umbringen oder so.“ Er kämpfte sich hoch, setzte sich in den Schneidersitz und verschränkte die Arme. Dass sein Schritt gerade entblößt war, störte ihn nicht.

Pakhet sah ihm betont in die Augen. „So etwas kommt nicht noch einmal vor.“

Murphy seufzte. „Ja. Sorry, echt.“

Für einige Sekunden fixierte sie ihn fest, nickte schließlich jedoch. „Schon okay.“

Wieder brummte Crash. Er schien zufrieden und schenkte ihr ein amüsiertes Grinsen.

[08.06.2011 - M04 - Monsterjagd]

Eins musste man Spider lassen: Er konnte Auto fahren. Zusammen mit Mik saß er vorne im Transporter. Weil sie auch unbedingt hatten den Transporter nehmen müssen! Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie ab Durban einen geliehen. Stattdessen hatten sie den Transporter mit einem Transportflieger transportiert. Großartig.

Derweil saß sie neben Murphy und vor Crash auf der mittleren Rückbank. Sie hatte die Arme verschränkt. Noch immer mochte sie die Aussicht nicht. Es waren mindestens zwei Stunden unebene Savannenstraße, bis sie das Reservoir erreichten.

Die Sonne näherte sich orange glühend dem Horizont, hatte ihn aber noch nicht erreicht. Sie würden im Dunkeln kämpfen. Sie konnte sie durch das Frontfenster sehen. Neben den Sitzbänken, die sie einst mit Heidenstein installiert hatte, gab es keine Fenster. Es war ein Transporter, kein Kleinbus.

„Ach komm schon, Pakhet“, kam es wieder einmal von Murphy, der neben ihr vom Handy aufsah. „Mal etwas fröhlicher. Es ist echt ein Wunder, dass du noch keine Falten hast, weißt du?“

Ein Brummen von Crash, ein Brummen von ihr.

Murphy verdrehte die Augen. „Es gibt auch Worte, ihr beiden. WOR-TE.“ Er betonte das Wort, als wären sie schwer von Begriff. „Die kann man benutzen. Um zu kommunizieren.“

Wieder ein synchrones Brummen.

Genervt stöhnte Murphy auf. „Ihr ahnt ja gar nicht wie anstrengend ihr seid!“

„Und du nicht, hmm?“ Crashs Pranke griff nach vorne und wuschelte durch Murphys Haar.

Wieder trug der Junge seine jugendlich wirkende Gestalt mit den schwarzen Haaren. War es sein eigentliches Aussehen? Pakhet glaubte nicht, da die Gestalt sie zu sehr an bestimmte Filmdarsteller erinnerte.

„Hey!“ Murphy duckte sich, um der Hand des Hühnen zu entkommen. Wieder seufzte er.

„Jetzt wirkst du missmutig“, merkte Pakhet an.

„Wir könnten ja ein Spiel spielen“, schlug Spider vor. Scherzte er?

„Was?“ Murphy hob eine Augenbraue und stellte sicher, dass Spider ihn im Rückspiegel sah. „Ich sehe was, was du nicht siehst?“

Spider drehte sich zu ihm um. Er grinste. „Zum Beispiel.“

„Augen auf die Straße, du Idiot“, grummelte Pakhet.

„Schon gut, schon gut“, meinte der junge Söldner und drehte sich wieder um.

Ihre Umgebung war größtenteils verwildert. Sie waren hier nicht in Kenia oder Äthiopien, die Länder, an die Amerikaner oder Europäer meistens dachten, wenn man „Savanne“ sagte. Trotzdem war es Savanne, inklusive der dazugehörigen wilden Tiere. Viele von ihnen hielten sich nicht von Straßen fern. Einige von ihnen waren groß genug, um unangenehm für den Transporter zu werden.

Sie waren auf dem Weg zum Reservoir, da die Xhosa dort ein „großes Ungeheuer“ gesehen hatten. Was alles, aber auch gar nichts heißen konnte. Sie zahlten nicht gut, doch aus irgendwelchen Gründen war Smith bereit dazuzugeben. Vielleicht stammte er von den Xhosa ab.

„Warum machst du eigentlich ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter?“, fragte Murphy.

„Weil wir im Dunkeln kämpfen werden“, antwortete sie. „Und weil ich es nicht mag 'Monster' zu jagen.“

Murphy legte den Kopf schief. So erinnerte er auch in menschlicher Gestalt an eine Dohle. „Wieso?“

Pakhet seufzte und musterte ihn. War der Junge ahnungslos oder nahm er das Ganze bloß nicht ernst? Nahm der Junge je etwas ernst? „Weil Monster ein sehr weitläufiger Sammelbegriff ist. Die Hälfte der Monster, die ich getötet habe, waren wild gewordene Gestaltwandler oder Fae.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sicher, da sind Monster. Dämonen. Elementare. Sicher unter den Fae  …“ Noch einmal schüttelte sie den Kopf auf der Suche nach dem richtigen Wort. Sie seufzte. „Vieles verdient es nicht, wie ein Tier gejagt zu werden. Das ist alles, was ich sagen will.“

Murphy beobachtete sie. Er schien nicht sicher, ob er verstand. „Okay“, meinte er schließlich.

Crash brummte schwer. Vielleicht verstand er sie zu gut.

[08.06.2011 – T03 – Nachtgewitter]

Was auch immer sie erwartete, war magisch. Das wurde Pakhet spätestens klar, als sie in der Ferne Blitze zucken sah. Fuck. Sie war sich nicht sicher, ob diese Truppe mit etwas stärkerem, magischen klarkam. Sie und Crash zu zweit? Vielleicht. Die ganze Gruppe aber …

Eigentlich war verabredet, dass sie erst zum Xhosa Dorf fahren sollten, sie sollten recherchieren. Pakhet wollte wissen, womit sie es zu tun hatte, ehe sie sich in einen Kampf stürzte, doch ein gellendes Kreischen verriet ihr, dass ihr der Luxus nicht bleiben würde.

Die Blitze kamen näher.

„Halt den Wagen an, Spider“, meinte sie.

Ihr Blick galt Crash, der murrte, nickte, seinen Köcher Speere nahm.

„Was ist das?“, fragte Mik und drehte sich zu ihr herum.

„Etwas Magisches“, antwortete sie. Jetzt wünschte sie, Heidenstein wäre bei ihnen. Magische Gegner konnten zu allermindest sehr, sehr weh tun. Mit einem Heiler dabei würde sie sich sicherer fühlen. Aber den Luxus würden sie nicht haben.

Der Wagen kam zum Stehen. „Was machen wir jetzt?“, fragte Spider.

„Aussteigen und Kämpfen.“ Konnte sie die anderen nicht einfach hierlassen? Es wäre sicherer. Es wäre deutlich sicherer.

Doch es war ein Luxus, den sie nicht hatte. Ein Luxus, den sie sich nicht erlauben konnte. Die anderen brauchten Training. Fuck. Das schlimmste an magischen Gegnern war: Kugeln funktionierten nicht immer. Schon gar keine normalen Kugeln. Doch es war schwer zu ahnen, was für Munition man selbst benutzen konnte. Silber war immer eine gute Idee, eignete sich aber bei weitem nicht so gut, wie Filme es einem weiß machen wollten.

Fuck. Sie beugte sich vor, öffnete die Seitentür des Vans. Sie stieg aus, streckte ihre Beine.

Das Unwetter war noch gute ein, zwei Kilometer von ihnen entfernt. Damit hoffentlich auch das Monster. Wenn es überhaupt das „Monster“ war, das sie suchten. Die Savanne war weit. Es war nicht gänzlich selten, dass hier etwas Magisches rumlief. Gegenden, in denen Menschen nur rar verteilt lebten, hatten das immer an sich. Fae konnten leichter übertreten, fanden ihren Weg her.

Das wäre doch etwas. Gleich zwei Monsterkämpfe in einer Nacht.

Sicher nicht.

Nervös überprüfte sie ihre Magazine. Hoffentlich war das, was auch immer es war nicht zu groß. Hoffentlich kamen sie damit klar. Hoffentlich …

Sie war übertrieben nervös. Sie vertraute den anderen einfach nicht genug. Sie waren ihre Verantwortung und sie wollte nicht für ihren Tod verantwortlich sein.

„Was machen wir?“, fragte Crash leise, doch mit seiner tiefen, brummenden Stimme und sah sie an.

Offenbar dachte er dasselbe wie sie. Würden sie jetzt zu zweit losrennen, kämen die anderen nicht hinterher. Bis vielleicht auf Murphy.

Dieser sprang nun neben ihnen aus dem Wagen. „Soll ich vielleicht mal hinfliegen und nachsehen?“

„Nein, du bleibst hier“, erwiderte sie. „Ich glaube nicht, dass Krähen besonders blitzresistent sind.“

„Aber …“

„Wir laufen.“

Im Dunkeln war es schwer zu sehen, was genau vor sich ging. Wer nur in Großstädten oder generell dicht besiedelten Gegenden unterwegs war, kannte eine solche Dunkelheit nicht. Dort war die Nacht immer vom restlichen Licht der Städte, Straßenlaternen, Autos, Häuser und Fabriken durchsetzt. Hier draußen jedoch war die Finsternis beinahe undurchdringlich. Wäre es nicht für ihr magisches Auge gewesen, hätte sie noch weniger gesehen.

Einzig die Sterne spendeten etwas Licht. Sie erlaubten es auch, dass die Gewitterfront aus dunklen Wolken deutlich zu erkennen war. Sie bewegte sich auf sie zu.

Nicht gut.

Die Wolken rotierten. Es hätte sie nicht gewundert, hätten sich Tornados gebildet.

Crash brummte. „Schlechte Magie.“

Sie stimmte ihm zu. Was auch immer es war: Sie ging jede Wette ein, dass es korrumpiert war.

Ach, sie hasste einfach Monsterjagden.

„Warum fahren wir nicht näher?“, fragte Mik und kletterte vom Beifahrersitz.

„Weil ich nicht in einer Metallboxe sitzen will, wenn wir auf was auch immer treffen“, antwortete sie. „Jetzt kommt.“

Sie setzte sich selbst in Bewegung, froh um ihre Springerstiefel, die hoch und fest genug waren, um ihr einen deutlichen Vorteil zu geben, sollte sich eine Giftspinne, ein Skorpion oder eine Schlange mit ihren Füßen anlegen wollen.

Noch rannte sie nicht. Ja, was auch immer es war, kam auf sie zu. Also war es an ihnen vorsichtig zu agieren.

Immer wieder schloss sie ihr rechtes Auge, um sich auf die magische Sicht, die sie im linken hatte, zu konzentrieren. Etwas bewegte sich in der Ferne. Etwas Großes. Sie schätzte die Körperhöhe auf vier oder fünf Meter, auch wenn es auf die Entfernung schwer zu sagen war. Was es auch immer war, es war schnell.

„Großer?“, meinte sie.

Er brummte bestätigend. Eine seltsame Wärme umgab seinen Körper, als er zu wachsen begann. Sein Körper verformte sich, sein Kopf wuchs in die Länge, sein Haar wurde glatter, sein Oberkörper behaarter. Seine Beine wurden kürzer, endeten nun in Hufen. Er hatte seine Hybridform angenommen.

Pakhet starrte für ein paar Sekunden. Sie hatte dergleichen bei Wölfen schon häufiger gesehen. Auch Katzenwandler hatte sie zwei Mal dabei beobachten können, nie aber bei einem Büffel.

Zwei Hörner wuchsen aus seinem Kopf. Sein Aussehen erinnerte an einen Minotaurus.

Als er ihren Blick bemerkte, erwiderte er ihn.

Sie lächelte. „Beeindruckend“, kommentierte sie.

Er schnaufte amüsiert und nahm einen Speer. Seine bevorzugte Waffe.

Pakhet musterte die Pistole in ihrer Hand und seufzte. Wie viel würde es wohl gegen dieses Monster bringen?

Ein ohrenbetäubendes Jaulen hallte über die Savanne. Nein. Kein Jaulen. Ein Tröten.

„Elefant“, murmelte sie. Noch einmal betrachtete sie ihre Pistole, wandte sich dann an Crash. „Du hast nicht zufälligerweise einen Ersatzspeer für mich?“

Ein Lächeln formte sich auf den dünnen Büffellippen, ehe er in seinen Köcher griff und ihr einen Speer gab.

„Danke.“ Sie wog die Waffe in der Hand. Keine Idealwaffe für sie, da sie beide Hände erforderte und ihre Prothese nicht das nötige Feingefühl hatte. Ihre Pistole würde dem Ungeheuer, das da auf sie zukam wahrscheinlich keinen Schaden machen können.

Spider stolperte aus dem Wagen und stellte sich hinter sie. „Was machen wir jetzt?“

„Was wohl?“, kommentierte Murphy. „Kämpfen halt.“

Pakhet verkniff sich ein weiteres Seufzen. „Was der Rabe sagt“, murrte sie und griff den Speer fester.

Dann war das Biest endlich nahe genug, als dass sie es erkennen konnte. Es war wirklich ein Elefant. Nun, es war einmal ein Elefant gewesen. Die Haut des Biests wirkte schwarz, feucht, wie von Öl übergossen. Es sah aus, als wäre ein Elefant nach einer Ölkatastrophe im Meer schwimmen gegangen. Nur dass der Elefant gute vier Meter groß war.

Selbst ohne das Öl wäre deutlich gewesen, dass das Biest kein normaler Elefant war. Es war dafür zu groß, selbst für einen afrikanischen Elefanten. Fuck. Und normale afrikanische Elefanten waren, wenn sie auf einen zurasten verdammt furchteinflößend.

„Fuck“, flüsterte sie, wechselte einen letzten Blick mit Crash und stürmte los.

Ein inneres, kaltes Feuer glomm aus den Augen der Bestie. Was war es? Ein Geist? Eine Verkörperung des Geistes eines Rudels? Ein Elefantenwandler? Oder ein niederer Gott, beziehungsweise das, was die Leute dafür hielten?

Es war egal. Hauptsache es gab einen Weg es zu töten. Denn das wütende Feuer in den Augen verriet ihr, dass es nicht mit sich reden lassen würde.

War es hergekommen, um sie zu töten, als es sie bemerkt hatte?

Der Elefant legte den Kopf schief, versuchte sie mit seinen knapp drei Meter langen Stoßzähnen zu erwischen, doch Pakhet war schnell. Sie sammelte ihre Energie in den Beinen, sprang zur Seite, sprang empor, drehte sich in der Luft, um dem Umgeheuer eine Wunde an der Schulter zu versetzen.

Es geschah innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde. Ihr Speer glitt durch die Haut des Elefanten, zumindest sollte er das. Stattdessen aber war es, als würde sie durch Wackelpudding schneiden. Durch Öl.

Die Überraschung brachte sie aus dem Konzept. Zu spät federte sie ihren Fall ab, musste rollen, kam nur keuchend wieder zum Stehen.

Ein Krähen durchschnitt die Luft. Ein Rabe flog über ihnen hinweg. Murphy. Er hatte nicht die Gestalt einer normalen Dohle, sondern die eines größeren Rabenvogels angenommen. Seine Flügelspannweite betrug knapp eineinhalb Meter.

Er stürzte auf den Elefanten hinab, schwirrte um dessen Kopf herum, bis das Ungeheuer mit dem Rüssel nach ihm schlug.

„Was zur Hölle ist das Ding?“, kreischte Mik mit Panik in der Stimme.

„Korruption“, knurrte Crash. Das Wort war kaum auszumachen aus seinem nicht menschlichen Maul, doch Pakhet verstand.

Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas sah. Auch wenn es selten war. Korruption. Das befiel manchmal magische Wesen, egal welcher Art. Sie wurden erratisch, aggressiv, töteten. Wenn man Glück hatte auf eine Art, wie dieses Monster. Ziellos. Als Gewalt der Natur. Wenn man Pech hatte …

Darüber dachte sie besser nicht nach. Eine Erinnerung jagte einen Schauer über ihren Rücken. Nein. Ihr war wild, ungezähmt lieber. Auch wenn es sie zu einem Problem brachte.

Murphy flatterterte weiter in die Höhe. Er krächzte, wich dem Rüssel des Ungeheuers aus.

Da fasste sich Spider, der die ganze Zeit nur ein knappes Stück von der Straße entfernt gestanden war. Er stieß einen Kampfschrei aus und rannte an ihnen vorbei, das Katana erhoben.

Mik zögerte nur für einen Moment. Er machte seine Waffe bereit, eine modifizierte MP5, und folgte seinem Bruder. Das automatische Feuer seiner Waffe hallte über die Savanne, traf das Ungeheuer.

Crash brummte.

Pakhet hätte sich am liebsten gegen die Stirn geschlagen. Diese Idioten!

Noch immer schrie Spider, erreichte endlich den Elefanten, der sich mit einem Tröten umdrehte, die glühenden Augen auf Mik gerichtet.

Bevor dieser seinen Fehler erkennen konnte, sprang Spider und rammte sein Schwert in die obere Hälfte des Vorderbeins des Biests.

Wie auch Pakhets Speer versank die Waffe, wie in einer zähen Flüssigkeit. Die ölige Oberfläche des Monsters schien die Waffe beinahe zu verschlingen.

„Hey!“, rief Spider leicht panisch aus. Er zerrte an der Waffe, um sie zu befreien. Ein Fehler. Im nächsten Moment erwischte ihn der Rüssel und er wurde zur Seite geworfen.

„Spider!“, schrie Mik, hielt aber weiter auf den Elefanten, der schnaubte und sich in Bewegung setzte.

Crash stellte sich ihm ihn den Weg. Er hatte den Speer erhoben, hieb nach dem Rüssel, der versuchte seinen Speer zu greifen, doch Crash war zu schnell, versetzte zwei Schnitte, rollte sich zur Seite. Schon wollte der Elefant nach ihm stampfen, doch Stampfen konnte Crash in dieser Gestalt auch. Seine Hufe traf das Bein des Elefanten Mittig im Knie.

Es reichte nicht, um das Ungeheuer aus dem Gleichgewicht zu bringen, jedoch absolut um es zu irritieren.

Leider war Spider bei weitem nicht so lernwillig, wie Pakhet es gehofft hätte. Er berappelte sich, stürmte schon wieder auf den Elefanten zu.

Konnte er sich nicht zurückhalten? Was für ein riesiger Idiot!

Pakhet konnte nicht länger zögern. Sie rannte ebenfalls vor. Aktuell hatte der Elefant ihr den Rücken zugewandt. Sie konnte eins probieren. Denn einer Sache war sie sich sicher: Das Ungeheuer war physisch und was physisch war konnte zerstört werden. Egal was dieses Wesen einmal gewesen war, aktuell war es vor allem eine Gefahr.

Mit dem Speer hieb sie dahin, wo bei einem normalen Elefanten die Beinsehnen gewesen wären, doch mehr als leichten Widerstand spürte sie nicht. Dennoch fuhr der Elefant zu ihr herum, stellte sich auf die Hinterbeine, versuchte sie zu treffen.

Doch seine Größe war sein Nachteil. Es war leicht zwischen seine Vorder- und Hinterbeine zu kommen. Sie stieß mit dem Speer nach oben, während das Monster sich runterfallen ließ, von sich aus sein Gewicht in den Speer senkte.

Ja. Da. Widerstand.

Warmes, nach Verwesung riechende Flüssigkeit tropfte auf sie hinab.

Der Elefant trötete laut, rannte weiter. Gerade so warf sie sich zur Seite, um nicht unter seine Hinterbeine zu kommen.

„Crash. Speer!“, rief sie aus.

Crash reagierte schnell genug. Er warf ihr einen weiteren Speer zu, während der Elefant von ihnen fortgallopierte, nur um eine Schleife zu drehen und dann auf sie zurückkam.

Sie fing den Speer. „Sein Bauch ist empfindlich.“

Crash brummte, machte seinen eigenen Speer bereit, doch es war Spider, der bereits wieder lief. Wie die Idioten in der Arena hob er das Schwert über seinen Kopf, ohne auf seine Deckung zu achten. Das Training hatte er komplett vergessen.

Wieder senkte der Elefant den Kopf, machte sich bereit zu rammen. Er würde seine Stoßzähne benutzen.

„Pass auf, du Idiot!“, rief sie noch, doch Spider hielt nicht inne.

Bevor sie wusste, was sie überhaupt selbst tat, rannte sie schon, Crash neben sich. Doch sie waren nicht schnell genug.

Ein Schrei. Blut. Dabei hatte der Idiot Glück im Unglück. Der Stoßzahn bohrte sich in seine Seite, spießte ihn aber nicht auf. Als der Elefant den Kopf schüttelte, wurde er zur Seite geworfen.

Pakhet sah zu Crash, dann sprang sie. Sie fing Spider in der Luft, wobei es mehr Glück als Können war, das sie daran hinderte, ihn nicht mit dem Speer in ihrer Prothesenhand aufzuspießen.

Weitere Schreie und automatisches Feuer. Merkte Mik denn nicht, dass er nicht half?

Pakhet wandte sich um. Erneut leitete sie ihre Energie in die Beine, sprintete zum Wagen zurück. Auf halben Weg schlug sie Mik mit dem Speer die Beine unter dem Körper weg. „Idiot. Du triffst so nur Crash. Kümmer dich um ihn.“ Damit legte sie Spider neben dem Wagen ab.

Noch ging sein Atem rasselnd, doch für wie lange noch?

Wieder flog Murphy Ablenkungsmanöver. Er kreiste über dem Elefanten, flog dann auf ihn hinab, landete kurz auf dem Kopf, hackte mit dem Schnabel nach der breiten Elefantenstirn, stieß sich wieder ab, ehe der Rüssel nach ihm Schlagen konnte.

Verdammt. Wenn sie etwas tun wollten, sollten sie es schnell tun. Ihre Ausdauer würde nur solange halten und was auch immer Korrumption war, so brachte es meistens mit sich, dass die Wesen verdammt hartnäckig in ihren Mordversuchen waren.

„Crash!“, brüllte sie, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Dieser Elefant hatte, was? Vierzig Tonnen? Ja, großartig. Wie sollten sie ihn umwerfen? Sie durften auf keinen Fall unter seine Füße kommen.

Okay. Sie brauchte einen Plan. Schnell.

Sie sah sich in der Savanne um, während sie rannte. Ja. Das wäre eine Möglichkeit. Hoffentlich tat das Zeug, das den Körper des Wesens darstellte, nicht mit ihr, was es mit Spiders Speer getan hatte.

„Wand!“, rief sie und zeigte mit dem Speer in Richtung einer Klippe, die selbst für sie im Dunkeln kaum auszumachen war. Es wären sicher zwei Kilometer, doch damit musste sie klarkommen. Beinahe hatte sie den Bullen erreicht. „Murph!“

Der Rabe ließ von dem Elefanten ab, flatterte in die Höhe, während Pakhet sprang. Sie versenkte den Speer in der Stirn des Elefanten. Was auch immer seinen Körper ausmachte, war nicht so hart, wie normal die Schädelplatte eines Elefanten wäre.

Nachteil: Dahinter schien auch kein Hirn zu sein. So ließ der Elefant nur ein markerschütterndes Tröten hören, versuchte sie abzuwerfen, doch Pakhet schaffte es einen Fuß auf den Stoßzahn zu setzen, stieß sich ab, riss den Speer mit sich, landete knapp drei Meter von dem Ungeheuer entfernt, das mit dem Rüssel nach ihr schlug.

Sie sprang nach rechts, nach links, setzte über den Rüssel hinweg, holte dann aus. Mit all der Kraft in ihrem einen Arm hieb sie durch den Rüssel, der den Umfang eines mittelgroßen Baums hatte, durchtrennte ihn zur Hälfte.

Wieder musste sie ausweichen, dieses Mal den Füßen, stach mit dem Speer in die Seite, ehe Crash aus dem Nichts kam. Er hatte verstanden. Sein Speer durchtrennte den Rüssel ganz, der wie eine Wasserbombe bei Kontakt mit einer Straße in sich zerfiel, sie mit ekelig schwarzer Flüssigkeit bespritzte.

Das Heulen des Elefanten wurde tiefer, verzweifelter, wütender. Die Stoßzähne waren noch immer ein Problem, doch anders als der Rest seines Körpers fest.

Des Biest war wütend, richtig wütend. Jetzt oder nie. Sie sprang, landete auf dem Nacken des Tiers und stieß mit dem Speer zu, während Crash den einen Stoßzahn packte.

Wie erwartet versuchte das Biest ihn abzuwerfen, doch er schwang sich zu dem anderen Stoßzahn, dann auf den Rücken.

Wenigstens regenerierte das Biest seinen Rüssel nicht.

Murphy war zur Stelle. Er flog direkt auf den Elefanten zu, umkreiste seinen Kopf, hieb nach dem Auge, flatterte im letzten Moment zurück und sauste davon. Der Elefant hinterher.

Das würde nicht funktionieren. Nie im Leben würde es funktionieren. Er konnte sie nicht solange ignorieren. Nie im Leben. Doch für den Moment war die Aufmerksamkeit des Tieres auf den Raben gerichtet, um dessen Flügel nun Funken stoben.

War es ein Zauber? Wenn ja war er kaum mehr als eine Lichtershow. Vielleicht versuchte Murphy einen Blitz zu beschwören, schaffte es aber nicht.

Zumindest lenkte er die Aufmerksamkeit des Elefanten ganz auf sich.

Noch fünfhundert Meter. Noch vierhundert. Sie waren viel zu schnell. Viel zu schnell.

Pakhet wechselte einen Blick mit Crash, der ihr zunickte.

Das war purer Suizid, sollte die Klippe zu tief sein. Wenn sie mit dem Elefanten fielen …

Es sei denn natürlich. Sie warf den Speer ab, griff an ihren Gürtel.

Noch dreihundert Meter.

Sie löste gleich alle drei Granaten, die sie dabeihatte, zog die Sicherheitspins heraus. Wenn es schief ging, wäre auch ihr zweiter Arm fort.

Zweihundert Meter.

Dann steckte sie die Granaten in den Rücken des Elefanten. Tatsächlich hatte sie Recht. Die ölige Oberfläche schloss sich darum.

Noch hundert Meter.

Crash sah sie an.

Murphy flog nach oben, als er die Klippe in die Tiefe erreichte und tatsächlich versuchte der Elefant abzubremsen.

Sie hatten nur wenige Sekunden, doch sie sprangen. So viel Energie wie möglich legte sie in ihre Beine, wohl wissend, was der gute alte Newton gesagt hatte: Aktion, Reaktion.

Während ihr Sprung sie gute fünf Meter in die Höhe katapultierte und Crash sogar an ihr vorbeiflog, verkündete ein langgezogener Laut, dass der Elefant über die Klippe gegangen war.

Dann kam die Explosion und das Tröten brach ab.

Atemlos landete Pakhet auf dem trockenen Savannenboden. Crash war nur wenige Meter von ihr entfernt.

Synchron drehte sie sich mit ihm aus. Sie schauten über die Klippe, knappe dreizig Meter in eine Schlucht hinab. Da unten hatte sich dunkle Masse verteilt. Dazwischen verteilt Teile eines menschlichen Körpers.

Also war es ein Shifter gewesen. Ein menschengeborener Shifter.

„Fuck“, knurrte Crash und nahm seine menschliche Gestalt an.

Pakhet nickte. Das hatte sie so nicht tun wollen, doch was hatte sie für eine Wahl gehabt?

Die ekelhaft stinkende Flüssigkeit bedeckte sie noch immer.

Dann kam der Gedanke: Spider.

Sie fuhr herum, sprintete zurück. Hoffentlich war dieser Idiot nicht tot. Warum hatte er einfach so ahnungslos losspringen müssen? Was war überhaupt sein Plan gewesen? Was hatte er tun wollen?

Crash überholte sie. Er war verflixt schnell. Vielleicht sollte er besser Sportler werden.

Als sie atemlos beim Wagen ankam, knieten Mik und Murphy bereits neben Spider.

Er blutete. Seine Rippen waren deutlich zu sehen, teilweise zertrümmert. Und mehr. Fuck. Ein Zittern verriet, dass er noch lebte, doch das würde nicht lange andauern.

„Fuck“, hauchte sie. „Fuck.“ Was konnte sie tun? Warum war Heidenstein nicht da? Warum war er so ein Idiot, nicht auf ihre Anrufe zu antworten? Das hier war seine Schuld, verdammt. Wäre er hier, wäre es dazu nicht gekommen.

Scheiße.

Mik sah sie an. Er hatte Tränen in den Augen. „Mach etwas!“, flehte er, als glaubte er wirklich, dass sie etwas machen könnte.

„Ich …“, begann sie. Nein. Für Reden war keine Zeit. Aber verdammt. Das nächste Krankenhaus war mehr als hundert Kilometer Schotterstraße entfernt.

Sie stand auf, rannte um den Wagen herum. Sie musste es mit erster Hilfe zumindest probieren. Rasch kramte sie den Medizinkoffer hinten aus dem Wagen, eilte damit zurück, als Murphy mit Mik redete.

„Ich kann was probieren“, sagte er mit einer Stimme, die an seiner Überzeugung zweifeln ließ.

Er zitterte, zögerte, legte seine Hände dann aber auf die Wunde.

„Murph?“, fragte sie, als der Junge die Augen schloss.

Das Zittern in seinem Körper wurde stärker, sein Atem schwerer, doch geschah etwas. Weniger Blut floss zwischen seinen Fingern hervor, was allerdings auch ein Zeichen sein konnte, dass Spider nun endgültig gestorben war.

„Murphy?“, fragte Pakhet erneut, doch der Junge antwortete nicht.

[09.06.2011 – D14 – Ehrlich]

Der Asphalt war noch immer nass, die Luft jedoch klar. Es war später Nachmittag, zwanzig nach fünf, als Pakhet auf den Parkplatz des Krankenhauses fuhr.

Sie tat es wirklich. Sie war wirklich hergekommen. Vielleicht hatte Michael Recht. Es war eine Schwäche. Es war nicht ihre Art, nicht ihr Stil. Sie konnte noch immer umkehren.

Nein.

Verdammt.

Sie konnte nicht.

Die Wahrheit war, dass sie sauer war. Auf Heidenstein. Ohne den improvisierten Heilzauber Murphys wäre Spider gestern gestorben. Deswegen hatten sie einen Heiler im Team, oder? Damit er sich darum kümmerte, nicht Murphy.

Abgesehen davon war sie persönlich sauer auf ihn. Warum hatte er sich nicht gemeldet? Egal was sie gegenüber Michael sagte, sie betrachtete ihn als Freund und fühlte sich verraten.

Also stieg sie von ihrem Motorrad ab und marschierte mit langen Schritten auf den Hintereingang des Krankenhauses zu. Er musste irgendwo da sein. In der Straßenklinik oder seiner Wohnung. Vielleicht auch im eigentlichen Krankenhaus. Mr Anderson. „Wir haben auf sie gewartet, Mr Anderson.“ Nein. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, für Filmreferenzen.

Sie drückte die Doppeltür auf und betrat das Gebäude. Wie immer standen da zwei Wachen. Russen. Natürlich.

Sie sahen sie verdutzt an. Einer hatte die Hand an seiner Waffe. Der andere erkannte sie.

„Ich suche Heidenstein“, sagte sie, bemüht die Wut nicht in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen.

Der Kerl, der sie erkannte, nickte, legte seinem Kollegen die Hand auf die Schulter. „Er ist unten.“

Pakhet nickte dankbar. Sie hatte nicht gegen die beiden kämpfen wollen. Ein Teil von ihr hatte erwartet, dass Heidenstein seine Wachen angewiesen hatte, sie nicht reinzulassen.

Sie fand Heidenstein in seinem Büro. Er hatte keinen Patienten. Umso besser.

Ohne zu Klopfen kam sie rein. „Doc.“ Es war keine Frage. Eher eine Feststellung.

Er blickte auf. Im Bruchteil einer Sekunde huschten mehrere Emotionen über sein Gesicht: Überraschung. Verwirrung. Misstrauen. Wut. Unsicherheit. Er stand auf. „Pakhet. Was machst du hier?“ Seine Stimme war unsicher, aber hart. Härter als normal. Er mied ihren direkten Blick.

„Ich dachte als verantwortungsvolle Teamleiterin schaue ich, wo unser Teammedic abgeblieben ist.“ Unterdrückte Frustration schwang in ihrer Stimme mit. Sie konnte es nicht verhindern.

„Ich habe doch Bescheid gesagt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe einem Freund ausgeholfen.“ Er wollte an ihr vorbei gehen, doch sie streckte die Prothese aus, um die Tür zu blockieren.

Bildete sie es sich nur ein oder bewegte er sich seltsam? „Doc. Was ist los?“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Nichts. Es haben sich nur ein paar Sachen angesammelt und ich …“ Wieder brach er ab.

„Gestern wäre Spider fast gestorben, weil du nicht da warst.“

Seine Kiefermuskeln spannten sich merkbar an. Kurz schloss er die Augen, holte tief Luft. „Es tut mir leid, okay?“ Ein weiteres Kopfschütteln folgte. „Ist er okay?“

„Ja. Murphy hat sich irgendwie an einem Heilzauber versucht und schlimmstes verhindert. Wir wissen nur nicht, ob wir in zwei Wochen vollständig sind.“

„In zwei Wochen?“

„Der große Gig? Das Ding, für das Smith eigentlich das Team wollte?“

„Oh.“ Heidenstein seufzte. Etwas stimmte definitiv nicht mit ihm. Er schien Schmerzen zu haben. „Vielleicht solltest du mit Smith reden und …“

„Fuck.“ Der Fluch glitt ihr über die Lippen, ehe sie sich beherrschen konnte. „Doc. Was zur Hölle ist los?“

„Nichts!“, sagte er – dieses Mal mit Nachdruck.

„Ja, sicher.“ Sie schenkte ihm einen wütenden Blick.

Er hob die Hand, um ihren Arm runterzudrücken. Er benutzte nicht viel Kraft und sie hätte es verhindern können, ließ aber den Arm sinken. Er ging an ihr vorbei. Seinem Gang nach zu urteilen musste er irgendeine Verletzung an der Taille haben. Was war passiert?

„Heidenstein“, sagte sie vorsichtig. „Doc. Red mit mir! Ich mache mir Sorgen, ja?“

„Es tut mir leid.“ Er drehte sich nicht zu ihr um. Wohin wollte er überhaupt? Wahrscheinlich einfach nur weg.

Fuck. Plan B. „Anderson?“

Er hielt inne. Als er sich nach ein oder zwei Sekunden umdrehte, hatte er die Stirn gerunzelt. „Wie hast du mich genannt?“

„Anderson“, erwiderte sie. Sie war sauer. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. Er verhielt sich wie ein kleines Kind. „Joachim Anderson. Das bist du, oder?“

Für einen Moment schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er machte allerdings keine Anstalten, es zu verleugnen. „Hat dir Smith davon erzählt?“

„Nein.“ Sie sah ihn düster an.

„Forrester?“

„Ich habe es selbst herausgefunden“, erwiderte sie. „Es ist nicht so, als hätte es besonderem detektivischen Verständnis bedurft.“ Sie machte eine weitläufige Geste. „Wer, wenn nicht der Besitzer, würde hier leben? Wer, wenn nicht der Besitzer, würde Equipment stehlen wollen?“

Noch immer starrte er, schloss dann die Augen. Er wirkte ergeben.

Halb rechnete sie damit, dass er wütend werden würde, dass er sie anschreien würde, doch nichts dergleichen geschah. Seine Züge entspannten sich. Er wirkte ergeben, schwieg aber.

Sie ging auf ihn zu. Verdammt, was sollte sie jetzt eigentlich sagen? Sie war nicht gut mit sozialen Dingen. „Doc.“ Er fühlte sich natürlicher an, ihn so zu nennen. „Verdammt noch mal. Was ist los?“

Er wich einen Schritt zurück, ehe stehen blieb und sich gegen die Wand lehnte. Er überlegte zu. Sein Blick wirkte nicht mehr wütend, nur ratlos.

Die Stille zog sich. Fünf Sekunden, dann zehn. Schließlich seufzte er.

„Victor hatte Probleme. Jemand war auf ihn angesetzt, er hatte ein Treffen in der Ukraine, ich bin mitgekommen.“ Noch ein Seufzen. Er musterte sie. „Kurzfassung: Wir sind in einen Hinterhalt geraten, wurden beide angeschossen. Nichts Dramatisches, aber es hat mich ausgeknockt. Und sagen wir es mal so, der Arzt, zu dem man mich gebracht hat, hat die Dinge nicht besser gemacht.“

„Deswegen bist du noch nicht zurück?“

Er schürzte die Lippen, wich ihrem Blick aus. Es war nicht alles, doch was auch immer noch war: Er sagte es nicht. „Ja.“

Pakhet fragte nicht weiter. Sie wollte nicht weiter drängen. „Warum hast du die Wunde nicht geheilt?“

„Heilt nicht ordentlich“, murmelte er. „Entzündet.“

„Und damit läufst du hier rum?“

Er schwieg.

„Warum warst du nicht in der Zentrale? Da gibt es andere Ärzte.“

Schweigen. Ein Seufzen. Ein mattes, selbstironisches Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. „Stolz?“

Sie musterte ihn, selbst seufzend. „Lässt du mich danach sehen?“

Wieder zögerte er, ehe er nickte. „In Ordnung.“ Er machte eine Pause und beobachtete sie dabei. Dann leckte er sich über die Lippen. „Es tut mir leid, Pakhet.“

Zur Antwort zuckte sie mit den Schultern. „Du bist halt ein verfickter Idiot.“

Er hob eine Augenbraue. „Ein was?“

Sie grinste. „Ein verfickter Idiot.“ Damit legte sie eine Hand auf seine Schulter. „Komm. Lass mich nach der Wunde sehen.“

[13.06.2011 – X06 – Vorbereitung]

Am Ende schaffte sie es Heidenstein davon zu überzeugen, sich in der Zentrale behandeln zu lassen.

Magische Heilung war ein tückisches Ding: Sie erlaubte vieles – vom Nachwachsen lassen fehlender Gliedmaße einmal abgesehen – doch überragende Heiler waren selten, sehr selten. Die meisten schafften es bloß, die normale Heilung zu beschleunigen. Schwerere Verletzungen, alles, was über oberflächliche Schnitte hinaus ging, brauchten einige Sitzungen über mehrere Tage verteilt und verbrauchten Energie von Heiler und Patient gleichermaßen.

Deswegen lag Mik weiterhin in der Krankenstation. Deswegen lief Heidenstein auch nach einigen Tagen angespannt.

Nichts desto trotz war es an der Zeit, zu versuchen, die Truppe – also vor allem Murphy und Spider – auf ihre „Abschlussprüfung“ vorzubereiten. Pakhet hielt es noch immer für eine dumme Idee, die beiden auf einen großen Einsatz mitzunehmen. Auch Heidenstein hätte sie lieber zurück gelassen, doch war er ein fähiger Medic. Zumindest jetzt, da er sich wieder bemühte, sich um das Team zu kümmern. Einzig um Crash machte sie sich keine Sorgen. Er war nicht subtil, war dafür aber ein verdammt fähiger Kämpfer. Auch wenn er mit Schusswaffen nicht umgehen konnte, so schaffte er mit seinen Speeren manchmal über hundert Meter. Mit einem Carbonspeer würde er wahrscheinlich mehr schaffen.

Noch dazu erlaubte es ihm seine dunkle Haut, in der Dunkelheit trotz seiner Größe kaum bemerkt zu werden.

Ihre größte Sorge blieb aber, dass sie nicht genau wusste, wohin sie gingen und was sie suchten. Alles, was Smith ihr hatte sagen können, war, dass die Firma SSA eine Ölbohrinsel vor Langebaan betrieb, dass der Auftraggeber seit längerem diese überwachte und dass er vermutete, dass die Einrichtung eigentlich irgendeine Form von Forschungsstation war. Es war alles verdammt vage.

Außerdem mochte sie den Gedanken nicht, auf einem Boot soweit rauszufahren. Die Insel war achtzig Kilometer von der Küste entfernt.

Seit sie ihren Arm verloren hatte, konnte sie selbst im Becken kaum schwimmen. Ja, sie hatte das Training dahingehend vernachlässigt. Dennoch hatte sie Angst vor dem Wasser.

Deshalb war sie nun im Becken, das zu den Trainingseinrichtungen unter der Zentrale gehörte. Sie hasste es, etwas nicht zu beherrschen. Dennoch erinnerte ihr Schwimmstil an eine ertrinkende Katze. Egal wie oft sie es versuchte, sie tat sich schwer, sich im Wasser fortzubewegen, keuchte schon nach zwei Bahnen.

Am Ende zog sie sich aus dem Wasser und blieb ab Beckenrand sitzen.

Sie sorgte sich um ihr Team. Michael hatte Recht: Es war nicht ihre Art. Dennoch sorgte sie sich um sie. Dabei hielt sie die meisten von ihnen für Idioten.

Vielleicht aber, war sie der größte Idiot. Denn wenn sie im Wasser landete, dann würde sie darauf hoffen müssen gerettet zu werden. Draußen auf dem Meer, draußen, bei Seegang, würde sie sich kaum über Wasser halten können.

Sie hasste den Gedanken an diese Hilflosigkeit. Sie hasste den Gedanken, etwas nicht zu können.

[18.06.2011 – D15 – Unsichtbar]

„Heidenstein.“ Pakhet lief die Treppe zur Straßenklinik hinab. Auch wenn er ein paar Patienten in der eigentlichen Klinik behandelte, war er meistens hier zu finden.

Stille.

Der Flur lag im Dunkeln. Vielleicht war er oben. Doch unter der Tür zu seinem Werkzimmer war Licht zu sehen.

Wahrscheinlich war er wieder in seine Arbeit vertieft. Sie seufzte. Eigentlich sollte er öfter zum Training kommen. Sie verstand, dass er sich um die Klinik kümmern wollte, aber das hier  …?

„Heidenstein?“, rief sie erneut. Sie marschierte zum Werkzimmer, klopfte an der Tür, öffnete sie dann. Wenn er arbeitete vergaß er die Welt. „Ich dachte, du bist in der Klinik.“ Sie trat ein und fand das Zimmer verlassen vor.

Pakhet runzelte die Stirn. Er war nicht der Typ, der das Licht brennen ließ.

Tatsächlich aber lag auch noch Material auf dem Tisch. Draht. Holz. Steine. Was hatte er jetzt schon wieder gebastelt?

Sie setzte sich auf einen der beiden Hocker vor der Bank, verschränkte die Arme und wartete. Vielleicht gab es einen Notfall. Vielleicht war er auf dem Klo. Immerhin war er ein Mensch.

Seitdem seine Wunde geheilt war, hatten sie nicht mehr über seine Abwesenheit geredet. Er mied das Thema und sie wollte nicht darüber reden, dass sie hergekommen war, um ihn zu holen. Es war nicht ihr Stil und in letzter Zeit dachte sie viel zu oft über diese Tatsache nach. Es war einfach nicht ihr Stil.

Minuten vergingen. Sie sah auf die Uhr. Sie wartete drei Minuten. Fünf. Sieben.

Es hatte ihn niemand entführt, oder? Sie hätte sich ankündigen sollen. Nein, hätte sie nicht. Offiziell arbeitete er aktuell für sie und sollte als Medic eigentlich erreichbar sein. Was, wenn Crash aus Versehen jemanden beim Training verwundete?

„Heidenstein?“

Natürlich antwortete er nicht.

„Verfickter Idiot“, murmelte sie. Es wurde ihr neuer Spitzname für ihn. Verdient.

Sie nahm ihr Handy heraus, schrieb ihm eine Nachricht. Wartete. Weitere zwei Minuten. Drei. Vier. Keine Antwort.

Sie seufzte und stand auf. Sie hatte besseres zu tun. Warum war sie extra hier heraus gefahren? Doch warum hatten die beiden Wachen sie runtergelassen, wenn er nicht hier war? Wenn er nicht da war, war die Straßenklinik geschlossen. Also  …

Sie trat auf den Flur heraus und blickte sich noch einmal um. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Dann kam ihr ein Gedanke.

Gegenüber dem Werkszimmer war sein Refugium, sein „Magiezimmer“. Sie ging zur Tür, lauschte. Es brannte kein Licht – jedenfalls sah sie keins unter der Tür – doch musste das nichts heißen. Wenn er ein Ritual wirkte, würde er Kerzen als Lichtquelle benutzen. Wie die meisten Magier. Aus Tradition. Wahrscheinlich aus Tradition. Was verstand sie schon davon? Sie wusste, wie ihre eigene Magie funktionierte, selbst wenn sie von ihren Fähigkeiten nur selten als Magie dachte. Mehr musste sie nicht wissen. Mehr brauchte sie nicht. Echte Magie war seltsam, unlogisch und oft auch etwas gruselig.

Sie klopfte an der Tür. Keine Antwort.

Für zwei oder drei Sekunden hielt sie inne, zögerte. Dann gab sie den Code in das Keypad ein und öffnete die Tür. Sie drückte sie auf und fand tatsächlich Heidenstein, in tiefer Meditation versunken, vor dem magischen Kreis kniend.

Es war seltsam ihn so zu sehen. Er war gänzlich weggetreten. Sollte sie ihn ansprechen oder würde das magische Nebenwirkungen mit sich bringen?

Unsicher blickte sie sich um, schloss dann die Tür und hockte sich hin.

Heidenstein trug nur ein T-Shirt und eine kurze Hose. Nicht unbedingt das, was man von einem Magier erwartete. Beides schien vor allem nach Bequemlichkeit ausgewählt zu sein. Das T-Shirt war ausgeleiert, die Hose verbleicht. Jedenfalls wirkte es durch das blasse Licht der Kerzen so.

Im magischen Zirkel lagen drei Gegenstände. Ein Armband, ein Spiegel und eine schwarze, brennende Kerze.

Was auch immer er damit vorhatte. Zumindest war keine Blutmagie involviert.

Meistens dachte sie über ihn nicht als Magier, selbst wenn sie wusste, dass er magische Heilung beherrschte. Es war dennoch klar, dass er vor allem ein Mann der Wissenschaft war. Er, mit seinem hochgebildeten Oxfordenglisch.

Sie seufzte leise und wartete. Warum wartete sie eigentlich? Das einzige, was sie hier tun konnte, war über die verschiedenen Möglichkeiten, wie ihr kleiner Ausflug auf die vermeintliche Ölbohrinsel schief gehen konnte, nachzudenken.

Sie hatte die Bilder gesehen, die ihr Auftraggeber mithilfe von Drohnen aufgenommen hatte, und was sie gesehen hatte, hatte ihr gar nicht gefallen. Es gab viel Sicherheit. Zu viel um ungesehen daran vorbei zu kommen. Sie würden auf irgendeine Art die Konfrontation suchen müssen. Und sie mochte diesen Gedanken nicht.

Die Flamme der schwarzen Kerze verlosch.

Heidenstein ließ einen tiefen Atemzug hören und öffnete die Augen. Er blinzelte, als er sie bemerkte. „Pakhet?“

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Hey, Doc.“ Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln.

„Was machst du hier?“, fragte er.

„Nach dir schauen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was machst du da?“

Er lächelte, offenbar froh, dass sie fragte. „Ich habe etwas versucht.“

„Aha?“ Fragend musterte sie ihn.

Er stand auf, ging zum Lichtschalter und machte das Licht im Zimmer wieder an, ehe er die Kerzen eine, nach der anderen löschte. „Ich habe versucht, ein Artefakt herzustellen.“

„Versucht?“ War das nicht Alltag für einen Magier?

„Ich bin darin nicht besonders gut“, gab er zu. Er wandte sich ihr zu, lächelte und fuhr dann mit den Kerzen, die im Regal standen, fort. Er löschte sie, indem er den Docht ausdrückte.

„Aha.“ Was wusste sie schon über Magie?

Er lachte leise, wohlwollend. „Ich habe ein paar Tage damit verbracht, alles vorzubereiten, aber  …“ Er räusperte sich.

„Komm zum Punkt.“

„Schon gut.“ Er sah sie an, kehrte zum Kreis zurück und hob das Armband auf. Zögerlich machte er es am Arm fest, beinahe, als rechnete er damit, dass es explodieren würde. Er schloss die Augen, holte tief Luft und  … verschwand. Er war wirklich verschwunden.

Teleportation?

Sie runzelte die Stirn. Nein. Etwas anderes.

Jemand berührte sie an der Schulter. Heidenstein. Natürlich.

Sie sah zu ihrer Seite und wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie seine Umrisse im Licht der Lampe ausmachen. Es war eine Illusion.

„Unsicherbarkeit“, stellte sie fest.

„Ja“, antwortete seine Stimme. „Ich habe lange dafür gebraucht.“ Er wurde wieder sichtbar. „Der Nachteil ist, dass es aufladen muss.“

„Aufladen?“ Sie hob eine Augenbraue.

„Sonnenlicht.“

Sie lachte. Sie konnte einfach nicht anders. „Ein solarbetriebenes Artefakt?“

Er musterte sie lächelnd. „Magie hat halt immer irgendeinen Nachteil.“

„Nein.“ Noch immer lachte sie leise. „Magie ist einfach immer ein wenig seltsam.“

[20.06.2011 – M05 – Vorbereitung]

„Okay, und warum brauchst du zweihundert Meter Seil?“

Pakhet sah den Jungen an an. Sie seufzte. „Weil es sein kann, dass wir tauchen müssen.“ Es grauste ihr davor, doch sie musste den Tatsachen ins Gesicht sehen. „Und Seil wird uns helfen zur Oberfläche zurück zu kommen.“

„Aha.“ Murphy blickte auf die Einkaufsliste, die er ihr abgenommen hatte. „Und die Farbe?“

„Schon einmal etwas von Farbgranaten gehört?“

Er musterte sie. Aktuell trug er wieder die Gestalt eines hageren, dunkelhäutigen Jugendlichen, nicht älter als 16. „Nicht dein Ernst!“

Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln und fragte sich gleichzeitig, warum er überhaupt hier war. Sie wusste, warum sie Crash dabeihatte, sie wusste, warum sie den Doc dabei hatte, aber Murphy? Murphy hatte sich selbst eingeladen, schien es ihr. Na ja, vielleicht konnte er mit seiner Silberzunge hier oder da noch einen Rabat aushandeln.

Sie war im Baumarkt, um Ausrüstung für die Mission zu holen. Dinge, die nicht illegal waren, die man immer gebrauchen konnte und die oftmals bei solchen Einsätzen fehlten. Das genannte Seil, die genannte Farbe, Nägel, Eisenstaub, Klebstoff und vor allem raue Mengen an Panzerband. Sie war schon zu oft auf Missionen gewesen, auf denen Panzerband fehlte. Speziell, wenn es auf das Meer hinaus ging. Panzerband machte oftmals den Unterschied zwischen einem schwimmenden und einem sinkenden Boot. Speziell, nachdem automatisches Feuer Löcher in den Rumpf gerissen hatte.

„Sag mal, warum bist du eigentlich hier, Murph?“, fragte sie und schaute den Jungen an.

Er sah auf. „Na, weil ich von dir lernen will, natürlich.“

„Ja, sicher.“

Crash brummte. „Ich glaube, weil er nerven will.“

„Was? Nerven? Ich?“ Murphy gab sich empört. „Das würde mir nie in den Sinn kommen. Ich nerve doch nicht.“

Pakhet seufzte, kam aber nicht umher matt zu lächeln. „Sicher nicht.“

„Du willst mir doch nicht ernsthaft unterstellen, zu nerven!“

„Wenn ich dir einen Tipp geben darf, Murphy“, meinte Heidenstein, obwohl auch er sein Amüsement schwer nur verbergen konnte, „ich würde die beiden nicht provozieren.“

Murphy lachte. „Ich provoziere nicht. Ernsthaft nicht.“ Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln. „Wirklich, Pakhet. Ich bin nur hier, weil ich lernen will. Na ja, und vielleicht auch, weil daheim die Leute von den Sevens wahrscheinlich noch immer vor meinem Unterschlupf warten und daher.“

„Die Sevens?“

Murphy zuckte mit den Schultern und ließ ein Seufzen hören. „Ach, nichts Dramatisches. Ich hatte nur ein kleines …“ Er räusperte sich. „Ähm. Eine kleine Meinungsverschiedenheit.“

„Verstehe“, brummte Crash.

„Nein, tust du nicht, Großer.“

Ein missmutiges, bedrohliches Grummeln.

„Crash“, verbesserte sich Murphy mit Nachdruck. „Ich habe ein paar Freunde von mir beschützt, als Lo sie bedroht hat und jetzt …“

Pakhet seufzte. „Sprich: Du brauchst Hilfe.“

Er starrte sie verständnislos an. „Nein!“ Der Widerspruch schien ernsthaft gemeint. „Nein. Ich brauch nur ein wenig Abstand. Mehr nicht.“

„Murphy“, begann sie, wurde aber von einem vehementen Kopfschütteln unterbrochen.

„Ich brauche keine Hilfe“, antwortete er und jeder Scherz war aus seiner Stimme gewichen. Seine Augen wirkten ungewöhnlich distanziert. Wieder räusperte er sich.

„Murphy“, bot auch Heidenstein an, „wir können dir helfen. Ich könnte dir sicher eine Unterkunft besorgen.“

„Nein“, erwiderte Murphy.

Crash brummte. „Lasst ihn.“

Sie waren im Flur des Baumarkts stehen geblieben. Pakhet und Heidenstein sahen den Jungen an, Crash dagegen sie.

Schließlich erwiderte Pakhet den Blick des Hünen, der den Kopf leicht schüttelte. Er schien Murphy zu verstehen. Eine Sache, die Straßenkinder verstanden?

Moment. War Murphy ein Straßenkind? Es war das erste Mal, dass ihr der Gedanke kam.

Langsam kehrte das Lächeln in Murphys Gesicht zurück. „Es passt schon. Echt, ihr beiden. Ich kümmer‘ mich selbst darum. Ich brauche nur etwas Abstand und das richtige Timing.“ Damit marschierte er weiter voran.

Pakhet seufzte. Es ging sie nichts an. Ach, verdammt, warum machte sie sich um diese Idioten überhaupt so viel Sorgen?

[25.06.2011 – X07 – Müdigkeit]

Murphy sollte Recht behalten. Zumindest konnte sie das annehmen, da er am nächsten Tag nicht verletzt war, als er zur Firma kam. Auch nicht am Tag danach.

Generell geschah in den folgenden drei Tagen nichts mehr, das besonderer Aufmerksamkeit bedurfte. Dann kam der Tag – oder viel eher die Nacht – der Mission. Die Moral der Geschichte war, dass Murphy nicht gut mit der hohen See auskam. Sie waren für das Training im Hafen herum gefahren, doch die offene See war ein anderes Biest. Ein Biest, dass Murphy stark zusetzte, so dass er am Ende im Boot verblieben war.

Dennoch waren sie nun hier. Wieder an Land. Alles in allem in einem Stück. Nun, abgesehen davon, dass Mik und Spider nur dank Heidensteins Heilmagie, Panzerband und einigen Bandagen am Leben waren.

Es war unwirklich, wie gut die Sache geklappt hatte. Wenngleich nicht unerhebliche Teile davon Crash und – Pakhet gab dies nur ungerne zu – Agent zu verdanken waren. Agent, dessen Anwesenheit im Team sie beinahe vergessen hatte, dank der Tatsache, dass er beim Training nur die letzten beiden Tage erschienen war. Doch war es ihm zu Verdanken, dass sie irgendwie die Daten von irgendeiner Datenbank hatten. Was wusste sie schon? IT, die über die Nutzung eines normalen Rechners hinaus ging, war ihr genau so ein Rätsel, wie höhere Magie.

Ihr Kopf schmerzte. Die Nacht war lang gewesen. Verdammt, sie war wirklich lang gewesen. Davon abgesehen hatte sie mehr Glück als Verstand gehabt. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre sie getroffen worden. Eigentlich hätte sie getroffen werden müssen. Doch sie war nicht getroffen worden. Sie lebte. Sie hatten Daten. Und verdammt, was sie gesehen hatte war verrückt gewesen.

Magische Laboratorien. Ach, fuck, es gab nichts Verstörenderes, als große Firmen, die mit Magie experimentierten.

Ihr Kopf sank immer wieder zur Seite. Sie war nur froh, dass Smith die Truppe abgeholt hatte. Sonst hätte sie jetzt fahren müssen. Denn mit Spider und Mik verletzt und Heidenstein, der sich um beide kümmerte, gab es sonst niemanden.

Ach, verdammt, sie konnte sich etwas Schlaf erlauben. Gleich. Später. Nur noch etwas. Sie waren nur noch zwanzig Minuten von Kapstadt entfernt.

Zumindest lebten noch alle. Es lebten noch alle und sie war nicht mehr für sie zuständig. Sofern Smith bei seinem Wort blieb.

[04.07.2011 – M06 – Teamänderung]

Ein neuer Montag, eine neue Woche und endlich Freiheit von der Chaostruppe. Fast, zumindest, da Heidenstein mit einer Kaffeetasse in der Hand auf einem Stuhl saß und sie beobachtete.

„Du weißt, dass dir ein wenig Training nicht schaden würde, oder?“, kommentierte Pakhet und warf ihm einen Seitenblick zu.

Sie war auf dem Laufband, da ihre Tage – wenn sie keinen aktiven Job hatte – meistens mit einem Kaffee, gefolgt von Ausdauertraining begannen.

„Ich bin Arzt“, antwortete Heidenstein. „Ich bin mir dessen bewusst.“

Sie schnaubte. „Typisch Arzt. Anderen Leuten was vorpredigen und selbst nichts tun.“

Er zuckte mit den Schultern, trank einen Schluck. „Schuldig.“

Sie konzentrierte sich auf ihr Training, auf ihre Atmung. Es gab nichts Schlimmeres, als beim Laufen zu reden, da man früher oder später die Atmung dabei vergaß. Das Laufband war so eingestellt, dass es alle zwei Minuten schneller wurde, bis zu einer Maximalgeschwindigkeit von 15 km/h. Doch soweit kam sie heute nicht.

Die Tür zum Trainingsraum, in dem fünf Laufbänder nebeneinanderstanden, von denen zurzeit nur zwei in Benutzung waren, wurde klackend geöffnet. Sie sah sich nicht um.

Dann aber erklang eine Stimme. „Pakhet?“

Es war ihr heute scheinbar nicht vergönnt, ruhig zu trainieren. Mit einem Seufzen regulierte sie die Geschwindigkeit nach unten und sprang schließlich ab.

Mittlerweile stand Murphy, heute wieder hellhäutig und schwarzhaarig, bei Heidenstein und blickte zu ihr. Er war bemüht das liebste, angenehmste Lächeln vorstellbar aufzusetzen. Also wollte er etwas von ihr.

„Was willst du?“ Sie musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue.

„Ich habe eine Bitte“, erwiderte Murphy lächelnd. „Eine klitzekleine Kleinigkeit.“

„Aha?“

Auch Heidenstein wandte dem Jungen seine Aufmerksamkeit zu.

„Na ja“, meinte Murphy vage. „Ich brauche Hilfe.“

Sie seufzte. „Komm zur Sache, Junge.“

„Okay. Okay.“ Er hob die Hände. „Smith hat mir einen Auftrag gegeben und ich brauche ein Team und auch wenn ich hoffe, das zu machen, ohne irgendjemanden zu vermöbeln, dachte ich, da du Erfahrung hast, wärst du eventuell bereit dem lieben kleinen Murphy ein wenig auszuhelfen und würdest daher mithelfen.“ Er sprach schnell, als fürchtete er, dass sie ihn unterbrechen würde.

Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Sie könnte ihn ein wenig zappeln lassen, wie er es tun würde – da war sie sich sicher. Doch es war nicht ihre Art. „Worum geht es denn?“

„Ich soll Daten beschaffen“, erwiderte Murphy.

Sie nickte. „Bezahlung?“

„Gesamt fünfzig Riesen.“

Kurz musterte sie ihn, seufzte dann aber. „Besprechungsraum?“

„Besprechungsraum.“ Murphy grinste.

„Gib mir zehn Minuten, ich will mich abduschen“, meinte sie.

Der Junge nickte, grinste und lief zur Tür, während Heidenstein seufzte.

„Ich bin nicht unsichtbar, oder?“, fragte er.

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Also zumindest ich kann dich sehen.“

„Gut“, murmelte Heidenstein. „Ich hatte schon Befürchtungen.“

Sie klopfte ihm auf die Schulter, ehe sie sich auf den Weg zu den Duschen machte.

[04.07.2011 – M07 – Finanzierung]

Zwölf Minuten später kam Pakhet die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Zumindest hatte sie jetzt Kaffee. Murphy hatte ihr eine kurze Nachricht geschrieben und sie steuerte den Besprechungsraum 2.12 gezielt an. Sie war zugegebenermaßen neugierig, was es für ein Auftrag war, den Smith als Murphys erste eigene Mission auserkoren hatte.

Smith scherte sich um den Jungen, da war sie sicher. Smith war weicher, aber vor allem ehrlicher als Michael. Für ihn waren die „Angestellten“ mehr als Werkzeuge, auch wenn er professionelle Distanz bewahrte.

Im Besprechungsraum fand sie Murphy allein sitzend. Wie schon zuvor trug er ein Hemd und saß mit selbstzufriedenem Grinsen an dem Tisch. Er kam nicht umher seine Position immer ein wenig zu ändern, um eindrucksvoller zu wirken.

„Pass auf, dass du nicht aus dem Stuhl fällst, Junge“, meinte sie.

Murphy grinste. „Ach was.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. Gleich würde ihm der Kiefer abfallen. „Willkommen in meinem Team.“

„Hey, ich habe noch nicht gesagt, dass ich mitmache.“ Sie setzte sich auf einem Stuhl, verschränkte die Arme. „Sprich, Junge.“

„Ganz businesslike, eh?“ Er räusperte sich. „Gefällt mir.“ Er sah auf ein paar Unterlagen, die vor ihm lagen. „Also. Ich habe von Smith den Auftrag bekommen, Informationen über die Stormers, die Eagles und die Southern Kings zu finden. Also speziell über ihre Finanzen.“

„Rugby?“, schloss Pakhet. Sie verfolgte die örtliche Rugby-Liga nicht, kannte aber die Namen der Teams.

„Genau. Rugby.“

„Es geht also darum, herauszufinden, ob es irgendwelche Bestechungen gibt“, schloss Pakhet. Warum sonst Finanzen? Meistens ging es um Geldwäsche oder Bestechungen. Das wiederum bedeutete, dass ihr Auftraggeber entweder jemand aus der Liga war oder die chronisch unterfinanzierte Polizei.

„Wahrscheinlich“, bestätigte Murphy.

„Hast du schon irgendwelche Pläne, Silberzunge?“ Es amüsierte sie, wie nervös er wirkte. Meistens überspielte der Junge dergleichen. Vielleicht versuchte er auch, dadurch einen Beschützerinstinkt bei ihr zu provozieren.

Er räusperte sich. „Ja. Habe ich. Habe ich tatsächlich.“ Er lächelte. „Ähm.“

„Ähm?“, echote sie, um ihn zu ärgern.

„Also, na ja, Smith hat angemerkt, dass es am Samstag in der Uni-Arena Qualifizierungsspiele gibt.“

Murphy leckte sich über die Lippen. „Na ja. Ich dachte wir gehen dahin, schmuggeln uns rein, weißt du. Da werden Leute von allen wichtigen Teams da sein und wenn wir einen Hacker dabei haben  …“

„Das heißt, du willst sozusagen Backstage.“

Das passte zu dem Jungen. Das war seine Art zu denken. Doch wusste sie auch, dass es zwei Arten gab Backstage zu kommen – und beide hatten Vor- und Nachteile.

Murphy nickte. „Ja, das war mein Plan. Wenn wir das richtig machen, haben wir gleich die Sachen von allen drei Teams.“

„Gesetzt dem Fall, dass von allen Teams Leute da sind und dass diese irgendeinen Zugang zu den Informationen bei sich haben.“ Schließlich waren die Teams nicht alle drei lokal.

„Gesetzt dem Fall.“ Murphy sah sie erwartungsvoll an.

„Was?“

„Wie würdest du das angehen?“

Sie lachte amüsiert auf. Der Junge war also unsicher und wollte sie deswegen haben. Beruhigend zu wissen. Immerhin war sie so nicht sein Bodyguard.

Sie überlegte. Sie hatte wenig mit Sport zu tun, wusste nicht viel über diese Auswahlverfahren. Allerdings kannte sie übliche Taktiken, sich in Veranstaltungen reinzuschmuggeln. Der Klassiker war natürlich, die Putzcrew zu stellen. Auch Veranstalter wussten, dass es der Klassiker war, weshalb es selten so gut funktionierte, wie in den Filmen. Außerdem hasste sie es, die Putzcrew zu sein.

Sie holte ihr Handy heraus, suchte nach den Spielen. Denn sie hatte eine Vermutung: In den USA oder UK gab es ähnliche Veranstaltungen. Dort kamen Spieler oft von Sportcolleges und wurden bei entsprechenden College-Spielen gecastet. Allerdings waren sie nicht in den USA oder den UK. Sie waren in Südafrika und hier kam es öfter vor, dass die Talentscouts in anderen Gebieten suchten.

Sie brauchte fünf Minuten, ehe sie fand, wonach sie suchte: Anmeldeinformationen für Scouts.

Wunderbar.

Sie lächelte. „Ich glaube, wir werden Scouts sein, die bei den Auswahlspielen ihre neue Entdeckung präsentieren wollen.“

Murphy verschränkte die Arme, dachte darüber nach, nickte dann. „Okay. Klingt gut. Weiter?“

„Wir brauchen einen Hacker dabei.“ Eventuell mussten sie nicht hacken, doch sie brauchten jemand, der sich mit Gomputern auskannte. „Und ich brauche den Doc.“

„Und wer ist unser Schützling?“, fragte Murphy.

Pakhet grinste. Sie wusste, dass Murphy die Aussicht nicht mögen würde. „Oh, ich kenne jemanden, der zumindest einen Eindruck hinterlassen wird.“

Er musterte sie fragend, bis der Groschen endlich fiel. „Du meinst …“ Er schüttelte den Kopf. „Wir haben hier so viele andere, glaubst du nicht, dass es besser wäre …“

„Murphy. Wenn du das hier einmal professionell machen willst, musst du auch mit Leuten zusammenarbeiten, die du nicht leiden kannst.“

Murphy verschränkte die Arme wieder, schmollte. „Wieso ich? Es ist er, der mich nicht leiden kann.“

[10.07.2011 – C04 – Naturtalent]

Wie so oft bei Auswahlspielen war das Stadion relativ leer. Die meisten, die hier waren, waren Scouts, Trainer verschiedener Teams, Sportreporter und ein paar interessierte Zuschauer. Dennoch: Die Ränke waren größtenteils leer.

Egal. Besser so vielleicht. Je weniger Leute sie sahen, desto besser.

Pakhet trug einen Anzug, Murphy ebenso. Hazel, die sie als Hackerin mitgenommen hatten, trug eine Bluse und einen knielangen Rock. Sie hatte sich das Haar in einem Knoten zurückgebunden und hätte streng ausgesehen, hätte sie dabei nur einen Hauch Selbstbewusstsein ausgestrahlt.

Hinter ihnen trottete Crash. Er trug einen Trainingsanzug – von Adidas – und wirkte missmutig. „Bist du dir sicher, dass der Plan klappt, Lady?“

Sie schenkte ihm ein steifes, selbstsicheres Lächeln, so wie man es von einer Trainerin erwarten würde. „Sicher, mein Junge. Du bist ein Naturtalent.“

Er schenkte ihr einen missmutigen Blick. Wahrscheinlich wäre ihm eine ehrliche Antwort lieber gewesen.

Während die Sitze oben im Stadion leer waren, so war das Spielfeld und der Rest des Arenabodens gefüllt. Sicher achtzig oder neunzig Spieler waren hier, wärmten sich auf, redeten mit Trainern. Einige von ihnen trugen College-Kleidung, doch Pakhet hatte richtig gelegen: Viele gehörten zu Scouts. Sie fielen also nicht auf. Einzig die Tatsache, dass sie bloß einen Spieler bei sich hatten, war ungewöhnlich. Doch mehr vermeintliche Spieler bedeutete mehr Söldner, die bezahlt werden wollten. Sie war nicht geizig, sah aber keinen Grund, das Geld weiter aufzuteilen.

Sie würden es schon hinbekommen. Immerhin mussten sie nicht professionell wirken.

Sie hatte sich für Crash als Spieler entschieden, weil sie wenig über den Sport wusste, bis auf eine Sache: Es war von Vorteil, laufen zu können. Es war von Vorteil genug Masse zu haben, um sich nicht so leicht umwerfen zu lassen. Kraft schadete sicher auch nicht. Crash war groß, bullig und schnell, wenn er lief. Er war schwer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Theoretisch gesehen sollte er wie geschaffen für den Sport sein.

So suchten sie den nächsten Typen, der aussah, als hätte er etwas zu sagen. Natürlich war es ein Typ. Frauen waren hier deutlich in der Minderheit. Sicher, es war auch ein Auswahlspiel für die Herrenmannschaften.

Zwanzig Minuten später waren sie bestätigt und ein missmutiger Crash schloss sich den anderen Spielern beim Aufwärmen an.

Pakhet saß neben Murphy und Hazel in einem der Hartschalensitze in den Rängen und hatte die Arme verschränkt. Sie trug eine Sonnenbrille und bemühte sich heute ihrerseits so selbstgefällig wie möglich auszusehen. Aber verdammt, der Sessel war unbequem.

„Also“, murmelte sie aus dem Mundwinkel heraus. „Sobald die eigentlichen Spiele beginnen, geht ihr beiden los.“

„Jap.“ Murphy flüsterte, schaffte es dabei den Mund kaum zu bewegen. Was Charaden anging, war der Junge gut. Er hatte die Gestalt eines etwa dreißigjährigen, weißen Mannes mit braunen Haaren angenommen. Natürlich trug auch er eine Sonnenbrille.

„Gut. Dann seht zu, dass ihr die Daten bekommt.“

„Jap.“ Murphy deutete ein Nicken an.

Das alles baute darauf, dass sie überhaupt an Aktenkoffer und Laptops drankamen. Wenn sie das nicht schafften, mussten sie später in die Büros, der Teammanagements einbrechen. Erst einmal positiv denke, versuchte sie ihren inneren Realisten zu überzeugen. Smith hatte gesagt, diese Veranstaltung wäre ein guter Ansatz und Smith wusste meistens, wovon er redete. Also abwarten.

Vielleicht war der Plan mit der Charade auch zu aufwändig. Vielleicht wäre es besser gewesen, es einfacher anzugehen. Doch jetzt war es zu spät. Sie wartete. Die Spiele begannen.

Anders als bei einem normalen Rugby Spiel, wurde immer nur eine halbe Stunde gespielt, anstatt zwei Mal vierzig Minuten. Lang genug, um jedem Spieler eine Möglichkeit zu geben, sein Können zu zeigen, kurz genug, um möglichst viele Teams in verschiedenen Konstellationen spielen zu lassen. Pakhet verschränkte die Arme und war froh, einen Thermobecher Kaffee dabei zu haben.

Während des ersten Spiels verschwanden Murphy und Hazel unauffällig. Sie gingen in die Bereiche, die für einfache Zuschauer nicht üblich waren. Da unten gab es Umkleiden, Duschen, aber auch Büros und Schließfächer, für all die, die ihre Wertgegenstände gerne sicher verstaut wussten.

Sie blieb hier. Damit zumindest der vermeintliche Trainer da war. Außerdem war das hier Murphys Job.

Crash spielte erst im zweiten Spiel. Sie bemerkte, dass er vor dem Beginn des Spiels zu den Rängen hochschaute, auf der Suche nach ihr. Sie nickte ihm zu und er nickte zurück. So ganz gefiel ihm seine Rolle in diesem Plan nicht.

Am Ende war es egal. Er musste nicht gut spielen, nur akzeptabel genug, um nicht aufzufallen.

Das Spiel wurde angepfiffen. Pakhet nippte an ihrem Kaffee.

Crash spielte im Sturm – bei weitem, die Rolle, für die er wohl am ehesten geeignet war. Er trug ein rotes Trikot, auch wenn es im Moment nicht viel sagte. Es waren Auswahlspiele und jedes Spiel würde auf „Weiß gegen Rot“ hinauslaufen.

Der Ball wurde von Weiß angekickt, die roten Spieler liefen drauf zu. Es war klar, dass seine enorme Größe Crash hier zum Vorteil wurde – und tatsächlich bekam er den Ball zu fassen.

Natürlich waren auch die weißen Spieler schon vor ihm, versuchten ihm den Ball zu entreißen.

Pakhet hatte sich Videos online angesehen. Das war der Punkt, wo alles zu einer großen Rauferei verkam – aus der Sicht eines ahnungslosen Außenstehenden. Doch das Spiel unten auf dem Feld entwickelte sich nicht so, wie sie erwartet hatte. Denn Crash schaffte es, sich freizulaufen. Er war schneller als die anderen. Natürlich, verdammt, er war ein Gestaltwandler. Er gewann Abstand zu den anderen Spielern, sah sich um, schien selbst überrascht. Dann erreichte er das Ende des Feldes, immer noch überrascht. Die anderen Spieler rannten zu ihm. Er legte den Ball ab.

Pakhet trank noch einen Schluck, die Augenbrauen angehoben. Das würde interessant werden.

[10.07.2011 – C05 – Wegänderung]

Das Ganze lief anders, als geplant. Wer hätte gedacht, dass sie Crash für die späteren Spiele dabehalten würden? Joanne nicht, auch wenn sie sich nun für ihre eigene Naivität strafte.

„Glaubst du, du kannst noch weitermachen, Großer?“, fragte sie auf dem Weg zu den Umkleiden.

Crash brummte eine Bestätigung, die Augen starr nach vorne gerichtet.

Zwei, drei der anderen Spieler blieben stehen, sprachen ihn an. Fast alle auf Afrikaans. „Du bist echt gut“, sagte einer. Ein anderer: „Wo hast du bisher gespielt?“

Wo war Murphy nur?

Sie hatte den Jungen seit über einer Stunde nicht mehr gesehen.

Ein Manager – zu erkennen an dem teuren Anzug – hielt auf sie zu. Er hatte ein geschäftsmäßiges Lächeln aufgesetzt, als er auf sie zukam. „Sind sie Mrs Montgomery?“, fragte er auf Afrikaans.

Sie antwortete auf Englisch. „Jetzt nicht. Kommen Sie später.“ Verdammt, das war ein Job für Murphy.

Sie hatte nicht beabsichtigt, dass sie so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Was sollten sie jetzt tun? Und sie hatten nicht einmal eine Umkleide für sich.

Denn in der Umkleide drängelten sich andere Spieler, weitere sprachen Crash an, der nur brummte. Ihr wurden Seitenblicke zugeworfen. Trotz Kleidung war sie als Frau zu erkennen und auch als Scout hatte sie hier eigentlich nichts verloren. Also drängelte sie sich mit Crash in den Nebenraum der Umkleide, der offenbar als Erste-Hilfe-Zimmer gedacht war.

Hier holte sie hier Handy heraus. Schrieb an Murphy: „Wo bleibt ihr? Sind neben Erste-Hilfe-Zimmer. Brauche Unterstützung.“ Dann wandte sie sich Crash zu: „Du hast echt noch nicht gespielt?“

Er schüttelte den Kopf, hielt dann inne. „Als ich noch zur Schule bin. Da schon. Aber Schulsport, nicht mehr.“

Pakhet musterte ihn, räusperte sich. „Du bist gut.“

Er brummte nur. Er setzte sich auf die mit grünem Leder bezogene Liege, die am Rand des kleinen Raums stand.

Pakhet setzte sich neben ihn. Was sollte sie sonst tun? Sie war sich nicht sicher, ob ihr Plan jetzt noch funktionieren würde. Eigentlich hatte sie geplant, früher von hier abzuziehen, unter dem Vorwand einer Verletzung. Jetzt aber war sie sich nicht sicher. Ihr war eine Sache klar geworden: Crash hatte hier vielleicht eine Chance.

Sollte sie etwas sagen? Es ging sie schließlich nichts an. Sie wusste ja nicht einmal, wer er war und wie er genau in diese Arena gekommen war. Dann wiederum … Er war noch relativ jung, soviel wusste sie sicher. Reichte es nicht, dass sie ihr halbes Leben an diesen Job verschwendet hatte?

„Was meinst du, Großer“, meinte sie schließlich, um das Schweigen zu brechen.

Ein fragendes Brummen.

„Könntest du dir vorstellen, wirklich zu spielen?“

Ein unschlüssiges Brummen.

Sie konnte ihn verstehen. Immerhin waren sie unter falschen Namen, falschen Daten, falschen Vorgaben hier. Und ja, vielleicht hatte er noch ganz andere Gründe. Eventuell sollte sie einfach die Klappe halten. Sie tat es nicht.„Ich meine, du hast vielleicht echt eine Chance. Du könntest etwas machen, bei dem die Chancen, von jemanden erschossen zu werden, deutlich kleiner sind.“ Ja, großartiger Peptalk. Sie war mit diesen Dingen nicht gut.

„Das kann nach hinten losgehen, wenn die mitbekommen, dass die Vorgaben falsch sind.“ Nach diesen Worten presste er die Lippen zusammen, brummte wieder. „Und da ist Alice.“

Sie sah sich um. Sie waren hier wirklich allein und es gab keine Kameras. Natürlich nicht. Sieben Jahre in ihrem Job hatten sie paranoid gemacht. „Was ist eigentlich mit Alice?“

Ein weiteres Brummen, unschlüssig dieses Mal. Er zögerte. „Alice ist magisch. Aber  … Anders. Sie kann Computer manipulieren und sowas.“

„Wie ein Hacker?“

„Ja. Aber magisch. Besser. Sie  …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es bis heute nicht wirklich. Aber Leute wollen sie. Also Firmen. Die haben das damals in der Schule bemerkt. Die kamen und haben versucht uns zu überreden. Haben uns Angebote gemacht. Und dann  …“ Er schüttelte den Kopf.

Pakhet wusste nicht, was genau passiert war. Doch wusste sie, dass die Eltern der beiden tot waren. Die Annahme lag nahe, dass es damit zu tun hatte. Vielleicht ein Versuch, sie zu erpressen. „Wie alt war Alice?“

„Elf.“ Ein tiefer Laut, der fast an ein Knurren erinnerte, schwang in seiner Stimme mit. Er schüttelte den Kopf. „Wenn es wieder jemand bemerkt  …“

„Ihr könntet euch neue Identitäten holen“, meinte sie. „Neue Identitäten, neue Leben, neue Hintergründe. Das lässt sich alles fabrizieren. Dann könnte auch Alice noch einmal neu anfangen. Smith hat da sicher Möglichkeiten.“ Wahrscheinlich war Smith ohnehin eher die Person, die darüber sprechen sollte.

Er dachte nach, nickte.

Die Tür öffnete sich.

„Ich habe gehört, ihr habt mich vermisst“, flötete Murphy.

„Wir brauchen deine Hilfe, Silberzunge“, erwiderte Pakhet. Sie sah zu Crash. „Wir haben ein Problem. Wo ist Hazel?“

„Noch immer dabei, Daten zu ziehen. Soll gleich wieder zu ihr zurück. Was ist das Problem?“

Pakhet nickte Crash zu, der die Augen verdrehte und die Nase anzog. Er mochte die Aussicht nicht, dass Murphy es wäre, der ihm half. „Da wollen Leute mit mir reden. Wegen dem Spielen.“

„Wegen dem Spielen?“, fragte Murphy.

Pakhet tauschte einen Blick mit Crash, der ihr zunickte. Dann sprach sie: „Es stellt sich heraus, dass er Talent hat. Leute wollen ihn anheuern.“

Murphy runzelte die Stirn, als er versuchte, diese Information zu verarbeiten. Dann grinste er. „Und. Was sagst du, Großer?“ Er verbesserte sich schnell: „Ich meine, Crash.“

Crash zögerte, schaute für eine Weile zu Boden. Dann nickte er Murphy zu.

Ein Grinsen breitete sich auf Murphys Gesicht aus. „Wunderbar. Dann schaue ich mal, was ich dabei rausschlagen kann.“ Er blickte sich um. „Also, wo sind die Sponsoren?“
 

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[10.07.2011 – D16 – Ruhe]

Warum saß sie schon wieder hier, neben ihm, auf seinem Sofa? Es war nicht ihr Stil und eigentlich hätte sie besser daran getan, sich zur Feier des Tages einen Abend in einer Bar mit anschließender Unterhaltung in einem Hotelzimmer zu gönnen. Stattdessen war sie wieder – wie zu oft in letzter Zeit – in Heidensteins Wohnzimmer und unterhielt sich mit ihm.

„Dann werden wir wohl erst einmal nichts mehr von Crash und Murphy sehen, eh?“

„Werden wir sehen, wohin der Gute kommt“, meinte Pakhet. Sie nippte an einem Bier. Eigentlich mied sie Alkohol, wenn nicht für die Abendunterhaltung. Doch verdammt: Heute hatte sie es sich verdient.

Heidenstein lächelte. „Weiß Smith schon Bescheid?“

„Natürlich.“ Sie deutete ein Schulterzucken an. „Aber Smith ist …“

„Sehr verständnisvoll?“, half Heidenstein aus, als sie nach dem richtigen Wort suchte.

„Ja“, murmelte sie.

Für einige Sekunden senkte sich Schweigen über sie. Wieder fragte sie sich, was sie hier tat.

„Glaubst du denn, dass es gut geht. Mit Crash und Murphy?“, fragte Heidenstein.

„Ich glaube, dass ich noch mal mit Murphy reden sollte“, meinte sie mit einem matten Lächeln. Dann seufzte sie. „Aber eigentlich denke ich, dass die beiden schon klarkommen. Sie sind okay, beide. Auch wenn Murphy gerne anders tut.“

Das Lächeln auf Heidensteins Gesicht veränderte sich. Es wirkte wissender. Als hätte er gerade etwas verstanden. „Ich denke, es ist eine gute Sache, wenn Crash und seine Schwester – und Murphy – aus … Unserem Bereich weg sind.“ Er biss sich auf die Lippen und zögerte.

Pakhet nickte. „Sie sind jung.“ Eigentlich zu jung. Sie trank noch einen Schluck und sah auf den Wohnzimmertisch. „Wie lange willst du das Ganze noch machen?“

Er holte tief Luft. „Bis das Krankenhaus wieder wirklich läuft. Wenn ich … Wenn ich wieder eine richtige Grundlage habe, höre ich auf.“

Erneut nickte sie. So etwas hatte sie sich schon gedacht.

„Und du?“

Sie sah ihn an. Sie hätte mit der Frage rechnen müssen und doch überraschte sie sie. Sie schwieg, presste kurz den Kiefer zusammen: Dennoch entschloss sie sich zu einer Antwort – indem sie der Frage auswich. „Ich arbeite seit sieben Jahren als Söldnerin. Ich weiß nicht, ob ich mir etwas anderes vorstellen kann.“

„Du kannst nicht ewig so arbeiten“, meinte Heidenstein. „Ich meine, irgendwann bist du alt und außerdem … Na ja, wie viele Körperteile willst du noch …“

Sie unterbrach ihn. „Den Arm habe ich schon vorher verloren.“ Mehr musste er nicht wissen. Es ging ihn nichts an.

Genauso, wie die Sache mit seiner Firma, sie nichts angegangen war.

Sie verdrängte den Gedanken, trank einen Schluck. Dann lächelte sie zynisch. „Davon abgesehen ist es kein Job, in dem man alt wird, oder?“

Er starrte sie an. Kurz öffnete er den Mund, schloss ihn aber wieder, runzelte die Stirn, ehe er noch einmal versuchte, anzufangen. „Du willst mir also sagen, dass dein Zukunftsplan ist, irgendwann auf einer Mission zu sterben?“

Natürlich nicht. Sie seufzte, fixierte das Bücherregal neben der Küchentür. Verfickter Idiot, warum wusste sie nicht, was sie sagen sollte? „Es ist wahrscheinlich, oder?“

„Es sei denn, du hörst vorher auf.“

So einfach konnte sie nur nicht aufhören. Die Tatsache, dass sie hier lebte, illegal ihr Geld verdiente und unter Michael Schutz stand, schützte sie auch vor der Army und ihrer Vergangenheit. Sie wollte sich damit nicht noch einmal auseinandersetzen müssen. „Warum interessiert es dich überhaupt?“

„Fragte sie, die sie mir hinterherspioniert hat?“ Er sah sie von der Seite an, zögerte. „Das einzige, was ich sagen will, ist …“ Wieder schürzte er die Lippen, wie er es oft tat, wenn er sich unsicher war, wie er sich ausdrücken sollte. „Das einzige, was ich sagen will, ist, dass es eine Verschwendung wäre, wenn jemand, wie du so …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich denke nur, dass du mehr sein könntest als das.“

Sie sah ihn an, unsicher, was sie darauf antworten sollte. Dann aber seufzte sie und schüttelte den Kopf. Es gab keine gute Antwort. „Danke“, murmelte sie schließlich um irgendetwas zu sagen. „Es ist zur Kenntnis genommen.“

Und damit klang sie wie ein Arschloch.

[14.07.2011 – M08 – Eisdiele]

Murphy wartete vor dem Bayside-Einkaufszentrum auf sie. Wieder hatte er die Gestalt des dunkelhaarigen, hellhäutigen Jugendlichen angenommen. Er grinste, winkte und schien allgemein bester Laune zu sein. Vielleicht, weil er einen festen Job hatte. Vielleicht auch, weil er der Aussicht, sie weiter aufziehen zu können, entgegensah.

Pakhet seufzte und ermahnte sich, daran zu denken, warum sie hier war. Den Jungen sämtliche Flausen, Crash weiter zu ärgern, aus dem Kopf zu treiben. Ja. Genau. Und dabei durfte sie versuchen, sich von Murphy nicht unter den Teppich labern zu lassen.

„Hey!“, rief er, als sie noch zehn Meter von ihm entfernt war. Sein Grinsen wirkte übertrieben begeistert.

„Hey, Murphy“, erwiderte sie. „Na, was macht dein neuer Job?“

„Ach, der ist bestens“, meinte Murphy. „Wir gehen uns Morgen Wohnungen Downtown ansehen.“ Er grinste. „Ist das nicht cool? Eine richtige Wohnung! Vielleicht sogar ein Haus!“

Ein Thema, bei dem sie kaum mitreden konnte. Sie hatte niemals nicht zumindest eine Wohnung gehabt. Ihre Eltern hatten Häuser besessen, dann war sie in eine eigene Wohnung gezogen und zwei Jahre später hatte sie das Haus hier in Kapstadt gemietet. „Sicher“, sagte sie. Schließlich verstand sie, dass es für einen Straßenjungen etwas Überragendes sein musste.

„Ich dachte ja schon, dass wir dich gar nicht mehr sehen“, plauderte Murphy weiter. „Immerhin habe ich dich ja so genervt und alles. Warum wolltest du dich mit mir treffen?“

„Weil ich mit dir reden wollte“, erwiderte sie.

Nun war er es, der leise seufzte. „Also kein Eis?“

Sie hatte ihn scherzhaft auf ein Eis eingeladen, als sie telefoniert hatten. Sie lächelte. „Wir können gerne in ein Eiscafé gehen, um zu reden.“

„Yay.“ Wieder grinste er. Übertrieb er oder war die Begeisterung ehrlich? Bei Murphy war sie nie sicher. Er schien selten ehrlich zu sein, war gleichzeitig aber oft kindisch.

„Dann komm einmal“, meinte sie. „In dem Einkaufszentrum gibt es ein Café.“

„Okay.“ Er grinste und marschierte voran, wartete nach ein paar Schritten aber auf sie.

Kurze Zeit später standen sie auf der Rolltreppe in das Obergeschoss des Einkaufszentrums. Es war immer wieder seltsam in der besseren Gegend Kapstadts unterwegs zu sein. Ein Großteil der Menschen hier war hellhäutig – etwas, das sich falsch anfühlte, in dieser Stadt. Und das, obwohl die Apartheit angeblich seit Jahren beendet war.

„Also, was hast du in den letzten Tagen gemacht?“, fragte Murphy und drehte sich zu ihr um.

Sie wandte ihren Blick ihm zu. „Einen kleinen Job für Michael. Und ich habe Urlaub gebucht.“ Nach der ganzen Sache mit der Chaostruppe hatte sie Urlaub wirklich verdient.

„Urlaub? Wo denn?“

„Das sage ich dir nicht, Naseweis.“ Sie schenkte ihm ein distanziertes Lächeln.

Sie kamen am oberen Ende der Rolltreppe an, gingen auf die Galerie des Einkaufszentrums.

Murphy fuhr fort. „Du warst sicher auch wieder beim Doc, eh?“

Sie schenkte ihm einen fragenden Blick.

„Ihr scheint ja gut miteinander auszukommen“, stellte Murphy fest.

Nicht er auch noch!

„Wieso?“, meinte sie und hielt auf das Eiscafé am südlichen Ende der Etage zu.

„Nur so.“ Murphy grinste. Wieder. Er beschleunigte seine Schritte und glitt elegant, fast wie ein Tänzer, um einen der Tische herum, ehe er sich auf einen der Stühle sinken ließ.

Angeber.

Sie setzte sich ihm gegenüber und schob ihm die Karte hin. Sie war selbst kein Fan von Süßem und würde nur einen Eiskaffee bestellen. Dafür brauchte sie die Karte nicht.

Murphy derweil studierte das Menü ausgiebig, hielt dann inne und fixierte Pakhet. „Bin ich eingeladen?“

Sie lächelte. „Solltest nicht eigentlich du mich einladen mit deinem neuen Job?“

„Kann ich machen“, meinte er.

Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie schüttelte den Kopf und lachte leise. „Ist schon okay, Murph. Such dir was aus. Ich zahle.“

„Danke.“ Er grinste wieder und sah noch einmal in die Karte. „Dann nehme ich den Erdbeer-Schoko-Becher.“

Sie nickte. „Ist okay.“ Damit blickte sie sich um, um zu sehen, wo die nächste Bedienung war.

Die Kellnerin – ein junges Afrikaans-Mädchen mit recht heller Haut und schwarzen, zu einem geflochtenen Knoten gebundenen Haar – bemerkte sie und kam zu ihnen hinüber.

Murphy zwinkerte ihr zu. Natürlich tat er das. Er versuchte mit beinahe jedem Mitglied des anderen Geschlechts und des eigenen Geschlechts zu flirten.

„Also“, meinte Murphy, nachdem sie bestellt hatten, „was wolltest du besprechen?“

Nicht länger prokrastinieren. Wahrscheinlich war es besser so. Sie verkniff sich ein Seufzen, wandte sich dem Jungen gänzlich zu. „Crash. Du hast also vor, wirklich seinen Manager zu spielen, eh?“

Kurz zeigte sich Verwirrung auf seinem Gesicht. Dann ein weiteres Grinsen. „Ja. Das war der Plan.“

„Du weißt, dass du damit Verantwortung hast, ja?“

„Ja, sicher.“

„Wirst du dich entsprechend verhalten?“

Nun runzelte Murphy die Stirn. „Was meinst du damit?“

„Ich meine damit, dass du eine gewisse Neigung hast, egoistisch zu sein und dich anderen gegenüber wie ein Arsch zu benehmen“, sagte sie geradeheraus.

Murphy schenkte ihr einen gekränkten Blick. „Ich weiß nicht, was du meinst. Wenn du auf das eine Mal in der Arena da anspielst: Das war so nicht gemeint! Wirklich nicht. Ich dachte halt nur, dass du damit problemlos klarkommst und immerhin bist du das ja auch. Ich konnte ja nur nicht wissen, dass Crash wirklich so stark ist. Ich meine, die anderen waren ja kein Problem, oder? Du bist doch stark!“

Sie musterte ihn. „Ich meine damit, dass ich nicht will, dass du Crash irgendwelche Sachen aufquatscht, die ihm auf Dauer schaden. Crash ist ein ehrlicher Typ und er will seine Schwester beschützen.“

„Seine Cousine“, meinte Murphy.

„Was?“

„Seine Cousine. Eigentlich ist Alice seine Cousine. Sie sagen nur sie seien Geschwister. Aber es ist recht offensichtlich, wenn du sie einmal siehst.“ Er grinste.

„Du hast sie schon kennen gelernt?“

„Jap.“ Sein Grinsen wurde noch weiter.

Wie auch immer. „Es geht mir darum, dass du ihn nicht hintergehst, ja?“

Murphy seufzte schwer. Sein Gesicht wurde ernster. „Ich verspreche, dass ich keinen Scheiß machen werde, okay? Davon abgesehen, dass Crash mich wahrscheinlich aufspießen würde, schieße ich mir damit doch nur selbst ins Bein. Ich meine, wenn er wirklich eine erfolgreiche Sportkarriere macht, dann habe ich auch ausgesorgt, oder?“

Sie musterte ihn für einen Moment. „Hast du, wahrscheinlich.“

„Siehst du?“ Schon wieder seufzte er schwer. „Ehrlich, Pakhet. Ich bin kein totaler Arsch. Und es verletzt mich, dass du so von mir denkst. Wirklich.“ Er zog einen Schmollmund, der allerdings sogleich verschwand, als die Kellnerin mit Eisbecher und Eiskaffee zu ihnen hinüberkam.

Murphys Becher war in einer breiten Keramikschale serviert. Rosane, weißgelbliche und Braune Eiskugeln waren kunstvoll arrangiert und mit Sahne, dunkler Soße, aber auch Erdbeeren und Schokostücken garniert.

„Danke“, meinte er zur Kellnerin und ein Glänzen zeigte sich in seinen Augen. Er sah auch zu Pakhet. „Danke.“ Dann pickte er sich ein Schokostück von Oben hinab und steckte es sich in den Mund. „Ich liebe Schokolade.“ Er hatte den Blick eines Süchtigen, der das Ziel seiner Sucht nur selten zu sehen bekam. Ein Punkt mehr für Straßenkind. Ach, mittlerweile war es eigentlich keine Frage mehr.

Er begann zu Essen, während sie am Eiskaffee nippte. Zumindest war er nicht zu süß. In anderen Cafés hatte sie schon Eiskaffee getrunken, in den man so viel Syrup gegossen hatte, dass der eigentliche Kaffeegeschmack nicht mehr auszumachen war. Mit einem Kaffee der dank der Eiskugel ein leichtes Vanillearoma hatte, kam sie dagegen klar.

„Ich weiß was“, meinte Murphy schließlich, als er die halbe Schüssel in Rekordtempo geleert hatte. „Ich mache die ganze Arenasache wieder gut mit dir, ja? Sag mir, was ich tun soll!“

Sie schnaufte. „Du musst nichts tun, Murphy. Es reicht, wenn du dich aufrichtig entschuldigst und so einen Scheiß nicht noch einmal abziehst.“

„Dass werde ich nicht. Sicher nicht. Ehrlich, Pakhet!“ Er zeigte sich reumütig. „Und es tut mir wirklich, wirklich leid.“ War er aufrichtig? Sie war sich nicht sicher. Sie war sich bei ihm nie sicher. Dafür schenkte er ihr einen rehäugigen Blick. „Weißt du, ich will dennoch was tun, um es wieder gut zu mache. Ähm.“ Er gab vor zu überlegen. „Was hältst du davon, wenn ich dich heute Abend zum Essen einlade?“

„Das ist nicht nötig, Junge. Ehrlich nicht.“

„Was ist dann mit einer Bar? Gehst du in Bars? Wir könnten was zusammen machen.“ Langsam kehrte das Grinsen wieder auf sein Gesicht zurück. Er zwinkerte.

Moment. Er zwinkerte?

„Aha“, meinte sie und seufzte. „Was denn zum Beispiel?“

„Alles, was du willst!“ Er grinste weiter. „Alles, was du willst.“ Er steckte sich einen weiteren Löffel Eis in den Mund, lutschte etwas an diesem.

Ein weiteres genervtes Stöhnen entglitt ihr und sie schloss die Augen, um leise bis zehn zu zählen. Dann sah sie ihn wieder an. „Sag mal, Murphy, versuchst du gerade etwa mit mir zu flirten?“

Unglaublicher Weise breitete sich das Grinsen noch weiter aus. „Wieso? Funktioniert's?“

Natürlich passierte ihr so etwas. Natürlich. Womit hatte sie eigentlich gerechnet. „Murphy, Kid, mal ganz unter uns: Wie alt bist du?“

Sein Blick war unschuldig, während seine Augen ihre Farbe veränderten, wechselten von Grün nach Braun. „So alt, wie du willst.“

Sie musste sich ihre Frage also selbst beantworten. „Du bist vielleicht sechzehn, eventuell siebzehn. Kid, ich könnte deine Mutter sein.“

Murphy musterte sie. „Na ja, ich finde, dass ist der falsche Ansatz. Die Sache ist ja, dass du nicht meine Mutter bist, oder? Also  …“

„Kid.“ Sie fixierte ihn kühl. „Du bist zu jung für mich.“ Sie sah den kommenden Satz vorher und antwortete direkt: „Ja, auch für einen One-Night-Stand. Du bist zu jung.“ War es vielleicht zu hart, wie sie auf ihn reagierte? Immerhin war er wahrscheinlich wirklich nur ein hormongesteuerter Teenager.

Er ließ ein langes Seufzen hören. „Okay, okay. Ist ja gut.“ Er teilte eine Erdbeere in der Mitte durch. „Ich verstehe ja schon. Dennoch  …“

Sie seufzte.

„Also, wenn du es dir anders überlegen solltest.“

„Murphy“, meinte sie mit einem Seufzen.

„Ja, ja. Schon verstanden.“ Er runzelte die Stirn, ehe ihm ein anderer Gedanke kam. „Heißt das, du lädst mich dann zum Essen ein?“

[15.07.2011 – S04 – Urlaubsplanung]

Sie saß in Smiths Büro, ihre Kaffeetasse vor sich.

„Also bist du gleich für zwei Wochen weg?“, meinte Smith und notierte es sich in den Kalender.

„Mindestens.“ Sie brummte missmutig, während sie die Tasse hob. „Nach dem ganzen Chaos habe ich es mir wirklich verdient.“

Smith wirkte amüsiert davon. Er grinste, als er den Kalender zusammenklappte. Er warf einen kurzen Blick auf den Computerbildschirm zu seiner rechten, wandte sich dann wieder ihr zu. „Nun, du kannst dir Urlaub nehmen, wie du willst. Insofern ist es mir egal.“

„Gut“, meinte sie. „Danke.“ Dann erinnerte sie sich an etwas. „Und danke noch einmal wegen Crash und Murphy.“ Immerhin hätte er ihnen nicht erlauben müssen, sofort zu gehen.

„Schon gut“, meinte er. Er musterte sie. „Ich habe gehört, du hast Crash gut zugeredet?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Das war größtenteils Murphy.“ Sie lächelte matt. „Auch, wenn ich es für gut halte. Die beiden sind noch jung. Und Crashs Schwester …“ Da Crash bei der Darstellung blieb, dass Alice seine Schwester war, würde sie ihr nicht widersprechen. Manche Verbindungen wurden nicht allein durch Blut geformt.

„Ich verstehe schon“, erwiderte Smith. Wahrscheinlich sah sie ihn ungläubig an, da er sagte: „Wirklich. Ich verstehe es. Ich bin froh, wenn die Kinder sicherer sind.“

Kinder, hmm?

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was seine Geschichte war. War er auch einmal ein Straßenkind gewesen? Hatte er sich deswegen mit Murphy und Crash identifiziert? Oder hatte er andere Gründe?

Sie kannte Smith seit sieben Jahren, doch wusste sie wenig über ihn. Er war derjenige, der die Teamzusammenstellung plante. Er war derjenige, der sich um viele Briefings kümmerte. Er war meistens auch derjenige, der neue Leute anheuerte. Vor allem war er der umgänglichere „Vorgesetzte“, weshalb sie meistens mit ihm sprach, wenn sie die Wahl hatte zu ihm oder Michael zu gehen.

Für sie war es damals anders gewesen. Michael war derjenige, der sie angeheuert hatte. Derjenige, dem sie diverse Aspekte ihres heutigen Lebens zur „verdanken“ hatte.

Sie verdrängte den Gedanken daran. Sie wusste, dass er damals ihre Situation ausgenutzt hatte, doch sie hatte sich selbst für diesen Weg entschieden. Es machte keinen Sinn alles auf Michael abzuwälzen.

„Sag mal“, meinte Smith, „wohin fährst du in den Urlaub?“

Sie lächelte matt. „Richard's Bay. Vor allem weg von der Stadt.“

„Ich verstehe“, erwiderte er. „Na, dann pass auf die Monster in den Gewässern auf.“

„Sind da aktuell welche?“

„Nun, man muss kein unnötiges Risiko eingehen.“ Er lachte. Wahrscheinlich scherzte er nur.

[17.07.2011 – D17 – Die Bitte]

Pakhet griff nach dem Armreif und löste den einzelnen, schwarzen Stein aus dem Metall, um den Zauber aufzuheben. Sie konnte ihre Arme wieder sehen. Der Zauber funktionierte tatsächlich!

Heidenstein grinste. „Wunderbar.“

„Ich gebe zu“, meinte Pakhet und zog den Armreif ab, „dass das praktisch wird. Danke.“ Sie betrachtete den aus silbernem Metall geflochtenen Reif. Sie war nicht der Typ für Schmuck, doch wenn der Schmuck sie auf Einsätzen sicherer machte, sah sie gern darüber hinweg. Wenn sie ihre Prothese mit dem Glamour verbarg, nutzte sie dafür auch einen Armreif.

„Bitte“, erwiderte er.

Sie steckte den Reif in die Tasche ihrer Weste und setzte sich neben Heidenstein, der auf seiner Werkbank saß und sein Handy aufgeschraubt hatte.

Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, versuchte einen Chip anzulöten. Wieso verstand er überhaupt etwas davon? Reichte es ihm nicht, solche Dinge zu kaufen?

Sie beobachtete ihn. Er war blass, auch wenn die Blässe unter mehreren Schichten Make-Up, wie sie vermutete, verschleiert war. „Ich glaube, du könntest auch ein wenig Urlaub gebrauchen.“

„Ich kann mir kaum Urlaub erlauben, oder?“, murmelte er langsam, während er die letzte Lötstelle bearbeitete. „Ich habe gerade neue Ärzte eingestellt. Wir haben langsam wieder Patienten.“

Tatsächlich fanden sich mittlerweile ab und an einige Wagen auf dem Parkplatz. Das Krankenhaus war noch immer recht leer, aber voller als zuvor. „Wenn du neue Leute anstellst, dann kannst du dir auch Urlaub erlauben“, meinte sie.

„Ich sollte ein guter Chef sein. Ein Ansprechpartner“, widersprach er. „Außerdem brauch ich mehr Geld.“

„Weißt du, was ich glaube?“ Sie musterte ihn mit einem matten Lächeln. „Ich glaube, du bist ein elendiger Workaholic.“

Er steckte den Lötkolben zurück und schenkte ihr einen kurzen Blick, wartete dann, dass das Handy abkühlte. „Damit hast du vielleicht nicht Unrecht.“ Er lächelte und zuckte mit den Schultern. „Du machst dir nicht etwa Sorgen, oder?“

„Solange du dich nicht anschießen lässt?“ Sie musterte ihn. „Nein, solange du dich nicht anschießen lässt, hält sich meine Sorge in Grenzen. Ich rede dir nur gut zu. Als Freund, weißt du?“

„Ja, ich weiß“, erwiderte er. Ein seltsames Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.

Vielleicht hätte er noch etwas gesagt, doch in dem Moment waren Schritte vom Flur zu hören, gefolgt von einem Ruf. „Doc? Doc, sag mal, ist Pakhet da?“

Murphy.

Sie sah Heidenstein an und zuckte mit den Schultern. Mit drei langen Schritten war sie bei der Tür und spähte in den Flur. „Ja, Pakhet ist da. Was machst du hier, Kid?“

Ein Lächeln zeigte sich auf Murphys Gesicht. Ein nervöses Lächeln. „Ähm. Ich brauche Hilfe.“

Schon wieder? „Was für eine Art von Hilfe?“, fragte sie. Und warum kam er damit zu ihr?

Er seufzte. „Es ist nicht dramatisch. Nicht wirklich. Aber ein Freund … Ein Freund hat ein Problem. Na ja, nicht ganz. Er hat mich gebeten, ihm etwas zu besorgen. Aber ich muss seiner Bitte nachkommen.“

„Warum?“, fragte sie. Etwas sagte ihr, dass es gefährlich war, dieses „etwas“ zu besorgen. Sonst wäre er nicht bei ihr. Wahrscheinlich wollte er Crash nicht bitten.

„Ich habe Schulden bei diesem Freund“, meinte Murphy vage. „Und ich wollte dich fragen …“ Ja, er war eindeutig wirklich nervös. „Ich wollte dich fragen, ob du mir hilfst. Weil dieses Etwas ist in der Anderswelt und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich allein dahin kommen kann.“

[21.07.2011 – M09 – Labyrinth]

Die Anderswelt war anders, ganz wie es in ihrem Namen lag. Pakhet war nicht oft hier gewesen, weil die Zugänge schwer zu finden und oft nur für Magier passierbar waren. In der Anderswelt waren die Dinge oftmals nicht so, wie sie schienen. Distanzen konnten sich verändern, manchmal veränderten die Dinge ihren Ort. Und manchmal endete man in einem Labyrinth von Tunneln und rannte vor einem Wesen herum, das aussah, als hätte es sich im alten Ghostbusters-Film heimisch gefühlt.

Das Wesen schien keinen festen Körper zu haben und bestand viel eher aus einem viskosen, stinkenden Material. Pakhet war sich nicht sicher, was es war. Sie tippte auf einen Elementar. Vielleicht ein korrumpierter Elementar, vielleicht ein Giftelementar. In diesem verfluchten Labyrinth stank es.

Was auch immer es war: Es war immun gegen ihre Pistole und an den Betäubungsdarts störte es sich erst recht nicht. Kurzum: Sie hatte ein Problem, da nichts, was sie bei sich hatte, das Wesen zerstören konnte. Sicher, sie hatte Granaten dabei, doch konnte sie zum einen nicht sicher sein, ob diese in der Anderswelt funktionierte, während sie zum anderen in einem engen Gang war. Die Schockwelle würde auch sie und Murphy verletzen.

Ach, verdammt, warum machte sie das ganze überhaupt? Warum hatte sie dem Jungen zugestimmt? Weil er ein Junge war und niemanden hatte, deswegen. Egal, wie mies er sich manchmal verhalten konnte, er war noch ein halbes Kind und sie wollte kein Kind in einen fast sicheren Tod laufen lassen.

Was sie zu ihrem nächsten Problem brachte: „Jetzt lauf schon, Kid!“

Der Junge blieb immer und immer weiter hinter ihr zurück, war mittlerweile näher bei dem Monster, als bei ihr. Warum endete sie in diesen Situationen immer mit Leuten, die unfähig waren zu sprinten? Warum gab es so viele Söldner, die unfähig waren zu sprinten? Und warum verwandelte sich der Junge verdammt noch mal nicht in einen Raben?

„Ich versuch's!“, keuchte Murphy und sah sich um.

Ein Fehler, da das Ungeheuer in genau diesem Moment einen Arm – war es überhaupt ein Arm? – nach ihm ausstreckte und diesen um sein Bein wickelte.

Murphy fiel und Panik zeigte sich auf seinem Gesicht, als er zu ihr sah.

„Pakhet!“

Ach, verdammt. Sie war nur noch einen Tag von ihrem Urlaub entfernt. Warum machte sie das überhaupt? Sie verfluchte sich und lief zu ihm zurück, ein ganzes Magazin auf das Monster entleerend. Die Kugeln vermochten nicht, das Biest aufzuhalten, verwirrten es aber.

Es zog den Jungen zu sich hin, doch dann war sie bei ihm, hackte nach dem Arm. Er fiel ab, explodierte in eine ekelhaft stinkende gelbe Flüssigkeit, die Boden, Wand und auch sie bespritzte. Sie würde dringend eine Dusche brauchen, wenn sie zurück waren.

Aktuell gab es andere Prioritäten. Sie zog Murphy weg, während das Monster einen neuen Arm formte und nach ihr schlug.

Sie duckte sich weg. Okay. Plan C. Während Murphy auf die Beine kam, wich auch sie zurück, machte eine Granate bereit. Wenn dieser Plan nicht funktionierte, war sie tot.

Sie entsicherte die Granate, wich langsam weiter zurück. Das Monster griff sie an, glucksend knurrende Laute von sich gebend. Es war nicht in seinen Bewegungen. Es war leicht, sich unter ihm wegzuducken. Doch musste sie nah genug herankommen.

Da. Eine Öffnung. Sie sprang vorwärts und versenkte ihre Hand, samt Granate im Körper des Wesens. Am liebsten hätte sie sich übergeben.

Sie ließ die Granate los, zog ihre Hand fort und drehte sich um. Sie rannte.

Murphy dagegen hinkte. Großartig.

Sie schnappte den Jungen, warf ihn sich über die Schulter. Dankbarerweise war die jugendliche Gestalt, die er wider trug, relativ klein, dürr und leicht.

Da hinten war eine Ecke. Sie sollte besser dahinter verschwunden sein, ehe die Granate losging.

Noch drei Sekunden. Noch zwei!

Sie sprang hinter die Ecke, als der Knall der Granate durch die Gänge hallten, bei denen man nicht sicher sein konnte, ob sie in den Fels gehauen waren, da die Wände mit Backsteinen bedeckt waren.

Der ekelhafte Gestank verbreitete sich weiter.

Pakhet spähte um die Ecke. Der Boden war mit gelblicher, geleartiger Masse bedeckt.

„Ein Monster weniger.“ Sie sah sich um.

Murphy war auf dem Boden zusammengesunken und stöhnte leise. Er hielt sein Bein, da, wo das Monster ihn erwischt hatte.

„Was ist?“

Er zog seine Hose hoch. Seine Haut war rot. Das Fleisch schimmerte an einigen Stellen durch. Es sah fast aus wie eine Verätzung.

Schon wollte sie sich bücken, um sich darum zu kümmern, als ein Gurgeln durch die Gänge hallte. Ein weiteres Monster?

Sie hockte sich neben ihn. „Auf meinen Rücken“, wies sie Murphy an. „Ich trag dich. Wir müssen hier heraus.“

Für einen Moment sah Murphy sie überrascht an, dann aber nickte er und kletterte auf ihren Rücken. „Danke“, presste er heraus und klammerte sich fest.

Sie rannte.

[21.07.2011 – M10 – Gegengifte]

Es war zwei Stunden später, dass sie im Krankenhaus ankamen.

Im Krankenhaus selbst schien Betrieb zu herrschen, doch die üblichen Goons, die die Straßenklinik bewachten, waren nicht da. Es musste sie auch nicht interessieren.

Mittlerweile kannte sie den Code, um die Tür zur Straßenklinik zu öffnen, was ein Glück war. Sie wollte den Jungen nicht zur Zentrale nehmen – nun, da er nicht mehr da arbeite. Michael würde versuchen, ihm einen Strick daraus zu drehen. Darum wettete sie. Nein, viel eher würde er versuchen, ihr diesen Strick zu drehen, weil er es liebte, Macht über sie zu haben.

Allerdings hieß eine abgeschlossene Klinik, dass Heidenstein nicht da war.

Nun gut. Sie wusste selbst genug, um Murphy notzuversorgen. Sie hatte seine Wunde bereits ausgewaschen und mit einem feuchten Tuch umwickelt, auch wenn es Murphy in der letzten Stunde zusehens schlechter gegangen war. Er war blass und wackelig auf den Beinen, lehnte aktuell mehr gegen sie, als dass er selbst lief.

„Komm“, meinte sie.

„Warum kommst du hier rein?“, lallte Murphy müde, während das Licht im Flur anging.

„Weil der Doc ein Idiot ist“, erwiderte sie. Sonst hätte er ihr die Codes nicht gegeben. Aber das er ein Idiot war, hatten sie bereits ausgiebig etabliert.

Sie brachte Murphy zum Bad, in dem es auch eine geräumige Dusche gab. Hier schob sie ihm einen Duschhocker hin. „Wasch dich ordentlich, ja?“, wies sie ihn an. „Ich versuche den Doc zu finden.“

Oh, was hätte sie darum gegeben, selbst zu duschen?

„Hilfst du mir?“, fragte Murphy.

Sie betrachtete ihn. Sie war sich nicht sicher, ob er Hilfe brauchte. Wahrscheinlich. Doch ihr war unwohl dabei, ihn anzufassen. „Versuch es so, ja?“

Sie war keine Ärztin.

Schnell machte sie sich daran, ihre Arme zu ausgiebig zu waschen. Sie hatte ihre dreckige Jacke erst einmal im Wagen gelassen, der nun nach einer unangenehmen Mischung aus Kanalisation und faulen Eiern stank.

„Okay“, murmelte Murphy.

Sie lächelte, und verließ den Raum.

Draußen vor der Tür wartend, holte sie ihr Handy heraus, wählte Heidensteins Nummer. Wo war er überhaupt abgeblieben?

Freizeichen. Freizeichen. Freizeichen. Mailbox.

„Fuck“, zischte sie. Wo war Heidenstein?

Konnte sie Murphy allein lassen, ohne dass er umkippte, und in der Dusche ertrank? Warum war sie jetzt ausgerechnet in dieser Situation?

Ach, verdammt. Schnellen Schrittes eilte sie zu den Aufzügen, fuhr nach oben hinauf, öffnete seine Wohnungstür. Das improvisierte Apartment war dunkel und leer.

Also wieder runter, wo sie Murphy dankbarerweise mit einem Handtuch um die Hüfte auf dem Toilettendeckel des Bads sitzen fand.

„Wo ist der Doc?“, fragte er matt.

„Weiß ich auch nicht. Aber ich kümmer‘ mich erst mal um dich.“ Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie man mit Feengift umging.

Dennoch. Wenn man sonst nicht weiterwusste, half es Symptome zu behandeln. Etwas Flüssigkeit intravenös zuzuführen würde sicher nicht schaden. Zumindest wusste sie, dass das Zeug durch Flüssigkeit nicht aggressiver wurde. Und sie konnte die Wunde am Bein ordentlich behandeln, noch einmal desinfizieren und wenn nötig nähen.

„Weißt du überhaupt, was du da machst?“, fragte Murphy, als er seitlich auf der Liege lag. Pakhet hatte auf stabile Seitenlage bestanden.

„Ich weiß genug, um das nötigste zu tun“, meinte sie. Sie hatte ihm, als sie den Katheter gelegt hatte, auch Blut abgenommen. Es blieb zu hoffen, dass es Heidenstein half, wenn er zurückkam.

Ausnahmsweise war es Murphy, der dazu nur brummte und die Augen schloss. Ihm schien schwindelig zu sein.

So arbeitete sie weiter daran, die Wunde zu versorgen, bis endlich weitere Schritte im Flur zu hören waren. Sie kannte diesen Gang. Das war Heidenstein.

Erleichtert atmete sie auf und sah in den Flur hinaus. „Doc!“

Auch Heidenstein war nicht in bester Verfassung. Er blutete aus einer Wunde am Kopf – zum Glück nicht zu stark – wirkte blass und matt. Auch hielt er seine Schulter seltsam, als wäre sie verletzt. Großartig.

„Was ist mit dir passiert?“

„Nur ein kleiner Auftrag“, murmelte er und schürzte die Lippen.

„Ein Auftrag, eh?“ Oh, verdammt.

„Was machst du hier?“, fragte er. Mit „hier“ schien er „in einem Behandlungsraum“ zu meinen.

„Murphy“, erklärte Pakhet kurz angebunden. „In der Anderswelt hat ihn ein giftiger Geist erwischt. Ich hatte eigentlich gehofft, du könntest ihm helfen, aber …“

Heidenstein nickte und lächelte sie an, auch wenn sein Lächeln müde ausfiel. „Ich kümmer mich drum. Lass mich nur kurz die Wunde auswaschen.“

„Du …“, setzte sie an, doch er schüttelte den Kopf, ging an ihr vorbei, klopfte ihr dabei auf die Schulter.

„Dafür bin ich da, Pakhet.“ Er hielt kurz inne, um sie zu mustern. „Du riechst übrigens bezaubernd.“ Er lächelte und brachte sie dazu, die Augen zu verdrehen.

Sobald sie sicher war, dass Murphy nicht mehr kurz vor einem Gifttod stand, würde sie sich eine lange und ausnahmsweise heiße Dusche gönnen.

[21.07.2011 – D18 – KO]

Als Pakhet aus der Dusche kam, fand sie Heidenstein zusammengesunken auf dem Sofa wieder.

Besorgt ging sie zu ihm rüber, stupste ihn an. „Doc?“

Sie hatte seine Kopfwunde, die dankbarerweise nicht mehr als ein Kratzer war, versorgt. Mehr hatte sie nicht tun können, da seine Schulter nur geprellt war. Nun machte er ihr Sorgen. Hatte er eine Gehirnerschütterung?

Er blinzelte sie an. „Was?“, nuschelte er.

Sie seufzte. Wahrscheinlich war er nur erschöpft. „Ich bring dich ins Bett, ja?“ Damit schob sie seinen Arm über ihre Schulter, half ihm aufzustehen. Er torkelte neben ihr her, schien aber halb zu schlafen. Was sollte es sie stören?

Sie brachte ihn zu seinem Bett und legte ihn darauf ab. Er trug noch immer seine Hose, doch sie würde sie ihm sicher nicht ausziehen. Dankbarerweise hatte er zumindest seine Schuhe zuvor ausgezogen, als er in die Wohnung gekommen war.

Wieder sank er in sich zusammen und sie schob ihn etwas weiter aufs Bett. Kurz nahm sie seine Hand, um seinen Puls zu fühlen. Er war niedrig, aber nicht kritisch.

Mit einem weiteren Seufzen ließ sich auf den Rand des Bettes sinken. „Idiot“, flüsterte sie und musterte ihn.

Sie brauchte einige Sekunden, um zu bemerken, was sie da tat. Es blieb eine Frage: Warum? Der Idiot schaffte es immer wieder, sie aus der Fassung zu bringen.

Sie schüttelte den Kopf, ärgerte sich über sich selbst. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer.

Sie wusste bereits, dass sie heute Nacht nicht mehr in ihr Haus zurückkehren würde. Das hieß, sie würde am nächsten Morgen packen müssen. Daran konnte man nichts mehr ändern. Sie durfte Heidenstein und Murphy, der im Krankenraum der Straßenklinik lag, nicht allein lassen.

Missmutig löste sie ihre Prothese und brachte sie in das Gästezimmer, wo sie für den Notfall – oder eher Momente wie diesen – mittlerweile ein Ersatzladegerät lagerte. All das sollte ihr eigentlich Gedanken machen.

Warum war sie hier? Warum vertraute sie ihm? Warum sorgte sie sich um ihn? Das alles war dumm, es war schwach, es war nicht sie, und doch …

Er war ein Freund. Ein Idiot, aber ein Freund. Er war ehrlich, aufrichtig, alles Dinge, die sie zu schätzen wusste.

Und vielleicht brauchte sie einen Freund. Einen Freund, der anders als Robert, wusste, wie ihr Alltag aussah und die Augen nicht davor verschloss. Egal, was Michael sagte. Michael, der sich darüber lustig machen würde, der ihr eventuell wieder drohen würde. Michael  …

Sie verdrängte den Gedanken, kehrte ins Wohnzimmer zurück, setzte sich auf die Couch. Sie trug mittlerweile eine graue Jogginghose und ein schwarzes Tanktop, wie meistens, wenn sie daheim war. Dabei war sie nicht zuhause.

Darüber sollte sie nicht weiter nachdenken. Stattdessen schaltete sie den Fernseher an, zappte durch das Programm und verblieb schließlich bei einer Doku über die Antarktis. Warum auch nicht? Dokus waren meistens ihr liebstes Programm, da es am besten vermochte, sie von Denken über andere Dinge abzuhalten.

Vielleicht sollte sie sich noch einen Kaffee machen. Vielleicht sollte sie etwas essen. Vielleicht sollte sie früh schlafen.

Doch sie blieb sitzen, sah weiter die Doku, entspannte sich. Der Dokukanal kündigte an, mit einer weiteren Dokumentation über seltene Vögel in Neuseeland fortzufahren. Auch okay.

Kurz stand sie auf, ging in die Küche. Im Kühlschrank fand sie Salat. Besser als nichts. Sie bereitete sich eine Schüssel, kehrte damit und mit zwei getoasteten Broten auf das Sofa zurück.

Urlaub war ein wunderbares Gefühl.

Ihre Augen waren auf den Blickschirm fixiert, während die beruhigende Stimme eines britischen Sprechers begann über flugloses Geflügel auf der Südhalbkugel zu berichten.

Dann klingelte ihr Handy.

Sie fluchte leise. Was auch immer es war, sie hatte frei. Sie konnte es ignorieren. Es war ohnehin nur eine Nachricht.

Nicht nur eine. Das Handy klingelte noch einmal. Dann noch einmal. Dann wieder. Wieder. Wieder.

Sie stöhnte genervt und sprang auf, nahm das Handy vom Glastisch und blickte drauf. Die Nachrichten waren von Spider. Was auch immer er von ihr wollte!

Sie sah drauf: „Hilfe“, stand in der ersten. „Ich habe Problem.“ – „Pakhet? Kannst du kommen. Ich bin irgendwo bei Lynnedoch.“ – Irgendwo? – „Bitte. Ich glaub, die wollen mich in einen Zombie verwandeln?“ Zombies? Wirklich? „Bitte, Pakhet. Komm.“

Sie konnte einfach sagen, sie hatte sie nicht gesehen. Spider war nicht mehr ihre Verantwortung. Es konnte ihr egal sein. Ja, es konnte … Und doch war es das nicht.

Was war nur aus ihrem Leben geworden?

Sie sollte Smith die Schuld für all das geben.

[21.07.2011 – T04 – Zombiezug]

„Wo bist du denn?“, schnauzte Pakhet in ihr Handy, während es schwer war, am anderen Ende der Leitung irgendetwas zu verstehen.

„Ich weiß es nicht“, klagte Spider. „Nicht mehr in der Stadt.“

„Wieso bist du denn in den Zug eingestiegen?“

„Ich wollte nach Hause.“ Es klang, als würde er weinen. „Ihr müsst schnell kommen. Ich habe mich in einem Abteil eingeschlossen.“

Pakhet stöhnte und schüttelte den Kopf. Sie konnte ihn einfach hängen lassen. Er war nicht länger ihre Verantwortung, verdammt. Noch weniger war er Heidensteins Verantwortung. Doch was sollte sie denn tun?

Sie hasste es und doch saß sie im Wagen. „Okay, durch welchen Bahnhof bist du zuletzt gekommen?“

„Ich weiß es doch nicht. Wir fahren landeinwärts.“

„Und du bist dir sicher, dass es Zombies sind?“

„Ja.“

Pakhet schüttelte den Kopf. Zombiezüge. Sie hatte davon gehört. Ja, sie hatte davon gehört. Aber es war nur eine urbane Legende. Nichts, das sie normalerweise ernst genommen hätte. Von allem, was sie wusste, hing es noch mit der Kolonialzeit zusammen. Halt nur eine Legende. Eine Warnung nicht in Züge zu steigen. Nichts, was echte Zombies beinhaltet hätte!

Aber natürlich musste Spider sie eines besseren belehren.

„Versuch auf das Dach des Zuges zu kommen, hörst du? Du bist doch so ein Kletteraffe.“

Stille. Rauschen im Hintergrund. „Ich versuch's“, wimmerte Spider schließlich.

„Gut. Wir versuchen dich zu finden.“ Was ein wahrscheinlich unmögliches Unterfangen wäre. Dennoch legte sie auf. Sie brauchte eigentlich einen Zauber. Einen Zauber oder Murphy. Vogelperspektive wäre jetzt sicher praktisch. Doch was wollte sie tun? Sie konnte diese Dinge nicht herzaubern. Also musste sie sich mit dem zufriedengeben, was sie hatte.

Sie sah zu Heidenstein. Er war blass. Unglaublich blass. Eigentlich sollte er liegen, sollte er schlafen. Aber ganz ohne ihn, ganz ohne magische Unterstützung?

Er ahnte, was sie dachte. „Mach dir um mich keine Sorgen. Wir holen ihn daraus.“

Sie schürzte die Lippen, konzentrierte sich auf die Straße. Sie war auf der M2 unterwegs. Sie musste irgendwann abbiegen. Es wäre verdammt hilfreich zu wissen, wo zur Hölle Spider überhaupt war. So konnten sie nur raten. Wenn sie dazu einberechnete, dass Züge schneller unterwegs waren, als Autos, waren ihre Chancen schlecht.

Na ja. Vielleicht auch nicht. Ein Zombiezug wäre keine moderne E-Lokomotive, oder? Vielleicht hatten sie Glück, hatten es mit einer Dampflok zu tun. Damit konnten sie aufholen.

„Du solltest im Bett liegen“, murrte sie Heidenstein zu. „Ich fühle mich außerdem nicht sehr wohl, dich in die Nähe von Zombies zu lassen.“

„Solange du keine Granaten wirfst, wird schon alles okay sein.“ Ein mattes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht.

„Da hast du aber Glück, dass ich keine Granaten bei mir habe.“ Mit ihrem magischen Auge musterte sie den Horizont in der Hoffnung irgendeinen Hinweis zu entdecken, irgendetwas, das ihr verriet wo dieser spezielle Idiot nun gerade war.

Stattdessen klingelte ihr Handy. Dieses Mal nicht Spider. Es war Mik.

Großartig. Sie drückte die Freisprech-Taste. „Was gibt es?“

„Ich bin auch auf der Suche nach Spider. Ich glaube, ich habe eine Ahnung, wo der Zug langfahren könnte.“

„Und woher nimmst du diese Idee?“

„Vom Schienennetzplan“, erwiderte Mik.

Heidenstein sah zu ihr. „Gerade heraus, dass musst du ihm lassen.“

Aber da konnte nicht einfach ein Zombiezug langfahren. „Mik. Ich glaube nicht, dass die auf einem üblichen Personenverkehrsnetz fahren.“

„Ja, aber auf den alten Güterschienen schon“, erwiderte Mik. „Das ist auch Teil der Legende.“

„Der Urban Legend?“

„Genau.“

Fuck. War besser als einfach wild raten. „Okay. Wohin fahren wir?“

„M1. Versuch auf die M1 zu kommen.“

Großartig. Die war von hier aus ein ganzes Stück weiter nördlich und sie fuhr den verdammten klapprigen und noch immer stinkenden Teamvan. „Okay.“

„Gut.“

Sie legte auf, schüttelte den Kopf und fluchte leise vor sich hin.

Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sie drückte das Glaspedal durch, bemüht das missmutige Brummen des Motors zu ignorieren. Das würden sie nicht allzu lange durchziehen können.

[22.07.2011 – T05 – Mutizauber]

Da waren die Schienen – aber wo war der Zug? Das war ohnehin die zentrale Frage. Wenn sie Glück hatten, konnte Spider einfach abspringen. Dann wäre alles okay.

Ein Motorrad stand am Rand der Schienen, die sich mitten durch die Savanne und die umliegende Hügellandschaft zogen. Mik saß da, hatte ein Fernglas gehoben, sah aber nicht hindurch. Wahrscheinlich war seine Nachtsicht nicht gut genug dafür.

„Irgendeine Ahnung, wo dein Bruder ist?“, fragte Pakhet, als sie den Wagen anhielt.

Er sah sich zu ihnen um, schüttelte den Kopf.

Großartig. Wenn Spider überhaupt die Wahrheit gesagt hatte, hatten sie doch keine Möglichkeit herauszufinden, wo er war.

Sie sah sich um. Knappe dreihundert Meter weiter östlich erhob sich eine Felsenformation schwarz gegen den Nachthimmel. Es war hoch genug, dass man zumindest Lichtquellen im Umkreis ausmachen konnte.

„Ich gehe einmal nachschauen“, meinte sie. Mit einem letzten besorgten Blick auf Heidenstein sprintete sie hinüber, sammelte ihre Energie, wohl wissend, dass ihre Reserven für heute sich deutlich dem Ende neigten, sprang und landete auf einem der Felsen. Von dort erreichte sie mit einem weiteren Sprung auf dem nächst höheren Fels. Es verbrauchte das, was ein Magier wohl als Mana oder was auch immer bezeichnet hätte, doch war es immer noch gegenüber Klettern zu bevorzugen.

Am Ende war sie vielleicht fünfzehn oder zwangzig Meter hoch. Nicht nennenswert, aber besser als nichts.

Das rechte Augen geschlossen sah sie sich um, schaute sowohl in Richtung Osten, als auch nach Südwesten.

Tatsächlich. Es war kein Licht, dass sie entdeckte, aber eine Dampfwolke, die in die Luft schoss. Also tatsächlich eine Dampflock?

Nun schloss sie die Augen ganz. Tatsächlich. Sie konnte es hören. Das regelmäßige Schnaufen der Kolben, ein leichtes Pfeifen. Noch war der Zug ein ganzes Stück entfernt.

Ach, diese Geschichte war doch verrückt. Wohin fuhr der Zug überhaupt? Kam die Geschichte nicht eigentlich aus Joburg? Fuhr der Zug nach Joburg? Dem Ursprung nach müsste er zu den Höfen fahren oder zum Hafen. Oder war er vielleicht unterwegs in die Anderswelt oder den Astralraum? Wenn ja hatten sie wahrscheinlich Glück ihn noch zu erwischen.

Sie hob das Handy ans Ohr, wählte Spiders Nummer.

Keine Antwort. Nicht einmal ein Freizeichen. Das Handy war aus.

Leise fluchte sie. Sie ahnte, was das bedeutete.

„Siehst du etwas?“, rief Mik von unten. Er war zum Rand der Felsen gelaufen.

„Ja. Noch knapp zwei Minuten, bis sie hier sind.“ Scheiße.

Sie kam auf den Zug. Sie wollte nur nicht auf den Zug. Sie wollte definitiv nicht auf einen Zug mit Zombies und einer Muti- oder Voodoo-Hexe oder was auch immer das war. Sie hasste Magie, die sie nicht einschätzen konnte. Sie hasste Zombies.

„Doc. Nimm den Wagen. Versuch den Schienen zu folgen“, rief sie.

„Bist du dir sicher?“, fragte er.

„Ja.“ Sie sah zur Dampfwolke hinüber. Ach, sie hatte keine Chance. „Mik. Komm hoch.“

Sie sprang auf den fünf Meter hohen Felsen hinab, machte sich bereit. Von hier aus sollte sie am leichtesten auf den Zug kommen. Irgendwie ahnte sie, dass dieser nicht für sie halten würde.

Ächzend und stöhnend kraxelte Mik den Felsen hinauf.

Sie streckte ihm die Prothese entgegen, um ihn das letzte Stück hinaufzuziehen.

Unsicher blickte er sie von der Seite an. „Danke, dass du das machst, Pakhet.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich hoffe nur, dass dein Bruder noch am Leben ist.“ Warum versuchte sie das hier überhaupt? Sie sollte eigentlich schlafen, sich mental auf ihren Urlaub vorbereiten. Sie wollte nicht vor ihrem Urlaub sterben!

Das Pfeifen und Rauschen des Zuges kam näher, während sich der Kombi unten in Bewegung setzte. Hoffentlich kamen sie herunter.

Nun konnte sie auch den Zug sehen. Eine Dampflok, einen Versorgungswagen, drei Wagons, die aussahen, als wären sie aus einem Museum entführt worden. Alte, hölzerne Wagen, die in einem Wild-West-Film besser aufgehoben wären. Inklusive der wunderbaren Zierden: Die Fenster waren mit Holzbrettern zugenagelt.

„Bereit?“, fragte sie Mik und griff ihn. Sie vertraute seiner Sprungkraft nicht.

Er antwortete nicht, doch interpretierte sie den Mangel an Protest als ein „Ja“.

Also spannte sie die Beine an, sah auf den Zug. Versorgungswagen wäre ein guter Anfang. So wären sie sicher, dass ihnen niemand in den Rücken fiel.

Innerlich zählte sie bis zehn. Der Zug war knapp unter ihnen. Dann sprang sie. Kurz rauschten sie durch die warme Dampfwolke, dann landeten sie hart in dem halbleeren Kohlewagen.

Mik schrie beim Sturz, rollte zur Seite. Sein Atem war kurz und angebunden, als er an sich hinabsah, sich abtastete.

„Sei ruhig“, zischte sie und lief zum Rand. Sie sprang auf die Abgrenzung des Waggons und sah zur Lokomotive. Da waren zwei Gestalten, deutlich vor dem Feuer des Motors zu sehen. Wenn das Feuer nicht erhalten blieb, sollte der Zug irgendwann stoppen, oder?

Eine der Gestalten sah sich zu ihnen um. Eingefallene Augen, blässliche Haut, der Blick leer und starrend. Zombie schien gar nicht mal so unwahrscheinlich. Zombie oder Junkie. Doch wer ließ einen Junkie einen Zug steuern?

Zombie also wirklich?

Scheiße.

Sie zog ihre Waffe, sprang auf das Verbindungsstück zwischen Wagen und Lok, schoss. Vier Mal.

Sie traf die Zombies in die Köpfe. Filmklischee, definitiv, doch manchmal war es besser etwas auf Klischees zu geben. Überraschend häufig funktionierten magische Dinge so, wie normale Leute glaubten, dass sie funktionierten.

„Was jetzt?“, hauchte Mik.

„Jetzt suchen wir deinen Bruder.“ Sie sprang wieder in den Kohlewagen. Mittlerweile bedeckte eine dünne Schicht aus schwarzem Staub ihren Körper.

Dann lief sie zum hinteren Ende, sprang auch hier auf den Rand des Wagens.

Was als nächstes geschah, hätte sie nicht vorhersehen können. Denn im nächsten Augenblick war jemand hinter ihr. Purer Instinkt erlaubte ihr, das Messer mit der Prothese abzuwehren.

Sie sprang nach vorne, landete beim Eingang des ersten Wagons und sah sich um. Da war eine dunkel gekleidete Gestalt. Ohne den Anflug von Unsicherheit balancierte diese auf der metallenen Wand des Kohlewagens und folgte Pakhet so, das Messer in der Hand.

Schon hob Pakhet ihre eigene Waffe, als die Gestalt verschwand.

Magie. Böse Magie, wie Crash gesagt hätte. Scheiße.

Das hier war definitiv nicht die Art von Mission, die sie gerne gemacht hätte – und sie wurde nicht bezahlt.

„Spider?“, rief sie. „Spider? Wo bist du, Trottel?“

Keine Antwort.

Großartig.

Ein Instinkt sagte ihr, dass er im letzten Wagon wäre, aber wenn sie nachschauen wollten, dann mussten sie jeden der Wagons überprüfen, oder?

Sie konnten auch hinten anfangen, was ihnen dann aber doch das Problem mit Zombies im Rücken bringen würde.

Dabei hatte sie bei weitem nicht genug Munition dabei, um sich mit einer ganzen Armee Zombies anzulegen. Gerade einmal vierzig Schuss, vier hatte sie schon verbraucht. Zombies waren für Magier ziemlich billig, anders als richtige Zauber.

Also …

Zombies im Rücken.

„Mik. Komm“, kommandierte sie und sprang, zog sich am Dach des Wagons in die Luft. Die Anstrengung ließ ihren Kopf schmerzen.

Er kam keuchend aus dem Kohlewagon emporgeklettert. Er sah ungläubig zu ihr, balancierte dann aber über das Verbindungsstück und ließ sich auf das Dach ziehen.

Dampfzüge hatten den Vorteil nicht zu schnell zu sein. Hier oben konnte man vernünftig laufen. Der Fahrtwind reichte nicht aus, um einen von ihnen von Bord zu werfen. Also rannte sie.

Da hinten, etwa fünfzig Meter von den Gleisen entfernt fuhr der Wagen. Heidenstein. Gut. Hoffentlich schaffte er es. Noch immer sorgte sie sich um ihn. Sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn ihm was passierte. Zumindest hatte sie Murphy nicht mit hineingezogen.

Also rannte sie hinüber, sprang zum zweiten Wagon. Vorsichtig ging sie in die Knie, krabbelte zum Rand, als ihr etwas einfiel. Ihr bester Tipp war, dass Spider hier versucht hatte, aufs Dach zu kommen. Da unten waren die Bretter, die die Zugfenster versperrten, zerbrochen.

Noch einmal versuchte sie es. „Spider? Hey. Spider? Trottel?“

Doch was aus dem Fenster schaute, war kein Spider, sondern nur ein weiterer Zombie und leider war auch dieser Zombie nicht von der langsamen Variante.

Pakhet stolperte zurück, als der Untote sich mit unnatürlicher Eleganz auf das Dach schwang. Dann feuerte sie und das Biest flog vom Dach hinab.

„Pakhet?“, rief Mik kleinlaut.

Natürlich. Weitere Zombies.

„Du hast eine Waffe. Nutz' sie, Idiot.“ Rasch sah sie sich um. Es waren nicht viele Zombies. Gerade einmal sechs Stück. Zeit Munition zu sparen.

Während sie den nächsten erschoss, sprintete sie auf die beiden zu, die aus Richtung der hinteren Waggons kamen, ging leicht in die Hocke und trat dem einen gegen das Knie. Zumindest war die Anatomie von Zombies dieselbe wie bei Menschen und es galt: Ohne Kniescheiben lief es sich schlecht. Der Zombie knickte ein, während der andere nach ihr griff.

Ganz wie geplant war das nicht. Sie hatte gehofft, den ersten Zombie vom Zug kicken zu können, doch offenbar war es ihr nicht gegönnt.

Da klammerten sich eisige Hände von hinten um ihre Schultern, rissen sie zurück.

Panik kroch in ihrer Kehle hoch. Nein. Dafür hatte sie keine Zeit. Sie kickte nach hinten, kickte gegen das Schienbein, brachte den Zombie aus dem Gleichgewicht und nutzte einen Wurf, um das Biest vom Zug zu werfen.

Dann schoss sie auf die anderen beiden.

„Ich weiß, wen ich bei einer Zombieapokalypse anrufe“, murmelte Mik, als er sich neben sie stellte. Er blutete aus einer Wunde am Hals. Seine Stimme war ungewöhnlich hoch.

„Wirklich? Zeit für dumme Sprüche?“

„Ich habe Schiss, man“, erwiderte er. „Ich versuche mich abzulenken, okay?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Okay.“

Noch 32 Schuss.

Sie sprang auf das letzte Verbindungsstück. Noch immer wusste sie nicht, was sie hier überhaupt tat. Richtig gearscht wäre sie, würden sie wirklich in der Anderswelt enden. Dann würde das mit ihrem Urlaub wirklich nichts mehr werden.

Mit einem Tritt bekam sie die Tür auf. Das Schloss war nicht besonders stabil. Wieder fragte sie sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte. Sie war nicht länger für Spider verantwortlich. Sie musste es nicht tun. Aber es war das Richtige.

Wahrscheinlich hatte Michael Recht: Heidenstein färbte auf sie ab.

Da waren Zombies. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass es einmal Menschen gewesen waren. Sie wusste nicht, wie viel von den Menschen noch irgendwo da drin war. Sie wollte es auch nicht wissen.

Die Körper waren ausgemergelt, teilweise mit Kalk bedeckt. Tradition wahren, hmm?

„Kun!“, rief Mik, als sie reinkamen.

Der Wagon hatte traditionelle Abteile an den Seiten. Jemand hämmerte gegen die Wand von einem.

Ja, spätestens jetzt wünschte sie sich wirklich eine Granate. Heidenstein war auch nicht hier. Beste Möglichkeit für eine Granate.

So hob sie nur ihre Waffe, um auf den ersten Zombie zu zielen, als jemand sie nach hinten riss.

Alles geschah zu schnell. Sie dachte nicht nach, handelte gänzlich instinktgesteuert.

Schüsse erklangen aus dem Inneren des Wagens – wohl Mik – während sie automatisch nach dem rostigen Geländer der Wagenplattform griff und dabei ihre Waffe verlor. Ihre Füße fanden Halt, noch bevor ihr Gehirn verstand, was geschehen war. Dann erkannte sie die Gestalt der in schwarz gekleideten Frau und das Messer.

Ein Instinkt ließ sie das Geländer mit ihrer eigentlichen Hand loslassen, bevor das Messer dort auf das Metall schlug. Funken stoben.

Ihre Prothese verlor den Halt. Sie rutschte und der Fahrtwind drohte sie mit sich zu reißen. Wenn man sich nur mit Metall an Metall festhielt, konnten auch vierzig km/h zu schnell sein.

Sie verlor den Halt, wäre beinahe vom Zug gestürzt. Beim aktuellen Tempo hätte es sie wahrscheinlich nicht getötet, aber wenigstens schmerzhaft verletzt. Dankbarerweise schaffte sie es, den Fuß in eine Querstrebe zu stecken, sich an der Stange, die diese alten Wagons am Rand hatten hochzuziehen.

Noch einmal sammelte sie ihre Energie, auch wenn sie den Entzug langsam spürte. Doch besser Kopfschmerzen als gebrochene Knochen. So katapultierte sie sich von magischer Kraft geleitet über das Geländer.

Wieder kam das Messer in ihre Richtung.

„Verdammt.“ Fluchend zog sie die Beine an, trat in Richtung der Frau aus. War sie die Hexe?

Der Bereich zwischen den beiden Waggons war für einen Kampf zu eng. Verflucht. Sie musste aufs Dach.

Es rauschte in Pakhets Ohren, als sie die Energie sammelte, aufs Dach zu springen. Nicht zu viel, nur genug um das Zugdach sicher zu erreichen. Sie sprang, zog sich hoch. Ihr Kopf pulsierte unangenehm.

Atemlos blieb sie für eine Sekunde liegen. Sie hatte ihre Waffe verloren. Damit brachten ihr auch die Magazine nichts mehr. Scheiße.

Die Frau erschien auf dem Dach, das Messer gezogen.

Zumindest ein Messer hatte Pakhet auch. Sie zog es. „Was zur Hölle ist dein Problem, Bitch?“

„Dieser Zug ist mein Territorium“, erwiderte die Frau mit einem dicken Dialekt.

Es war schwer ihr Alter zu schätzen. Ihre Augen waren in der Dunkelheit nicht zu sehen. Kein Weiß. Kein gar nichts. Was sie eine Hexe oder etwas anderes? Fae vielleicht? Das würde den Territorialanspruch erklären.

Ach, zur Hölle. Pakhet kämpfte sich auf die Beine. „Wir sind auch gleich wieder verschwunden, wenn du uns Spider zurückgibst!“ Angestrengt versuchte Pakhet irgendeinen Hinweis am Körper der Frau zu erkennen. Etwas, das ihr verriet, ob sie Mensch, Geist oder Fae war.

„Spider?“ Die Frau machte einen hämischen Laut. „Wenn du vom Jungen heute Abend sprichst: Er hat ein einfaches Ticket gekauft.“ Eine gewisse Siegessicherheit lag in ihrer Stimme.

All das hier wäre einfacher, hätte Pakhet ihre Waffe. Oder würde sie nur verstehen, was hier eigentlich passierte. Warum musste Magie immer so kompliziert sein?

Jetzt fuhren die Schienen parallel zu einer alten Straße. Der Van konnte aufholen und nutzte es. Hoffentlich machte Heidenstein keine Dummheiten! Besser, sie lenkte die Hexe ab.

„Dann hast du Spider?“

„Ich frage üblicherweise nicht nach den Namen meiner Passagiere“, erwiderte die Hexe. Noch bevor das letzte Wort im Fahrtwind davongeweht war, hatte sie die Entfernung zwischen ihnen überbrückt. Gerade so schaffte es Pakhet, dem Messer mit einem Schritt zur Seite zu entgehen. Mit ihrer Hand griff sie nach ihrem eigenen Kampfmesser in ihrem Schuh.

Sie war wirklich nicht mehr in Kampfverfassung. Aber irgendwie musste sie das beenden.

Von unten erklangen weitere Schüsse. Hoffentlich war es Mik. Hoffentlich fand er Spider.

Wieder sauste das Messer auf Pakhet zu und dieses mal nutzte sie das eigene, um es zu reflektieren. Sie durfte hier auf keinen Fall Blut verlieren. Egal was diese Frau war, Hexe oder Fae, sie würde wahrscheinlich Blut für einen Fluch nutzen können. Darauf konnte sie verzichten.

Ein weiteres Mal reflektierte sie das Messer. Wo waren Mik und Spider? Hoffentlich hatten die Zombies nicht Mik gefressen.

Pakhet bemühte sich Abstand zwischen sich und der Frau zu bringen. Nicht so leicht bei einem wackelnden Untergrund und Fahrtwind. Mit vorsichtigen Schritten versuchte sie weiter mittig auf das Dach zu kommen, als eine Hand nach ihren Füßen griff.

Überrascht schrie Pakhet auf, schaffte es aber stehen zu bleiben. Ein weiterer Zombie war offenbar durch das Fenster unter ihnen aufs Dach geklettert. Jetzt hing er am Rand des Daches, eine Hand um ihren Knöchel. Er versuchte noch immer sie umzuwerfen. Dann kam das Messer.

Pakhet schaffte es nicht rechtzeitig, sich zu drehen. Stattdessen hob sie im Instinkt die Prothese. Dankbarerweise hatte sie die Kampfprothese angezogen, deren Materialien deutlich widerstandsfähiger waren. Mit einem dumpfen „Klonk“ traf das Messer auf die Hauptschiene der Prothese.

Pakhet griff danach. Die schwerfällige Hand ihrer Prothese griff nach dem Arm der Hexe. Vielleicht war die Prothese langsam, doch griff sie einmal zu, ließ sie nicht mehr so einfach los. Pakhet zog den Arm der Hexe vor, drückte ihn, bis die Hand zu zittern begann. Das Messer fiel auf das Waggondach, ehe der Fahrtwind es mit sich trug.

Gleichzeitig trat Pakhet nach dem Kopf des Zombies, schaffte es ihn so abzuschütteln. Er fiel vom Zug.

Die Hexe fauchte. Das erste Mal bekam Joanne einen guten Blick auf ihr Gesicht. Es war albinoblass. Ihre Augen gänzlich schwarz. Die Zähne im dunklen Mund waren gespitzt. Adern zeichneten sich unnatürlich deutlich unter der Haut ab. Ein Zeichen von Blutmagie?

Dann ein Rufen: „Pakhet?“ Miks Stimme. Leichte Panik klang darin mit.

Erst jetzt fiel Pakhet auf, dass die Schüsse verstummt waren. Verflucht. Was taten diese Idioten schon wieder?

Sie wandte sich um, sah jedoch nichts.

Ein weiterer Schrei. Dieses Mal ein Schmerzensschrei.

Ach, verdammt.

Pakhet nahm ihr eigenes Messer, versenkte es in der Brust der Hexe, ehe sie deren Arm losließ. Dann rannte sie.

Der Schrei war aus dem letzten Waggon gekommen. Es mussten die anderen sein.

Sie rannte, sprang, landete auf dem Verbindungsstück. Dinge, die ihr ohne magische Reflexe so nicht möglich gewesen wären. Schon trat sie die Tür zum Waggon auf, nur um gemeinsam mit sieben Zombies in einem Bistro zu stehen.

Einem Bistro? Vorhin waren hier noch einzelne Abteile gewesen?

Zur Hölle mit all dem! Magie war immer seltsam, immer sinnlos. Sie würde es nicht verstehen. Am Ende des Raums stand Mik vor einem zusammengekauerten Spider, der seine Schulter hielt. Nervös und hastig zeigte Mik mit seiner Waffe immer wieder auf die Zombies, die sich jedoch langsam näherten.

„Pakhet!“, rief er panisch.

Er hatte wahrscheinlich seine Munition verbraucht. Natürlich hatte er das!

Pakhet erwiderte nichts. Stattdessen zog sie ihr zweites Messer heraus. Sie wusste, warum sie mindestens drei Messer bei sich trug. Ohne war man in solchen Situationen aufgeschmissen. Gott, eigentlich sollte sie sich vor ihrem Urlaub ausschlafen!

Sie sprang, warf einen Zombie zu Boden und stach einem zweiten in die Kehle. Das zog die Aufmerksamkeit der anderen auf sie.

Die meisten von ihnen waren einmal Männer gewesen. Was es auch immer damit auf sich hatte. Sie dachte darüber nicht nach. Es waren Zombies, keine Menschen mehr. Sie standen unter der Kontrolle der Hexe oder eines anderen Zaubers. Vielleicht standen sie auch unter Kontrolle des Zugs. Was auch immer sie einmal gewesen waren: Das war lang schon verschwunden. Deswegen zögerte sie nicht, das Messer den zu Boden gegangenen Zombie in den Schädel zu rammen.

Wieder wünschte sie sich langsame Film-Zombies, statt dieser verflucht schnellen Viecher. Schon war ein dritter bei ihr, pinnte sie zu Boden, während sein Kiefer nach ihrer Kehle schnappte.

Sie winkelte die Beine an, trat ihm gegen die Hüfte und katapultierte ihn so von sich.

Ihr Körper schmerzte, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Stattdessen setzte sie mit ihrem Messer nach, erwischte aber nur die Brust des Zombies, ehe ein weiterer sie herumriss.

Wieder brauchte sie ihre Prothese, um sich zu verteidigen.

„Bring Spider daraus!“, rief sie Mik zu.

„Aber ...“

„Tu's einfach!“ Sie schaffte es die Schulter des Zombies zu erwischen. Sie wünschte sich ihre Waffe her.

Den nächsten Zombie, der sie schnappen wollte, warf sie gegen die Wand, versuchte einen anderen das Messer in den Kopf zu stoßen, als der erste sie von hinten griff, sie mit sich zog. Er hatte die Arme um ihre Schultern geschlungen, fixierte damit ihre Arme zu sehr. Schon war ein anderer Zombie bei ihr.

Sie trat aus, warf ihn zurück.

Fuck.

Der nächste war da, griff nach ihren Beinen.

Dann schallte der Schuss durch das Abteil und der Zombie, der einen Moment vorher ihre Beine umklammert hatte, fiel zu Boden.

„Pakhet!“, rief Heidenstein.

Sie wollte nicht wissen, wann er an Bord gesprungen war oder wo der verfluchte Van war. Wie weit sollten sie eigentlich laufen?

Doch zumindest hatte sie so Freiraum. Mit einer plötzlichen Bewegung riss sie die Arme nach vorn und schaffte es so, sich etwas Bewegungsspielraum zu erkämpfen. Damit ließ sie den Arm hochschnellen, versenkte ihr Messer im Auge des Zombies, der sie hielt.

Ein krächzender Schrei entfuhr seiner Kehle, bevor sie sich umdrehte und noch einmal zustach.

Derweil streckte Heidenstein mit drei Schüssen zwei weitere Zombies nieder. Blieb nur noch einer. Joanne wandte sich um, sah den Untoten, setzte ihm nach und versenkte das Messer in seinem Nacken.

Zu spät sah sie den Schatten hinter Heidenstein.

Dankbarerweise hatten ihn seine Instinkte nicht verlassen. Ob er etwas gespürt hatte? Er fuhr herum, schrie im nächsten Moment jedoch auf. Dann erklang ein Schuss, gefolgt von zwei weiteren.

Wieder fauchte die Hexe, die offenbar noch immer nicht tot war.

Pakhet wartete nicht. Sie nahm ihr Messer, zielte und warf es. Zwar verfehlte sie die Stirn der Hexe, traf dafür aber ihre Wange, ließ sie noch lauter Knurren und Fauchen.

Sie sah zu Spider und Mik, die neben der Tür kauerten. "Worauf wartet ihr noch? Raus hier!"

Heidenstein schoss erneut auf die Hexe, ließ sie zurückweichen. Genug, als dass sich die beiden jungen Söldner an ihr vorbeidrängen konnten. Es folgte ein Schrei.

Dann rannte Pakhet los. "Komm!" Damit packte sie Heidenstein und riss ihn mit sich. Sie sah Blut an seinem Ärmel, doch dafür war später noch Zeit. Schon fegte die Hexe wieder auf sie zu, doch hatte Heidenstein verstanden. Sie wechselten einen kurzen Blick. Dann sprangen sie von der Plattform ab.

Der Schrei der Hexe folgte ihnen. Also war sie noch immer nicht tot.

Einen Moment später schlug Pakhet auf steinigem Untergrund auf. Ganz automatisch rollte sie sich ab, rollte so zwei, drei Meter einen steinigen Abhang hinab, ehe sie auf dem Rücken liegen blieb.

Schwer atmend sah sie zum Himmel hinauf. Die Sternen funkelten unbeirrt über der Savanne.

Nun, zumindest lebten sie noch. Oder?

Der Gedanke ließ sie sich aufrichten und umsehen. „Doc?“

Er lag nur wenige Meter von ihr entfernt. Ein schweres Stöhnen entglitt seinen Lippen, ehe sie zu ihm hinüberlief. Sie kniete sich neben ihm. „Alles okay?“

Er blinzelte sie an. „Ja. Mehr oder minder.“

Erleichtert atmete sie auf. Sie griff nach seinem Arm, spürte das Blut und einen Riss im Stoff. Also war es sein Blut gewesen. Verdammt.

Sie seufzte. „Warum warst du überhaupt da?“

„Na ja …“ Er richtete sich langsam auf. „Ihr habt so lang gebraucht und ich dachte … Du wolltest morgen in den Urlaub fahren und das geht als Zombie so schlecht, oder?“ Mühsam brachte er ein Lächeln zustande.

Eigentlich wollte sie mit ihm schimpfen, brachte es jedoch nicht zustande. „Idiot“, flüsterte sie stattdessen. Dann stand sie auf und reichte ihm die Hand. „Lass uns die anderen beiden suchen.“

[22.07.2011 – D19 – Aufbruch]

Sie standen auf einem Parkplatz an der M2, zwanzig Kilometer nördlich von Kapstadt. Der Himmel über ihnen war dunkel und hinten im Van blutete Spider. Alles in allem hätte es wesentlich schlechter ausgehen können.

Dennoch war Pakhets Laune auf einem aktuellen Tiefpunkt. Sie sah im Rückspiegel zu, wie Heidenstein den jungen Mann verarztete, während Mik besorgt daneben saß. Ja, sie hatten ihm das Leben gerettet, doch dafür war eventuell eine Hexe hinter ihnen her. Eine Hexe, die etwas von Heidensteins Blut hatte. Keine gute Aussicht.

Was musste sich Spider auch in Probleme bringen?

Der Heilzauber schien anzufangen, seine Wirkung zu entfalten. Gut. Immerhin war Heidenstein schon gute zwanzig Minuten beschäftigt.

„Uh, das ist besser“, murmelte Spider.

„Nicht bewegen“, flüsterte Heidenstein.

„Okay.“ Spider lag sofort still.

Weitere zehn Minuten vergingen, ehe Heidenstein es sich erlaubte, zurückzulehnen. „Versuch deinen Arm zu bewegen.“

Spider tat, wie ihm geheißen. „Viel besser. Danke, Doc.“

„Gerne“, erwiderte Heidenstein matt und seufzte. „Dankbarerweise sind Zombiebisse meistens nicht ansteckend.“

„Zumindest nicht, wenn es Muti-Zombies sind“, meinte Pakhet griesgrämig. Noch immer sah sie ihn nicht an. „Dafür haben wir jetzt eine Hexe auf dem Hals.“

„Und das heißt?“, fragte Mik. Natürlich. Er wusste wahrscheinlich recht wenig über Magie. Er war noch nicht lang genug im Geschäft und Straßenkinder wussten nicht viel mehr, als dass es Dinge nachts in den Straßen gab, denen man nicht über den Weg laufen wollte.

Pakhet seufzte. „Fernbleiben und hoffen, dass sie einen keinen Zauber auf den Hals hetzt.“

„Wie, fernbleiben?“

„Am besten ans andere Ende des Landes fahren“, erwiderte sie und seufzte. „Ich werde Smith anrufen, dass sich jemand um das Problem kümmert.“

„Aber“, begann Heidenstein. Natürlich verstand er. Sie würde ein Kopfgeld auf die verfluchte Hexe aussetzen. Was blieb ihr auch sonst für eine Wahl? Eigentlich sollte Spider derjenige sein, der sich darum kümmerte, verdammt!

„Doc. Die Bitch war korrumpiert. Blutmagie. Du weißt, wie diese Dinge gehen.“ Sie seufzte und schrieb eine Nachricht an Smith. Dann erlaubte sie sich ein kurzes, genervtes Stöhnen. „Wisst ihr Idioten eigentlich, dass ich verdammt noch mal schlafen und morgen auf dem Weg in den Urlaub sein sollte?“

Sie sah selbst im Dunkeln des Wagens, wie sich ein begeistertes Grinsen auf Spiders Gesicht ausbreitete. „Wir könnten alle zusammen den Urlaub fahren.“

Sogar Heidenstein schenkte ihm einen missmutigen Blick.

Pakhet brummte. „Oh, ja, das klingt nach einem Urlaub!“, murmelte sie sardonisch.

Das Grinsen fiel in sich zusammen. Spider zog einen Schmollmund. „Oder nicht.“

Schließlich wandte sich Mik an sie. „Was schlägst du vor, was wir jetzt machen?“

Pakhet schloss die Augen und überlegte. „Ich fahre euch nach George und fliege von dortaus weiter in meinen verdammten Urlaub.“ Es hatte keinen Sinn, jetzt zurück zu fahren. Es war ein unnötiges Risiko. „Von dortaus, seht ihr zu, wie ihr weiterkommt.“

Niemand war dumm genug, ihr zu widersprechen.

Und so fuhren sie. Zombiezüge. Ja, großartig. Doch auf der anderen Seite, hätte sie denselben Job in den USA gemacht, dann dürfte sie sich jetzt wahrscheinlich mit Skinwalkern rumschlagen. Sie war glücklich keinen davon je getroffen zu haben. Diese Dinger waren angeblich extrem lästig, extrem bösartig und extrem schwer zu töten.

Eine Stunde später waren Spider und Mik mit einem Taxi verschwunden, während sie mit Heidenstein am noch immer stinkenden Teamvan lehnte. Sie würde Smith anrufen müssen. Sie brauchte einen Flieger nach Richard's Bay. Idealerweise einen, bei dem sie den Transporter mitnahm.

Doch erst einmal war da noch Heidenstein.

Sie sah ihn an. „Und was machst du?“

„Ich werde nach Kapstadt zurückfahren“, erwiderte er. „Ich muss zur Klinik zurück.“

Sie musterte ihn, schüttelte den Kopf. „Sei nicht albern. Abstand ist nicht die beste Sicherheit, aber es ist eine Sicherheit. Du solltest möglichst weit weg und am besten einen Schutzzauber aufbauen.“

Heidenstein schürzte die Lippen, schien sich auf die Unterlippe zu beißen, während er überlegte. „Was ist mit Murphy?“

„Hast du niemanden im Krankenhaus, der sich um ihn kümmern kann?“ Auch sie hasste den Gedanken, den Teenager dort allein zu lassen, doch Murphy hätte nichts gewonnen, wenn er von einer Horde Zombies überfallen wurde, weil Heidenstein da war.

Heidenstein seufzte schwer, nickte dann aber. „Ich kann Victor anrufen, dass er jemanden vorbei schickt.“

„Gut, sonst rufe ich Smith an“, meinte sie.

Er nickte, wirkte geschlagen. Wieder biss er sich auf die Lippe und dachte nach. Dann sah er sie an, zögerte. „Sag mal, hättest du was dagegen, wenn ich mit dir komme. Nach Richard's Bay?“

Gute Frage. Hatte sie was dagegen? Sie redete gern mit ihm, wurde das Gefühl allerdings nicht los, dass sie zu viel Zeit mit ihm verbrachte. Ein Gedanke, den sie nicht mochte. Verdammt, sie hatte in den letzten Monaten wie oft bei ihm geschlafen? Auf der anderen Seite war sie im Moment froh um Gesellschaft und einen zweiten Fahrer. Sie wusste, dass die Kopfschmerzen wiederkehren würden, sobald die Tablette aufhörte zu wirken. „Von mir aus. Komm mit.“ Sie lächelte matt.

Heidenstein nickte ihr zu. „Danke.“

„Ja.“ Sie ging zur Fahrertür des Wagens, öffnete sie. „Lass uns fahren“, murmelte sie, als Heidenstein ihr die Hand auf die Schulter legte.

„Lass mich fahren. Du hast dir eine Auszeit verdient.“

„Du auch“, erwiderte sie. Immerhin war er verletzt worden, hatte geheilt. „Ich muss gleich eh fliegen.“ Jedenfalls war es wahrscheinlich, dass sie sich einfach einen Transportflieger leihen würden.

„Ein Grund mehr, dass ich jetzt fahre. Komm schon. Ich hatte drei Stunden Schlaf und einen Trank.“ Er klopfte ihr auf die Schulter und drängte sie sanft zur Seite, um an der Fahrerseite einsteigen zu können.

Sie seufzte. Er hatte Recht und Unrecht zugleich. Dennoch ging sie um den Wagen herum, stieg an der Beifahrerseite ein, wo sie das Fenster sofort herunterkurbelte. Sie schloss die Augen und zog die Nachtluft gierig ein. „Danke, Doc.“

Er lächelte nur und startete den Wagen.

[22.07.2011 – D20 – Erwachen]


 

[MENSCHEN]
 

[22.07.2011 – D20 – Erwachen]
 

Als Pakhet erwachte, regnete es. Ungewöhnlich für die Jahreszeit. Auf der anderen Seite war sie in Richards Bay, wo Regen ihres Wissens nach öfter vorkam. Ja, unterbewusst erinnerte sie sich, dass sie nach Richards Bay gefahren war, in den Urlaub. So wunderte sie sich nicht, dass das Bett weicher war, als sie es gewohnt war. Nicht ihr Stil, doch eine angenehme Abwechselung – hier im Urlaub.

Endlich Urlaub. Endlich.

Die Erinnerung an die Rettungsaktion am vergangenen Abend kam ihr in den Kopf. Dummer, dummer Spider. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, sich mit den Muti anzulegen? Selbst wenn man wenig über Magie wusste, so wusste man doch, dass es eine dumme Idee war. Oder? Ach, sie war halt von Idioten umgeben.

Doch das hier war kein Moment sich darüber aufzuregen. Sie hatte Urlaub. Urlaub von den Missionen, Urlaub von Michael und am wichtigsten: Urlaub von den Idioten.

Der Regen prasselte gegen das Fenster. Ein einfaches Fenster, anstelle der modernen Fenster, die sie in ihrem Haus hatte. Der Klang des Regens war deutlich dagegen zu hören. Es hatte etwas beruhigendes, das sie langsam wieder in einen wohligen Halbschlaf lullte.

Fast schon schlief sie wieder ein, als sich etwas im Bett bewegte.

Wie seltsam. Sie hatte sie sich nicht bewegt.

Ihr Gehirn begann wach zu werden, eine potentielle Gefahr zu registrieren.

Etwas stimmte nicht! Etwas stimmte gar nicht. Sie lag auf dem Bauch, wie beinahe immer, wenn sie schlief. Doch sie trug ihre Prothese, die sie zum Schlafen normal auszog. Dann realisierte sie etwas anderes: Sie war nackt.

Sie hasste es nackt zu schlafen!

Schnell öffnete sie die Augen. Ihr Blick glitt zum Fenster, durch das dämmriges Tageslicht fiel, durch die Wolken geschwächt. Ihr Blick glitt über den Boden, auf dem ihre Kleidung lag. Aber nicht nur ihre Kleidung.

Langsam kamen ihr die Erinnerungen vom Rest der Nacht. Die Erinnerung daran, wie sie die anderen in George rausgeworfen hatte und wie sie mit Heidenstein hierher geflogen war. Sie hatten um drei am Morgen einen Hotelclerk wachgeklingelt und die Zimmerschlüssel verlangt. Und dann  …

Sie verfluchte sich, hoffte, dass es nur ein Traum gewesen war.

Es musste ein Traum gewesen sein.

Mit einem leisen Seufzen drehte sie den Kopf, sah zu ihrer rechten Seite und musste sich eingestehen, dass ihre Erinnerungen der Realität entsprachen, als Heidenstein sie anlächelte.

„Guten Morgen“, sagte er sanft.

Sie starrte ihn an. Wie sie, war er nackt, auch wenn die Decke ihn größtenteils bedeckte. Sie schloss die Augen, wünschte sich, dass all das ein Traum war. Dann sah sie ihn wieder an.

„Oh, Fuck“, hauchte sie matt. Sie konnte hier nicht liegen bleiben!

Kurz glitt ein Grinsen über Heidensteins Gesicht, wohl ob ihres unfreiwilligen Wortwitzes, doch er fing sich schnell. Er legte sanft eine Hand auf ihre Schulter. „Hey, alles okay?“

Sie sah ihn an, verfluchte sich selbst. Ja, sie erinnerte sich an die vergangene Nacht. Sie waren hierher gekommen, hatten geduscht. Sie hatte sich seine Wunde angesehen, hatte über Spider geschimpft und ihre Angewohnheit Idioten anzuziehen. Er hatte versucht sie zu beruhigen. Und dann   … Sie wusste nicht einmal mehr, wer von ihnen begonnen hatte, aber dann hatten sie sich geküsst. Dinge waren von da an einfach geschehen.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nein. Nichts ist okay.“ Sie glitt aus dem Bett, griff den Bademantel vom Boden. Sie war nicht beherrscht, doch für den Moment war es ihr egal. Fuck. Wie hatte das passieren können?

Heidenstein wirkte besorgt, als er sich aufsetzte, sah sie an. Er zögerte. „Willst du vielleicht einen Kaffee?“

Warum musste er so ein netter Typ sein? Fuck! Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Keinen Kaffee. Erst eine Dusche. Dann Kaffee. Dann reden wir. Aber zuerst die Dusche.“ Sie wich zurück, sich ihrer Panik zu bewusst. Fuck!

„Okay“, meinte er. Er machte Anstalten aufzustehen, hielt aber inne. „Okay.“

Sie nickte, wich weiter zurück, bis ihre tastende Hand die Tür zum Bad fand. Sie öffnete sie und glitt hindurch, sich selbst dabei verfluchend.

[22.07.2011 – X08 – Fuck!]

Sie hatte am Vortag zwei Mal geduscht. Eigentlich sollte sie nicht wieder Duschen. Doch verdammt, sie brauchte jetzt eine kalte Dusche. Eine eiskalte Dusche!

Pakhet ließ den Bademantel des Hotels, den sie am Vortag nach dem Duschen angezogen hatte, zu Boden gleiten. Sie löste die Prothese, die sie am Vorabend angezogen hatte, um Heidenstein besser verarzten zu können, legte sie auf dem Toilettendeckel ab. Dann stolperte sie in die Dusche, drehte den Hahn für das kalte Wasser auf.

Eisig rann das Wasser über ihre Haut.

Pakhet zuckte nicht einmal zusammen. Sie schloss die Augen, lehnte sich vor, stützte sich mit ihrem Arm an der Wand ab.

Verdammt. Wie hatte das passieren können? Sie hatte bisher immer einen Punkt daraus gemacht, nicht mit Kollegen zu schlafen. Ach, sie hatte generell einen Punkt daraus gemacht, nur mit Typen zu schlafen, die sie wahrscheinlich nie wiedersehen müsste. Nicht selten hatte sie sich genau deswegen Touristen rausgesucht. Sie hatte damit alles unter Kontrolle gehabt. Sex, ja, aber nichts, was in irgendeiner Form kompliziert werden konnte. Sie hatte klare Regeln gehabt und eine der ersten Regeln war, nicht mit Kollegen zu schlafen!

Also wie hatte sie das zulassen können?

Gerne hätte sie ihm die Schuld gegeben. Es war nicht so, als hätte sie nicht bemerkt, dass er ihr manchmal, wenn sie gemeinsam woran arbeiteten, diese Blicke zugeworfen hatte. Lange Blicke. Er hatte so ausgesehen, als würde er etwas sagen wollen. Vielleicht hätte er sie vorher auch geküsst, hätte sich die Gelegenheit ergeben.

Doch so sehr sie sämtliche Schuld auch ihm gegeben hätte: Sie hatte es in der vergangenen Nacht gewollt. Sie hatte es wirklich gewollt. Sie hatte es zugelassen.

„Fuck!“, zischte sie und schlug mit der Faust gegen die Wand.

Was sollte sie ihm jetzt sagen?

Er war sentimentaler als sie. Er konnte ein Gefühlsdusel sein. Wahrscheinlich interpretierte er viel mehr in diese Sache, als da eigentlich war.

Ach was, sicher tat er das. Er war Heidenstein. Er war Anderson. Er war ein verfickter Idiot!

Sie zwang sich dazu, ihre Gedanken zu beruhigen, schloss die Augen, atmete einige Male tief durch und drehte dann den Hahn für das heiße Wasser leicht auf, so dass das Wasser lauwarm wurde.

Okay. Was konnte sie tun?

Sie lehnte sich gegen die Wand.

So sehr sie auch den Gedanken hasste, sie würde mit ihm reden müssen. Ach, natürlich konnte sie mit ihm reden. Er würde verstehen, oder? Er würde verstehen, dass es nur ein Missgeschick war. Es war nur Sex. Und sie waren Erwachsene. Genau. Erwachsene. Sie konnten wie Erwachsene darüber reden. Ja.

„Fuck.“ Wie hatte sie es nur dazu kommen lassen? Wie hatte sie es nur zulassen können?

Egal, wie sie diesen Gedanken im Kopf hin und her drehte, die konnte es nicht sagen. Alles, was sie wusste, war, dass sie es gewollt hatte. Verdammt, vielleicht war es sogar sie gewesen, die ihn geküsst hatte. Sie wusste es wirklich nicht mehr.

„Verdammt  …“ Sie drückte den Kiefer zusammen, schloss die Augen. Atmen. Ruhig Atmen.

Sie würde damit klar kommen. Sie würde eine Lösung finden. Gegenüber einer Horde Zombies, war das doch nichts.

Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie Angst ihn als Freund zu verlieren. Und das wollte sie nicht riskieren.

[22.07.2011 – D21 – Aussprache]

Nach dem Duschen fand sie das Zimmer verlassen vor. Gut, Heidenstein hatte also genug Feingefühl, um bereits zu gehen. Wahrscheinlich war er in den Speisesaal gegangen.

Die Frage blieb: Was machte sie jetzt?

Sie hatte ihre Prothese wieder angezogen, auch wenn der Akku beinahe leer war. Ohne fühlte sie sich inkomplett. Für den Moment blieb ihr nichts übrig, als die Sachen vom Vortag anzuziehen und dann ebenfalls in den Speisesaal zu gehen.

Oh, wie gern hätte sie sich hier eingeschlossen? Wie gern wäre sie einfach hier geblieben? Doch sie konnte nicht. Sie musste mit ihm reden. Sie war kein Feigling, verdammt!

Also zog sie sich an, nahm die Schlüsselkarte und verließ das Zimmer.

Ihr Magen zog sich zusammen, als sie sich dem Speisesaal näherte, der größtenteils verlassen vor ihr lag. Heidenstein saß an einem Tisch neben der Tür zur Terrasse, las eine Zeitschrift, die wohl ausgelegen war. Er trug sein Make-Up nicht mehr. Wozu auch? Sie waren weit fort von den anderen. So wirkte er – trotz der grauen Haare – wesentlich jünger. Es war ungewohnt.

Außer ihm war noch ein älteres Paar da, das in einer anderen Ecke saß, sich unterhielt, und ein dunkelhäutiger Mann, den sie von der Kleidung her als Ranger eingeschätzt hätte.

Außerdem wischte eine junge, ebenso dunkelhäutige Frau in Hoteluniform gerade einen leeren Tisch.

Pakhet seufzte. Sie schloss die Augen, zählte erneut bis zehn und ging dann zu Heidenstein hinüber.

Auf dem Tisch standen bereits Tassen, Teller und eine Kanne.

Er ließ die Zeitung sinken, lächelte sie vorsichtig an. „Ich habe bereits Kaffee bestellt.“

Sie nickte stumm. Was sollte sie sagen? Ihr fiel nichts ein und so füllte sie nur ihre Tasse. Sie trank. Kaffee half immer ihre Lebensgeister wiederzubeleben. Sie sollte etwas sagen, wusste noch immer nicht was, sah aus dem Fenster, um ihn nicht ansehen zu müssen.

Noch immer regnete es. Der Regen prasselte auf die hölzerne Veranda des Hotels, fiel in den von hier aus sichtbaren Pool. Ein Hotelangestellter fuhr einen Handwagen, in dem wohl dreckige Wäsche gesammelt war, einen überdachten Gang neben dem Hotel entlang.

Pakhet sah zu Heidenstein, dann zu ihrer Tasse. Sie füllte sich nach, trank.

Er war mittlerweile dazu übergegangen wieder zu lesen. Es entging ihr jedoch nicht, dass er ihr immer wieder Blicke zuwarf.

Tasse drei folgte. Verdammt, sie sollte reden. Sie sollte etwas sagen. Aber was? Wie sollte sie es ihm erklären? Was dachte er überhaupt?

Schließlich war er es, der die Stille brach. „Ich habe hier was gefunden“, meinte er. „Ein kleine Sportanzeige über Crash. Also Maximilian Verway.“ Er lächelte und zeigte ihr die Zeitschrift.

Sie nickte nur, versuchte ein Lächeln, scheiterte. Verdammt!

Noch eine Tasse Kaffee. Jetzt reichte es. Die Kanne war ohnehin leer.

Sie räusperte sich, etwas, das sie normalerweise nie tat. „Doc, was letzte Nacht passiert ist“, sagte sie, bemüht leise und möglichst neutral zu sprechen, „das war nur ein Missgeschick, ja?“

Er sah sie an. Es war deutlich zu erkennen, dass er nicht sicher war, ob er lächeln sollte oder nicht. „Ich würde es nicht als Missgeschick bezeichnen“, meinte er schließlich.

Sie schüttelte den Kopf. Musste er es noch schwerer machen? „Doch, Doc, es war ein Missgeschick und nicht mehr“, sagte sie eindringlich. „Ich will nicht, dass du es falsch verstehst, ja? Letzte Nacht  … Das war nur Sex, nicht mehr.“

Er setzte zu einer Antwort an, hielt sich aber auf. Er musterte sie unsicher.

„Okay?“, fragte sie, erwiderte seinen Blick. Oh, wie sehr sie die Situation hasste. Sie hätte vorsichtiger sein müssen!

Er holte Luft, nickte dann aber. „Ja. Okay.“ Leise seufzte er. „Ich verstehe.“

Wieso hatte sie nur das Gefühl, dass er es nicht meinte?

Sie ignorierte es, nickte. „Gut.“ Sie seufzte. „Warst du schon an der Rezeption, um die ein eigenes Zimmer zu besorgen?“

Heidenstein runzelte die Stirn. „Was? Nein.“ Natürlich nicht.

Schon wollte sie ihn dazu drängen, es jetzt zu tun, als ihr ein anderer Gedanke kam. Wollte sie wirklich den Rest des Urlaubs in diesem Bett schlafen? „Weißt du was? Ich hole mir ein neues Zimmer.“

„Das musst du nicht“, erwiderte er. „Ich kann schon  …“

Sie hob abwehrend die Hände. „Es passt schon. Es ist okay. Ich hole mir ein neues Zimmer.“ Sie schüttelte den Kopf, auch wenn diese Geste mehr dazu diente, ihre wirren Gedanken zu klären. „Dann telefoniere ich noch einmal mit Smith. Ich brauche ein Ladegerät für die Prothese. Ich glaub dann lege ich mich noch mal hin.“ Sie seufzte.

Er musterte sie. Seine Stirn runzelte sich. „Das ist alles?“

Pakhet sah auf. „Was?“

„Ich meine, mehr wirst du dazu nicht sagen? Letzte Nacht  …“

Sie unterbrach ihn: „Doc. Es war nur Sex.“ Wieso fühlte sie sich schon wieder wie das letzte Arsch? „Es war nur Sex. Ich  … Mehr gibt es nicht zu sagen, okay?“

Er seufzte leise, schloss die Augen, nickte dann. „Okay.“ Ganz konnte er die Enttäuschung nicht verbergen.

[22.07.2011 – D22 – Reue]

Pakhet hasste es. Sie hatte sich eigentlich auf diesen Urlaub gefreut und nun saß sie in ihrem Zimmer und traute sich kaum rauszugehen. Sie war nicht feige, verdammt, doch sie wusste einfach nicht, wie sie mit Heidenstein reden sollte. Was sollte sie denn noch sagen? Wie konnte sie etwas sagen, ohne dass er es falsch verstand?

Wieso hatte ihr so etwas passieren müssen?

Sie lag rücklings auf dem Bett, während ihr Arm auf dem Tisch des Hotelzimmers wieder auflud. Was konnte sie noch tun?

Sie schloss die Augen und versuchte noch einmal Schlaf zu finden. Ihr Unterbewusstsein war jedoch nicht kooperationsbereit. Sofort schickte es ihr Erinnerungen an die letzte Nacht. Fuck. Wieso?

Sie musste letzte Nacht zu übermüdet gewesen sein. Sie hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt. Sie war wütend gewesen und wenn sie wütend war, Ablenkung suchte, fand sie diese oftmals in einem Hotelzimmer mit einem Fremden. Nun, es war dieses Mal ein Hotelzimmer gewesen. Nur kein Fremder. Zumindest hatten sie ein Kondom verwendet – nicht das sie glaubte, dass er irgendeine Krankheit hatte.

Wieso hatte sie es nur getan?

Ein zögerliches Klopfen an der Tür.

Sie ignorierte es.

Ein weiteres Klopfen. „Pakhet? Bist du da drin?“

Ach, dieser verfickte Idiot!

Sie war nun seit sechs Stunden in diesem Zimmer. Wahrscheinlich war es langsam Zeit, etwas zu essen. Doch dafür müsste sie das Zimmer verlassen, müsste mit ihm reden.

„Pakhet?“, war seine Stimme erneut zu hören.

Sie seufzte. Er war ihr Freund. Ihr vollkommen platonischer Freund. Sie konnte ihn auch nicht einfach so hängen lassen. „Ja“, erwiderte sie halblaut.

Sie kämpfte sich auf die Beine, ging zur Tür und öffnete sie. Heidenstein sah so müde aus, wie sie sich fühlte. Offenbar hatte auch er keinen Schlaf gefunden.

„Kann ich reinkommen?“, fragte er.

Sie seufzte. Nickte. Sie ging zu dem Tisch, auf dem ihr Arm lag, sah auf die kleine Anzeige am Ladegerät. Achtzig Prozent. Das sollte für den Tag reichen.

Sie löste die Prothese vom Ladegerät, löste die Abdeckung von ihrem Arm und befestigte die Prothese an dem aus ihrer Haut hervorragenden Metallbolzen, der der Prothese den Halt gab.

Heidenstein beobachtete all das von der Tür aus, schloss diese dann, kam zu ihr hinüber.

Er zögerte. „Ich wollte mit dir reden.“

Musste das sein? Sie nickte matt und fixierte den Blick auf dem Fernseher, der an einer Aufhängung von der Decke über der Zimmertür hing.

Heidenstein zögerte. „Ich habe letzte Nacht nichts getan, was du nicht gewollt hast, oder?“

Natürlich fragte er so etwas! Das bedeutete, dass sie auch noch darauf antworten musste. Sie stöhnte leise, genervt, aber ergeben. „Doc. Glaubst du wirklich, dass du hier noch stehen würdest, wenn es so gewesen wäre? Glaubst du, dass ich mich dann nicht gewehrt hätte?“

Er schwieg, schürzte die Lippen, nickte dann. Erleichtert. „Nein, glaube ich nicht.“ Wieder seufzte er. „Ich wollte nur sicher gehen.“

Sie sah ihn an, zögerte ihrerseits. Ach, verdammt. „Was letzte Nacht passiert ist, habe ich letzte Nacht auch gewollt. Es war nur eine extrem dumme Idee. Ich hätte es besser wissen müssen.“

Er nickte wieder. „Okay. Ich verstehe.“ Er versuchte ihr in die Augen zu sehen. „Wirklich, Pakhet. Ich verstehe. Es war nur Sex. Wir sind nur Freunde.“ Offenbar wollte er sie beruhigen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ja. Das.“

Sein Blick glitt durch den Raum, als er merkte, wie es ihr unangenehm wurde. Schließlich sah er auf seine Hände, die er auf dem Tisch gefaltet hatte. „Es tut mir leid.“

Sie schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme. „Es war meine Schuld.“ Sie hätte es nicht zulassen dürfen.

[24.07.2011 – X08 – Touristenfalle]

Zwei Tage später fühlte sie sich nur bedingt besser. Sie wusste noch immer nicht, wie sie mit Heidenstein reden sollte, wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er sagte, dass er verstand, doch sie glaubte ihm nicht. Er war sentimental, emotional, er meinte vielleicht zu verstehen, doch wenn er sie ansah, hoffte er doch mehr.

Also. Was sollte sie sagen?

An diesem Abend war sie allein weggegangen. Sie saß in einer Bar – eine von jenen exotisch eingerichteten Bars, wie sie von Touristen meistens heimgesucht wurden. Entsprechend herrschte ausgelassene Stimmung. In diversen Ländern auf der Nordhalbkugel der Welt, waren Sommerferien und so gab es einen Touristenboom. Immerhin war Südafrika selbst im hiesigen Winter warm genug, um am Strand zu liegen und zu tun, was auch immer Touristen so taten.

Pakhet saß an der Bar. Sie trug eine helle Bluse, eine enge schwarze Hose und zu allem Überfluss hochhackige Schuhe. Sie war sich beinahe sicher, dass dies ein dummer Scherz von Smith war. Es waren die einzigen Ausgehschuhe gewesen, die in dem Koffer, den er hatte bringen lassen, enthalten waren.

Vor ihr stand ein Glas Whiskey, dass an dem sie immer wieder nippte.

Verdammt, sie war hierher förmlich geflohen, um nicht zu riskieren, Heidenstein über den Weg zu laufen. Es war albern, sie wusste es, aber was sollte sie sonst tun? Sie konnte mit der Situation nicht umgehen. Man konnte einen viermeter großen Riesen vor sie stellen und sie zögerte keinen Moment. Doch soziale Situationen? Sie wusste nicht, was man sagen sollte. Nein, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn sie eine Rolle spielte, war es etwas anderes, doch als sie selbst?

„Bist du allein hier?“, fragte jemand.

Sie sah zu ihrer Rechten, wo ein Mann – hellhäutig, aber gebräunt, braunhaarig, sie schätzte ihn Mitte dreißig – sich auf dem zuvor leeren Barhocker nieder gelassen hatte.

„Fragt wer?“, erwiderte sie.

Er streckte ihr die Hand entgegen. Grinste. Sie kannte diese Art von Grinsen. „Mein Name ist Mason. Mason Bredley.“

Eigentlich sollte sie ihn wegschicken. Eigentlich hatte sie keine Lust. Doch dann wiederum  … Sie schüttelte seine Hand, griff sie fest. „Mary.“ Es war ihre falsche Identität unter der sie seit sieben Jahren lebte.

„Mary und weiter?“

Sie lächelte distanziert. „Einfach nur Mary.“

Für einen Moment verblasste sein Lächeln, doch dann kehrte es zurück, als er verstand. Sie wollte ihren Namen nicht mit einer Bekanntschaft für eine Nacht teilen. „Bist du allein hier?“, fragte er.

„Was, wenn es so wäre?“, erwiderte sie mit einem spitzen Lächeln.

„Dann würde ich fragen, ob ich dir einen Cocktail ausgeben darf“, antwortete er schelmisch.

Sie musterte ihn aus den Augenwinkeln. Ihr Lächeln war selbstsicher, aufreizend. Das hier war eine Rolle. Es war so viel einfacher. Sie nahm das Glas vor ihr und leerte den letzten Schluck. „Ich bin alleine“, bestätigte sie und wandte sich ihm zu. „Und du?“ Es war nicht so, als hätte sie den Ring an seinem Finger nicht bemerkt. Doch es war nicht ihre Schuld, dass er seine Frau betrog. Es war nicht ihre Schuld. Wenn sie ihn ablehnte, würde er jemand anderen finden.

Er lächelte. „Ich auch.“

[29.07.2011 – D23 – Angebote]

Ihre Laune verbesserte sich nach dieser Nacht zumindest etwas. Es war nur Sex, erinnerte sie sich. Sie hatte mit vielen anderen Männern vor Heidenstein geschlafen und sie konnte mit vielen weiteren schlafen. Es war schlecht gelaufen, dass sie mit ihm – jemand, den sie kannte, den sie respektierte – im Bett gelandet war, doch daran konnte sie nichts mehr tun. Sie musste damit leben und je eher sie dazu überging, normal mit ihm zu verkehren, desto eher könnte sie diesen Vorfall vergessen.

So saß sie nun in einer gemieteten Garage am Rand der kleinen Stadt. Auch wenn niemand etwas gesagt hatte, so fiel der Van vor dem Hotel auf und sie bevorzugte es ihren normalen Wagen oder – wenn sie einmal dazu kam – ihr Motorrad zu fahren. Dieses fiel auch auf, ja, doch war es wenigstens nicht von endlos vielen Dellen überzogen. Selbst ihr Wagen hatte Türen, die sich problemlos öffnen ließen und roch nicht, als hätte man eine Sammlung Eier über den ganzen Sommer stehen lassen.

Doch genau an diesen Problemen arbeitete sie gerade.

Wo sie schon hier waren konnten sie die Zeit auch nutzen. Der Wagen hatte eine Generalüberholung ohnehin nötig. Es gab ihr zu tun, brachte sie auf andere Gedanken – oder hätte dies zumindest getan, hätte jemand Gewisses nicht drauf bestanden ihr zu helfen.

Nichts desto trotz: Sie wollte sich ablenken, also lenkte sie sich ab.

Ein paar Anrufe hatten gereicht, um neue Türen zu besorgen und Ersatzteile für die Heckstange. Sicher, sie hätte alles reparieren lassen können, doch wenn sie es selbst tat, kam es sie billiger.

Im Moment war sie damit beschäftigt, die erste Tür aus ihren Scharnieren zu hebeln, nachdem sie sämtliche Sicherungen gelöst hatte.

Heidenstein nahm die Tür an, brachte sie in die Ecke, während sie sich an die Sicherungen der zweiten Tür machte.

Eine seltsame Stille herrschte und als sie aufsah, brauchte er einen Moment zu lang, um den Blick von ihr abzuwenden.

Wie immer beim Arbeiten, hatte sie einen Blaumann über Tanktop und Jeans gezogen, während Heidenstein einfache, abgetragene Sachen trug.

Erst jetzt schaffte er es, wenngleich wenig überzeugend, die Garagenecke zu fixieren.

„Was?“, fragte sie gereizt. Aktuell reagierte sie zu empfindlich auf diese Dinge. Lange Blicke, Seufzen … Sie kam nicht umher all diese Gesten im neuen Kontext zu interpretieren. Vielleicht tat sie ihm damit Unrecht, doch sie konnte nicht anders.

„Nichts“, erwiderte er.

Sie brummte missmutig, machte sich wieder an die Arbeit. „Jetzt sag schon? Was ist?“

„Ich habe nur worüber nachgedacht.“

Oh, bitte nicht darüber.

„Nicht das, was du denkst“, sagte er schnell.

Aha. Sie hob eine Augenbraue, warf ihm einen kurzen Blick zu.

„Ich hatte dich eigentlich worauf ansprechen wollen. Seit ein paar Wochen schon.“ Er seufzte. „Es ist nur denke ich nicht, der richtige Zeitpunkt.“

Wieso hatte sie bloß das Gefühl, dass ihre Antwort „Nein“ wäre? Wieder brummte sie. Jetzt kommunizierte sie wie Crash.

Stille senkte sich über sie, während sie die zweite Tür abmontierte. Es war schnell getane Arbeit. Als sie ihm die Tür übergab und seinen Blick bemerkte, stöhnte sie genervt. „Was ist denn?“

Er seufzte, stellte die Tür weg und setzte sich auf die nun offene Ladefläche des Transporters. „Okay. Ich hatte über etwas nachgedacht, bevor Spider und diese ganze Sache passiert ist.“

„Okay“, erwiderte sie. Was sollte sie sonst sagen? Sie lehnte sich gegen die Seite der Öffnung, verschränkte die Arme.

„Ich habe zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, dass ich mit dir hierherfahre, noch dass …“ Er räusperte sich nervös, schürzte die Lippen.

„Okay.“ Dieses Mal legte sie Nachdruck in ihre Stimme, drehte ihren Kopf, um ihn anzusehen. Warum kam er nicht zum Punkt?

Ein weiteres Räuspern. „Du weißt noch, wie wir darüber gesprochen haben, was du machen willst, wenn du aus der Söldnerei-Sache raus bist?“

„Du weißt noch, wie ich gesagt habe, dass ich nicht plane, in naher Zukunft damit aufzuhören?“

Er nickte. „Ja. Deswegen. Ich habe darüber nachgedacht und wollte dir ein Angebot machen.“

Sie schloss die Augen. Was sollte sie dazu sagen? Worauf wollte er überhaupt hinaus? Sie ahnte worauf, doch ganz konnte sie es nicht glauben. Was wusste er denn über sie? Das durfte nicht sein Ernst sein!

Als sie nichts erwiderte, räusperte er sich noch einmal. „Jetzt, wo ich wieder etwas Betrieb im Krankenhaus habe – und etwas Equipment – brauche ich etwas Security. Wir hatten in der Vergangenheit Diebstähle und ich muss damit rechnen, dass es auch in Zukunft welche gibt. Du weißt. Es ist nicht die beste Gegend und auch wenn ich mir sicher bin, dass viele die Arbeit respektieren werden …“ Was für ein Idealist! „Na ja, auch damit. Ich brauche Security und ich kann nicht immer Victors Leute anheuern.“

„Also willst du mich fragen, ob ich als Security für dich, also Joachim Anderson arbeite“, schloss sie.

Er nickte stumm, sah sie an. Als sie schwieg ergänzte er: „Ich hatte überlegt, dich als CSO einzustellen.“

Chief Security Officer. Ernsthaft? Sie konnte es nicht glauben. „Ernsthaft?“ Sie sprach den Gedanken aus.

Er schwieg.

„Du kennst mich kaum“, erwiderte sie. „Du weißt nicht, ob ich irgendeine Art von formeller Ausbildung erhalten habe. Du weißt nicht, was ich in meinem Leben vorher gemacht habe. Und dann willst du mir so viel Verantwortung geben?“

„Ja.“ Er sah sie an.

Was für ein Idiot! „Woher weißt du, dass ich dich nicht hintergehe?“

Er wandte den Blick nicht ab, schürzte wieder die Lippen. „Ich vertraue dir.“

Fuck. Warum war er so ein Idiot? Warum musste er so einen albernen Kram von sich geben? Es war absolut lächerlich! „Du kennst mich nicht“, beharrte sie.

„Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du eine aufrichtige Person bist.“

„Du weißt nicht, wer ich wirklich bin“, antwortete sie. Es stimmte. Sie war Pakhet, aber von ihrer Vergangenheit, von Joanne Snyder wusste er nichts. „Vielleicht habe ich dich die ganze Zeit angelogen.“

„Wenn du das getan hättest, würdest du es nicht so sagen.“ Ein mattes Lächeln umspielte seine Lippen. Er sah sie an. „Du musst nicht zustimmen, aber ich dachte …“ Er räusperte sich wieder, fuhr sich mit der Zunge kurz über die Lippe. „Ich dachte, ich biete dir eine Option.“

Idiot. Verfickter Idiot!

Sie unterdrückte ein frustriertes Stöhnen. Was sollte sie darauf sagen? Was konnte sie darauf sagen? Was wollte sie sagen? Wollte sie eine Option? Wollte sie mit ihrem Job aufhören? Sie müsste ihre alte Identität nicht wieder annehmen. Sie müsste ihre Vergangenheit nicht konfrontieren. Solange sie von den USA fernblieb, konnte sie ein anderes Leben haben. Vielleicht. Doch wollte sie es?

Sie war sich nicht sicher. Sie wusste es wirklich nicht. Natürlich gab es einen Teil von ihr, der überlegt hatte, einmal einen anderen Job zu machen. Es wäre nicht einmal unsinnig einen Zweitjob als Security zu haben. Immerhin war sie aktuell, zumindest auf dem Papier, auch als Security Spezialistin tätig. „Söldnerarbeit“ machte sich auf Steuerabrechnungen schlecht. Nicht, dass sie besonders viele Steuerabbrechnungen schrieb. Doch es ging ums Prinzip: Wann auch immer sie ihre Arbeit ausweisen musste, war sie offiziell als Security-Spezialistin tätig. Eine fortführende Tätigkeit als CSO wäre nicht unrealistisch – rein von ihrem falschen Lebenslauf aus betrachtet.

Sie seufzte. „Wäre es nicht sinnvoller für dich, mich als Sicherheitsberaterin einzustellen?“, murmelte sie, ohne ganz zu wissen, warum sie es überhaupt aussprach.

„Das kann ich von mir aus auch machen“, erwiderte er. „Wenn dir das lieber ist.“ Er verfiel in eine kurze Pause. „Ist dir das lieber?“

Eigentlich sollte sie wütender sein, dass er sich in diese Dinge einmischte. Wieso war sie es nicht? Wieder seufzte sie. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie dann. „Vielleicht.“ Sie sah ihn an. „Ich denke darüber nach, okay?“

Er lächelte. „Okay. Danke.“

Pakhet grummelte. Sie hasste es. Warum war er so freundlich? „Keine Erwähnung wert.“

Heidensteins Lächeln wurde kurz zu einem Grinsen. Er verstand was sie sagen wollte, fand ihre Art offenbar amüsant. Dann schürzte er wieder die Lippen, holte kurz sein Handy heraus. Wahrscheinlich wollte er sich etwas geben, auf das er seine Aufmerksamkeit fixieren konnte, um sie nicht weiter anzustarren.

Stille. Peinliche, leicht gedrückte Stille senkte sich über sie.

Pakhet stieß sich von dem Wagen ab, stampfte zu den noch in Schutzfolie verpackten Türen, hob die erste an, um sie zum Wagen zu bringen und einzuhängen. Was würde sie überhaupt mit dem Van machen, der als Chaosmobil eingesetzt worden war? Wollten Spider, Mik und Agent ihn haben? Sie glaubte nicht, dass Agent noch einmal mit den anderen beiden arbeiten würde.

Darüber konnte sie sich später Gedanken machen, schloss sie, wenn sie in Kapstadt zurück und sie beide, auch Heidenstein, sicher vor der Muti-Hexe waren.

Sie legte die Tür neben Heidenstein ab, woraufhin er das Handy wegsteckte, sich neben sie stellte. Er schien helfen zu wollen, wirkte aber unsicher. „Was kann ich tun?“

„Du könntest die Sicherheitsschrauben anziehen, wenn die Tür in den Angeln hängt“, erwiderte sie. Immerhin hatte er zwei geschickte Hände – anders als sie.

„Klar.“ Er ging zum Werkzeugkoffer, den sie aus ihrem Auto hatten, holte etwas heraus.

Sie hievte die Tür an, schaffte es, nachdem er sie annahm und leitete, die Tür in die Scharniere zu hängen, woraufhin er begann, die Schrauben anzuziehen. Damit fertig öffnete und schloss er die Tür, nickte zufrieden.

Dasselbe wiederholte sie, ohne große Worte, mit der zweiten Tür. Dankbarerweise waren moderne Wagen auf eine Art gebaut, dass solche Reparaturen leicht zu bewältigen waren.

Als sie fertig waren, holte Heidenstein tief Luft. Wieder schlenderte er in die Ecke zurück, in der seine Wasserflasche stand, wandte sich mit dieser in der Hand um und musterte Pakhet.

Wieder räusperte er sich.

„Was?“, fragte sie und setzte ihre eigene Flasche ab.

„Ich hatte dich eigentlich, zusammen mit dem Jobangebot, noch was anderes fragen wollen“, murmelte er. Dieses Mal wich er ihrem Blick aus.

„Ja?“

„Ja.“ Er schürzte die Lippen. „Es ist nur eine dumme Idee, weißt du?“

„Erzähl.“ Wollte sie es wirklich hören? Wahrscheinlich nicht. Dennoch wartete sie, die Arme wieder verschränkt, wenn auch noch immer mit der Flasche in ihrer Rechten.

Er musterte sie. „Ich möchte noch einmal betonen, dass ich dich das vorher hatte fragen wollen. Also bevor wir …“

„Ich verstehe schon“, sagte sie hart. Nein, sie wollte, was jetzt kam, wirklich nicht hören.

Heidenstein holte tief Luft, sah sie an. „Du warst in der letzten Zeit oft da. Also im Krankenhaus. Ich meine, vor der ganzen Aktion mit der Ölbohrinsel hast du häufiger bei mir geschlafen, als …“

„Was willst du sagen?“ Eigentlich wusste sie genau was. Natürlich hatte er Recht mit seiner Feststellung: Sie hatte zu viel Zeit bei ihm verbracht. Viel zu viel.

„Ich wollte dich fragen, ob du nicht dauerhaft einziehen willst“, erwiderte er. Dabei sprach er schnell, als würde er sich bereits für die unausweichliche Reaktion gefasst machen. „Als WG“, fügte er schnell hinzu. „Rein platonische WG.“

Sie starrte ihn an. Sie hatte gewusst, dass das kommen würde, doch nun, da er es ausgesprochen hatte, fehlten ihr dennoch die Worte.

Verdammter Idiot!

„Das kann nicht dein Ernst sein?“, brachte sie schließlich hervor.

„Ich fürchte schon, ja“, antwortete er. „Ich fürchte, es ist mein Ernst.“ Er versuchte ein Lächeln, das nicht ganz gelangt. „Ich bin halt so ein Idiot.“ War das ernst gemeint oder wollte er einnehmend wirken?

Sie sah ihn an. „Du hast ein beschissenes Timing“, stellte sie fest. Wieder fehlte die Wut – doch Frustration blieb dennoch.

Heidenstein lachte leise. „Ich weiß.“

Für einen Moment überlegte sie, etwas zu sagen, wandte sich dann aber ab. Sie ging zum Wagen, begann die Schutzfolie von den neuen Türen zu ziehen, während sie darüber grübelte. Eigentlich sollte es keine Frage zum Überlegen sein. Sie lebte aktuell zentral, in einer sicheren Gegend. Sie hatte ein schönes, wenngleich sehr leeres Haus. Ja, es war gemietet, doch was störte es sie? Er lebte dagegen in einer improvisierten Wohnung über einem Krankenhaus in den Flats. Es sollte keine Frage sein.

Warum dachte sie jetzt darüber nach?

Sie ärgerte sich über sich selbst. Kein Wunder, dass sie Idioten magisch anzuziehen schien. Sie war selbst einer.

„Ich kann dir keine Antwort geben“, antwortete sie schließlich.

Überrascht sah er sie an. „Das heißt, du denkst darüber nach?“

Offenbar. Sie seufzte. „Ja.“

[01.08.2011 – D24 – Wanderung]

Pakhet hatte einen Entschluss gefasst. Sie musste die Nacht einfach vergessen, dann würde sie auch dazu zurückkehren können, normal mit Heidenstein umzugehen. Er wusste, wie sie über die Sache dachte und sie vertraute ihm genug, dass er nichts versuchen würde.

Dennoch wünschte sie sich, einfach für einige Tage Abstand gewinnen zu können, sehnte sich danach, dass Smith ihr sagte, dass die Hexe tot war und sie würden zurückkehren können. Was sie jetzt brauchte, was ein Job – ein anspruchsvoller Job, bei dem sie sich verausgaben konnte.

Stattdessen wanderte sie nun mit Heidenstein um den Mandlazini herum. Sie hatte eigentlich allein gehen wollen, hatte sich aber zu schlecht gefühlt, ihn anzulügen, als er fragte.

Nun herrschte gedrücktes Schweigen zwischen ihnen, während sie den Pfad entlangschritten.

Sie war bewaffnet. Immerhin konnte hier allerhand aus dem Gebüsch springen. Gerade Leoparden waren aggressiv, wenn man ihr Territorium eindrang. Sie wollte nicht als Abendbrot eines Leoparden enden.

„Du solltest ein wenig entspannter sein“, meinte er. Seine Stimme war sanft.

Sie sah ihn an. „Ich bin total entspannt.“ Sarkasmus tropfte aus ihrer Stimme. Er sollte wissen, warum sie nicht entspannt war.

„Entschuldige.“ Schon wieder entschuldigte er sich. Er hatte sich so oft in den letzten Tagen entschuldigt.

„Schon gut“, erwiderte sie. Sie wusste, dass sie eingeschnappt klang.

„Vielleicht sollten wir etwas miteinander machen, bei dem wir von Leuten umgeben sind“, meinte er vorsichtig. „Wir könnten ins Kino.“

Pakhet presste die Lippen aufeinander. „Eher nicht.“

„Wir waren auch vorher schon gemeinsam im Kino.“ Er klang vorsichtig, wusste aber offenbar genau, warum sie ablehnte. „Man kann auch als Freunde ins Kino gehen.“

Sie unterdrückte ein Seufzen. Sie war keine Frau, die wegen einem Mann seufzte. „Ich weiß.“

„Also?“

„Vielleicht“, murmelte sie. „Aber nicht mehr heute.“

„Okay.“ Er lächelte ihr zu und verfiel wieder in tiefes Schweigen.

Fast hätte sich Pakhet gefreut, wären sie von einem wilden Tier oder vielleicht auch irgendwelchen Psychos angefallen worden. Dann hätte sie etwas tun können, anstatt hier schweigend neben ihm zu laufen.

Sie beschleunigte ihren Schritt, um etwas vor ihm zu gehen, sodass sie ihn nicht ansehen musste. Es war ihr unangenehm, da sie schnell den Eindruck hatte zu starren. Dabei war es doch er, der starrte.

Minuten vergingen. Wenn sie ihrem Gefühl vertraute, etwas mehr als vier.

Dann sprach er wieder. „Pakhet“, begann er und seine Stimme sagte ihr, dass er vorsichtig war, mit dem, was er ansprechen wollte.

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Was?“

„Du hast mir nie erzählt, wer du wirklich bist“, meinte er.

„Ja.“ Innerlich flehte sie ihn an nicht danach zu fragen. Verdammt noch einmal, sie wollte und konnte nicht darüber reden!

„Du weißt, wer ich bin“, stellte er fest.

„Ja“, erwiderte sie erneut. Sie schloss die Augen, zählte wieder bis zehn. Sie tat das in den letzten Tage zu häufig. „Doc“, versuchte sie es sanft. „Ich bin Pakhet in jeder Hinsicht, die zählt. Was macht es für einen Unterschied, wer ich vorher war?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keinen, nehm' ich an.“ Er seufzte dennoch. „Ich dachte nur …“

„Doc“, sagte sie langsam. „Die Person, die ich vorher war, ist tot. Ich bin nicht sie. Sie ist tot.“

Schweigend starrte er sie an. Mehrfach setzte er dazu an, etwas zu erwidern, doch jedes Mal hielt er sich davon ab. Er senkte den Blick, seufzte noch einmal. „Entschuldige, dass ich gefragt habe.“

Sie nickte und wandte sich wieder nach vorne, um weiterzulaufen. Sie betete innerlich, dass Smith sie bald anrufen würde. Noch ein, zwei Tage. Hoffentlich nur noch ein, zwei Tage.

[05.08.2011 – S05 – Entwarnung]

Es dauerte vier weitere Tage, ehe der Anruf von Smith kam. Es war am frühen Nachmittag, als Smith Pakhet anrief.

Wieder hatte sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen, atmete aber erleichtert auf, als sie Smiths Nummer auf ihrem Handy angezeigt sah.

„Was gibt's?“

„Hey, Pakhet. Ich hatte Bescheid geben wollen, dass euer Problem sich erledigt haben sollte.“

„Gott sei Dank“, murmelte sie.

Stille am anderen Ende der Leitung. „Was ist los?“, fragte Smith schließlich.

Pakhet seufzte. „Nichts. Ich werde meinen Urlaub nur etwas kürzer fassen als geplant.“ Sie sah zum Fenster des Zimmers, vor dem es wieder regnete. Dabei war es eigentlich Trockenzeit! „Das Wetter.“

„Nächste Woche soll es wieder besser werden“, meinte Smith.

„Vielleicht“, murmelte sie. „Aber ernsthaft. Ich habe genug von Richards Bay.“

„Wie du meinst.“ Smith schwieg kurz. „Heidenstein ist noch bei dir, oder?“

Leider. „Ja.“ Ihre Stimme blieb trocken, während sie sich weitere Anmerkungen verkniff.

„Ist mit ihm alles okay?“

„Ja“, erwiderte sie knapp.

Wieder schwieg Smith. „Ist zwischen euch alles okay?“, fragte er dann.

„Ja.“ Wahrscheinlich würde er sich seinen Teil denken.

„Okay“, meinte er nach einer weiteren Stille. „Wirst du Montag wieder auf der Arbeit sein?“

Gute Frage. Ein Teil von ihr wollte wieder Arbeiten und sei es nur, weil es ihr eine Möglichkeit gab, sich von allem abzulenken. Dann wiederum war die Möglichkeit, ihre Freizeit daheim zu verbringen, der beste Weg, etwas Abstand zu gewinnen. Außerdem hatte sie Robert seit knapp drei Wochen nicht mehr getroffen, wie er sie mehrfach via Mail erinnert hatte. „Nein. Ich denke, ich werde noch zuhause bleiben. Ich denke, ich kann ein wenig Ruhe gebrauchen.“

„Das denke ich auch“, meinte Smith gutmütig. Er schien zu lächeln. Dann holte er tief Luft. „Nun, dann sieh zu, dass du dich noch gut erholst. Ich sehe dich dann in einer Woche wieder.“

„Jap. Bis dann. Und danke wegen der Sache.“

„Sollte sich nicht Spider bei mir bedanken?“, meinte Smith.

„Frag ihm.“ Sie lächelte matt.

Smith lachte. „Werde ich. Bis dann, Pakhet.“ Damit legte er auf, während sie sich wieder auf das Bett fallen ließ.

Verdammt. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich verhalten sollte. Und das schlimme war, dass es niemanden gab, der es ihr würde sagen können. Sie musste einfach selbst damit klar kommen.

[07.08.2011 – R04 – Angespannt]

Zwei Tage später saß sie mit Robert zusammen in ihrer Wohnung vor einem Fernseher, wo sie einen dieser Comic-Filme zum wahrscheinlich zwanzigsten Mal gemeinsam sahen und dabei Pizza aßen.

Es tat unbeschreiblich gut, Robert hier zu haben. Robert, um den herum, sie nicht aufpassen musste, wie sie reagierte. Robert, bei dem sie absolut sicher sein konnte, dass er sie nur als Freundin sah. Sie konnte mit ihm scherzen, konnte mit ihm lachen, konnte mit ihm reden, ohne sich Sorgen zu machen, ob er sie falsch verstand.

Wie immer regte sich Pakhet während des Films über verschiedene Sachen, vor allem aber den Umgang mit Waffen auf. Filme waren einfach absolut unfähig Pistolen korrekt darzustellen. Entweder trafen die Leute – meistens, wenn sie Bösewichte waren – nichts oder die Waffen waren immer zu hundert Prozent präzise und töteten jeden der getroffen war sofort. Bitte, wie sollte man das ernst nehmen?

Dann würde sich Robert darüber lustig machen, dass sie darüber zu viel nachdachte.

Schließlich rollten die Credits wieder über den Bildschirm, während im Hintergrund irgendein Iron Maiden Song spielte. „Rule of Cool“, nannte man das wohl.

„Was?“, fragte Robin, als sie an dem kalten Tee, den sie ausnahmsweise trank, nippte.

Irritiert sah sie ihn an. „Was ‚was‘?“

„Du schaust aus, als würde dich etwas ärgern?“, meinte er.

Sie zuckte mit den Schultern und beobachtete stumm die weißen Zeilen, wie sie zum oberen Rand des Bildschirms wanderten und dort verschwanden.

Für eine Weile sagte Robert nichts, doch als die Credits schließlich beim „Second Unit Catering“ angekommen waren, schaltete er den Fernseher aus und musterte sie. „Gibt es etwas, worüber du mit mir reden willst?“

Musste er denn darauf rumhacken? Sie zuckte wieder mit den Schultern. „Ich wollte nur noch einmal sagen, dass es mir leidtut“, log sie schließlich. „Die letzten vier Wochen und all das.“

„Ich frage mich langsam, ob ich mir Sorgen machen soll“, meinte er. „Normal hast du immer Zeit für mich und im Moment …“ Er musterte sie misstrauisch, schien sich nicht ganz sicher über eine Sache zu sein. „Bei dir auf der Arbeit ist doch alles okay? Also … für die Verhältnisse deiner Arbeit gesehen.“

„Ja“, versicherte sie ihm. „Alles okay. Ich hatte dir doch von dieser Idiotentruppe, die ich trainieren musste, erzählt, nicht?“

Er nickte zur Antwort.

„Die hatten ihre Abschlussprüfung vor drei Wochen, wenn man so will“, meinte sie. „Und danach haben wir direkt einen anderen Auftrag reinbekommen.“ Technisch gesehen war es nur die halbe Wahrheit. Dazwischen war immerhin ein Wochenende gelegen, dass sie bei Heidenstein damit verbracht hatte, mit ihm zu reden und mit ihm Filme zu schauen. Sie hatte in letzte Zeit wirklich zu viel Zeit mit ihm verbracht. „Und dann hatte ich Urlaub und so hat sich das alles ergeben. Keine Probleme, nur viel Stress.“

Robert lächelte sanft, auf die für ihn übliche Art. Es hatte etwas Brüderliches. „Ich verstehe schon. Es war nur ein wenig einsam ohne dich.“

„Ich fühle mich geschmeichelt“, antwortete sie. Auch sie lächelte, wenngleich sie selbst bemerkte, dass ihr Lächeln matt ausfiel.

Sie hatte die Beine angezogen, sich am Sofa angelehnt und sah zur Decke.

„Ist das wirklich alles?“, fragte er nach einigen Sekunden.

„Ja.“ Sie konnte ihm davon nicht erzählen. Er konnte es nicht verstehen. Nein, er würde es wahrscheinlich besser verstehen, als sie selbst es verstand. Robert war mit diesen Sachen – emotionalen, sozialen Sachen – besser, als sie. Er verstand es. „Okay. Nein“, flüsterte sie schließlich.

Robert, rückte näher zu ihr, berührte sie aber nicht. Sie kannten sich seit über zwanzig Jahren. Er wusste zu gut, dass sie es nicht mochte. „Was ist passiert?“

Sie bemerkte, wie sie selbst die Lippen schürzte, ganz so, wie es Heidenstein immer tat. Wo sollte sie anfangen? „Bei der Chaostruppe ist ein Kerl.“ Was für ein Anfang.

„Ein Arsch?“, fragte Robert. Er kannte ihre bisherigen Erfahrungen in der Hinsicht nur zu gut. Meistens, wenn sie ihm von einzelnen Kollegen erzählte, war es, weil diese ein übergroßes Ego hatten, manipulative Arschlöcher oder Sexisten waren. Solange sie nicht ihre Persona annahm, in der sie in den Bars an manchen Abenden flirtete, wurde sie – anders, als manche anderen Söldnerinnen – nicht angeflirtet. Doch auch sie durfte sich dumme Sprüche anhören, meistens darauf bezogen, dass Frauen nicht zum Kämpfen geeignet waren. Bullshit, der Bullshit blieb, sie auf Dauer aber auf die Palme brachte.

„Nein“, sagte sie. „Eben nicht. Er ist okay. Ich würde ihn sogar als sympathisch bezeichnen.“

Robert sah sie an. „Und?“

Jetzt kam wohl die Stelle, an der sie ehrlich sein musste. „Er ist mit der Grund, warum ich so wenig Zeit hatte. Ich habe viel bei ihm rumgehangen und   …“ Sie biss sich auf die Zunge. „Ich kann gut mit ihm reden. Ich rede gern mit ihm.“

„Willst du was von ihm?“, fragte Robert gerade heraus.

„Nein!“ Sie rief das Wort beinahe aus, richtete sich auf. „Sorry“, murmelte sie einen Moment später. Sie seufzte. „Nein, ich will sicher nichts von ihm. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er was von mir will.“

„Hast du mit ihm darüber gesprochen?“

Okay, vielleicht war Robert doch nicht die beste Hilfe. „Ja, natürlich. Er hat mir versichert, dass er versteht, dass ich kein Interesse habe. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er es wirklich meint.“

„Vertraust du ihm?“, fragte Robert.

„Relativ, ja“, erwiderte sie. Sie vertraute Heidenstein mehr, als allen anderen Leuten, die sie kannte – mit Ausnahme von Robert vielleicht. Allein dieser Gedanke überraschte sie. Immerhin kannte sie Heidenstein gerade einmal drei Monate. Aber irgendwie … Er war wohl diese Art von Person, mit der sie gut auskam.

„Vertraust du dann nicht drauf, dass er es wirklich versteht? Selbst wenn er was von dir will, glaubst du, dass es zwischen euch stehen wird?“

„Das ist es ja“, murmelte sie. „Ich weiß es nicht.“ Sie war nie in einer solchen Situation gewesen. Normal hatte sie keine Freunde. Das nächste an einem Freund, dass sie neben Robert hatte, war Smith und sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine sowas je mit Smith zustande gekommen wäre, der immerhin fast ihr Vater sein könnte. Natürlich nicht! Allein die Vorstellung war albern.

„Vielleicht solltest du noch einmal mit ihm reden“, meinte Robert vorsichtig.

„Ja, vielleicht“, erwiderte sie. Sie hasste den Gedanken daran.

Robert schwieg. „Ich fürchte, ich kann dir nicht mehr sagen, ohne ihn zu kennen.“

Pakhet nickte. „Ich verstehe schon. Nicht schlimm, Rob.“

Er saß neben ihr und schaute auf den nun schwarzen Fernseher, ehe sich noch einmal ihr zu wandte. „Wie heißt der Kerl denn?“

„Doc“, erwiderte sie sofort. Dann korrigierte sie sich: „Sein Codename ist Doctor Heidenstein.“

„Ganz schön lang“, kommentierte Robert.

Wieder machte sich ein mattes Lächeln auf ihren Lippen breit. „Das habe ich ihm auch schon gesagt“, meinte sie.

[10.08.2011 – X09 – Perspektive]

Die Woche verging langsam. Pakhet verbrachte die Zeit vor allem mit Training, nachdem dieses in der letzten Zeit zu kurz gekommen war. Sie machte Ausdauertraining, Krafttraining, Schießtraining. Es half ihr, ihre Gedanken freizubekommen, sich neu zu fokussieren.

Nach drei Tagen spürte sie, die Anspannung nachließ. Nun, da sie Abstand zu Heidenstein und der Situation hatte, wurde es langsam möglich, das ganze aus einer rationalen Perspektive zu sehen. Es war, wie sie es gesagt hatte: Sie waren beide Erwachsene und es war nur Sex gewesen. Sie hatte mit ihm darüber geredet, hatte ihm erklärt, dass sie nichts von ihm wollte, dass sie eigentlich auch nicht mit ihm hatte schlafen wollen und er hatte es akzeptiert. Seither war Heidenstein vielleicht etwas unbeholfen, aber in keiner Art respektlos gewesen. Es gab keinen Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war ihm gegenüber unfair.

Dennoch mied sie es, ihm im Krankenhaus zu besuchen, auch wenn sie die Abende, an denen sie einfach nur dagesessen waren, eventuell etwas gebastelt und dabei geredet hatten, vermisste. Sie wäre zu gerne wieder zu dieser Routine zurückgekehrt.

Eine Sache konnte sie trotz des Abstandes nicht verdrängen: Eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, die verdächtiger Weise mit Michaels Stimme sprach. Eine kleine Stimme, die ihr immer wieder einredete, dass es ihre eigene Schuld war, da sie überhaupt so etwas wie Freundschaft zu einem Kollegen zugelassen hatte. Hätte sie ihm nicht vertraut, wäre sie nicht in ihrer Freizeit zu ihm gefahren, wäre es wahrscheinlich nicht soweit gekommen. Es war nicht ihr Stil, sagte die Stimme und hatte dabei Recht.

Doch was sollte sie tun?

Sie wusste, dass sie Heidenstein noch immer eine Antwort auf seine Angebote schuldete. Sie wusste, dass die Antwort in beiden Fälle „Nein“ sein sollte und doch konnte sie sich nicht ganz dazu durchringen. Denn auch er hatte nicht Unrecht: Sie konnte nicht ewig so weitermachen, wie bisher. Sie konnte nicht auf ewig als Söldnerin arbeiten. Auch wenn sie von ihrer Vergangenheit davonlief, war es doch keine sonderlich vielversprechende Aussicht. So würde sie irgendwann im Auftrag für eine Firma, vielleicht einen Staat, vielleicht einen Kriminellen sterben – an metallenen Fremdkörpern in Kopf, Herz oder Lunge, vielleicht auch zu großem Blutverlust. Ertrinken war auch eine Möglichkeit. Fakt war, dass sie sich nicht sicher war, ob das wirklich der Tod war, den sie sich wünschte.

Wenn sie als Mary Montgomery oder als sonst irgendjemand mit einem neuen Job anfangen würde, dann sollte sie die Möglichkeit doch nutzen, oder?

Sie sollte die Möglichkeit nutzen, sollte einen Neuanfang wagen. Und doch  …

Da war auch Michael. Michael, von dem sie wusste, dass er sie als seine persönliche Geldanlage ansah. Michael, der ihr damals ihre neue Identität und auch die erste Prothese bezahlt hatte. Michael, der sie hierher gebracht hatte und der sie sehr wahrscheinlich nicht so leicht gehen lassen würde. Ja, was würde Michael tun, wenn er davon wüsste?

[12.08.2011 – M10 – Check-Up]

Pakhets Plan Abstand zu gewinnen verlief für einige Tage erfolgreich. Es war der Freitag, an dem sie abends um zehn vor sechs einen Anruf von Murphy bekam. Was auch immer der Junge nun von ihr wollte.

Die Frage beantwortete sich, sobald sie abhob: „Ich bin schwer enttäuscht von dir, Pakhet.“

Sie hob eine Augenbraue, sich dessen bewusst, dass er davon nichts sah. „Aha?“

„Jetzt bist du fast eine Woche zurück und ich bekomme keinen Anruf, keine Nachfrage wie es mir geht. Dabei hatten du und der Doc mich armen Jungen einfach allein im Krankenhaus zurückgelassen!“

Oh ja, da war etwas gewesen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht mehr über Murphy und seine Vergiftung nachgedacht, seit sie an jenem ersten Tag in ihrem Urlaub aufgewacht war. „Es tut mir leid, Kid“, sagte sie und meinte es. „Ich hatte viel zu tun.“

„Du hattest Urlaub“, erwiderte er.

„Was nicht heißt, dass ich nichts zu tun hatte.“

„Aha“, meinte der Junge mit einem Tonfall, der einen Schmollmund vermuten ließ.

Sie seufzte. „Wie geht es dir denn?“

„Ich glaube ganz gut, aber ich sollte noch einmal untersucht werden, meinst du nicht?“ Also suchte er nur nach einer Möglichkeit sich mit ihr zu treffen?

Sie hatte nichts, um ihn zu untersuchen. Sie konnte kaum in der Zentrale die Sachen für ihn benutzen. „Wieso fährst du nicht zum Krankenhaus? Der Doc wird sich sicher um dich kümmern.“

„Treffen wir uns da?“, fragte Murphy.

Nein. Sie seufzte. „Eher nicht. Ich habe noch zu tun.“

„Mit den mysteriösen Urlaubsaufgaben?“ Er klang amüsiert. Dennoch war da eine Spur Beleidigung – eine wahrscheinlich wohlgeplante Spur.

„Ja“, sagte sie schlicht.

Schweigen. Dann: „Sag mal, hast du irgendwie Krach mit dem Doc oder so?“

„Nein“, erwiderte sie schnell – zu schnell.

„Dann kannst du dich ja auch mit mir treffen“, meinte er.

„Ich habe keine Zeit.“ Sie versuchte ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Sie konnte gut lügen, also warum glaubte er ihr nicht? Nein, die bessere Frage war: Warum hatte der Junge nicht genug Fingerspitzengefühl, um unabhängig davon, ob er ihr glaubte, die Sache einfach fallen zu lassen?

„Jetzt komm schon, Pakhet“, drängte er weiter. „Ich habe dich seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.“

„Und seit wann ist dir das so wichtig?“, fragte sie. Dabei konnte sie nicht verhindern, dass ein zynischer Unterton in ihren Worten mitschwang.

Als er antwortete, war sie sicher, dass er wieder sein typisches Murphy-Grinsen grinste. „Na, seit ich beschlossen habe, dass du für eine Erwachsene eigentlich ziemlich okay bist. Und seit du mir den Arsch gerettet hast.“

„Ah, ja.“ Sie brummte.

Er lachte. „Jetzt klingst du schon, wie Crash.“ Als sie schwieg fuhr er fort: „Jetzt komm. Du hast gerade nichts zu tun. Ich weiß das! Und wenn du nicht kommst, dann frage ich den Doc darüber aus, was zwischen euch beiden los ist.“

Würde Heidenstein es dem Jungen erzählen? Sie glaubte nicht, oder? Oder? Ach, verdammt, der Junge hatte eine Silberzunge und wenn sie ihn lang genug mit Heidenstein allein ließ … Wer wusste, was dann passierte? Am Ende bat Heidenstein ihn noch um Rat! Das würde ihm ähnlichsehen.

Sie schnaubte bei dem Gedanken. „Ist ja gut, Kid, ich komme.“

„Ha!“, frohlockte Murphy.

„Du bist anstrengend, weißt du das?“

Wieder lachte er. „Ich gebe mir Mühe.“ Natürlich war er darauf stolz. Natürlich. Es war Murphy.

[12.08.2011 – M11 – Neugierde]

Eine Stunde später fuhr sie vor Heidensteins Krankenhaus vor, dessen Parkplatz mittlerweile zu einem Drittel belegt war. Noch immer wirkte es leer, doch bei weitem nicht mehr so verlassen, wie noch vor zwei Monaten. Wenn man bedachte, dass viele Patienten kein Auto hatten, wirkte es sogar recht gefüllt. Wie er das wohl geschafft hatte?

Die Sonne war bereits untergegangen, so dass sämtliches Licht den Straßenlampen am Rand des Parkplatzes zu verdanken war.

Sie hasste die Gegend bei Nacht. Besser gesagt, hasste sie es um diese Zeit, durch die Flats zu fahren. Zwar konnte sie sich wehren, doch war der Gedanke an einen Überfall deswegen nicht reizender. Es war einer der Gründe gewesen, weswegen sie in den vergangenen Wochen so oft bei Heidenstein übernachtet hatte.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit, als sie die Treppe zur Straßenklinik hinabging. Sie wollte nicht wieder mit ihm sprechen. Noch nicht. Ja, sie wusste, dass sie nicht ewig davonlaufen konnte. Nun, sie konnte, aber es war nicht fair. Aber zwei, drei weitere Tage … wären die wirklich zu viel verlangt?

Der Flur der Straßenklinik lag dunkel und verlassen vor ihr. Einzig durch den Spalt der angelehnten Tür von Heidensteins Büro strömte Licht. Stimmen waren zu hören. Murphy und Heidenstein.

„Hat sie wirklich gesagt, dass sie kommt?“, fragte Heidenstein. Es klang, als würde er diese Frage nicht das erste Mal stellen.

Pakhet hielt inne. Sie wollte wirklich, wirklich nicht mit ihm sprechen. Sie konnte noch gehen. Solange die beiden sie nicht bemerkt hatten, konnte sie …

Murphy winkte ab. „Ach was, sie kommt schon. Sie macht sich echt Sorgen um mich.“ Ja, sicher Junge. Hätte mit ihm wirklich etwas nicht gestimmt, hätte sie schon lange von Crash gehört. Zugegebenermaßen wollte sie dennoch sicher gehen, dass seine Wunde verheilt war.

„Okay.“ Heidensteins Stimme klang nicht, als würde er ihm glauben.

„Du scheinst ja wirklich überrascht zu sein“, meinte der Junge. „Was ist zwischen euch beiden passiert?“

„Nichts“, sagte Heidenstein schnell. Seine Stimme strafte ihn einen Lügner, selbst ohne sein Gesicht zu sehen. Das musste auch der Junge merken, der für so etwas mehr Gespür hatte als sie.

„Sicher.“ Murphy klang amüsiert, beinahe hämisch. „Jetzt sag. Ich will die ganzen Details hören!“

„Murphy, es ist nichts zwischen uns passiert.“ Heidensteins Stimme war weiterhin unsicher, sagte jedoch deutlich, dass er nicht drüber sprechen wollte.

„Hat sie dir etwa einen Korb gegeben?“, fragte Murphy. Er war dabei erstaunlich nahe bei der Wahrheit.

Sie konnte das nicht länger mit anhören. Ach, verdammt, gerade verfluchte sie den Jungen, auch wenn sie fast sicher war, dass es nicht einmal Böswilligkeit war. Es hätte sie nicht gewundert, hätte er versucht, auf diese Art zu helfen. Er nervte dennoch und ja, sie wollte nicht, dass er davon wusste. Es ging ihn nichts an.

Mit entschlossenen Schritten trat sie auf die Tür zu und warf sie auf. „Da bin ich“, grummelte sie und schenkte dem Jungen einen strafenden Blick.

Er hob die Arme und grinste. „Pakhet!“

„Kid“, erwiderte sie. Sie fixierte ihn für zwei Sekunden, ehe ihr Blick kurz zu Heidenstein wanderte. Sie nickte ihm zu, er erwiderte ihr Nicken, dann senkten sie beide den Blick.

Wunderbar, jetzt verhielt sie sich wie ein Teenager. Großartig. Wirklich großartig.

„Und da dachte ich schon“, meinte Murphy mit der Miene eines leidenden Dramendarstellers, „dass du dein Kid vergessen hast.“

Sie musterte ihn wenig amüsiert. „Hat der Doc dich schon angesehen?“

„Ich habe ihm Blut abgenommen“, erwiderte Heidenstein. „Zu mehr bin ich noch nicht gekommen, ehe er mich ausgefragt hat.“

Sie nickte, bedachte ihn mit einem weiteren kurzen Blick, ehe sie ihre Aufmerksamkeit Murphy widmete. „Zeig mir dein Bein.“

Jeder andere hätte wohl einfach die Hose hochgekrämpelt. Nicht so Murphy, der die Hose gleich ganz auszog. Zumindest ließ er die Unterhose an und ersparte ihr damit entsprechende Peinlichkeiten.

Sie tauschte einen kurzen Blick mit Heidenstein und bugsierte Murphy in den gegenüberliegenden Behandlungsraum. Hier drückte sie erst Murphy auf die Liege, ehe sie die Lampe darüber anschaltete, um sich das Bein besser ansehen zu können.

Eigentlich wäre es sinnvoller, wenn Heidenstein ihn untersuchte. Doch sie wollte etwas zu tun haben, wollte einen Grund haben, Heidensteins Blick zu meiden, weshalb sie sich Murphys Wunde ansah – oder das, was davon übrig war.

Viel war es nicht. Einzig ein Ring aus hellerer Haut, der sich um sein Fußgelenk zog, war von der Verätzung geblieben. Die Reizungen am Unterschenkel waren komplett verschwunden.

Sie machte weiter, so gut sie konnte. Sie maß den Puls des Jungen, seinen Blutdruck, sah in seine Augen, fragte nach Symptomen.

„Och, mir geht es blendend“, meinte Murphy und grinste. „Soll ich vielleicht noch einen Fitnesstest machen?“

Sie verstand sehr wohl, was er meinte, grinste aber sardonisch. „Gute Idee. Zwanzig Minuten auf dem Laufband klingen doch super.“

Er zwinkerte, grinste. Offenbar hatte er mit so einer Erwiderung gerechnet. „Kannst du mir nicht einfach glauben?“

„Kann ich das?“, murmelte sie. „Vielleicht sollte ich Crash mal fragen, was er dazu meint.“

„Er wird dir bestätigen können, dass meine Ausdauer in jeder Hinsicht gesteigert wurde.“ Er hustete trocken, ehe er unter dem Atem hinzufügte: „So, wie er mich durch die Gegend jagt.“ Noch ein Husten. „Das meine ich übrigens wortwörtlich, Pakhet. Der bedroht mich.“

„Meistens, nachdem du ihn ärgerst, oder?“ Sie musterte ihn amüsiert.

„Ich und ihn ärgern?“ Murphy schaute unschuldig, grinste dann aber wieder weit. „Ja, gut, ein wenig. Ab und an. Wobei Alice das auch kann und die jagt er nie.“

„Du kommst also gut mit ihr aus?“ Langsam fragte sie sich, was es mit dem Mädchen auf sich hatte, das sie bisher nie gesehen hatte.

Murphy schenkte ihr einen vielsagenden Blick. „Alice ist super.“

Okay. Vielleicht hatte Crash mehr als einen Grund Murphy durch die Gegend zu jagen.

„Zurück zu deiner Gesundheit“, meinte sie rasch. „Also. Keine Übelkeit?“ Ein Kopfschütteln. „Kein Schwindel?“ Wieder Kopfschütteln. „Kopfschmerzen?“ Dasselbe.

Sie seufzte und schaute schließlich zu Heidenstein. „Was meinst du dazu?“, zwang sie sich zu fragen.

Heidenstein hatte mit verschränkten Armen an der Wand gestanden und kam nun hinüber. „Lass mich mal sehen“, meinte er. Auch er sah Murphy in die Augen, in den Hals und fühlte seinen Puls. Schüttelte schließlich aber den Kopf. „Es scheint alles in Ordnung zu sein.“

„Also kann ich weitermachen, wie bisher?“, fragte Murphy.

Pakhet schenkte ihm einen herablassenden Blick. „Solange du verhütest.“

„Immer!“, meinte er. Dann überlegte er. „Na ja, meistens.“

Natürlich. Sie verdrehte die Augen.

„Ich werde schauen, was deine Blutwerte sagen. Aber rein symptomatisch gesehen, scheint alles in Ordnung zu sein“, meinte Heidenstein. „Du kannst also beruhigt nach Hause gehen.“

Wieder grinste Murphy. „Juhu.“ Dann wandte er sich an Pakhet. „Was sagst du? Gehen wir zur Feier des Tages ein Eis essen?“

Was hatte er nur mit dem Eis? „Hast du nicht Arbeit zu tun?“

„Nein, für heute Abend bin ich frei“, meinte Murphy und zog gewohnheitsmäßig das Handy aus der Jeansjacke hervor, die er trug. Dann seufzte er schwer, verzog den Mund. „Oder doch nicht. Man, kann der Große denn nichts ohne mich tun?“

„Was ist?“

„Ich soll noch mal mit dem Trainer sprechen oder so“, meinte Murphy und sprang von der Liege, auf dessen Rand er die ganze Zeit gesessen war. „Sorry, Pakhet, das Eis muss wohl bis zu einem anderen Mal warten.“

Sie verdrehte nur die Augen, während er bereits zur Tür stürmte.

Hinter dieser blieb er noch einmal kurz stehen. „Danke, dass du hergekommen bist!“ Er hob die Hand zum Abschied und war im nächsten Moment auch schon verschwunden.

Sie lächelte matt, schüttelte den Kopf und wurde sich einen Moment später dessen bewusst, dass sie mit Heidenstein allein war.

[12.08.2011 – D25 – Rückkehr]

Stille herrschte zwischen ihnen, ehe Pakhet sich räusperte.

Sie nahm ihre Jacke, die sie auf dem Arztstuhl abgelegt hatte, um sie sich überzuwerfen. „Ich sollte vielleicht auch gehen“, meinte sie rasch. Verdammt, sie wollte jetzt nicht mit ihm allein sein! Ja, es war feige, doch im Moment … Sie konnte es einfach nicht.

„Einfach so?“, fragte er.

Kurz sah sie ihn an, senkte aber schnell wieder den Blick. „Ja, warum nicht?“ Sie wandte sich zum Gehen, als er erneut sprach.

„Warte, Pakhet. Bitte.“ Er seufzte leise. „Pakhet. Ich verstehe, dass du mir aus dem Weg gehst. Ich verstehe, dass du Abstand brauchst. Wirklich. Aber … Wie lange willst du noch so weitermachen?“

Sie schüttelte den Kopf und machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu. „Ich weiß es nicht.“ Damit streckte sie die Hand nach der Türklinke aus.

„Pakhet“, drängte er. Ein weiteres Seufzen. Ein Räuspern. Wahrscheinlich schürzte er wieder die Lippen. „Hast du darüber nachgedacht, worüber wir gesprochen haben? Du weißt, das Angebot?“

Sie schwieg. Ohne es zu wollen, hatte sie die Kiefer aufeinandergepresst, die Stirn in Falten gelegt. Wie sollte sie denn mit ihm reden? „Hättest du es ihm gesagt?“ Es war albern eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, doch ihr fiel nichts Besseres ein.

„Was?“ Verwirrung sprach aus Heidensteins Stimme.

Noch immer hatte sie ihm den Rücken zugewandt, auch wenn sie wusste, dass er direkt hinter ihr stand. „Als ich angekommen bin. Er, das Kid, er hat dich gefragt, was passiert ist. Hättest du es ihm gesagt?“

„Was?“ Er brauchte einen Moment, ehe er wirklich verstand. „Nein! Natürlich nicht. Es geht ihn nichts an.“ Er gab seinen Worten Nachdruck, schien empört über ihre Frage. Vielleicht war sie auch albern.

Sie nickte.

„Pakhet“, versuchte er es erneut. „Ich mache mir Sorgen um dich. Bist du dir sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

Natürlich machte er sich Sorgen. Was auch sonst? Es war diese Art von Mann … „Ja, es ist alles in Ordnung“, sagte sie halbherzig. Sie wollte die Türklinke runterdrücken, als er die Hand auf ihre Schulter legte.

„Sieh mich zumindest an, Pakhet“, meinte er ruhig.

Sie wollte nicht, aber dennoch zwang sie sich, sich umzudrehen. Sie sah ihm in die Augen und war halb überrascht, festzustellen, dass genau so groß war, wie sie – vielleicht sogar einen Zentimeter größer. Sie vergas es immer wieder.

Er musterte und tatsächlich sprach Sorge aus seinem Blick. „Ich will nicht, dass die Sache zwischen uns steht. Pakhet. Es tut mir wirklich leid, was passiert ist. Wirklich.“ Sein Blick war weicher, als er hätte sein sollen. „Ich will nicht verlieren, was wir hatten. Ja? Bitte.“

Verdammt.

Sie schloss die Augen. „Schau, Doc. Ich …“ Ja, sie. Was? Was wollte sie sagen? „Ich will nicht, dass sich irgendwas verändert, okay? Ich will nicht, dass die Sache irgendwas verändert.“

„Du bist diejenige, die Sachen verändert.“ Kein Vorwurf sprach aus seiner Stimme. Es war bloß eine Feststellung.

Verdammt. Warum musste er sie so ansehen? „Ich weiß“, presste sie hervor, frustriert mit sich selbst. „Aber, Doc, ich … Okay, du bist ein Freund, ja? Und ich will dich nicht verletzten.“ Hatte sie das wirklich gesagt? Fuck! „Ich meine, ich will nicht, dass du missverstehst.“

Ein mattes Lächeln glitt über sein Gesicht. „Ich missverstehe nicht. Wirklich nicht. Du hast dich mehr als deutlich ausgedrückt: Für dich war all das ein Missgeschick und etwas, das nicht wieder vorkommen wird. Ich kann das respektieren, wirklich. Mir reicht es, einfach nur Freunde zu sein.“ Er schaute sie auf eine Art an, die sie nicht einordnen konnte. „Ich halte große Stücke von dir. Ich vertraue dir. Ich will deine Freundschaft wegen der Sache nicht verlieren.“

Sie schloss die Augen und verfluchte sich selbst. Wie schaffte er nur, dass sie sich wegen der ganzen Sache schlecht fühlte? Schließlich zwang sie sich, ihn anzusehen. „Ich weiß“, sagte sie leise. „Es tut mir leid. Ich wollte nur nicht, dass …“ Sie schüttelte den Kopf. Sie musste sich nicht wiederholen. „Ich werde versuchen das Ganze zu vergessen.“

Er nickte, lächelte.

Schweigen.

Schließlich sah er sie an. „Du weißt, dass das Angebot ernst gemeint war. Ja?“

Sie nickte. Natürlich meinte er so etwas ernst. Er war nicht derjenige, der über so etwas scherzte. „Ja, ich weiß.“

„Hast du darüber nachgedacht?“

„Ja, habe ich“, erwiderte sie. „Aber ich weiß noch immer nicht. Ich habe meinen Job. Ich mag meinen Job. Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich meine, ich kann es versuchen. Für dich arbeiten, meine ich. Aber nicht voll. Und nur …“ Wie sollte sie mit ihm darüber reden, ohne zuviel zu verraten? „Ich möchte vorher mit Mr Forrester sprechen, weißt du?“

Er zögerte, nickte dann aber. „Ich denke, ich verstehe.“ Er holte tief Luft, sprach erneut. „Und die andere Sache?“

Er wollte wirklich eine Antwort.

Sie hatte den Gedanken daran in den vergangenen Tagen mehrfach im Kopf hin und her geworfen. Es wäre dumm von ihr, zuzustimmen. Wenn sie die ganze Zeit beisammen wären, waren weitere Missverständnisse vorprogrammiert. Davon einmal abgesehen, dass es aus ihrer Sicht dumm wäre. Nein, es war nicht der richtige Zeitpunkt. Definitiv nicht. Auch wenn, so sehr sie sich auch bemühte, den Gedanken daran zu verdrängen, ihr Haus ihr mittlerweile seltsam leer vorkam.

„Nein, Doc“, meinte sie. „Nicht … Nicht jetzt. Es wäre aus meiner Sicht dumm, meinst du nicht?“

Er lächelte matt. „Wahrscheinlich.“

Wieder senkte sich Schweigen zwischen sie. Dann holte sie tief Luft. „Ich werde Montag mit Mi…“ Sie unterbrach sich. „Mit Mr Forrester sprechen. Und dann … schauen wir mal, ja?“

Er nickte, lächelte.

„Dennoch“, flüsterte sie. „Lass mir drei, vier Tage für mich, ja? Ich brauche noch etwas Abstand.“

Wieder nickte er. „Mit drei, vier Tagen kann ich, denke ich, leben.“

Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln und wandte sich wieder der Tür zu. „Ich melde mich dann bei dir.“

„Okay. Komm gut heim.“

„Was soll schon passieren?“, meinte sie und konnte sich dabei selbst tausend Antworten auf diese Frage ausmalen. Dennoch öffnete sie die Tür und verließ den Raum, schritt ohne ein weiteres Wort des Abschieds den Flur hinab.

Erst als sie an der Treppe ankam, bemerkte sie, wie seltsam sie sich fühlte. Es war wirklich albern. Sie sollte darüber nicht so viel nachdenken.

[15.08.2011 – F04 – Schlange]

Murphy schien sich die Sache mit dem Eis in den Kopf gesetzt zu haben. Pakhet fand sich am Samstag Nachmittag mit ihm und Crash zusammen in einem Eiscafé – Crash zahlte. Anders, als sie erwartet hatte, machte Murphy keine Anstalten, sie über die Ferien auszuhorchen. Vielleicht war es nur, weil Crash dabei war.

Das Wochenende verging und am Montag fand sie sich in der Firma und auf dem Weg in die oberste Etage wieder, die sie eigentlich mied. Innerlich schimpfte sie sich verrückt, während sie den Flur in Richtung Michaels Büro entlangstampfte. Sie hatte es Heidenstein versprochen. Ja, sie hatte es Heidenstein versprochen. Dennoch ahnte sie, dass es nicht gut ausgehen würde.

Sie klopfte an Michaels Bürotür, wartete darauf, seine Stimme zu hören. Er würde da sein. Er war immer da und hatte für einen Geschäftsführer erstaunlich selten Besprechungen. Warum war er überhaupt da? Wahrscheinlich nur, um sich wichtig zu fühlen.

„Ja?“, erklang schließlich seine Stimme.

Sie öffnete die Tür, trat hindurch.

„Pakhet, meine Liebe“, meinte er mit seinem üblichen, falschen Lächeln. „Na, hast du deine Ferien genossen?“

„Ja“, log sie kühl. „Ich wollte mit dir sprechen.“

Er wies auf den Stuhl ihm gegenüber, wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe fortfuhr: „Ich habe gehört, dass du mit dem guten Doktor im Urlaub warst. Ich bin ja wirklich schockiert. Seit wann bist du denn so jemand?“

Sie durfte sich nicht reizen lassen. „Du wirst sicher auch davon gehört haben, warum er mitgekommen ist?“

„Ja, irgendetwas von einem Muti-Fluch?“

„So in etwa“, erwiderte sie spitz.

Michael musterte sie mit einem hochnäsigen, herablassenden Blick. Noch immer umspielte ein Grinsen seine Züge. „Und? Wie steht es? Hat er dich schon um den Finger gewickelt?“

Sie hätte wissen müssen, dass das Gespräch so verlaufen würde. „Er ist ein guter Freund.“

„Also hast du wirklich mit der ‚Freunde‘ Sache angefangen, eh?“, meinte Michael. „Erst Freunde, dann mehr und am Ende gründest du noch eine Familie?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, dass es nur eine Phase ist. Vielleicht sollte ich Smith feuern. Immerhin ist sein kleines Experiment daran Schuld, oder?“

Anders als Michael, war Smith zumindest für sie – und für die anderen Söldner – da, wenn man Hilfe brauchte. Hochhackige Schuhe hin oder her. „Warst du es nicht, der die Idee eingebracht hat, mich als Teamleiter für das kleine Experiment einzubringen, nachdem der erste Auftrag der Chaoten wortwörtlich in die Luft gegangen ist?“ Zugegebenermaßen riet sie nur, doch hatte sie mit den Jahren gelernt, mehr Wissen vorzuschützen, als sie eigentlich hatte. „Wahrscheinlich wegen dem Auftrag davor. Der Sache in Durban, oder? Beziehungsweise wohl eher meine absolut undankbare“ – sie bemühte sich um einen sehr sarkastischen Unterton – „Reaktion auf die Planung.“

Michael lachte. Er lachte wirklich. Bemühte er sich eigentlich, wie ein Superbösewicht zu wirken? Hatte er Spaß daran?

„Okay“, meinte er nach einer Pause. „Ich gebe dir den Punkt.“ Er musterte sie. Berechnung lag in seinem Blick. „Aber davon einmal abgesehen: Warum bist du hier?“

„Ich werde für die nächsten Monate“ – sie hielt sich absichtlich vage – „einen anderen Job nebenher machen. Entsprechend werde ich nicht immer abrufbereit sein.“

Michael wirkte nicht überrascht. Manchmal fragte sie sich, ob seine Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen, gänzlich mit rechten Dingen zugingen. „Einen anderen Job?“

„Ja.“ Sie würde nicht weiter ausführen, was für ein Job es war. Er würde es herausfinden, aber sie musste es ihm nicht erklären.

„Was bringt dich auf diese Idee, hmm?“ Eisige Kälte lag in seinen Augen. „Bist du etwa nicht mehr zufrieden, Jojo?“

Sie erwiderte seinen Blick eisern. „Das geht dich nichts an. Du besitzt mich nicht.“

Das Lächeln, das seine Lippen umspielte, gefiel ihr nicht. „Warum immer so feindselig, Jojo?“

„Weil du Abschaum bist, Michael. Du bist ein gewissenloses Arsch, dass jeden, wirklich jeden unter den Bus werfen würde, um seinen eigenen Profit zu erhöhen.“

„Das ist richtig“, antwortete er nüchtern. „So funktioniert das Geschäft halt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das sollte dich aber auch daran erinnern, dass auch du ersetzbar bist. Soweit ich mich erinnere, gibt es noch immer einen Haftbefehl gegen dich, oder, Ms Snyder?“

Sie wich seinem Blick nicht aus. Es war die Reaktion, mit der sie gerechnet hatte. Sie wusste, dass er Macht über sie hatte. Er wusste zu viel über sie, darüber wo sie hergekommen war und warum. „Ich sehe nicht, wieso es ein Problem sein sollte. Ich mache meistens einen Job die Woche, brauche dafür selten mehr als zehn Stunden. Ich kann meine andere Zeit auch sinnvoller verbringen, als auf dem Laufband Zeit totzuschlagen.“

Schweigen. Noch immer hatte er seine Augen auf sie fixiert. Dann veränderte sich sein Lächeln, wurde wärmer, herzlicher, auch wenn seine Augen dieses Mimenspiel Lügen straften. „Mach, was du willst.“

Sie wartete, auf das fraglos folgende „Aber“.

Michael lehnte sich zurück. „Ich nehme an, dein neuer Job ist für Dr. Anderson?“

Wahrscheinlich hatte eine kleine Änderung in ihrer Mimik sie verraten, denn der hungrige, kühle Ausdruck kehrte Prompt stärker als zuvor auf seine Züge zurück.

„Mach, was du willst, Jojo“, meinte er. „Du wirst schon sehen, wohin es dich bringt.“

„Ist das eine Drohung?“, fragte sie.

Er winkte ab. „Keine Drohung. Eine Feststellung. Wieso sollte ich etwas tun? Du wirst es doch selbst sehen, wohin dich Vertrauen bringt.“

Ging es ihm darum?

Er lachte kurz. „Freundschaft“, murmelte er verächtlich und schüttelte den Kopf.

„Solltest du vielleicht einmal probieren“, meinte sie. Sie sah ihn an. „Dann habe ich dein Einverständnis?“

Er zuckte mit den Schultern. „Mach, was du willst. Wirklich.“

Pakhet zwang sich zu einem Lächeln, stand auf. „Danke, Michael.“

Er hob die Arme in einer selbstgefälligen Geste, während sie zur Tür ging. „Du wirst schon sehen“, sagte er noch einmal, als sie die Tür erreichte.

Sie erwiderte nichts, drückte die Türklinke runter und verließ sein Büro. Sie mochte irgendetwas in seiner Stimme nicht. Etwas ließ sie ahnen, dass er sie früher oder später hierfür bestrafen würde.

[19.08.2011 – M12 – Leiterhalter]

Unbewusst wartete Pakhet darauf, dass Michael etwas tat. Doch für den Moment war er still.

Sie hatte eine ruhige Woche. Ein Einsatz – Personenschutz. Sie trainierte den Rest der Zeit, begann Donnerstags mit der Arbeit für Heidenstein. Da sie nichts Besseres zu tun hatte, fand sie sich auch Freitag im Krankenhaus wieder. An diesem Nachmittag jedoch nicht allein.

Aus welchem Grund auch immer: Murphy war hier. Natürlich hatte er eins und eins zusammengezählt, schien nahezu begeistert von der neuen Ausgangslage.

„Jetzt hast du es bei dem Großen und mir gesehen und willst uns nachmachen, eh?“ Er stand unter ihr, hielt die Leiter, auf der sie stand.

Sie war damit beschäftigt, eine Überwachungskamera zu kontrollieren, da die Flure des Krankenhauses notgedrungenerweise videoüberwacht waren. Die Hälfte der Kameras brachte jedoch nur ein griesiges Bild. Die andere Hälfte fehlte vollkommen, war offenbar gestohlen oder verkauft worden. Sie kontrollierte die Kamera, unter der sie jetzt stand, da auch sie ein schlechtes Bild gegeben hatte. Die Verkabelung war mitgenommen, steckte nicht wirklich drin.

„Ignorierst du mich?“, fragte Murphy.

Sie lächelte matt. Warum war sie nicht mehr von ihm genervt? Trotz seiner Art fand sie den Jungen mittlerweile charmant – auf eine äußerst kindische Art. Er war halt nur ein Teenager. „Ich ignoriere dich nicht, Kid. Ich frage mich nur, ob du nicht bei deinem großen Schützling sein solltest.“

„Der ist beim Training. Da braucht er meine Hilfe nicht“, meinte Murphy. „Ich bin sein Manager, nicht sein Babysitter.“

„Mr Teenage Manager, hmm?“, meinte sie.

„Bitte. Als Mr Ravin bin ich bereits 32 Jahre alt und habe schon den ein oder anderen Star gemanaged – drüben, in Australien“, erwiderte er und grinste.

Sie schüttelte den Kopf. Würde man bei dem „ein oder anderen Star“ nachfragen, was würde dann passieren? Diese Art von falschem Lebenslauf, flehte geradezu darum, widerlegt zu werden.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Kamera zu, überprüfte die Kabel noch einmal genau, ehe sie von der Leiter stieg. Sie nahm das Notizbrett, dass auf dem Boden lag, notierte die Fehler, klappte die Leiter zusammen, trug diese weiter.

„Du musst mir gegenüber nicht immer auf Ms Supercool machen, Pakhet“, meinte Murphy. „Innerlich bist du wie Crash. Ein richtiger Teddybär.“

„Ich würde nicht darauf wetten“, erwiderte sie, schenkte ihm aber ein Lächeln. Sie ging den Flur hinab, bis sie zur nächsten Kamera kam. Sie überprüfte den Zettel. Von dieser Kamera hatte sie gar kein Bild bekommen. Die Kamera war aber noch vorhanden.

Wieder stellte sie die Leiter ab, kletterte hoch, schraubte die Glasabdeckung, der in die Decke eingelassenen Kamera ab.

„Willst du mir nicht endlich erzählen, was zwischen dir und dem Doc im Urlaub passiert ist?“, fragte Murphy, während er wieder die Leiter hielt. Zumindest machte er sich nützlich.

Sie schenkte ihm einen kurzen Blick, wandte sich der Kamera zu. Sie musste Heidenstein echt fragen, wer die Verkabelung vorher reingezogen hatte. Denn hier waren nicht einmal Kabel angekommen. „Definitiv nicht.“

„Ach, jetzt komm schon, du kannst mir vertrauen. Und ich bin wirklich, wirklich gut in Beziehungsangelegenheiten.“

„Uhum“, brummte sie.

Alles, was sie annehmen konnte, war, dass die Sicherheitsmaßnahmen verwahrlost war, während das Krankenhaus nicht wirklich genutzt worden war.

„Okay, wenn du nicht redest“, meinte Murphy, „soll ich dir dann erzählen, was ich glaube, was passiert ist?“

„Kein Interesse“, murmelte sie, schraubte wieder die Glasabdeckung drauf, kletterte von der Leiter, machte sich ihre Notiz.

„Also, ich glaube, dass  …“, begann er.

Sie warf ihm einen bösen Blick zu. „Kid, ich will es nicht wissen.“ Damit klappte sie die Leiter zusammen, ging weiter. Sie war am Ende der aktuellen Station angekommen. Die „Innere“ – nicht, dass es aktuell viel mehr als eine Station gab. Leute, die herkamen, waren entweder verletzt oder hatten einfache Krankheiten, die meist aufgrund eines Mangels an Medikamenten schwerer geworden waren. Manche von ihnen konnten zahlen. Es gab genug, die in den Flats lebten und wirkliche Jobs in der Stadt hatten, aber aus dem einen oder anderen Grund dort blieben. Mal zahlten die Jobs nicht genug, mal konnten sie sich keine Wohnungen für ihre ganze Familie leisten. Andere hatten wieder andere Gründe. Dennoch fragte sie sich, ob Heidenstein aktuell einen Gewinn machen konnte. Wovon bezahlte er sie überhaupt?

„Ich glaube“, begann Murphy erneut, offenbar fest entschlossen, seine Interpretation der Ereignisse loszuwerden, „dass du und der Doc in den Ferien zusammen im Bett gelandet sind.“

Volltreffer. Was hatte sie auch anderes erwartet?

Sie erwiderte nichts, baute stattdessen die Leiter wieder auf.

„Und weil du nicht weißt, wie du damit umgehen sollst, bist du nun noch griesgrämiger als zuvor. Und natürlich hat es dem Doc mehr bedeutet und deswegen weißt du jetzt nicht, was du ihm gegenüber tun sollst.“

Hatte der Junge auch noch Fähigkeiten Gedanken zu lesen? Es würde sie nicht überraschen.

„Liege ich richtig?“

„Kid, ich habe gesagt, dass ich darüber nicht rede“, erwiderte sie und schenkte ihm einen strafenden Blick. „Halt lieber die Leiter fest.“

„Pakhet, ich sage dir was. Das ganze ist nicht schlimm. Ich meine, wieso machst du dir überhaupt so viele Gedanken darüber. Ich meine du magst den Doc doch, oder?“

Und genau das war das Problem. Sie mochte ihn – als Freund. Nur als Freund. Wieder brummte sie.

„Warum willst du nicht darüber reden?“

„Weil es dich nichts angeht, Kid.“ Wieder musterte sie den Jungen und hoffte, dass ihr Blick wütend genug war. „Es geht dich nichts an. Also hör auf mich damit zu nerven.“

„Aber ich habe Recht, oder?“

„Kid.“ Sie gab ihrer Stimme einen warnenden Unterton, um deutlich zu machen, dass das Thema für sie vorbei war.

Murphy seufzte schwer. „Ich weiß ja nicht, warum das Thema für dich so dramatisch ist? Ich meine, ich kann dir sagen, was ich und Alice in letzter Zeit so gemacht haben.“ Ein perverses Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Mit einem Seufzen kletterte sie von der Leiter. Also waren er und Crashs Schwester oder Cousine jetzt was? Freunde mit Vorzügen? Ein Paar? Eigentlich wollte sie es nicht so genau wissen. Etwas sagte ihr, dass Murphy sie mit keinem Detail verschonen würde. „Mich interessiert eher, auf welche Arten Crash versucht hat, dich deswegen umzubringen.“

„Oh, auf unterschiedliche Art und Weise. Er hat den ein oder anderen Speer nach mir geworfen“, meinte Murphy grinsend.

Und wahrscheinlich hatte der Große mit Absicht nicht getroffen.

„Jedenfalls, als ich letztens mit Alice  …“

Sie stöhnte genervt. „Kid, was muss ich dafür tun, damit du das Thema wechselst?“

Murphy grinste. „Mich auf ein Eis einladen, würde funktionieren.“

„Das hast du dir eigentlich nicht verdient“, murrte sie, ehe sie das Notizbrett nahm und sich die Informationen zu dieser – fehlenden – Kamera aufschrieb.

„Aber, Pakhet, ich helfe dir hier bei deiner Arbeit und das aus der reinen Güte meines Herzens heraus!“

„Kid, du hältst eine Leiter“, erwiderte sie. „Und ich bin mir beinahe sicher, dass du es nur tust, um mich dabei nerven zu können.“

„Ich will dich nicht nerven“, empörte er sich. „Ich will dir helfen!“

„Du hilfst mir am besten, indem du ruhig bist“, antwortete sie.

Murphy ließ einmal wieder ein melodramatisches Seufzen hören. „Gut. Von mir aus.“ Er schwieg für ganze zwei Sekunden, ehe er fragte: „Was ist denn mit dem Eis?“

Sie verdrehte die Augen. „Das entscheiden wir abhängig davon, wie nervig du für den Rest des Tages bist.“

Er grinste. „Okay!“

[20.08.2011 – M13 – Ersthaftigkeit]

Am nächsten Tag fand sich Pakhet tatsächlich wieder in einem Eiscafé zusammen mit Murphy – nur mit Murphy dieses Mal. Wieder hatte er einen großen Becher bestellt, dieses Mal einen Nuss-Krokant-Becher und schaufelte das Eis genüsslich in sich hinein.

Wieso brachte es sie zum Lächeln? Sie wurde aus dem Jungen nicht ganz klug. Er konnte nerven, war manchmal sehr unsensibel und schien gleichzeitig vieles zu verstehen, ohne dass man es ihm sagte. Dennoch konnte sie ihm nicht lange böse sein. Vor allem, da er wirklich noch ein Kind war – egal welche Gestalt er annahm. Er war gut darin, jemand anderen zu imitieren, doch am Ende konnte er seine jugendliche Natur nicht verleugnen. Trotz aller Abgebrühtheit war da etwas Unschuldiges  …

„Wieso isst du nicht eigentlich auch Eis?“, fragte er.

„Weil Süßes nichts für mich ist“, erwiderte sie schlicht. „Nicht jeder hat den Luxus, das Fett magisch verschwinden zu lassen.“

„Als ob an dir auch nur ein Gramm Fett wäre“, murmelte er und warf ihr einen Seitenblick zu.

Sie lächelte, zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Eiskaffee. „Davon abgesehen mag ich Süßes nicht.“

„Wie kann man Süßes nicht mögen?“ Wieder einmal spielte der Junge, der – wie praktisch immer, wenn sie sich trafen – die Gestalt des hellhäutigen, schwarzhaarigen Jungen von siebzehn oder achtzehn angenommen hatte, empört.

„Ich mag es halt nicht.“ Die Worte unterstrich sie mit einem weiterem Schulterzucken.

„Wahrscheinlich ist das der Grund, warum du immer so griesgrämig bist“, meinte er. „Du isst einfach nicht genug Schokolade.“

Sie hob eine Augenbraue. „Und Schokolade macht glücklich?“

„Ja. Ich habe gehört, da gibt es Studien oder so, die das belegt haben!“ Er grinste sie an.

Pakhet schüttelte den Kopf, lachte leise und trank noch Schluck ihres Eiskaffees.

Es war ein angenehmer Tag. Es war halbwegs warm, die Sonne schien und der Wind vom Meer wehte seicht. Noch immer waren einige Touristen in der Stadt unterwegs. Langsam merkte sie auch, dass ihre Unruhe nachgelassen hatte. Sie war ruhiger geworden, tat sich sogar leichter damit, mit Heidenstein zu reden.

„Und, was macht Crashs neuer Gig im Moment?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Och, es läuft eigentlich wunderbar. ‚Er ist halt der geborene Stürmer‘, sagen sie. Ich meine, mal ehrlich, wenn er läuft, will ihn niemand mehr aufhalten.“

„Ich frage mich ja, ob es nicht etwas geschummelt ist. Immerhin ist er Gestaltwandler.“

Murphy zuckte mit den Schultern und begann seinen Becher auszukratzen. „Na ja, du hast magische Kräfte, ich habe magische Kräfte. Schummeln wir auch? Wenn er gewinnt, geht es um Geld und Ansehen. Wenn du gewinnst, sterben Leute.“

„Ich bemühe mich nicht zu töten.“

„Ja, aber dennoch sterben immer wieder Leute.“ Ihn schien es weder zu stören, noch zu schockieren. War es so normal für Straßenkinder in der Stadt?

Den Gedanken an die Straßenkinder hasste sie noch immer. So wenig es zu ihrer normalen Persona passte, so bereiteten ihr solche Bilder weiterhin Bauchschmerzen. Kinder sollten eigentlich ein Zuhause haben. Eine Zuflucht. Doch was sollte sie tun? Sie hatte keinen Einfluss und Geld, das sie gab, würde am Ende bei den falschen Leuten landen.

„Weißt du“, begann Murphy, als ein Klingeln aus ihrer Jackentasche ihn unterbrach.

„Sorry.“ Sie griff nach ihrem Handy, fischte es aus der Tasche hervor und schaute auf den Bildschirm, halb damit rechnend, dass es Heidenstein war. Jedoch war es nicht Heidensteins Name, der auf dem Touchbildschirm erschien. Es war Michaels.

Das konnte nichts Gutes heißen.

Sie stand auf, ging dran und bemühte sich, einige Meter Abstand zu Murphy zu gewinnen. Sie wollte nicht, dass er mithörte und so lehnte sie sich ein Haus vom Eissalon entfernt, gegen die Wand. „Was kann ich für dich tun, Michael?“ Ihre Stimme klang kühl, sagte deutlich, was sie von diesem Anruf hielt.

„Hallo, Jojo“, erwiderte Michael bester Laune.

„Was kann ich für dich tun?“, wiederholte sie.

Ein Seufzen. „Ach, immer so misstrauisch. Meine Liebe. Ich habe hier nur gerade einen Job reinbekommen, der dich interessieren könnte.“

Irgendetwas stimmte an der Sache nicht. Das wusste sie. Sicher, Michael hatte ihr in der Vergangenheit öfter direkt Jobs zugespielt, doch in den letzten ein, zwei Jahren hatte er es meistens über Smith geregelt. „Was für ein Job?“

„Wie gesagt, etwas für dich: Verschwundenes Mädchen. Wahrscheinlich entführt. Ein Video mit ihr ist auf einer Webseite aufgetaucht.“

Sie ahnte, was kam. „Was für eine Webseite?“

„Nun, sagen wir es so: Eine Marktplattform.“

Sie hatte eigentlich Porno-Webseite gedacht, doch sie wusste, was gemeint war. Sklavenmarkt. Fuck. „Und wieso glaubst du, ist das etwas für mich?“

„Sie ist sechzehn.“ Michael machte eine kurze Pause. „Hast du es nicht normal mit den Jugendlichen und all dem? Beschützerinstinkte oder so.“

Sie brummte. Alles, was sie hatte, war eine Regel, dass sie keine Jobs annahm, Kinder oder Jugendliche zu entführen oder zu töten. „Und deswegen rufst du mich an?“

„Ja.“ Das Grinsen war deutlich aus Michaels Stimme herauszuhören. „Ich habe einfach an dich gedacht.“

Fuck. Sie mochte das Ganze nicht. „Bezahlung?“

„36 000“, antwortete Michael.

Das war keine schlechte Summe, gerade für die Art des Falls. Vor allem, da diese Fälle fast immer Mädchen oder Jungen aus armen Familien betrafen. Jedenfalls hier, jedenfalls, wenn sie zu ihnen getragen wurden. Leute, um die sich die öffentlichen Behörden nicht kümmerten. „Wer ist der Auftraggeber?“

„Ihr Arbeitgeber“, meinte Michael. „Also was ist. Willst du den Job? Ich schicke dir alles, was du wissen musst.“

Fuck. Sie hasste es wirklich. Irgendetwas war hier faul und sie wusste nicht genau was. Doch wenn sie es nicht tat, würde den Job jemand anderes machen. Also konnte auch sie  … „Okay.“

„Wunderbar“, meinte er. „Ich schicke dir die Unterlagen nachher rüber.“

„Okay“, murmelte sie und legte auf.

Sie runzelte die Stirn. Was könnte an diesem Fall nicht stimmen, dass Michael ihn ihr zuspielte? Was war daran faul? Warum hatte er ihn ihr überhaupt zugespielt?

Eigentlich ahnte sie es: Er wollte einen Punkt machen, da er mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden war. Doch was war genau sein Punkt?

Sie schüttelte den Kopf, ging zu Murphy zurück, der mittlerweile seinen Becher saubergeleckt hatte, dem aber der ernste Blick auf ihrem Gesicht nicht entging.

Er runzelte ebenfalls die Stirn, sah sie an. „Alles in Ordnung, Pakhet?“

„Ja, alles bestens, Kid.“ Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken an Michael zu vertreiben.

„Nein, es ist nicht alles bestens“, stellte er fest. „Was ist los?“

„Ich habe gerade nur einen neuen Job reinbekommen“, antwortete sie. „Unschöne Sache.“

„Inwiefern?“

Natürlich wollte er alles wissen. Sollte sie es ihm erzählen? „Entführtes Mädchen, ist offenbar im Menschenhandel gelandet.“

„Oh.“ Etwas auf Murphys Gesicht veränderte sich. Er starrte auf den leeren Eisbecher, nun selbst ernster, als sie ihn bisher gesehen hatte. Für einen Moment ließ er den Löffel von seinen Fingern baumeln – offenbar in Gedanken versunken –, ehe er zu ihr sah. „Hättest du was dagegen, wenn ich dir dabei helfe?“

„Was?“ Überrascht hob sie eine Augenbraue.

„Ich will dir helfen“, sagte er. „Wirklich.“

„Warum?“, fragte sie. Eigentlich hätte sie „Nein“ sagen sollen. Sie konnte den Jungen nicht bei einem solchen Job mitnehmen.

„Weil Nachforschungen etwas sind, das mir liegt“, antwortete er. „Weil ich Leute dazu bringen kann, mit mir zu reden. Glaub mir, Pakhet. Das ist etwas, wo ich die helfen kann.“

„Du hast einen richtigen Job, Kid.“

Er fixierte sie – sein Blick entschlossen. „Bitte, Pakhet.“

Sie sollte wirklich „Nein“ sagen. Trotzdem zögerte sie. „Okay. Unter einer Bedingung. Wenn es gefährlich wird, bringst du dich in Sicherheit.“

Murphy nickte. „Deal.“

[20.08.2011 – M14 – Dené]

Pakhet mochte die Sache nicht. Sie mochte diesen Auftrag wirklich nicht. Noch weniger, nachdem Michael ihr die Informationen zugeschickt hatte. Auch wenn sie noch immer nicht sicher war, was genau stank – vom allgemeinen Problem, dass es um Menschenhandel und sexuell misshandelte Jugendliche ging.

Dené Bekker war seit fünf Monaten sechszehn, arbeitete seit vier Monaten als Prostituierte – unter falschem Namen – für die Big Boys. Pakhet kannte sie. Es war ein loser Zusammenschluss einiger örtlicher Pimps, die manchmal zusammenschmissen, um die Polizei davon zu überzeugen, in eine andere Richtung zu schauen. Immerhin war Prostitution illegal. Nicht, dass er irgendjemanden störte. Es war ein offenes Geheimnis, dass viele Prostituierte in der Long Street arbeiteten, dass einige der dortigen Bars und Hotels sogar speziell Zimmer vermieteten. Niemand tat etwas dagegen.

Entsprechend wunderte es sie kaum, dass sich niemand an Denés Alter gestört hatte. Sie war immerhin über sechzehn, durfte damit ganz offiziell Einverständnis zu sexuellen Handlungen geben. Davon abgesehen, hatte sie in der Vergangenheit schon zwölf, dreizehnjährige Mädchen und Jungen auf dem Strich gesehen.

Laut den Unterlagen gehörte Dené, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter lebte, zu der Gruppe der unter der Armutsgrenze lebenden und effektiv obdachlosen Weißen in der Stadt. Sie hatte von ihnen gehört, hatte Klein Akker gesehen und kannte auch die Wohnprojekte in denen einige von ihnen lebten. Aus einem dieser Projekte schien Dené zu kommen.

Die Häuser waren effektiv Obdachlosenheime. Familien lebten dort, oft als ganze, in einem kleinen Zimmer. Oftmals hatten die Gebäude kein fließendes Wasser oder wenn nur kaltes. Auch Elektrizität gab es dort nicht immer. Die Wohnblöcke waren einmal als Übergangslösung für die Leute aus den Flats gedacht gewesen, der Bau jedoch überhastet und seither wurde sich wenig um die Erhaltung gekümmert. Die Lebensbedingungen waren schlecht.

Was Pakhet jedoch wunderte: Das Mädchen war auf die Eben Dönges High School gegangen. Keine gute Schule, aber immerhin eine Schule. Noch dazu eine, die etwas weiter in der Stadt lag.

Es war untypisch für junge Prostituierte, noch zur Schule zu gehen. Die meisten konnten es sich nicht leisten. Viele Kinder aus den Flats und aus obdachlosen Familien gingen nicht zur Schule. Wie auch?

Die Schule war geschlossen – es war Samstag, also blieb ihnen nur, sich in der Long Street umzusehen.

„Wir werden hier nichts finden“, murmelte Murphy, während sie in ihrem Wagen die Straße runterfuhren. „Nicht um diese Zeit.“

Sie schaute ihn an. „Ich weiß.“

Tagsüber war die Long Street Touristenturf. Die bunte Straße mit den altmodischen Häusern, den Restaurants, Discos und Clubs, war immer von vielen Touristen besucht. Die meisten ignorierten willentlich, was hier nachts vor sich ging. Es war immerhin auch Touristen bekannt, nicht schwer herauszufinden, wenn man es nicht wusste. Warnungen vor der Long Street bei Nacht standen in Touristen-Guides – ebenso wie Empfehlungen.

Letztes Jahr war es besser gewesen. Während der Fußball-WM hatte man mehr Polizisten eingesetzt, hatte das Gebiet stärker kontrolliert. Es gab dennoch Verbrechen und vor allem Prostitution, doch es war alles etwas Kontrollierter gewesen.

Nach der WM waren die Gelder jedoch schnell versiegt und alles war zum Alten zurückgekehrt. Die WM hatte dem Land mehr gekostet, als sie eingebracht hatte.

„Na, hast du irgendwelche Ideen?“, fragte sie und warf Murphy einen Seitenblick zu.

„Nicht wirklich.“ Er saß neben ihr, hatte die Arme verschränkt und musterte eine Gruppe junger Frauen, allesamt Touristen, die Selfies machten.

Pakhet sah zu ihm. Sein Gesicht war nachdenklich. „Warum ist dir das so wichtig?“

„Ich habe meine Gründe“, erwiderte er still. Er kaute auf seiner Lippe.

Pakhet schwieg. Sie hatte ihm das Video nicht gezeigt, auch wenn Michael es ihr geschickt hatte. Es war ekelhaft. Zwei Kerle vergewaltigten das Mädchen, machten sich über sie lustig. Es war widerlich. Das schlimmste war, dass es ein „Verkaufsvideo“ war. Wie aus einem schlechten Film.

Das Schlimmste: Ihnen lief die Zeit davon, wenn sie das Mädchen daraus holen wollten. Wenn sie einmal aus der Stadt war, würde es unmöglich sein, sie wider zu finden. Dabei wussten sie nicht mal, ob sie noch hier war. Sie war erst vor fünf Tagen verschwunden. Das Video war gestern online gegangen. Also war sie wahrscheinlich noch nicht verkauft.

Sie wusste nicht, ob das Mädchen damit mehr Glück oder Pech gegenüber anderen gehabt hatte.

Die meisten Menschenhändler verkauften die Mädchen, Frauen, Kinder nur, ließen sie prostituieren, ohne dass die Betroffenen je etwas von dem Geld sahen. Meistens machten sie sie von Drogen abhängig. Aber sie wusste sehr wohl, dass manche die Kinder auch online verkauften, in andere Länder, an Leute, die einen eigenen Harem wollten, die sich Mädchen als Dienerinnen hielten, manchmal an welche der eher zwielichtigen Porno-Geschäfte. Oder schlimmeres. Sie hatte von Fällen gehört, in denen Leute gekauft und als Opfer in irgendwelchen Ritualen hingerichtet wurden. Gerade Kinder, die selten teuer waren, manchmal für zweihundert Rand oder weniger verkauft wurden, endeten so.

Fuck. Sie hasste es darüber nachzudenken. Sie kam sich hilflos vor, wenn sie daran dachte. Was sollte sie auch dagegen tun? Sie konnte vielleicht einzelne retten, aber allgemein …

„Wir könnten in den Bars fragen“, meinte Murphy schließlich. „Vielleicht kennt sie jemand.“

Pakhet nickte.

„Ich meine, vielleicht wissen sie auch, wer sie hat“, murmelte Murphy. „Wenn sie mitgenommen wurde  … Ich meine, weißt du, was für Techniken die Leute einsetzen?“

Sie verstand, worauf er anspielte. „Loverboys“, nannten sie sich. Meistens junge, hübsche Gangmitglieder, nicht selten eigentlich aus besser gestellten Familien, die sich das Vertrauen ihrer Opfer vertrauten und sie nach und nach manipulierten, bis sie Drogenabhängig in der Gosse landeten. Sie nickte.

Murphy verzog den Mund.

„Ich bin überrascht, Kid“, meinte sie, als sie den Wagen abstellte.

„Wieso?“, fragte er.

Sie öffnete die Wagentür. „Mit deiner Silberzunge wärst du doch bestens für einen solchen Job geeignet.“

Murphy machte ein verächtliches Geräusch. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. „So etwas würde ich nie machen.“ Bitterkeit lag in seiner Stimme. „So etwas ist einfach nur krank, weißt du?“

Sie nickte, seufzte. Wieder fühlte sie sich darin bestätigt, dass der Junge – nervig oder nicht – eigentlich ein gutes Herz hatte. Selbst wenn er es manchmal zu verstecken suchte.

Sie stieg aus, ging um den Wagen herum, um auf den Bürgersteig zu kommen, während auch Murphy ausstieg, sich umsah.

„Nun, wo schlägst du vor, dass wir anfangen?“, meinte sie.

Er blickte sich um, nickte dann in die Richtung einer Bar, die bereits geöffnet war. Castello.

Pakhet zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zum Eingang.

[20.08.2011 – M15 – Fragen]

Eine Stunde und vier Bars später, wussten sie nicht wesentlich mehr. Natürlich hatten sie – im Austausch gegen etwas Bares – ein wenig über die Nachtclubs, in denen die Prostituierten arbeiteten, gehört, hatten die ein oder andere Anekdote über junge Mädchen gehört, doch nichts genaues über Dené erfahren.

„Du bist dir schon sicher, dass sie hier unterwegs war, ja?“, fragt Murphy vorsichtig.

„Ja.“ Zumindest lautete so die Information, die sie von Michael bekommen hatte. Auch wenn Michael ein Lügner war, würde er ihr kaum falsche Informationen für einen Auftrag geben.

Murphy überlegte. „Wie heißt der Typ, für den sie gearbeitet hat?“

Pakhet holte ihr Handy hervor, um nachzuschauen. „Tutu.“ In den USA hätte man sich darüber lustig gemacht. Hier war der Name nicht unüblich.

„Nachname?“

Sie schenkte ihm nur einen kurzen Blick. Er wusste genau so gut wie sie, dass es wahrscheinlich keinen gab.

Er seufzte, zuckte mit den Schultern. „Lass mich was anderes probieren, ja?“

„Aha?“ Sie sah ihn an. „Was ist dein Plan?“

Er nickte in Richtung einer Gasse, die zwischen einem roten Gebäude mit weißem Balkon und einem blauen Holzhaus zu einem Hinterhof führte.

Sie folgte ihm, als er hinter einem Müllcontainer, der dem Geruch nach dringend geleert werden sollte, in Deckung ging. „Warte kurz.“ Damit schloss er die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken.

Seine Züge begannen sich zu verändern. Sein Gesicht wurde etwas breiter, seine Nase flacher, seine Haut dunkler. Er wuchs ein Stück. Eine seltsame Sache zu beobachten.

Seine Kleidung saß nicht mehr ganz so gut, doch der Unterschied war kaum auffällig.

Sein Haar lag nun in dichten, schwarzen Locken an seinem Kopf. Er holte sein Handy heraus. „Schickst du mir das Bild von ihr?“

Pakhet begann zu verstehen, was er wollte. Viele, die hier arbeiteten, waren selbst schwarz, sprachen Afrikaans, würden mit ihm so vielleicht ehrlicher reden, als mit ihr zuvor. Sie nickte, schickte das Bild.

„Warte hier, ja?“, meinte er.

„Hinten beim Wagen“, erwiderte sie. Bei dem Container wollte sie nicht stehen bleiben. Sie gab ihm jedoch zwei Minuten Vorsprung, ehe sie die Gasse verließ und zum Wagen zurückkehrte.

Sie holte sich auf dem Weg dahin ein Getränk vom Automaten in einem Laden. Ein einfaches Wasser. Dann setzte sie sich in den Wagen, wartete.

Fuck. Sie war nicht sicher, wie sie mit der Sache umgehen sollte.

Sie sah zum Club in dem Murphy verschwunden war. Eigentlich hatte dieser noch nicht geöffnet. „Grenadier 39“ stand über dem Eingang. Sie war in dem Laden schon das ein oder andere Mal gewesen, war er doch einer der Hauptumschlagsplätze für Drogen und bekannt für Prostitution. Der ein oder andere Job hatte sie hergebracht.

Sie seufzte, wartete.

Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Heidenstein. „Hast du heute Abend Zeit?“

Schon kam das nächste Seufzen über ihre Lippen. „Bin auf einem Job“, antwortete sie.

Ihr Blick wanderte wieder zum Club hinüber. Sie wartete. Minuten verstrichen.

Eine weitere Nachricht: „Kann ich helfen?“

Was für ein Idiot! Es war nicht sein Job und er musste wissen, dass sie ihn so spät nicht bezahlen konnte. „Im Moment nicht.“

„Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, ja?“

„Okay.“

Dann wartete sie weiter, bis Murphy nicht ganz eine halbe Stunde später aus dem Club kam. Er ging zum Wagen hinüber, der mit seiner kanariengelben Farbe, wie ein Accessoire der bunten Straße wirkte, setzte sich auf den Beifahrersitz.

Er atmete tief durch. „Ich habe was.“ Er wirkte nervös, wartete offenbar darauf, dass sie den Wagen startete.

Also tat sie es. Der Wagen lief brummend an.

„Was hast du?“, fragte sie, als sie die Straße hinabfuhren.

„Da waren 'n paar Jugendliche, die sie gesehen haben“, meinte er. „Die meinten, sie wäre mit einem Typen da gewesen. Einen Thomas Yost.“

„Du glaubst, er könnte ein Loverboy gewesen sein?“, fragte sie.

„Ja.“ Murphy nickte. „Er war etwas älter, als Dené. Würde passen.“

Pakhet nickte. Wenn er Recht hatte, dann konnte sie über ihn das Mädchen ausfindig machen.

[20.08.2011 – M16 – Loverboy]

Es brauchte ein paar Anrufe, ehe sie die Information hatte. Thomas Yost war offenbar ein Student der UCT und lebte mit seinem Vater, einem Sportlehrer einer lokalen High School, in Durbanville. Eine bessere Gegend, jedoch keine der besten. Halt eine der Gegenden, wo der normale Mittelstand lebte – der neue Mittelstand.

Es war kurz vor Sonnenuntergang, als sie dort vorfuhren, wohl wissend, dass es keine Garantie gab, dass Thomas da war.

Man sollte meinen, dass ein Junge, der bei seinen Eltern oder zumindest einem Elternteil lebte, keine Möglichkeit hatte, in kriminelle Dinge verwickelt zu werden, doch gerade diese speziellen Jobs wurden oft von Jungen aus besser gestellten, vermeintlich anständigen Familien ausgeführt. Nicht selten Jungen und manchmal auch Mädchen, die gegen ihre Eltern rebellierten.

Das Gebäude war ein kleines Mehrfamilienhaus. Fünf Stockwerke hoch. Wenn man nach den Informationen ging, die sie von Smith bekommen hatte, lebte Thomas im vierten Stock.

Ein kleiner Parkplatz lag zwischen dem Gebäude und zwei anderen, ein kleiner Spielplatz direkt dabei. Es spielten sogar Kinder hier, was die Atmosphäre ruhiger, friedlicher wirken ließ, als sie eigentlich war.

„Was meinst du, wie sollen wir reingehen?“, fragte Murphy, als sie zur Vorderseite des Gebäudes gingen.

Das Gebäude und seine beiden „Geschwister“ waren jeweils in einer Farbe angemalt. Es selbst war in einem Rosé-Ton bemalt, die Nachbarn in Hellblau und Hellgrün.

„Ganz einfach“, meinte Pakhet. Sie klingelte an allen Klingeln, während sie die Schilder las.

Eines war deutlich neuer als die anderen. Wunderbar.

„Ja?“, kam eine müde Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.

„Ähm, ja, hier ist Semenya aus dem Dritten. Ich komme unten irgendwie nicht rein. Können Sie mir aufsperren?“

Murphy verdrehte die Augen. Wahrscheinlich wollte er „Darauf fällt doch niemand rein!“ sagen.

Doch die müde Frauenstimme zeigte Verständnis. „Aber natürlich, Liebes. Moment.“ Dann ertönte der Buzzer.

„Danke“, flötete Pakhet und drückte die Tür auf.

„Das war mies“, kommentierte Murphy, als sie ihm die Tür aufhielt.

„Sagt derjenige, der mich für einen Arenakampf angemeldet hat“, murmelte sie und machte sich auf den Weg durch den Vorraum des Gebäudes, in dem die Briefkästen waren, um zum Treppenhaus zu kommen.

Vier Stockwerke später, keuchte Murphy, der weiterhindie Gestalt des jungen Schwarzen trug.

„Ich sage ja, du sollst mehr Ausdauertraining machen, Kid“, meinte Pakhet und schaute sich um. Sie standen an einem Flur, von dem vier Türen abgingen.

Der Flur war halb ein Balkon, da das Gebäude nach vorne hin geöffnet war. Der geflieste Boden hätte dringend eine Reinigung nötig gehabt, selbst wenn man nichts ekeliges fand. Nur dreckige Fußspuren, Sand, ein paar Blätter.

Sie ging die Türen ab, ehe sie die Tür fand, die sie suchte. „Yost“, stand an dem Schild links neben der Tür.

„Was ist unserer Plan?“, fragte Murphy.

„Nun, es gibt zwei Methoden“, erwiderte sie und schenkte ihm einen vielsagenden Blick. „Deine oder meine.“

„Ich wäre für meine, mit deiner als möglichen Backup.“

Sie lächelte, nickte. Dann klingelte sie.

Schritte erklangen. Müde, schlurfende Schritte. „Moment“, sagte eine tiefe Männerstimme. Offenbar der Vater. Stoff bewegte sich. Offenbar zog er sich Kleidung über. Vielleicht ein Bademantel? Schließlich kamen die Schritte zur Tür. „Ja?“

Der Mann, der sie ansah, war leicht untersetzt. Das Haar, das er noch auf dem Kopf hatte, war braun mit einigen grauen Haaren dazwischen. Eine große, kahle Stelle breitete sich von der Mitte des Kopfes aus.

„Hallo“, sagte Murphy, der auf einmal einige Jahre älter wirkte als noch einen Moment zuvor, und streckte ihm seine Hand entgegen. „Wir sind von der örtlichen Schulbehörde und wollten mit ihrem Sohn sprechen.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Es ist Samstag.“

„Ja, dass wissen wir.“ Murphys Stimme ließ nicht eine Spur Zweifel an seiner Aufrichtigkeit aufkommen. „Wir sind wegen einer Freundin ihres Sohnes da, wollten kurz mit ihm reden.“

Noch immer schien der Mann zu versuchen, Sinn aus seinen Worten zu machen, nickte dann aber. „Moment.“ Er wandte sich in die Wohnung. „Tom. Komm doch mal. Da sind zwei Leute von der Schulbehörde oder so.“ Er wandte sich wieder zu ihnen. „Er kommt gleich.“

Also war Thomas Yost da. Zumindest ein Erfolg.

Tatsächlich erklangen nach zwei Sekunden schnellere, energischere Schritte im Flur, ehe ein junger, schlacksiger Mann in einer Jeans und einem T-Shirt vor ihnen stand. Sein Haar war hellbraun. Er trug einen Kinnbart. „Ja? Worum geht es?“

„Sie sind Thomas Yost, ja?“, fragte Murphy und streckte ihm die Hand entgegen. „Mein Name ist Malan und das hier ist Mrs Luter.“ Er lächelte professionell. „Wir sind hier, um mit ihnen über Dené Bekker zu sprechen.“

Verwirrung trat auf die Züge des Mannes, gefolgt von Sorge. „Dené? Was ist mit Dené? Ist etwas nicht okay?“

Pakhet misstraute ihm. Wenn er ein Loverboy war, dann war er gut im Lügen. Immerhin war das ihre ganze Aufgabe.

„Wir hatten gehofft, dass Sie uns das sagen können“, erwiderte Murphy. „Wir haben gehört sie seien ihr Freund gewesen. Wir sind im Auftrag der Eben Dönges High School hier, die sich wegen der Abwesenheiten Ms Bekkers sorgt.“

„Ich mache mir auch Sorgen um sie“, versicherte der junge Mann. „Ich habe sie seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.“

„So? Hatten sie auch nicht auf andere Art Kontakt mit ihr? Irgendeine Möglichkeit, sie zu erreichen?“, fragte Murphy unbeirrt weiter. Er schaffte es seiner Stimme einen so autoritären Klang zu geben, dass Mr Yost gar nicht auf die Idee kam, ihn zu hinterfragen.

„Ja“, antwortete der Junge. „Ich habe wirklich keine Ahnung.“ Er seufzte schwer. „Okay, sehen Sie. Es geht Sie nichts an, aber wir haben uns gestritten, ja? Sie ist weggerannt und hat sich seither bei mir nicht gemeldet.“

Ja, sicher.

„Wieso haben Sie sich denn gestritten?“, fragte Pakhet.

Yost sah sie an, als hätte er sie gerade erst gesehen. „Ähm. Ach, es war albern. Sie wollte sich Geld von mir leihen. Wir waren mit Kumpels auf einer Party und sie hatte wieder kein Geld und ich war auch pleite und wir waren angetrunken und dann  …“ Er seufzte, schien ins schwafeln zu verfallen. „Ach, es war albern. Ich habe sie angeschrien, dass sie sich nicht immer Geld von mir leihen kann und dann hat sie gesagt, sie weiß ja nicht, sie arbeitet schon und sie will ja Geld haben, aber es ist halt nicht genug.“

„Wissen Sie denn, wo sie arbeitet?“, fragte Murphy auf dieselbe professionelle Art, die man eher von einem Polizisten – einem gut ausgebildeten Polizisten – erwartet hätte.

„Sie meinte im Coldrio, so ein kleiner Laden bei City Bowl“, antwortete er. „Sie hilft den Laden ein und auszuräumen und so.“

Murphy nickte. „Kennen Sie jemanden, namens Tutu?“

„Tutu?“ Irritiert runzelte Yost die Stirn. „Nein. Nie gehört. Warum?“

„Ach, sie hat den Namen wohl in der Schule erwähnt“, meinte Murphy leichthin. Er seufzte schwer. „Können Sie versuchen, sie für uns zu erreichen?“

Yost zögerte, nickte dann aber. „Klar. Sicher.“ Er holte ein Handy aus seiner Tasche hervor, wählte eine Nummer aus seinem Telefonbuch aus, hielt das Gerät an sein Ohr.

Stille herrschte, doch nach einer Weile konnte auch Pakhet das Pfeifen einer Mailbox hören.

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe die ganze Woche sie nicht erreichen können.“ Wieder runzelte er die Stirn. „Glauben Sie, dass ihr etwas passiert ist?“

„Wir wissen es nicht“, erwiderte Murphy. Er schien sich schon zum Gehen wenden zu wollen, als er inne hielt. „Könnten wir vielleicht Ihre Nummer haben? Und die Nummer, die Sie von Dené haben. Dann können wir sie mit unseren Daten abgleichen.“

„Sicher“, erwiderte der junge Mann. Er hielt ihnen das Handy hin, um ihnen den Eintrag auf Dené zu zeigen.

Wie selbstverständlich nahm Murphy das Handy entgegen, stellte sich etwas dumm damit an, die Sachen auszuwählen, stellte aus Versehen den Bildschirm aus, fluchte, tippte weiter unhändig auf dem Gerät herum. Pakhet war sich sicher, dass er eine Möglichkeit suchte, im Nachrichtenverlauf des jungen Mannes nachzusehen.

Schließlich aber übertrug er beide Nummern in sein Handy, bedankte sich.

Pakhet sah ihn an. Ihrer Meinung nach war es nur gut und richtig, den jungen Mann noch einmal richtig zu befragen, doch Murphy kehrte zum Treppenhaus zurück.

So presste sie die Lippen aufeinander. „Danke“, meinte auch sie zu Mr Yost.

„Sagen Sie mir, wenn Sie sie finden?“, fragte der junge Mann und wirkte dabei aufrichtig besorgt.

„Ja“, versicherte sie. „Machen wir.“

[20.08.2011 – M17 – Make-Up]

„Bist du dir sicher?“, fragte Pakhet zum wohl fünften Mal, während sie unwillkürlich mit ihrer Zunge gegen die Unterlippe drückte.

Sie war kein großer Freund von Make-Up, hatte sehr wohl aber gelernt, wie man es auftrug. Es gehörte zu den grundlegenden Voraussetzungen des Jobs. Ja, diverse Jobs, für die sie angeheuert wurden, verlangten nicht nur, jemanden gezielt ausschalten zu können, sondern auch noch, gut dabei auszusehen. Gut aussehen half zudem, wenn man versuchte an Informationen zu kommen.

Murphy, der das ganze irritiert beobachtete, nickte. „Er hat die Wahrheit gesagt. Egal wie verdächtig der Typ wirkt, er lügt nicht.“

„Sagt dein Lügenaufspürzauber?“ Sie trug Lidschatten auf.

„Nein. In seinem Handy waren nur von seiner Seite aus Nachrichten. Und seine Stimme sagte auch, dass er die Wahrheit sagt. Er hat fest gesprochen.“

„Du weißt, dass diese Leute gut lügen können“, murmelte sie.

„Ja, das weiß ich“, antwortete Murphy mit Nachdruck. „Aber es war nicht der Typ.“

„Und was ist jetzt dein Plan?“, fragte Heidenstein.

Sie saßen in seinem Büro in der Straßenklinik. Sie wusste selbst nicht genau warum. Ein Grund war wohl gewesen, dass sie Murphy nicht zu sich nach Hause führen wollte. Niemand von ihrer Arbeit – abgesehen von Michael – war je dort gewesen und sie wollte, dass es dabei blieb.

„Wir fahren heute Nacht zum Club, wo sie anschaffen war“, antwortete Pakhet. „Und hören uns da einmal um, ob wirklich niemand etwas weiß.“

„Und das ist der Grund, warum du dich so aufbrezelst?“, fragte er.

Sie nickte. „Ja.“ Verdammt, sie hatte sogar neue Kleidung dafür gekauft, um nicht bei sich vorbei fahren zu müssen. Langsam aber sicher zeigte sich, dass am Ende des Jobs wenig Gewinn übrig war. Zumindest hatte sie noch eine Perücke im Wagen gehabt. „Ich bemühe mich, mich dem Ambiente anzupassen.“ Sie schenkte ihm ein zuckriges Lächeln, das ihre Wangen schmerzen ließ. Das war definitiv nicht ihre Art.

Heidenstein schürzte die Lippen. Es gefiel ihm nicht. Natürlich gefiel es ihm nicht. „Soll ich nicht besser doch mitkommen?“

„Bist du etwa eifersüchtig, Doc?“, fragte Murphy.

Heidenstein zuckte zusammen, bedachte Murphy nur eines kurzen Blicks. „Nicht wirklich“, erwiderte er.

Murphy sah zu Pakhet, lächelte. „Siehst du. So klingt das, wenn jemand lügt.“

„Kid.“ Heidensteins Stimme klang warnend.

Murphy grinste ihn an. „So darf nur sie mich nennen.“

Pakhet seufzte. Sie musterte Heidenstein, der ihren Blick bemerkte und erwiderte. Ernsthafte Sorge sprach aus seinen Zügen. Natürlich. Natürlich sorgte er sich. „Schaffst du es überhaupt, in solchen Gegenden nicht aufzufallen?“

„Pakhet“, antwortete er nüchtern. „Ich arbeite für die Vory, schon vergessen? Meinst du, das wäre das erste mal, dass ich mit dergleichen zu tun habe?“

Punkt für ihn. „Okay. Nein.“

„Siehst du.“ Sein Blick war eindringlich. „Ich will kein Geld. Ich will nur helfen.“

„Geld gibt es auch nicht“, murmelte sie. „Wenn das so weiter geht, wird am Ende der Sache wenig übrig sein.“

„Das ist mir egal“, erwiderte er. „Wirklich, Pakhet. Lass mich mitkommen. Lass mich helfen.“

Sie musterte ihn. Es war nicht die schlechteste Idee jemanden dabei zu haben. Heidenstein würde, wie ein Tourist wirken, wie jemand, den so ein einfaches Mädchen gut um den Finger wickeln konnte. Doch auf der anderen Seite konnte auch Murphy diese Rolle spielen – besser als Heidenstein. Viel besser als er.

„Von mir aus“, meinte sie. „Komm mit. Aber pass auf, dass du mitspielst, ja?“

„Mitspielen?“, fragte er.

Pakhet schürzte die Lippen, betrachtete ihr geschminktes Gesicht im Taschenspiegel. Ihr Gesicht wirkte runter, weniger streng mit dem Make-Up. Ja, beinahe traditionell hübsch. Auch wirkte sie weniger müde. Kurzum: Es wirkte nicht, wie sie selbst. Einzig das kurze rote Haar passte nicht zum Bild, doch ihre Perücke würde dahingehend Abhilfe schaffen. Dann wäre sie Stephanie Neilkamp, Blondine, Prostituierte. Sie hatte diese Rolle schon mehr als einmal in ähnlichen Ermittlungen gespielt, hatte sogar dazugehörige Papiere. Auch wenn sie die Rolle hasste. „Du wirst verstehen, was ich meine“, murmelte sie, ehe sie begann den Lippenstift aufzutragen.

[20.08.2011 – M18 – Rollenwahl]

„Bist du dir sicher, dass du dastun willst?“, fragte Murphy unsicher, als sie den Wagen zwei Blöcke von dem Club entfernt abstellte.

Sie schaute ihn im Rückspiegel an.

Der Junge hatte eine dunkle Jeans übergezogen, trug darunter ein T-Shirt. Wieder war er hellhäutig, sah aber aus wie Anfang, vielleicht Mitte zwanzig. Ein übliches Alter für „Scouts“. Das Image mit dem er zu gehen schien, war „cool, aber seriös“.

„Kid, ich weiß schon, was ich tue“, antwortete sie.

„Ich könnte mich als Prostituierter ausgeben“, schlug er vor. Zum zweiten Mal bereits.

„Kid. Du bist minderjährig. Ich kann dich nicht einfach als Hooker auftreten lassen“, sagte Pakhet mit Nachdruck.

„Aber du kannst nicht…“, begann er, brach aber ab. Er schüttelte den Kopf. „Hör mal, das passt einfach nicht zu dir!“

Sie schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln. Sie wusste sehr wohl, wie man Leute verführte. Selbst ohne mehrere Ladungen Make-Up, wie jetzt. „Kid“, meinte sie und setzte dabei eine tiefe, schon beinahe klischeehafte Stimme auf, die an das Schnurren einer Katze erinnerte, „glaubst du wirklich, dass ich so etwas zum ersten Mal mache?“

Murphy verzog das Gesicht. Ihm war die Situation unangenehm und ausnahmsweise konnte er es nicht verbergen.

Heidenstein, der neben ihr saß, ein T-Shirt mit Aufdruck und eine einfache Jeans trug, schürzte die Lippen. „Er hat Recht, weißt du?“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu.. „Ach, du glaubst auch, dass es nicht zu mir passt?“ Noch immer übertrieb sie mit der Stimme.

Zur Antwort nickte Heidenstein. Er schätzte sie falsch ein. Davon abgesehen, dass sie regelmäßig Männer in Bars verführte, hatte sie mehr als einmal mit jemanden geschlafen, um an Informationen oder an eine Zielperson zu kommen. Mit Make-Up, Latex und den Glamour des Armreifs konnte sie für eine Weile die Illusion eines zweiten, normalen Arms erzeugen. Der Glamour verbarg die Zeichen der Prothese. Das Make-Up machte sie hübsch. Sie konnte sogar normal wirken.

„Doc“, meinte sie, „du weißt, dass es nicht das erste Mal ist, dass ich so etwas mache, ja?“

Er schürzte die Lippe, nickte dann wieder.

„Also stell dich nicht so an“, erwiderte sie und öffnete die Tür. Sie stieg aus, darauf achtend, den richtigen Halt auf den viel zu hohen Schuhen zu finden. Ja, sie konnte auf hohen Schuhen laufen, doch sie hasste es. Es war zu unsicher, gab ihr keinen guten Halt im Kampf. Im Vergleich zu dem „kleinen Schwarzen“, das sie trug, war es jedoch das geringere Problem: Das sehr knapp bemessene schwarze Kleid bedeckte nur das nötigste und auch mit der halb durchsichtigen Bluse, die sie über die Schultern gelegt hatte, konnte sie wenig verstecken.

Das einzige, was sie an Waffen bei sich trug, war ein sehr kurzes Messer und vier der Darts, die eigentlich in Heidensteins Pistole gehörten. Sie waren mit Betäubungsgift gefüllt, würden auch wirken, wenn Pakhet sie im Nahkampf einsetzte.

Gerne hätte sie eine Pistole oder ein Kampfmesser in ihrer Handtasche mitgenommen. Doch wusste sie sehr wohl, dass diese Clubs Handtaschen durchsuchten.

„Pakhet“, begann Murphy wieder, lief zu ihr.

„Kid. Jetzt stell dich nicht so an. Ich dachte, du seist professioneller.“

Er zog einen Schmollmund. „Ich mache mir halt Sorgen um dich“, meinte er.

Amüsiert sah sie ihn an. „Sagte der Junge, der mich einarmig in eine Arena geschickt hat, um gegen einen Hünen zu kämpfen.“ Dennoch fand sie den Gedanken des Jungen süß. Es war schön zu wissen, dass sich jemand um sie sorgte.

Murphy seufzte. „Pass ja auf, mit wem du mitgehst, ja?“

Sie lachte. „Sicher, Kid. Ich gebe mir Mühe.“

Damit stakste sie zum Rand des Parkplatzes und in Richtung des Clubs.

[20.08.2011 – X10 – Undercover]

Pakhet hatte einen Nachteil, vor allen auf den hohen Schuhen, die allerdings irgendwie zum Kostüm gehörten: Sie war zu groß für eine Frau. Mit den Absätzen war sie größer als diverse Männer. Das war eine Tatsache, die keine Menge an Make-Up, keine Kostümtricks, ja selbst Glamour nicht verbergen konnten, wenn sie sich durch die Menge bewegte. Sie bemühte sich dennoch, es zu überspielen und den abschreckenden Faktor, den die Größe auf viele Männer hatte, zu mindern.

Sie hatte sich absichtlich auf deutlich jünger geschminkt, trug eine blonde, leicht lockige Perücke, deren Haar zu einem Zopf gebunden war. Sie hatte beschlossen, dass ein einfacher Zopf reichte, auch wenn sie kurz über Accessoires nachgedacht hatte.

Sie trug außerdem Strapse. Vielleicht etwas übertrieben, aber den meisten würde es nicht auffallen.

Im Club herrschte Partystimmung. Eine bunte Mischung aus örtlichen jungen und nicht ganz so jungen Leuten, Touristen, Drogendealern und Prostituierten feierte hier. Manche tanzten, einige drückten sich in Ecken herum, andere saßen an der Bar.

Pakhet stand noch immer am Eingang, schenkte dem Türsteher ein gewinnendes Lächeln, während er sie musterte.

„Zum Arbeiten hier?“, fragte er auf Englisch.

„Wonach sieht es denn aus, Liebling?“, erwiderte sie und täuschte einen dicken Akzent vor.

Der Mann, ein großer, kräftig gebauter Schwarzer, musterte sie. Kurz zeigte sich der Ansatz eines Grinsen auf seinem Gesicht. „Genau danach.“ Er gab ihr ihren Ausweis zurück. „Weiß Tutu, dass du hier bist?“

„Ja, ich habe ihn dafür bezahlt“, erwiderte sie. Tutu war der Inhaber des Clubs und jedes Mädchen, dass hierhin kam, zahlte den Betrag, um hier Kunden anheuern zu können und dabei die relative Sicherheit des Clubs zu genießen. „340, wie abgesprochen.“ Die Info hatte sie von Smith.

„Gut“, murmelte er. Er streckte die Hand nach ihrer Handtasche aus, bekam sie von ihr in die Hand gedrückt.

Darin fand er nichts ungewöhnliches: Ihr Handy – in einer klischeehaften Goldhülle – eine dünne Geldbörse, Kondome, Gleitmittel, Make-Up, Pflaster, Schmerztabletten.

Er gab ihr die Handtasche zurück. „Dann geh. Erfolgreichen Abend.“

„Danke, Sweetheart“, flötete sie und trat durch die Tür.

Im Club schlug ihr der Geruch von Alkohol und Schweiß entgegen – wie man es erwartete. Die Musik war viel zu laut, die Lichter bei der Tanzfläche viel zu flackernd.

Sie erlaubte sich ein kurzes Seufzen. Bei so viel Lächeln, würden ihre Mundwinkel am Ende des Tages schmerzen. Doch was sollte man tun? Job, war Job. Vor allem war da ein Mädchen, das gerettet werden sollte und, wenn sie Pech hatten, sonst nach weiß Gott wohin verkauft werden würde. Und wahrscheinlich war da nicht nur sie.

Also ging Pakhet zur langen Bar.

Der ganze Club war in einem modernen Stil mit viel Metall, viel Schwarz und viel Neon gehalten. Die Steinmauer, die die Grundlage der Bartheke bildete, war silbrig grau angemalt und mit symmetrischen Metallelementen verziert. Unter der schwarzen Oberfläche, waren blaue und violette Lichter angebracht, die die leicht hervorstehenden Elemente bestrahlten, um ein Schattenspiel zu projizieren.

Derselbe Stil setzte sich an den Wänden fort.

Die Bar war gesamt gute acht Meter lang und bot einigen Platz, der jedoch bereits gut ausgefüllt war. Kaum einer der hohen Hocker war noch frei. Einige der Damen, die dort saßen, den Blick der Tanzfläche zugewandt, waren fraglos Prostituierte. Es war der übliche Stil. Pakhet hatte es oft genug beobachtet.

Single und auf Flirttour? Rücken zur Fläche. Prostituiert und auf der Suche nach Kundschaft? Blick zur Tanzfläche, aufreizende Position.

Sie lächelte, stakste hinüber, positionierte sich an den ersten freiwerdenden Hocker.

Ursprünglich hatte sie überlegt in der normalen Gestalt Stephanies hierher zu kommen, hatte sich aber dagegen entschieden. Sicher, wenn sie eine besonders naive Stephanie spielte, könnte sie vielleicht auch Leute anziehen, aber eher Loverboys, keine Scouts. Davon abgesehen sahen es Loverboys eher auf Teenager ab – und keine Menge Make-Up erlaubte es ihr, als unter zwanzig durchzugehen. Also Prostituierte. Es war ohnehin zielführender, hatte doch auch Dené als Prostituierte gearbeitet. Wenn Thomas, wie Murphy sagte, wirklich ihr Freund gewesen war, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein Scout sie angesprochen und in eine Falle gelockt hatte.

Ein Barkeep schenkte ihr nach vielleicht zwei Minuten Aufmerksamkeit. „Hey, Süße. Dich habe ich hier noch nicht gesehen“, meinte er, füllte ihr einen Drink ein.

Sie lächelte ihn an. Er war farbig, dunkelhaarig, jung. „Ja, das stimmt wohl“, erwiderte sie mit einem Schnurren, „ich bin das erste Mal hier. Ich war vorher immer in Corona.“

„Verstehe“, meinte der junge Mann – er war vielleicht sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. „Weiß Tutu Bescheid?“

„Aber sicher“, schnurrte sie. „Alles okay. Ich habe bezahlt.“ Sie zwinkerte. Sie kam sich so albern vor.

Der Mann lächelte, entspannte sich etwas. „Cool. Warum bist du denn hierher gekommen?“ Damit gab er ihr den Drink. Billiger Rum, dem Geruch nach.

„Ja, weißt du, bei David ist das in letzter Zeit nicht mehr so sicher, weißt du? Er hat immer diese Gangs da und das ist echt  …“ Sie rümpfte die Nase. „Das geht nicht. Die hören nie, wenn man was sagt.“

Er lächelte. „Versteh ich.“

„Und eine Freundin hat mir von dem Laden hier erzählt und das Tutu Arschlöcher im Notfall auch persönlich rauswirft.“

Der Barkeep lachte. „Hat er ein oder zwei Mal gemacht, ja.“ Die Erinnerung daran ließ ihn für einen Moment grinsen. Dann fiel ihm jedoch eine andere Frage ein:. „Wer ist denn deine Freundin?“

„Candy“, erwiderte Pakhet. Das war laut den Unterlagen von Michael der Name unter dem Dené angeschafft hatte. Kein besonders origineller Name.

Auch der Barkeep schien ähnliches zu denken. Er runzelte die Stirn. „Ich kenne mindestens drei Candys. Haste 'n Bild?“

„Klar“, flötete sie. Ha, vielleicht konnte sie von ihm Informationen bekommen. Sie holte ihr Handy heraus und rief ein Bild von Dené auf, das nach einem Selfie aussah. „Hier.“ Sie hielt ihm das Handy entgegen.

Der Barkeep runzelte die Stirn. „Ah, klar. Die kenn ich. Die ist doch letzte Woche verschwunden.“

Pakhet tat schockiert. „Was? Echt? Davon habe ich ja gar nicht gehört. Was ist denn passiert?“

Der Barkeep schüttelte die Stirn, beugte sich noch weiter zu ihr vor. „Die ist vor ein paar Tagen nachts einfach nicht mehr zurück gekommen und auch in den nächsten Tagen nicht mehr aufgetaucht. Tutu sagt, wir sollen Ausschau halten. Will nicht, dass es seinem Ruf schadet und so.“

„Wieso? Ist sie abgehauen?“, fragte Pakhet, bemüht ihre Augen so groß wie möglich wirken zu lassen.

„Ne. Eben nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Tutu glaubt, dass sie wer entführt hat. Hat sie wahrscheinlich weggelockt irgendwie. Wir sollen die Augen aufhalten, sagt er.“

„Oh man. Die arme Candy“, erwiderte sie. Offenbar wusste der Barkeep nichts von der Webseite. Vielleicht besser für ihn. „Weißte denn irgendwas darüber?“

„Ne. Ich hatte an dem Abend frei“, meinte er. „Konnte also nichts sehen. Hey, ich weiß was, du kannst mal Jake fragen.“

Dankbarerweise war er eine Klatschtante. Vielleicht fand sie über die Barkeeps etwas heraus. Irgendjemand musste ja gesehen haben, mit wem das Mädchen die Bar verlassen hatte.

Das oder sie hatte Glück und wurde von einem der Scouts angesprochen, sollte sich hier einer rumtreiben. Sie ließ ihren Blick über die Menschenmenge glauben. Auch wenn die Chancen dank der Auswahl wohl sehr gering waren.

[20.08.2011 – X11 – Hinweise]

Zwar waren die Barkeeps gesprächig, jedoch hatte angeblich keiner von ihnen viel gesehen.

Während Pakhet an der Bar saß, mit dem ein oder anderen ein Pläuschchen hielt und die Tanzfläche beobachtete, erkannte sie auch Heidenstein und Murphy, die mit zwei, drei Abstand später ebenfalls in den Club kamen.

Murphy war Murphy. Er flirtete ohne Vorbehalte mit dem einen oder anderen, verschwand zwischenzeitlich mit einem jung wirkenden Mädchen in den Hinterräumen des Clubs. Wie konnte es auch anders sein?

Heidenstein tat sich weit weniger leicht. Sie beobachtete ihn zwischenzeitlich dabei, wie er mit einer der Frauen an der Bar sprach, jedoch nach einer Weile wieder ging. Das alles fiel ihm offenbar wirklich schwer – trotz der großen Worte von zuvor.

Zwischenzeitlich kamen zwei andere Prostituierte zu ihr, die sich als Candice und M.J. vorstellten und ein kurzes, passiv-aggressives Gespräch mit ihr führten. Sie waren nicht begeistert von neuer Konkurrenz auf ihrem Turf und Pakhet hatte einige Mühe bei der naiv-dümmlich, aber freundlichen Persona „Pearls“ zu bleiben.

„Ich war ja früher beim Corona, aber das geht echt nicht mehr“, erzählte sie ihnen dasselbe Märchen, wie den Barkeeps. „Das ist da so heruntergekommen geworden und die Ganger, die da rumhängen, sind echt eine ganz fiese Art. Die haben doch Shea letztens aufgeschlitzt. Und die Candy hat mir erzählt, dass Tutu da besser aufpasst.“

„Candy?“, fragte M.J., die rot gefärbtes, lockiges Haar hatte. Eine gut gerundete schwarze Dame mit geglättetem Haar, deren Haut relativ hell war.

Candice war eine junge Schwarze, die zumindest im Bereich der Brust sehr gut bestückt war. Ihr Haar lag geflochten eng an ihrem Kopf. Der helle Lidschatten, den sie trug, hob sich deutlich von ihrer dunklen Haut ab.

„Ja, Candy.“ Pakhet holte ihr Handy heraus, leckte sich über die Lippen, als bräuchte es Konzentration das richtige Bild zu finden. „Hier“, meinte sie. „Candy. Die ist noch etwas jünger, glaub ich.“

Candice nahm ihr das Handy ab, schaute drauf, zeigte es dann M.J., die ihr Haar zwirbelte.

„Ach, die, die verschwunden ist.“ M.J. Schürzte die Lippen.

„Ja, ich habe davon gehört“, erwiderte Pakhet. „Das ist doch voll schrecklich. Was glaubt ihr, was mit ihr passiert ist?“

„Wahrscheinlich haben sie sie irgendwo aufgeschlitzt“, meinte M.J. spitz, schürzte sie Lippen kurz. „Hört man doch immer wieder.“

„Sag sowas nicht“, antwortete Candice. „Nein, ich glaube eher  …“ Sie senkte die Stimme, so dass sie über die Musik kaum zu hören war. „Weißt du nicht mehr, der eine Typ, mit dem sie gegangen ist?“

„Was'n für ein Typ?“, fragte Pakhet neugierig und mit einer Spur aufgesetzter Furcht in der Stimme.

Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick. Hatten sie Angst? Hatte man sie bedroht? Am Ende lehnte sich Candice neben sie, streckte ihren vollen Busen der Tanzfläche entgegen, ehe sie aus dem Mundwinkel murmelte. „Ach, da ist ab und an so ein Typ, der rumkommt. Hübsch, Mitte zwanzig. Dunkel, wie ich, aber sieht aus, wie aus gutem Haus. Macht Angebote. Ich habe den anderen gesagt, dass ich ihm nicht traue. Die Art, wie er spricht ist nicht richtig. Also wenn du ihn siehst. Sei vorsichtig. Jedenfalls ist Candy mit ihm mitgegangen.“

„Oh, fuck“, flüsterte Pakhet und meinte es sogar halb.

„Ja, da sagst du was“, erwiderte Candice.

Das war allerdings die beste Information, die sie für eine ganze Weile erhielt.

Bald kam ein junger Mann, wahrscheinlich ebenfalls Mitte zwanzig, zu ihnen rüber und begann Candice anzusprechen. Die beiden setzten sich von ihnen ab und bald darauf beobachtete Pakhet, wie sie in Richtung der Hinterzimmer liefen.

Trotz der anfänglichen passiven Aggressivität der beiden, waren sie neben den Barkeeps noch die angenehmeren Bekanntschaften. Denn natürlich war die Sache, dass sie wie eine Prostituierte aussah auch damit verbunden, als solche angesprochen zu werden. Dabei waren die Versuche von Kerlen, die nicht bereit waren, sie zu bezahlen, und meinten, sie mit dummen Sprüchen beeindrucken zu können, verhältnismäßig harmlos.

Da waren aber auch diejenigen, die bereit waren, zu bezahlen.

Pakhet war von Anfang an bereit gewesen, mit dem ein oder anderen für diesen Job zu schlafen, wenn es ihr Informationen gab. Doch auf halbe Alkoholleichen hatte sie wenig Lust. Auch schmierige, alte Typen waren sicher nicht ihr Stil. Erst als ein Mann, der zumindest noch Mitte Vierzig war kam, meinte, dass er sie noch nicht gesehen hatte, kam sie nicht umher, zuzustimmen. Wenn er Stammkunde war, konnte sie ihn vielleicht aushorchen.

Sie lächelte, nannte ihren Preis und stellte zynisch fest, dass sie zumindest so etwas Umsatz bei der Sache machte.

Immer positiv denken.

Sie begleitete den Mann, der sich als Nelius vorstellte – einen Nachnamen musste sie nicht wissen, immerhin stellte sie sich auch als Pearl vor – in die Hinterräume. Wenn sie nicht entsprechend ihrer Verkleidung arbeitete, würde ihr Cover ohnehin früher oder später auffliegen.

[20.08.2011 – D26 – Hinterzimmer]

Weitere eineinhalb Stunden vergingen. Die Zeiger der halb hinter Schnapsflaschen versteckten Uhr an der Wand tickten auf Mitternacht zu.

Pakhet hatte in der Zeit noch zwei weitere „Kunden“ gehabt – unter einem einen der schmierigen Art, der aber oft hier war und jedes der Mädchen zu kennen schien. Sie hatte von ihm einiges an Informationen bekommen, auch wenn sie gut Lust gehabt hatte, ihm das Messer in den Hals zu stechen, da er ein verfluchtes Arsch gewesen war.

Doch sie hatte sich dumm gestellt, hatte mitgespielt und so davon gehört, dass hier und da immer ein paar Mädchen verschwanden. Er prahlte damit, einmal gesehen zu haben, wie man ein Mädchen in ein Auto gedrückt hatte. Einen weißen Mercedes, erzählte er. Guter Wagen. Und da waren mehrere Typen gewesen.

Offenbar fand er es interessant und sah keinen Fehler darin, niemanden zur Hilfe gerufen zu haben.

Arschloch.

Schließlich kam sie wieder aus den Hinterzimmern kam. Sie nahm sich vor zu duschen, wenn sie wieder im Krankenhaus zurück war – sie machte sich nichts vor, sie würde in dieser Nacht im Krankenhaus schlafen, da sie Heidenstein ohnehin dahin fahren würde. Da fiel ihr Heidenstein ins Auge, der etwas steif mit einem der anderen Mädchen an der Bar sprach und ihr einen langen Blick zuwarf.

Ihm gefiel die Situation immer weniger. Und als sie sich mit einer Cola wieder an der Bar positionierte, dauerte es keine zehn Minuten, bis er zu ihr hinüber schlurfte.

Sie blieb bei ihrer Rolle. Stephanie, also Pearl kannte diesen Mann nicht. „Was kann ich für dich tun, Süßer?“, schnurrte sie.

„Können wir kurz reden?“, flüsterte er.

„Ich nehme, 800 Rand“, erwiderte er. „Küssen kostet extra.“ Sie sprach laut genug, als dass ein Barkeep, der zuhörte, es für ein normales Kundengespräch halten sollte. Sie zwinkerte ihm zu.

Er verzog das Gesicht, biss sich auf die Lippe. „Ja, von mir aus.“ Seine Stimme war angespannt.

„Ach, Schätzchen. Entspann dich, ist doch nichts bei“, meinte sie. „Also, was sagst du?“

„Ich sagte, es ist okay“, murrte er mit Nachdruck.

Sie verdrehte die Augen. Das war nicht seine Art. Sie ließ sich vom Barhocker gleiten, nahm ihr Glas, packte Heidenstein am Arm und bugsierte ihn in Richtung der Hinterzimmer.

Die „Hinterzimmer“ waren über eine Tür an der Rückseite der Bar zu erreichen. Hier führte ein relativ schmuckloser Flur an den Toilettentüren und einem Vorratszimmer vorbei, ehe mehrere Räume, die mit einfachen Riegeln versehen waren, von dem Flur abgingen. Die Türen waren weiß, die Zimmern hatten Nummern.

Die Zimmer sechs bis zwölf waren Prostituierten vorbehalten, wie sie wusste. Sie waren zusätzlich verschlossen, aber Smith hatte ihr mit den Informationen auch einen Schlüssel zukommen lassen.

Sie machte das erste freie Zimmer – Nummer Acht – ausfindig, öffnete die Tür und zog Heidenstein mit sich hinein.

Das Zimmer war alles in allem hübsch eingerichtet. Zwar waren die Wände einfach gestrichen – Farbe auf Stein – doch stand ihr ein großes, sauber gehaltenes Kunstledersofa in Schwarz. Da waren außerdem ein Spiegel, hinter dem Lampen angebracht waren, ein Hocker, ein in einer Ecke eingelassenes Waschbecken. Der Boden war mit einem schwarzen Teppich bedeckt.

Es wurde sich sogar halbwegs drum bemüht, die Zimmer sauber zu halten. Tutu gab sich offenbar Mühe.

„Was ist?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme. Die Wände waren hellhörig, auch wenn ihre Nachbarn soweit selbst lautstark beschäftigt waren.

Heidenstein sah sie an, während sie sich auf das Sofa fallen ließ. Sie war froh für jeden Moment, in dem sie nicht in den beschissenen Schuhen stehen musste.

Heidenstein öffnete den Mund, schloss ihn sogleich wieder, setzte sich schließlich zögerlich auf den Hocker. „Hast du wirklich  …“, begann er, fing sich dann aber. „Hast du etwas herausgefunden?“

„Ja“, erwiderte sie. „Wenn auch nicht viel. Hier waren definitiv Scouts unterwegs und der letzte Typ, mit denen ich gesprochen habe, sagte, er hätte mal gesehen, wie mehrere Männer ein Mädchen in einen weißen Mercedes gezerrt haben.“

Wieder räusperte sich Heidenstein. „Mercedes, eh?“

„Ja. Sie haben sie wohl rausgelockt“, antwortete sie. „Ich habe außerdem gehört, dass ein Scout hier in den letzten Wochen rumgehangen ist. Schwarz, Mitte zwanzig. Er hat verschiedenen Mädchen hohe Angebote gemacht und die Kolleginnen vermuten, dass Dené eins angenommen hat.“ Sie sah ihn an. „Hast du etwas herausgefunden?“

Er zögerte, schüttelte den Kopf, schürzte die Lippen.

Sie lächelte. Es war klar, dass er sich bei der Sache mehr als unwohl gefühlt hatte. Er war halt der Doc, ein gutherziger Typ, der viel zu viel über manche Dinge nachdachte. Es hätte sie nicht überrascht, hätte er es nie mit einer Prostituierten versucht – anders, als die meisten ihrer Kollegen. Aber das war halt der Doc. „Nicht schlimm.“ Letzten Endes mochte sie ihn doch, weil er anders war, weicher, als die meisten.

„Was ist mit Murphy?“, fragte Heidenstein.

„Der Junge scheint sich zu amüsieren“, murmelte sie.

„Ich habe ihn gesehen.“ Heidenstein sah zur Tür.

Sie zuckte mit den Schultern. Eigentlich sollte sie Vorbehalte dagegen haben, aber sie machte sich nichts vor. Der Junge war in solchen Lokalen öfter ein und aus gegangen. Seine Fähigkeit die Gestalt zu ändern, öffnete ihm wahrscheinlich diverse Türen und manche Herzen.

Wieder räusperte sich Heidenstein. Er konnte sich doch nicht beherrschen. „Hast du wirklich mit den Typen  …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende.

„Ja“, erwiderte sie. „Ansonsten hätte ich Aufmerksamkeit erregt.“ Sie musterte ihn, lächelte matt. „Es ist schon okay.“

Sein Blick sagte deutlich, dass er anders dachte. Dies behielt er jedoch für sich.

Pakhet seufzte. Sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Murphy hatte wahrscheinlich recht, dass er eifersüchtig war. Vielleicht sah er es auch anders, maß Sex wirklich mehr Bedeutung bei als sie.

Sollte sie etwas sagen? Sie zögerte.

Da klopfte es an der Typ. „Kann ich irgendwobei helfen?“, fragte eine Stimme, die eindeutig als die Murphys zu erkennen war.

Sie seufzte, ging zur Tür, öffnete.

„Störe ich?“, fragte Murphy und musterte sie beide. Als er ihren bekleideten Zustand sah, lächelte er. „Wohl eher nicht.“

[21.08.2011 – X12 – Scouts]

Natürlich hatte Murphy etwas herausgefunden, doch das meiste bestätigte nur, was auch sie bereits gehört hatte. Ja, sie hatten einen Typen – dieselbe Beschreibung, die auch Pakhet bekommen hatte – gesehen, der Mädchen Angebote gemacht hatte, wenn sie für jemanden anderes arbeiten würden. Ja, angeblich arbeitete dieser Typ in einer kleinen Gang. Die Information war neu, passte aber zu der Autoentführung. Ja, sie bedrohten auch Mädchen, versuchten sie notfalls auch mit anderen Mitteln dazu zu bringen, mitzukommen.

Sie zweifelte, dass sie hier mehr erfahren würden, überlegte zu gehen. Sie hatten noch immer keine konkrete Spur. Wäre ihnen nicht die Zeit davon gelaufen, um das Mädchen zu finden, wäre sie gegangen. Aber die Zeit lief und sie hasste den Gedanken daran. Also blieb sie in der haltlosen Hoffnung, dass sie vielleicht doch den Scout zu sehen bekam. Sie würde mitgehen, das hatte sie beschlossen. Die meisten würden Probleme haben, sie festzuhalten, allein, weil sie keine Kraft von einer Frau erwarteten.

Die Tatsache, dass sie dank der Prothese leichter aus Fesseln und Handschellen entkam, spielte ihr dabei ebenfalls zu.

Dennoch. Langsam leerte sich der Club. Einige unermüdlichen feierten, tanzten weiter. Viele von ihnen sicher unter Drogen. Sie wartete. Vielleicht sah sie einen Scout. Vielleicht sah sie noch jemanden.

„Willst du nicht langsam nach Hause, Pearl, Süße“, meinte Jake, der braunhaarige Barkeep.

Sie drehte sich ihm zu. Langsam hatte sie das Gefühl, dass sie einen vorläufigen Hörschaden von der lauten Musik hatte. „Nein. Ich warte noch ein wenig. Der Umsatz heute war echt nicht gut.“

„Verstehe schon“, meinte er. Er goss einen neuen Drink ein, reichte ihn ihr. „Auf's Haus.“

„Danke“, erwiderte sie, zwinkerte. Sie fühlte sich albern. Wahrscheinlich übertrieb sie mit den Klischees. Doch Klischees waren einfacher, als die Alternative und die meisten dachten sich nichts dabei.

Sie trank den Rum – es war wieder Rum – als sich jemand neben ihr auf den Barhocker schob. „Na, was machst du denn so spät noch hier, Sweetheart?“, meinte eine tiefe Männerstimme.

Sie wandte sich ihm zu, schenkte ihm einen – wie sie hoffte – mitleidigserregenden Blick. „Ich bin ganz einsam.“ Sie wollte nach Haus. Sie wollte unter eine Dusche. Sie hatte keinen Bock mehr auf den Scheiß.

„Ach je, du Arme“, meinte der Mann. Er war Mitte zwanzig, hatte gestyltes, blondes Haar, war gebräunt, gut gebaut. Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. „Soll ich dir ein wenig Gesellschaft leisten?“

„Ich weiß ja nicht“, erwiderte sie, bemüht so naiv wie möglich zu klingen. „Kannst du dir das denn erlauben?“

„Na, na, na.“ Er wedelte mit dem Finger. „Da beschwerst du dich erst, einsam zu sein, und willst dann auch noch Geld dafür, Gesellschaft zu bekommen?“

„Ich bin halt auch ein armes Mädchen.“ Sie bemühte sich um Rehaugen. „Ich brauche das Geld ja.“

„Ach je, und da soll ich mich erbarmen?“, meinte er. Er lachte, lächelte. Dann beugte er sich zu ihr, sprach leiser. „Ich sage dir was. Ich gebe dir fünftausend, wenn du für den Rest der Nacht mit mir in ein Hotel kommst.“

Bingo. Das war eine übliche Taktik. Gut, es war auch, was der ein oder andere Tourist machte, doch die Hoffnung starb zuletzt. Sie schenkte ihm ein zuckriges Lächeln, musterte ihn mit großen Augen. „So viel?“

„Ja“, hauchte er verführerisch. Er beugte sich rüber, flüsterte ihr ins Ohr. „Was sagst du, Süße.“

Sie tat, als würde sie kurz, aber wirklich nur kurz überlegen. „Okay.“ Sie lächelte breit und sprang auf. Ja, sie übertrieb eindeutig, doch ihn störte es nicht. Hatte er es so nötig oder war es eine Falle?

Er hielt ihr die Hand hin. „Dann komm mal, Kleine.“ Als sie seine Hand nahm – und ihm am liebsten eine reingehauen hätte – sah er sie an. „Wie heißt du eigentlich?“

„Pearl“, flötete sie. „Und du?“

„Ryan“, antwortete er.

„Hi, Ryan.“ Wieder lächelte sie. Sie flehte innerlich, dass er ein Scout war. Ansonsten würde sie ihm im Hotelzimmer wohl einen der Darts in den Nacken hauen. Sie hatte auf mehr von diesem Spiel an diesem Abend keine Lust mehr.

Noch einmal wandte sie sich der Bar zu, winkte Jake zu, während ihre Augen nach Heidenstein und Murphy suchten.

Sie fand die beiden an einem Tisch, zusammen mit zwei der anderen Mädchen, in ein Gespräch vertieft. Heidenstein sah kurz zu ihr, wirkte alarmiert und sie hatte keine Möglichkeit ihm ein Okay zu geben, ohne aufzufallen. Jake beobachtete sie noch immer.

Also folgte sie „Ryan“ aus dem Laden heraus auf die Straße. Sie war froh, dass sie Alkohol sehr gut vertrug, denn ansonsten wäre sie wohl nicht mehr fähig gewesen, auf den Schuhen zu laufen.

Ryan war – dank der Schuhe – etwas kleiner als sie, schenkte dem jedoch keine Beachtung. Er hielt noch immer ihre Hand. Etwas zu fest. Vielleicht war es ein „gutes Zeichen“ dafür, dass sie Recht hatte. Sie hoffte einfach darauf.

Sie folgte ihm. „Wohin gehen wir denn?“, flötete sie.

„Zu meinem Wagen“, erwiderte er.

Eine Falle? Hoffentlich war es eine Falle. Abgesehen davon, dass sie jetzt keine Lust hatte, noch in ein Hotel zu fahren, hoffte sie einfach, ihm eine reinhauen zu können. Der Abend hatte gereicht, als dass sich einiger Frust bei ihr angestaut hatte.

Als er sie in eine Gasse führte, wurde ihr klar, dass es wirklich eine Falle war. Hier standen drei andere Typen. Einer hatte eine Pistole, ein anderer einen Baseballschläger, der dritte eine Machete. Ein Ein-Mal-Eins der hiesigen Straßenwaffen also.

„Bitte, tut mir nichts“, flötete sie, tat ängstlich und blickte sich um. Sie suchte nach den besten Methoden, die vier schnellstmöglich auszuschalten. Als erstes würde sie ihre Schuhe loswerden. Dann musste sie den mit der Pistole entwaffnen. Die anderen waren weniger das Problem. Sie könnte die Schlaufe der Handtasche als Schlinge verwenden.

„Jetzt hör mit dem Schauspiel auf“, meinte eine weitere Stimme hinter ihr.

Sie sah sich um. Am liebsten hätte sie „Jackpot“ gerufen, als sie einen jungen Mann erkannte, der genau den Beschreibungen des Typen, mit dem Dené angeblich verschwunden war, entsprach. Auch er hatte eine Pistole, was weniger gut war.

„Was für ein Schauspiel?“ Sie tat unschuldig.

„Du hast nach uns gefragt“, meinte Ryan, packte sie unsanft an der Schulter und schubste sie in Richtung der nächsten Wand. Er hatte ein Taschenmesser in der Hand.

Sie ließ es geschehen. Zum einen, da sie beim Rückwärtsstolpern ihre Schuhe „aus Versehen“ verlieren konnte, zum anderen, da er sie, solange er so nahe stand, vor Schüssen schützte.

„Ich weiß nicht wovon ihr redet“, antwortete sie. Sie ließ die gekünstelte Stimme sein, sprach normal, jedoch weiterhin abwehrend. Sie schaute dem Typen in die Augen. „Lass mich los.“

„Hat Tutu dich auf uns angesetzt?“, fragte er. Die Art wie er das Messer hielt, verriet ihn als Streetthug. Er hatte keine richtige Kampfausbildung genossen. Tat nur dasselbe, wie alle anderen auch.

Sie lächelte ihn an. „Nein. Tutu hat keine Ahnung wer ich bin oder das ich überhaupt hier bin.“ Das war nur die halbe Wahrheit da „Pearl“ sehr wohl durch Smith angekündigt war.

„Dann sollte es wohl besser dabei bleiben.“ Er hielt das Messer an ihr Gesicht, nicht an ihre Kehle. Wohl, weil hübsche Mädchen sich vor Narben im Gesicht fürchteten, es damit auch schwerer war, aus Versehen zu töten.

„Willst du mich bedrohen?“, fragte sie.

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte der Typ, der wahrscheinlich Dené mitgenommen hatte. „Geh zur Seite, Ry, ich mach das.“ Uh, ein ganz starker Typ.

Sie seufzte. Also anders. „Kann mir einer sagen, wohin ihr Candy gebracht habt?“

Die fünf hielten inne. „Wer?“ Also hatten sie nicht mitbekommen, dass sie speziell nach Dené gefragt hatte.

„Candy“, antwortete sie. „Dené Bekker.“

Die fünf tauschten Blicke und Pakhet seufzte noch einmal. Einer von ihnen würde schon reden. Sie hatte auf die ganze Sache wirklich keine Lust mehr. Also ging sie zum Angriff über – mit der Methode, die bei der Nähe und ohne Stahlkappenschuhe am effektivsten war: Sie griff nach Ryans Schultern und rammte ihm ihr Knie in den Schritt. Als er sich instinktiv vorbeugte, setzte sie mit einem Kniestoß in den Solarplexus nach. Dann warf sie ihn in Richtung des einen mit der Pistole bewaffneten Typen, sprang hinterher und ließ die Handtasche von ihrer Schulter gleiten.

Instinktiv versuchte der Bewaffnete Ryan aufzufangen, um nicht selbst umgeworfen zu werden. Sie nutzte das, sprang an Ryans Rechter vorbei und bekam die Hand des Manns mit der Schlaufe zu fassen. Mithilfe der Schlaufe, zog sie die Hand nach oben, überstreckte den Arm, nahm ihn schließlich in einen Hebel. Dann hatte sie ihn die Waffe abgenommen.

Sie wechselte die Waffe in die Linke, während sie mit der Rechten die Darts aus dem Stoff des Kleides hervorzog. Sie jagte dem ehemaligen Schützen den ersten Dart in den Nacken, den zweiten Ryan, der sich gerade aufrappelte. Jetzt schoss ihr Hauptverdächtiger auf sie, zielte jedoch zu hoch. Instinkt, erneut. Seine Kumpanen waren bei ihr und er war wahrscheinlich kein guter Schütze.

Derweil kam Mr Machete auf sie zu, versuchte zuzuhauen. Was glaubte er denn? Wenn er sie mit dem Ding erwischte, konnte er sie nicht mehr befragen und das war doch ihr Ziel, oder?

Sie duckte sich, sprang dann gegen ihn, ihn bei der Hüfte packend. Ganz wie bei einem Tackle im Rugby. Wenn sie schon etwas über die Sportart wegen Crash gelernt hatte. Nun ging sie in einem Judo-Wurf über, landete mit ihm auf dem Boden, als der Kerl mit dem Baseballschläger nach ihr schlug.

Sie rollte sich zur Seite und er traf seinen Kollegen.

Ein Schmerzenschrei und einiges an Fluchen folgte.

Sie nutzte die Gelegenheit. Dart Nummer drei landete im Nacken des Typen mit dem Baseballschläger und sie trat auf die Hand mit der Machete, kickte diese dann weg.

Derweil fiel Mr Pistolenschütze um.

„Hey, was ist mit ihm los!“, rief ihr Hauptverdächtiger.

Sie lächelte ihn an. „Das kann ich dir gleich zeigen.“ Vielleicht war sie etwas zu selbstsicher, aber verdammt, es fühlte sich nach diesem Abend nur zu gut an, ihre Wut an ihnen auslassen zu können.

Allerdings hatte sie dabei vergessen, dass Mr Machete noch immer unter den Lebenden weilte und offenbar noch ein Taschenmesser als Ersatz hatte.

„Hör auf uns zu verarschen, Bitch“, zischte er voller Wut. Er griff sie beim Zopf, zog sie nach hinten. Es tat weh. da sie die Perücke mit Nadeln und Haarnetz befestigt hatte – bis die Perücke nachgab und samt Haarnetz von ihrem Kopf rutschte.

Auch wenn er damit hätte rechnen müssen, war er überrascht.

Sie rammte ihm ihren rechten Arm in die Seite, drehte sich um, als er schon zu Boden ging.

Einige Millisekunden vergingen, ehe sie die Gestalt hinter ihrem Hauptverdächtigen sah, der sie fassungslos anstarrte. „Fuck“, fluchte er. Er drehte sich um und schrie im nächsten Moment auf, als eine weitere Gestalt erschien und ihm seitlich in die Seite schlug.

Elektrizität zuckte und er klappte zusammen.

Murphy klatschte in die Hände. „Ah, viel besser. Arschloch.“

„Ich hoffe er ist noch ansprechbar“, murmelte Pakhet, lächelte aber, ehe sie sich durch das kurze Haar strich, um es wieder halbwegs zu richten. Die Perücke hatte es platt gedrückt. „Hey“, meinte sie dann zu den beiden. „Da seid ihr ja.“

„Ist das der Typ?“, fragte Murphy, der offenbar eins und eins zusammenzählte.

Sie lächelte, trat zu ihnen hinüber und hob den Typen am Kragen auf. „Lass es uns heraus finden.“ Der Kerl war halb ohnmächtig. Seine Augen flackerten. Sie sah zu Murphy. „Was hast du mit ihm gemacht?“

„Elektro-Zauber“, meinte der Junge stolz. „Das war meine Bezahlung für  …“ Er verstummte, grinste. „Äh. Ja.“

Sie zählte alles zusammen. Das Ding, dass sie aus der Anderswelt geholt hatte. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er es gebraucht hatte. Hatte er einen Mentor?

Nun, andere Prioritäten.

Sie drückte ihren Zeugen gegen die nächste Wand, gab ihm eine Ohrfeige. „Aufwachen, Bruder“, meinte sie hart. Noch eine Ohrfeige. Konnte nicht schaden. Sie war sich recht sicher, dass er genug getan hatte, um es zu verdienen. „Hey, aufwachen.“

Langsam fokussierte sich sein Blick. Er hustete, hatte sich zuvor wahrscheinlich an seiner Spucke verschlug. Dann wurde er sich seiner Situation bewusst und starrte sie sicher zwei Sekunden lang an an. „Fuck!“, rief er aus. Seine Augen weiteten sich. Er strampelte mit den Beinen, die gerade so nicht den Boden berührte. Bei so etwas war ihre Größe von Vorteil.

„Hey, sag mal“, begann Murphy, doch Pakhet schenkte ihm einen Blick.

„Ist das nicht eher meine Methode?“, fragte sie ihn.

Er zuckte mit den Schultern, trat zurück. „Wie du meinst.“

Damit fixierte sie den Typen an, hielt ihn mit dem linken Arm fest. Diese Prothese war weniger stark, wie der gröbere Arm, reichte aber noch immer, um ihn gegen die Wand zu drücken. „Also“, begann sie, kam aber nicht weiter.

„Du bist die Iron Bitch!“, stieß er aus.

Verdutzt sah sie ihn an. „Was?“

„Ich habe den Kampf gegen Crash gesehen! Du bist die Iron Bitch!“

Noch immer verstand sie nicht ganz, bis Murphy auflachte. Dann erst fielen die Teile an ihre Plätze. Der Kampf gegen Crash. „Iron Bitch“ war der Arenaname, mit dem Murphy sie angemeldet hatte.

„Weißt du, warum ich hier bin?“, fragte sie, griff noch etwas fester zu.

„Das Mädchen“, stotterte er, seine Stimme mindestens eine Oktave höher als zuvor. „Das Mädchen, das ich letzte Woche  …“

„Ja, ja, genau das“, meinte sie. „Wo ist sie? Wo hast du sie hingebracht? Wo ist sie jetzt?“

„Im Casino“, hauchte er ergeben. „Bitte, ich sag alles. Nur, bitte  …“

Noch immer lachte Murphy. Natürlich, er fand die Situation äußerst amüsant. Sie fragte sich warum. Weil sein Name hängen geblieben war oder weil der Typ so eine Angst vor ihr hatte. Es war am Ende egal. Hauptsache, sie bekamen die Information. Hauptsache, sie konnten Dené finden.

[21.08.2011 – D27 – Heimfahrt]

„Du solltest mich fahren lassen“, murmelte Pakhet, schaute zu Heidenstein zu ihrer Rechten.

Er schenkte ihr einen kurzen Blick, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Anders als ihr beiden, habe ich kaum was getrunken.“ Seine Stimme klang tonlos.

Pakhet verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Sie wollte einfach aus dieser Kleidung raus, wollte duschen. Außerdem war sie müde. So müde.

Als er an einer Ampel hielt, die nun, da kaum ein Wagen unterwegs war, keinen wirklichen Sinn hatte, wandte er sich ihr einige Sekunden lang zu. Er wollte noch immer darüber reden. Doch er beherrschte sich, blickte stattdessen in den Rückspiegel. „Wo kann ich dich rauslassen?“

„Bei Crash, wenn du so nett wärst“, gähnte Murphy. Er schien bereits im Halbschlaf versunken zu sein.

„Glaubst du, die Polizei hat sie schon?“, fragte Pakhet nach einigen Sekunden der Stille.

Heidenstein nickte. „Sie sollten da sein. Ich habe Louws gefragt.“ Auf ihren fragenden Blick hin, zuckte er mit den Schultern. „Ein Bekannter bei der Polizei. Eigentlich für Drogenverfolgung zuständig, aber es würde mich nicht wundern, wenn ein Teil von ihnen Drogen bei sich hatte.“

Und Mr Drogenverfolgung würde die Giftpfeile in den Nacken der fünf einfach ignorieren, eh?

Die Ampel sprang auf grün. Heidenstein fuhr weiter. „Wo genau lebt den Crash?“

„Camps Bay“, antwortete Murphy.

„Wow.“ Heidenstein konnte sich diesen Ausruf nicht verkneifen.

Camps Bay, das direkt in der Nähe des Strandes lag, war eins der besten und vor allem sichersten Viertel der Stadt. Aber klar, wenn Crash direkt in die Profiliga einstieg … Rugby zahlte vielleicht nicht so viel wie Fußball, doch selbst damit konnte man in Südafrika als Profisportler etwas erlauben.

„Ist ganz nett“, gab Murphy zu. Er grinste.

„Und du lebst mit bei ihnen?“, fragte Pakhet, sah über die Rückenlehne ihres Sitzes.

„Jap.“ Mehr sagte er nicht dazu. Und Pakhet kam nicht umher. Wenn Crash das zuließ war es um die Bindung der beiden nicht so dramatisch gestellt, wie Murphy gerne tat.

Pakhet lächelte und lehnte sich gegen das Fenster der Beifahrertür und erlaubte sich, die Augen zu schließen, ihre Gedanken zu leeren, etwas zu dösen. Es war eine lange Nacht gewesen. Verdammt, es war mittlerweile nach zwei.

Sie wollte so sehr duschen.

Wieder blickte Heidenstein zu ihr, schwieg, fuhr weiter, fuhr die sich windende Straße am Rand des Tafelbergs lang. Sie kamen schließlich zum Tor, das das Wohngebiet abgrenzte, passierten und ließen zehn Minuten später Murphy vor einem schönen, eher kleinem, neuen Haus raus.

Er winkte ihnen grinsend hinterher, ehe er einen Schlüssel aus seiner Tasche zog.

Pakhet schloss wieder die Augen, begann wieder zu dösen, doch Heidensteins Stimme riss sie wach.

„Wo soll ich dich hinbringen?“, fragte er.

Sie sah sich um. Sie waren schon wieder auf der M1, unterwegs Richtung Nordosten. „Du bist mit meinem Wagen unterwegs.“

Er hielt inne, warf dem Lenkrad einen irritierten Blick zu, als würde es ihm gerade wieder einfallen. „Natürlich. Tut mir leid.“

„Ich dachte, ich komme mit zum Krankenhaus, schlafe da, wenn du nichts dagegen hast.“ Sie bemühte sich um einen sanften Tonfall.

Er lächelte matt, traurig. „Sicher. Sicher.“

Pakhet musterte ihn. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie fühlte sich ihm gegenüber schlecht. Warum? Deswegen sollte sie sich nicht schlecht fühlen. Sie hatte nur ihren Job gemacht. Er hatte unbedingt mitkommen wollen. Es war nicht ihre Schuld, dass er sich verletzt fühlte.

Sie fuhren in die Flats. Die Straße war weniger befestigt, wich für Teile komplett einer Staubstraße. Zu beiden Seiten des Wagens zogen die Hütten vorbei, die hier hunderte Leute ihr Haus nannten. Viele waren kaum mehr als Verschläge aus Spannholz und Wellblech. Manche waren aus groben Ziegeln gebaut. Andere komplett aus Blech.

Sie seufzte, lehnte die Stirn wieder gegen das Fenster. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas sagen sollte. Doch was?

Blass konnte sie sein Spiegelbild in der Reflexion des Fensters sehen. Keiner von ihnen sagte was. Sie wusste wirklich nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Wie war sie überhaupt in die Situation gekommen?

Sie waren noch vielleicht fünf Minuten vom Krankenhaus entfernt, als er sich räusperte. „Pakhet …“, begann er.

Pakhet wandte den Blick von der Straße draußen ab, sah zu ihm, wartete.

„Ich …“ Heidenstein hatte deutliche Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Wieder schürzte er die Lippen. „Ich verstehe es nicht“, murmelte er schließlich. „Wie kannst du einfach …“

Sie zuckte mit den Schultern. Auch wenn er es noch immer nicht aussprach, wusste sie, wovon er sprach. Es war nicht schwer zu erraten. „Doc.“ Wieder bemühte sie sich um einen sanften Ton. „Ich mache diesen Job seit sieben Jahren. Ich bin eine Frau. Bei diversen Jobs kommt es darauf an, an die richtige Person zu kommen. Viele dieser Personen sind Männer. Sex ist eine Methode.“ Sie machte eine Pause, sah wieder aus dem Fenster. „Selbst für jemanden wie mich.“

Er runzelte die Stirn. „Für jemanden wie dich?“

Warum hatte sie mit dieser Reaktion nicht gerechnet? „Ein Mannsweib“, erklärte sie. „Keine Titten, kein Hintern, einen Arm zu wenig.“

Wieder schwieg er kurz. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich verstehe trotzdem nicht. Ich meine, wieso …?“ Wieder brach er ab.

„Es ist für mich Teil des Jobs, Doc“, antwortete sie. „Und … Für mich ist es generell nicht schlimm. Ich messe dem ganzen einfach nicht so viel Bedeutung bei.“ Sie hatte es ihm dasselbe bereits in ihrem Urlaub gesagt und fühlte sich dennoch, als würde sie Salz in eine Wunde reiben. „Anders kann ich es dir nicht erklären.“ Sie seufzte, lächelte dann aber. „Ich will dennoch eine verdammte Dusche.“

Ein halbherziges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Die kannst du gerne haben.“

Sie schwieg kurz. „Es tut mir leid, Doc“, sagte sie dann. Auch wenn sie nicht wusste, wofür sie sich entschuldigte, so war die Entschuldigung aufrichtig.

Er nickte müde. „Schon gut“, seufzte er leise.

Pakhet musterte ihn, zwang sich zu einem Lächeln, wechselte dann das Thema. „Kommst du morgen mit?“

Ein fragender Blick.

„Zu diesem ‚Casino‘“, ergänzte sie.

Er nickte, nun wieder matt lächelnd. „Natürlich.“ Auch er seufzte. „Ich werde dich sicher nicht allein gehen lassen.“ Er murmelte diese Worte.

Sie war sich nicht sicher, ob er mit ihr oder mit sich selbst sprach.

[21.08.2011 – D28 – Casino]

Der nächste Tag war extrem trocken und für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Hitzeschlieren bildeten sich in der Ferne über der Straße, als sie mit dem Transporter in die Richtung fuhren, die ihr singender Freund ihnen gesagt hatte. Was auch immer es mit dem „Casino“ auf sich hatte … irgendwie glaubte sie nicht, dass sie eine Glücksspielhalle vorfinden würden.

Sie waren zu zweit. Murphy hatte erst später Zeit und Pakhet war dankbar dafür. Sie war sich nicht sicher, was sie finden würden, doch ging sie jede Wette ein, dass der Junge es nicht unbedingt sehen sollte.

Sie hatten den Transporter genommen, da er weniger auffiel. Nicht zuletzt, da er schon wieder mit Sand verklebt war und verdreckt wirkte.

Mit Blick auf das Navi, stupste sie Heidenstein an. Er fuhr. „Such dir hier etwas zum Parken“, wies sie ihn an.

Sie wollte nicht zu Nahe an das Gebäude heran.

Er nickte stumm. Seine Miene war für ihn ausgesprochen grimmig. Er war nicht begeistert von der Aussicht, hatte aber drauf bestanden mitzukommen. Etwas, wofür sie dankbar war.

Letzten Endes hielt er den Wagen hinter der noch genutzten Ruine eines der frühen Wohnungsbauprojekte, die zu Beginn der Apartheit errichtet worden waren. Ein altes Gebäude aus roten, unversiegelten Ziegeln, das heruntergekommen wirkte, wahrscheinlich aber noch von irgendeinem armen Schlucker bewohnt wurde..

Sie waren am südostöstlichen Ende der Flats. Es lag nicht viel zwischen ihnen und dem Farmland.

„Wollen wir?“, fragte sie Heidenstein.

Er öffnete die Wagentür, seufzte. „Ja. Lass uns.“

Sie tat es ihm gleich, sprang auf die Straße und sah sich um. Niemand war in der Nähe – was gut war, denn ihr Plan involvierte nicht zuletzt die Armreife, die Heidenstein geschaffen hatte. Es wäre für die meisten normalen Menschen auffällig, sie einfach verschwinden zu sehen.

Pakhet umrundete den Wagen, da er mit der rechten Seite am Haus stand, gesellte sich zu Heidenstein.

Er seufzte noch einmal. Er hatte eine Kamera dabei. Eine von diesen Action-Cams, die in letzter Zeit mehr und mehr genutzt wurden. Die Hoffnung war, dass sie sich eine Übersicht über den Aufbau des Gebäudes verschaffen konnten.

„Wenn wir sie finden“, begann Heidenstein vorsichtig und sprach dabei fraglos über Dené, „reicht es eigentlich, wenn wir die Adresse an diesen Tutu weitergeben, oder?“

Auch Pakhet hatte darüber nachgedacht. Ihre Aufgabe war eigentlich nur, herauszufinden, wo Dené war. Natürlich war impliziert, dass sie sie zu Tutu bringen sollten, oder? Eigentlich reichte es, herauszufinden, wo sie war. Sie könnten Bescheid sagen, es die Gangs regeln lassen, die fraglos für Tutu arbeiteten. Immerhin war er bekannt für seine „Security“.

Eigentlich hätte es gereicht, ihm zu sagen, was sie nun wussten. Doch Pakhet hasste es, auf die Worte des Scouts zu vertrauen. Sie wollte Bestätigung. Denn auch, wenn er nicht gelogen hatte, wenn er Dené wirklich dahin gebracht hatte, so hieß das noch lange nicht, dass sie sich auch jetzt dort befand.

Sie hasste es darüber nachzudenken.

„Ja“, murmelte sie matt, schluckte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus.

Noch immer gab es vieles, was ihr an der Sache nicht gefiel. Der Auftrag selbst war ein Teil davon. Sicher, Tutu war dafür bekannt, einer der respektvolleren Pimps zu sein. Seine Mädchen waren sicher, seine Mädchen wurden bezahlt. Aber es waren auch vorher Mädchen verschwunden, das hatte man ihr erzählt, warum also die Bezahlung für Dené? Warum war sie so besonders? Es war eine Menge Geld, um ein einzelnes Mädchen wiederzufinden, wenn er doch andere hatte, die für ihn arbeiteten.

Hatte Dené eine besondere Verbindung zu ihm oder hatte er Hintergedanken?

Dann war da die Sache, dass sie nicht sicher sein konnten, was sie an dem Casino finden würden. Sie wusste zu wenig über die Leute, hatte kaum Möglichkeiten, mehr herauszufinden. Informationen kosteten Geld – oder sehr viel Aufwand und Zeit. Sie hatte nichts davon. Gut, sie hatte Geld, doch Geld ausgeben, um einen Auftrag, für den sie bezahlt wurde, auszuführen, war widersprüchlich.

Und dann war da noch eine Sache: Heidenstein hatte ihr gesagt, dass die Scouts nach aktueller Beweislage nur vierundzwanzig Stunden lang festgehalten würden. Nicht genug. Und dann? Dann konnte das ganze viel komplizierter werden, vor allem nachdem ihr Singvogel sie erkannt hatte. Es wäre wahrscheinlich einfacher gewesen, sie zu töten.

„Pakhet?“ Heidensteins fragende Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Sie holte tief Luft, nickte. „Lass uns gehen“, murmelte sie. Sie konnten es nicht länger verschieben.

Er musterte sie besorgt, nickte selbst und aktivierte den Zauber. Er verschwand.

Auch sie berührte den Armreif, wurde unsichtbar.

Für einen Moment stand sie so dort, dann bemerkte sie Heidensteins Hand, die nach der ihren tastete.

Instinktiv wollte sie die Hand wegziehen, beherrschte sich aber. Sie wusste, dass es klug war, um sich unsichtbar nicht zu verlieren. Da die Artefakte den Zauber hielten, würde es nicht leicht sein, den anderen wiederzufinden, selbst wenn er ausgeknockt wurde. Also erlaubte sie es ihm, nach dem Gelenk ihrer Prothese zu greifen.

Sie atmete durch, roch den Sand und Staub der Straße. Dann machte sie die ersten Schritte, spürte, wie Heidenstein ihr folgte. Sie waren knapp vierhundert Meter von dem Gebäude entfernt, das laut GoogleMaps ein etwas älterer, langgezogener Bau war. Sie vermutete nach den Satellitenbildern, dass es ebenfalls eins jener Reihenhäuser war, die man überall in den Flats gebaut hatte. Eventuell ein altes Obdachlosenheim. Straßenaufnahmen von vor dem Gebäude hatte sie nicht gefunden.

Während sie unsichtbar die Straße entlangschlichen, sahen sie kaum jemanden. Ein einzelner Straßenjunge – dreizehn oder vierzehn Jahre alt – stahl sich über die Straße, darauf bedacht im Schatten der Gebäude zu bleiben. Sonst war da niemand. Keine Wagen. Nichts. Es war, als wäre dieser Teil des Ghettos komplett verlassen.

Sie gingen weiter, bogen rechts ab.

Das Gebäude – es musste das Gebäude sein – kam in einiger Entfernung in ihr Blickfeld.

Sie hatte sich geirrt. Das Gebäude war keine der Standartunterbringungen, sondern wirkte viel eher, wie eine längliche Lagerhalle mit weißmetallenen Flachdach. Die Wände waren geweißt, doch die Farbe blätterte ab. Es hätte genau so gut verlassen sein können, wären da nicht die vier Wagen gestanden, die auf der freien, steinigen Fläche vor dem Eingang standen.

Das Haus stand etwas Abseits von den anderen Häusern – nicht das es ungewöhnlich war. Die Häuser hier waren mal in unregelmäßigen Abständen errichtet. Ungewöhnlich war jedoch, dass in knapp fünf Metern Entfernung zum Gebäude ein zweieinhalb Meter hoher Maschendrahzaun in die Höhe wuchs.

„Da ist jemand paranoid“, flüsterte sie.

Heidenstein murmelte eine Zustimmung. Seine Stimme klang belegt. Seine Hand griff die ihr Handgelenk fester.

Wie kamen sie rein?

Sie hatte keinen Zweifel daran, dass ihre Sprungkraft sie über den Zaun bringen würde. Allerdings saß da ein vielleicht dreißigjähriger Schwarzer vor dem Haus, rauchte. Wenn sie nicht irrte, war der längliche Gegenstand neben ihm ein Gewehr.

„Lass uns ums Haus herum laufen“, flüsterte sie.

Das Gebäude hatte einmal Fenster gehabt. Mittlerweile waren diese mit Brettern vernagelt. Das ganze wirkte von außen bereits zwielichtig.

„Wie kommen wir rein?“, hauchte Heidenstein.

„Eher: Wie kommst du rein“, murmelte sie. „Ich kann über den Zaun springen.“

Er schwieg. Dann: „Es muss ein Tor geben.“

Natürlich hatte er damit recht. Wie kamen sie sonst selbst rein, mit ihren Wagen?

„Also weiter.“ Sie schlich den Zaun entlang und stellte schnell fest, dass Heidenstein Recht hatte: Es gab ein Tor auf der Rückseite, von wo eine Schotterstraße zur M9 führte.

So sicher die Anlage mit dem Zaun auch wirkte, so lächerlich war das Tor: Es war ein einfaches, leicht angerostetes Tor aus weiß bemaltem Stahlrohr, wie es oft auf Schafsweiden verwendet wurde.

„Kommst du da rüber?“, fragte sie.

„Ja“, erwiderte er. Beinahe war eine Spur Beleidigung aus seiner Stimme zu hören.

Sie sagte nichts, sondern zog, damit er die Prothese losließ. Dann nahm sie Anlauf, sprang, setzte einfach über das Tor hinweg und wartete.

Sie hörte nichts und das verunsicherte sie. Wenn sie hier Leute gefangen hielten, sollte man nicht etwas hören?

Das Klappern des Tores ließ sie zusammenzucken. Einen Moment später hörte sie ein Flüstern in ihrer Nähe. „Pakhet?“

Still ging sie in die Richtung, tastete, bekam Heidensteins Hand zu fassen und zog ihn in den Schatten des Gebäudes. Sie wusste zu gut, dass man den Zauber im hellen Licht leichter durchschauen konnte.

Schritte.

Jemand kam um das Gebäude herum. Der Typ, der vorne gesessen war. Er ließ seinen Blick den Zaun entlang schweifen. Wahrscheinlich hatte er das Klappern gehört. Dank des Zaubers entdeckte er sie nicht, schüttelte schließlich den Kopf und setzte seinen Weg um das Gebäude herum fort.

Pakhet zog Heidenstein in die andere Richtung um das Gebäude herum. Sie wollte zur Vordertür, die sie zuvor gesehen hatte.

Was auch immer das Gebäude einmal gewesen war, sie war sich recht sicher, dass sich diese Typen erst später hier einquartiert hatten. Deswegen war auch das Tor nicht in Richtung der Fronttür des Gebäudes.

Sie kamen kurz vor dem Typen – war er eine Wache? – an der Vorderseite an, wo er sich wieder hinhockte.

Er beachtete sie nicht und die Tür war halb offen. Sie müssten vorsichtig sein, doch sie sollte weit genug offen sein, als dass sie sich durchquetschen konnten, ohne die Tür zu bewegen.

Vorsichtig schlich sie nach vorne, zog Heidenstein mit sich.

Seine Anspannung war deutlich zu spüren.

Sie hatten die Tür kaum erreicht, als zwei Leute rauskamen. Ein Mann und eine Frau. Er offenbar indischer Abstammung, sie mit schwarzer Haut und muskulös gebaut.

Sie redeten in einer Sprache, die Pakhet nicht verstand, schienen alles in allem in gelassener Stimmung zu sein. Sie hatte eine Flasche Alkohol in der Hand – billiger Rum. Es hatte keinen Sinn, sie zu belauschen – aber sie ließen die Tür weiter offen und verwickelten den Mann vorne ebenfalls in ein Gespräch. Sie verfielen in Afrikaans.

Kurz zögerte Pakhet, dann aber ging sie zur Tür und schlich hindurch.

Der Flur dahinter war mit Fliesen belegt. Diese waren einmal weiß gewesen, wirkten nun aber braun und versifft, viele von ihnen zeigten deutliche Risse. Der Flur bog nach zwei Metern um eine Ecke nach rechts. Auf der linken Seite war eine Tür.

Pakhet folgte dem Flur. Hier waren diverse Türen. Was auch immer das Gebäude einmal gewesen war.

Eine Tür führte dem Geruch nach fraglos zu einer lang nicht geputzte Toilette. Sie hielt den Atem an, ging weiter, spähte durch eine Angelehnte Tür aus altem, gammeligen Holz.

Dahinter lag ein zierdeloser Raum. Kein Bodenbelag, keine gestrichenen oder tapezierten Wände. Nur brauner Beton. Hier lagen einige Matratzen, die offenbar als notdürftige Nachtlager dienten.

Hinter einer geschlossenen Tür hörten sie Stimmen. Ein Gespräch in Afrikaans. „Nach Durban“, schnappte Pakhet auf.

„Ich sag den Ninern Bescheid.“

„Das Arsch verbraucht sie auch.“ Ein verächtlicher Laut. Eine der beiden Stimmen war eine tiefe Frauenstimme.

Gerne hätte Pakhet einen Blick mit Heidenstein getauscht, doch sie konnte ihn nicht sehen. Also blieb ihr nichts, als selbst eine Entscheidung zu treffen. Sie konnte aus keinem der Zimmer Laute hören, die auf Gefangene hindeuteten. Sie war sich dennoch sicher, dass das Gebäude etwas damit zu tun hatte. Oder war es einfach nur eine Drogenküche?

Ein Gespräch von draußen. Schritte.

Pakhet packte Heidenstein, drückte ihn mit sich selbst an die Wand des Flurs. Doch umsonst: Die beiden, die sie vorher hatten rausgehen sehen, kamen rein. Der Mann ging zur Tür, die Pakhet dem Geruch nach, als Toilette identifiziert hatte, die Frau zur ersten Tür, rechts vom Eingang.

„Gib Mongo 'nen Tritt“, scherzte der Mann, halb in der Toilettentür stehend.

„Mach ich“, erwiderte die Frau. „Wetten, dass er schon wieder eine fickt.“

„Irgendwann bringt Jaco ihn um.“ Der Mann lachte, verzog sich dann in die Toilette, schloss die Tür.

Pakhet drückte Heidensteins Schulter und er griff nach ihrer Hand, machte einen leisen Laut, um zu zeigen, dass er verstand.

So schnell und leise wie möglich gingen sie zur Tür, durch die die Frau verschwunden war. Sie hatte sie wieder geschlossen, doch sie hatten keine Wahl.

Kurz drückte Pakhet ihr Ohr an die Tür, lauschte. Als sie keine Schritt hörte, öffnete sie die Tür weit genug, um hindurchschauen zu können. Dahinter lag ein leerer Raum, jedenfalls war nicht mehr durch den Spalt zu sehen.

Es schien ein Lagerraum zu sein. Noch immer lagen da Säcke. Säcke mit was? Es war auch egal.

Sie öffnete die Tür etwas weiter, schlich hindurch und fand den Raum verlassen vor. Was ging hier vor?

Doch als ihr Blick durch den Raum glitt, verstand sie. Die paar Säcke, die noch hier lagen, waren nur Teil von anderen Baumaterialien. Wahrscheinlich nicht, was ursprünglich in dem gute fünf mal fünf Meter großen Raum gelagert worden war. Doch im Betonboden, der erneut unversiegelt war, lag die Antwort auf die Fragen, die durch ihren Kopf kreisten:

Eine metallene Falttür.

Natürlich. Sie hatten ihre Opfer unter dem Haus versteckt. So verhinderten sie auch, dass man Schreie zu weit hörte. Es machte absolut Sinn. Und auf dem Video, das Michael ihr geschickt hatte, hatte es keine Fenster gegeben.

„Fuck“, flüsterte sie, als sie zur Tür hinüberschlich.

Metall, bereits etwas älter. Es würde sie nicht wundern, wenn die Tür quietschte. Sie blickte sich um.

„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Heidenstein.

„Gute Frage“, erwiderte sie leise. Sollten sie es riskieren? Hatten sie überhaupt eine Wahl?

Sie holte tief Luft. „Wir gehen jetzt. Bevor der andere Idiot zurückkommt. So glauben sie vielleicht es ist er. Du gehst zuerst. Ich halte die Tür.“ Sie würden da unten gefangen sein, wenn sie nicht aufpassten.

„Okay.“ Er klang unsicher, diskutierte aber nicht.

Das mochte sie an Heidenstein. Er wusste, wann die Zeit war, über Dinge zu sprechen, und wann man schnell handeln musste.

Pakhet lauschte. Soweit hörte sie keine weiteren Schritte. Wenn jemand unter der Falttür stand, hatten sie ein Problem. Doch sie mussten einfach hoffen.

Also hob sie die Falttür an. Weit genug, als das Heidenstein hindurchpassen sollte. Sie war vorsichtig, hatte Glück. Es erklang ein Quietschen, aber es war nur leise.

Sie versuchte es positiv zu sehen. Wenn sie richtig lag, waren nicht mehr als sechs Wachen hier: Der eine Typ draußen, die beiden in der Küche, die beiden, die sie gesehen hatten und dieser Mongo.

„Okay“, hauchte Heidenstein.

Pakhet glitt durch die Tür, ließ sie hinter sich zufallen.

Sie hockte auf einer metallenen Treppe und kam sich vor, als wäre sie in einem anderen Haus.

Der Gang, der vor ihr lag, hatte sie gar nichts von dem heruntergekommenen Haus oben.

Die erste Assoziation, die sie hatte, war ein Krankenhaus. Der Gang knapp eineinhalb Meter breit, mit Linoleum ausgelegt. Die Wand war mit einer glatten Farbe weiß gemalt. Einzig die groben, mit Drahtabdeckung verhängten Kellerlampen an der Decke widersprachen diesem Eindruck.

Hier waren auch Geräusche zu hören.

Ihr Magen verkrampfte sich. Da war ein Stöhnen und unterdrückte, erstickte Laute. Die Geräusche von Sex. Aber auch andere Geräusche. Weinen, Wimmern.

Der Gang war zwischen zehn und zwölf Meter lang. Auf jeder Seite gingen drei Türen ab, eine weitere war am Ende.

Eine Tür stand auf und ein Licht von einer anderen, helleren Farbe als das gilblichen Kellerlampen fiel auf den Gang. Jemand – die Frau, die sie zuvor gesehen hatten – sah in den Flur. „Nkulo?“ Sie runzelte die Stirn, wandte sich wieder in den Raum. „Hast du das auch gehört?“

Ein Keuchen war die Antwort.

Pakhets Hand fand Heidensteins Arm. Sie griff ihn, hielt ihn fest. Sie wollte etwas tun. Wenn es nur sechs Leute waren, dann wäre es ein leichtes für sie, die Wachen zu überwältigen. Sie könnte wen auch immer sie hier festhielten, befreien.

„Ruhig“, presste Heidenstein hervor.

Sie nickte. Sie wusste selbst, dass vorschnelles Handeln zu Fehlern führte.

Sie machte die ersten Schritte auf den Gang, vorsichtig Geräusche zu vermeiden. Ihre Hand hielt Heidensteins Arm umklammert.

Da öffnete sich die Falltür über ihnen. Natürlich. Nkulo kam nach.

Fuck. Hier im gut erleuchteten Gang würde er sie sehen, wenn sie stehen blieben. Also eilte sie so leise wie möglich nach vorne. Wo sollten sie hin? Gerade als sie vor dem Zimmer mit der offenen Tür waren, schaute die Frau heraus. „Nkulo?“ Sie runzelte die Stirn, ihre Augen folgten Pakhet und Heidenstein. „Bist du erst jetzt gekommen?“ Sie schaute weiterhin in ihre Richtung.

Pakhet konnte nur einen kurzen Blick in das Zimmer werfen. Darin lag ein Mädchen, ein dunkelhäutiges Mädchen, nicht älter als achtzehn, aber wahrscheinlich jünger, mit hinter dem Rücken gefesselten Armen auf einem Tisch. Sie trug nichts weiter, als ein loses T-Shirt, das verschlissen und viel zu groß für sie war, während ein Mann sie vergewaltigte.

Sie konnte die Frau einfach ausschalten, dann die beiden Typen, sagte sie sich. Dann konnte sie dem Mädchen helfen. Sie wollte dem Mädchen helfen. Warum tat sie es nicht?

„Glaubst du es ist einer der Geister?“, fragte Nkulo, während er zu ihnen kam. Er schaute in den Gang, seine Augen jedoch unfokusiert. Er hatte sie nicht gesehen. Noch nicht.

Geister? Sie wussten von Geistern?

„Du kannst ihn fragen“, zischte die Frau. Wie sie das „ihn“ aussprach, suggerierte, dass es jemand besonderes war. Also noch eine Wache? „Ich glaube eher, wir haben Eindringlinge.“

„Fuck“, kam es von hinter ihr.

Arschlöcher.

Und jetzt?

Was konnten sie tun?

Es war Heidenstein, der nach ihrem Arm griff, sie festhielt. Er sagte nichts, durfte nicht reden, jemand würde sie hören, zog sie jedoch weiter an sich heran. Dann flog etwas durch die Luft. Sie konnte nicht sehen, was es war, doch es landete knapp unterhalb der Treppe, und löste ein fallendes Geräusch aus. Die Klappe bewegte sich.

„Sieh nach“, befahl die Frau, fuhr zur Falltür herum.

„Fick dich“, murmelte Nkulo. Er schien von der Situation alles andere als überzeugt.

Pakhet verstand. Was Heidenstein geworfen hatte, musste ein Trank gewesen sein. Ein schwaches Artefakt. Dergleichen gab es an einigen Orten zu kaufen, wenn man nur wusste wo. Vielleicht hatte er es auch selbst hergestellt, wie die Armbänder. Sie wusste immer noch nicht, wie umfassend seine Kräfte waren. Für den Moment war es nicht wichtig.

Während Nkulo zur Treppe ging, eine Waffe vom Bund seiner Hose zog – eine Browning, wenn Pakhet nicht irrte – sah die Frau ihm hinterher.

Heidenstein nutzte die Gelegenheit, um die ihnen nächste Tür, an der linken Seite des Flurs, zu öffnen, dagegen zu drücken und Pakhet mit sich in den Raum zu zerren.

Sie schloss die Tür hinter ihnen, blickte sich um.

Es war dunkel im Raum, doch der Zauber auf ihrem linken Auge erlaubte es ihr, zumindest Umrisse, dann Gestalten auszumachen. Und was sie sah, gefiel ihr gar nicht.

Auch hier lagen Matratzen auf dem Boden, doch auf ihnen lagen Jugendliche. Pakhet zählte vierzehn von ihnen. Allesamt gefesselt und schlimmer noch: Wie Hunde mit Halsbändern und Ketten an Ringe in der Wand gebunden. Einige von ihnen wimmerten, weinten, doch schien keiner von ihnen wirklich bei Bewusstsein zu sein. Sie schienen in einem seltsamen Wachschlaf gefangen.

Sie hörte ein Knurren.

„Pakhet“, hauchte Heidenstein. „Wir müssen hier heraus.“

„Was? Was ist los?“, zischte sie. Sie fuhr herum. Sie konnte nichts erkennen, doch ihre Instinkte schrien. Was war hier los? Irgendetwas Magisches. Aber was?

„Astralraum“, antwortete Heidenstein. „Irgendetwas. Geist. Dämon. Raus!“

Sie verstand. Wenn die Frage „menschliche Wachen oder Dämon“ lautete, dann nahm sie die menschlichen Wachen. Fuck.

Es war vielleicht ein Fehler gewesen, hier herunter zu gehen. Sie saßen in der Falle.

Nein, es gab keinen Grund panisch zu werden. Selbst wenn diese Truppe von Magie wusste, selbst wenn sie einen Schamanen oder vergleichbares bei sich hatten, so hieß das noch lange nicht, dass dieser mächtig genug war, um wirklich gefährliche Wesen aus der Anderswelt oder von der Astralebene zu beschwören. Wahrscheinlich waren es nur einfache Geister, simple Elementare, niedere Dämonen. Nichts, mit dem man nicht klar kam, sobald man selbst im Astralraum oder der Dämon materialisiert war.

Ihre Hand tastete nach der Tür, während sie die Jugendlichen ansah. Sie konnte Dené nicht unter ihnen erkennen, sah jedoch kaum genug Kontrast, um sicher ausschließen zu können, dass sie unter ihnen war.

Pakhet öffnete die Tür, quetschte sich heraus, sah sich um. Die Falltür war offen, die Frau stand davor. Ein anderer Mann kam aus der noch immer offenen Tür, machte seine Hose zu und zog dann die Waffe, während ein leises Weinen aus dem Raum zu hören war.

Er blockierte ihnen den Weg. Großartig.

Verdammt. Was jetzt? Was?

Das Knurren erklang hinter der Tür, durch die sie gerade gekommen waren, ließ auch die Frau und Nkulo herumfahren.

„Ich wusste doch, dass jemand hier ist!“, rief die Frau aus und dann fokussierten sich ihre Augen auf ihre Schatten.

Ach, verflucht. Es hatte keinen Sinn.

Pakhet zog die Pfeilpistole. Zielen war schwer, wenn man die eigene Hand, die eigene Pistole nicht sah, da sie für sie genau so unsichtbar war, wie für alle anderen. Doch sie schoss. Zwei Pfeile. Nach Gefühl. Einer endete im Nacken Nkulos, der sich mit der Hand hinfuhr.

„Was zum  …“, keuchte er, zog den Pfeil aus dem Nacken hervor.

Die Frau zog ihre Pistole, kam langsam auf sie zu.

„Was?“, fragte Heidensteins Stimme leise.

„Lass mich“, erwiderte sie. Sie versuchte auf die Frau zu zielen, während diese versuchte, dasselbe umgekehrt zu tun.

Sie durfte sie auf keinen Fall Treffen. Wenn es hier einen Magier gab, durfte er ihr Blut nicht in die Finger bekommen. Magier, die das eigene Blut hatten, war ein ziemlich sicherer Weg, den Tod zu finden.

Sie schoss. Drei Pfeile, ob der Entfernung. Eine Überdosis würde die Frau töten, doch im Moment war es Pakhet egal.

Nkulo fiel um, während sich der Finger der Frau anspannte. Sie fluchte, machte mit der linken eine Bewegung. Dann schoss sie.

Instinktiv sprang Pakhet nach vorn, verschwand durch die genüberliegende Tür und fand sich in einem ihr bekannten Raum wieder. Der Raum, in dem das Video, das sie gesehen hatte, gedreht worden war. Er war leer.

Heidenstein war hinter ihr. Er keuchte.

„Alles okay?“, fragte Pakhet.

„Ja, bisher“, erwiderte er. Er hielt inne, sah sich wahrscheinlich seinerseits um, fluchte.

Neben dem Sofa, auf dem das Video gedreht worden war, fanden sich hier tatsächlich drei Kameraständer. Sie schienen solche Videos häufiger zu drehen. Übliche Verkaufsstrategie? Der Gedanke ließ Übelkeit in ihr aufkommen.

Das Geräusch eines fallenden Körpers, dann ein Ruf, Schritte auf der Treppe.

Heidenstein bewegte sich. Er ging zur Tür. Das leise Zischen seiner Dartgun war zu hören und ein wütender Aufschrei.

Schüsse erklangen im Flur, doch Heidenstein war schon wieder bei ihr.

Sie warteten, während die Schritte näher kamen. Dann fiel auch der dritte Typ, wohl Mongo, um.

„Du ahnst gar nicht, wie dankbar ich für das Zeug bin“, hauchte Pakhet. Im Moment war es ihr wirklich egal, ob sie tötete – es ihr nur darum, wie viel sauberer die Dartgun war. Das Gift wirkte, die Leute fielen um. Nicht vollkommen ohnmächtig, aber unfähig noch was zu tun und vor allem ohne viel Krach zu machen.

„Was jetzt?“, fragte Heidenstein.

„Wir schauen uns um“, antwortete Pakhet, „verschaffen uns eine Übersicht. Dann sehen wir zu, dass wir zumindest das Mädchen herausholen.“

„Okay.“ Seine Hand suchte nach der ihren. Als sie ihm entgegen kam, merkte sie, dass er die Kamera in der Hand hatte. „Ich kümmer mich um das Mädchen, du siehst dich um.“

„Okay.“

Sie nahm die Kamera. Sie hatte keine Zeit, sie sich umzubinden, hielt sie stattdessen vor sich und ging aus dem Zimmer heraus. Sie war im letzten Zimmer auf der rechten Seite. Das Zimmer, in dem sie zuvor gewesen waren, war das letzte auf der linken gewesen. Das Zimmer am Ende des Raumes, war das naheliegendste.

Sie streckte ihre Hand nach der Türklinke aus, hielt dann aber inne. Ein ungutes Gefühl überkam sie.

Was zur Hölle?

Sie konnte erst die anderen Zimmer überprüfen.

Also ging sie: Das mittlere Zimmer auf der rechten Seite war das, in dem ein nun sichtbarer Heidenstein auf das Mädchen zuging. Sie sah ihn angsterfüllt an, während er sanft auf sie einredete. „Alles in Ordnung. Ich bin hier um dir zu helfen.“ Er sprach mit der Stimme eines Arztes, sprach in Afrikaans. „Verstehst du mich?“

Pakhet nahm die Tür gegenüber, machte das Licht hier an.

Dasselbe wie im Nachbarraum, nur weniger Jugendliche – und es waren ausnahmslos Jugendliche. Keiner von ihnen war Älter als vielleicht einundzwanzig, maximal dreiundzwanzig.

Auch sie in einem Wachkoma gefangen, auch sie einem gefangen.

Ihr fiel auf, dass knapp die Drittel der Jugendlichen weiß waren. Entweder sie suchten speziell danach oder es sagte etwas darüber aus, von wo sie die Jugendlichen einsammelten.

Einer der dunkelhäutigen Jungen – Pakhet schätzte ihn auf nicht älter als sechszehn – der Nahe an der Tür lag, rührte sich anders als die anderen nicht. Er weinte nicht, wimmerte nicht, zitterte nicht. Seine Augen waren glasig.

Unwillkürlich ging Pakhet zu ihm hinüber, kniete sich neben ihn, tastete nach seinem Puls. Da war nichts. Seine Haut war kalt.

Verdammt, was machten sie mit diesen Jugendlichen? Wieso waren sie ohnmächtig?

Pakhets Augen glitten über die Gruppe und sie erkannte schließlich einen braunen Schopf.

„Dené“, hauchte sie, stand auf, ging zur ihr hinüber.

Das Mädchen zitterte, wimmerte, wie die anderen.

Pakhet schüttelte sie. „Dené?“ Sie ahnte, dass es keinen Sinn hatte. Dennoch versuchte sie es.

Dann ein Knurren. Natürlich. Was hatte sie erwartet?

Sie schaute gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie eine Bestie auf sie zusprang.

Das Wesen war gute zweieinhalb Meter groß, erinnerte an einen Schakal, nur das es kein Fell hatte, das Maul unnatürlich in die Länge gezogen war und seine beinahe schwarze Haut so eng an den Knochen lag, dass es wirkte, als wäre sie über das Skelett gezogen. Die Augen des Wesens glühten wie rote Kohlen.

Pakhet sprang zur Seite. Zu spät erkannte sie, dass das Ungeheuer, aus dessen Pfoten lange Klauen ragte, die Jugendlichen automatisch zerreißen würde.

Doch nichts dergleichen geschah. In der Luft stieß sich die Bestie von einer unsichtbaren Wand ab und schnappte nach Pakhet.

Sie duckte sie, spürte aber, wie die Fänge über ihre Weste glitten. Wäre das Leder nicht verzaubert, wären sie zu ihrer Haut durchgedrungen.

Pakhet rollte sich über den Boden, zog ihr Messer aus der Schneide an ihrem Bein, machte derweil die Kamera an ihrem Gürtel fest, in der Hoffnung, dass sie den Kampf überlebte. Sie deaktivierte den Armreif, wohl wissend, dass er gegen die Bestie eh nutzlos war. Das Wesen knurrte sie an. Zu ihrer Überraschung schwang Sprache in dem Knurren mit – auch wenn sie die Sprache nicht verstand. „Chetem!“

„Lass diese Kinder in Ruhe!“, erwiderte sie. Wahrscheinlich verstand das Wesen genau so wenig, wie sie.

Einige der Jugendlichen rührten sich. Also war es die Magie dieses Wesens, dass sie gefangen hielt? Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?

Sie musste das Ungeheuer umbringen. Vielleicht konnte sie die Jugendlichen so wecken!

Der Schakal machte sich zum Sprung bereit, sprang auf sie zu – sofern man von in dem kleinen Raum von einem Sprung reden konnte. Sie duckte sich, leitete Energie in ihre Beine und sprang nach vorne. Sie rollte unter den Schakal, hackte mit dem Messer nach seinen Beinen. Wenn sie die Sehen durchtrennte, würde der Kampf einfacher werden.

Der Kopf des Wesens wandte sich nach unten. Zwei lange, zähnebesetzte Kiefer schnappten nach ihr, aber sie war schneller. Ihr Messer schnitt durch die Sehnen an den Hinterbeinen, brachte es zu Fall.

Es würde heilen, doch so lange würde sie ihm keine Zeit lassen. Sie sprang auf den Rücken der Kreatur, die versuchte, sich zu drehen. Pakhet schaffte es dennoch das Gleichgewicht zu halten, als die Kiefer wieder in ihrem Weg waren.

Sie musste ausweichen, schaffte es jedoch mit dem Messer einen Schnitt über die Nase zu versetzen. Verdammt.

Die Kiefer würden sie erwischen, wenn sie vorging, wie sie es vorhatte. Also ein anderer Plan.

Sie wich zurück, während der erste Jugendliche zu schreien begann. Es war ein Schrei des blanken Horrors. Kam es mit dem Erwachen?

Sie musste sich später darum kümmern.

Erst einmal andere Prioritäten.

Sie wich zurück, durch die Tür, auf den Flur. Sie hielt das Messer vor sich. Sie hatte auch noch eine normale Pistole im Holster. Wenn sie von den Jugendlichen weg war.

Mit hochgezogenen Lechzen folgte das Ungeheuer ihr, schnappte mehrfach nach ihr, die glühende Augen auf ihr Messer fixiert.

Das Holster war an ihrer linken Seite, so dass sie mit ihrer Prothese nach der Pistole greifen musste. Sie brauchte länger, als mit ihrer normalen Hand, das Holster zu öffnen.

„Pakhet, was  …“, fragte Heidenstein, der das Mädchen stützte.

„Bring sie zurück.“ Sie sah ihn nicht an. Dafür hatte sie keine Zeit. Sie wollte den Schakal keine Sekunde aus den Augen lassen.

Sie beschleunigte ihren Rückwärtsgang, brachte etwas Abstand zwischen sich und das Ungeheuer. Sie hatte jetzt die Pistole in der Prothese, hob sie, griff sie mit der Rechten, hielt sie zusammen mit dem Messer, als das Ungeheuer zu ihr sprang.

Sie schoss. Ein Mal. Zwei Mal. Drei Mal. Vier Mal  … Sie entleerte das gesamte Magazin in Kopf und Brustkorb des Ungeheuers, das zurückstolperte, ehe seine Augen verloschen.

In einem Moment tropfte schwarzes Blut zu Boden, im nächsten Moment löste sich das Monster in schwarzen Dampf auf, der innerhalb von fünf Sekunden verschwand.

„Doc!“, bellte Pakhet. „Bring sie raus. Ich hole Dené.“

Heidenstein nickte. Er nahm das Mädchen. „Wir müssen gehen. Ich bringe dich hier weg.“ Sanft schob er sie auf den Flur, während Pakhet zurück zur Tür lief, aus der nun mehrere Schreie erklangen. Die anderen Jugendlichen mussten erwacht sein.

Was sollte sie mit ihnen machen? Sie hatte keine Möglichkeit sie wegzubringen. Aber sie konnte sie auch nicht einfach hier lassen. Und wenn sie etwas über Wachgeister wusste, dann, dass es meistens einen Schamanen gab, der wusste, wenn seine Kreatur kämpfte.

Sie war auf halben Weg zur Tür, als ein Geräusch dafür sorgte, dass sie sich umdrehte. Wie hatte sie es überhaupt über die Schreie gehört?

Sie schaute sich um und stellte fest, dass sich die Tür am Ende des Ganges geöffnet hatte. Das Licht einer Flamme war darin zu sehen. Dann erschlug der Gestank sie förmlich, der faulige Geruch des Todes.

„Was  …“, würgte sie, als ein Schatten aus dem Zimmer glitt. Sie brauchte eine Sekunde, um zu begreifen. „Doc!“, rief sie. Doch es war zu spät. Sie konnte nicht schnell genug reagieren.

Ein dunkler Kopf schnellte vor, ignorierte sie, fasste nach etwas anderem. Pakhet schlug mit dem Messer zu, jagte die Klinge tief in den Rücken der Schlange, deren Körper so breit, wie ihr Unterarm lang war.

Das Mädchen schrie und zu spät erkannte Pakhet, dass die Schlange ihre Zähne tief in der Hüfte des Mädchens vergraben hatte.

Erneut schlug sie mit dem Messer zu, durchtrennte mit drei kräftigen Hieben den Körper der Schlange bis auf ein letztes Stückchen Sehnen und Haut.

Der Kopf ließ locker, löste sich auf – auch die Schlange war ein Dämon. Natürlich. Blut floss aus der Wunde hervor. Das Ungeheuer musste eine Arterie erwischt haben. Nein.

Heidenstein fing das Mädchen, ließ sie zu Boden gleiten, drückte seine Hand gegen die Wunden. Er schloss seine Augen, machte sich wahrscheinlich bereit zu zaubern.

Derweil lag der Körper der Schlange immer noch da, spannte sich an und dann schoss – umgeben von einem seltsamen gräulichen Schleim – ein neuer Kopf aus dem Hals der Schlange hervor, schnellte auf Heidenstein zu.

Pakhet hieb erneut zu. Sie dachte darüber nicht nach. Ihr Instinkt befahl ihr, zu versuchen, die Schlange mit dem Messer festzuhalten. Sie wusste, dass sie anders nicht gegen die Bestie ankam.

Es funktionierte. Irgendwie. Der Kopf der Riesenschlange ruckte, fuhr dann zu Pakhet herum. Sie zischte, versuchte nach ihr zu schnappen und Pakhet schaffte es nur knapp ihr auszuweichen.

Fuck. Was hatte es mit diesen Dämonen auf sich? Sie hatte nichts hier, um einen Dämon zu versiegeln und wie dieses Biest aussah, auch nichts, um es zu zerstören. Es sei denn …

Sie sah zu Heidenstein, der sich um das Mädchen kümmerte.

Es gab einen Weg. Sie hatte zwei Granaten dabei. Wie immer. Sie mochte Granaten nicht, aber sie waren eine Lösung für diverse Notfälle. Dämonen gehörten zu den Notfällen. Dämonen gehörten definitiv dazu.

Sie musste nur aufpassen, die Jugendlichen nicht zu verletzen oder diesen verfluchten Keller einstürzen zu lassen.

Sicher, sie rechnete damit, dass im zweiten Raum – vielleicht auch in einem dritten – noch ein Schakal war. Mit den Schakalen kam sie klar, da sie offenbar ihre physische Gestalt verloren, wenn man tat, was normale Tiere getötet hätte. Diese Schlange war anders. Ein mächtigerer Dämon. Sie hasste die Monsterjagd, hatte es aber zwei oder drei Mal mit einem ähnlichen Biest aufgenommen. Sie regenerierten, aber Explosionen und Feuer löschten sie zumeist aus.

Heidenstein würde einige Minuten brauchen. Sie musste sie ihm verschaffen.

Als die Schlange erneut nach ihr schnappte, stieß sie das Messer durch das Maul des Biests, um so die Kiefer zu blockieren. Sie malte sich aus, dass es eine bessere Möglichkeit war, als den Kopf erneut abzuschlagen. Selbst wenn der Schlange irgendwann die Energie zur Regeneration ausgehen würde.

Sie wich weiter zurück, während die gelblichen Augen der Schlange ihr folgten. War es Hass, der in ihnen funkelte? Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber Pakhet wich zurück.

Sie stolperte fast über den langen Körper der Schlange, der den ganzen Flur auszufüllen schien. Wie lang war das Untier? Sie war länger als der Flur, lag doch noch immer ein Teil von ihr in dem Zimmer am Ende.

Das Zimmer! Wenn sie darin die Granate hochgehen ließ   … Vielleicht. Es konnte funktionieren. Sie hasste es Risiken der Größenordnung einzugehen, hatte im Moment allerdings kaum eine Wahl.

Also lief sie. Sie hatte die nun offene Tür innerhalb weniger Sekunden erreicht, zwang sich, weiterzulaufen, auch als der Gestank unerträglich wurde. Der Kopf der Schlange folgte ihr, als das übergroße Reptil sich wandte, um sie zu verfolgen. So waren zumindest Heidenstein und das Mädchen sicher.

Sie war an der Tür.

Fackeln erhellten den Raum dahinter, der zu Pakhets Überraschung rund, nicht eckig war. Er war wie ein Dom aufgebaut. Ein Radius von knapp sechs Metern. Die Wände waren mit Zeichen bemalt, die Pakhet nicht erkannte. Sie hatte auch nicht genug Zeit ihnen zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Das Feuer der Fackeln wirkte unnatürlich. Magie?

Und der Gestank! Der Gestank  …

Pakhet sprang über den Körper der Schlange, landete im Zimmer, hörte ein trockenes Knacken, wie ein großer Ast. Der Boden war klebrig, nass.

Sie blickte zu Boden, bereits ahnend, was sie sehen würde. Überreste. Man konnte nicht einmal mehr von einer Leiche sprechen. Überreste. Menschliche Überreste. Knochen. Vermodertes Fleisch.

Und etwas, das in der Luft hing. Etwas  …

Sie sah sich um. Die Tür wirkte viel weiter weg. Das hier musste eine Taschendimsion sein! Eine Falle! Ein  …

Sie hörte eine Stimme. Die Stimme eines Mannes. Er sprach, sang fast, auch wenn sie ihn nicht verstehen konnte. Und da war er, in der Mitte des Raums, ein abgemagerte Mann, dessen Alter sie nicht hätte schätzen können. Er war glatzköpfig, hatte glühende Augen – wie die Schlange.

Er fixierte sie, ehe einen Augenblick später eine unsichtbare Hand nach ihr zu greifen schien. Sie konnte sich nicht bewegen. Aber sie musste. Sie musste.

Schmerz.

Sie merkte, wie Blut von ihrer Schulter tropfte.

Erst dann wurde ihr bewusst, dass die Zähne der Schlange ihre Haut durchdrungen hatten. Wie?

Es musste ein Zauber sein, der sie festhielt. Es brannte. Die Zähne der Schlange brannten.

Ein Schrei wollte ihrer Kehle entrinnen, doch sie beherrschte sich. Sie konnte ihren linken Arm bewegen, die Prothese, die nicht unter dem Zauber zu liegen schien. Also bewegte sie sie, griff an den Gürtel, in die kleine Tasche, in der die Granaten lagen. Und jetzt? Wollte sie sich selbst mit dem Biest in die Luft sprengen? Nein. Wollte sie nicht.

Sie musste hier heraus. Sie musste hier heraus. Die Zähne der Schlange waren giftig und sie musste hier heraus, bevor das Gift sie übermannte. Dann würde sie enden wie die kläglichen menschlichen Überreste auf dem Boden. Waren das auch einmal Jugendliche gewesen? War ein Teil von ihnen dieser Schlange geopfert worden?

Blutopfer machten Dämonen stärker  …

Sie konnte ihre rechte Hand etwas bewegen. Genug um die Granate zu halten, die sie mit der Prothese in die Hand legte.

Sie schloss die Augen, sammelte ihre Energie. Zauber übermannten den Geist, nicht den Körper. Ihr Wille würde den Zauber abschütteln, nicht ihr Körper. Also legte sie ihre Energie darein, in ihren Willen, versuchte die unsichtbaren Ketten des Zaubers zu durchbrechen. Fuck. Es war ein mächtiger Zauber. Ein Zauber wie unsichtbarer Stahl. Doch sie konnte hier nicht sterben. Sie durfte nicht!

Hatte Michael davon gewusst? War das eine Falle gewesen? Hatte er gewollt, das sie starb? Hätte er sie dann nicht vor sieben Jahren sterben lassen können?

Sie spürte die Wut, als sie an Michaels Worte dachte, an seine Art. Nein. Sie würde nicht hier sterben. Das würde sie ihm nicht geben.

Sie konnte ihren Arm bewegen, schaffte es das Maul der Schlange zu packen. Sie erinnerte sich an den Reflex der Schlangen loszulassen, wenn Druck auf ihren Kiefer kam. Galt es auch für Dämonenschlangen? Vielleicht war das der Moment es herauszufinden. Also schlug sie zu und spürte, wie sich der Kiefer der Schlange lockerte. Nun packte sie die Granate, löste die Sicherung, zündete sie und steckte sie in das Maul der Schlange. Dann lief sie.

Nein, eigentlich hinkte sie mehr zu der Tür, die jetzt viel weiter weg schien. Sie musste hier heraus.

Blut lief über ihre Weste, ihren Arm, tropfte an ihr zu Boden.

Der Boden war mit menschlichen Überresten übersät. Hier würde ihr Blut verunreinigt werden, verunreinigt mit den Überresten anderer Menschen. Es würde nichts bringen, aber im Flur.

Sie musste hieraus, ehe die Granate hochging. Sie musste  …

„Pakhet!“, erklang Heidensteins Stimme.

Er war an der Tür. Was war mit dem Mädchen? Es war bleich.

Irgendwie erreichte sie die Tür, schob ihn in den Flur, schlug die Tür zu. „Granate.“

„Was ist mit dir passiert?“, fragte er.

„Schlange“, erklärte sie. Sie wusste, dass sie nicht lange mehr würde stehen können. „Das Mädchen?“

Er schüttelte den Kopf.

Der ferne Klang einer Explosion. Ein Schrei. Die Schreie der Jugendlichen waren verklungen. War es vorbei?

Pakhet sank halb gegen Heidenstein. Sie merkte, wie er etwas gegen ihre Wunde drückte. Fuck. Sie musste hier weg. Sie musste  …

„Pakhet“, hörte sie Heidensteins Stimme. Sie meinte Schmerz aus der Stimme zu hören, aber auch Panik. Er zog sie hoch. „Pakhet?“

Sie presste die Augen zusammen, öffnete sie dann. Das Bild vor ihren Augen war verschwommen. Verdammt. Sie musste  … Sie musste hier heraus.

[21.08.2011 – D29 – Entschluss]

Als Pakhet zu sich kam, lag sie in einem weichen Bett. Es roch klinisch rein. Sie brauchte nicht lange, um den Zusammenhang zu finden. Sie war im Krankenhaus. Recht sicher Heidensteins Krankenhaus.

Sie lag auf ihrer linken Seite. Ihr Armstumpf war unter ihr. Er musste die Prothese abgenommen haben.

Zu deutlich spürte sie ihren Herzschlang. Ihr Herz schlug unnatürlich schwer, langsam. Es musste das Gift sein. Die Schlange. Dämon. Die Kinder. Sie hatten sie zurück gelassen. Sie hatten sie zurücklassen müssen. Heidenstein hatte sie rausgebracht und sie hatte die Wachen erschossen, die oben gewesen waren. Das war so ziemlich das letzte, woran sie sich erinnern konnte.

War die Schlange wieder da gewesen?

Sie glaubte es. Sie war sich beinahe sicher. Sie glaubte. Dann hatte die Granate sie nicht umgebracht? Oder war es nur ein Traum, eine Halluzination gewesen …

Sie spürte eine warme Hand, die nach ihrem Handgelenk griff, sie nahm, den Puls fühlte.

Heidenstein. Sie wusste es, auch ohne die Augen zu öffnen.

Dennoch zwang sie sich dazu. Sie öffnete die Augen, sah ihn an.

Erleichterung zeigte sich auf seinem Gesicht. „Du bist endlich wach.“

Sie nickte. Ihr Hals brannte, war trocken. Sie konnte nicht sprechen.

„Wie fühlst du dich?“ Wieder klang Besorgnis aus seiner Stimme.

Sie nickte nur.

Es war seltsam. Der Blick auf ihrem rechten Auge war verschwommen, ihr linkes Auge sah klar. Es musste an dem Zauber liegen.

Sie sammelte ihre Kraft, legte sich auf den Rücken. Sie schmeckte Säure in ihrem Mund. Wahrscheinlich hatte sie sich übergeben. Deswegen hatte er sie in die Seitenlage gebracht. Jetzt aber spürte sie keine Übelkeit, kaum Schmerz. Ihre Schulter brannte leicht, doch alles in allem hätte es schlimmer sein können.

Heidenstein reichte ihr ein halbvolles Glas Wasser.

Ihr Blick glitt durch ihre Umgebung. Sie lag in einem normalen Krankenhauszimmer – nicht dem Zimmer unten in der Straßenklinik. Ein Tropf war an ihren Arm angeschlossen, nicht, dass es sie überraschte.

Sie nahm das Glas, trank, schloss die Augen, versuchte sich zu entspannen. Sie ließ das Wasser langsam ihre Kehle hinabrinnen und räusperte sich dann. Noch immer brannte ihre Kehle, aber sie konnte sprechen.

Sie wusste, dass sie ein Problem hatte.

Sie fixierte Heidenstein, der am Rand des Bettes saß. „Mein Blut“, flüsterte sie.

„Ich habe aufgepasst“, erwiderte er. Er zeigte ihr seinen Arm. Ein Verband war darum gewickelt.

Sie verstand. Blut war für gezielte Zauber nicht zu gebrauchen, wenn es mit dem Blut einer anderen Person gemischt war. „Verfickter Idiot“, murmelte sie und senkte den Blick. „Danke.“

Er lächelte. „Pass das nächste Mal auf, wenn du dich mit einem übergroßen Schlangendämon anlegst.“ Vielleicht sollte es ein Scherz sein, es klang aber nicht so.

„Ist das Ding wiedergekommen?“

Er nickte. Also hatte sie nicht halluziniert.

„Wir müssen zurück“, murmelte sie. Sie machte Anstalten aufzustehen, doch er drückte sie zurück. Nicht, dass sie damit nicht gerechnet hatte.

„Pakhet, du hast noch immer etwas von dem Gift in deinem System“, erwiderte er. „Du musst hier bleiben.“ Er zögerte. „Warum rufst du nicht einfach Michael an und  …“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“ Etwas war da noch immer. Ein konkreter Verdacht, der doch irgendwie außerhalb ihres Bewusstseins zu schweben schien. Gerade nicht für sie zu erreichen. Was ist, wenn Tutu die Jugendlichen wollte? Oder was ist, wenn er die Dämonen wollte? Er sollte eigentlich nicht dagegen ankommen können. Aber was, wenn es etwas gab  … Ein Artefakt. Was wenn ein Artefakt sie kontrollierte?

Oder er nichts davon wollte und einfach  …

Eigentlich hatte Tutu einen besseren Ruf. Klar, immer noch Zuhälter, immer noch ein Gangster, jedoch einer mit Ehrencodex und diesen Dingen. Aber was … wenn der Auftrag gar nicht von ihm kam? Denn noch immer konnte sie sich aus dem trotz allem hohen Preis wenig Reim machen.

Ach, ihre Gedanken machten keinen Sinn. Sie hatten das Mädchen nicht retten können. Hatten Dené nicht retten können. Aber sie mussten. Sie musste!

Was, wenn die Schlange die Jugendlichen gefressen hatte?

„Pakhet“, flüsterte Heidenstein.

Sie schloss die Augen und sah zur Decke über ihr. Deckenplatten. Krankenhausdecke.

„Ich werde diese Jugendlichen da rausholen“, flüsterte sie, ihre Stimme krächzig. „Ich weiß nicht, was es mit dem Scheiß auf sich hat. Aber ich  …“ Sie hustete. Ihr Hals war zu trocken.

Er nahm das Glas, eilte in ein anliegendes Zimmer. Wahrscheinlich ein Badezimmer. Dann kehrte er mit dem Glas zurück, gab es ihr.

Wieder trank sie. Noch immer verstand sie nicht, was da vor sich ging. Sie verkauften die Jugendlichen online. Es war Menschenhandel, oder? Aber warum die Dämonen? „Was auch immer das für Leute sind“, hauchte sie schließlich, „ich werde sie zerstören.“

Heidenstein nickte. Sein Blick war seltsam. Er nahm ihre Hand, locker, als dass sie sie hätte wegziehen können. Er sagte nichts. Doch sie verstand. Er würde ihr helfen. Er war ein Idiot.

[21.08.2011 – S06 – Hilferuf]

„Was ist?“, fragte Smiths tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Bist du gerade in der Zentrale?“ Pakhet war zögerlich. Sie konnte nicht riskieren, dass Michael etwas davon mitbekam.

„Ja“, erwiderte Smith. Er machte eine kurze Pause. „Moment. Ich gehe mal kurz frische Luft schnappen.“ Er hatte ihre Anspannung bemerkt. Den Geräuschen im Hintergrund nach, verließ er wohl wirklich sein Büro. Eine Tür wurde geöffnet. Er entschuldigte sich kurz bei jemanden. Stilles Rauschen am anderen Ende der Leitung, das Ping eines Aufzugs, Schritte, Stille, ein weiteres Ping, dann noch eine Tür, dann das Rauschen von draußen. Smith atmete tief ein und aus.

„Danke“, flüsterte Pakhet. Sie wusste, dass sie sich auf Smiths verlassen konnte. Sie hoffte es zumindest.

„Was ist los?“

„Ich brauche Hilfe“, antwortete sie ruhig. „Du weißt von dem Auftrag, den Michael mir gegeben hat?“

Ein Klopfen an der Tür erklang noch vor Smiths Antwort. Derjenige, der draußen war, wartete nicht, kam einfach rein, sah sie an. Murphy. „Pakhet. Was ist genau passiert. Ich dachte ihr  …“

Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Smith? Du musst mir versprechen, dass Michael hiervon nichts erfährt.“

Verwirrt sah Murphy sie an. Smith zögerte für eine Weile.

„Versprochen“, sagte er dann langsam, vorsichtig. „Worum geht es?“

Murphy gestikulierte, um seiner Verwirrung und wohl auch seiner Empörung, dass sie und Heidenstein in die „Höhle des Löwen“ gegangen waren, ohne auf ihn zu warten, Ausdruck zu verleihen. Er machte weitläufige Armbewegungen, bewegte den Mund, war jedoch leise. Wieder hatte er die Gestalt des schwarzhaarigen, weißen Jugendlichen.

„Michael hat mir gestern einen Auftrag gegeben. Ich sollte für jemanden, angeblich Tutu ein Mädchen finden, das offenbar von Menschenhändlern entführt wurde. Wir haben sie gefunden, haben den Stützpunkt – oder zumindest einen davon – gefunden“, erklärte Pakhet rasch und mit leiser Stimme. Sie war noch immer im Krankenzimmer, waren doch kaum zwei Stunden vergangen, seit sie aufgewacht war. Ihr war wieder schlecht. Sie war noch immer schwach. Dennoch hatte sie keine Zeit zu verlieren. „Und der Ort  … Smith, es war höllisch. Nicht nur, dass sie fast nur Jugendliche haben, sie  … Ich weiß nicht genau, was sie da machen. Sie vergewaltigen sie, aber da ist etwas anderes. Dämonen. Da waren Dämonen. Haben sie bewacht. Und ich bin nicht sicher, was sie damit zu tun haben.“

Verwirrt sah Murphy sie an, während Smith schwieg.

„Dämonen?“, fragte er schließlich.

„Ja“, antwortete sie. „Ein Schakal. Eine große Schlange.“

Wieder schwieg Smith, während Murphy weiter gestikulierte. Er schien nicht zu verstehen. Offenbar hatte Heidenstein noch nicht mit ihm gesprochen.

„Okay“, sagte Smith. „Was ist es, was du von mir willst.“

„Ich werde diese Jugendlichen befreien, aber ich brauche Hilfe. Magier. Noch jemanden, der kämpfen kann. Idealerweise Leute, Verstärkung. Und etwas, um Dämonen zu bannen.“

„Wir könnten“, begann Smith, doch Pakhet ahnte bereits, was er sagen wollte.

„Wir können niemanden aus der Firma nehmen“, antwortete sie. „Michael darf davon nichts erfahren. Ich glaube, er wollte, dass ich so reagiere.“

„Wieso?“ Smith Stimme war leise, doch eine gewisse Verwirrung war aus ihr zu hören.

„Weil Michael ein Arsch ist“, zischte sie. Seufzte dann aber. Sie würde es erklären müssen. „Michael und ich haben seit einiger Zeit  … Probleme.“ Besser konnte sie es nicht ausdrücken. „Er will mir mit der Sache eine Lektion erteilen. Ich bin mir sicher, er wusste, dass ich so reagieren würde. Er will, dass ich eine Dummheit mache.“

„Wie zu versuchen, die Jugendlichen zu befreien“, schloss Smith.

„Ja“, antwortete sie. „Ich glaube, er will, dass ich gegen meinen Auftrag gehe.“

„Was du tust.“

Murphy schenkte ihr einen empörten Blick. Er schüttelte leicht den Kopf, fixierte sie, versuchte ihr in die Augen zu sehen, doch sie redete weiterhin mit Smith. Sie konnte ihm alles erklären, wenn sie aufgelegt hatte.

„Ja, das tue ich“, erwiderte sie.

Schweigen. Dann: „Wo bist du gerade?“

Pakhet zögerte. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte. Doch sie hielt Smith für einen guten Mann – einen besseren Mann, als Michael. „Im Anderson Hospital.“ Sie hasste es, das Risiko einzugehen, doch blieb ihr kaum eine Wahl. Sie brauchte Hilfe dabei.

„Okay. Ich schaue, was ich tun kann“, meinte Smith mit einem tiefen Seufzen. Er schien mit sich selbst zu kämpfen. „Ich werde zusehen, dass ich jemanden finde. Aber ich kann dir nichts garantieren. Wie viel Zeit habe ich?“

Pakhet schürzte die Lippen. „Nicht mehr als eine Woche.“ Denn sie würden schnell handeln müssen. Wenn sie ihre Gegner zuerst ziehen ließen, dann wären diese verschwunden – oder sie tot. „Und ich brauche Hilfe, die Location zu überwachen. Ich denke nicht, dass sie dort bleiben und viel Zeit haben wir nicht.“

Murphy musterte sie. „Die Hilfe hast du schon“, sagte er mit düsterem Blick. „Die Adresse, die uns der Scout gestern gegeben hat?“

Sie sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, nickte aber.

Auch er nickte, ging zum Fenster und öffnete es. Warme, staubige Luft wehte herein. Ohne ein weiteres Wort verwandelte der Junge sich in einen Raben und flog hinaus, ließ nur seine Kleidung zurück.

Pakhet schaute ihm hinterher. Genau das hatte sie eigentlich nicht gewollt. Sie könnte es sich nicht verzeihen, wenn dem Jungen etwas geschah. Doch was sollte sie tun? Sie konnte ihn nicht fangen.

„Was ist passiert?“, fragte Smith.

„Murphy ist auf dem Weg zur Location“, erklärte sie. Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln. „Wir werden Verstärkung brauchen. Jemand der ihn ablösen kann.“

„Ich sehe, was ich tun kann“, antwortete Smith und seufzte. „Ich sehe, was ich tun kann  …„

[21.08.2011 – D30 – Fürsorge]

Die Nacht brach herein. Pakhet hatte mit Crash geredet, ihm erklärt, wo Murphy abgeblieben war, da dessen Handy zusammen mit seiner Kleidung auf dem Krankenhausboden verblieben war. Crash hatte gebrummt, wie er es immer tat, und am Ende gemurmelt: „Wenn du noch Hilfe brauchst, sag mir Bescheid.“

Pakhet hatte ihm mit einem Brummen geantwortet. Sie konnte ihn nicht mit hineinziehen, oder? Er war aus dem Feld raus und es war besser, wenn er sich von diesen Dingen fern hielt.

Am Ende war es wohl seine Entscheidung.

Sie seufzte und sah zu den Deckenplatten über sich. Noch immer konnte sie die Dinge, die sie dort gesehen hatte, nicht vergessen. Sie hatte das Mädchen nicht retten können. Zur Hölle, sie selbst wäre gestorben, wäre Heidenstein nicht bei ihr gewesen. Auch wenn er so tat, als wäre es selbstverständlich gewesen – was es führ ihn wahrscheinlich auch war.

Ein Klopfen an der Tür. Stille. Es musste Heidenstein sein.

„Ja?“, fragte sie halblaut.

Er kam herein, brachte ein Tablett mit sich. Kein normales Krankenhaustablett – hatte er überhaupt eine Küche? – sondern ein einfaches Holztablett mit Geschirr, dass sie als das eine erkannte. „Ich dachte, ich bringe dir etwas zu essen.“

Sie musterte ihn mit einem matten Lächeln. „Du hast deinen Angestellten nichts von mir gesagt, oder?“ Ihr war die Abwesenheit einer normalen Schwester aufgefallen.

Er zuckte mit den Schultern. „Nein“, gab er zu. „Ich dachte, es wäre dir unangenehm, wenn zu viel gefragt wird.“

Sie nickte. „Danke.“

Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Ihr war noch immer schlecht und sie wusste, dass noch immer Gift durch ihre Adern floss, auch wenn der größte Teil von Heidensteins Gegengift unschädlich gemacht worden war, wie es schien. Dennoch wusste sie, dass sie zumindest etwas essen sollte.

„Hast du schon was von Murphy gehört?“, fragte Heidenstein und stellte das Tablett auf dem Tisch neben ihrem Bett ab.

Sie sah zum Fenster, schüttelte den Kopf. „Nein.“

Heidenstein folgte ihrem Blick. „Ich hoffe ihm ist nichts passiert.“

Pakhet nickte. Sie hielt das Fenster angelehnt, damit Murphy zurück rein konnte, sollte er hierher zurückkehren. Der Junge konnte nicht die Nacht durchmachen, oder? Sie hoffte nicht.

„Komm, iss etwas“, forderte Heidenstein sie auf. „Versuch es zumindest.“

Sie nickte. Er hatte Recht, selbst wenn er sie vorrangig ablenken wollte. Dennoch nahm sie eine Brotscheibe und führte sie zu ihrem Mund. Vorsichtig kaute sie, schluckte, kämpfte gegen die Übelkeit an.

Heidenstein setzte sich neben sie. „Geht es?“

Sie nickte. „Es muss.“ Sie holte Luft, streckte ihre Hand nach dem Wasser aus. „Ich hoffe Smith findet jemanden.“

Heidenstein wartete, schürzte die Lippen. „Was ist mit der Polizei?“

„Die haben doch kaum jemanden.“ Sie wich seinem Blick aus. Was sie sagte, stimmte. Letztes Jahr wäre es etwas anderes gewesen, während der Fußball-WM war das Budget und Personal der Polizei aufgestockt worden, nur um dieses Jahr direkt wieder zu schwinden. Doch ihr Grund war ein anderer: Sie bemühte sich den Behörden, inklusive der Polizei aus dem Weg zu gehen. Sie misstraute ihnen, hatte es schon immer, aber umso mehr, seit sie die Army verlassen hatte.

„Wir könnten es versuchen“, meinte Heidenstein. „Ich meine, wenn wir es wirklich versuchen  … Sie haben garantiert mehr Leute, als wir uns leisten können.“

Sie schwieg. Sie hatte einiges Geld auf der hohen Kante. Dennoch hatte er Recht. Sie würde ein paar Leute bezahlen können, doch vor allem Tränke zum Bannen der Dämonen würden teuer werden. Magische Artefakte der Art waren selten und selbst Tränke kosteten. Ein spezialisierter Magier, ein Söldner, würde jedoch mehr kosten.

Schließlich seufzte Pakhet. „Ja, wir müssen es wohl irgendwie versuchen. Aber lass uns erst auf Smith warten.“

Heidenstein nickte. „Okay.“

[22.08.2011 – S07 – Kontakte]

Die Nacht wäre schlaflos gewesen, hätte sie es nicht geschafft, von Heidenstein ein starkes Schmerzmittel, vermeintlich wegen ihrer Wunden, zu bekommen. Das Mittel hatte auch eine schlaffördernde Wirkung und erlaubte es ihr zumindest sechs Stunden unruhigen Schlafs zu finden, ehe ihr Handy sie kurz nach sieben mit einem Klingeln aufweckte.

Es war eine Nachricht von Smith. Sie enthielt eine Nummer und eine kurze Notiz: „Sein Name ist Jack. Er hilft bei solchen Sachen. Er wird es verstehen. Ich komme später vorbei. Jetzt keine Zeit. Smith.“

Pakhet seufzte. Ihr Mund war trocken. Eine Nebenwirkung des Medikaments.

Sie trank einen Schluck des über Nachts abgestandenen Wassers, leckte mit der Zunge über die Innenseiten ihrer Wangen, die sich rau anfühlten und bitter schmeckten. Dann blickte sie wieder auf das Handy.

Jack? Nun, was hatte sie für eine Wahl?

Konnte sie ihn jetzt bereits anrufen? Smith hatte ihr die Nachricht erst gerade geschrieben. Vielleicht hatte er mit ihm geredet. Vielleicht hatte er auch nur selbst eine Nachricht bekommen.

Dennoch. Sie musste es versuchen. Sie hatten kaum Zeit.

Also tabte sie auf die Nummer, wählte sie aus ließ das Handy sie wählen.

Freizeichen. Gut. Besser als direkt die Mailbox zu erreichen. Zwei Mal tutete es, dann ein Knistern. „Wer ist da?“, fragte eine jung klingende, aber angespannte Männerstimme.

„Mein Name ist Pakhet“, erwiderte sie. „Spreche ich mit Jack? Mr Smith hat mich an sie verwiesen.“

„Ah.“ Ein kurzes Schweigen. „Sie sind die Frau, die sich mit den Menschenhändlern angelegt hat?“ Seine Stimme entspannte sich. Er wirkte ruhiger.

„Ja. Das bin ich wohl.“ Sie seufzte. „Smith sagte, Sie könnten mir helfen.“

„Vielleicht, ja“, erwiderte er. „Aber ich würde bevorzugen, das ganze von Auge zu Auge zu besprechen. Persönlicher, wissen sie?“ Er schien seine Stimme charmant klingen lassen zu wollen.

„Ja.“ War es eine Falle? Vielleicht. Doch für den Moment wollte sie Smith vertrauen.

„Hätten Sie heute Abend Zeit?“, fragte er.

„Ja“, erwiderte sie wieder. „Wo wollen wir uns treffen?“

„Kennen Sie den Salty Ferryman?“

Ja, sie kannte den Ferryman. Eine Bar nahe des Hafen. Vor allem von Touristen besucht. Sie war schon öfter dort gewesen. „Ja. Gegen neun?“ Das würde ihr noch Zeit geben, weitere Pläne zu schmieden.

„Gerne.“ Ein Lächeln schwang in seiner Stimme mit. „Dann bis heute Abend.“

„Ja.“ Sie wiederholte sich.

Ein kurzes Lachen, dann legte er auf.

[22.08.2011 – D31 – Frühstück]

„Du solltest im Bett sein“, murmelte Heidenstein und sah sie an, als sie in seine Küche kam.

„Ich brauche meinen Kaffee“, erwiderte sie.

Er musterte sie, schüttelte den Kopf. „Kannst du nicht noch einen Tag liegen bleiben?“

„Nein.“ Sie fixierte die bereits laufende Kaffeemaschine, streckte sich dann, um ihre Tasse aus dem Schrank zu nehmen. Sie zuckte zusammen. Die Wunde schmerzte noch immer.

Heidenstein trat zu ihr, nahm die Tasse und reichte sie ihr. „Pakhet.“ Er sah sie an.

Sie schüttelte energisch den Kopf. „Bitte, Doc. Ich kann nicht liegen bleiben.“

Seine Augen waren auf ihre Schulter fixiert. Unter ihrem Tanktop sah man die großen Pflaster deutlich, da sie auch die Schulter bedeckten.

Bisher trug sie auch ihre Prothese nicht. Sie war bisher nicht dazu gekommen, sie zu holen, vermutete sie aber in ihrem Zimmer. Immerhin hatte Heidenstein sie ihr abgenommen. Vielleicht war es auch besser, wenn sie es heute bei der realistischen Prothese blieb. Sie würde diese ohnehin für den Abend brauchen.

„Pass auf dich auf, ja?“, meinte Heidestein schließlich und legte ihr sanft eine Hand auf den Oberarm. „Du kannst niemanden helfen, wenn du dich selbst umbringst.“

Die Kaffeemaschine zischte. Sie war offenbar durchgelaufen. Gut.

Pakhet wandte sich von ihm ab und ging zur Kaffeemaschine. Sie füllte sich etwas von der noch brühend heißen, schwarzen Flüssigkeit in ihren Becher. Sie seufzte. „Ich habe nicht vor zu sterben“, sagte sie leise. Sie hob die Tasse und roch daran. Allein das Aroma sorgte dafür, dass sie sich lebendiger fühlte. Sie wusste, dass ihre Worte nicht viel sagten. Sie hatte nur bis zu einem gewissen Maß Kontrolle darüber, ob sie starb oder nicht. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. „Ich habe vorhin mit einem Mann namens Jack gesprochen. Smith hat ihn mir empfohlen. Ich werde mich heute Abend mit ihm im Salty Ferryman treffen. Und Smith wird nachher herkommen.“

Heidenstein schwieg zwei oder drei Sekunden lang. Dann atmete er in einem halben Seufzen aus. „Okay.“

„Was?“, fragte sie.

„Nichts“, erwiderte er. „Du weißt. Ich mache mir Sorgen.“

Sie musterte ihn und lächelte beinahe. Es war so seltsam. Bisher war es nur Robert gewesen, der sich immer und immer wieder Sorgen um sie gemacht hatte. Nur Robert  …

Sie schüttelte den Kopf. „Du machst dir zu viel Sorgen, Doc. Ich passe auf mich auf.“

Er sah sie mit einem traurigen Lächeln an, nickte dann aber. „Ich weiß. Aber ein zweites Paar Augen, dass auf dich aufpasst wird nicht schaden.“

Sie nickte. Seufzte. „Was ist mit dem Krankenhaus?“

Überrascht schaute er auf. „Wie?“

„Musst du nicht arbeiten?“

Nun war es er, der den Kopf schüttelte. „Ich habe dir gesagt, dass ich helfe. Ich werde helfen. Hier  …“ Er seufzte. Es schien ihm schwerzufallen. „Hier ist ohnehin nicht so viel los. Also nutze ich es, dass ich mein eigener Chef bin. Sag mir einfach, was ich tun kann, um dir zu helfen.“

Sie nickte. „Danke, Doc“, flüsterte sie und meinte es wirklich. Sie wusste, dass ihre Entscheidung dumm, übereilig war. Er hätte jedes Recht gehabt, auf sie einzureden, zu versuchen sie davon zu überzeugen, es sein zu lassen. Doch er tat es nicht. Er half sie. Sie war nicht allein. „Wirklich. Danke.“

Sein Blick verharrte auf ihrem Gesicht. Für einen Moment sah es so aus, als würde er sich zu ihr herüberbeugen wollen, doch er beherrschte sich. „Dafür bin ich da.“

[22.08.2011 – M19 – Anruf]

Pakhet konnte nicht sagen, wie erleichtert sie war, als Murphy sie zwei Stunden später anrief. Der Nummer nach von einem weiteren Handy. Wahrscheinlich hatte er davon mehrere auf Vorrat, da er sicher mehr als eins verloren hatte, als er sich in einen Vogel verwandelt hatte.

„Hey, Pakhet.“ Es folgte ein Gähnen, auch wenn er versuchte, so aufgeweckt und engagiert wie immer zu klingen.

„Hey, Kid.“ Sie zögerte. „Alles okay?“

„Ja, bestens.“ Noch ein Gähnen. „Sag mal. Wann kann jemand anderes für mich übernehmen? Ich habe aktuell einen Freund gefragt, aber ich kann bei ihm nicht zu viel Schulden machen.“

„Smith kommt in einer Stunde zum Krankenhaus“, erklärte sie. „Er sagte, er bringt jemanden mit.“

„Super“, gähnte Murphy. „Das heißt, dann ist große Besprechung oder wie?“

„Na ja, Smith ist da“, antwortete sie. Immerhin wusste sie nicht mehr, als was Smith ihr gesagt oder viel eher geschrieben hatte. Und das war, dass er in seiner Mittagspause sich mit einer Magierin treffen wollte, die eventuell helfen konnte und – wenn alles stimmte – mit ihr herkommen würde. Sie hatte es schon mit Heidenstein besprochen: Sie würden sich in der Straßenklinik treffen.

„Ich komme auch“, sagte Murphy. Er schien zu überlegen. „Glaubst du, Alice könnte helfen?“

„Alice?“ Natürlich erinnerte sie sich. Crashs kleine, mysteriöse Schwester, beziehungsweise Cousine, die sie nie kennen gelernt hatte. „Wieso?“

„Sagen wir es einmal so: Du wirst niemanden finden, der dir besser Informationen aus dem Dark Net besorgen kann, als sie. Eins A, wirklich.“ Ein vielsagender Ton klang in Murphys Stimme mit. „Und wenn ich mal ruhig mit ihr rede, dann hilft sie. Sie langweilt sich ohnehin, weißt du? Und sie ist echt super, Pakhet, glaub mir.“

„Wieso reicht allein dein 'glaub mir', um mir Zweifel zu geben?“, fragte sie. Doch sie wusste, dass er Recht hatte: Sie brauchten jemand, der Daten besorgen konnte. Immerhin wusste sie, dass die Sache, die sie hier gesehen hatten, wohl nur ein kleiner Bestandteil der Organisation – oder was auch immer es war – war, der dahinter stand. Speziell, wenn sie wissen wollten, was es mit den Dämonen auf sich hatte, mussten sie mehr über die Organisation wissen.

Pakhet konnte sich nicht vorstellen, dass eine Organisation zuließ, dass ihr Magier einen Teil ihrer „Ware“ an ein paar Dämonen verfütterte. Heck, Magier waren selten. Kaum jemand wusste, dass Magie und Dämonen real waren und in welchem Ausmaß es so war, selbst wenn man in der Unterwelt immer wieder Gerüchte hörte. Sicher, die Mafias hatten davon gehört, aber es war für viele doch eher ein Gerücht. Und der Magier, den sie dort gesehen hatte, der Schamane, der vermeintlich die Schlange und den Schakal kontrolliert hatte, war mächtig gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Menschenhandelsring einfach so, rein zufällig, einen mächtigen Magier hatte, der ihre „Ware“ unter Kontrolle hielt. Nein, dahinter stand mehr. Sie wusste nur nicht was.

„Okay“, sagte sie und hoffte, dass Crash sie dafür nicht umbringen würde. „Was ist mit dem großen?“

„Der wird sicher auch helfen wollen“, erwiderte Murphy. „Aber er hat Training.“

Sie nickte zu sich selbst, brummte für Murphy eine Bestätigung, dass sie verstanden hatte. Fuck, sie wollte eigentlich nicht sie alle mit hineinziehen, doch was sollte sie tun? Und zumindest ein Teil, zumindest ein kleiner Teil von ihr, war froh, ja, gerührt, dass sie sich auch um sie scherten.

[22.08.2011 – A01 – Technomagie]

Murphy hatte sich offenbar einen Spaß daraus gemacht, einen kleinen Plastikträger mit gleich sechs Dosen Energydrink mitzunehmen, als er hergekommen war. Zwei der Dosen waren jedoch schon leer und verbeult, hingen aber dennoch im Träger drin.

Wieder trug er seine übliche Gestalt.

„Hey“, gähnte er, als er in Heidensteins Büro in der Straßenklinik kam.

Pakhet musterte ihn. Er war eindeutig übermüdet, konnte das sogar mit seiner Magie nicht gänzlich verbergen. Er hatte Ringe unter den Augen und wirkte ungewöhnlich blass.

Dann aber blieb ihr Blick an dem Mädchen hinter ihr hängen.

Nie im Leben hätte sie vermutet, dass sie auch nur entfernt mit Crash verwandt war. Wenngleich ihre Gesichtszüge vermuten ließen, dass sie Afrikaner in der engeren Verwandschaft hatte, so wirkte ihre Haut doch hell und hatte dazu den blassen Ton von jemanden, der selten aus dem Haus kam. Da sie zumindest eine leichte, natürlich Bräunung hatte, wirkte es beinahe etwas unnatürlich.

Ihre Augenfarbe ließ sich nicht bestimmen. Sie trug violette Kontaktlinsen. Zumindest glaubte Pakhet, dass es Kontaktlinsen waren. Es konnte auch Magie sein.

Das auffälligste an ihr war allerdings ihr Haar. Es war in dünne Zöpfe geflochten, die eng an der Kopfhaut anlagen und Muster malten. Anders, als man es normal gewohnt war, waren diese Muster jedoch bunt gemischt. Streifen, Sterne, ein Herzchen. Es hatte fraglos einige Geduld erfordert, diese Frisur so zu schaffen. Doch die Muster waren nicht das auffälligste. Auch waren Alices Haare in allen Regenbogenfarben gefärbt. Einzelne der dünnen Zöpfe waren gebleicht, waren blau, rot, türkis, grün und neongelb gefärbt, pink und violett. Damit nicht genug. Zusätzlich hatte sie die Zöpfe mit verschiedenen Extensions ergänzt, die teilweise für Farbverläufe sorgten. Es sah wirklich aus, als würde sie einen Regenbogen auf dem Kopf tragen.

Das Nasenpiercing, die zerrissene Kleidung, die eine Mischung aus Jeansstoff, Camouflage und Neonfarben war, inklusive einem Netzoberteil, machten den Punklook perfekt.

Es war schwer, nicht zu starren. Erst nach einigen Sekunden fing sich Pakhet und sah zu Heidenstein, dessen Blick ebenso auf dem Mädchen klebte, ehe er einen Blick mit ihr tauschte.

Das Mädchen marschierte auf sie zu. Sie streckte ihr eine Hand mit dunkel lackierten Nägeln und überzogen mit einer Netzstulpe entgegen. „Du musst Pakhet sein. Ich bin Alice.“

Überrascht nahm Pakhet die Hand des Mädchens, das von nahen kleiner wirkte, als ihre Ausstrahlung es vermuten ließ. Sie wirkte geradezu petit. „Ja, ich bin Pakhet.“ Sie drückte die Hand des Mädchens, das einen erstaunlich festen Griff hatte. „Freut mich, dich endlich einmal kennen zu lernen.“

Alice lächelte nur selbstsicher, ja, beinahe etwas überheblich. „Murphy sagte, dass du einen Job für mich hast.“

Pakhet sah zu Murphy, der sich in der Ecke des Zimmers hingesetzt hatte und sich gerade seine dritte Dose Energydrink öffnete. Er sah zu ihr, nickte aufmuntern und goss dann die zuckrige Flüssigkeit seine Kehle hinab.

„Ja, habe ich“, antwortete Pakhet schließlich.

„Bezahlst du mich?“, fragte Alice und musterte sie.

Zugegebenermaßen hatte Pakhet nicht damit gerechnet. Doch sie bemühte sich, sich nichts von ihrer Überraschung anmerken zu lassen. Alice kannte sie nicht und da sie – Pakhet – auch Jack und wen auch immer Smith mit sich bringen würde, bezahlen würde, war es wohl nur gerecht. „Ja, sicher.“

„Stundenbasis oder Informationsbasis?“ Alice verschränkte die Arme. Von ihrer Körperhaltung her, wäre es schwer zu sehen gewesen, dass sie gute zwei Köpfe kleiner war als Pakhet.

Murphy zeigte zwei Finger und sah Pakhet eindringlich an. Er nickte. Starrte. Zeigte die zwei Finger. Starrte weiter.

Pakhet wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Alice zu. „Informationsbasis.“

„Okay“, sagte Alice und nickte. „Wir können über mein Honorar dann im Detail später reden.“ Sie schenkte ihr ein zuckriges Lächeln, nahm den Arzthocker, der neben Heidensteins Schreibtisch stand und ließ sich mit verschränkten Armen darauf fallen, rollte etwas zur Wand, schlug ihre Beine übereinander.

Heidenstein musterte sie, räusperte sich, sprach dann: „Was ist es genau, was du kannst, Alice?“

Alice lächelte. Sie sah zu ihm. Nein. An ihm vorbei. Ihre Augen waren, wie Pakhet nach einem Moment klar wurde, auf den Rechner hinter Heidenstein fixiert.

Pakhet und Heidenstein sahen sich zum Rechner, beziehungsweise dem Bildschirm um, auf dem sich ein gerade ein Fenster öffnete. Es war ein Texteditor in dem nun Text erschien. In schneller Abfolge erschien ein Buchstabe nach dem anderen. Selbst die beste Sekretärin hätte diese Geschwindigkeit nicht schlagen können.

„Ich habe die ein oder andere Begabung“, stand dort, gefolgt von einem zwinkernden Smiley.

Ein weiteres Fenster öffnete sich, ein Browser. Zahlen erschienen in der Adresszeile. Dann startete sich ein Download.

„Hey!“, rief Heidenstein aus und drehte sich zu ihr um. „Das ist mein Arbeitsrechner.“

„Entspann dich“, flüsterte Alice mit einem überlegenden Lächeln auf ihren Lippen. Sie nickte in Richtung des Rechners.

Dort öffnete sich ein Installationprogramm, gefolgt von einem neuen Browser, in dessen Adresszeile erneut zahlen erschienen – eine IP – und eine Seite aufriefen, die Pakhet bereits einmal gesehen hatte: Die Webseite des Menschenhandels.

Die Ansicht des Browsers veränderte sich rapide. Der Quellcode wurde aufgerufen. Die Anzeige scrollte durch den Code. Einzelne Sachen wurden markiert, neue Ansichten öffneten sich.

Pakhet hatte wenig Ahnung von Computern. Sie verstand nicht gänzlich, was gerade vor sich ging. Es sah in etwa aus, wie Science-Fiction-Filme in den 80ern es dargestellt hatten, wenn sich eine AI auf einem Rechner ausbreitete und die Kontrolle über diesen übernahm.

Am Ende öffnete sich wieder der normale Browser, gefolgt von einer Webseite, in dem eine Karte erschien und ein Anzeiger mitten in Panama.

Dann tat der Rechner nichts mehr. Blieb auf dieser Seite.

„Da ist ihr Server“, sagte Alice. „Zumindest der Hauptserver. Sie haben Backups.“

Als Pakhet sich zu ihr umdrehte, lächelte sie.

„Und wenn ihr jemanden davon erzählt, was ihr gerade gesehen habt, wird Crash euch umbringen“, fügte Alice hinzu. Noch immer lächelte sie süßlich.

Was zur Hölle war dieses Mädchen?

[22.08.2011 – SI01 – Druidin]

Smith kam zwanzig Minuten später. Pakhet, Heidenstein, Murphy und Alice waren in einen kleinen Besprechungsraum – der erste Raum im Flur – umgezogen, hatten die Tür offen gelassen, um auf Smith zu warten.

„Heidenstein?“, hörten sie seine tiefe Stimme aus dem Treppenhaus.

„Hier“, erwiderte Heidenstein und ging zur Tür.

Die Tür zum Flur wurde geöffnet und Smith trat hindurch, gefolgt von einer Frau und – was seltsamer war – einem weißen Vogel, der sich auf zweitem Blick als Möwe herausstellte.

Die Frau, die Smith folgte, war ähnlich wie Pakhet groß gewachsen. Ihr Körper strahlte jedoch all die Weiblichkeit aus, die Pakhet fehlte: Ein voller Busen, ein gerundeter, aber straffer Hintern. Sie sah aus, wie ein Modell – nun, vielleicht nicht ganz so abgemagert. Ihre Gesichtszüge und die dunkle ließen vermuten, dass sie persischer Abstammung war. Wahrscheinlich Hindi. Ihr schwarzes Haar war zu einem langen Zopf gebunden.

Die Bluse der Frau hatte einen Ausschnitt, in dem eine Kette aus Muscheln und Perlen baumelte mit einer Feder als Anhänger. Schmuck oder ein Artefakt?

„Das hier ist Siobhan“, stellte Smith seine Begleitung vor. Er sprach den Namen „Sjuwan“ aus.

Zugegebenermaßen war das nicht ein Name, mit dem Pakhet gerechnet hatte, war er doch – wenn sie nicht irrte – keltisch, nicht hindi oder zumindest Englisch.

Sie musterte die Frau, unsicher, wie sie sie einordnen sollte. Die Frau wirkte hübsch, war geschminkt, und Pakhets erste Reaktion war, sie für etwas eingebildet zu halten. Dann wiederum war es sicher nicht ihre erste Reaktion auf Alice gewesen, die es dafür umso mehr war.

Sie verdrängte den Gedanken und streckte der Frau die Hand entgegen. „Mein Name ist Pakhet.“

„Smith hat mir von dir erzählt.“ Das Englisch der Frau war akzentfrei, ihre Stimme angenehm sanft.

Pakhet kam nicht umher zu bemerken, dass Heidenstein sie mit einem ganz anderen Blick anstarrte als Alice zuvor. Nichts allerdings im Vergleich zu Murphys unverhohlenem Starren. Ein verträumtes Lächeln war auf seinem Gesicht erschienen.

„Was hat er erzählt?“, fragte Pakhet. Die Frage war aufrichtig, immerhin musste sie wissen, was sie erklären sollte.

„Dass du gegen eine Gruppe Menschenhändler vorgehst“, erwiderte die Frau. Sie lächelte. „Oder dies zumindest vorhast. Er sagte, du willst die Jugendlichen, die diese Gruppe gefangen genommen hat, befreien und brauchst Hilfe, um gegen einige Dämonen zu kämpfen.“

„So in etwa“, antwortete Pakhet. „Ja.“ Sie räusperte sie. „Ich werde dich natürlich bezahlen.“

Die Frau lächelte. „Wir werden sehen, ob das nötig war.“ Sie schaute auf den Boden, wo die Möwe gelandet war.

„Was macht der Vogel hier?“, fragte Heidenstein, der seinen Blick von Siobhan losgerissen hatte. Seine Stimme wirkte irritiert. Kein Wunder, waren sie in einem Krankenhaus, wo Tiere nichts zu suchen hatten – sein Krankenhaus noch dazu.

Die Frau sah ihn an. „Das ist mein Schutzgeist.“

Die Möwe flatterte auf den Tisch, um den herum sie gesessen hatten, bis die beiden gekommen waren. Sie plusterte sich auf, fixierte sie dann alle nacheinander. „Ihr könnt mich Trixie nennen“, krächzte sie mit einer raspelnden, aber weiblich klingenden Stimme.

Pakhet starrte den Vogel an und verkniff sich die Feststellung des offensichtlichen: Die Möwe sprach. Aber die Frau, Siobhan, hatte gesagt, der Vogel sei ein Geist. Es musste wohl damit zusammen hängen.

Unbeirrt von der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde, watschelte die Möwe zu Murphy hinüber und beäugte ihn. „Du hast ja auch Federn“, stellte sie fest.

Murphy starrte sie etwa so fassungslos an, wie Pakhet. Dabei hatte der Junge doch normalerweise mehr mit all diesen seltsamen Dingen zu tun. Dennoch brauchte er einen Moment, um sich zu beherrschen. „Ab und an lasse ich mir welche wachsen.“

Die Möwe machte einen laut und sprang auf seinen Arm, streckte ihren Schnabel nach seinem Haaransatz aus und rupfte eine schwarze Feder aus, die sie auf den Tisch legte. „Feder.“

„Ach je, ich bin wirklich übermüdet“, meinte Murphy, nun wieder um seinen üblichen Charme bemüht.

„Was du nicht sagst“, murrte Alice, die mit verschränkten Armen, die Stiefel auf dem Tisch, neben ihm saß.

Die Möwe öffnete den Schnabel etwas, so dass es fast wie ein Lächeln aussah, wandte sich dann aber wieder Pakhet und Siobhan zu, setzte sich hin und plusterte sich leicht auf.

Pakhet räusperte sich. „Wie dem auch sei“, meinte sie. „Können wir anfangen?“

„Sicher“, erwiderte Smith. Er setzte sich neben Heidenstein, während Siobhan um den Tisch herum ging und sich dann neben Murphy setzte, der ihr einen vielsagenden Blick zuwarf, sich vorbeugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern und dafür einen Ellenbogenstoß in die Seite kassierte.

Selbst mit all dem Stress und dem noch zu deutlichen Bild, von dem, was sie da unten im Keller gesehen hatte, im Kopf, kam sie nicht umher darüber kurz zu lächeln.

„Okay.“ Sie holte Luft. Was sollte sie sagen? Sie war niemand der redete? Zur Hölle, warum hatte sie es nicht Murphy überlassen?

„Also, weswegen wir hier sind“, begann sie erneut. „Ich, wir, also Murphy und ich haben vor zwei Tagen einen Auftrag bekommen ein Mädchen namens Dené zu finden, nachdem die auf ihrem Job entführt wurde.“ Nervös räusperte sie sich und sah zu Murphy, der ihr aufmunternd zunickte. „Also jedenfalls war Dené eigentlich als Prostituierte für Tutu zuständig.“

Siobhan hob die Hand. „Und wer ist Tutu?“

„Ein Zuhälter“, erklärte Murphy neben ihr sofort. „Also so etwas in der Art. Ihm gehört ein Club, in dem viele Prostituierte arbeiten. Sie treten ihm dafür etwas Geld ab und bekommen Schutz von ihm. Also effektiv ist er ihr Pimp.“

Siobhan nickte, um zu zeigen, dass sie verstand. „Danke.“

Okay, wie jetzt weiter? Sie schaute zum alten Laptop, den Heidenstein aufgebaut und an einen mindestens genau so alten, eingestaubten Beamer gestellt hatte.

„Also, Murphy, Heidenstein und ich haben Informationen gesammelt“, erklärte sie und ging zum Lichtschalter, um das Zimmer abzudunkeln. „Dené ist von einem Scout angesprochen worden. Hat diesen offenbar begleitet. Wir haben den Typen gefunden und ihn befragt.“ Und jetzt war er wahrscheinlich wieder frei. „Von ihm haben wir eine Adresse bekommen.“ Sie weckte etwas ungeschickt den Rechner aus dem Ruhe zustand auf und der Beamer erwachte mit lautem Rödeln zum Leben.

Pakhet räusperte sich. Rief die Karte auf GoogleMaps auf. „Das ist, wo sie das Mädchen hingebracht haben.“

„Aber  …“, setzte Murphy an, doch sie hob die Hand. Sie wusste, was er sagen wollte, doch erst einmal wollte sie Smith, Siobhan, Alice und wohl auch die Möwe auf den aktuellen Stand bringen. „Heidenstein und ich sind gestern dort eingebrochen. Wir haben gesamt sicher um die zwanzig Jugendliche gefunden, die dort festgehalten wurden. Sie wurden offenbar von Geistern oder Dämonen unter Kontrolle gehalten.“ Sie blickte von einem zum anderen, rief dann die Bilder auf.

Es waren Screenshots von den Aufnahmen der GoPro, die die ganze Sache wie durch ein Wunder überlebt hatte. Nun, jedenfalls war der Datenchip unbeschadet gewesen.

Pakhet war sich eigentlich sicher gewesen, dass sie sie verloren hatte. Doch offenbar hatte Heidenstein sie gehabt. Er hatte ihr die Bilder gezeigt.

Sie hatten sich für die Screenshots, anstelle der Videos, entschieden, da Pakhet das Video nicht unbedingt Murphy – oder Alice – zeigen wollte.

„Sie haben vor allem Jugendliche entführt.“ Das Bild zeigte einen Blick in den Raum, in dem die Jugendlichen wie Hunde an die Wand gekettet waren. „Sie verkaufen viele von ihnen offenbar online. Andere wurden aber offenbar an die Dämonen verfüttert.“ Das Bild der Taschendimension war verwackelt und von rauschen durchzogen. Es war oft schwer in diesen Dimensionen zu fotografieren, manchmal funktionierte Technik auch gar nicht. „Wir haben da unten zwei Dämonen getroffen, einmal diesen hier.“ Sie zeigte das Bild, mit dem Schakal. Auch es war verwackelt, aber gut genug zu erkennen. „Dann eine Schlange.“ Sie hatten im Kampf kein wirklich gutes Bild von der Schlange bekommen, doch reichten die Bilder zumindest, um den langen, großen Körper zu erahnen.

„Das sieht aus, wie ein Abkömmling Apophis'“, stellte Siobhan fest. „Jedenfalls, mit den Bildern aus dem Opferraum. Hast du davon mehr?“

Unsicher sah sie zu Heidenstein, doch Alice nahm ihnen ihre Entscheidung ab. Natürlich. Konnte man irgendetwas gegen ihre Fähigkeiten machen?

Der Videoplayer öffnete sich, sprang zu der Stelle vor, wo sich die Tür öffnete – auch wenn man nur den lauten Knall hören und die Wand sehen konnte. Dann folgte der Schrei des Mädchens, das kurz darauf sterben würde.

Pakhets Herz zog sich zusammen. Sie hatte nichts tun können. Sie hatte das Mädchen nicht retten können.

Das Video spielte weiter, zeigte, wie sie durch die Tür kam. Zum Glück konnte die Kamera den Boden kaum sehen, zeigte nur den massiven Körper, ein kurzes, verwackeltes Bild des Schamanen, während Pakhet sich – mit der Kamera am Gürtel – zu der Schlange umdrehte und so der Kamera ein gutes Bild der von Kerzen beschienenen Wände gab, die mit seltsamer Schrift, die Pakhet dank der Bildstörungen erst nach einem Moment als Hieroglyphen erkannte, überzogen waren.

„Halt einmal an“, bat Siobhan Alice.

Das Bild hielt. Es war dank der Störungen griesig, doch Siobhans Augen wanderten dennoch die Spalten von Hieroglyphen entlang.

„Was ist?“, fragte Pakhet. Sie sah Alice mit strafendem Blick an, nur froh, dass sie die anderen Teile übersprungen hatte. Dennoch war sie sich nicht sicher, ob Alice sie nicht doch irgendwie gesehen hatte. Wie waren die Kräfte des Mädchens limitiert?

„Es ist seltsam“, antwortete Siobhan. Sie runzelte die Stirn. „Ich gebe offen zu, dass mein Altägyptisch nicht das beste ist und ich auch kein Fachmann auf dem Gebiet der Mythologie bin. Aber die Schrift hier wirkt seltsam vermischt. Hier sind Aspekte aus dem Ra-Mythos, aber direkt daneben Zeilen aus dem Buch der Toten. Es ist, als wäre alles irgendwie rein zufällig zusammengemischt gewesen.“

Pakhet schwieg. Eigentlich sollte sie selbst mehr darüber wissen. Verdammt, sie hatte ihren Codenamen aus einer Doku über weniger bekannte ägyptische Götter, laut der Pakhet eine Jagdgöttin in Löwengestalt war. Es war ihr als passender vorgekommen, als die jungfräuliche Artemis, zumal sie es nicht wirklich mit Pfeil und Bogen hatte.

„Apophis war die Nilschlange, die die Sonne verschlang, richtig?“, fragte sie schließlich nach einigem Nachdenken. Sie erinnerte sich nicht wirklich mehr an den Namen, doch hey, sie sprachen von einer riesigen Schlange und davon gab es nur so viele in der Mythologie. Jedenfalls soweit sie wusste. Immerhin war sie eben kein Fachmann. Das meiste von ihrem Wissen über etwaige Mythologien kam entweder daher, diverse Kreaturen aus der Mythologie, die irgendwo Amok gelaufen waren, wieder einzufangen oder zu töten, oder aus Dokumentationen. Auch wenn sie früher auch immer mal wieder Fachbücher gelesen hatte.

Siobhan nickte. „Genau. Und unter den Khefti, den Dämonen, waren je nach Interpretation auch welche seiner Abkömmlinge. Jedenfalls wissen wir, dass unter den tausenden Dämonen, die es gab, auch andere große Schlangen waren.“

Pakhet starrte sie an. „Und was heißt das jetzt?“

„Ich würde sagen“, meinte Siobhan, „dass, wer auch immer hinter dem magischen Schutz der Anlage steht, eng mit ägyptischen Dämonen in Verbindung steht. Aus welchen Gründen auch immer.“

„Sind wir dafür nicht viel zu weit weg?“, fragte Murphy. „Ich mein ja nur. Ägypten  … Das sind doch dreitausend Kilometer oder so.“

Siobhan sah ihn milde lächelnd an. „Ich bin eine in Pakhistan geborene Druidin.“

„Druide, wie in keltisch?“, fragte Heidenstein.

„Korrekt“, erwiderte Siobhan mit demselbem Lächeln.

Okay, die Frau war rumgekommen. Doch das tat für den Moment wenig zur Sache. „Um zur eigentlichen Sache zu kommen: Ich will die Jugendlichen, die wir dort gesehen haben, wenn irgendwie möglich befreien.“

„Warum?“, fragte Siobhan. Ihre Stimme war nicht herausfordernd sondern wirkte viel mehr aufrichtig interessiert.

„Weil es das Richtige zu tun ist“, erwiderte Pakhet.

„Und du bist Söldnerin?“, fragte Siobhan. War sie es denn etwa nicht?

„Ja.“ Pakhets Stimme war kühl. Was sollte sie von der anderen Frau denken?

Siobhan zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück, als Murphy aufstand und damit die Möwe, Trixie, dazu brachte aufzuspringen.

„Ich habe die Location, an der Pakhet und Doc waren seit gestern Nachmittag beobachtet“, erwiderte er. „Beziehungsweise ich habe sie beobachtet, bis letzte Nacht Leute mit mehreren Transportern gekommen sind. Sie haben die Leute rausgebracht und fortgefahren, aber ich bin ihnen gefolgt.“ Er beugte sich vor, schloss die Videowiedergabe und rief Google Maps auf. „Sie haben einen Teil der Jugendlichen hierher gebracht.“ Er zeigte auf ein Haus, das in einer ganz anderen Gegend gelegen war. In der Nähe des Hafens, bei einem Hotel, wenn Pakhet nicht irrte. „Einen anderen Teil – weit weniger – fünf oder sechs von ihnen – hierher.“ Er zeigte auf ein anderes Gebäude, das in der Nähe der Epping Garden, der weißen Armengegend lag.

„Das war früher einmal ein Wasserwerk“, stellte Smith fest. „Aber es wurde 2007 aufgegeben, nachdem das Große in Kimberly eröffnet wurde.“

Pakhet musterte die Karten. Sie hatte eine Vermutung, was vor sich ging.

„Ich habe vor, Hilfe zu suchen, um die beiden Orte zu überfallen“, sagte Pakhet. „Deswegen seid ihr da.“

„Was ist mit Jack?“, fragte Smith, dessen Hände gefaltet vor ihm auf den Tisch lagen. Seine Augen musterten sie aufmerksam.

„Ich werde ihn heute Abend treffen“, erwiderte sie.

„Du wirst aber mehr Leute brauchen“, sagte Smith langsam. „Ich nehme an, du hast die Polizei ausgeschlossen.“

Natürlich brachte auch er es ein. Doch anders als Heidenstein wusste er, welche Vorbehalte sie hatte. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich will die Kinder dort rausholen. Ich bin mir dessen bewusst, dass wir allein nicht reichen.“

Smith schwieg für einige Sekunden, schien seine Worte genau abzuwägen. Dann leckte er sich über die Lippen. „Ich habe ein paar Kontakte, die sich für diese Geschichte interessieren könnten. Eventuell könnte ich sie dazu bekommen zu helfen, aber  …“ Er zögerte. „Sie stehen mit den Behörden in Verbindung.“

Wovon redete er? Sie sah ihm in die Augen und verstand, dass er genau wusste, worüber sie nachdachte. Sie konnte jetzt nicht mit ihm darüber reden, wollte sie doch nicht, dass einer der anderen etwas davon mitbekam. Wenn Smith diese Kontakte vorschlug, musste er zumindest genug in sie vertrauen, als dass er nicht glaubte, dass sie sie direkt festnehmen würden. „In Ordnung“, erwiderte sie.

Smith nickte und machte sich eine Notiz in seinem Handy.

„Es wäre außerdem gut“, meinte Murphy, „wenn mir jemand helfen kann, die Gebäude zu überwachen. Denn ich bin ganz ehrlich: Ich werde in etwa einer halben Stunde umkippen und dann für die folgenden sechs Stunden nicht mehr ansprechbar sein.“

„Ich denke, das wird vor allem sein, warum Trixie und ich hier sind“, erwiderte Siobhan und lächelte ihn an. „Wenn du mir sagst, worauf ein Vogel so aufpassen muss.“ Sie zwinkerte ihm zu und Murphy grinste verlegen, kassierte dann einen weiteren Ellenbogen in die Seite.

[24.08.2011 – X13 – Reue]

Es war später Nachmittag. Pakhet war in der Wohnung über dem Krankenhaus, nachdem Heidenstein darauf bestanden hatte, dass sie sich noch ein wenig ausruhte, bevor sie sich mit Jack traf.

Sie hasste es.

Sie hasste es so untätig herum zu liegen. Sie verstand, dass Heidenstein sich um sie sorgte. Sie verstand es wirklich. Dennoch. Sie wollte etwas tun, sie wollte eine Möglichkeit ihre Gedanken auf irgendetwas zu fokussieren. Sie wollte sich von den Gedanken, die sonst ziellos durch ihr Bewusstsein wanderten, ablenken.

Fuck. Sie hasste diese ganze Sache so sehr. Sie war keine Heldin. Sie war niemand, der sich um diese Dinge kümmern sollte, und musste es dennoch tun. Wieso hielt sie niemand auf? Heidenstein. Smith. Niemand hielt sie auf, obwohl ihr Entschluss sie sehr gut mit ins Verderben würde ziehen können. Niemand stellte sie auch nur in Frage.

Sie konnte die Sachen, die sie dort im „Casino“, wie es der Scout genannt hatte, gesehen hatte, nicht vergessen. Jahre als Söldnerin hatten sie abgestumpft, aber verdammt, dass waren teilweise noch halbe Kinder gewesen. Wer würde so etwas tun?

Doch die Wahrheit war, dass sie immer gewusst hatte, dass Kinder auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Im besten Fall an Ehepaare, die selbst keine Kinder bekommen konnten, im schlimmsten Fall  …

Viele magische Rituale, so glaubten jedenfalls diverse Leute, brauchten das Blut von Unschuldigen. Wobei sie sich nicht sicher war, ob das wirklich das schlimmste war. Denn sie hatte auch jene anderen Videos gesehen. Und sie wusste von verschiedenen Orten, hier im Land, aber auch in anderen Ländern, die sich selbst für weit entwickelt und zivilisiert hielten, wo man Sex mit Kindern oder Jugendlichen kaufen konnte.

Sie stand vor dem Spiegel, sah sich an.

Sie war blass. Krankhaft blass. Kein Wunder, dass Heidenstein sich solche Sorgen um sie machte.

Noch immer kämpfte sie gegen die Übelkeit. Doch für den Moment war es erträglich. Sie würde damit klarkommen. Verdammt, es würde ihrem Körper kaum etwas bringen, wenn sie sich ausruhte. Das änderte nichts an der Geschwindigkeit, mit der die Reste des Giftes abgebaut wurde.

Sie hatte neue, kleinere Pflaster, nur noch so groß, wie die Innenfläche ihrer Hand mitgenommen. Sie wollte nicht unbedingt auf die Wunden, die die Zähne der Schlange hinterlassen hatten, aufmerksam machen. Sie spürte sie weiterhin deutlich, schmerzhaft, aber es war über den Tag hinweg etwas besser geworden. Magischer Heilung sei dank.

Die Lippen geschürzt, die Zähne vorsichtig zusammengepresst, zog sie das breite Pflaster, das die rechte Seite ihres Brustkorbs bedeckte, ab.

Die beiden Einstichstellen, die die Zähne der Schlangen hinterlassen hatten, zeigten sich deutlich. Heidenstein hatte sie genäht, dann mit Heilmagie nachgeholfen. Die Wunden waren geschlossen, bluteten nicht mehr. Dennoch waren sie noch immer deutlich rosa und sie war sich sicher, dass eine zu starke Belastung sie wieder aufreißen lassen würde.

Sie seufzte, öffnete ein Glas, das vor ihr auf dem Waschbecken stand. Heidenstein hatte es ihr mitgegeben. Heillehm, hatte er gesagt.

Sie kannte das Prinzip. Die Massai in Ostafrika nutzten es, wie auch diverse andere Stämme, doch schien der Effekt deutlich genug zu sein, als dass sie auch ausgebildete Ärzte und vor allem Tierärzte in der Savanne gesehen hatte, die es teilweise anstelle von Stichen nutzten.

Vorsichtig steckte sie die Finger in das Glas, in dem eine zähflüssige, weiße Masse mit leichtem Grünstich schwamm. Das Zeug roch lehmig, aber auch ein wenig nach Pflanze. Kräutern. Irgendetwas. Sie konnte nicht genau sagen was.

Unsicher trug sie eine dünne Schicht auf den beiden Wunden auf. Überrascht stellte sie fest, dass der Schmerz direkt nachließ.

Sie hatte nur Glück gehabt, dass die Zähne der Schlange ihre Rippen nicht durchdrungen hatten – dabei hätte sie während des Kampfes schwören können, dass genau das passiert war.

Sie seufzte, legte dann das kleinere Pflaster an.

Verdammt, sie hasste den Gedanken daran, dass es noch drei Stunden waren, bis sie sich mit Jack traf. Drei Stunden, in denen Smith zurück an der Zentrale war, in denen Heidenstein erst einmal im Krankenhaus arbeitete, nachdem sie ihn davon überzeugt hatte, und Siobhan zusammen mit dem seltsamen Möwengeist die beiden neuen Locations überwachen würde. Drei Stunden, in denen es wenig für sie zu tun gab.

Nun, sie würde auch das Pflaster auf ihrem Rücken austauschen. Etwas, das mit nur einem Arm schwerer war, als mit zwei. Und sie erinnerte sich noch zu gut, dass es auch mit zwei Armen nicht leicht gewesen war.

[23.08.2011 – F05 – Drohung]

Zweieinhalb Stunden später war Pakhet in ihrem Wagen auf dem Weg in den Süden der Stadt, wo der Salty Ferryman lag.

Es war bereits dunkel und wie immer war sie vorsichtig, während sie durch die Flats fuhr. Sie wusste, dass meistens nichts geschah, doch sie wollte vorbereitet sein, wenn sie doch einmal Pech hatte. Es wäre eine alberne Art zu sterben. Nach all den Einsätzen, nach all den Dingen die sie getan hatte, durch einen dummen Zufall in den Flats von einen einfachen Ganger erschossen. Das wäre doch eine Ironie des Schicksals, oder?

Gerade, als die Gegend etwas besser, die Hütten zu einfachen Häusern wurden, klingelte ihr Handy.

Michaels Name wurde auf dem Display angezeigt.

Arschloch.

Sie wollte es ignorieren, sah auf ihr Handy, das in der Freisprechvorrichtung hing, schoss ihm wütende Blicke zu.

Dann hob sie dennoch ab. Verdammt.

„Was ist, Michael?“, knurrte sie ihr Handy an.

„Hallo, Jojo“, erwiderte er, wie immer mit fröhlicher Stimme. Sie war sich jedoch sicher einen bedrohlichen Unterton rauszuhören.

Wusste er etwas? Hatte Smith etwas verraten?

„Was ist?“, wiederholte sie kühl.

„Ich wollte eigentlich nur fragen, wie es mit dem aktuellen Job läuft.“

Also war es, wie sie gedacht hatte. Er hatte gewusst, was sie finden würde. Das war ein Test. Ein Test ihrer Loyalität – oder, wie er es nennen würde, ihrer Professionalität.

„Ich suche noch immer nach einer Spur“, erwiderte sie. Sie bemühte sich ihre Stimme kühl und distanziert zu halten. Ja, wahrscheinlich wusste er bereits, dass sie am „Casino“ gewesen waren, doch darum ging es im Moment nicht.

„Ach so?“ Michaels Stimme klang amüsiert, aber eisig.

„Ja. Es ist nicht so leicht eine einzelne Prostituierte zu finden.“ Sie sah zum Handy, dann wieder auf die Straße, während sie langsam in die Touristenviertel der Stadt kam. „Es gibt viele und wer auch immer sie hat, hat sie nicht von Leuten umgeben entführt.“

„So so“, erwiderte Michael. Er seufzte übertrieben. „Nun, wie dem auch sei, meine Liebe, ich habe eine Information, die dich interessieren könnte.“

Worauf wollte er hinaus? „Ja?“

„Die Information könnte wirklich, wirklich wichtig für dich sein“, fuhr Michael fort. Sie konnte ihn förmlich grinsen sehen.

„Dann erzähl“, knurrte sie.

„Die Information ist so wichtig, dass du mir sicher eine Gegenleistung dafür geben möchtest“, säuselte Michael.

Sie schloss kurz die Augen, atmete tief durch. „Was zur Hölle, Michael.“ Wenn es für einen Job notwendig war, zahlte sie normalerweise nicht. „Seit wann soll ich dich zahlen?“

„Seit ich mir nicht mehr sicher sein kann, dass du für mich arbeitest, Joanne“, erwiderte er, nun mit einem genau so eisigen und eisernen Ton wie sie.

„Fuck, Michael.“ Sie presste die Zähne zusammen.

„Willst du die Information?“, fragte er.

Was konnte es sein? Scheiße! „Wie viel?“

„Achthundert Dollar“, erwiderte er. „Und das ist ein Schnäppchen.“

„Willst du mich verarschen?“ Achthundert war ein Preis, den sie normal für essenzielle Informationen bezahlte, die für das Gelingen hochprofiliger Aufträge wichtig waren.

„Glaub mir, es wird dir das Geld wert sein“, antwortete er. „Immerhin könnte das Leben vom guten Joachim Anderson daran hängen.“

Fuck. Sie hatte eine böse Vorahnung. Sie hasste es, ihm nachzugeben. Doch wenn sie richtig lag  … Sie musste es wissen. „In Ordnung. Ich überweise dir das Geld.“

„Ich vertraue darauf“, erwiderte er. „Joanne Snyder.“ Dann holte er tief Luft. „Jemand sucht nach dir und dem guten Dr. Anderson“, sagte er. „Man hat mir Geld angeboten für Informationen. Anonym. Ich habe sogar Gerüchte gehört, dass man jemanden auf dich ansetzen will. Das klingt beinahe so, als hättest du dich mit den falschen Leuten angelegt.“

„Wer?“, hauchte sie.

„Wie gesagt. Die Nachfrage erfolgte anonym.“

„Verarsch mich nicht, Michael“, erwiderte sie leise. „Du weißt, wer es war.“

„Ach bitte, Joanne“, antwortete er leise. „Du weißt es genau so gut wie ich.“ Er holte noch einmal tief Luft und ein Geräusch verriet ihr, dass er etwas trank. Natürlich, wie das absolute Arschloch, das er war. „Du hast dich mit den falschen Leuten angelegt, meine liebe Joanne.“

Sie schwieg, sah auf die Straße, reagierte zu spät auf die rote Ampel. Sie fuhr auf der anderen Seite der Kreuzung einfach weiter. Wieder presste sie die Zähne zusammen. Sie hob die rechte Hand. „Vielleicht“, sagte sie leise und drückte dann auf die rote Schaltfläche auf dem Bildschirm ihres Handys.

Das Rauschen der Leitung verklang.

Michael rief nicht noch einmal an.

Schweigend – mit wem sollte sie auch reden? – fuhr sie zum Ferryman. Sie war mehr als eine halbe Stunde zu früh.

Das Ferryman war trotz des Namens eine relativ übliche Touristenbar. Exotisch aufgemacht, auch wenn die Karibikatmosphäre nicht ganz hierher passte. Ein großer Parkplatz war auf der Rückseite des geweißten Gebäudes.

Pakhet holte tief Luft und lehnte den Kopf dann gegen das Lenkrad. „Fuck“, flüsterte sie. Dabei hatte die Information sie eigentlich nicht einmal überrascht. Natürlich hatte man jemanden auf sie angesetzt.

Wahrscheinlich hatte Michael von Anfang an damit gerechnet.

Er hatte sie genau deswegen hergeschickt. Damit sie einen Fehler machte. Er hatte es gewusst. Verdammt, er kannte sie zu gut.

Sie konnte jetzt nicht länger darüber nachdenken. Für den Moment hatte sie andere Prioritäten. Jack. Wer auch immer er war.

[23.08.2011 – J01 – Macho]

Die meisten Leute in der Bar waren Touristen. Die meisten von ihnen – aber nicht alle – hellhäutig. Viele tranken, feierten.

Der Club war in erster Linie eine Bar, die mit kleinen Tischen gefüllt war. Es gab Separés, die allerdings zum Raum hin offen war. Plastikpflanzen hingen an den Wänden. Man hatte versucht eine Dschungelatmosphäre herzustellen. Hinter der Bar hing ein kitschiges Bild, dass eine von Tieren gefüllte Savanne zeigte.

Pakhet hatte gesagt, dass sie Jack an der Bar treffen würde. Also bewegte sie sich an die Theke, wo dankbarerweise Plätze frei waren. Wieder trug sie die mehr oder minder synthetische Prothese, inklusive des Rings, der die Illusion verstärkte. Sie wollte nicht angesprochen werden.

Sie trug eine einfache, enge Jeans und eine dunkle, undurchsichtige Bluse, die auch ihre Lederweste verbarg. Diese drückte gegen ihre Wunden, doch bevorzugte sie den Schmerz gegenüber weiteren Wunden, sollte das hier ein Hinterhalt werden.

Sie hatte eine auffällige rote Handtasche dabei. Das Erkennungsmerkmal, dass sie Jack genannt hatte.

„Was kann ich für Sie bringen, meine Dame?“, meinte ein vielleicht dreißigjähriger, blonder Barmann mit einem Gesicht, das ohne seinen Bart wohl kindlich ausgesehen hätte.

Pakhet zögerte. Alkohol war eine dumme Idee, doch es würde sie weniger auffällig wirken lassen. „Whiskey.“

„Sehr gern“, er lächelte. „Warten sie auf jemanden?“

„Nein“, erwiderte sie. Sie hatte keine Lust darauf, eine Geschichte zu erfinden, mit wem sie sich warum traf. Außerdem wusste sie noch immer nicht, ob es eine Falle war.

Während der Barmann den Whiskey – einen Aberlour – in ein entsprechendes Glas füllte, beobachtete sie ihn. Sie wollte nicht riskieren, dass ihr etwas untergemischt wurde.

Danach wartete sie. Halb wünschte sie sich, sie hätte Heidenstein mitgenommen, doch der Gedanke war albern. Sie konnte sich nicht von ihm abhängig machen. Verdammt, sie war bisher auch immer so klar gekommen. Dennoch. Die Ereignisse vom Vortag hatten ihre Spur hinterlassen. Es war selten, dass sie so in Bedrängnis geriet. Es war selten, dass sie so überrascht wurde.

Die Zeit verging. Links hinter ihr feierte eine Gruppe junger Männer etwas. Vielleicht war es ein Junggesellenabschied, vielleicht waren sie auch einfach nur Studenten. Sie konnte es nicht sagen, doch immer wenn besonders laute Ausrufe folgten, zuckte sie zusammen.

Verdammt. Sie durften nicht so schreckhaft sein.

Jemand setzte sich neben sie. „Sind sie alleine hier?“ Es war ein Mann mit einem deutlichen Akzent, den sie nicht einordnen konnte. So, wie er die Rs rollte, war der Akzent vielleicht nur aufgesetzt.

Wären die vergangenen Tage nicht gewesen, wäre sie vielleicht darauf eingegangen. Immerhin konnte sie Ablenkung gebrauchen. Doch mit ihrer Sorge wegen den Dingen, die Michael ihr gesagt hatte, wegen den Dingen, die sie gesehen hatte und nicht zuletzt wegen ihrer Wunden, sah sie den Mann kühl an.

Er war noch jung. Vielleicht Mitte Zwanzig. Seine Haut hatte einen sehr gleichmäßigen, dunklen Braunton. Seine Züge wirkten arabisch, vielleicht persisch, dafür aber erstaunlich fein. Er hatte ein hübsches, jugendliches Gesicht mit ebener Haut. Sie konnte keinen Bartansatz erkennen, nicht einmal einen Schatten. Sein Haar war pechschwarz und fein, seine Augenfarbe schien dunkelbraun zu sein, auch wenn seine Augen im Licht der Barbeleuchtung leicht goldlich zu glimmen schienen.

Dem feinen Hemd, das er trug und das eine Mischung von Eleganz und Gelassenheit ausstrahlte, nach, hatte sie es mit einem Aufreißer zu tun. Das letzte, was sie jetzt brauchte.

Sie ignorierte ihn.

„Ach, Sonnenschein, tu doch nicht so“, meinte der Mann. „Oder sprichst du kein Englisch.“ Er wechselte in Afrikaans. „Ist das besser?“ Dann wechselte er in die nächste Sprache, offenbar Französisch. Dann erneut. Offenbar Spanisch.

Sie wandte sich ihm zu. „Für gewöhnlich heißt Ignoration, dass diejenige kein Interesse hat“, fauchte sie leise.

„Bitte, bitte“, meinte er, nun wieder auf Englisch. „Hattest du einen schlechten Tag? Kann ich vielleicht etwas für dich tun?“

Vielleicht hätte sie sich nicht schminken sollen. Vielleicht erweckte es den falschen Eindruck. Sie hatte sich bevor sie losgefahren war, nur beschäftigen wollen.

„Lass mich in Ruhe, ja?“, zischte sie.

Er lächelte gewinnend, zeigte dabei zwei Reihen weißer, perfekter Zähne. „Ich weiß etwas, ich bestell dir etwas. Was soll es sein?“

Sie verdrehte die Augen. Das war das letzte, was sie gebrauchen konnte. Verdammt, wie wurde sie den Typen los? Sollte sie aufstehen und gehen? Doch wenn sie nach der Zeit auf ihrem Handy ging, sollte dieser Jack langsam kommen.

Verdammt.

„Jetzt sag schon, Sonnenschein“, meinte er. „Ich geb dir was aus. Vollkommen unverbindlich. Was soll es sein?“ Er hob die Hand, um den Barkeep herzuwinken.

Es war derselbe Mann, der Pakhet schon vorher bedient hatte.

„Was gibt es?“, fragte er.

Pakhet warf ihm einen Blick, der einem stummen Hilfeschrei gleich kam, zu. „Bitte, bitte tu etwas.“ Sie sprach die Worte nicht, formte sie aber mit ihren Lippen. Vielleicht verstand der Barkeep ja.

Es schien ganz so, denn er zwinkerte ihr zu. „Also, was kann ich für sie tun?“

Sie seufzte. „Einen Whiskey für mich.“

„Dann für mich dasselbe“, meinte der nervige Typ neben ihr.

„Ach, bitte“, erwiderte Pakhet und sah sie an, „das ist doch beinahe schon langweilig.“

„Wieso?“, fragte er, offenbar verwirrt.

„Es ist so Standard. Es gibt hier bessere Sachen“, meinte Pakhet. Sie hoffte, dass es so war. „Gibt es vielleicht eine Spezialität für den Herrn?“

Der Barkeep grinste. „Ich denke, ich weiß genau, was ich ihm empfehle.“ Damit wandte er sich ab, nahm zwei Gläser und begann – nun mit den Rücken zu ihnen – etwas zu mixen.

„Wie aufmerksam von dir“, sagte der Aufschneider. „Darf ich deinen Namen erfahren?“

„Nein“, grummelte sie.

„Zu schade.“ Er zuckte mit den Schultern, grinste. „Soll ich dich stattdessen Schätzchen nennen?“

Oh, konnte nicht einfach ein Blitz auf ihn hinabschlagen? Manchmal wünschte sie sich, ihre magischen Fähigkeiten wären ausgeprägter. Doch alles, was sie hätte tun können, wäre, ihm einen Kinnhaken zu verpassen – etwas, was fraglos mit ihr außerhalb der Bar enden würde. In den meisten Bars und Clubs wurde Gewalt nicht geduldet. Bestenfalls bekam man ein Hausverweis, schlimmstenfalls durfte man sich mit der Polizei herumschlagen.

Der Barkeep kam zu ihnen. „Hier.“ Er stellte ein Glas mit einem karamellfarbigen Whiskey vor sie, ein anderes Glas mit einer weit helleren Flüssigkeit – wahrscheinlich irgendein Brand – vor den Mann. „Und unsere Spezialität.“

„Die geht auf mich“, meinte Pakhet.

Er grinste sie an. „Vielen Dank.“

Der Barmann zwinkerte. Zwar ging er dazu über, einige Flaschen, die auf der anderen Seite der Theke stehen geblieben waren, zusammenzusammeln, doch beobachtete er sie.

Pakhet ahnte, was los war. Er hatte wahrscheinlich ihrem netten Aufschneider irgendeinen scharfen Schnaps gegeben. Chillischnapps oder vergleichbares.

Der Mann hob sein Glas und hielt es ihr entgegen. „Auf einen wunderschönen Abend“, meinte er.

Halbherzig stieß sie an, setzte ihr Glas an, ließ jedoch nur einen kleinen Schluck ihre Lippen benetzen, während sie ihn beobachtete.

Er trank das Glas auf ex und stieß dann ein tiefes Seufzen aus, ehe er dem Glas einen ehrerbietenden Blick schenkte. „Ja, das ist gar nicht so schlecht.“ Er zwinkerte dem Barmann zu. „Kann ich davon noch einen haben?“

Der Barmann starrte ihn für zwei Sekunden nur sprachlos an. Dann nickte er. „Natürlich.“ Er schenkte Pakhet einen Blick der sagte: „Ich hab's versucht.“

Pakhet seufzte. Verdammt. Vielleicht sollte sie doch gehen. Sie konnte in fünf Minuten zurückkommen. Solange der Typ ihr auf den Keks ging, konnte sie wohl kaum mit diesem Jack reden.

Sie ließ sich vom Barhocker gleiten, als der Aufschneider nach ihrem Arm griff. „Du gehst schon, Sonnenschein?“

„Lass mich“, knurrte sie und sah ihm mit kalten Blick an.

Er beugte sich zu ihr vor. „Und da dachte ich, du hattest dich mit mir treffen wollen, Pakhet.“ Seine dunklen Augen musterte sie. „Ich versuche uns eine Möglichkeit zu geben, von hier unauffällig zu verschwinden, also spiel mit, Sonnenschein.“

Was hatte das Universum eigentlich gegen sie?

Für einen Augenblick war sie versucht, ihm einen Korb zu geben, doch dann erinnerte sie sich an die Jugendlichen, an die Schlange und daran, dass sie dringend Hilfe brauchten.

Sie seufzte sich neben ihn. „Von mir aus“, knurrte sie leise.

[23.08.2011 – J02 – Angebot]

„Jetzt schau nicht so grummelig, Sonnenschein“, flötete Jack, als er die Tür des Hinterzimmers schloss. Er musterte sie, wobei sein Grinsen langsam verblasste und einem ernsten Gesichtsausdruck wich.

Sie sah sich um. Das Hinterzimmer war bei weitem nicht so komfortabel eingerichtet, wie in Tutus Club, aber für den Zweck eines Gesprächs würde es wohl reichen. Sie setzte sich auf das hier stehende Sofa, das sehr nach IKEA aussah, verschränkte die Arme. „Könntest du damit aufhören?“, fragte sie.

„Womit?“ Er nahm sich einen kleinen, schwarzen Hocker, der auf dem hölzernen Boden stand und setzte sich drauf.

„Mich so zu nennen“, erwiderte sie durch zusammengepresste Zähne.

„Wenn es dir wichtig ist, dann natürlich, Honigkuchen.“ Er schenkte ihr ein kurzes Grinsen.

„Arschloch“, grummelte sie.

Er zuckte mit den Schultern, verschränkte seine Arme, musterte sie. „Ein gewisser Herr Smith hat mich angerufen und gesagt, dass du jemand bist, der im Moment Hilfe im Zusammenhang mit Menschenhandel brauchst. Also sag mir, worum es geht.“

„Gerne.“ Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme ebenfalls und sah zur einfachen, zierlosen Betonwand ihr gegenüber, die vorrangig durch eine unter der Decke aufgehängte Lichterkette beschienen wurde. „Ich bin Söldnerin und habe vor einigen Tagen den Auftrag bekommen eine verschwundene Prostituierte zu ihrem Pimp zurück zu bringen. Ich bin einigen Spuren gefolgt und bin zu einem Haus, das von einem 'Scout' als Casino bezeichnet wurde gekommen. Am östlichen Rand der Flats. Sie haben dort einige Jungendliche gefangen gehalten, sie lassen sie  …“ Sie brach ab. „Wie viel weißt du über das Übernatürliche?“

„Genug“, antwortete er. „Ich bin freischaffend, habe aber selbst schon Monster gejagt, wenn es das ist, was du fragst.“

Sie nickte. „Sie lassen sie von Dämonen bewachen, haben einige wohl auch Dämonen geopfert. Sie verkaufen die Leute – ich weiß nicht, ob es nur Jugendliche und Kinder sind – über das Dark Web.“

Mit deutlich ernsterem Gesicht als vorher, musterte Jack sie. „Okay. Weiter?“

„Wir, also mein Partner und ich, haben uns mit zwei der Dämonen angelegt und den kürzeren gezogen. Wir mussten fliehen. Wer auch immer dahinter steht, hat im Verlauf des Tages das Gebäude räumen lassen und hat die Jugendlichen in das Shoreline am Hafen und zum alten Wasserwerk bei Epping Garden bringen lassen. Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin bewacht werden. Ich nehme auch an, dass der Magier dahinter am Wasserwerk ist.“

„Eine Falle“, erwiderte Jack. Seine dunklen Augen musterten sie.

„Ja.“ Genau zu demselben Schluss war auch sie gekommen. Sie rechneten damit, dass sie wiederkommen würde und wetteten darauf, dass sie das Wasserwerk zuerst angreifen würde, um den Magier auszuschalten. Also würden sie dort etwas für sie vorbereiten.

„Jedenfalls werde ich das nächste Mal nicht unvorbereitet da reingehen.“

„Weißt du, wohin sie das Mädchen, das du finden solltest, gebracht haben?“, fragte Jack.

Sie schüttelte den Kopf. „Das tut auch nichts zur Sache.“

„Tut es das nicht?“, fragte er. Seine Augen suchten ihren Blick, doch sie wich auf, sah auf die graue Wand. „Warum willst du sonst agieren?“

Wieder biss Pakhet ihre Kiefer zusammen. Sie mochte es nicht, solch einen Tick zu zeigen, doch konnte sie sich im Moment kaum beherrschen. „Weil ich gesehen habe, was sie da mit den Kindern machen. Sie verkaufen sie, vergewaltigen sie, verfüttern sie an Dämonen. Das ist  …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist abartig.“

„Und passiert so an tausend anderen Orten auf dieser Welt“, erwiderte Jack nüchtern. „Wieso also hier etwas tun?“

Weil sie es, nachdem sie es so gesehen hatte, nicht länger ignorieren konnte. „Weil es für diese Kinder keinen Unterschied macht, dass tausend andere ihr Schicksal teilen.“

„Wie alt waren die Kinder?“, fragte Jack.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich würde die meisten zwischen dreizehn und zwanzig schätzen.“

„Das sind keine Kinder mehr.“

Sie sah ihn an. „Für mich schon.“

Ein seltsamer Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er nickte stumm.

„Also“, fragte sie kühl. Sie war sich nicht sicher, was sie über diesen Mann denken sollte. „Ich weiß nicht, warum Smith dich mir empfohlen hat, aber er sagte, du würdest eventuell helfen. Irgendetwas von wegen, dass du dich für solche Fälle interessierst.“

Kurz zeigte sich Verwirrung mit einer Spur von etwas anderem – Angst? – in seinem Blick, dann lächelte er. „Das ist wahr. Ich interessiere mich für so etwas.“ Er räusperte sich. „Ich habe in der Vergangenheit öfter für Interpol gearbeitet. Als Freischaffender.“ Er räusperte sich. „Ich wäre bereit dir zu helfen, Pakhet.“ Er betonte ihren Namen, so als würde er hervorheben wollen, dass er ihr ausnahmsweise keinen albernen Spitznamen gab. „Allerdings nicht für umsonst.“

So viel war klar gewesen. „Was willst du?“, fragte sie stur.

„Ich gebe dir die Auswahl“, erwiderte er. „Entweder du zahlst mir vierzigtausend für meine Hilfe oder ich gebe mich mit achttausend zufrieden und wenn wir die ganze Angelegenheit überleben sollten, begleitest du mich auf ein Date.“ Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln.

„Willst du mich verarschen?“, kam es ihr unfreiwillig über die Lippen. Sie sah ihn an. Das musste ein schlechter Witz sein. Vierzigtausend Rand war viel, dann aber nicht ungewöhnlich für einen potentiell gefährlichen Einsatz, der schlimmstenfalls über mehrere Wochen andauern würde. Achttausend dagegen lächerlich wenig.

„Nein“, erwiderte er. „Es ist mein voller Ernst. Vierzigtausend oder Achttausend und ein Date. Vollkommen unverbindlich natürlich.“

„Also kein Sex?“, fragte sie.

Er lächelte. „Nicht, wenn du nicht willst. Nur ein Date.“

Was war sein verdammtes Ziel? Sie musterte ihn schnaubend, schüttelte dann den Kopf. Verdammt, sie hatte vor zwei Tagen mit einem schmierigen Typen geschlafen, nur um an Informationen über den Verbleib Denés zu kommen. Da konnte sie auch auf ein Date mit diesem schmierigen Typen gehen. Was für einen Unterschied machte es schon? Zwar hatte sie mehr als genug Geld, doch schadete es nicht zu geizen – speziell wenn sie damit rechnen musste, noch einiges für ein Artefakt bezahlen zu müssen, das sie brauchte, um mit den Dämonen klar zu kommen. „Von mir aus“, sagte sie kühl. „Achttausend plus Date. Sofern wir die Sache beide überleben und die Kinder befreien.“

Er lächelte sie an. „Ich wusste, dass du nicht nein sagen würdest, Sweetheart.“ Er hielt ihr seine Hand entgegen. Sie sollte auf das Geschäft einschlagen.

Kurz schloss sie die Augen, streckte ihre Hand dann aus. „Deal.“ Er musterte ihn. Was zur Hölle wollte er denn von ihr? „Und mein Name ist Pakhet.“

„Sicher, Liebling.“

[23.08.2011 – D32 – Zuhause]

Pakhet war verwirrt, als sie zum Krankenhaus zurückkam. Sie wusste nicht, was sie über diesen Jack denken sollte. Warum hatte er ein Date mit ihr gewollt? Hatte er sie testen wollen? Wenn ja, warum? Verdammt, der Typ verwirrte sie. Hatte er ernsthaftes Interesse an ihr? Wollte er ihr etwas beweisen? Sie war sich nicht sicher, doch egal was es war: Es konnte nichts gutes sein. Verdammt. Aber wenn er kein ernsthaftes Interesse hatte, warum hatte er ihr dann einen so lächerlichen Preis angeboten? Achttausend Rand, das waren weniger als fünfhundert Dollar. Für einen potentiell lebensgefährlichen Einsatz über mehrere Tage war der Preis nahezu lächerlich. Also: Wieso?

Verdammt.

Sie schlüpfte aus ihren flachen Stiefeln, als sie in die Wohnung über dem Krankenhaus kam. Wieso war sie überhaupt hierher gefahren? Es wäre näher gewesen, wäre sie zu ihrem Haus gefahren, das nicht allzu weit vom Ferryman entfernt gewesen war. Doch sie hatte nicht einmal drüber nachgedacht, war hierher gekommen.

Verdammt.

Sie ging ins Gästezimmer, wo sie einige Ersatzkleidung gelagert hatte, wo auch die weit grobschlächtigere Prothese an der Ladestation hing, und nahm ein einfaches Tanktop aus dem Kleiderschrank. Sie lagerte schon einen Teil ihrer Kleidung hier.

Verdammt.

Heidenstein war noch nicht hier oben. Das Licht war ausgewesen, als sie angekommen war. Vielleicht war er noch unten, vielleicht  … Ach, was wusste sie schon?

Sie legte ihre Prothese ab, tauschte die Prothesen am Ladegerät aus und ging dann, mit der Abdeckung über dem Armstumpf und mit einem Tanktop, einer kurzen Sporthose und einer Unterhose ins Bad, um sich zu duschen. Sie wollte das Make-Up loswerden und sich zudem wieder sauber fühlen. Auch wenn es hieß, dass sie die Pflaster erneut wechseln musste.

Es würde ihr zumindest etwas zu tun geben.

Also duschte sie, wechselte danach die Pflaster, was durch den beschlagenen Spiegel nicht leichter wurde, zog sich dann die Kleidung an, in der sie auch schlafen würde. Sie kam aus dem Bad und lief beinahe in Heidenstein, der draußen offenbar gewartet hatte.

Er lächelte sie an. „Hast du Hunger?“

Kein „Was machst du hier?“, kein „Wann bist du zurück gekommen?“. Er schien sich nicht einmal zu wundern, dass sie hier war.

Verdammt.

Sie hatte tatsächlich Hunger. Den ganzen Abend hatte sie zwar getrunken, aber nichts gegessen. „Ja, danke“, flüsterte sie und verfluchte sich selbst für diese Antwort. Was für einen Eindruck machte sie hier eigentlich?

„Ich habe vorhin etwas mitgebracht. Indisch.“

„Danke“, wiederholte sie.

Er trat zur Seite und keine fünf Minuten später saßen sie auf seinem Sofa und aßen.

Wieder stellte sie fest, dass sie es kaum noch gewohnt war, ohne ihre Prothese etwas zu machen. Sie hatte sie nicht wieder angesteckt und stellte sich mit nur einem Arm ungeschickter als üblich beim Essen an. Doch Heidenstein sagte nichts dazu. Stattdessen fragte er:

„Wie ist es gelaufen, mit diesem Jack?“

Sie zuckte mit den Schultern. Auch die Geste fühlte sich seltsam an, da das Gewicht an ihrer linken Schulter fehlte. „Er hilft uns.“ Sie schürzte die Lippen und streckte die Hand nach dem Zitronenwasser aus, das er in einer Karaffe vorbereitet hatte. Einfach nur Zitronensaft und Leitungswasser.

„Aber?“, fragte Heidenstein, der offenbar spürte, dass dennoch etwas nicht stimmte.

Pakhet seufzte. „Sagen wir es mal so. Der gute Jack hat mich angeflirtet und ist mir ziemlich auf den Keks gegangen.“ Sie lächelte und wollte es wie einen Witz wirken lassen, auch wenn es ihr nicht so vorkam. Als Heidenstein nichts erwiderte fügte sie hinzu: „Und jetzt habe ich ihm für seine Hilfe achttausend Rand und ein Date versprochen.“ Sie wandte sich wieder ihrem Essen – einem Linseneintopf, den sie mit Naan aß – zu.

Heidenstein hustete. Hatte er sich verschluckt? Was für ein Klischee. „Ein Date?“, fragte er, als er nach seinem Glas griff.

„Ja“, antwortete sie. „Ansonsten hätte er Vierzigtausend verlangt.“

Heidenstein schwieg, räusperte sich, aß dann wieder ehe er vielleicht eine halbe Minute später fragte: „Ein Date mit dir ist ihm zweiunddreißigtausend wert?“

So hatte Pakhet noch gar nicht darüber nachgedacht. Sie war einfach davon ausgegangen, dass es nur ein doofer Spruch gewesen war. Dass Jack etwas beweisen wollte. „Offenbar.“

Heidenstein seufzte leise. „Du  …“, setzte er an, verfiel dann aber in Schweigen und schüttelte den Kopf. Er hatte offenbar nichts mehr dazu zu sagen.

Schweigen senkte sich über sie, während sie weiter aßen. Der Eintopf war scharf, doch was erwartete man anderes von indischem Essen?

Schließlich, nachdem sie einen weiteren Schluck ihres Wassers getrunken hatte, sah Pakhet auf. „Und du? Ich meine  …“ Sie unterbrach sich kurz. „Wo warst du vorhin?“

„Ich habe uns vielleicht auch noch etwas Hilfe besorgt“, antwortete er. „Ich habe mich mit einer Heilerin getroffen.“ Er blickte sie an. „Wenn wir wirklich keine polizeiliche Unterstützung holen, dann werde ich magische Hilfe brauchen, um die Jugendlichen zu versorgen. Also wenn wir es wirklich schaffen sollten, sie daraus zu holen.“

Pakhet nickte stumm. Sie wusste, dass ihre Chancen ohne Hilfe gering waren. Doch wen konnte sie um Hilfe bitten? „Und, was hat sie gesagt?“

„Sie hat gesagt, sie wäre bereit uns zumindest vorrübergehend zu helfen, wenn wir ihre Sicherheit vor etwaigen Dämonenangriffen garantieren“, antwortete er und lächelte.

Pakhet nickte wieder nur. Sie schwieg und machte sich daran, weiter zu essen. Sie hasste den Gedanken daran, was passieren würde, wenn sie scheiterten. Dann würde sie nicht nur das Leben der Kinder, sondern auch Heidenstein, Murphy und all die anderen, die sie nun mit hinein zog, zum Tod oder schlimmeren verurteilen.

Sie hasste diesen Gedanken. Genau deswegen hatte sie sich immer von so etwas fern gehalten. Genau deswegen hatte sie sich von anderen fern gehalten.

Etwas warmes auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Heidenstein hatte ihr seine Hand auf die Schulter gelegt. Er schenkte ihr ein wohl aufmunternd gemeintes Lächeln.

„Wir schaffen das schon irgendwie“, meinte er. „Mach dir nicht so viele Sorgen.“

Sie schnaubte, sah ihn an. Obwohl er kein Make-Up trug, zeichneten sich Falten auf seiner Stirn ab. „Du wirkst nicht gerade unbesorgt“, erwiderte sie.

Er lächelte. „Eben.“ Seine Stimme war sanft und ein wenig Amüsement klang aus ihr hervor. „Es reicht doch, wenn ich mir Sorgen mache.“

Sie seufzte, schüttelte den Kopf. Warum war sie überhaupt hier? „Verfickter Idiot“, murmelte sie leise. Sie stellte den mittlerweile leeren Teller auf den Tisch vor sich und lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Du bist ein verfickter Idiot, weißt du das?“

Heidenstein lächelte. „Das hast du mehrfach erwähnt.“

[24.08.2011 – M20 – Kleiderfragen]

Sie saßen beim Frühstück. Heidenstein hatte gefrorene Brötchen aufgebacken, die er mit Magarine und Marmelade, Pakhet dagegen mit Frischkäse aß. Am Ende aß sie ohnehin wenig zum Frühstück – der Kaffee war dagegen wesentlich wichtiger. Eine große Tasse stand vor ihr auf dem Wohnzimmertisch.

Ein leises Klacken ließ Pakhet aufhören. Es klang, als würden Steine gegen das Küchenfenster geworden werden.

Die Küche, die eigentlich einmal eine Kaffeeküche gewesen war, ehe Heidenstein diesen Abschnitt des Krankenhauses zu seiner Wohnung umgebaut hatte, lag direkt hinter dem Wohnzimmer und hatte keine Tür, die man hätte schließen können. Da sie im fünften Stock lag, sollte es allerdings auch niemanden geben, der so einfach würde Steine an das Fenster werden können.

Sie drehte sich um.

„Was?“, fragte Heidenstein und sah auf.

Pakhet seufzte, als sie erkannte, was der Auslöser für das seltsame Geräusch war: Eine Dohle klammerte sich an dem sehr schmalen Fenstersims fest zu klopfte mit dem Schnabel dagegen. „Murphy“, sagte sie und ging zum Fenster hinüber, um es zu öffnen.

Die Dohle flatterte herein und nahm die Gestalt des schwarzhaarigen, hellhäutigen und ausgesprochen nackten Teenagers an.

„Warum zur Hölle hast du deine Kleidung nicht gebunden?“, fragte Pakhet und sah weg. Der Junge trieb sie damit noch zur Verzweiflung.

Das Prinzip war eigentlich einfach: Gebundene Kleidung war auf die eigene Aura eingestimmt, weshalb Gestaltwandler sie einfach mit sich verwandeln konnten. Es war eine Methode für jede Art von Gestaltwandler nicht ständig nackt darzustehen. Für alle anderen war es vor allem von Vorteil, um Kleidung mit in andere Ebenen zu nehmen – sei es die Astralebene oder die Anderswelt. Zur Hölle, Murphy hatte Kleidung an sich gebunden, um mit ihr in die Anderswelt zu gehen und jetzt  …

„Du musst sehen, Pakhet“, erwiderte der Junge, ohne sich darum zu bemühen, seine Blöße zu bedecken. „Ich bin ein sehr modischer junger Mann. Muss es ja auch sein, als Crashs Manager und alles, nicht? Und da kann ich es mir doch nicht erlauben ständig dieselbe Kleidung zu tragen. Und du weißt wie auszehrend dieser Rituale sein können, oder?“ Er seufzte schwer. „Davon abgesehen will ich doch niemanden diese Aussicht vorenthalten.“ Er gestikulierte seinen ganzen Körper entlang.

„Die siehst aus wie ein magerer Teenager“, erwiderte sie und ging zurück ins Wohnzimmer, um den Rest ihres Brötchens und vor allem den verbleibenden Kaffee zu vernichten.

„Ein sehr hübscher magerer Teenager“, protestierte Murphy und lehnte von hinten gegen das Sofa.

Pakhet trank Kaffee und schenkte sich damit erst einmal keine Antwort.

„Ich kann die Kleidung leihen“, meinte Heidenstein und stand auf.

„Aber du kleidest dich langweilig“, grummelte Murphy.

Pakhet fiel auf, dass er nie etwas zu dem Unterschied zwischen dem „alten Heidenstein“ und dem „nicht ganz so alten“ Heidenstein angemerkt hatte. Dabei war der Junge nie um eine blöde Bemerkung verlegen. Hatte er es auch bereits länger gewusst?

„Ich möchte dennoch keine nackten Teenager in meinem Wohnzimmer haben“, murmelte Heidenstein und ging zu seinem Zimmer, dessen Tür direkt neben dem Sofa war, hinüber. Diese Wohnung war erstaunlich gedrängt.

„Warum bist du hier?“, fragte Pakhet. „Gibt es etwas neues?“

„Ja und nein“, meinte Murphy. „Ich fliege gleich los und tausche Positionen mit Siobhan, um das Wasserwerk zu beobachten. Der Geist scheint weit weniger Probleme mit Müdigkeit zu haben.“ Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Da war allerdings auch ein Ausdruck in seinem Gesicht, der Pakhet neugierig machte.

Sie hob eine Augenbraue. „Was?“

„Ach, der Möwengeist ist seltsam.“ Murphy schüttelte den Kopf. „Sehr  … Anschmiegsam, für eine Möwe. Und sie riecht nach Fisch.“

„Wundert dich das?“

Er zuckte mit den Schultern. „Zum Teil schon.“

Heidenstein war aus seinem Zimmer zurück und reichte Murphy das weite T-Shirt, dass er meistens zum Training trug, und eine entsprechende weite Jogginghose.

Murphy verdrehte die Augen, schlüpfte aber in die Kleidung, die an ihm aussah, als hätte man ihm eine Zeltplane übergezogen. Heidenstein war weder übergewichtig, noch übermäßig muskulös, doch er war groß gewachsen, anders als der Junge in dieser Gestalt. Und Pakhet war sich beinahe dessen sicher, dass er seine Gestalt nicht wechselte, weil er Energie für die Überwachung sich aufsparen wollte.

Er seufzte melodramatisch. „Da könntest du mal passende Klamotten haben.“

„Pass auf, Murphy“, meinte Pakhet amüsiert. „Sonst kaufe ich noch Kleidung für dich.“

Murphy musterte sie, die sie noch immer schwarze Trainingshose und Tanktop trug. „Wäre etwas farblos, aber zumindest  …“ Er hob die Hände, wobei die Ärmel des T-Shirts an seinen Armen schlackerten.

„Ich sehe schon.“ Pakhet lächelte matt.

Murphy grinste. „Also, ja, ähm. Siobhan wird nachher wohl vorbei kommen“, meinte er. Er wandte sich schon wieder zum Gehen. Wahrscheinlich war die Kleidung wirklich überflüssig gewesen. Dann aber hielt Murphy inne. „Ach ja, und ich habe mit Smith geredet. Wenn du morgen Zeit hast, werde ich mit dir zu einer Magierin fahren, die Tränke und Artefakte herstellt.“

„Okay.“ Pakhet musterte ihn. „Wieso du?“

Murphy wich ihrem Blick aus. „Sagen wir es mal so, ich kenne sie noch.“ Dann erschien wieder sein übliches Grinsen auf seinem Gesicht. Er lief rückwärts in Richtung des offenen Küchenfensters. „Ich muss dann mal, sonst wird mich Siobhan noch zu Tode hacken.“ Damit stolperte er – ziemlich sicher absichtlich – über seine Hosenbeine und nahm noch im Sturz die Gestalt eines Rabens an, der aus dem Fenster flatterte und verschwand.

„Ich hätte ihm wirklich keine Kleidung raussuchen müssen, hmm?“, meinte Heidenstein und sammelte Hose und Shirt vom Boden auf.

„Nein“, antwortete Pakhet und seufzte. „Vielleicht sollte ich ihm wirklich etwas kaufen.“

Heidenstein sah sie mit einem milden Lächeln an. „Um ihn zu nerven?“

„Um zu verhindern, dass er hier nicht öfter nackt rumspaziert“, meinte sie. „Und ja, vielleicht auch, um ihn etwas zu ärgern.“ Sie seufzte und wandte sich wieder dem Kaffee zu.

Ihre Nacht war nicht besonders erholsam gewesen. Sie hatte zu viele Alpträume gehabt. Aber zumindest waren ihre Wunden weiter verheilt.

[25.08.2011 – SI02 – Beobachtungen]

Der Morgen verging langsam. Pakhet hasste es, weiterhin im Krankenhaus zu sitzen, nichts zu tun, doch gab es im Moment wenig, was sie tun konnte. Sie musste sich auf die anderen verlassen. Murphy und Siobhan, sowie die seltsame Möwe, um die beiden Orte zu beschatten, auf Smith und Jack, um eventuell weitere Hilfe zu besorgen, auf Alice, um Informationen über den Ring herauszufinden. Sie selbst konnte nicht unauffällig die Orte beschatten. Sie selbst kannte auch kaum jemanden außerhalb der Organisation, den sie um Hilfe bitten konnte. Ebensowenig war es ihr möglich Informationen aus dem Dark Net ziehen.

Kurzum: Sie fühlte sich nutzlos.

Sie verbrachte die Zeit damit, vor dem Fernseher zu sitzen und ihrem Handy missmutige Blicke zuzuwerfen, darauf wartend, eine Nachricht von irgendwem zu bekommen. Irgendeine Information, die sie weiter brachte, die es ihr erlaubte, selbst tätig zu werden.

Doch für über zwei Stunden war ihr Handy still da gelegen.

Umso mehr zuckte sie zusammen, als es nun dennoch vibrierte. Eine Textnachricht. Von Heidenstein, der sie darüber informierte, dass Siobhan unten im Krankenhaus angekommen war.

„Komme“, schrieb sie und stand auf.

Sie war bereits bekleidet, trug auch ihre Prothese, um dem Gefühl der Unvollständigkeit, dass sie ohne verspürte, zu entgehen.

Sie machte sich auf den Weg in den Keller des Krankenhauses. Wenn sie ehrlich war, war sie froh um die Ablenkung, die ihr dies erlaubte. Verdammt, wie sehr wollte sie etwas tun?

Siobhan wartete im Besprechungszimmer, wo sie sich auch am Tag zuvor getroffen hatten. Sie saß am Tisch, schaute etwas auf ihrem Handy nach und hatte eine Krankenhaustasse, die dem Geruch nach mit Kaffee gefüllt war, vor sich stehen.

„Hey“, meinte Pakhet und kam rein.

Siobhan blickte auf. „Hey.“ Sie lächelte.

„Hat Murphy dich abgelöst?“

Die Magierin nickte. „Ja. Ich war allerdings kurz zu Hause, um etwas zu essen.“ Sie sah bei weitem nicht so müde aus, wie Murphy am Vortag. Vielleicht konnte sie besser damit umgehen, so lange wach zu sein. Vielleicht hatte sie auch entsprechende Fähigkeiten. Einige Magier waren fähig, ihre Energiereserven durch Rituale aufzufüllen und damit mehrere Tage am Stück wach zu bleiben, zu arbeiten.

„Nicht schlimm.“ Pakhet hätte sich auch nicht darüber beschwert, wäre die Antwort nur schriftlich gewesen. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“

„Ja“, antwortete Siobhan. „Ich habe an den Wasserwerken beobachtet, wie insgesamt acht bewaffnete Leute angekommen sind. Ich nehme an, sie waren Söldner. Die Ausrüstung war nicht Straßengangtypisch.“

Pakhet nickte. Das passte zu dem, was sie von Michael erfahren hatte. „Etwas neues vom Hotel?“ Immerhin konnte es sein, dass Siobhan Informationen von ihrem Schutzgeist oder was auch immer die Möwe war, bekommen hatte.

„Trixie sagte, dass ein junges Mädchen von jemanden weggebracht worden sei. Sie wusste aber nicht, ob es eins unserer Kinder war“, antwortete Siobhan.

Verdammt. Wenn sie eins der Kinder verkauft hatten, war die Wahrscheinlichkeit, dieses Kind – oder diesen Jugendlichen, versuchte sie sich zu verbessern – zu retten gering. Es war zu schwer nachzuvollziehen, wohin die Jugendlichen gebracht wurden. Vielleicht in ein Bordell, vielleicht in eine Miene oder auf Felder, vielleicht aber auch ganz woanders hin.

„Danke“, sagte sie dennoch matt. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie wollte etwas sinnvolles sagen, auch wenn ihr im Moment wenig einfiel. „Was ist mit der Möwe, ich meine, Trixie? Kann sie das Haus länger bewachen? Murphy sagte, sie hat weniger Probleme.“

Siobhan lächelte ein geheimnistuerisches Lächeln, wie Pakhet es schon zu oft bei Magiern gesehen hatte. „Geister brauchen nicht zwangsläufig Schlaf. Außerdem hat sie einen Schwarm hier in der Stadt. Verbündete, wenn man so will, die für sie übernehmen können.“ Sie zwinkerte. „Mach dir um sie keine Sorgen.“

Pakhet nickte, seufzte. „Okay.“

Siobhan musterte sie. Für einen Moment schien es, als wolle sie noch etwas sagen wollen, doch dann setzte sie den Kaffee an, trank. „Wenn du mich entschuldigst. Ich will mich für ein paar Stunden hinlegen.“

„Sicher“, meinte Pakhet. „Du musst wegen so etwas auch nicht herkommen.“ Wieder konnte sie sich ein Seufzen nicht unterdrücken. „Aber danke für deine Hilfe.“

„Gerne“, antwortete Siobhan. „Es ist doch immer wieder gut, das richtige zu tun, oder?“ Sie sagte es auf eine Art, die etwas zu suggerieren schien.

Pakhet verstand nicht, zuckte mit den Schultern. „Ja.“ Sie ließ das Wort vage klingen, sah Siobhan an. „Wirklich. Danke.“

Siobhan lächelte nur. „Ich sage Bescheid, wenn ich was neues höre.“ Damit leerte sie die Tasse, stellte sie ab und stand auf. „Ansonsten bis morgen.“

Pakhet nickte. „Bis morgen.“

[25.08.2011 – S08 – Kontakte]

Siobhan war seit zwanzig Minuten gegangen, als Pakhets Handy erneut klingelte. Smith rief an.

„Ja?“, fragte Pakhet, ohne ein Wort der Begrüßung. So etwas war mit Smith nicht notwendig.

„Pakhet, ich habe eventuell jemanden, der uns helfen kann“, begann Smith, ebenso grußlos.

Etwas an seinem Tonfall, ließ sie aufhorchen. Er schien unsicher, ganz so, als wüsste er nicht, wie sie reagieren würde.

„Ja?“, fragte sie.

„Ich habe mich mit einigen Organisationen im Bereich des Jugendschutzes in Verbindung gesetzt“, erwiderte Smith. „Um genau zu sein habe ich Jack beauftragt, das für mich zu machen. Er hat einige Kontakte, die in dem Bereich tätig sind, speziell was Menschenhandel mit Kindern und Jugendlichen angeht.“

Das war alles andere als genau. Smith schien absichtlich vage zu formulieren. Doch Pakhet erinnerte sich sehr wohl noch an die Worte Jacks. Er hatte ihr bei ihrem Treffen gesagt, dass er bei solchen Operationen öfter ausgeholfen hatte. Speziell bei einer Organisation. „Interpol“, sagte sie und schürzte ihre Lippen.

Smith schwieg. „Ja“, sagte er dann.

„Du weißt, dass ich mich bei denen nicht sehen lassen kann“, erwiderte Pakhet. „Ich  …„

„Du wirst relativ sicher nicht von Interpol gesucht, Joanne.“ Smith betonte ihren eigentlichen Namen deutlich, hob ihn hervor. „Du weißt das. Du bist keine Terroristin.“

„Ich will darauf nicht wetten“, murmelte sie. Sie mochte den Gedanken so gar nicht.

„Ich gehe dagegen jede Wette ein“, erwiderte Smith. „Auch weil ich habe nachsehen lassen. Das US-Militär sucht dich, sonst niemand. Nicht einmal FBI oder CIA. Um es dir eiskalt zu sagen: Du bist nicht wichtig genug.“

Sie seufzte. Nicht, dass sie es nicht eigentlich wusste. „Michael wird nicht mögen, dass du mir das so sagst.“ Hatte er ihr doch immer vorgehalten, dass sie nicht fort konnte, solange man nach ihr suchte.

„Michael wird auch nicht mögen, dass ich dir hierbei helfe. Wenn es mir darum ginge, Gefallen bei Michael zu sammeln, hätte ich deine ganze Aktion an ihn verraten“, erwiderte Smith und sie war sich sicher, dass sein Gesicht nun ein breites Grinsen trug.

Sie seufzte. „Bist du dir sicher, dass wir der Polizei vertrauen können?“

„Wir vertrauen der Polizei oft genug, wenn wir uns von ihnen für Beihilfe bezahlen lassen, oder?“

Das war etwas anderes. Das war lokale Polizei in Südafrika, manchmal auch den Nachbarländern. Polizei, die chronisch unterbezahlt war, oftmals leicht bestechlich und die leider zu oft die Hilfe von Spezialisten brauchte. Doch sie sagte es nicht. „Ja“, seufzte sie.

„Also. Ich habe mit Jack gesprochen. Jack mit seinen Kontakten. Sie würden sich heute Abend mit dir in Johannisburg treffen.“

„In Johannisburg?“, fragte sie ungläubig.

„Ich habe einen Flug arrangiert. Du würdest dich in zwei Stunden mit Jack am Flughafen treffen.“

„Wie gut, dass du mich vorher darüber informierst.“ Sie konnte den Sarkasmus nicht mehr im Zaum halten, schnaubte leicht. Sie verstand zu gut, dass Smith es bereits so arrangiert hatte, um ihr die Entscheidung abzunehmen. Verdammter Idiot!

Smith wartete, dass sie noch etwas sagte, doch als sie schwieg, seufzte er. „Pakhet. Du weißt genau so gut wie ich, dass du Hilfe brauchst. Du brauchst mehr Leute, als wir so stellen können.“

Pakhet schwieg.

„Du weißt genau so gut, wie ich, dass wir hier einen chronischen Mangel an Polizisten haben“, fuhr er schließlich fort. „Und Jack hat diese Kontakte, also bin ich der Meinung, dass wir, wenn du es mit der Sache wirklich ernst meinst, diese nutzen sollten.“

Noch einmal schnaubte sie. Verdammt. Warum musste alles, was er sagte, so viel Sinn machen? „Ich weiß“, murmelte sie leise.

„Also?“, fragte Smith.

Sie sah die weiße Krankenhauswand auf der anderen Seite des Zimmers an. Verdammt. „In Ordnung. Ich treffe mich mit Jack. Der internationale Flughafen?“

„Korrekt.“

[25.08.2011 – J03 – Flug]

Jack wartete auf sie. Wie sie hatte er nur leichtes Gepäck. Sie würden am Folgetag zurückreisen. Ach, verdammt, wahrscheinlich war es ohnehin besser, wenn sie für ein, zwei Tage aus der Stadt verschwand. Es gab nichts, was sie hier tun konnte, und je länger sie hier war, desto wahrscheinlicher war es, dass irgendjemand, den die Leute hinter dem „Casino“, hinter der Organisation, angeheuert hatten, es auf sie anlegte. Also war es nur gut, wenn sie nach Johannisburg flog. Also  … Ach, sie konnte sich nicht selbst überzeugen. Sie hasste die Aussicht mit Interpol zu sprechen noch immer.

„Hallo, Honigschnute“, meinte Jack grinsend, als sie auf ihn zukam.

„Nenn' mich noch einmal so und du  …“, begann sie, wurde aber von ihm unterbrochen.

Er verdrehte die Augen. „Spar's dir“, murmelte er. „Es gibt nichts, mit dem du mir Angst einjagen kannst.“

„Bist du dir sicher?“ Sie schnaubte.

„Ziemlich.“ Er musterte sie. „Du bist ein guter Mensch. Du wirst mir nichts tun. Schlimmstenfalls versetzt du mir einen Kinnhaken.“ Er zuckte mit den Schultern, seufzte. „Schmerzen machen mir keine Angst.“ Etwas desillusioniertes lag in seiner Stimme. Nein, etwas anderes. Reue? Sie war sich nicht sicher, schnaubte nur wieder.

„Ein guter Mensch?“, fragte sie.

„Du willst diese Kinder retten“, erwiderte er. „Mit denen du nichts zu tun hast. Bist bereit darüber andere Leute aus, wie ich vermute, eigener Tasche zu bezahlen. Ja, wenn du mich fragst, qualifiziert dich das, Zuckerfee.“

„Geht es noch alberner?“, murmelte sie.

Er grinste. „Du hast gar keine Ahnung, mein Goldeselchen“, schnurrte er.

„Idiot.“

Er lachte. „Ja, das geht auch.“

Womit hatte sie das nur verdient. „Was willst du damit erreichen?“

Wieder zuckte er mit den Schultern. „Es macht mir Spaß.“ Er grinste. „Weißt du, die Tatsache, dass du dich so darüber aufgibst, macht es beinahe noch amüsanter.“

„Oh, pass auf, ein Internettroll“, murmelte sie.

Er zwinkerte ihr zu.

Verdammt. Was er konnte, konnte sie auch. „Okay, Hoppelhäschen, was sind das für Leute, mit denen wir uns treffen?“

Den Spitznamen nahm Jack mit einem Grinsen auf. „Tony Chase, eigentlich Brite“, erwiderte er. „Er hat mehrere Stiche gegen Menschenhandelsorganisationen geleitet. Speziell jene, die Kinder nach Europa verschiffen. Wir haben Glück, dass er aktuell hier ist. Er ist vertrauenswürdig und ein guter Mann.“

„Wie sieht es mit seinem Wissen über, nun“ – Pakhet räusperte sich – „das Übernatürliche aus?“

„Er weiß, was es gibt“, erwiderte er. „In diesen Bereichen  …“ Jack verstummte und für einen Moment verblasste sein Grinsen. „Sagen wir es einmal so: So etwas, wie du beschreibst, ist nicht selten.“ Er schüttelte den Kopf. „Nun, Dämonen schon. Aber zumindest werden Tränke verwendet, um Kinder gefügig zu machen. Weniger Nebenwirkungen als Drogen, weißt du? Weniger Schaden an der Ware.“ Seine Stimme wurde bitter.

Pakhet musterte ihn. Warum interessierte er sich eigentlich so für diese Dinge. Es schien so gar nicht zu dem Rest seiner Persönlichkeit zu passen. Es sei denn, natürlich  … Ein Gedanke kam ihr. Konnte es sein? Es wäre eine Erklärung, doch sie war sich nicht sicher. Sie würde sicherlich nicht danach fragen.

Sie nickte bloß. „Ich verstehe, denke ich. Ich wollte nur sicher gehen  … Die Polizei  …„

„Lokal, ja“, erwiderte er. „International  … Zumindest Abteilungsleiter wissen Bescheid. Meistens.“ Jack bemühte sich wieder um sein sorgloses Grinsen. „Es wird nur nicht zu oft darüber gesprochen, wenn es nicht relevant wird. Und wann wird es schon einmal relevant?“

„So, wie du klingst, bei diesen Operationen öfter“, murmelte Pakhet.

„Verschiedene Einsatzgebiete“, erwiderte Jack und lächelte. „Wusstest du, dass Interpol eine eigene Abteilung für Sonderfälle der Art hat?“

Sie sah ihn an. „Ich habe davon gehört.“ Um genau zu sein hatte sie vielleicht fünf oder sechs Mal Missionen erledigt, bei denen sie vermutet hatte, dass der Auftraggeber zu einer internationalen Sicherheit gehörte, während der- oder diejenigen offenbar über Dämonen, Fae und Taschendimensionen bescheid wussten. „Aber sie haben selbst wenig Leute mit Talent.“

Jack zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“

Tatsache war, dass ein Großteil der ohnehin schon kleinen, magischen Community vorsichtig war, wenn es darum ging, sich und all das was mit ihnen zu tun hatte, der Allgemeinheit zu offenbaren. Und diejenigen, die – wie sie, Heidenstein und die anderen in der „Firma“ – weniger Probleme damit hatten  … Nun, für sie gab es besser bezahlte Arbeit, als bei der Polizei.

Es hatte keinen Sinn, über das Thema länger zu philosophieren. Stattdessen sah sie sich um. „Wir sollten einchecken, oder?“ Immerhin hatte sie ihr Ticket bisher nur auf dem Handy.

„Da hast du vollkommen Recht, Cherie“, meinte Jack, endlich wieder grinsend. „Ich habe damit nur auf dich gewartet.“

[25.08.2011 – P01 – Polizeikontakt]

Zu Pakhets Erleichterung fuhren sie nicht nach Pretoria, wo das eigentliche Südafrika-Hauptquartier von Interpol war, sondern zu einem chinesischen Restaurant in Linden. Es war eindeutig besser, als zur Polizeistation zu fahren. Dennoch war es ihr nicht ganz wohl dabei, so öffentlich zu sein.

Der Tag war klar, sonnig, etwas kühl, aber noch immer warm genug, als dass Jack ein leichtes, wenngleich langärmliges Hemd ohne Jacke trug. Derweil hätte Pakhet selbst bei Hitze nicht auf ihre Jacke und die Lederweste verzichtet.

Jack führte sie zu einem Platz hinten im Restaurant. Der Tisch war leer, doch laut Smith würde das Treffen auch erst in zehn Minuten, um sieben stattfinden.

„Gibt es noch etwas, das du mir über diesen Chase erzählen kannst, Mäuschen?“, fragte Pakhet.

„Was willst du wissen, Bärchen?“, erwiderte er.

Würden sie das die ganze Zeit machen? Sie war mit solchen Spitznamen nicht einmal gut. Aber verdammt, sie wollte sich auch nicht weiter von ihm verarschen lassen. „Also, er kommt aus den UK und  …? Was für eine Art Mann ist Chase?“

„Jemand mit einem übertriebenen Sinn für Gerechtigkeit.“ Jack hob die Hand, um einen der Kellner rüber zu winken und bereits Getränke für sie zu bestellen – ohne Pakhet zu fragen.

Sie beschloss, es zu ignorieren, auch wenn sie normal kein Bier trank. Schon gar nicht zu chinesischem Essen. „Inwiefern?“

„Er würde sich auch gegen Vorschriften stellen, um etwas zu tun, dass er als richtig und gerecht erachtet.“ Jack lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schenkte ihr wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Du wirst ihn mögen, Bunnybu.“

Sie verdrehte die Augen. Was auch immer das heißen sollte.

Sie konnte eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken. Egal was Smith sagte, sie misstraute der Polizei, speziell internationaler Polizei. Immerhin war internationale Polizei oftmals auch nicht von Söldnern angetan – sofern sie ihre Dienste nicht gerade dringend benötigten. Ach, es gab so viele Gründe ihnen gegenüber misstrauisch zu sein. Sie trug nicht umsonst eine ihre Baretta in ihrem versteckten Holster.

„Sieh an“, meinte Jack und stupste sie an.

Sie hatte sich mit dem Rücken zur Wand gesetzt, hatte eine Übersicht und sah zwei Personen, die in Zivil zu ihnen hinüberkamen.

Der eine hellhäutig, breit gebaut. Sein Haar rotblond. Er hatte einen kurz gehaltenen Vollbart. Die erste Assoziation, die er bei ihr hervorrief, war ein alter Seemann, nicht ein Polizist.

Seine Begleitung war weiblich, afrikanisch. Ihre Haut war dunkel, ihr Haar, ähnlich wie das Pakhets kurz gehalten, aber kraus.

Der Seemann nickte Jack zu. Es war wahrscheinlich Chase. Die Afrikanerin war wohl eine Kollegin. Sie kamen beide zu ihnen hinüber.

Chase zog einen Stuhl vor, bot ihn seiner Kollegin an, ehe er sich auf den zweiten Stuhl, ihnen gegenüber setzte.

„Jack“, meinte er mit einem milden Lächeln. „Ich hätte nicht gedacht, dich so schnell wieder zu sehen.“

Jack hielt sein Bier in der Hand, musterte ihn. „So schnell? Es waren neun Monate, alter Brummbär.“ Also gab er allen Leuten seltsame Spitznamen.

„Kam mir weit weniger vor.“ Chase zuckte mit den Schultern.

Jack setzte sein Glas ab, musterte die Kollegin, die Chase mitgebracht hatte. „Das wäre wohl der Moment unsere Begleitungen vorzustellen, nicht wahr?“

„Wie du meinst. Das hier ist Officer Lesedi Botha, von der lokalen Division für vermisse Kinder und Kindesmissbrauch.“

Jack schenkte Botha ein gewinnendes Lächeln, das die Frau unsicher erwiderte. Dann wandte er sich Pakhet zu. „Das hier ist Pakhet. Sie ist diejenige, die diesen Ring gefunden und die ganze Operation ins Rollen gebracht hat.“

„Pakhet, hmm?“ Chase musterte sie aufmerksam. „Das ist kein gewöhnlicher Name, oder?“

Sie zuckte nur mit den Schultern. Er wusste wahrscheinlich, dass es ein Codename war, aber sie hatte keine Lust mit ihm darüber zu sprechen. Sie begnügte sich damit, ihr Schweigen mit einem Schluck des Biers zu begründen.

Ein Kellner kam zu ihnen hinüber, fragte, ob sie bestellen wollten. Sie wollten. Gut, da es vielleicht einfacher war über dem Essen zu reden. Es war zumindest einfacher Gründe zu finden, nicht zu antworten.

„Also, Ms Pakhet“, meinte Chase, „was können Sie mir genau über den Fall erzählen?“

Sie würden so tun, als sei sie kein Söldner, oder? Zumindest würde sie unter dem Vorsatz weiterspielen. „Wir haben eine Webseite im Dark Web entdeckt, auf der Jugendliche verkauft, teilweise versteigert wurde. Vorrangig für Sexarbeit, allem Anschein nach.“ Sie unterdrückte ein Räuspern, wollte nicht zu nervös wirken. „Wir konnten der Spur eines dorthin gebrachten Mädchens folgen und haben ein Gebäude gefunden, in dessen Keller die“ – sie wollte „Kinder“ sagen – „Jugendlichen gefangen gehalten wurden.“ Wie erklärte sie, was passiert war am besten? „Wir waren nur zu zweit und haben nicht mit magischer Verteidigung gerechnet.“

„Magisch?“, fragte Chase.

„Dämonen“, erwiderte Pakhet.

Bhuta musterte sie. „Was für eine Art Dämonen?“

Wusste sie mehr? Pakhet holte ihr Handy hervor, suchte die Bilder heraus, die sie abgespeichert hatte. „Ein Schakal und eine große Schlange.“ Sie zeigte die Bilder, ohne ihr Handy aus der Hand zu geben.

„Und der Beschwörer?“, fragte Bhuta.

„Ich habe einen Mann gesehen. In einer Taschendimension. Ich kann jedoch nicht sicher sein, ob er der Beschwörer war.“

Chase runzelte die Stirn. „Das ist ungewöhnlich.“

„Ja“, erwiderte Pakhet. „Ich weiß.“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. Er hatte hellblaue Augen. „Wie dem auch sei.“ Nun trank sie doch einen Schluck, um gegen ein weiteres Räuspern anzukämpfen. „Ich habe das Gebäude beobachten lassen. Man hat die Kinder seither fortgebracht. In ein Hotel.“ Für den Moment verschwieg sie die Wasserwerke, sie schienen so deutlich eine Falle zu sein.

„Hotel?“ Chase sah Bhuta an.

„Das ist nicht ungewöhnlich“, meinte die Frau.

Pakhet nickte. Das wusste sie. Es war eigentlich der übliche MO von Menschenhändlern, Kinder von Hotels aus zu verkaufen. So üblich, dass internationale Kinderschutzorganisationen gezielt dagegen vorgingen und Datenbanken von Hotelzimmern anlegten.

„Glauben Sie, dass das Hotel auch magisch gesichert wurde?“ Chase sah sie an.

Pakhet zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste sie es nicht. Doch der Kellner, der die ersten Teller mit dem Essen, gewährte ihr Zeit, die Antwort zu verzögern.

Schließlich seufzte sie. „Ich denke nicht, dass man Dämonen im Hotel positioniert hat, sofern der Hotelbetreiber nicht mit der Organisation zu tun hat, was ich nicht ausschließen kann.“

Jack stieß sie leicht an, schenkte ihr einen langen Blick. Er hatte deutlich bemerkt, dass sie die Wasserwerke ausgelassen hatte.

Ach, verdammt. „Man hat fünf oder sechs der Jugendlichen auch in das alte Wasserwerk gebracht.“ Sie beobachtete Chase. „Ich nehme an, dass es eine Falle ist. Man wird den Ort sichern.“

Chase strich sich über seinen Bart. Seine Stirn war in Falten gelegt, doch dann nahm er die Stäbchen, die neben seinen Teller gelegt worden waren. „Wie haben sie all das herausgefunden?“

Pakhet tat es ihm gleich. „Gute Spione.“ Sie nahm etwas von dem mageren Hähnchenfleisch, das auf ihren Nudeln lag, auf, führte es zu ihrem Mund.

„Ah.“ Auch Chase aß.

Für eine Weile herrschte Schweigen. Sie und Chase aßen, Bhute schien unsicher, was sie sagen sollte, und Jack war offenbar genervt. Er räusperte sich.

„Weshalb wir hier sind: Wir brauchen Hilfe, um die Jugendlichen daraus zu holen, sie möglichst sicher unterzubringen, sie medizinisch und psychologisch zu versorgen.“

Chase nickte. „Anders gesagt: Ihr braucht ein Einsatzkommando.“

Pakhet ließ ihre Stäbchen sinken. „Ich werde mich um das Wasserwerk kümmern. Auch wenn es zuträglich wäre, würden die Behörden sich danach um die Jugendlichen kümmern.“

„Sie können nicht einfach um Hilfe bitten und dann beschließen, dass Sie sich um einen Teil selbst kümmern“, warf Bhute mit gerunzelter Stirn ein. „Was qualifiziert Sie überhaupt dafür?“

Jack schenkte ihr wieder ein breites Lächeln. Wenn er es für seine Geheimwaffe hielt, war es in Pakhets Augen nicht sehr erfolgreich. „Glauben Sie mir, Pakhet ist sehr qualifiziert.“ Dabei redete er so, als würde er sie tatsächlich kennen. Dabei hatte er sie nicht einmal kämpfen sehen. Doch im Moment sollte sie sich nicht darüber beschweren. Sie konnte nicht zulassen, dass die Polizei sich an den Wasserwerken einmischte. Das war eine Falle, die wahrscheinlich ihr galt und verdammt noch mal ihre beste Chance, Informationen zu die Leute hinter der Organisation zu erhalten. Davon abgesehen widerstrebte es ihrem Stolz, jemand anderes sich darum kümmern zu lassen.

Wenn diese Leute glaubten, sie könnten sie in so einem Hinterhalt hinrichten, würden sie schon sehen, was sie davon hatten.

„Sind dort auch Kinder?“, fragte Chase.

„Von allem, was wir wissen, ja“, erwiderte Pakhet. „Fünf oder Sechs. Meine Spione konnten es nicht genau sagen.“ Sie sah erst ihm, dann Bhute fest in die Augen. „Aber meine Leute und ich können uns darum kümmern. Wir brauchen vor allem Hilfe für das Hotel und für die Unterbringung der Jugendlichen.“

„Ich gehöre übrigens zu ihren Leuten“, erklärte Jack mit einem weiten Grinsen. „Also kein Grund zur Sorge.“ Glaubte er wirklich, dass diese Worte beruhigend wirkten?

Chase seufzte, legte seine Stäbchen ab und ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. Er verschränkte die Arme und dachte offenbar nach.

„John“, meinte Bhute leise, aber nicht leise genug, als dass sie es nicht hörten. „Wir können nicht einfach einige“ – sie sah zu Pakhet und Jack – „Söldner mit einer solchen Operation  …“ Wahrscheinlich hatte sie tatsächlich so etwas wie Autorität über ihn. Immerhin unterstand Interpol, solange sie in Südafrika agierten, den örtlichen staatlichen Sicherheitskräften.

„Wir beauftragen des Öfteren Söldner mit solchen Operationen.“ Er seufzte. „Ich denke wir können darüber reden.“ Er hob selbst sein Glas um zu trinken. „Können Sie uns weitere Bilder, Beweise über die Situation besorgen?“

Pakhet nickte. „Ja. Fraglos.“

„Dann werden wir sehen, was sich machen lässt.“

„Wie schnell?“, fragte Pakhet.

„Zwei Tage. Vielleicht drei.“ Er räusperte sich und sah sie an, sagte aber nichts mehr.

[26.08.2011 – M21 – Anti-dämonisch]

Es war gegen Mittag des folgenden Tages, dass Pakhet und Jack wieder in Kapstadt ankamen. Mit den Flügen hatte es keine Probleme gegeben – es war der zwölf- bis vierzehnstündigen Fahrt zu bevorzugen.

Womit sie nicht gerechnet hatte, war der Gestalt, die am Flughafen auf sie wartete.

„Hey, Pakhet!“ Murphy winkte, als sie durch das Gate kam. Er grinste, wirkte allerdings wieder müde.

„Hey, Kid.“ Sie hielt inne, ging dann zu ihm hinüber.

Jack folgte ihr.

„Ich nehme an, dass ist dieser Jack?“ Murphy musterte den jungen Mann, der nicht viel größer war als er.

„Und wer magst du sein?“ Jack hob eine Augenbraue.

„Murphy.“ Er streckte ihm mit einem Grinsen die Hand entgegen. Beinahe rechnete Pakhet mit einem Streich, doch das war wahrscheinlich auch für Murphy zu kindisch. „Ich bin hier um unsere Lady abzuholen.“

„Kid“, brummte Pakhet.

„Was?“

„Lady, hmm?“, meinte Jack. Sein Blick schien amüsiert. „Nun, ich werde den jungen Herrn sicher nicht aufhalten.“

„Wieso habe ich mir das nur gedacht.“ Pakhet schüttelte den Kopf. „Worum geht es denn?“

„Ich habe jemanden, der uns vielleicht mit“ – er senkte die Stimme zu einem Flüstern – „anti-dämonischen Sachen versorgen kann.“ Er grinste. „Und ich wollte mit dir hinfahren.“

Pakhet nickte. Zugegebenermaßen hätte sie sich gerne hingelegt. Sie hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, hatte sie doch kein Schlafmittel mit ins Hotel gekommen. Sie hatte bei dem etwas überhasteten Aufbruch nicht dran gedacht, nein, hatte sich eingeredet, dass sie es nicht zwangsweise brauchte. Aber das war so nicht wahr gewesen. Sie hatte es gebraucht – hätte. Ohne waren die Gedanken zu schmerzlich gewesen. Sie musste verrückt sien, dass sie diese Sache durchzog. Verdammt, wieso tat sie es überhaupt? Es würde nichts ändern. Es konnte nichts ändern. Sie konnte nichts ändern.

„Okay“, sagte sie.

Murphy grinste. „Dann komm.“

„Wie bist du überhaupt hergekommen?“ Immerhin stand ihr Wagen auf dem Parkplatz des Flughafens.

„Motorrad“, grinste Murphy.

Sie verdrehte die Augen. „Bist du überhaupt alt genug zum Fahren?“

„Bitte. Du weißt doch, ich bin so alt, wie ich sein möchte.“ Er zwinkerte.

„Reizende Persönlichkeit“, kommentierte Jack.

Murphy grinste. „Ich weiß.“ Damit griff er nach Pakhets Arm. „Komm.“

Sie verdrehte die Augen, wandte sich Jack zu. „Wenn du etwas von Chase hörst  …„

Er unterbrach sie: „Dann melde ich mich. Keine Sorge, Mon Amore.“

Ein weiteres Augenverdrehen, dann ging sie mit Murphy, der sie nach einigen Schritten ansah.

„Mon Amore?“

„Wunder dich nicht“, meinte sie. „Jack nennt einen, wie er will.“

„Und du hast ihn noch nicht erschossen?“ Murphy bemühte sich, ernsthaft überrascht auszusehen.

Sie verdrehte die Augen. „Ja. Meine Neigung zur sinnloser Gewalt ist allgemeinhin bekannt.“

„Na, wenn man deinem Straßenruf vertraut, dann schon.“ Murphy marschierte aus dem Eingang des Flughafens heraus und entlockte ihr nur ein Seufzen.

„Also. Woher bekommen wir jetzt 'anti-dämonische Sachen'?“

Er drehte sich zu ihr herum. „Von einer Schamanin, natürlich.“

Natürlich. Wieso hatte sie das Gefühl, dass die Antwort doch nicht so simpel war?

[26.08.2011 – M22 – Gänsemutter]

Auf beiden Seiten der R302 breiteten sich Felder auf. Es war wie beinahe überall in Südafrika, sobald man aus den urbanen Gebieten heraus war: Man fand entweder Wildnis oder Felder.

Zumindest war hier die Straße befestigt und man musste sich wenig Sorgen um kreuzende Elefanten machen.

Sie waren beide auf Motorrädern unterwegs – weil Murphy es für eine gute Idee gehalten hatte. Sie hatte ihn ein paar Mal mit dem Motorrad zur Arbeit kommen sehen, bevor er sich entschlossen hatte, ständig in ihrer Nähe abzuhängen. War das wirklich erst drei Wochen her? Es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Man konnte sich schnell an die Gesellschaft anderer Leute gewöhnen.

Sie fuhren in Richtung Malmesbury. Murphy hatte ihr gesagt, dass die Schamanin, die er „Mother Goose“, „Mutter Gans“, genannt hatte in der Nähe des Paardenbergs eine kleine Farm hatte.

Sie vertraute ihm. Was blieb ihr auch übrig?

Nach einigen Kilometern und sicher einer Stunde Fahrt, bog Murphy auf eine schmalere Seitenstraße nach Rechts, Richtung Osten ab. Sie folgte ihm, noch immer angespannt ob des Motorrads. Sie war so ein perfektes Opfer für einen Scharfschützen. Wurde sie paranoid?

Doch Pakhet wusste eins: Wenn sie die Sache durchzog und sie bei dem Versuch nicht starb, würden die Köpfe hinter der Organisation es persönlich nehmen. Das Kopfgeld würde sich erhöhen, nicht weniger werden.

In der Ferne konnte sie ein Farmhaus erkennen. Es erweckte den Eindruck, als hätte es sich aus einem Westernfilm hierher verirrt. Es war größtenteils aus Holz gebaut, ganz im Stil der amerikanischen Farmhäuser des mittleren Westens. Es gab auch zwei Scheunen: Eine große, die offenbar genug Platz für einige Tiere bot, eine kleinere, die wahrscheinlich eher als Schuppen oder Lagergebäude diente. Das Haupthaus war länglich, hatte auf der gesamten Länge eine Veranda. Die Front war angemalt – Regenbogenfarbend. Nun, nicht ganz. Doch waren Abschnitte in hellem Rosa, andere in Blau, wieder andere in Grün, Gelb oder Weiß gemalt. Auch die Farbdichte war unterschiedlich und Pakhet ahnte bereits bei der Fahrt zu dem Gebäude, woran es lag: Sie konnte mehrere Kinder auf dem Innenhof spielen sehen.

Hatte diese Mutter Gans einfach so viele Kinder?

Als sie näher kam, schien es ihr unwahrscheinlich. Sie konnte acht Kinder ausmachen, allesamt im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren, wie sie schätzte. Fünf von ihnen waren schwarz, zwei dagegen eher blass, während das letzte Kind einen braunen Hautton hatte, den Pakhet nicht sicher zuordnen konnte.

Zwei von ihnen, zwei Mädchen, fütterten gerade einen kleinen Schwarm fetter Hühner und sahen misstrauisch zu ihnen, als sie auf den Hof fuhren.

Okay. Was auch immer. War das hier ein Waisenhaus?

„Murphy?“, fragte sie, als sie von ihrem Motorrad abstieg.

Er setzte seinen Helm ab, sah sich um. Er grinste, doch im Moment wirkte sein Grinsen eindeutig falsch. „Ja?“

„Du musst irgendetwas bei der Geschichte über Mutter Gans vergessen haben“, meinte Pakhet leise.

„Habe ich?“, fragte er. Er sah sich um.

Ein älterer dunkler Junge, der gegen die Scheune lehnte, sah zu ihnen. „Wer seid ihr?“ Er sprach Afrikaans, was sie nicht überraschte.

Murphy sah zu ihm, seufzte leise, hob dann die Hand. „Hey, Thato.“

Die Stirn des Jungen, den Pakhet auf vierzehn oder fünfzehn schätzte, legte sich in Falten.

Ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, eins der beiden hellhäutigen Kinder, sah zu ihnen hinüber. „Bist du das, Murphy?“

Murphy grinste. „Genau der.“

„Was machst du hier, Rabenjunge?“, fragte Thato. Er ging zu ihnen hinüber. „Und wie siehst du überhaupt aus?“

Murphy zuckte mit den Schultern. „Ich hatte bei Mhambi angerufen“, sagte er. „Ich bin mit ihr verabredet.“

Thato musterte ihn. Dann wanderte sein Blick zu Pakhet. „Und wer ist sie?“

„Eine Freundin“, erwiderte Murphy.

Thatos Blick wanderte ihren Körper hinab und wieder hinauf. „Was ist mit Ihrem Arm passiert?“

Woher wusste er das? Sie trug den mit Silikon und Kunsthaut überdeckten Arm, der für die meisten Menschen auf den ersten Blick wie ein normaler Arm aussah. Vor allem, da sie noch immer eine langärmlige Bluse trug, so dass nur die Hand zu sehen war. Es ging ihn nichts an, doch sie wollte nicht feindselig wirken. „Ein Unfall.“

Thato musterte sie.

„Warum kommst du jetzt?“, fragte das Mädchen. „Wo bist du eigentlich gewesen?“

„Ich arbeite jetzt“, erwiderte Murphy. Er wirkte verlegen, sah immer wieder unsicher zu Pakhet.

Langsam verstand sie. Murphy hatte hier gelebt. Jedenfalls für eine Weile. Ganz offenbar schien diese „Mutter Gans“ oder Mhambi, wie Murphy sie gerade genannt hatte, eine Art Waisenhaus zu betreiben. Danach sah dieser Ort zumindest aus. Seltsam, kam es ihr in den Sinn, sie war sich dessen sicher gewesen, dass Murphy ein Straßenkind war. Seine Art, seine Vorsicht, sprach nicht dafür, dass er an einem Ort mit zumindest einer grundlegenden Sicherheit aufgewachsen war. Konnte sie danach fragen? Wahrscheinlich ging es sie nichts an.

„Du solltest öfter vorbei kommen“, beschwerte sich das Mädchen weiter. „Und wer ist sie überhaupt?“

„Eine Freundin“, wiederholte Murphy.

„Das hast du vorhin schon gesagt. Aber wer ist sie?“

„Mein Name ist Pakhet.“ Sie sah zu dem Kind. „Und ich bin hier, um Mutter Gans um Hilfe zu beten.“

„Was willst du von Mhambi?“, fragte das Mädchen.

Murphy sah die Kleine an. „Das sagte sie doch schon: Hilfe. Kannst du mich zu Mhambi bringen?“

Das Mädchen verdrehte die Augen. „Okay“, seufzte sie. Sie streckte fordernd ihre Hand aus, bis Murphy sie griff und sich von ihr zum Haus hinüberzerren ließ.

Vorsichtig trat Pakhet auf die Veranda des Hauses. Ein Kribbeln sagte ihr, das Magie in der Luft lag. Es musste viel Magie sein, denn normalerweise war sie selbst nicht besonders magiefühlig. Dennoch: Sie hatte das Gefühl durch einen dünnen Schleier zu treten, durch eine Schutzschicht. Ein Schild, der das Haus schützte? Wovor?

Das Mädchen schob die Tür, die offenbar nur angelehnt war, auf. Die Tür knarzte, quietschte, fiel aber nicht aus den Angeln.

Das Haus roch ungewöhnlich. Pakhet konnte nicht genau sagen wonach. Es roch nach Kräutern, nach Holz, nach Essen, aber auch irgendwie alt. Manche Häuser hatten diesen Geruch, der sich nicht anders beschreiben ließ. Alt.

Das Mädchen führte sie in einen Flur mit verputzten Wänden und dann nach links durch eine Tür.

Das Zimmer, in dem sie nun standen, war komplett verputzt, der Boden eindeutig mit Lehm und Stein befestigt. Es wirkte, als wäre es in den letzten hundert Jahren nicht renoviert worden.

Es war eine Küche, doch das Waschbecken, an dem eine ältere Frau zusammen mit einem vielleicht vierzehnjährigen Afrikanischen Mädchen stand, hatte noch eine kleine Pumpe daneben.

Auch gab es im Raum keine elektrische Lampe und der Ofen hatte eine Feuerstelle – wahrscheinlich war deswegen der Boden hier aus Stein.

„Mhambi“, sagte das Mädchen, das sie geführt hatte.

Die ältere Frau, deren krauses, schwarzes Haar einige graue Strähnen hatte, drehte sich zu ihr herum. Ihre Gesichtszüge waren afrikanisch, doch ihre Haut dafür recht hell und – wie oftmals bei älteren Leuten – mit dunklen Flecken übersät. Vor allem jedoch fielen ihre Augen auf, deren Iris beinahe gänzlich schwarz zu sein schien.

„Was ist, Pati?“ Die Frau sah sie an, ehe ihr Blick zu Pakhet und Murphy wanderte. Sie schien zu verstanden. „Murphy.“ Sie trocknete sich die Hände an der Schürze ab, die sie trug. „Trägst du schon wieder diese Gestalt?“

Murphy zuckte mit den Schultern. „Und?“

Die Frau seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich nicht, Junge.“ Dann wandte sie sich an Pakhet. „Sie sind die Frau, von der er gesprochen hat? Pakhet?“

Sie nickte. „Ja.“ Was ging überhaupt vor sich? Sie wusste so wenig über den Jungen.

Mhambi, Mutter Gans, seufzte. „Pati, Sindisa, geht raus. Ich will mich mit den beiden unterhalten.“

„Aber ich will da bleiben“, meinte das Mädchen, dass noch immer Murphys Hand hielt. „Ich habe Murphy seit  … Seit  …“ Sie überlegte. „Seit Monaten nicht mehr gesehen.“

Die alte Frau schüttelte mit den Kopf. „Bitte ihn nachher, zum Abendessen zu bleiben. Ich möchte jetzt mit den beiden alleine sprechen.“

„Aber“, setzte das Mädchen sofort an, erntete dafür jedoch einen strengen Blick.

„Pati.“

Das Mädchen seufzte schwer und nicht ohne dabei störrisch zu wirken. „Schon gut.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf und wandte sich ab. Dann sah sie sich aber noch einmal zu Murphy um. „Bleibst du heute Abend?“

Murphy sah unsicher zu Pakhet. „Ich weiß nicht. Ich  … Wir haben aktuell viel zu tun.“

„Du magst uns nicht mehr“, seufzte Pati.

Murphy wirkte verlegen. „Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich werde euch garantiert wieder besuchen, wenn ich etwas mehr Zeit habe.“

„Ja ja  …“ Das Mädchen schlurfte zusammen mit der anderen, die Murphy nur einen kurzen Blick zuwarf, heraus und schlug die Tür mit zu viel Gewalt zu.

„Setzt euch.“ Mhambi zeigte auf den langen Tisch, der genug Platz für fünfzehn, vielleicht zwanzig Leute zu bieten schien und beinahe die ganze Küche ausfüllte.

Unsicher kam Pakhet der Aufforderung nach. Sie war mit der Situation überfordert und verfluchte Murphy dafür, sie nicht vorgewarnt zu haben. Wer war diese Frau? Sie wusste zu wenig. Wie sollte sie mit ihr umgehen?

Mhambi setzte sich ihnen gegenüber und musterte sie. „Was führt Sie hierher?“

Pakhet sah zu Murphy, der seinerseits ihrem Blick auswich. Großartig. „Hat Murphy es Ihnen nicht erzählt?“

„Er hat mir einiges erzählt, aber ich möchte es von Ihnen selbst hören.“ Die alte Frau sah sie mit durchdringendem, starren Blick an. Blinzelte sie nie?

Wie oft würde sie die Geschichte noch erzählen, ehe die Sache vorbei war? Sie entschied sich für eine Kurzfassung. „Ich habe von einer Organisation erfahren, die Kinder entführt und verkauft. Sie töten einige, füttern mit ihnen offenbar Dämonen, die diese Kinder wiederum bewachen. Einige dieser Dämonen sind sehr stark gewesen, zu stark für mich. Ich brauche etwas, um sie in die Astralebene oder gar die Anderswelt zurückzuschicken.“ Die meisten Dämonen entstammten der Anderwelt und brauchten einige Zeit, um von dort in die physische Ebene zurückzukehren.

„Wieso brauchen Sie das?“, fragte Mhambi, als wäre es nicht klar.

„Ich will die Kinder befreien.“

„Und warum?“ Noch immer war der Blick der alten Frau – wie alt war sie überhaupt? – ungebrochen.

„Weil es das richtige ist zu tun.“ Wozu fragte die Alte überhaupt?

Für eine Weile schwieg Mhambi, während Murphy auf dem Stuhl neben Pakhet unsicher hin und her rückte. Sie hätte ihm gerne einen wütenden Blick zugeworfen, beherrschte sich aber. Sie wollte dem Blick der Alten nicht nachgeben.

Schließlich zeigte sich so etwas wie ein Grinsen auf dem Gesicht der Frau. Ein Grinsen, das zeigte, das einer ihrer Front und der danebenliegende Eckzahn mit Gold überzogen waren. „Sehen Sie sich als Heldin, Pakhet?“

Nur mit Mühe verkniff Pakhet sich ein Schnauben. „Nein.“

„Als was dann?“

Langsam wurde ihr das ganze zu dumm. Die alte Frau war ihr unheimlich. „Als jemand, der nicht völlig gewissenlos ist.“

Die Frau ließ ein kurzes Lachen hören. „Ich gebe Ihnen einen Rat: Lassen Sie sich nicht in eine Rolle zwingen, die sie nicht wollen.“

„Keine Sorge“, zischte Pakhet, sich dessen bewusst, dass ihre Wut zu deutlich klang. Sie hasste dieses pseudo-mystische Getue.

„Es gibt Mächte, deren Einwirkungen nicht immer für Sterbliche zu sehen sind“, fuhr die Frau fort.

„Aha.“ Sie starrte die Frau an, bis Murphy schließlich die Stimme erhob.

„Mhambi, bitte!“

Die Frau seufzte und sah ihn an. „Was hast du vom Schwarzen erfahren?“

„Nichts“, erwiderte Murphy defensiv. Er sah zu Boden. „Okay. Viel. Aber ich weiß nicht, wovon du redest.“ Sie seufzte. „Mhambi, bitte. Wir brauchen deine Hilfe. Du weißt, wie man Dämonen vertreibt.“

Mutter Gans musterte ihn für eine Weile, dann seufzte sie wieder. „Ja, das weiß ich wohl.“ Auf einmal wurde ihre Stimme geschäftsmäßig. Sie stand auf, klopfte sich die Schürze ab. „Ich kann Ihnen einen Trank anbieten, Pakhet. Vielleicht auch zwei Tränke. Einen, um Dämonen zu schwächen, eine andere, um sie ihrer physischen Gestalt zu rauben und sie in die magische Welt zurückzuschicken.“

„Wie viel?“, fragte Pakhet.

„Tausend für beides zusammen“, erwiderte die alte Dame. „Für beides und die Warnung.“ Ihr Blick schien für einen Moment eine Stelle oberhalb von Pakhets Schulter zu fokussieren. „Ich würde mich an ihrer Stelle in Acht nehmen, Pakhet. Oder Sie werden in Sachen hineingezogen, mit denen Sie sehr wahrscheinlich nichts zu tun haben wollen.“

Pakhet fragte nicht. So wie die alte Frau sich ausdrückte, würde sie sicherlich keine klare Antwort bekommen.

[26.08.2011 – M23 – Bruder]

Vier Stunden später verließen sie die kleinere der beiden Scheunen, die das magische Refugium der Schamanin beinhaltete. Es hatte darin gestunken, nach verbrannten Kräutern, Weihrauch und alten Lehm. Pakhet hatte sich beherrschen müssen, nicht zu würgen. Dabei war sie nicht empfindlich, was diese Dinge anging.

Bei sich trug sie zwei Dinge: Ein kleines Fläschchen, das einmal Schnaps beinhaltet hatte, nun aber eine durchsichtige, goldliche Flüssigkeit umfasste. Außerdem ein Lederbeutel, in dem die Schamanin eine Mischung aus Sand und der Asche verbrannter Kräuter abgefüllt hatte. Die Flüssigkeit sollte die Dämonen schwächen, der Staub sie in die Anderswelt zurückschicken. Sie fühlte sich wie der Hauptcharakter in irgendeinem Computerspiel, der gerade Verzauberungen für seine Waffen besorgt hatte. Und für fünfzehn Gold gab es noch ein Schadensupgrade für ihre Hauptwaffe, eh?

Sie konnte nur darauf hoffen, dass es funktionierte.

Das braunhaarige Mädchen kam zu ihnen hinüber gelaufen. „Murphy!“ Sie umarmte seine Hüfte. „Bleib doch noch etwas!“

„Es tut mir leid, Pati“, meinte er sanft. „Ich kann nicht bleiben.“

„Aber warum denn nicht?“, jammerte sie. „Nur ein bisschen.“

„Weil ich etwas wichtiges tun muss“, erwiderte Murphy. „Ich arbeite jetzt. Ich muss zu meinem Chef zurück.“ Wahrscheinlich meinte er Crash. „Außerdem sind wir gerade mitten in einer Mission einige Mädchen wie dich vor sehr bösen Leuten zu retten.“

„Dann nimm mich mit!“ Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an.

Er seufzte. „Das geht nicht.“

„Aber  …“

„Lass ihn, Pati“, meinte eine tiefe Jungenstimme, die zu einem älteren Jugendlichen zu gehören schien. Er war mindestens sechszehn und sehr kräftig gebaut. „Er ist gegangen und er wird nicht mehr zurückkehren. Außerdem dient er Schwarzfeder, oder, Rabenjunge?“

Murphy sah sich zu ihm um. „Fasi  …“ Er schien sprachlos, etwas, das in sich für Murphy bemerkenswert war.

Der ältere Jugendliche kam hinüber und griff Pati bei der Schulter. „Komm.“

„Fasi“, begann Murphy noch einmal, „du weißt, dass ich dankbar für alles bin, aber ich  …“

„Ich weiß schon“, murmelte der ältere Jugendliche, jedoch mit bitterer Stimme. „Ich hoffe, dass es dir jetzt besser geht.“ Er sah zu Pakhet. „Und dass du eine Zukunft hast.“

„Red nicht immer so düster“, beschwerte sich Pati und sah ihn an.

Murphy seufzte. „Es tut mir leid.“ Er leckte sich unsicher mit der Zungenspitze über die Unterlippe. „Ich verspreche euch: Wenn ich die nächsten zwei Wochen überlebe, komme ich einmal wieder vorbei.“

Fasi nickte nur und zog Pati mit sich in Richtung des Hauses.

„Ich warte auf dich, Murphy“, rief Pati noch zu ihm.

„Ich komme ganz bestimmt“, erwiderte der Junge, ehe er noch einmal seufzte und dann zu seinem Motorrad ging.

Pakhet beschleunigte ihre Schritte, um ihn nicht zu verlieren. „Kid?“, fragte sie vorsichtig. Sie hatte den Eindruck vieles nicht zu verstehen, auch wenn sie sich einiges zusammenreimen konnte.

Er sah sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an, als er seinen Helm aufnahm.

„Möchtest du darüber reden?“, fragte sie vorsichtig.

Murphy seufzte. „Nein“, erwiderte er und setzte sich den Helm auf, ehe er seine Jacke schloss und sich wortlos auf das Motorrad schwang.

Sie hätte ihn aufhalten können, doch sie tat es nicht. Es ging sie nichts an, oder?

[27.08.2011 – C06 – Verpflichtungen]

Eine weitere Nacht. Wieder fand Pakhet nur dank einer ungesunden Dosis Schlafmittel Ruhe. Sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wusste, dass es sich auf Dauer rechen würde. Sie würde abhängig werden, wenn nicht schlimmeres. Doch was sollte sie machen: Sie wollte ausgeruht sein, wenn der Tag kam und sie hoffentlich die Operation durchziehen konnte. Bis dahin brauchte sie einen klaren Verstand, Aufmerksamkeit, um nicht aus versehen in einen Hinterhalt zu laufen.

Am nächsten Morgen wurde sie vom Klingeln ihres Handys geweckt.

Wieder schlief sie in Heidensteins Gästezimmer. Verschlafen tastete sie nach dem Handy auf dem Nachtschrank. Nahm es, sah auf den Bildschirm. Es war bereits drei nach acht.

Auf dem Bildschirm wurde Crashs Name angezeigt.

„Hey.“ Sie unterdrückte ein Gähnen.

„Hey“, brummte Crash. „Habe ich dich geweckt.“

„Ja.“ Es hatte keinen Sinn zu lügen. Wozu auch. „Was gibt's.“

„Wollte fragen, ob du weißt, was mit dem Jungen los ist.“

Pakhet ließ sich auf das Kissen zurückfallen, schaltete ihr Handy auf Lautsprecher und legte es auf ihren Bauch, um sich mit ihrer Hand die Augen zu reiben. Es war noch dunkel in dem kleinen Zimmer, dass neben Nachttisch, Bett und Kleiderschrank kaum freien Platz hatte. Sie gähnte.

Ihre Erinnerungen wanderten zum Vortag und ihrem Treffen mit Mutter Gans. Der Junge war danach direkt fortgefahren, zu Crash, wie sie angenommen hatte. Er hatte nicht sprechen wollen. „Wieso?“

„Ist gestern Abend betrunken heim gekommen“, brummte Crash. „War nicht bei meinem Training. War seltsam drauf.“

Auch Pakhet brummte, jedoch keine konkreten Worte. „Wir haben gestern Leute besucht, die er wohl von vorher kannte. Ich glaube, das hat ihn stärker getroffen, als er es zugeben würde.“

Crash grummelte irgendetwas, schien schwer zu seufzen. „Verstehe“, meinte er schließlich.

„Sieh's ihm nach, ja.“ Pakhet sah zur Decke. Es kam genug Licht durch die Ritze unter der Tür, als dass sie zumindest die Umrisse der Möbel und die Deckenplatten ausmachen konnte. „Er hilft mir gerade sehr.“

„Ich weiß.“ Crash machte einen unzufriedenen Laut. „Wenn du meine Hilfe brauchen kannst  …“ Er ließ ein entschlossenes Schnaufen hören. „Sag Bescheid, ja?“

Pakhet überlegte für einen Moment. Sie war sich nicht sicher, inwiefern er sich im Moment erlauben konnte, sie zu verletzen. „Wir werden wahrscheinlich in den nächsten zwei oder drei Tagen zusammen mit der Polizei agieren.“

„Okay.“ Crash machte eine Pause. „Übermorgen habe ich ein Trainingsspiel.“

„Hast du nicht generell Training?“, fragte sie vorsichtig.

„Einmal kann ich fehlen. Nur bei dem Spiel  …“ Crash klang darüber nicht besonders glücklich. War seine neue Karriere ihm jetzt schon langweilig?

„Ich sage dir auf jeden Fall Bescheid“, versprach sie.

„Gut.“

„Sei nachgiebig mit Murphy, ja?“

Ein Brummen. „Ich versuch's.“ Ein Seufzen. „Sorry, für's wecken.“

„Schon gut.“ Noch einmal gähnte sie. „Ich rieche Kaffee. Ich denke, der gute Doc ist schon wach.“

[27.08.2011 – D33 – Planungen]

Es war kurz nach sieben, als Pakhet ins Wohnzimmer zurückkam. Die Tüte mit dem Essen stand auf dem Tisch. Sie hatten schon wieder bestellt. Wie bereits an den anderen Tagen der vergangenen Woche.

„Was ist?“, fragte Heidenstein, der auf dem Sofa saß und nicht ganz frische Pizza aus deinem Karton aß.

„Das war Bhuta“, antwortete Pakhet. „Die Polizistin aus Joburg.“

„Oh.“ Heidenstein drehte sich gänzlich zu ihr um und sah sie fragend an. „Und?“

„Sie wollen die Operation übermorgen früh starten. Zwischen neun und elf. Sie wollen sich noch nicht auf die Zeit festlegen.“

Heidenstein nickte. Für einen Moment schwieg er, wandte sich wieder seiner Pizza zu, wohl, um seinem Mund etwas zu tun zu geben.

Pakhet seufzte, setzte sich neben ihn. Sie hatte Hähnchenspieße beim Lieferanten bestellt, die letzten Endes viel zu fettig gewesen waren. Auch sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte.

Eine Minute verging. Vielleicht zwei.

Schließlich holte Heidenstein tief Luft. „Also werden wir  … Was? Wir werden hingehen und uns um das Wasserwerk kümmern?“

Pakhet nickte. „Das war der Plan. Ich habe es so mit Chase und Bhuta abgesprochen.“ Auch wenn sie nicht sicher war, ob man sich an diese Absprache halten würde. Immerhin war ihr klar, dass es der Polizei noch immer nicht gefiel, auf ihre Worte zu vertrauen. Sie hatte ihnen über Jack einige der Bilder zukommen lassen. Auch Bilder, die Murphy und Siobhan an den Locations gemacht hatten. An Hotel und Wasserwerk. Man sah nicht viel, doch es war wohl besser als gänzlich blind zu sein.

„Wer kommt alles mit?“, fragte Heidenstein.

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an du. Murphy. Siobhan. Jack.“ Kurzum: Sie waren zu fünf. Zu sechst, wenn sie den Möwengeist mitzählten, der Siobhan wahrscheinlich begleitete. „Crash sagte er hat übermorgen ein Spiel.“ Sie schürzte die Lippen, hob ihr Glas, um etwas Wasser zu trinken. „Mir wäre es ehrlich gesagt auch lieber er kommt nicht. Er  …„

Heidenstein nickte. „Ich verstehe schon.“ Er lächelte sie mild an.

Pakhet schloss die Augen. Lehnte sich zurück, das Wasserglas noch immer in der Hand. Noch zwei Tage, dann war alles vorbei. Vorerst. Denn ihr war klar, dass das nicht alles war.

„Hat Alice neue Informationen?“, fragte Heidenstein.

Pakhet schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Ich werde sie nachher anrufen.“ Irgendwie bereitete sie sich innerlich darauf vor, dass das dem Mädchen gar nicht gefallen würde. Sie schien Dinge gerne komplett auf ihre Art zu machen. Doch im Moment brauchten sie die Information. Sie brauchten jedes bisschen Information.

„Kopf hoch“, meinte Heidenstein. „Zumindest wissen wir jetzt, dass die Polizei was macht.“

Sie nickte. Gänzlich erleichtert war sie darüber dennoch nicht.

Offenbar schien ihm ein ähnlicher Gedanke zu kommen. „Was ist der Grund, warum du sie erst nicht kontaktieren wolltest?“

Pakhet antwortete nicht. Sie zuckte mit den Schultern, trank einen Schluck. „Misstrauen.“ Mehr wollte sie dazu nicht sagen. Sie würde ihm sicher nicht von ihrer Vergangenheit bei der Army erzählen. Sie vertraute ihm, aber das  … Es war ein anderes Leben gewesen. Ein Leben, dass mit ihrem Leben als Pakhet hier in Kapstadt wenig zu tun hatte.

[29.08.2011 – D34 – Anspannung]

Der nächste Tag verging ohne wirkliche Vorfälle. Pakhet bekam noch etwas Information von Alice, jedoch nichts, was sie nicht schon wussten. Alice hatte – laut eigener, frustrierter Aussage – noch keine Informationen über die eigentlichen Betreiber der Domain gefunden. Wenig überraschend. Natürlich würden sie ihre Identität verschleiern. Sonst hätte es die Behörden weit leichter, die Betreiber und Besucher solcher Webseiten und andere illegaler Betriebe des Darknets ausfindig zu machen.

Allerdings hatte sie Informationen über die Webseite gefunden, über die wahrscheinlich die Söldner angeheuert worden waren, wie auch ein Kopfgeld auf Pakhet selbst. Neuntausend. Dafür würden die meisten Leute, die diese Webseite fanden, es wohl kaum riskieren.

Und so kam der Morgen selbst.

Pakhet war um sechs Uhr wach. Sie machte sich einen Kaffee, verzichtete jedoch vorerst auf ein festes Frühstück. Sie hatte keinen Appetit. Egal wie viel Kampferfahrung sie hatte, sie war sich nicht sicher, was sie erwarten sollte. Sie machte sich Sorgen um die anderen, vor allem um Murphy und Heidenstein. Auch wusste sie nicht, was an den Wasserwerken auf sie wartete. Verdammt, von allem was sie wusste, konnte man dort eine Falle für sie gestellt haben. Ach, natürlich hatte man eine Falle gestellt. Die Frage war nur, inwieweit diese Falle aus Menschen mit Waffen bestand, und inwieweit aus Dämonen und anderen Horrorn aus der Anderswelt.

Sie musste abwarten, doch sie hasste diesen Gedanken.

Sie machte sich daran, ihre Waffen vorzubereiten. Die alte Schamanin hatte gesagt, dass sie die geisterschwächende Flüssigkeit in bester Videospielmanier auf ihre Waffen, beziehungsweise ihre Munition reiben konnte. Nein, es war nicht das erste Mal, dass Pakhet so etwas verwendete, doch kam es ihr immer wieder als seltsam vor. Sie hatte nie Videospiele oder diese Tabletop-Rollenspiele gespielt, doch sie hatte in ihrer Jugend genug von Robert mitbekommen, der immer ein bekennender Nerd gewesen war.

Sie hatte sich in Heidensteins Arbeitsraum gesetzt, bemüht ihn zuvor in der Wohnung nicht zu wecken, war jedoch nicht überrascht, als er schließlich die Tür hinter ihr öffnete.

„Hey.“ Sie drehte sich nicht um, erkannte ihn an seinem Schritt. Vielleicht sollte ihr das Sorgen machen.

„Hey.“ Er kam zu ihr hinüber. „Normal bist du doch kein Frühaufsteher.“

Sie war damit beschäftigt, vorbereitete Kugeln in ihr Magazin zu stecken. Antwortete nicht.

„Ist das der Trank?“, fragte Heidenstein, während er einen Teller mit zwei beschmierten Vollkornbroten neben sie auf die Werkbank stellte.

„Ja.“ Sie sah ihn an. „Ist das mein Frühstück?“

„Ich habe mir gedacht, du hast wahrscheinlich noch nicht gegessen“, erwiderte er.

Sie zuckte mit den Schultern. Noch immer hatte sie keinen Appetit, doch wusste sie, dass sie zumindest etwas essen sollte. „Danke.“

Er lächelte sie an und etwas lag in seinem Blick, das dafür sorgte, dass sich ihr Magen zusammenzog.

„Bist du nicht nervös?“, fragte sie.

Er seufzte, ließ sich neben ihr auf den zweiten Hocker nieder. „Natürlich bin ich das. Aber gleichzeitig bin ich auch froh  … Nachher wird alles vorbei sein.“ Er schürzte die Lippen. „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“

„Um mich?“ Sie hob eine Augenbraue. Es gab aktuell viele andere Leute, um die man sich eher Sorgen machen konnte.

„Ja. Dass du zu viel riskierst.“

Sie wandte den Blick ab, wandte sich dem beschmierten Brot zu und biss hinein.

„Versteh mich nicht falsch, Pakhet“, meinte er nach einigen Sekunden des Schweigens. „Ich finde es gut, dass du das tust. Ich finde, es sollte mehr Leute geben, die nicht einfach wegschauen, aber ich mache mir Sorgen. Vor allem, das gebe ich zu. Es wundert mich noch immer.“

Sie kaute, schluckte, trank einen Schluck Kaffee. „Was?“

„Dass du  … Ich meine, dass du diese ganze Aktion angefangen hast. Ich  … Warum?“

Sie zuckte mit den Schultern. Im Moment trug sie die synthetisch verkleidete Prothese, würde, sobald sie losfuhren, jedoch auf die andere wechseln. „Weil ich nicht zusehen kann, wie so etwas Kindern angetan wird.“

Heidenstein schwieg, schürzte die Lippen wieder. „Aber das kann nicht das erste Mal gewesen sein, oder?“

Sie wich seinem Blick aus, seufzte noch einmal. „Doc.“ Sie holte tief Luft. „Ich hatte eine Abmachung mit Michael. Ich werde nicht in Sachen reingezogen, die Kinder oder Jugendliche beinhalten. Ich habe  … Wenn es Kinder waren, habe ich nie wegsehen können.“

„Aber wieso  …?“, begann Heidenstein. Sie war sich nicht ganz sicher, was er fragen wollte: Wieso arbeitete sie in diesem Job? Wieso hatte sie diese Regel vereinbart? Wieso hatte sie nun einen solchen Job angenommen?

Sie beschloss die letzte Frage zu beantworten, unterbrach Heidenstein. „Weil Michael ein Exempel statuieren wollte. Ihm gefällt nicht, was ich in letzter Zeit gemacht habe. Mit dir. Mit Murphy. Ich werde ihm zu sozial. Und deswegen hat er mir einen Job gewesen, bei dem er sicher war, dass ich gegen seine Regeln handeln würde. Oder eher  … Er hat meine Loyalität geprüft.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Wie lange kennst du Michael schon?“, fragte Heidenstein vorsichtig.

Sie seufzte, sah ihn noch immer nicht an. „Zu lange.“ Damit schob sie ihm das kleine Fläschchen zu. „Vielleicht solltest du auch Vorbereitungen treffen.“ Sie wollte nicht länger darüber reden.

[29.08.2011 – J04 – Wasserwerk]

Jack wartete in einem Café im Schatten des Tafelbergs auf sie. Es war halb neun und noch früh.

Er wirkte normal, entspannt, wie jemand der ganz hierhin gehörte, was man von Pakhet, die eine Lederjacke trug, um die metallene Prothese zu verbergen und ihr ein wenig Schutz zu gewähren nicht behaupten konnte.

„Entspann dich, Schönheit“, meinte Jack halblaut, da er die Anspannung in ihrem Blick zu merken schien.

Er trug eine Sonnenbrille, nahm diese jedoch ab und gestikulierte auffordernd in Richtung des Tisches, an dem er saß.

Das Café war acht Blöcke von dem alten Wasserwerk, das ein Überbleibsel von einer Reihe Wasseranlagen war, die unter dem Tafelberg gebaut worden waren. Von allem was sie wussten, konnten die Jugendlichen auch in den alten Tunneln sein, auch wenn Pakhet es nicht glaubte: Die Tunnel wären ideal, um sich zurückzuziehen, aber gleichzeitig auch Fallen. Außerdem war das Wasserwerk selbst besser für Fallen geeignet.

Es sei denn natürlich, man lockte sie in eine Falle um einen alten Tunnel über ihr kollabieren zu lassen.

Sie setzte sich stumm. „Was ist mit Chase?“

„Sind bereits da, weisen aktuell ihr Team ein.“

„Irgendwelche Einwände?“, fragte Pakhet leise.

„Nein. Ich habe sie überzeugt.“ Er grinste. „Alles bestens, Püppchen.“ Er warf Heidenstein einen kurzen Blick zu, zwinkerte ihm zu.

Pakhet lehnte sich zurück, atmete durch. Sie würden warten, bis das Team der Polizei in Position war. So konnten sie Verstärkung zwischen den Orten umgehen. Wobei sie nicht ausschließen konnten, dass es weitere im Hinterhalt liegende Handlanger gab.

Sie bemerkte Heidensteins Blick. Er hatte die Augenbrauen zusammengeschoben.

„Wie gehen wir vor?“, fragte Jack.

Pakhet sah sich um. Das Café war größtenteils leer, doch sie fühlte sich nicht wohl hier darüber zu sprechen. „Später.“ Sie wartete nur darauf, dass die anderen – namentlich Siobhan und Murphy, hier auftauchten. Dann würden sie sich in Position begeben.

Zugegebenermaßen gefiel ihr die Vorstellung nicht, hier in der Gegend einen Kampf anzufangen. Auch mit Rückhalt der Polizei war es ihr zu zentral. Sie bemühte sich Feuerkämpfe und speziell Kämpfe, die Magie beinhalten würden, fernab von besseren Gegenden zu führen. Speziell hier, wo sie wahrscheinlich im Turf von mindestens drei verschiedenen privaten Sicherheitsfirmen agieren würden.

Würde man einer Schießerei im Wasserwerk Beachtung schenken? Sie war sich nicht sicher.

Mit dem Klingeln der drüberhängenden Glocke wurde die Tür des Cafés geöffnet. Murphy kam herein. Er trug eine Motorradjacke und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Irgendwie wusste Pakhet, dass es Murphy war, auch wenn er heute die Gestalt eines kräftig wirkenden, jungen schwarzen Mannes Anfang zwanzig trug.

Er setzte sich zu ihnen: Zog einen Stuhl vor und ließ sich einfach darauf fallen.

„Hey, Kid“, meinte Pakhet.

Jack hob eine Augenbraue. „Ist das der Knirps vom Flughafen, Sugar Cubes?“

Murphy warf ihm einen wütenden Blick zu. „Ich bin kein Knirps.“ Dann schaute er zu Pakhet. „Und warum darf er dir alberne Spitznamen geben?“

„Es ist nicht die Rede von 'dürfen', Kid“, erwiderte sie. „Viel eher ist es so, dass ich bisher keinen verlässlichen Weg gefunden habe, ihn davon abzuhalten.“

Wieder zeigte sich ein Grinsen auf Jacks Lippen.

„Fehlt noch Siobhan“, murmelte Heidenstein. Er sah sich um und winkte die Kellnerin, eine junge Frau in einer klassischen Kellneruniform zu sich herüber. „Vier Kaffee.“

„Diese Siobhan.“ Jack schlug einen Plauderton an, als würde er über eine Serie oder einen Film reden. „Sie hat eine Begabung, wenn ich das richtig verstanden habe?“

„Ja. Sie hat auch eine sehr besondere Begleitung“, erwiderte Pakhet.

Murphy hustete. „Mit Federn.“

Jack nickte. „Ich verstehe. Als sind wie fünf Leute und ein Vogel.“

Auch Pakhet nickte nur. Sie wollte hier wirklich nicht über ihren Plan sprechen. „Und wir müssen davon ausgehen, dass man von unserem Besuch weiß.“

Jack schüttelte den Kopf und ließ ein Seufzen hören. „Und warum noch einmal, wolltest du keine Unterstützung von Chase und seinen Leuten, Mon Amie?“

„Weil man dort auf mich wartet.“ Sie sah ihn düster an. „Und soweit ich weiß, haben wir hier ohnehin einen chronischen Mangel an Staatsdienern, oder?“

Jack seufzte noch einmal. „Langsam frage ich mich, ob mir das Date wirklich so viel wert ist.“ Er zwinkerte. „Aber ein Deal ist ein Deal.“ Damit blickte er zu Heidenstein, grinste, und winkte die Kellnerin mit dem Kaffee, die gerade den Raum betrat, zu sich hinüber.

Auch Pakhet sah zu Heidenstein, dessen Stirn noch immer gerunzelt war. Während Jack kurze Worte mit der Kellnerin wechselte, wanderte Heidensteins Blick zu Pakhet. Seine Miene war fragend, als er in Jacks Richtung nickte.

Pakhet zuckte nur mit den Schultern und deutete ein Seufzen an. Was sollte sie auch gegen Jacks aufdringliches Verhalten tun? Sie brauchte seine Hilfe.

[29.08.2011 – X14 – Angriff]

Es war kurz nach zehn, als sie das Okay von Bhuta bekamen. Der Einsatz am Hotel hatte begonnen, also würden auch sie sich auf den Weg machen.

Trixie, die Möwe, hatte bereits die Lage ausgekundschaftet. Auch wenn Pakhet nicht sicher war, inwieweit sie sich auf die Möwe verlassen konnten, so war sie dankbar für die Informationen.

Sie parkten den Transporter vier Blöcke vom Wasserwerk entfernt, stiegen aus.

Pakhet und Heidenstein aktivierten die Armreife. Zwar war davon auszugehen, dass ihre Gegner damit rechneten, etwaig vorgesorgt hatten, doch es würde ihnen dennoch einen Vorteil geben.

Sie hatten allesamt Walkie-Talkies, auch wenn Pakhet ihres bereits auf lautlos gestellt hatte. Es würde dennoch leicht vibrieren – etwas, das moderne Walkie-Talkies, die mittlerweile klein genug waren, um in eine geschlossene Faust zu passen – konnten. Sie konnte nicht riskieren, dass jemand eine Nachricht hörte, während sie sich anschlich.

„Wir gehen vor“, sagte sie und sah zu Murphy, Jack und Siobhan, die allesamt nickten. Trixie, die eine mentale Verbindung mit Siobhan teilte, saß auf einer Straßenlaterne direkt vor dem verlassenen Gelände der Wasserwerke, um Ausschau zu halten.

Pakhet lief los, wohl wissend, dass Heidenstein an ihrer Seite war, während Siobhan hinter ihnen ebenfalls die Gestalt einer Möwe annahm. Anders als Murphy hatte sie ihre Kleidung gebunden, so dass diese einfach verschwand. Magie war seltsam, also machte es auch keinen Sinn darüber nachzudenken.

Pakhet hastete die Straße entlang, bemüht sich im Schatten der Gebäude zu halten. Der Vorteil der zentralen Lage, war die Höhe der Gebäude. Sie boten mehr Schatten, mehr tote Winkel um sich zu verstecken. Gleichzeitig war die Gegend jedoch übersichtlicher, als die Flats. Es war schwerer, einfach zu verschwinden.

Das Walkie-Talkie vibrierte.

Pakhet griff danach – es hing an ihrem Kragen – und betätigte den Knopf. „Ja?“

„Zwei Wachen direkt auf den Häusern vor dem Gelände“, kam die doppelt verzerrte Stimme Siobhans durch das Gerät.

„Welche Gebäude?“

„Bläuliches Haus, helles Dach“, erwiderte Siobhan. „Das zweite normales Haus. Rote Ziegel.“

„Danke.“

Die Gegend war besser, wenngleich nicht ganz so gut, wie im Norden des Tafelbergs. Was sie umgab, waren relativ eng gestellte Mittelklassehäuser. Suburbia. Alle mit Garten, viele mit Pool. Nachteilig für einen Hinterhalt, stellte Pakhet fest. Immerhin achteten Leute hier eher darauf, wenn jemand auf einem Dach saß – davon abgesehen, dass es hier beinahe durchgängig nur Giebeldächer gab.

„Pakhet?“ Heidensteins Stimme.

„Ich kümmer mich drum“, erwiderte sie.

Es lag nicht am Zweifel an seinen Fähigkeiten, nicht einmal daran, dass sie ihn nicht gefährden wollte. Vorrangig ging es ihr darum, dass sie problemlos auf die oftmals nur ein oder zwei Etagen hohen Häuser hinauf kam. Er nicht.

Sie machte die Häuser am Ende der Straße aus und blickte sich um. Wenn sie ihre Energie konzentrierte sollte sie es hier schaffen von Haus zu Haus zu springen. Gut.

Also nahm sie Anlauf, sprang auf das erste Haus zu ihrer Rechten.

Auch ihre Angreifer schienen einen Zauber zu nutzen, um sich zumindest vor menschlichen Augen zu verbergen. Selbst als sie auf Höhe der Dächer war, konnte sie den ersten Umriss vier Häuser entfernt nur erahnen.

Sie hielt sich auf der anderen Seite der Giebel. Sofern es keinen von Siobhan und Trixie ungesehenen Angreifer gab, sollte sie so den meisten Blicken entgehen. Sie hatte Glück: Offenbar wäre die Gestalt des Scharfschützen – es musste ein Scharfschütze sein – vor dem klaren Himmel aufgefallen. Deswegen war er tiefer auf das Dach gegangen, um im Schatten sich vor Blicken zu schützen. Und dabei auf der Seite der Straße geblieben.

Sie stellte sicher, dass sie niemand von der Straße aus beobachtete, dann sprang sie zum nächsten Dach. Dann weiter. Mit dem dritten Sprung erreichte sie das richtige Dach.

Auch wenn sie sich bemühte ruhig zu bleiben, klackten die Ziegel, als sie landeten. Der Schütze horchte auf. Sein Umriss bewegte sich.

Mit einem Blick auf die Straße, die für den Moment leer war, lief sie auf die verschwommene Gestalt zu, einen der losen Betäubungsdarts in der Hand. Sie schaffte es den Mann zu greifen zu bekommen, drückte den Dart in seine Brust und nahm in dann in den Schwitzkasten, hielt ihn fest.

Er rang mit ihr, versuchte sich, samt ihr, vom Dach zu werfen, doch dann, nach zwanzig oder dreißig Sekunden verlor er langsam die Kontrolle. Seine Bewegungen wurden unkoordinierter. Pakhet ließ sich vorsichtig mit ihm zusammen auf das Dach zurücksinken. Zum Glück war die Steigung nicht zu extrem.

Er wurde nicht sichtbar, was hieß, dass der Zauber von jemand anderen aufrecht erhalten wurde. Einem Dämon?

Vielleicht.

Sie legte ihn vorsichtig ab, so dass er mit den Füßen in Richtung des Dachrandes zeigte. So würde er nicht runterrollen. Es war nicht ihr Problem, wenn jemand sich über ihn wunderte, sobald er sichtbar wurde.

Sie sprang runter, als das scharfe Geräusch eines gedämpften Schusses erklang.

Eine Sache, die Filme ständig falsch machten: Selbst mit einem Schalldämpfer klang der Schuss einer normalen Pistole laut, vor allem in der Stille des vormittaglichen Suburbias. Noch lauter klang allerdings das zerspringende Fenster, dass die Kugel offenbar getroffen hatte.

Das musste der andere Scharfschütze sein. Entweder hatte er sie gesehen oder war vom Dämon vorgewarnt worden. Pakhet war nicht sicher.

Sie sprintete zur Straße, versuchte den Angreifer zu erspähen, als ein dunkler Schatten über sie hinweg sauste. Im Nächsten Moment landete eine Dohle auf dem Dach und das Donnern eines elektrischen Schlags erklang. Eine Frauenstimme schrie auf und dann verriet ein dumpfer Aufprall, dass die Angreiferin im Gebüsch vor dem Gebäude gelandet war.

Die Dohle segelte hinab und sah in die Richtung, in der sie offenbar Pakhet und Heidenstein vermutete, verbeugte sich, wie ein Schausteller im Theater nach einem komplizierten Kunststück.

„Welcher Teil von 'Wir gehen vor' ist so schwer zu verstehen?“, fragte Pakhet leise.

„Gern geschehen, Pakhet“, erwiderte der Rabe krächzend. Er legte den Kopf schief.

„Komm“, meinte Heidenstein neben ihr.

„Ich halte die Stellung.“ Der Rabe flatterte aufs nächste Dach.

Vorsichtig nickte Pakhet. Sie spürte Heidensteins Hand, die nach ihrem rechten Arm tastete und ihn griff, wohl, um sie in der Nähe zu wissen. „Okay“, flüsterte sie. Es hatte keinen Sinn zu diskutieren.

Sie wandte sich zum Gehen, spürte, wie Heidenstein dasselbe tat. Wieso begleitete der Idiot sie eigentlich? Warum ließ sie Idiot das eigentlich zu?

Sie konnte den Zaun, der das recht weitläufige Gelände des Wasserwerks umgab, sehen. Er war nicht wirklich hoch und dankbarerweise befestigt, so dass auch Heidenstein hinüberkommen sollte, ohne zu viel Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen.

Laut der Satellitenbilder, die sie gesehen hatte, war das Wasserwerk von knapp zweihundert Metern freier Fläche umgeben, die ihres Wissens vorrangig dienten, um Grundwasserverunreinigungen zu verhindern. Das Wasserwerk war nie wirklich in Betrieb genommen worden. Es war ein städtisches Projekt gewesen, soweit Pakhet wusste, doch dann hatte einer der anliegenden Winzereien, von denen es am Tafelberg mehrere gab, die Rechte für den Grundwasserzugang gekauft. Jedenfalls war das, was sie hatte herausfinden können.

Vielleicht war hinter den Kulissen noch anderes abgelaufen.

Ein letztes Mal schaute sie sich um. Hier schien sonst niemand zu sein. Kein weiterer Hinterhalt.

Wie viele Leute waren wohl da? Sie schätzte etwas zwischen acht und fünfzehn Angreifern. Vielleicht zwanzig.

[29.08.2011 – X15 – Kollaps]

„Schaffst du den Zaun?“, fragte sie Heidenstein.

Ein kurzes Zögern. Dann: „Ja.“

„Okay.“ Sie hätte nur genickt, erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, dass auch er sie nicht sah.

Sie nahm Anlauf, sprang über den knapp zwei Meter hohen Zaun hinweg, ehe sie sich auf der anderen Seite umsah.

Die Sonne stand aktuell im Südosten, hinter ihnen, ermöglichte einen guten Blick auf das Gelände.

Knapp fünfzig Meter zu Pakhets Rechten, führte eine Straße auf das Gelände, die durch ein weißes, hohes Tor versperrt war. Die Farbe des Tors war an einigen Stellen abgeblättert, hatte Rost erlaubt das darunter liegende Metall zu zerfressen.

Sie selbst standen auf einem Feld trocknen Grases. An einigen Stellen lugten Rohre von vielleicht dreißig Zentimeter Durchmesser aus dem Boden. Wahrscheinlich dazu gedacht, Wasser in darunter liegenden Tanks zu überprüfen. Nicht dass es sie im Moment interessierte. Von allem, was sie wusste, waren die Kinder entweder in der großen Halle von knapp achtzig Metern Länge, die sich vor ihnen ausbreitete, oder in einem der Gänge, die sich in den Berg vor ihnen fraßen.

Die Halle war mit weißen Platten vertäfelt, die das Licht der Vormittagssonne blenden reflektierten.

Pakhet blinzelte.

Verdammt. Das war ein Nachteil für sie. Wenn jemand sie aus der Richtung angriff  …

Ein Aufprall hinter ihr verriet ihr, dass Heidenstein den Zaun ebenfalls überwunden hatte. Dem Klang nach war er auf den Beinen gelandet – nicht, dass sie etwas anderes erwartet hatte.

„Merkst du es auch?“, fragte er leise.

„Was?“ Das war wohl Antwort genug.

„Magische Überwachung“, erwiderte er.

Großartig. Nicht, dass sie damit nicht gerechnet hatte.

Gerne hätte sie ihre Augen mit dem Arm vor der Sonnenreflektion geschützt, doch ihr durchsichtiger Arm bot keinerlei Schatten. Der Nachteil daran unsichtbar zu sein. Sie konnte froh sein, dass ihre Augenlider zumindest ihre Netzhaut schützten. Doch jedes Mal, wenn sie sie schloss, konnte sie Platten noch immer wie ein Negativ sehen.

Das Krächzen einer Möwe erklang. Trixie. Es klang aufgeregt.

Pakhets Instinkte erwachten zum Leben. Sie sah nicht, was auf sie zukam, schaffte es aber dennoch irgendwie zur Seite zur Springen, als eine Flammenfontaine dort das Gras versengte, wo sie eben noch gestanden hatte.

„Heidenstein!“, rief sie aus.

„Alles okay!“ Seine Stimme klang atemlos.

Trixie segelte auf das Wesen, dass wie ein Schimmer heißer Luft vor ihnen schwebte. Es war sicher zwei Meter groß und wie sie halb durchsichtig. Ein Elementar. Flammenelementar, wenn sie nicht irrte. Das würde zumindest den Flammenangriff erklären.

Das Wesen schien sie bestätigen zu wollen: Eine Flammensäule bildete sich in dem Körper des heißen Gases, erfüllte ihn und brach dann hervor, gerichtet in ihre Richtung.

Großartig.

Elementare waren keine Dämonen, keine Wesen aus Fae. Pakhet zweifelte, dass die Dinge, die Mutter Gans ihr gegeben hatte, dagegen halfen. Wesen dieser Welt, zu denen auch Elementare gehörten, folgten meist anderen Regeln als die Wesen der Anderswelt. Leider war nur auch ihre Pistole gegen einen Elementar wirkungslos.

Sie wich aus, rannte. Sie konnte versuchen, das Gebäude zu erreichen. Doch was, wenn der Elementar ihr folgte?

Gab es darin Wasser?

Gab es hier irgendwo einen Wasserschlauch?

Doch Wasser half wenig gegen Gasbrände. Was sie brauchten wäre Eis und eher einen Eiszauber. Nur war sie keine Magierin.

Dankbarerweise war der Elementar für den Moment auf sie fixiert, folgte ihr und ignorierte Heidenstein. Gut. Oder auch nicht. Heidenstein war Magier. Selbst wenn seine Stärke im Heilen lag, konnte er wahrscheinlich mehr gegen den Elementar tun, als sie.

Das Krächzen einer Möwe erklang. Nicht Trixie. Siobhan.

Ein Zischen, dann ein Donnern. Sie schickte einen Blitz auf den Elementar hinab.

Blaues Licht erstrahlte hinter Pakhet, ließ für einen Moment sogar das Licht der Sonne blass wirken.

Ein Hitzeschwall fegte über sie hinweg. Ihre Haut schmerzte, selbst wenn es keine ernsthafte Verbrennung war.

Intuitiv rannte Pakhet weiter, erlaubte es sich erst, als sie das Gebäude erreicht hatte, sich umzusehen.

Drei Vögel kreisten um den nun bläulich lodernden Elementar herum. Siobhan, Trixie und Murphy. Die Krähe war es, die jetzt kleinere Spannungsbögen zu dem Geist hinüberzucken ließ, während die Vögel ihn immer weiter nach oben lockten.

Hoffentlich hatten sie einen Plan. Hoffentlich hielten etwaige Menschen, die das Phänomen sahen, es für einen Kugelblitz.

Der Boden schwelte und dampfte noch immer dort, wo das Feuer des Geistes gebrannt hatte.

Eine Gestalt sprang über den Zaun, eine Waffe in der Hand. Automatisch zog auch Pakhet ihre Waffe, ehe sie Jack erkannte.

„Cherie?“, rief er auf halben Weg zum Gebäude.

Natürlich. Sie rannte in seine Richtung. „Nicht so laut, du Idiot.“

„Ich dachte schon, das Ungeheuer hätte dich erwischt“, erwiderte er.

„Kein Grund, deinen Posten zu verlassen“, zischte sie. Was sie zu einem anderen Punkt brachte: „Heidenstein?“ Wahrscheinlich war alles in Ordnung. Der Hitzeschwall würde ihn kaum direkt getötet haben und wenn er verletzt war, würde er schreien. Verbrennungen schmerzten furchtbar.

„Hier.“

Vielleicht war ihre Unsichtbarkeit mehr Nachteil als Vorteil.

Ach, verdammt. Sie brauchten auf Dauer eine Möglichkeit, um zu wissen, wo der jeweils andere war. Aber was sollten sie für den Moment machen?

„Wo gehen wir rein?“, fragte Jack.

Sollte sie ihn wegschicken? Ach, wo er hier war, konnte er auch mit ihnen kommen. Selbst wenn es am Ende darauf hinaus lief, dass er Feuer auf sich ziehen würde, sichtbar wie er war.

„Wie gehen wir rein?“, fragte Heidenstein.

Gute Frage. Die Haupttür war fraglos gesichert. Dann wiederum: Vielleicht rechnete man eher damit, dass sie durch einen der Nebeneingänge kam.

Verdammt, das Gebäude war riesig. Wie sollten sie darin die Jugendlichen finden?

Sie konnte gesamt die Haupttür und drei Notausgänge sehen. Also, wo lang?

Ein Bauchgefühl empfahl ihr den mittleren Notausgang. Sie hasste es, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen. Meistens führte es sie in die Irre. Im Moment jedoch, war es genau so gut, wie die Alternativen.

„Mittlere Tür.“ Sie blickte zu dem Elementar hinauf und den zuckenden Blitzen. Sie musste darauf vertrauen, dass Siobhan und die Möwe wussten, was sie taten.

Schnellen Schrittes lief sie zur Tür, versuchte sie zu öffnen. Natürlich war sie verschlossen.

„Wenn Sie mir die Ehre erweisen würden“, flötete Jack und trat vor. Er fischte etwas aus seiner Tasche. Nicht etwa ein Dietrichset, sondern eine Faust voll schwarzer Masse. Sprengstoff. Natürlich. „Bitte zur Seite treten.“ Jack grinste ins Nichts.

Sie taten ihm den gefallen. Fünf Meter von der Tür entfernt, pressten sie sich gegen die Wand, ehe Jack den Zünder betätigte.

Damit machten sie den letzten darauf aufmerksam, dass sie hier waren, doch es war egal. Sie wussten es wahrscheinlich bereits.

Die Tür sprang auf, von der eigenen Vibration aufgeschleudert.

„Bitte sehr, die edle Dame“, meinte Jack und wartete neben der Tür, um sie vorgehen zu lassen. Ja ja, ganz der Gentleman. Die Frau schön vorgehen lassen, damit man auf sie schoss.

Unwillkürlich tastete sie nach Heidensteins Arm, um sicher zu gehen, dass er bei ihr war.

Sie waren in einem engen, dunklen Betongang. Unverziert. Vielleicht war er nur Notausgang gewesen, vielleicht hatte man das Gebäude nie soweit ausgebaut.

Pakhet hielt inne, lauschte, suchte mit den Augen die Wände des Gangs auf, um etwaige Gefahren rechtzeitig zu sehen.

Soweit sah sie nichts.

Also schlich sie vorsichtig voran.

Der Geruch von abgestandenen Wasser und schimmeligen Wänden lag in der Luft. Das einzige, was fehlte, was das Geräusch von in der Ferne tropfendem Wasser, dann wäre die Gruselatmosphäre perfekt gewesen.

„Licht?“, fragte Jack.

Gerne hätte sie abgelehnt, zog es doch mehr Aufmerksamkeit auf sie, aber ohne würden sie etwaige Fallen nicht sehen. „Okay.“

Eine Taschenlampe ging an, strahlte in den Flur vor ihnen, malte bleiche, sehr bleiche Schatten von ihr und Heidenstein auf den Boden.

Schritt für Schritt arbeiteten sie sich voran. Irgendetwas musste geschehen. Jemand musste auf sie lauern. Jeden Moment würde ein Dämon auftauchen und sie angreifen.

Doch nichts geschah.

Sie folgten dem vielleicht zehn Meter langen Gang bis zum Ende, wo eine rostige Metalltür zu einem Treppenhaus führte.

Keine Falle. Die Tür quietschte jedoch, als Pakhet sie öffnete. Egal. Sie sah sich um.

Die Treppe führte zwei Etagen nach oben, eine nach unten.

„Wo lang?“, fragte Heidenstein.

Warum musste sie eigentlich alle Entscheidungen treffen? „Hoch“, antwortete sie nach kurzem Überlegen. Sie konnte genauso gut ihrem Gefühl folgen und ihr Gefühl sagte ihr, dass es keine gute Idee war, nach unten zu gehen.

Dann wiederum  … Sie hielt inne. War es nicht genau dasselbe Gefühl gewesen, dass sie zuvor aufgehalten hatte? Am „Casino“? Dort hatte sie an der Tür inne gehalten, wollte nicht hindurchgehen. Der Tür zur Taschendimension.

Sie überlegte. Schloss die Augen. Ja, es war eindeutig dasselbe Gefühl.

Verdammt.

Sie sollte sich von ihnen trennen. Wenn da unten eine Taschendimension war, wenn da unten der Schamane auf sie wartete  … Wenn sie die Situation richtig einschätzte, würde sie mit ihm auch die magische Verteidigung ausschalten.

„Was ist?“, fragte Heidenstein. Offenbar hatte er ihr Zögern gemerkt.

„Geht ihr nach oben vor.“ Sie sprach leise, aber mit fester Stimme. Fakt war, dass sie von ihnen die besten Voraussetzungen hatte, es mit dem Magier aufzunehmen. „Schaut, ob ihr jemanden findet.“

„Was ist los?“ Heidensteins Stimme klang hart, besorgt.

Sie holte tief Luft. „Ich glaube, der Magier ist im Keller.“ Oder was auch immer unter ihnen lag. „Wenn es nur einer ist, kann ich mit ihm die magische Verteidigung ausschalten.“

„Dann sollten wir mitkommen“, erwiderte Heidenstein.

„Nein.“ Sie sah ihn an, sich dessen bewusst, dass es keinen Sinn hatte. Ach, verdammt. Sie drehte den Armreif, deaktivierte den Zauber damit, wohl wissend, dass es schwerer sein würde, ihn ein zweites Mal zu aktivieren, weil Magie seltsam war und keinen Sinn ergab. „Wenn ich wieder verletzt werde, dann bist du möglichst weit weg, um am Ende noch in der Lage zu sein, mich rauszuholen.“

Auch er wurde sichtbar. Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte deutlich, dass es ihm gar nicht gefiel. „Das hat alles keinen Sinn, wenn du schon lange ausgeblutet bist, wenn ich zurückkomme.“

„Doc“, sagte sie, „bitte.“

„Du weißt genau so gut wie ich, dass es dumm ist, sich aufzuteilen.“

Das stimmte nicht zwangsläufig. Aufteilen war eine valide Taktik, speziell wenn man das Gebiet auskundschaftete. Das einzige, was dumm war, war, alleine zu gehen.

„Um etwas anzumerken“, mischte Jack sich ein, „es ist mindestens genau so dumm, hier herumzustehen und zu diskutieren.“

„Eben“, sagte sie. Sie wandte sich zum Gehen, sah noch einmal zu Heidenstein. „Bitte.“ Damit ging sie die Treppe hinab, wartete auf dem ersten Absatz und atmete erleichtert auf, als sie keine ihr folgenden Schritte hörte.

Gut.

Ja, wahrscheinlich hatte er Recht: Es war verdammt dumm von ihr, das hier allein machen zu wollen. Wahrscheinlich war es ihre eigene Dummheit, die sie innerhalb der nächsten zehn Minuten auch umbringen würde.

Sie lief schnellen Schrittes den zweiten Absatz hinab und fand sich vor einer Tür. Ein Schild war einmal an der Tür gehangen, lag jetzt jedoch von Rost überzogen auf dem Boden.

Seltsam, kam es ihr in den Sinn. So lange war das Werk auch nicht verlassen. Der Rost war ungewöhnlich. Vielleicht gab es hier natürliche Magie, die den Verfall voran trieb?

Es war egal.

In der Rechten hielt Pakhet ihre Pistole mit den hoffentlich verzauberten Kugeln. Sie streckte die linke Hand aus. Ihr ganzer Körper rebellierte. Ihr Instinkt schrie, sie solle von der Tür weggehen. Egal.

Sie legte die Hand auf die Türklinke, presste sie hinab. Die Türklinke war schwergängig, wehrte sich förmlich dagegen herunter gedrückt zu werden. Doch am Ende gab sie nach.

Pakhet öffnete die Tür und sprang gleichzeitig zur Seite.

Eine weise Entscheidung denn nur den Bruchteil einer Sekunde, nachdem die Tür gänzlich geöffnet war, schoss der dunkle Schlangenkopf daraus hervor.

Pakhet schoss. Ein Mal. Zwei Mal. Drei Mal. Vier Mal.

Der erste Schuss traf die Schlange in den Nacken, der zweite in den Rücken, beim dritten schaffte es Pakhet, nachzuregulieren und traf die Schlange knapp unterhalb der Schädelplatte, beim vierten genau in den Kopf.

Sie sprang vor, zog mit der Prothesenhand etwas ungeschickt ihr Messer und stach damit der momentan gelähmten Schlange zwischen die glühenden Augen, ließ das Messer stecken.

Dann holte sie den Beutel mit dem Puder hervor. Was sollte sie eigentlich damit machen? Wahrscheinlich hätte sie fragen sollen, aver in der gedrückten Stille in Mhambis Scheune hatte sie daran nicht gedacht. Also tat sie, was ihr am sinnvollsten erschien und streute etwas über den Kopf der Schlange.

Es funktionierte: Wie glühendes Metall fraß sich das Puder in die Haut der Schlange, bis ihr Körper zu glühen begann und nach und nach zu Asche zerfiel.

Pakhet hatte jedoch keine Zeit, ihre Arbeit zu bewundern, da sich im nächsten Moment ein Schakal über ihr materialisierte. Von ihm hatte sie jedoch weit weniger Respekt, als vor der Schlange.

In der linken noch immer den Beutel, hob sie mit der Rechten die Pistole und schoss. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Sie erwischte den überdimensionierten Schakal in der Luft. Zwei Schüsse trafen seine Brust, der dritte seinen Schädel.

Wie schon der Schakal im Kasino zerfiel auch dieser zitternd.

Pakhet wandte sich ab, lief durch die offene Tür und fand sich im nächsten Moment wieder in jenem runden Zimmer, dessen Boden mit menschlichen Überresten bedeckt war. Der Körper der Schlange war verschwunden, dafür jedoch kniete wieder der abgemagerte Mann in der Mitte. Bewegte er sich je von hier fort? Oder bewegte er einfach die Taschendimension um sich herum mit seiner bloßen Willenskraft?

Zwei Sekunden lang zögerte Pakhet. Sie hatte noch drei Schuss im Magazin. Sollte sie es austauschen, bevor das nächste Monster sie angriff? Dann wiederum, wenn sie den Mann einfach erschoss  … Sie musste hoffen, dass die Taschendimension nicht automatisch in sich zusammenfiel!

Sie machte einen Schritt nach vorne. Sie hasste es auf Leute zu schießen, die sich nicht wehrten. Wusste er überhaupt, dass sie da war? Es kam ihr feige vor. Nein! Natürlich wusste er, dass sie da war. Er hatte die Dämonen kontrolliert, dessen war sie sich beinahe sicher!

Noch ein Schritt, dann schoss sie. Doch ihr Schuss traf nicht.

Ein Wesen materialisierte sich vor dem Mann. Ein Wesen, das weder Schlange, noch Schakal war.

Es war ein großgewachsener Katzenkörper, der sich vor Pakhet zeigte. Größer, als sogar Löwe oder Tiger. Das Fell war braun, doch das erschreckende war der Kopf. Es war der Kopf eines Menschen. Eine Sphinx.

Das war ein ägyptisches Wesen, das sogar Pakhet erkannte.

Der menschliche Kopf war weiblich, jedoch glatzköpfig, das Gesicht eingefallen, aber nicht alt. Es war von Wut verzerrt und wie beide Schlange und Schakal glühten die Augen. „Shem“, zischte sie.

Pakhet zielte auf den Kopf der Sphinx, als ein Knallen sie zusammenzucken ließ.

Die Tür war hinter ihr zugeschlagen. Etwas sagte sie, dass sie hier nur herauskam, wenn sie den Magier tötete.

Sie feuerte ihre letzten zwei Schuss in Richtung des Magiers, doch die Sphinx stellte sich ihr in den Weg, fing die Kugeln ab, schrie zischten auf, wandte sich dann mit einem äußerst katzenhaften Fauchen Pakhet zu.

Erneut sprach sie, dieses Mal jedoch gebrochenes und schwer verständliches Englisch. „Verschwinde von hier, Mensch.“

Oh, wie Klischee. Einen Menschen als „Mensch“ anzusprechen. Pakhet verzog das Gesicht zu einem herablassenden Lächeln. „Ihr habt gerade die Tür hinter mir zugeschlagen.“

Wieder fauchte die Sphinx und sprang auf sie zu. Sie streckte die Klauen vor sich aus, wie es auch eine Wildkatze tun würde.

Beinahe wurde Pakhet getroffen. Der glitschige, unebene Boden machte es ihr schwer, sich zu bewegen. Verdammt, sie wollte nicht auf dem Boden landen, sie wollte ihn möglichst nicht beachten.

Sie griff nach dem Magazin an ihrem Gürtel, ließ ihr altes Magazin einfach zu Boden fallen, als die Sphinx erneut angriff.

Mit so wenig Bewegung wie möglich, trat Pakhet zur Seite, rechnete dabei jedoch nicht mit der Schnelligkeit des Katzenwesens, das zu ihr herumfuhr und nach ihr kratzte.

Doch sie hatte Glück. Die das Leder ihrer Jacke schützte sie vor den Klauen.

Sie steckte das Magazin in ihre Waffe, feuerte zwei Kugeln ab, denen die Sphinx mit einem Sprung nach hinten auswich.

Verdammt, wenn Pakhet es doch nur schaffen würde, den Magier auszuschalten. Es wäre so viel einfacher, als sich mit diesem Ungeheuer zu bekämpfen. Konnte sie die Sphinx hereinlegen? Immerhin hieß es, dass die Katzenwesen intelligent waren.

Was wäre, wenn sie  …

Sie wechselte den Beutel in ihre rechte Hand, die Pistole in die Linke, wich einem weiteren Angriff aus, indem sie sich duckte. Sie war nun hinter dem Mann in der Mitte des Raumes, vielleicht  …

Sie bemerkte, wie die Luft aus ihren Lungen wich. Es wurde schwer zu atmen.

Nicht schon wieder! Ihr war klar, dass es derselbe Zauber war, der sie auch das letzte Mal der Schlange ausgeliefert hatte. Ihre Muskeln sträubten sich gegen sie, wollten keine weitere Bewegung vollführen. Nutzlos baumte das Säckchen an ihrer rechten Hand.

Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht der Sphinx aus. Ihre Lippen spalteten sich ungewöhnlich weit. Dann öffnete sich ihr Mund. Ihr Unterkiefer klappte unmenschlich weit nach unten und zeigte zwei Reihen unmenschlich spitzer Zähne. Mit glühenden Augen und triumphierenden Jaulen sprang die Katze auf Pakhet zu.

Der Magier hatte nicht gelernt. Er hatte vielleicht nicht verstanden, was das letzte Mal geschehen war.

Ihre Prothese bewegte sich, hob sich. Der metallene Finger hob sich über den Abzug und feuerte. Ein Mal, zwei Mal  … Gesamt fünf Mal drückte sie ab, traf mit zwei Schuss die Sphinx in den Kopf, mit dem dritten in die Brust. Die Energie der Schüsse reichte, um die Sphinx zurückzuwerfen, auf den blutigen Boden fallen zu lassen.

Noch immer konnte Pakhet ihren Körper nicht bewegen. Es fiel ihr schwer zu atmen, doch ihre Prothese bewegte sich.

Sie musste nicht genau schießen, musste den Magier nur tödlich verletzten. Und so feuerte sie die letzten drei Kugeln ab. Eine verfehlte, doch die anderen beiden bohrten sich zwischen seine Schultern.

Ein Zittern lief durch seinen Körper, dann entwich Atem seiner Kehle. Langsam, fast wie in Zeitlupe kippte sein Körper zur Seite und blieb auf dem Boden liegen.

Ihre Lähmung verschwand zusammen mit der Sphinx, die zu goldenem Staub zerfiel.

Ein Beben erschütterte den Raum. Also hatte er die Taschendimension erschaffen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass die Tür sich öffnen ließ.

Pakhet lief, rannte auf die Tür zu. Wie auch beim letzten Mal schien der Weg unnatürlich lang, schien sich zu verzerren. Egal. Sie würde sie erreichen. Jeden Moment.

Weiter bebte der Boden, als sich Pakhets Hand auf die Türklinke legte.

„Dened!“, rief eine Stimme hinter ihr.

„Was?“ Unwillkürlich fuhr Pakhet herum.

Der Raum schien zu zerbrechen. Wie Scherben verschwanden die Wände in einem dunklen Nebel. Doch da, am anderen Ende des Raumes oder viel eher da, wo das Ende des Raums gewesen war, stand eine dunkelhäutige Frau, die abgesehen von einem reinen, weißen Lendenschurz nackt war. Nun, Frau. War es eine Frau? Denn während ein Frauenkopf den Hals der Sphinx geziert hatte, so saß der Kopf einer Löwin auf dem Kopf dieser Frau, die einen Bogen spannte.

Pakhet sah keinen Pfeil, sah jedoch die Sehne schnellen und dann …

[29.08.2011 – D35 – Pfeilwunde]

„Pakhet?“ Heidensteins Stimme klang unsicher, leise, fragend. Eine Spur von Panik klang in ihr mit.

Ein stechender Schmerz breitete sich bei jedem Atemzug in ihrer Brust aus. Sie hustete, blinzelte. Der Boden unter ihr vibrierte. Ein Motor brummte.

Sie lag auf der Rückbank des Transporters. Heidenstein kniete im Fußraum davor.

Sie runzelte die Stirn. Sie war desorientiert. Wie zur Hölle war sie hierher gekommen? Ihr Gehirn brauchte einige Sekunden, um soweit zu erwachen, um sich zusammenzureimen, dass jemand sie getragen hatte.

Dann jedoch stellte sich ihr die nächste Frage: Wie war sie aus der Taschendimension herausgekommen? Sie konnte sich daran erinnern, wie diese zerfallen war, nachdem sie den Magier erschossen hatte. Sie hatte versucht, die Tür zu erreichen, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dies geschafft zu haben. Warum war sie überhaupt ohnmächtig geworden?

„Alles in Ordnung?“, fragte Heidenstein und schaute sie besorgt an.

Idiot. Sie schluckte. Ihr Mund war trocken. „Ja.“ Unwillkürlich tastete sie nach ihrer Brust, nach dem Ursprung des Schmerzes. Jemand hatte ihr die Jacke ausgezogen. Wahrscheinlich Heidenstein. Doch da war kein Blut. Da war nichts. Sie schien mehr oder minder unverletzt.

„Was ist passiert?“ Die Frage war so Klischee doch für den Moment notwendig. Sie war verwirrt.

„Es gab einen Hinterhalt. Jack wurde angeschossen, aber am Ende  …“ Er schüttelte den Kopf, bemühte sich um ein Lächeln. „Sagen wir es so, sie hatten nicht besonders viele Leute da. Dann war da ein Schakal und ist verschwunden. Wir haben die Kinder gesucht, haben sie gefunden. Du bist nicht gekommen, also haben wir nach dir gesucht.“

Pakhet nickte. Sie kam sich dumm vor, fragte aber trotzdem: „Wo habt ihr mich gefunden?“

„Unten am Treppenabsatz. Vor einer Tür. Was ist passiert?“

„Der Schamane hatte seine Taschendimension hinter der Tür. Ich habe ihn getötet, die Dimension ist zerfallen und  …“ Die schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was danach passiert ist.“

Heidenstein nickte, legte eine Hand auf ihre Schulter. Für einen Moment wirkte es, als wolle er sie umarmen, aber er hielt sich zurück. „Ruh' dich aus. Wir fahren zum Krankenhaus zurück.“

„Was ist mit den anderen? Murphy, Siobhan, Jack?“

„Soll ich beleidigt sein, dass ich am letzten Platz auf der Liste stehe, Honey?“, fragte eine Stimme von vorne. Jack.

„Mach, wie du meinst.“ Sie holte tief Luft, setzte sich vorsichtig auf.

„Ich fahre“, kam Murphys Stimme von weiter vorne.

„Na, großartig“, murmelte sie.

Heidenstein ließ sich neben ihr auf den Sitz gleiten, legte wieder die Hand auf ihre Schulter, rieb sie leicht. Ach, warum war er immer so besorgt?

„Siobhan ist dort geblieben und wartet auf Chase, beziehungsweise seine Leute. Sie kümmert sich auch um die Kinder“, erklärte er.

„Beherrscht sie auch Heilmagie?“

„Sie ist sehr mächtig“, kommentierte Murphy ehrfürchtig.

Pakhet sagte dazu nichts. Sie hatte den Blitzzauber gesehen, wusste außerdem, dass nur wenige Magier ein so breit gefächertes Talent hatten, um verlässlich Zauber verschiedener Elemente zu beherrschen.

Ihr Kopf schmerzte. Ihre Brust schmerzte. Vielleicht sollte sie für den Moment weniger nachdenken und einfach nur froh sein, dass die ganze Sache ohne schwere Verletzungen auf ihren Seiten vorbei gegangen war.

Sie sah aus dem Fenster, wo die Wellblechhütten der Cape Flats am Wagen vorbeirauschten.

Es fühlte sich unwirklich an. Vor allem dank ihrer Ohnmacht. War wirklich alles in Ordnung? Hatten sie wirklich nichts übersehen? Abgesehen davon, dass es noch nicht zu Ende war. Es würde mehr Locations geben. Und wer auch immer heute getötet oder verhaftet worden war, sie war beinahe sicher, dass keiner der Anführer dieser Organisation darunter waren.

[29.08.2011 – P02 – Abschluss]

„Wir haben sechzehn Jugendliche“, erklärte Chase am Telefon. „Elf aus dem Hotel, fünf aus dem Wasserwerk.“

„Und die anderen?“ Pakhet war sich sicher, dass es mehr gewesen waren.

„Zwei sind tot“, sagte Chase. „Ich weiß nicht, was mit den anderen ist.“

Pakhet holte tief Luft und starrte stumm auf den dunklen Fernseherbildschirm. Sie hatte gewusst, dass sie nicht alle würden retten können, doch sie hasste es dennoch. „Wie viele Gefangene, wie viele Tote unter den Entführern?“ Sie wusste, dass es am Wasserwerk vier Tote und fünf Gefangene gegeben hatte.

„Gesamt zwölf Verhaftungen“, sagte Chase. „Hören Sie, eigentlich soll ich diese Informationen nicht mit Ihnen teilen.“

„Ich weiß.“

Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Es freut mich zu hören, dass Sie und Ihre Leute größtenteils unverletzt sind.“

„Danke.“

„Nun  …“ Chase verstummte, schien zu überlegen, wollte deutlich auflegen.

Pakhet zögerte für eine Sekunde, doch dann sprach sie die eine Frage aus, die sie sich bereits die ganze Zeit stellte. „Sagen Sie, Dené Bekker, war sie unter den geretteten Jugendlichen.“

„Wer?“, fragte Chase.

„Dené Bekker“, wiederholte Pakhet, ehe sie den Namen buchstabierte. Sie beschrieb das Mädchen. „Sie müsste sechzehn sein.“

„Warum fragen Sie danach?“

„Ich kenne jemand, der nach ihr sucht“, erwiderte Pakhet.

Chase zögerte. „Ich habe keine Übersicht über die Identitäten der Jugendlichen.“ Wollte er es ihr nur nicht sagen?

Stille breitete sich aus. Erneut zögerte Pakhet.

Dann war es Chase, der das Schweigen brach. „Ich kann Sie informieren, wenn ich genaueres über das Mädchen weiß.“

„Danke“, flüsterte Pakhet.

„Gern.“ Chase räusperte sich. „Danke für Ihre Mithilfe.“

„Gern.“ Sie seufzte. „Ich werde nach Jack sehen.“

„Tun Sie das.“

Sie legte auf und stand auf.

Auch wenn Jack verletzt war, hatte Heidenstein darauf bestanden, sie zuerst zu untersuchen. Jack hatte sich darüber nicht beschwert, doch während Pakhet hochgegangen war, um sich zu duschen und umzuziehen, hatte Heidenstein begonnen, sich um Jack zu kümmern.

Unruhe erfüllte Pakhet, brachte sie dazu ihren Worten nachzukommen, Schuhe überzuziehen und zur Straßenklinik hinabzugehen.

Sie fand Heidenstein und Jack in einem der Behandlungszimmer.

„Ah, du sorgst dich doch um mich, Püppchen“, meinte Jack grinsend, als sie hineinkam.

Er lehnte auf einem Stuhl zurück, während Heidenstein gerade dabei war, seine Wunde zu nähen.

„Wenn du mich noch einmal Püppchen nennst, dann garantiert nicht mehr.“ Sie warf ihm einen herablassenden Blick zu.

„Och, hab dich nicht so, Sugar Cubes.“

Sie schüttelte den Kopf. „Und, was sagt der Doktor?“

„Der Doktor sagt, dass der Patient Glück im Unglück hatte“, erwiderte Heidenstein. „Die Kugel hat den Knochen nicht verletzt und ebenso keine Arterie erwischt.“ Er nickte in Richtung einer Nierenschale, in der blutige Tupfer und eine verformte Kugel lag.

„Alles halb so wild“, meinte Jack. „Ich ziehe Kugeln magisch ab, aber sie bringen mich nicht um.“ Er grinste.

Pakhet verdrehte die Augen.

Jack sah zu Heidensteins Händen an seiner Wunde, dann zu Pakhet. Er biss kurz die Zähne zusammen, grinste im nächsten Augenblick aber wieder. „Also, Sweetheart, was ist mit unserem Date?“

Heidenstein spannte sich deutlich an, auch wenn er weiterarbeitete.

Sie seufzte. „Würdest du mir, uns, ein paar Tage der Ruhe gönnen?“

„Aber natürlich“, erwiderte Jack mit einem breiten Grinsen. „Ich bevorzuge es letzten Endes ohnehin“ – er machte eine Pause, als würde er nach dem richtigen Wort suchen – „vollkommen Einsatzfähig zu sein.“ Damit zwinkerte er ihr vielsagend zu.

Sie verschränkte die Arme, lehnte sich gegen einen Schrank. „Du sagtest 'nur ein Date'.“

Jack nickte. „Die Hoffnung stirbt zuletzt, Sweetheart.“

Heidenstein knotete den Faden, schnitt den überschüssigen Rest ab. Er seufzte und erlaubte sich, sich zu Pakhet umzudrehen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Dir soll die Hoffnung bleiben.“

[29.08.2011 – X16 – Thomas]

Es war am späten Nachmittag, dass Pakhet eine Nachricht von Chase erhielt. „Dené Bekker ist unter den Geretteten. Sie ist im DP Marais Krankenhaus. –Chase“

Sie seufzte. „Danke“, antwortete sie.

Dann hielte inne. Sie könnte die Information an Tutu oder Michael weitergeben. Doch es war nicht richtig. Es war ohnehin nie um Dené gegangen. Michael nicht und Tutu wahrscheinlich auch nicht. Selbst wenn er einer der umgänglicheren Pimps der Stadt war, so glaubte sie nicht, dass er wirklich Dené hatte finden wollen. Vielleicht war er auf Rache aus gewesen, vielleicht auf Gewinnbeteiligung.

Sie seufzte.

Wie saß schon wieder auf dem Sofa. Heidenstein hatte darauf bestanden, dass sie sich ausruhte – wo auch immer er war.

Schließlich entschied sie sich. Sie suchte eine Notiz in ihrem Handy heraus und wählte die darin hinterlegte Nummer.

Das Freizeichen erklang. Dann: „Thomas Yost?“

Für einen Moment zögerte Pakhet. Sie überlegte. Welchen Namen hatte sie ihm genannt. „Luter hier.“

Schweigen.

„Wir hatten vor einigen Tagen wegen Dené Bekker gesprochen.“

„Ah. Von der Schulverwaltung?“, fragte der junge Mann.

Pakhet antwortete nicht. Es hatte keinen Sinn weiter zu lügen. „Ich weiß, wo Dené ist.“

„Was?“, fragte Thomas verwirrt. Dann: „Wo?“

Wie sollte sie es am besten angehen? „Hör mir zu. Dené ist, als sie verschwunden ist, in Gefangenschaft von einigen sehr schlechten Menschen geraten. Sie hat seither viel mitgemacht.“

Offenbar verstand er nicht ganz, wovon sie redete. Jedenfalls schwieg er verwirrt.

„Willst du sie wieder sehen?“ Warum mischte sie sich überhaupt ein?

Thomas schwieg. „Ja“, antwortete er schließlich mit belegter Stimme.

„Bist du dir sicher? Sie hat viel mitgemacht und es wird nicht leicht für dich werden. Das letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist, dass du auftauchst und dann wieder abhaust.“ Es ging sie doch eigentlich nichts an.

„Sagen Sie mir einfach, wo sie ist.“ Thomas machte eine Pause. Er schien sich dessen bewusst zu werden, dass er unfreundlich klang. „Bitte.“

„Im DP Marais-Krankenhaus. Weißt du, wo das ist?“

„Ja, ich glaube schon“, erwiderte er.

Ihre Mutter war wahrscheinlich informiert. Oder? „Gibst du ihrer Mutter noch Bescheid?“

„Natürlich.“ Er zögerte. Beinahe klang es, als wolle er auflegen, dann aber setzte er erneut an: „Sie sind nicht von der Schulverwaltung, oder?“

„Nein“, erwiderte sie.

Thomas schwieg. „Dann  … Wer auch immer Sie sind: Danke.“

„Wir arbeiten mit der Polizei“, erwiderte Pakhet. Damit legte sie auf. Sie seufzte.

Als sie auf den Bildschirm sah, war eine neue Nachricht eingegangen. Von Michael. Er hatte auch versucht sie anzurufen, während sie mit Thomas telefoniert hatte. Am Ende hatte er es jedoch bei einer Nachricht belassen: „Ich hätte gedacht, ich könnte mich auf dich verlassen.“

Er wusste also was vorgefallen war. Wieso war sie nicht überrascht? Natürlich hatte er es gewusst. Vielleicht hatte er die ganze Zeit gewusst, wo Dené gewesen war. War der Auftrag überhaupt von Tutu gekommen?

Sie schüttelte den Kopf. Vorerst war es egal.

[29.08.2011 – D36 – Reden]

Heidenstein kam um kurz vor Sieben mit Einkäufen zurück.

„Wo warst du?“, fragte sie.

Er lächelte sie an. „Arbeiten.“ Er hob die Tragetasche. „Und einkaufen.“ Er sah zu ihr. Mittlerweile lief der Fernseher. „Ich dachte, ich koche. Was hältst du von Spaghetti?“

Sie zuckte mit den Schultern, hob ihren Arm. Ihre Prothese lud auf. Sie brauchte sie hier nicht. Eigentlich wollte sie aktuell nichts mehr tun, doch wollte sie ihn nicht noch weiter belasten. Verdammt, er hatte heute mehr getan als sie. Immerhin war sie während der ganzen Sache umgekippt und er  … Ach, er war so ein Idiot. „Soweit ich helfen kann.“

Er lächelte sie an. „Ich denke schon. Und sei es nur, dass du auf die Pfanne aufpasst.“

„Ich hole die andere Prothese“, erwiderte sie.

Heidenstein nickte und brachte die Tüte in die kleine Küche.

Pakhet ging in das Gästezimmer, wo ihre Prothese auf dem Nachttisch lag. Sie zog die Abdeckung von ihrem Arm, legte vorsichtig die Prothese an, machte sie fest.

Sie seufzte, als ihr Handy erneut vibrierte.

Beinahe rechnete sie damit, dass es wieder Michael war, doch stattdessen war es eine Nachricht von Alice.

Pakhet öffnete die Nachricht, während sie zur Küche ging. „Gerade gefunden“, stand da unter einem Bild, das offenbar ein Screenshot war. Pakhet vergrößerte und erkannte ein Screenshot von einer Webseite, Dark Web, sie kannte die Seite. Kopfgelder. Man hatte sogar ein Bild von ihr, das sie nicht erkannte.

„Was ist?“, fragte Heidenstein.

Sie lächelte matt. Wahrscheinlich sollte sie es ihm nicht sagen, aber er würde es eh erfahren. „Ich habe mir ein paar besondere Freunde gemacht.“ Sie war nicht wirklich überrascht. Nachdem die mysteriösen Köpfe hinter der Organisation schon vorher Leute gegen sie angeheuert hatten – selbst wenn es ihnen wenig gebracht hatte – war es vorhersehbar gewesen.

Heidenstein runzelte die Stirn. „Was?“

„Ich habe ein Kopfgeld“, meinte sie. „Zehntausend.“ Sie zeigte ihm das Bild.

„Dollar?“, fragte er.

Sie nickte. Das war ein verdammt respektables Kopfgeld. Die meisten normalen Leute kamen nicht über ein- oder zweitausend heraus. Dabei hatte sie kaum etwas getan. Woher wussten sie überhaupt, dass sie es gewesen war, die dahinter stand. Es sei denn  …

Sie schrieb an Alice. „Heidenstein?“

Die Antwort kam fast augenblicklich. „Nichts.“

Hatte Michael damit zu tun? Oder wussten sie anders davon? Zumindest erwähnte die Anzeige weder ihre reale Identität, noch sonstige Details über sie. Nicht einmal ihr Wagen. Sehr wohl aber ihren Codenamen, „Pakhet“. Dann wiederum konnte der Scout diesen verraten haben. Sie betrachtete noch einmal das Bild. Ja, es war aus der Arena.

Sie seufzte.

„Und jetzt?“, fragte Heidenstein und sah sie an. Eine Spur Verzweiflung lag in seinem Blick.

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Nichts. Aus den meisten dieser Anzeigen kommt nie etwas.“ Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Glaub mir, die meisten Leute, auf die ein Kopfgeld steht, leben ein langes und erfülltes Leben.“ Sie redete nicht darüber, dass die Leute hinter diesen Orten am Ende vielleicht direkt jemand anheuerten. Jemand besseren als die Dilettanten, die das Wasserwerk bewacht hatten.

Als Heidenstein sie weiterhin ansahen, seufzte sie und legte ihrerseits ihre Hand auf seine Schulter. „Hey. Es ist schon in Ordnung.“

Er schürzte die Lippen, ehe er Hackfleisch, abgepackt in eine Plastikschale, aus der Tüte nahm. „Wärst du so nett?“

Pakhet lächelte. „Ja.“ Sie holte eine Pfanne aus dem Schrank. War es nicht deprimierend, dass sie genau wusste, wo hier was stand? Sie war viel zu oft hier gewesen, verbrachte viel zu viel Zeit hier.

Schweigend machte sie sich daran, Fett in die Pfanne zu geben, den Herd anzustellen und die Pfanne zu erhitzen, während Heidenstein am Küchentisch Kräuter und Tomaten schnitt. Natürlich machte er alles selbst.

Für eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen, abgesehen vom in der Pfanne brutzelnden Fett und dem Blubbern des Wassers, das Pakhet bald darauf aufgesetzt hatte.

Erst, als Heidenstein die Tomaten mit in die Pfanne gab, hielt er inne. „Pakhet?“, fragte er.

Sie sah ihn an, hob die Augenbrauen. „Ja?“

Er zögerte. „Möchtest du darüber reden?“

Ohne groß darüber nachzudenken, tat sie, als würde sie ihn nicht verstehen. „Worüber?“

„Die Sache. Was wir gesehen haben. Diese Dämonen. Die Jugendlichen.“ Sein Blick war eindringlich, doch sie wich ihm aus.

„Wieso?“

Heidenstein räusperte sich, wie immer. „Weil ich glaube, dass es dich belastet.“ Er seufzte leise. „Weil es mich belastet.“

Sie verstand, was er meinte. Sie hasste den Gedanken daran, was sie im Casino gesehen hatte, war beinahe froh, dass sie das Zimmer oder was auch immer im Wasserwerk nicht gesehen hatte, selbst wenn es sich dadurch so unwirklich anfühlte. Dennoch zögerte sie. Reden war nicht ihre Art. Sie hatte nie über diese Dinge geredet und hatte es bisher doch ganz gut geschafft zu überleben.

„Pakhet?“, fragte Heidenstein, als sie schwieg.

Sie seufzte. „Ich fürchte, ich bin nicht die Person, die über diese Dinge redet.“ Mit dem Pfannenwender durchmischte sie den Inhalt der Pfanne.

„Bist du dir sicher?“

Sie nickte matt, griff nach dem Salz, um ihren Händen etwas zu tun zu geben. „Ja.“ Sie seuzfte. „Es tut mir leid.“

Mit einem Seufzen, zwang er sich zu einem Lächeln. „Es ist schon in Ordnung.“

[29.08.2011 – X17 – Entspannung]

Sie kochten, aßen, schwiegen. Sie schalteten den Fernseher an, starteten eine seiner DVDs. Ein Actionfilm. Ein hirnloser Actionfilm, der jedoch genug bunte Bilder bot, um das Gehirn einfach abzuschalten. Genau das, was Pakhet im Moment brauchte. Wahrscheinlich genau das, was sie beide für den Moment brauchten.

Als der Film endete war es nach neun, doch die Müdigkeit nagte bereits an Pakhets Bewusstsein. Die Schlafprobleme der letzten Tage rächten sich. Ihr war schwindelig. Vielleicht spielte auch ihre Ohnmacht von zuvor mit hinein. Verdammt, sie rätselte noch immer daran, was passiert war. Warum konnte sie sich nicht erinnern?

Eigentlich sollte sie ins Bett gehen. Eigentlich sollte sie versuchen zu schlafen, doch fürchtete sie sich vor den Alpträumen und der Dunkelheit in ihrem Zimmer.

„Ich glaube, ich werde noch ein Bad nehmen“, meinte sie und sah zu ihm. Denn auch wenn der Rest der Wohnung sehr improvisiert war, war das Badezimmer bestens eingerichtet. Wahrscheinlich war es einmal zu Therapiezwecken gebaut worden. „Wenn du nichts dagegen hast.“ Sie sah zu Heidenstein, der lächelte und ihr wieder auf die Schulter klopfte. „Mach nur. Du kannst etwas Entspannung gebrauchen.“

„Danke.“ Sie stand auf, nahm ihren Teller, brachte ihn in die Küche. Dann ging sie ins Gästezimmer. Sie hatte nicht einmal in Betracht gezogen, heute noch nach Hause zu fahren. Sie war die ganze Woche nur zwei Mal dort gewesen – um Ausrüstung zu holen. Es war beinahe schon traurig. Warum eigentlich?

Im Zimmer legte sie die Prothese wieder ab, nahm ein frisches Tanktop, eine saubere Unterhose und ging damit ins Bad.

Ein Blick in den Spiegel erschreckte sie. Sie war unglaublich blass und die Ringe unter ihren Augen waren gut sichtbar. Sie brauchte wirklich dringend Schlaf, Ruhe, doch das bedeutete, dass sie auch nachdenken musste. Sie war so dankbar dafür gewesen, die letzten Tage ihre Operation heute vorbereiten zu können. Denn es gab einige Dinge, die sie nicht in ihr Bewusstsein lassen wollte.

Sie ließ Wasser in die breite Badewanne einlaufen, die eindeutig so gebaut war, dass auch jemand mit Einschränkungen hinein konnte. Nicht dass sie davon betroffen war. Zwar fehlte ihr ein Arm, doch behinderte es sie kaum. Es war dennoch recht angenehm, eine so weite Badewanne zu haben. Schade, dass es kein Whirlpool gab. Doch wahrscheinlich wäre das albern.

Sie durchsuchte den weißen Schrank neben der Badewanne nach Seife, fand am Ende eine grünliche, nach Kräutern riechende Flüssigkeit, die wohl eine Art selbstgemachtes Badeöl war. Auch gut. Sie gab etwas davon ins noch immer einlaufende Wasser, ehe sie sich entkleidete.

Nackt ließ sie sich in die Badewanne gleiten, lehnte sich zurück und sah an die Decke. Selbst hier gab es Deckenplatten. Es erinnerte sie immer wieder daran, dass sie nicht in einer normalen Wohnung war. Dabei roch es hier oben nicht einmal nach Krankenhaus, nur nach Heidenstein. Nach Kräutern, irgendeiner Art von Lehm, Schweiß und ein kleines Bisschen nach Desinfektionsmittel.

Sie schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Sie war sich noch immer nicht sicher, was sie jetzt tun würde. Da waren wahrscheinlich noch andere Kinder in anderen Städten. Natürlich waren da andere Kinder in anderen Städten. Es gab auch andere Organisationen. Doch selbst diese Organisation, dieser Ring  … Wahrscheinlich waren da andere Kinder in anderen Städten, vielleicht auch andere Erwachsene. Sie hatte sich die Webseite nie genau angeschaut.

Sollte sie wirklich weitermachen? Hatte sie überhaupt eine Wahl?

Das Bild der Schreienden Kinder erschien vor ihrem inneren Auge. Angekettet wie Hunde. Das Blut, die Überreste von Menschen in der Taschendimension. Sie wusste, dass sie nicht mit der Dimension erschaffen worden waren. Der Typ, der das eine Mädchen vergewaltigt hatte. Das Mädchen, dass sie nicht hatten retten können. Das Mädchen, das dank dem Biss der Schlange ausgeblutet war.

Wie hatte sie all das zulassen können? Wie hatte sie zulassen können, dass das geschah? Wieso hatte sie es nicht verhindern können?

Unwillkürlich spannte sie sich an, während das Gefühl der Machtlosigkeit durch sie strömte. Sie hätte etwas dagegen tun müssen, hätte es irgendwie aufhalten müssen, hätte diese verdammte Schlange vorher besiegen sollte. Wieso hatte sie die Hilfe der alten Schamanin gebraucht?

Doch da war noch etwas anderes. Eine Furcht die dicht unter der Oberfläche ihres Bewusstseins brodelte, selbst wenn sie versuchte nicht daran zu denken: Es gab ein Kopfgeld auf ihren Kopf. Man kannte zumindest ihren Namen, ihren Codenamen und wenn sie die Information aus der Arena hatten, wahrscheinlich auch ihre falsche Identität. Man würde sie verfolgen. Damit kam sie klar. Sie hatte seit Jahren in der – vielleicht übertriebenen – Angst vor einer Verfolgung durch die Army gelebt, hatte immer gewusst, dass sie durch einen Job ins Fadenkreuz von etwaigen einflussreichen Personen geraten würde. Doch jetzt, da es real war  … Wie sollte sie sich verhalten? Was sollte sie tun? Was würde aus Heidenstein und Murphy?

Vielleicht war das der Punkt, den Michael ihr mit der verdammten Geschichte hatte klar machen wollen. Solange sie hier war, bei Heidenstein, brachte sie ihn in Gefahr. Solange Murphy Zeit mit ihr verbrachte, war er in Gefahr.

Murphy, oh Murphy. Sie war sich noch immer nicht sicher, ob der Junge einfach nur ein mächtiger Magier war oder ob es mit seinen Fähigkeiten mehr auf sich hatte, wusste doch aber, dass manch einer für jemanden wie ihn viel Geld zahlen würde. Zum einen wäre der Junge ein guter Spion mit seiner Fähigkeit, die Gestalt frei zu verändern. Zum anderen wäre er für einige kranken Hirne auch ein wunderbares Sexspielzeug. Er konnte viele Gestalten, vielleicht jede Gestalt annehmen. Würde ihn jemand kontrollieren können – zum Beispiel, indem man ihn einen Dämon einpflanzte  …

Sie vertrieb den Gedanken.

Vielleicht war sie nur paranoid. Sie wusste, dass das, was sie Heidenstein gesagt hatte, stimmte. Meistens, wenn es Kopfgeld gab, passierte deswegen noch lange nichts. Oftmals verliefen sich solche vermeintlichen Racheaktionen nach einer Weile im Sand, ohne das jemand zu Schade kam. Doch wenn jemand wegen ihr Heidenstein oder Murphy verfolgen würde, wenn einer von beiden zu Schaden kam  …

Wieso sorgte sie sich so um sie?

Sie starrte an die weißen Deckenplatten, seufzte. Sie fand keine Entspannung. Sie wusste es. Und wahrscheinlich würde es wieder eine furchtbare Nacht werden.

[29.08.2011 – D37 – Schwäche]

Die Nacht gestaltete sich schlimmer, als Pakhet es sich vorgestellt hatte. Nach ihrem Bad legte sie sich ins Bett, löschte das Licht, nur um sich unruhig hin und her zu wälzen. Es waren immer wieder dieselben Gedanken: Wie hatte sie es zulassen können? Was war heute geschehen? Warum war sie so schwach? Was konnte sie tun, um Heidenstein und Murphy zu beschützen? Was würde passieren, wenn jemand dem Kopfgeld folgte? Was war, wenn Murphy von ihnen entführt wurde, wenn man versuchte ihn so zu misshandeln, wie es mit den Kindern geschehen war? Wie viele Kinder waren noch da draußen, von Dämonen kontrolliert? Wer stand dahinter? Warum überhaupt die ganze ägyptische Symbolik? Das alles machte keinen Sinn.

Doch es waren nicht nur Gedanken, die sie quälten. Da waren auch seltsame bildliche Vorstellungen, ja, beinahe Visionen. Eine Schlange, die sich um den Körper eines jungen Mädchens wickelte, sie in den Kopf biss. Ein Löwenrudel, das ein Elefantenjunges riss. Flammen, die eine alte Stadt verschlangen und der Geruch von verbranntem Fleisch. Augen. Glühende, gelbe Katzenaugen.

Verdammt. Wurde sie denn verrückt? Wurde sie verrückt? War es vielleicht ein Fluch, den der sterbende Magier auf sie gelegt hatte?

Nein, das konnte nicht sein. Zauber überlebten nicht den Tod ihrer Schöpfer. Aber was war, wenn es ein Dämon war? Unter bestimmten Umständen konnten Beschwörer Dämonen an die physische Welt binden.

War sie besessen?

Wieder die Gedanken an Heidenstein, Murphy. Und die Frage: Wieso hatte sie es solange ignoriert?

Schweiß benetzte ihre Haut, während sie in der Dunkelheit zur Decke starrte, die sie nur mit ihrem linken Auge überhaupt sah. Auch Heidenstein war zur Bett gegangen. Das Wohnzimmer war dunkel und leer. Und sie lag hier.

Sie griff nach ihrem Handy, um auf die Uhr zu schauen. Es war gerade einmal kurz vor elf.

Vielleicht sollte sie rausgehen, in irgendeine Bar. Vielleicht sollte sie Ablenkung in den Armen eines Fremden suchen, sich solange vergnügen, bis die Erschöpfung den Schlaf wie eine Ohnmacht brachte. Einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ja, das sollte sie tun.

Es war nicht das erste Mal, dass sie in ihrem Job etwas erlebt hatte, dass sie belastete. Bisher war sie damit immer auf dieselbe Art umgegangen: Alkohol, Feiern, Sex. Einfach vergessen, was geschehen war, vergessen wer sie war und damit auch die Gedanken und Zweifel an ihrer selbst verdrängen.

Vielleicht sollte sie  … Sie hatte gleich zwei Sets besserer Kleidung hier und ihre Prothese sollte weit genug aufgeladen sein. Es wäre kein Problem ihr Auto zu nehmen, in die Stadt zu fahren  … Entweder schlief sie in einem Hotel oder in ihrem Haus. Es war ohnehin besser. Es wäre besser und doch  …

Ach, sie wurde wirklich paranoid. Sie wurde paranoid!

Der Gedanke daran, dass jemand vom Kopfgeld gehört hatte, sie überraschte, kam ihr.

Pure Paranoia.

Sicher, in der Stadt gab es mehr Söldner, als in den meisten anderen Städten, doch wer kam schon allgemeinen Kopfgeldern nach? Wer? Kaum jemand. Die meisten arbeiten auf Auftragsbasis.

Und was, wenn ihr jemand auf Auftragsbasis folgte?

Nein, es war zu früh. Es war albern so etwas zu denken. Die meisten Leute in der Stadt waren normal. Arm oder reich, dunkel- oder hellhäutig, sie waren normal und hatten allerhöchstens über Gangs mit der kriminellen Unterwelt zu tun.

Dennoch.

Sie kam nicht umher daran zu denken, was passieren könnte. Und was, wenn jemand mit dieser Organisation zu tun hatte? Was wusste sie, wo die Leute arbeiteten?

Ach, diese Gedanken waren albern! Sie wusste es. Und doch  …

Vielleicht sollte sie einfach runter gehen. Jack war noch da und er hatte offenbar Interesse an ihr. Sie könnte mit ihm schlafen, mit ihm trinken, bei ihm Ablenkung suchen. Er würde sich nicht beschweren, oder?

Doch etwas in ihr sträubte sich dagegen. Etwas in ihr mochte diese Vorstellung nicht. Sie war noch immer nicht sicher, was seine Verbindung zu dieser Art von Organisation war, warum er mit der Polizei arbeite und warum  … Sie hatte eine Vermutung, die vielleicht haltlos war, aber die Vermutung alleine reichte, sie davon abzuschrecken.

Und dann  …

Nein, das konnte sie nicht tun, oder?

Dann war da Heidenstein, der nur ein Zimmer weiter lag. Heidenstein, der sehr wohl Interesse an ihr hatte, mit dem sie schon einmal geschlafen hatte. Heidenstein, der, soweit sie wusste, ernsthaftes Interesse an ihr hatte.

Nein, das konnte sie nicht tun. Was war, wenn er es falsch verstand? Was war, wenn sie ihn verletzte?

Sie sollte nicht weiter darüber nachdenken und dennoch kam sie nicht darum.

Sie schaltete das Licht an, setzte sich auf. Mit dem Rücken an der Wand und den Beinen angezogen, dachte sie nach. Die konnte auch einfach Schlafmittel nehmen. Sie konnte einfach weiter Schlafmittel nehmen. Doch wusste sie auch, wie groß die Gefahr war abhängig zu werden. Wie leicht es passieren könnte.

Sie sah zur Wand zu ihrer Linken.

Ach, es war eine dumme Idee. Und dennoch  …

Verdammt. Sie konnte ehrlich mit ihm reden, oder? Sie konnte mit ihm reden. Es war seine Entscheidung.

Es war eine dumme Idee.

Trotzdem stand sie auf und nahm ihre Tasche vom Boden. Sie fischte ein Kondom daraus hervor, steckte es in den Bund ihrer Unterhose und ging zur Tür.

Sein Zimmer war direkt neben dem Gästezimmer. Licht schimmerte unter der Tür hervor. Er war also wach. Gut. Oder?

Sie hielt inne. Sie konnte sich immer noch abwenden. Sie konnte immer noch runter gehen, Schlafmittel holen, sich damit eine ruhige Nacht erkaufen. Vor allem, da sie nicht wusste, ob es ihr wirklich helfen würde – denn es war nicht, wie mit den anderen Typen, mit denen sie sich normal abgelenkt hatte. Wahrscheinlich würde es nur noch schlimmer werden, wahrscheinlich  …

Sie klopfte.

Stille. Dann fragte er vorsichtig: „Ja?“

Pakhet schloss für einen Moment die Augen, öffnete aber die Tür. Sie kam herein.

Sofort zeigte sich Sorge auf Heidensteins Gesicht, als er sie musterte. „Was ist los?“

Sie seufzte. „Ich kann nicht schlafen.“ Für eine Sekunde hielt sie inne. „Darf ich reinkommen?“

Heidenstein, der offenbar ein Buch gelesen hatte, legte es weg, rückte ein Stück in Richtung der Wand, um ihr Platz am Bettrand zu machen. „Klar.“

Dieser Raum war nicht wesentlich größer, als das Gästezimmer. Das bisschen Platz, das es mehr gab, war mit einem Schreibtisch vollgestellt.

Noch immer zögerte sie, kam jedoch rein, schloss die Tür hinter sich. Kurz überlegte sie, sich den Stuhl des Schreibtisches zu nehmen, entschied sich dagegen, setzte sich auf den Rand des Bettes.

Heidenstein musterte sie, während Pakhet still an die weiße Wand ihr gegenüber starrte. Warum war sie hier?

Auch Heidenstein schien sich diese Frage zu stellen. Vorsichtig setzte er sich weiter auf. „Willst du reden?“, fragte er leise.

Nein. Deswegen war sie nicht hier. Sie räusperte sich. „Ja.“

Er schwieg, offenbar darauf wartend, dass sie etwas sagte.

„Das ganze war zu viel für mich, Doc“, murmelte sie. „Ich  … Ich meine, ich weiß, dass so etwas passiert. Hier in der Stadt, überall.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht mal, was es genau ist. Wie jung die Kinder waren? Das sie offenbar gezielt nach so jungen gesucht haben?“ Noch einmal schüttelte sie den Kopf, seufzte. „Ich weiß es nicht. Vielleicht waren es auch die Dämonen.“ Warum redete sie überhaupt? Sie war nicht hier um zu reden. Was sollte reden denn helfen? Es änderte doch nichts.

Sanft legte er die Hand auf ihre Schulter. „Es ist okay, Pakhet. Es ist okay, dass es auch für dich zu viel ist. Du musst nicht immer stark sein.“

Oh, großartig. Was für ein großartiger Ratschlag! „Es ist eben nicht okay“, flüsterte sie. Vielleicht schon etwas trotzig. „Es ist eben nicht okay. Ich habe euch heute kaum geholfen.“

„Nun, du hast dafür gesorgt, dass die Dämonen nicht länger mit im Spiel waren“, erwiderte er. „Das sehe ich als ziemlich große Hilfe an.“

„Es ist albern! Ich bin einfach umgekippt.“ Ihre Stimme klang heftiger, als sie es eigentlich geplant hatte.

„Pakhet, das passiert“, meinte er. „Es ist doch alles gut gegangen.“

Sie schwieg. Natürlich sagte er so etwas. Was hatte sie auch anderes erwartet. Ach, verdammt, sie war doch nicht zum reden hier! Warum tat sie es dennoch? „Es ist noch etwas.“ Warum sprach sie weiter?

Heidenstein wartete, bis sie fortfuhr.

„Ich wusste die ganze Zeit, dass es Leute in der Stadt gibt, die Kinder, vor allem junge Mädchen entführen. Ich wusste es die ganze Zeit. Aber ich habe nichts getan. Ich habe aktiv versucht mich davon fernzuhalten, um nichts tun zu müssen. Ich hätte schon vor Jahren etwas dagegen tun können und ich habe es nie getan.“ Hatte sie das so wirklich ausgesprochen?

Doch es war wahr. Sie hatte abgemacht, all den Jobs, die mit Menschenhandel, mit Missbrauch von Kindern im Speziellen, zusammenhingen, fernzubleiben. Sie hatte sich geweigert, Kinder zu entführen, hatte sich geweigert, dergleichen in ihre Welt zu lassen, hatte in selbstgewählter Ignoranz gelebt und allein deswegen  …

„Und?“, fragte Heidenstein nach einigen Sekunden des Schweigens. „Glaubst du, es geht mir oder irgendjemanden anders? Die meisten wissen davon und tun nichts und was am Ende wichtig ist, ist doch, dass du jetzt versucht hast etwas zu tun.“ Er hielt inne. „Dass du etwas getan hast.“

Sie presste die Lippen aufeinander. „Und was hat es geändert?“

„Dass sechzehn Jugendliche frei sind“, erwiderte er. „Dass sechzehn Jugendliche vielleicht eine Chance haben.“ Er rückte näher an sie heran. „Ist das nicht genug?“

Sie atmete tief durch. Vielleicht sollte es genug sein. „Ich verstehe nicht, was dort geschehen ist, Doc?“, flüsterte sie. „Die Dämonen  … Irgendetwas daran macht keinen Sinn. Und dann  … Es sollte keinen Unterschied machen. So etwas sollte nie Sinn machen und  …“ Mit zittriger Hand fuhr sie sich durchs Haar, seufzte noch einmal schwer. Warum redete sie überhaupt.

„Du willst sie weiter jagen, oder? Die Leute dahinter“, stellte Heidenstein fest.

Sie nickte. „Wenn Alice etwas herausfindet  … Da sind noch andere. Noch andere Kinder, Jugendliche. Noch andere Dämonen. Noch andere  …“ Sie schüttelte den Kopf. Es war albern. Sie konnte dagegen nichts tun. Ohne die Hilfe der Polizei wäre sie auch dieses Mal aufgeschmissen gewesen. Sie hatte doch kaum etwas getan.

„Du weißt, dass du auf meine Hilfe zählen kannst“, sagte Heidenstein.

Sie machte ein Geräusch, das sie selbst kaum beschreiben konnte. „Natürlich weiß ich das, du Idiot.“ Sie senkte den Blick, schüttelte nur den Kopf. Dann holte sie tief Luft und zwang sich ihn anzusehen. Verdammt. „Doc  …“

Er sah sie überrascht an. Er schien zu verstehen, dass sie über etwas anderes reden wollte, zögerte. „Ja?“

Sie seufzte. „Die Wahrheit ist, dass das nicht ganz ist, warum ich hergekommen bin.“

Seinem Gesichtsausdruck nach, verstand er sofort, verdrängte den Gedanken aber. Er runzelte die Stirn, musterte sie. Sein Blick glitt über ihr Gesicht. Er war verwirrt. Vielleicht war der Themenwechsel zu plötzlich gewesen. Vielleicht  …

Sie suchte seinen Blick. „Die Wahrheit ist, dass ich  … Ich kann nicht schlafen und ich  …“ Sie schürzte die Lippen. Es fühlte sich so falsch an, danach zu fragen. „Die Wahrheit ist, dass ich etwas Ablenkung gebrauchen kann.“ Sie musterte ihn, hoffte das er verstand.

Er starrte sie wortlos an, die Stirn noch immer gerunzelt. Sein Atem war leicht unregelmäßig. Seine Gedanken waren klar an seinem Gesicht abzulesen: Er musste sie falsch verstanden haben oder nicht? „Pakhet“, flüsterte er schließlich, sein Tonfall zweifelnd, und hob die Hand von ihrer Schulter zu ihrer Wange.

Sie ließ ihn gewähren. Sie wusste, dass sie mehr sagen sollte, dass sie es deutlich machen sollte, dass sie  … Doch für den Moment brachte sie kein Wort hervor.

Heidenstein schluckte, dann beugte er sich vorsichtig vor, um sie zu küssen.

Sie schloss die Augen, erwiderte seinen Kuss, der so viel sanfter war, als die Küsse der Männer, mit denen sie meistens schlief.

Ihre Lippen trennten sich und für einen Moment starrte er sie bloß an. Sie erwiderte seinen Blick, schwieg, legte ihre Hand sanft auf die Seite seines Halses.

Keiner von ihnen sprach, stattdessen küssten sie einander erneut. Sie ließ es zu, dass er die Arme um sie legte, dass er sie zu sich aufs Bett zog, schob ihre Hand unter das weite T-Shirt, das er trug.

Sie brauchte das hier. Ablenkung. Sex. Und wenn sie ehrlich war auch seine Nähe, seine Wärme und das Wissen zumindest für eine Nacht nicht allein zu sein.

[29.08.2011 – D37 – Schwäche] [Zusatz]

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

[30.08.2011 – D38 – Vorzüge]

Als Pakhet am nächsten Morgen erwachte war sie nur für einen Moment verwirrt, als sie sich in einem fremden Bett wiederfand. Anders als bei dem Missgeschick in ihrem Urlaub, hatte sie sich in der vergangenen Nacht bewusst dazu entschieden, zu Heidenstein zu kommen.

Sie hatte nur nicht beabsichtigt, die gesamte Nacht bei ihm zu verbringen.

Sie schloss die Augen, bemühte sich, sich wieder zu entspannen, noch etwas zu schlafen. Sie war noch immer müde, auch wenn sie in der vergangenen Nacht besser geschlafen hatte, als erwartet. Sie hatte beinahe die gesamte Nacht durchgeschlafen, war nur zwei Mal von Albträumen aufgewacht, an die sie sich nun nicht mehr erinnerte.

Sie hätte spätestens beim ersten Mal aufstehen sollen …

Irgendwie schaffte sie es, für eine Weile wieder in einen wohligen Halbschlaf zu verfallen. Es war warm im Bett, angenehm, auch wenn sie die eigene Nacktheit nicht ganz ausblenden konnte.

Wie lang lag sie so dort? Sie war sich nicht sicher. Irgendwann schaffte sie es jedoch nicht mehr Heidenstein ignorieren, der neben ihr lag.

Er hielt genug Abstand, hatte sie genug respektiert, sich nicht an sie zu kuscheln, hatte jedoch seine Hand an ihre Schulter gelegt, als wolle er sie irgendwie berühren.

Durch die Lamellen des Fensterrollos fiel gräuliches Licht. Sie konnte das Prasseln von Regen hören. Wieso regnete es eigentlich immer, wenn sie neben ihm aufwachte?

Sie seufzte leise und drehte sich zu ihm um, auch wenn es hieß, dass sie sich auf ihre linke Seite drehen musste.

Heidenstein sah sie an, sein Blick sanft. Er lächelte matt, unsicher. „Hey.“

Ach, verdammt, was sollte sie sagen? „Hast du gut geschlafen?“ erschien als eine seltsame Frage, da sie das Bett geteilt hatten. Sie wusste nicht, wo man mit so einer Situation umging. Sie hatte immer vermieden an den Seiten ihrer One Night Stands zu schlafen und selbst wenn hatte jeder gewusst, woran sie waren. Das letzte Mal, dass sie – abseits des Missgeschicks – außerhalb eines One-Night-Stands mit jemanden geschlafen hatte, war lange her. So blickte sie ihn unsicher an. „Hey.“

Pakhet verfluchte sich dafür, in der letzten Nacht ihrer eigenen Schwäche nachgegeben zu haben. Was sollte sie jetzt tun? Würde er es verstehen? Sie war nicht deutlich genug gewesen, oder?

Heidenstein hob seine Hand, legte sie auf ihren Arm, strich sanft über ihre Haut.

Sollte sie seine Hand wegschlagen?

Sie wusste nicht. Sie sollte etwas sagen. Was? Was nur?

Schließlich holte sie tief Luft und setzte sich auf, sich zu sehr ihrer Nacktheit bewusst. „Ich brauche einen Kaffee.“

Ein mattes Lächeln zeigte sich wieder auf seinem Gesicht. „Natürlich.“

Ihr Blick glitt über den Boden. Ihre Nachtbekleidung, Tanktop und Unterhose, lagen vor dem Bett, genau so wie das T-Shirt und die Boxershorts, die er getragen hatte, als sie vergangene Nacht herübergekommen war.

Wie hatte sie überhaupt so schlafen können? Wie konnte sie so überhaupt entspannt sein?

Sie streckte ihre Hand nach dem Tanktop an und zog es sich über, stand dann auf und schlüpfte in ihre Unterhose. „Ich werde mich richtig anziehen.“ Sie sprach nur, um irgendetwas zu sagen.

Auch er setzte sich auf. Die Narben von der Granate zeichneten sich weiß auf seinem Rücken ab. Genau so wie andere Narben an Armen und Brust. Er hatte sich doch ein paar kleinere und größere Verletzungen zugezogen, seit er mit der Söldnerei angefangen hatte. Dabei war es nicht so lang und sie konnte sich nicht daran erinnern.

Er seufzte, lächelte. „Ich sollte mich wohl auch anziehen.“

Sie nickte. „Solltest du.“ Damit trat sie zur Tür. Sie verfluchte sich, hielt jedoch nicht inne und ging ins Gästezimmer hinüber, um sich ein richtiges T-Shirt – schwarz, wie das meiste, das sie besaß – und eine Jogginghose anzuziehen- Dann zog sie die Prothese an, befestigte sie und bewegte kurz, vorsichtig die Finger. Endlich kam sie in die Küche, begann Wasser in die Kaffeemaschine zu füllen.

Dämmriges Licht fiel durch das Küchenfenster. Draußen war es wolkig. Es regnete, wie sie schon zuvor festgestellt hatte. Offenbar war die Trockenzeit langsam zu Ende.

Sie füllte das Kaffeepulver in einen Filter, steckte diesen in den Trichter und machte dann die Kaffeemaschine an.

„Na?“, erklang Heidensteins Stimme von der Küchentür.

Unsicher sah sie zu ihm. Was sollte sie ihm jetzt sagen? Er wollte sicher über die letzte Nacht reden. Dabei gab es eigentlich besseres zu besprechen.

Er kam zu ihr hinüber, holte zwei Tassen aus dem Schrank. „Willst du etwas essen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Erst einmal nicht.“ Sie hatte keinen Appetit.

Heidenstein nickte nur, setzte sich an den kleinen Küchentisch. Auch wenn Pakhet mit dem Rücken zu ihm stand, den Blick auf das kurze Stück Arbeitsplatte zwischen Kaffeemaschine und Waschbecken fixiert, war sie sich sicher, dass er zu ihr sah. Sie konnte seinen Blick förmlich in ihrem Nacken spüren. Er sagte jedoch nichts und es war ihr nur Recht.

Endlich war die Kaffeemaschine durchgelaufen. Vorsichtig nahm Pakhet die gläserne Kanne aus der Maschine. Einzelne Tropfen fielen zischend auf die Heizplatte darunter.

Pakhet teilte den Kaffee auf die beiden großen Tassen auf, stellte die Kanne dann zurück, füllte mit einer weiteren Tasse etwas Wasser nach, stellte sie noch einmal an.

Eine der Tassen stellte sie vor Heidenstein. Dann setzte sie sich mit der anderen ihm gegenüber.

Sie trank.

Er trank.

Ihre Blicke trafen sich, auch wenn er weiterhin zögerte.

Sollte sie etwas sagen? Wenn ja: Was?

Sie trank.

Schließlich räusperte er sich. „Letzte Nacht …“, begann er unsicher.

Pakhet zwang sich, seinen Blick zu erwidern. Ihre Tasse hatte sie fast komplett geleert. Hinter ihm prasselte Regen gegen das Fenster. „Doc.“ Sie sprach langsam, unsicher. Was sollte sie genau sagen? „Ich will nicht, dass du es falsch verstehst.“ Das war eine sehr ungenaue Art, sich auszudrücken.

Nun war er es, der ihrem Blick auswich. „Dann liege ich richtig in der Annahme, dass es 'nur Sex' war?“ Etwas Gekränktes lag in seiner Stimme.

Verdammt. Sie wollte ihn nicht verletzen. Gleichzeitig verfluchte sie sich dafür, dass es sie so scherte.

Ihr Blick wanderte zur Kaffeemaschine. Es war genug Pulver im Filter, dass auch die zweite Kanne noch mit dunklem Kaffee gefüllt war. „Doc“, begann sie erneut. Sie musste ihn ansehen, doch es kostete sie Überwindung. Sie war nicht gut in diesen Sachen. „Letzte Nacht …“ Sie seufzte. „Es war Ablenkung. Wir haben es beide gebraucht, oder?“

Heidenstein zögerte. „Ja“, gab er schließlich zu. „Wahrscheinlich.“ Dann seufzte er.

Kaffee tropfte in die Kanne.

Pakhet leerte ihre Tasse.

Sie sah zu Heidenstein. Er wich ihrem Blick aus. Sie wandte sich zur Kanne und spürte Heidensteins Blick.

Oh, verdammt.

Erneut erhob sie sich, ging zur Kaffeemaschine. „Doc.“ Was wollte sie sagen? Sie stellte die Tasse ab, drehte sich zu Heidenstein um, lehnte gegen die Arbeitsfläche. Sie musste ihn ansehen. „Du bist für mich ein Freund. Ein sehr guter Freund.“ Hatte sie das nicht schon einmal gesagt? „Du bist jemand, den ich sehr vertraue, jemand, der mir wichtig ist.“ War sie wirklich so ehrlich? „Aber ich … Ich will dich nicht verletzen. Aber ich, für mich …“ Ach, verdammt. „Letzte Nacht war schön. Es war, was ich gebraucht habe. Und … Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht andere Nächte geben wird, in denen ich so etwas brauche.“

Er starrte sie an. Er schien nicht sicher zu sein, was er denken sollte.

„Ich …“ Sie brach ab, ordnete ihre Gedanken, setzte dann erneut an. „Wir könnten Freunde mit Vorzügen sein?“ Damit drehte sie sich um. Sie wollte ihm Zeit zum Nachdenken geben, wollte ihn währenddessen nicht ansehen. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?

Als die Kaffeemaschine zischend verkündete, durchgelaufen zu sein, füllte sie sich Kaffee nach, trank, obwohl die bittere Flüssigkeit noch brühend heiß war.

Schließlich räusperte sich Heidenstein. „Ich nehme an, dass …“ Ein weiteres Räuspern. „Ja. Können wir.“ Er seufzte.

Erleichtert atmete sie auf. Sie drehte sich zu ihm um, lächelte. „Gut.“ Sie nahm die Kanne mit, stellte sie auf den Tisch.

Heidenstein stand auf, ging zum Kühlschrank, holte sich Kondensmilch.

So saßen sie da. Schweigend. Trinkend.

„Hast du eigentlich noch einmal über mein Angebot nachgedacht?“, fragte er dann.

War es nicht seltsam, dass sie wusste, worüber er sprach? Warum brachte er es jetzt auf? Doch sie seufzte. Ja, sie hatte in der letzten Woche mehr als einmal darüber nachgedacht, wie albern es war, dass sie überhaupt noch ihr Haus bezahlte und doch die meiste Zeit hier war. „Ja.“

Er wartete, sah sie an.

„Bist du dir sicher, dass du nicht die falschen Vorstellungen bekommst?“ Sie musterte ihn lange. „Ich meine, wenn ich hier einziehe.“

Heidenstein winkte ab. „Ich habe dich absolut verstanden, Pakhet. Freunde mit Vorzügen. Mehr nicht.“ Sein Blick suchte ihren. „Ich verstehe. Ich will nicht mehr. Wirklich. Ich denke nur, dass gerade wenn du mit dieser ganzen Sache weitermachst … Du könntest jemand gebrauchen, der für dich da ist.“

Wieso hasste sie es so sehr, dass er Recht hatte? Sie starrte auf die halbleere Tasse vor sich. Ringe bildeten sich auf der Oberfläche, als sie ihr Gewicht leicht verlagerte. „Wenn ich mit der Sache weitermache und hier lebe, könnte dein Krankenhaus Ziel eines Angriffs werden. Willst du das wirklich riskieren?“

Er holte tief Luft, dachte offenbar darüber nach. „Ich denke, dass die meisten keine Krankenhäuser angreifen.“ Wahrscheinlich redete er sich das bloß ein. „Und dass du gerade, wenn dich jemand angreift, Unterstützung gebrauchen kannst.“

Pakhet schloss die Augen, zählte innerlich bis zehn, ohne sicher zu sein, warum überhaupt. „Du bist ein verfickter Idiot“, murmelte sie. Dann öffnete sie die Augen.

Er lächelte. „Ich weiß. Du hast es oft genug gesagt.“

„Weil es wahr ist“, erwiderte sie grummelnd und trank.

„Was macht mich denn zu einem Idioten?“, fragte er.

„Dass du treudoof bist, dass du offenbar an das gute in mir glaubst, dass du bereit bist alles für eine irrsinnige Aktion zu riskieren und für einen Freund?“ Sie klang zu aggressiv, doch Heidenstein lachte nur leise.

„Dann qualifizierst du dich aber auch als Idiot.“

Pakhet seufzte leise. „Das habe ich nie ausgeschlossen.“ Sie trank wieder, fixierte ihn über die Tasse hinweg. „Ich werde heute wohl an deinem Sicherheitskonzept weiterarbeiten.“

Heidenstein lachte wieder. Was auch immer daran so komisch war. Doch schien es kein humorvolles Lachen zu sein. „Wirst du nicht“, sagte er sanft. „Du wirst dich heute entspannen.“

„Sollte ich nicht die Arbeit machen, für die du mich bezahlst?“, erwiderte sie.

„Nicht, wenn ich es verbiete.“ Er sah sie an, lächelte sanft, zögerte, streckte seine Hand nach der ihren aus. „Entspann dich heute. Bitte. Lass uns gemeinsam etwas machen.“

Sie wollte widersprechen, doch er unterbrach sie, bevor sie den Mund öffnen könnte.

„Als Freunde.“ Er seufzte leise. „Mit Vorzügen.“

[30.08.2011 – D39 – Flüche]

Der Tag verging langsam. Pakhet wusste nicht, was sie tun, was sie denken sollte. Es war alles zu viel. Viel zu viel. Die Ereignisse vom Vortag, die Ereignisse der Nacht, das Kopfgeld, Heidenstein. Heidenstein, der im Moment neben ihr auf dem Sofa saß.

Wie immer respektierte er sie. Er saß nicht zu nah. Ließ ihr Platz. Saß neben ihr, ein Schreibblock auf dem Schoss. Er kritzelte irgendwas, während der Fernseher im Hintergrund lief.

Gern hätte sie sich auf den Fernseher konzentriert, doch ihr fiel die Ruhe. Immer wieder begannen ihre Gedanken zu wandern.

Was sie in der Taschendimension gesehen hatte: War es real gewesen? Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Vielleicht hatte sie fantasiert. Sie war sich nicht sicher. Es wirkte so irreal. Doch noch immer schmerzte ihre Brust etwas. Vielleicht war es wirklich ein Fluch. Konnte sie sicher sein?

Ihr Blick wanderte zu Heidenstein. Dann wieder zum Fernseher. Sie wollte nicht mit ihm darüber reden. Er würde sich nur unnötig sorgen. Er sorgte sich ohnehin schon. Er war ein Idiot. Er sorgte sich zu sehr.

Sie seufzte. Räusperte sich. Verfluchte sich selbst dafür, als er aufsah.

„Was ist?“, fragte er. Seine Stimme war besorgt. Natürlich. Idiot.

„Gestern“, begann sie. Sie schürzte die Lippen. „Kennst du dich mit Flüchen aus?“

„Was ist los?“ Er runzelte die Stirn.

Pakhet schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich habe nur in dieser Taschendimension etwas gesehen und ich bin mir nicht sicher, was es war.“

Ein kurzes Schweigen. Heidenstein musterte sie. „Was hast du genau gesehen?“

Die Wahrheit war: Sie wusste es nicht einmal mehr sicher. „Da war eine andere Gestalt. Nicht nur der Magier. Jemand mit“ – sie runzelte ihrerseits die Stirn – „einem Bogen, glaub ich. Ich bin nicht sicher.“

„Und dann was?“

Er war viel zu besorgt.

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich es auch nur geträumt.“ Sie seufzte. „Tut mir leid, dass ich dich damit belaste. Es war wahrscheinlich nur ein Traum.“

Sein Blick war zweifelnd.

„Wirklich, Doc, mach dir deswegen keine Sorgen“, erwiderte sie. „Es tut mir leid. Ich … Ich komm nur nicht umher, immer wieder daran zu denken.“

Heidenstein streckte die Hand aus und schaltete den Fernseher auf lautlos. „Wenn du darüber sprechen willst, bin ich für dich da.“

„Ich weiß.“ Sie seufzte.

„Also?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist schon in Ordnung. Es war nur alles sehr viel. Ich brauche denke ich einfach etwas Ruhe und etwas …“ Fast hätte sie „Ablenkung“ gesagt, doch sie wollte nicht, dass er es falsch verstand.

Für einen Moment verharrten seine Augen auf ihr, dann schaltete er den Fernseher ganz aus. „Lass uns etwas Essen gehen.“

„Was?“

„Lass uns etwas essen gehen“, meinte er. „Ich habe Hunger. Und … Ich glaube, es tut dir nicht gut, hier herumzuhocken.“ Er schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln.

„Aber du weißt, dass ich …“ Warum sagte sie das überhaupt?

„Das Kopfgeld?“

Er war gut. Sie nickte.

„Du weißt, dass nicht jeder versuchen wird, dich zu töten.“

„Ja.“ Es fühlte sich nur so seltsam an. Dabei hätte sie damit rechnen sollen. „Ich weiß.“ Dennoch zögerte sie. „Du bist dir sicher, dass du es nicht falsch verstehst?“

„Was?“, fragte er.

„Essen gehen?“

„Waren wir nicht auch vorher schon gemeinsam essen?“ Er lächelte. „Ich habe schon verstanden, Pakhet. Freunde mit Vorzügen.“ Er verdrehte die Augen und streckte ihr dann die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.

Sie verzog das Gesicht, stand ohne seine Hilfe auf. Wahrscheinlich hatte er Recht. Idiot. „In Ordnung.“

[31.08.2011 – A02 – Online]

Pakhet verfluchte sich dafür, dass sie dennoch die kommende Nacht bei ihm verbrachte. Auch wenn sie es ihm nicht sagte: Im Moment fürchtete sie sich davor, allein zu sein. Zu viele Gedanken, zu viele Bilder, die auf sie einströmten. Es half ihr, in seiner Nähe zu sein. Sie hasste es. Noch mehr hasste sie, dass er es wahrscheinlich ahnte.

Sie trainierte am nächsten Tag. Trainierte und machte einige Anrufe.

Vor allem rief sie Alice an, in der Hoffnung, dass sie genauere Informationen hatte. Irgendetwas, das ihr half.

„Vielleicht sollte ich auch etwas für die Anrufe nehmen“, meinte die Hackerin – oder wie auch immer man sie nennen sollte. „Ich bin gut, aber der Kram ist gut versteckt.“

„Hast du noch etwas zu den Kopfgeldern? Irgendwelche Infos? Antworten? Irgendwas?“, fragte Pakhet.

„Man. Pakhet. Ich hatte dich nicht als so panisch eingeschätzt.“ Alice klang amüsiert. „Ich dachte du bist viel zu cool dafür.“

„Ich mache mir Sorgen um den Doc. Um Heidenstein, aber auch um Murphy und euch.“

„Wie rührend.“ Alice kicherte. Dann ließ sie ein Seufzen hören. „Aber nein. Ich habe nichts neues. Nicht wirklich. Kopfgeld steht. Keine Antworten. Kein weiteres Kopfgeld für jemand anderes, bevor du fragst. Nur du. Noch ein paar Bilder. Soweit nichts zu deiner Adresse. Auch nicht zum Krankenhaus. Könnte weit schlimmer sein.“

Pakhet schwieg. Sie schürzte die Lippen. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.

„Wenn du magst, kann ich zusehen, dass ich ein wenig falsche Info streue.“ Alice klang gelangweilt. „Kostet natürlich extra.“

Natürlich. Pakhet war nur froh, über die vergangenen Jahre einiges angespart zu haben. „In Ordnung.“ Sie war dem Mädchen nicht wirklich sauer. Sie hätte vor einem Jahr wahrscheinlich noch ähnlich gehandelt.

„Okay.“ Alice seufzte. „Ich denke, ich werde noch ein paar Tage brauchen, um Informationen über die Webseite zu sammeln. Wie gesagt. Proxys. Daten sind gut verschlüsselt. Ich muss aufpassen, dass ich nicht auf einmal zu tief gehe.“

„Zu tief?“

Alice machte einen verärgerten Ton. „Ach. Nichts. Ich muss halt aufpassen, dass ich mich nicht in Probleme bringe, ja? Deswegen kann ich nicht so schnell arbeiten, wie ich gern würde. Sei froh, dass du für die Daten zahlst, nicht für die Stunden.“

Ja, vielleicht sollte sie wirklich Murphy für den Tipp danken. „Notiert.“

„Nun, Madame“, meinte Alice, „sieh zu, dass du keine Panikattacken entwickelst.“

„Sicher“, erwiderte Pakhet trocken. „Danke, Alice.“

Das Mädchen machte nur ein weiteres, verächtliches Geräusch. „Klar.“ Dann legte sie auf.

Pakhet lehnte sich auf dem Sofa zurück. Sie hasste es. Sie wollte endlich was tun. Sie wollte nicht riskieren, dass es jemand auf Heidenstein anlegte. Sie wollte nicht länger mit dem Gedanken leben, dass irgendwo weitere Jugendliche, Kinder, misshandelt wurden. Sie wollte wissen, wer dahinter stand, um den- oder diejenige zu töten und damit die Sache ein für alle Male zu beenden.

Dabei wusste sie, dass es wahrscheinlich nicht so einfach sein würde. So einfach war das wirkliche Leben nie.

[31.08.2011 – R05 – Misstrauen]

Es war Abend, als Pakhet Handy noch einmal klingelte. Sie rechnete mit Jack, der ihr bereits eine Nachricht geschrieben hatte, vielleicht auch mit Alice, Murphy oder Chase, war überrascht, als sie Roberts Namen auf dem Bildschirm sah.

„Ja, Rob?“, fragte sie.

„Hey, Jo. Alles in Ordnung.“ Eine Unsicherheit lag in Roberts Stimme, die sie nicht ganz zuordnen könnte.

„Ja.“ Eine Lüge. „Natürlich. Nur Stress.“

„Arbeit?“ Wie immer klang seine Stimme distanziert. Wie immer, wenn sie über ihren Job sprachen.

Nicht ganz. „So etwas in der Art.“

„Oh.“ Mehr sagte Robert nicht. Er wirkte eindeutig verunsichert. Pakhet wusste, warum. Sie hatte sich seit dem Urlaub erst einmal mit ihm getroffen. Doch sie konnte ihn nicht in die ganze Sache mit hinein ziehen. Was sollte sie ihm auch sagen? Er war zu normal. Er sollte sich keine Gedanken über misshandelte Kinder und den Sklavenmarkt machen.

„Ich wollte dich nur fragen“, meinte er schließlich und bestätigte damit ihren Gedanken, „ob wir uns mal wieder treffen können.“

Ach, was sollte sie sagen? Was konnte sie denn tun, um ihn zu beschützen? Wenn jemand hinter ihr her war und ihn sah … Sie wollte es nicht riskieren. Es war schlimm genug, dass sie Heidensteins Leben riskierte. „Ich …“ Sie schürzte die Lippen. „Vielleicht in zwei Wochen.“ Sie seufzte. „Tut mir leid, Rob.“

„Alles in Ordnung?“

Nein. Nichts war in Ordnung. Doch sie konnte es ihm nicht sagen. „Ja. Wie gesagt. Viel Stress. Die Arbeit …“

„Ja.“ Er seufzte. „Überarbeite dich nicht, ja?“

„Ich bemühe mich“, erwiderte sie. „Ich muss auch wieder. Wir hören uns, ja?“

Er zögerte. „Ja.“

„Es tut mir leid, dass es in letzter Zeit so hektisch bei mir ist.“

„Schon gut.“ Noch ein Seufzen. „Wir hören uns.“

„Bis dann.“ Sie legte auf und sah für eine Weile auf den Bildschirm ihres Handys. Sie fühlte sich ihm gegenüber so schlecht. Dabei war er der einzige Freund, den sie hatte, der sie wirklich kannte. Der einzige, der von Joanne Snyder wusste.

Doch Joanne war tot …

Pakhet seufzte. Sie öffnete den Nachrichteneingang ihres Handys und rief die Nachricht von Jack auf. Er hatte Recht. Sie schuldete ihm wirklich noch das Date.

[08.09.2011 – D40 – Eifersucht]

Pakhet zog sich die Kniestrümpfe über, sich sehr deutlich dessen bewusst, dass Heidenstein sie beobachtete. Ja, vielleicht hatte sie die Tür sogar mit Absicht offen gelassen.

„Du nimmst die Sache mit dem Date ernst, hmm?“, meinte er, während er in der Tür ihres Zimmers lehnte. Sein Blick war gen Boden gerichtet. Es war ihm peinlich.

„Ich habe Jack ein Date versprochen und er wird ein Date bekommen.“ Sie befestigte die Strümpfe und strich dann das eigentlich viel zu kurze Kleid glatt. Ganz sicher war sie sich nicht, warum sie sich so herausgeputzt hatte. Sie hatte an Jack kein Interesse, nicht zuletzt, da sie noch immer ein ungutes Gefühl hatte, wenn es um seine Vergangenheit ging. Zwar wusste sie nicht, ob sie richtig lag, doch war sie nicht ganz sicher, ob sie es herausfinden wollte.

Dennoch: Sie war eine Frau ihres Wortes. Sie würde das Date ernst nehmen. So ernst wie es ihr möglich war. Ihr fehlte die Erfahrung mit diesen Dingen. Immerhin war sie vor mehr als zehn Jahren das letzte Mal auf einem ernsten Date gewesen. Sie wusste nicht, wie man auf ein ernsthaftes Date ging. Die einzigen Dates, die sie seither gehabt hatte, waren für den Job gewesen. Sie war nicht als sie, nicht als Pakhet dahin gegangen.

Das Kleid hatte sie auch nur aus diesen Gründen. Es war knapp, schwarz und ließ den Rücken frei. Sie fühlte sich unsicher. Es gab wenig Schutz und wenig Möglichkeit, Waffen zu verstecken. Zumindest fiel der Rock locker, weiter, hatte einige Falten, die reichten, um zumindest ihre kleine Sig Sauer und ein kurzes Messer zu verdecken.

Sie richtete den Rock, sah zu Heidenstein. „Was denkst du. Ernsthaft genug?“

Heidenstein räusperte sich unbeholfen. „Ich würde sagen“, murmelte er. „Ja.“

Zu ihrer eigenen Überraschung lächelte sie matt. „Gut.“

Sie öffnete den Kleiderschrank, in dem ohnehin viel zu viel ihrer Kleidung hing, und nahm eine dünne, helle Lederjacke heraus. Die einzige der Art, die halbwegs zum Kleid passte. Auch nahm sie ein Paar Schuhe, deren Absatz hoch genug für ein „ernsthaftes Date“ waren, aber niedrig genug, als dass sie halbwegs würde laufen können.

Mit beidem in der Hand ging sie an Heidenstein vorbei, setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch, um die Schuhe anzuziehen.

Nach einem Moment drehte Heidenstein sich um. Wieder räusperte er sich. „Sag, Pakhet, wie ernsthaft willst du das Date nehmen?“

Sie blickte auf. Natürlich verstand sie die Frage. Sie hatte selbst schon darüber nachgedacht. „Nun, Jack sagte, er will nur ein Date.“ Sie schürzte die Lippen. „Aber wenn er doch drauf bestehen sollte …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich stehe zu meinem Wort.“

„Aber wenn ihr es so abgemacht habt …“ Heidenstein kam hinüber, setzte sich auf das zweite Sofa.

Pakhet schaute ihn an. „Ich lege es nicht darauf an, mit ihm zu schlafen“, erwiderte sie. „Ich habe kein Interesse an Jack.“ Warum erzählte sie es überhaupt Heidenstein? Es ging ihn nichts an. „Aber er hat sein Leben für diese Sache riskiert. Ich bin ihm dankbar.“

Heidenstein nickte.

Mit einem Seufzen stand sie auf und warf sich die Jacke über. „Du bist nicht eifersüchtig, oder?“ Die Frage rutschte ihr heraus. Sie verfluchte sich im selben Moment. Denn sie kannte die Antwort nur zu gut.

Wieder räusperte er sich. „Vielleicht“, erwiderte er und sah sie an. „Ja. Vielleicht bin ich eifersüchtig.“

Sie hielt sich davon ab zu fluchen. „Ich werde wahrscheinlich erst nach Mitternacht zurück sein.“

Heidenstein nickte. „In Ordnung. Hab Spaß.“ Er wirkte nicht aufrichtig.

Pakhet seufzte. „Ich versuche es.“ Dann ging sie.

[08.09.2011 – J05 – Dating]

Pakhet fühlte sich nackt. Weder Kleid, noch Jacke würden großen Schutz vor Schüssen bringen. Ja, sie war in einem besseren Viertel. Hier würde es niemand auf sie anlegen. Ja. Wenn würde man ihr auf dem Weg vom oder zum Krankenhaus auflauern. Ach, verdammt, niemand wusste davon. Niemand wusste, dass sie hier war. Niemand wusste, wo sie lebte. Niemand wusste von Heidenstein oder Jack.

Dennoch war sie angespannt, als sie zum Ende des Parkplatzes hinter dem Restaurant vorgeschlagen hatte. Vielleicht hätte sie besser etwas, in einer städtischen Gegend vorschlagen sollen. Doch nach allem, was sie wusste, war La Colombe das Restaurant für ein Date. Und so viel war sie Jack schuldig, oder? Es war ein ernsthafter Ort für ein mehr oder minder ernsthaftes Date. Und es gab Security.

Sie sah Jack. Er wartete vor dem kleinen Restaurant, das am Rand des Tafelbergs lag. Er trug eine Anzughose und Hemd. Zumindest auf das Jacket hatte er verzichtet.

„Sonnenschein“, sagte er, kam ihr entgegen. „Da bist du ja.“

„Entschuldige.“ Sie klang halbherzig. „Bin ich zu spät?“

„Nein.“ Sein Blick wanderte ihren Körper hinab und hinauf. Wieder trug sie die echt wirkende Prothese, inklusive des Glamours. „Du siehst gut aus.“

Pakhet bemühte sich um ein mattes Lächeln. „Danke.“ Der Parkplatz war mit Schotter beschüttet. Es wirkte natürlicher. Wer auch immer diese Idee hatte. Es war anstregend darauf mit Absätzen zu laufen.

Jack bot ihr den Arm an und nach einigem Zögern hakte sie sich ein.

„Wie hast du uns so schnell einen Tisch hier besorgen können, Honigkuchen?“, fragte er in Unterhaltungston.

Pakhet seufzte. „Müssen die Spitznamen sein?“

Er reagierte nicht, wartete offenbar auf eine Antwort auf seine Frage.

„Ich habe Kontakte.“ Mehr würde sie dazu nicht sagen. Sie hoffte, er verstand.

Jack nickte. Er beobachtete sie, als sie dem Kellner am Eingang zunickte und eine Karte aus ihrer Handtasche zog.

„Wir hatten reserviert. Montgomery.“

Freundlichkeiten wurden ausgetauscht. Dann führte der Kellner sie zu einem Tisch auf der Terrasse des Lokals. Sie war so eingerichtet, dass man von hier auf die Stadt hinabsehen konnte. Pakhet hätte es bevorzugt drinnen zu sitzen, wo sie sich nicht wie auf dem Präsentierteller gefühlt hätte. Sie sagte nichts, merkte jedoch die eigene Anspannung, als sie Platz nahm.

„Willst du die Jacke nicht ausziehen“, fragte Jack.

Sie verzog das Gesicht. „Ich bevorzuge es, sie anzubehalten.“ Ja, sie wusste, dass es sich nicht gehörte. Vor allem nicht in einem Lokal wie diesem. „Es ist kühl.“ Sie schenkte ihm einen langen Blick.

Jacks dunkle Augen musterten sie. „Schon gut.“

Der Keller legte zwei Bretter auf die in feinem Papier das abendliche Menü geschrieben war, vor sie. „Darf es schon etwas sein? Ich empfehle den Savignon als Apperativ.“

Jack lächelte. Sah zur ihr. „Zwei Mal.“ Er schien zu warten, ob sie widersprach. Doch Joanne schwieg.

Der Kellner nickte, ging.

„Und wie war deine vergangene Woche?“, fragte Jack.

Pakhet seufzte. „In Ordnung. Entspannend.“

„Was hast du so gemacht, Goldlöckchen?“

Sie hob eine Augenbraue. „Goldlöckchen?“

Er lachte leise. „Entschuldige.“ Er schwieg. „Kriege ich dennoch eine Antwort?“, fragte er dann.

Ihr Blick wanderte zur Stadt, deren Lichter im Dunkeln glitzerten. Perfekte romantische Vorstellung einer Stadt. Niemand, der hier saß – fast alles Paare – würde über die Grausamkeiten, die im Schatten der Nacht geschahen, nachdenken. „Nein.“ Sie wandte sich dem Menü zu. Sie las.

Vier Gänge. Zwei bis drei Wahlen pro. Eigentlich war es ihr egal. Satt würde sie davon doch nicht. Sie seufzte schon wieder. Es war egal.

„Was nimmst du?“, fragte Jack.

Sie zuckte mit den Schultern. Immer wieder musste sie gegen den Drang ankämpfen, sich umzudrehen. Sie fühlte sich beobachtet. Sie rechnete halb damit, dass jemand sie angreifen würde. Sie wusste, dass es Unsinn war.

„Mäuschen?“ Jack hob eine Augenbraue.

„Ich weiß nicht. Das Gratin zur Vorspeise. Und dann wohl das Huhn.“ Sie seufzte, sah ihn an. „Wieso?“

Er lachte leise und sah sie an. „Ich versuche Smalltalk zu halten.“

Natürlich. Auch sie bemühte sich um ein Lachen. Es klang gestellt. „Entschuldige.“

Ein mattes Lächeln zeigte sich auf Jacks Gesicht. Er sah sie an, auch wenn in seinen Augen Enttäuschung schimmerte. „Du bist nicht gut hierin, hmm?“

„Hierin?“ Fragen sah sie zu ihm.

„Daten.“

Pakhet presste ihre Lippen aufeinander. „Nicht so.“

„So?“ Er musterte sie.

„Nicht als ich. Als Pakhet.“ Sie schürzte die Lippen. Wie konnte sie es ihm erklären?

Doch etwas zeigte sich in seinem Gesicht. „Ich verstehe.“ Jetzt war er es, der seufzte. „Du wolltest das hier wirklich nicht, oder?“

Sollte sie lügen? War das Lügen teil der Abmachung? Er fragte direkt. „Nein.“

Jack leckte sich über die Lippen und schnalzte dann mit der Zunge. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dich deswegen schlecht fühlst.“

„Warum hast du mich dann gefragt?“, erwiderte sie.

Bevor er antworten konnte, kam der Kellner mit zwei Weingläsern zu ihnen. Kunstvoll stellte er sie vor sie. Dann musterte er sie. „Haben Sie sich schon für etwas entschieden?“

Pakhet sah zu Jack. Jack erwiderte ihren Blick. Stumm forderte er sie auf zuerst zu bestellen. Also bestellte sie.

Nach ein, zwei Minuten ging der Kellner.

Jack nahm das Weinglas, hob es zu seiner Nase, roch daran. Anerkennend hob er eine Augenbraue. Vorsichtig nippte er an dem Wein, ließ ihn sich augenscheinlich über die Zunge rollen. Wieder zuckte seine Augenbraue nach oben. Er schaute zu Pakhet. „Ein guter Wein.“

Sie sagte nichts.

Jacks Augen suchten die ihren und ein sanftes und auch irgendwie trauriges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. „Ich wollte eigentlich nur wissen, wie ernst dir die Sache ist. Also den Kindern zu helfen. Ich wollte wissen, was für eine Person du bist, Honigkuchen.“

„Müssen diese Spitznamen sein?“

Er lachte. „Wie soll ich dich sonst nennen? Ich kenne deinen richtigen Namen nicht einmal.“

Sie hätte sich einen normaleren Codenamen geben sollen. „Pakhet.“

„Wirklich?“ Er musterte sie. Dann seufzte er. „In Ordnung, Pakhet.“ Noch ein Seufzen. „Entschuldige wirklich, dass ich dich in Verlegenheit gebracht habe. Ich will mich nicht aufdrängen.“

„Du hast eine seltsame Art das zu zeigen“, erwiderte sie.

„Vielleicht.“ Jack zwang sich zu lächeln. „Ich bin halt ein echter Tunichtgut.“ Dann holte er Luft und hob das Glas. „Lass uns den Abend dennoch genießen, ja, Pakhet?“

Sie zögerte. „In Ordnung, Jack.“ Wieso spürte sie Mitleid in ihrer Brust? Jack war einsam, oder bildete sie sich das nur ein? Jedenfalls wirkte er so, schoss es ihr durch den Kopf. Auch sie griff nach ihrem Glas. „Auf einen schönen Abend.“

Sie stießen an.

Danach wurde es einfacher. Sie redeten normal, auch wenn Jack sich nicht jeden albernen Spitznamen verkneifen konnte. Sie führten Smalltalk, bedacht über nichts zu reden, das für einen anderen Gast seltsam klingen würde. Jack bedrängte sie nicht länger und Pakhet war ihm dafür dankbar. Sie fühlte sich schlecht dafür, doch sie konnte sich nicht so einfach verstellen. Nicht, solange sie keine Rolle hatte, die sie spielen konnte. Nicht als Pakhet.

Dabei war sie sich nicht sicher, warum sie sich so schlecht fühlte. Weil sie ihr Versprechen nicht hielt? Oder war es nicht eher ihr Mitleid, das sie deutlich spürte, wenn sie dieses einsame Schimmern in seinen Augen sah. Bildete sie sich das nur ein? Er war charmant, tat sich leicht mit dem Reden. Er sollte kein Problem haben, Freunde, Liebhaber zu finden. Wieso sollte er einsam sein?

„Pakhet“, begann er, als sie beim Nachtisch angelangt waren.

Sie sah zu ihm. „Ja?“

„Eine Frage habe ich noch für dich“, meinte er.

„Ja?“ Sie wartete.

„Du bist“ – er räusperte sich, sah sich kurz um – „im Sicherheitssektor beschäftigt, oder?“ Damit meinte er die Söldnerei.

Pakhet nickte. „Ja.“

„Warum wolltest du diesen Kindern, Jugendlichen, helfen? Ich meine, es geht dich nichts an. Das ist nicht deine Aufgabe ihnen zu helfen, die Leute dahinter zu jagen.“ Dabei beugte er sich vor, flüsterte.

Hatte er sie das nicht schon einmal gefragt? Die Frage hatten ihr so viele gestellt. Zumindest auch Chase und Jack war damals dabei gewesen. Dennoch antwortete sie: „Weil es das Richtige zu tun war.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihr Blick wanderte zum Weinglas. „Es war das Richtige. Als ich sie da gesehen habe … Wie hätte ich sie einfach da liegen lassen können? Es sind Kinder. Sie konnten sich nicht selbst retten.“

Ein seltsames Glänzen zeigte sich in Jacks Augen. Eine Verletzlichkeit. Schmerz. Er senkte den Blick und lächelte matt. „Ich verstehe. Ich …“ Er sah sie kurz an, senkte den Blick dann aber wieder. „Danke.“

Da sie nicht wusste, wie sie antworten sollte, zuckte Pakhet mit den Schultern. Sie wandte sich wieder dem Dessert zu. Dabei mochte sie süßes Essen nicht. „Und du? Warum hilft du?“, fragte sie dann. „Ich meine, wirklich. Smith sagte, du hilft der Polizei öfter bei solchen Raids.“

Jacks Löffel stocherte in der Schokoladencreme. „Nun. Ich kenne diese Art von Leuten. Abschaum.“ Er leckte sich vorsichtig über die Lippen, aß. „Wie du sagst. Es ist das Richtige.“ Seine Stimme war bitter.

Also hatte sie Recht? Sie konnte nicht fragen.

Wieder hörte sie sich seufzen. Sie streckte ihre Hand aus, berührte Jacks linke, zog die Hand dann wieder zurück. Sie war mit diesen Sachen nicht gut. Dennoch schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln, nickte.

Schweigen herrschte, während sie die kleinen Glastellerchen leerten. Dann verfielen sie wieder in Smalltalk. Es war einfacher so. Sie redeten für eine Weile, leerten ihren Wein, beide wohl wissend, dass sie noch würden fahren müssen. Doch es war in Ordnung, sagte sie sich. Sie vertrug einiges. Es waren nur drei Gläser Wein gewesen. In anderen Situationen hatte sie mit so viel Alkohol im Blut ganz anderes gemacht.

Sie zahlten. Verließen das Restaurant.

„Danke, Pakhet, für den schönen Abend“, meinte Jack, als sie wieder auf dem Parkplatz standen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich hatte es versprochen.“ Sie sah zu ihrem Wagen, der dank der kanariengelben Farbe hervorstach. Vielleicht brauchte sie einen anderen Wagen. Einen, der weniger auffiel. „Es tut mir leid, dass der Abend nicht das war, was du erhofft hast.“

„Kein Problem. Es war mehr, als ich erwartet habe.“ Er lachte, seufzte. „Auch wenn ich annehme, dass du mich nicht noch in eine Bar begleiten willst oder so.“ Er sah zu ihr. „Oder?“

Sie hasste den Vergleich, doch für den Moment, erinnerte er sie an ein Reh. Sie wandte sich ihm zu. „Wenn es dir wichtig ist, würde ich dich begleiten.“ Sie musterte ihn. „Aber ich würde bevorzugen, nach Hause“ – zum Krankenhaus – „zurückzufahren.“

Er nickte. „In Ordnung. Ich will dich zu nichts zwingen.“

Auch sie nickte, zögerte. „Jack.“

„Ja?“

„Es tut mir leid, dass ich nicht sein kann, was du willst.“ Vielleicht klang es eingebildet, überheblich. Doch er wirkte wirklich enttäuscht, dass sich nicht mehr entwickelt hatte. Irgendwie.

„Schon in Ordnung.“ Wieder erschien ein gezwungenes Lächeln auf seinem Gesicht. „Ich verstehe schon.“

„Es liegt nicht an dir.“ Ach, was redete sie hier eigentlich? „Es ist nur … Ich bin keine Person für Romanzen. Ich … Ich bin einfach nicht dafür. Nicht mit dir. Mit niemanden.“

„Ich verstehe schon“, murmelte er. Verdammt. Er war wirklich enttäuscht?

Wie er da stand. Seine Schultern hingen. Er wich ihrem Blick aus. Er wollte nicht, dass sie sich schlecht fühlte. Er war einsam. Wieso?

„Jack“, meinte sie, ohne zu wissen, was sie redete. „Ich kann dir nicht die Nähe geben, die du suchst. Aber ich kann dir meine Freundschaft anbieten.“

Überrascht sah er sie an. „Freundschaft?“

Sie lächelte, dieses Mal aufrichtig. „Ja. Freundschaft. Und meinen Schutz.“ Was redete sie nur?

Er lachte unwillkürlich, doch wieder mit derselben Trauer, die sie schon vorher gehört hatte. Dann holte er Luft. Lächelte. „In Ordnung, Pakhet. Freunde.“

Sie nickte. „Freunde.“ Sie zögerte. Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, küsste sie ihn auf die Wange. Sie nahm kurz seine Hand, drückte sie. „Melde dich, wenn du einfach mal … Du weißt schon.“ Sie ließ seine Hand los.

„Abhängen willst?“, beendete er den Satz.

Sie lächelte. „Ja, so etwas.“

„Mache ich“, antwortete er. „Danke. Pakhet.“

Sie nickte noch einmal, wandte sich dann ab und ging zu ihrem Wagen hinüber. An diesem angekommen, drehte sie sich ein letztes Mal um, hob die Hand zum Abschied und stieg dann ein. Sie startete den Wagen und sah zu Jack, der offenbar zu warten schien, bis sie fort war.

Verdammt.

Sie fuhr. Ob Heidenstein wohl noch wach war?

[09.09.2011 – P03 – Hilfegesuch]

Chase rief sie am nächsten Tag an. Pakhet fragte sich, ob Jack mit ihm geredet hatte oder ob es reiner Zufall war. Warum rief er überhaupt an? Hatten sie neue Informationen? Es wäre gut. Ach, verdammt, was würde Michael machen, wenn sie die Sache weiter verfolgte?

Sie ging dran. „Pakhet hier.“

„Ja, Pakhet.“ Chase zog ihren Namen lang. Ach, verdammt, sollte er nicht daran gewohnt sein, mit Leuten mit ihr zu arbeiten? „Chase hier.“

„Ich habe die Nummer gesehen“, erwiderte sie. Sie saß im Wagen, eigentlich auf dem Weg zur Arbeit. Auch wenn sie nicht damit rechnete, dass es heute oder in nächster Zeit Aufträge für sie gab. Es war die einfachste Art für Michael ihr zu schaden: Er konnte ihre Ressourcen wegnehmen. „Was gibt's?“

Chase zögerte. „Ich wollte hören, wie Sie planen, fortzufahren.“

„Inwiefern?“, fragte Pakhet. Als wüsste sie es nicht.

„Sehen Sie, wir haben ein Problem.“ Seine Stimme klang gedrückt. Er kämpfte mit sich, wusste wahrscheinlich, dass er nicht mit ihr reden sollte. Er sah sich dazu gezwungen. „Wir mussten die Gefangenen vom Raid an die örtlichen Behörden übergeben. Wir müssen die weiteren Ermittlungen den Behörden überlassen.“

Soweit, so gewöhnlich. Interpol hatte wenig Macht, wenn die Verbrecher zu dem Land gehörte, in dem sie agierten. Doch seine Stimme sagte etwas anderes. „Sie vermuten, dass etwas nicht stimmt.“

„Man hat bereits drei der Leute freigelassen. Angeblich aufgrund eines Mangels an Beweisen.“ Wut schwang in der Stimme des Ermittlers mit.

Das machte keinen Sinn. Man hatte diese Leute dabei gefangen genommen, wie sie entführte Kinder, Jugendliche, bewachten. Wie sie diese mit Waffengewalt daran hinderten zu fliehen. Selbst, wenn die magischen Aspekte in der öffentlichen Dokumentation ignoriert oder anders erklärt wurden. Es war deutlich, dass die Verhafteten Verbrecher waren.

„Ich verstehe.“ Pakhet zögerte. Sie hatte ohnehin vorgehabt, die Sache weiter zu Verfolgen. Allerdings fürchtete sie, dass das ganze noch etwas anderes bedeutete. Denn eigentlich hatte sie sich darauf verlassen wollen, dass Interpol sie schützen wollen. Sie konnte sich keinen Dreifrontenkampf mit Michael auf einer, Sklavenhändlern auf einer anderen und der Polizei auf der dritten Seite leisten.

„Wie planen Sie, fortzufahren?“, fragte Chase erneut.

Sie zögerte noch immer. Was sollte sie sagen? Die Wahrheit. Eine andere Wahl hatte sie nicht. „Ich plane, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich habe jemanden an der Sache. Jemand, der hoffentlich mehr über die Infrastruktur der Organisation herausfinden kann.“

„Gut.“ Chase schnalzte mit der Zunge.

„Soll ich Sie über weitere Ergebnisse informieren?“, fragte Pakhet.

Ein missmutiges Grummeln. „Ja. Ich bitte darum.“

Pakhet seufzte leise. „Wie planen Sie, fortzufahren?“

Chase antwortete nicht sofort. „Ich plane, meinen Job zu machen.“

[13.09.2011 – C07 – Immobilien]

Pakhet fuhr vor Crashs Haus vor. Eigentlich vor seinem Grundstück, das von einer hellen Mauer umgeben war, die hoch genug war, um den Blick in den Garten zu verwehren. Sie parkte ihren Wagen in der Einfahrt und stieg aus.

Es waren knapp zwei Wochen seit dem Raid des Wasserwerks vergangen. Alice hatte am Morgen endlich angerufen, mit den Worten, dass sie Informationen hatte. Hoffentlich waren es die Informationen, die sie brauchte.

Nach kurzem Zögern stieg Pakhet aus, stellte sich vor die bronzen glänzende Eingangstor und klingelte.

Rauschen ertönte aus der Gegensprechanlage. Dann eine tiefe Stimme. „Ja?“ Das war Crash.

„Ich bin's. Pakhet.“ Sie hielt inne. „Alice hat mich hergebeten.“

„Jap.“ Dann ertönte der Buzzer.

Pakhet trat durch das Tor. Es war das erste Mal, dass sie wirklich hier war. Bisher hatte sie nur Murphy hier abgesetzt. Doch das Grundstück war gut, luxoriös. Es war besser und moderner, als was sie in Overstrand hatte.

Der Garten hatte sicher gute 70 Quadratmeter. Gerade so konnte sie einen Pool um die Ecke des Hauses erkennen.

Das Gebäude selbst war in einem spatanischen Stil gehalten. Eins jener modernen Gebäude, die Beton-Ästetik vollkommen verkörperten. Es gab keine Verklinkerung. Der Beton war grau, uneben. Es hatte etwas natürliches.

Die Fenster zu dieser Seite waren allesamt rund geformt. Eindeutig das Traumprojekt irgeneines Architekten. Die Eingangstür war in einem edlen schwarz gehalten.

Pakhet war stehen geblieben, ging nun aber weiter, als sich die Tür öffnete.

Crash sah ihr entgegen. In dem Türrahmen, der auf Standardgröße geschnitten war, wirkte er verboten groß. Ein paar Zentimeter mehr und er hätte den Kopf einziehen müssen. Er hätte einschüchternd gewirkt, hätte nicht ein sanftes Lächeln sein Gesicht geschmückt. „Hey, Lady“, grüßte er sie.

Auch sie musste Lächeln. Sie erinnerte sich wieder, warum sie ihn gerne mochte. „Hey, Großer.“

Er grinste. „Komm rein. Alice wartet oben auf dich.“

Sie nickte, kam seiner Aufforderung nach und trat in einen kleinen, offenen Vorraum, der in ein großes Zimmer überging. Offenbar das Wohnzimmer.

Auch innen war die Beton-Ästetik eingehalten worden. Es wirkte allerdings nicht wie der übliche Betonguss eines Hauses, war glatter, edler, heller. Wahrscheinlich hatte man irgendein Material darüber gegossen, um es zu glätten. Was wusste sie schon? Mit Architektur und Bau kannte sie sich nicht aus.

Ein sehr langes, schwarzes Ledersofa stand vor einem gläsernen Tisch, der seinerseits auf einem großen, hellen, grob gewebten Teppich stand. Davor ein großer Fernseher, der vor einer Wand, die von zwei länglichen Fenstern zu beiden Seiten umrahmt war. Dunkle Lamellen hingen vor dem Fenster.

Offenbar war ein Surround-System installiert.

Anerkennend nickte sie. „Du hast es nett hier“, meinte sie.

Crash brummte. „War fertig eingerichtet.“

Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Freut mich für dich.“ Das meinte sie. Wenn sie bedachte, womit er sich noch vor ein paar Monaten Geld verdient hatte, war es keine Stufe, sondern eine ganze Treppe nach oben.

Wieder brummte er. Offenbar fühlte er sich unwohl. „Alice wartet oben“, wiederholte er. „Red mit ihr.“ Er hielt inne. „Danach können wir reden. Ich bin im Keller.“ Er wartete, bis sie nickte. Dann ging er zu einer anderen Tür und verschwand hindurch.

Pakhet hielt inne, dann durchqueerte sie das Wohnzimmer, an dessen Ende ein Gang um die Ecke führte. Wie sie vermutet hatte, fand sich eine Treppe am Ende des Flurs.

[13.09.2011 – A03 – Strippenzieher]

In der oberen Etage fand Pakhet einen weiteren Flur vor. Einfache, dunkle Holztüren gingen von dieser ab.

Crash hatte eindeutig eine Sache vergessen: Zu erwähnen, welche der Türen Alices war.

Eigentlich wollte Pakhet nicht unbedingt das halbe Haus durchsuchen. Sie wollte nicht wissen, was sie hier fand – nicht zuletzt, weil Murphy auch hier lebte.

„Alice?“, rief sie.

Sie sah sich um, schaute nach rechts und links, klopfte dann an einer Tür.

Erneut keine Antwort.

Mit einem Seufzen öffnete sie die Tür. Es war das Badezimmer. Sie schaute nicht näher rein, ging zur nächsten Tür. Ein leeres Zimmer. Immer noch gut. Die nächste Tür. Sie ging schwer auf. Etwas blockierte die Tür. Kleidung, die innen direkt davor lag, stellte Pakhet fest.

Sollte sie weiter rein? Schon wollte sie die Tür schließen, als ihr die Kleidung genauer ins Blick fiel. Dass da sah nach dem Zipfel eines Rocks aus. Das hieß, dass hier war Alices Zimmer?

Mit einem Tiefen Atemzug öffnete Pakhet die Tür, schob dabei einen kleinen Stapel Kleidung vor sich her. Zumindest gab es keinen Zweifel mehr: Das hier war Alices Zimmer.

Die Kleidung auf dem Boden war punkig. An der Wand hing das Plakat einer Punkband. Und da, auf einem Liegestuhl vor einem Rechner lag Alice, die Augen geschlossen und offenbar in einer tiefen Trance versunken.

Die Bilder auf dem Bildschirm veränderten sich zu schnell, als dass Pakhet etwas erkennen konnte. Warum hatte das Mädchen überhaupt einen Bildschirm angeschlossen, wenn sie ja offenbar mit ihrem Geist irgendwie Verbindung zu dem Rechner aufnehmen konnte.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete Pakhet den Bildschirm, ehe ein scharfer Atemzug hinter ihr sie aufschrecken ließ.

Alice öffnete die Augen und sah sie an.

Das Mädchen trug eine kunstvoll zerrissene Strumpfhose, oben herum ein sehr lockeres T-Shirt, das einen etwas zu breiten Ausschnitt hatte. In ihre Haare waren neue, bunte Stähnen hinzugekommen, die aktuell zum Teil nach hinten geflochten waren. Sie räkelte sich auf dem Stuhl. „Da bist du ja, Pakhet.“

Pakhet musterte sie. „Ja.“ Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte, schürzte die Lippen.

„Setz dich“, meinte Alice und nickte in Richtung des Bettes, dass auf der anderen Seite des für die Größe des Hauses relativ kleinen Zimmers stand.

Auch über das Bett war Kram verstreut. Kleidung. Eine leere Pizza-Packung. Ein paar leere Dosen und Flaschen. Das Mädchen war deutlich nicht ordentlich.

Pakhet verkniff sich eine entsprechende Anmerkung, schob einfach genug Kram zur Seite, um sich setzen zu können. Ganz wohl fühlte sie sich hier nicht. Sie räusperte sich. „Du hast geschrieben, dass du etwas herausgefunden hast.“

Alice nickte. „Ja, habe ich.“ Sie streckte sich, nahm dann einen kleinen Stapel Zettel von hinter dem Bildschirm. Sie streckte die Hand aus, um sie Pakhet zu reichen.

Kurz stand Pakhet auf, um die Zettel entgegen zu nehmen. Dann setzte sie sich wieder, ließ ihren Blick über die erste Seite wandern.

Im ersten Moment sah es für sie wie eine Wirre Sammlung von Zahlen aus. Es mussten IP-Adressen sein. Ja, vier Mal maximal drei Zahlen. So viel wusste auch sie. Das waren IPs. Daneben standen in Farbe diverse Anmerkungen, die Pakhet kaum entziffern konnte.

Die Anmerkungen waren ebenfalls am Computer entstanden, waren ausgedruckt, sahen jedoch handschriftlich aus.

„Verbindung, Kambodscha“, stand da an einer Stelle. „Server?“, an einer anderen.

Pakhet blätterte weiter. Da waren diverse Seiten, die so ähnlich aussahen. Dann jedoch kam sie zu ein paar Seiten, die anders aufgebaut waren. „Rerooting“ stand an einem Pfeil, der auf eine andere IP verwies. So waren einige Adressen miteinander verbunden. Dann etwas, das wie eine Emailadresse aussah, zumindest ein @ enthielt, wenngleich der Rest Zahlen.

Darunter eine Liste mit irgendwelchen Computerdaten, von denen sie nichts verstand.

Sie runzelte die Stirn. Was sollte ihr das ganze sagen?

Alice schien ihr Grübeln zu bemerken. „Blätter weiter“, meinte sie. „Seite sechszehn wird interessant.“

Also kam Pakhet der Aufforderung nach. Sie blätterte durch Seiten voller Verbindungsdaten und dazugehöriger Details, die für sie größtenteils nur unverständliche Begriffe zusammen mit einer wirren Ansammlung von Zahlen und Buchstaben waren. Doch tatsächlich: Da war eine Seite, der etwas klarer Ergebnisse präsentierte.

Eine IP-Adresse und eine Email bestehend aus einer bunten Mischung aus Zahlen und Buchstaben – vielleicht Hexadezimal? – stand oben auf der Seite. Darunter einige Zeilen Informationen.

„Ort: Johannisburg“. Ein Pfeil. „Innenministerium.“ Noch ein Pfeil. Zahlen. „Büro für innere Sicherheit.“ Zahlen. Ein paar Zeilen Erklärung. „Büro von Carel Nel.“

„Carel Nel?“, fragte sie.

„Jap, definitiv der größte Fisch darin“, erwiderte Alice und musterte sie. Sie saß im Schneidersitz auf dem Stuhl, hatte ihre Ellenbogen auf ihren Beinen abgestützt, während sie Pakhet beobachtete.

Als Pakhet weiterblätterte seufzte das Mädchen.

„Sagen wir es einmal so“, meinte sie. „Du hast dich da definitiv mit den falschen Leuten angelegt, Pakhet. Das ganze ist gut organisiert und nicht nur lokal. Sie sind in ganz Südafrika aktiv, teilweise sogar über Afrika hinaus. Ich habe ein Teil der Emails gelesen.“ Sie zögerte. „Die sind weiter unten. Also wenn du es kurz haben willst: Ich habe allein von hier drei große Fische, an du die nicht so leicht rankommst. Da haben wir Carel Nel. Der sitzt im Innenministerium, ist für die innere Sicherheit zuständig. Vorrangig Polizeiverwaltung und so etwas.“

Pakhet seufzte. „Natürlich.“ Deswegen hatten sie ihre Gefangenen wieder freigelassen. Konnte es sein? Konnte es sein, dass die Polizei, zumindest zum Teil, mit diesen Leuten zusammenarbeitete? Fuck. Das wäre nicht gut. Es wäre alles andere als gut. Was sollte sie dann machen? Wie sollte sie weitermachen, wenn sie niemanden gefangen nehmen konnte?

„Ja“, antwortete Alice und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob es von denjenigen ausging oder die nur bestochen wurden. Jedenfalls habe ich ein paar Überweisungen nachvollziehen können. Nel hat durch diesen Kram im letzten Jahr gute zwei Mil in US-Dollar gemacht. Also lohnt sich für ihn definitiv.“ Sie zog eine Schnute. „Davon abgesehen haben wir noch 'nen Typen, von dem ich ausgehe, dass es Luphelo Thomas ist. Das ist ein Manager von der Nebbank, aus Swaziland. Hat unter Kürzel gearbeitet, aber von allem was ich sagen kann, ist da teilweise seine Privat-IP mit verwendet gewesen. Jedenfalls wurde ein Teil des Geldes über die Nebbank nach Kongo und dann nach Panama und in die Schweiz gepackt. Da ist es verschwunden, aber wenn ich die Konten von Thomas und Nel checke, sind da lächerliche Eingänge von einer vermeintlichen Wäscherei.“

Pakhet wusste nicht, was sie sagen sollte. Klar, Leute konnten an diese Daten kommen. Jedes Sicherheitssystem hatte Schwachstellen, doch bei Alice klang es, als wäre nichts weiter dabei, einfach einmal internationale Banküberweisungen nachzuvollziehen. Wollte sie nur angeben?

Pakhet musterte sie, besann sich aber eines besseren, als dazu Fragen zu stellen. „Wäscherei?“

„Na, du weißt doch, warum man Geldwäsche sagt, ne? Die Mobster haben das doch immer so gemacht. In Waschsalons Münzgeld rein und rausgejagt. Dann war's sauber, weil niemand mehr sagen konnte, wo es hergekommen ist.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die fragliche Wäscherei läuft übrigens auf eine gewisse Martha Mugabe, die es aber, von allem was ich sagen kann, gar nicht gibt. Ich glaube, es ist ein falscher Name. Könnte Ehsile Naicker oder Kores Chetty sein.“

„Wer?“, fragte Pakhet.

„Weiter hinten“, kommentierte Alice. „Die sind von SAID. Die haben offenbar auch ihre Finger im Spiel. Da sind ein paar nette Emails da. Das meiste läuft über Chetty, aber ich glaube, dass Naicker da auch irgendwie mit drinhängt. Chetty ist ihr Sekretär.“

Pakhet antwortete nichts darauf. Das wurde ihr langsam zu fiel. Es klang nach einer richtigen Verschwörung. War es wirklich so groß? Sie wollte es nicht glauben. Die Tatsache, dass die ganze Beweisführung ihr nur in Teilen aufging, da sie von Computern zu wenig verstand, machte es nicht besser. Sie schüttelte den Kopf. „Noch wer?“

„Jaco.“ Alice lächelte.

Für einen Moment hielt Pakhet inne. Die Art, wie Alice es sagte, klang, als sollte ihr der Name etwas sagen. Was für einen Jaco kannte sie?

In der Firma gab es mindestens zwei Jacos, doch irgendwie glaubte sie nicht daran, dass Alice von diesen auf diese Art sprechen würde. Was gab es sonst für Jacos? Der Name war in Südafrika nicht wirklich selten.

Dann fiel ihr etwas ein. „Der Typ von den 6-Niner?“ Sie sah Alice an.

Die 6-Niner waren eine Gang, die vorrangig in Joburg, aber teilweise auch im Rest des Landes agierten. Sie waren vorrangig dafür bekannt mit Drogen und Waffen zu handeln, aber zumindest in Joburg unterhielten sie auch einige Bordels. Immerhin war dort der Einfluss der internationalen Mafia ironischer Weise weniger stark.

Alice nickte. „Ja. Jaco von den 6-Ninern. Ironischer Weise war sein Kram am schwersten zurück zu verfolgen. Der Typ ist entweder sehr reicht, sehr paranoid oder beides. Wechselt ständig seine Technik. Aber die Emails sind recht deutlich. Die sprechen ihn mit seinem richtigen Namen an, referenzieren auch die 6-Niner. Na ja, und die Kinder der Sonne.“

„Kinder der Sonne?“ Pakhet musterte sie.

„Ich weiß über die nicht viel. Das wäre eher was für Murph. Scheinen so eine Art lokaler Kult zur sein. Beten eine bunte Mischung alter Götter an.“

„Nicht zufälliger Weise auch ägyptische, oder?“

Alice zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Ja.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Wieso?“

„Weil … Die Dämonen waren ägyptisch“, antwortete Pakhet.

Noch ein Schulterzucken. „Wie gesagt. Kann sein.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Hängt jedenfalls ein ganzer Rattenschwanz dran. Da sind wahrscheinlich noch ein paar Leute, aber ich dachte, ich teile das mal mit dir. Wenn du richtig Glück hast, hast du dich gerade mit der Polizei angelegt.“ Sie schien das Ganze beinahe zu amüsieren.

Pakhet sah auf die Seiten in ihrer Hand. Das war mehr, als sie erwartet hatte. Sowohl an Informationen, als auch an Verwicklungen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das ganze soweit ging. Wenn hätte sie mit Mafia-Verbindungen irgendeiner Art gerechnet, aber nicht Verwicklungen mit Regierung und irgendwelchen Hilfsorganisationen. Keine Verschwörung.

Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, bis Alice wieder die Stimme erhob. „Und was hast du jetzt vor?“

Das war eine ausgezeichnete Frage. Da waren noch immer zehntausend Dollar auf ihrem Kopf. Zehntausend und wenn sie Pech hatte Probleme mit der Polizei. Ein Grund die Sache ruhen zu lassen. Oder ein Grund die Sache wirklich zu Ende zu bringen.

An Nel kam sie nicht dran, da machte sie sich keine Illusionen. Also, wo sollte sie anfangen?

„Jaco“, meinte sie dann.

„Was?“ Alice hob eine Augenbraue.

„Jaco wird international gesucht, oder?“, fragte Pakhet.

Wieder zuckte Alice mit den Schultern. „Kann sein.“

Vielleicht ein Grund für Chase ihr zu helfen.

„Du willst also Jaco gefangen nehmen?“ Alice musterte sie voller Unglaube, grinste dabei.

Pakhet schürzte die Lippen. Es war noch kein Plan, aber es war ein Ansatz. „Ja, ich glaube, das will ich.“

[13.09.2011 – C08 – Unterstützung]

In Gedanken versunken kam Pakhet die Treppe hinunter. Sie hatte den Zettelstapel mehr schlecht, als recht zusammengeheftet, auch wenn Alice ihr eine digitale Kopie hatte zukommen lassen. Sie war noch nicht sicher, was sie damit machen sollte, plante aber, sie Chase zuzuschicken.

Und dann? Sie musste sehen. Sie würde diese Arschlöcher jedenfalls nicht einfach davon kommen lassen.

So sehr war sie in Gedanken versunken, dass sie beinahe Crashs Aufforderung von zuvor vergessen hätte. Im letzten Moment erinnerte sie sich jedoch daran, umzukehren. Sie ging zur Tür, durch die er vorher gegangen war, öffnete sie und sah die Treppe dahinter hinab. „Crash?“, rief sie.

Ein lautes Brummen war ihre Antwort.

Also hatte er sie wohl gehört.

Vorsichtig ging sie die relativ schmale Treppe hinab, die für Crash wahrscheinlich ziemlich eng war. Sie hörte das vertraute Summen eines Laufbands. Also hatte er hier unten seinen Trainingsraum?

Vielleicht keine dumme Idee. Im Sommer wurde es heiß und hier unten schien es angenehm kühl zu bleiben. Deswegen hatten sie in der Zentrale ebenfalls einen Teil der Trainingsräume unterirdisch.

Tatsächlich lag am Fuß der Treppe ein kleines Fitnessstudio. Laufband, Crosstrainer, Krafttrainer und Stangen für Klimmzüge standen hier in einem kleinen Halbkreis. Auch war ein Fernseher und ein Musiksystem installiert, beides jedoch kleiner und weniger protzig, als der Kram in seinem Wohnzimmer.

„Wie machst du schon so viel Geld?“, fragte sie. Okay, er war ein Naturtalent, aber das hier schien doch etwas extensiv.

„Der Knirps“, brummte Crash. „Der Knirps mit seiner Silberzunge.“

„Wenn es kein Jedi-Mind-Trick ist“, murmelte sie.

Ein Brummen war die Antwort.

Pakhet schüttelte den Kopf. Das ganze war eindeutig gruselig. Das Haus hatte sicher über eine Millionen Rand gekostet. Selbst wenn er die Ausstattung direkt mitbekommen hatte, sie damit billiger bekommen hat, war er garantiert nicht unter 1,5 Millionen weggekommen. Das war lächerlich. Wollte sie wirklich wissen, wie Murphy das gemacht hatte? Vielleicht sollte sie ihn später zur Rede stellen. Er konnte Magie genutzt haben und das … Nein, das war einfach nicht richtig.

Crash stellte das Laufband aus, verlangsamte sein Tempo Stück für Stück und sprang dann hinab. Er trocknete sich die Stirn und drehte sich dann zu ihr um. Sein Haar klebte Schweißnass gegen seinen Kopf. „Also. Was hat Alice herausgefunden?“

Pakhet hob eine Augenbraue. „Hat sie es dir nicht gesagt?“

Er schüttelte den Kopf. Lachend verdrehte er die Augen. „Sagte was von geschäftlichen Geheimnissen. Dachte, ich frage dich direkt.“

Pakhet nickte. „Verstehe.“ Sie holte tief Luft. „Kurzfassung: Ich bin am Arsch. Die ganze Klamotte scheint teilweise in der Regierung und mit der Polizei zu hängen. Alice vermutet einen Beauftragten für innere Sicherheit oder so als einen der Stippenzieher. Ansonsten irgendeine Dame, deren Verein eigentlich angeblich gegen so etwas arbeitet. Ein Bankmanager. Und Jaco.“

„Jaco?“

„Gangboss aus Joburg“, antwortete Pakhet. „Von allem was man hört leicht psychologisch, aber mit gutem Anwalt.“ Viel wusste sie nicht, nur das, was sie für ihren Job brauchte. Sie hatte vor drei Jahren einmal mit seiner Gang zu tun gehabt. Jemand hatte sie angestellt, um einen Vergeltungsschlag gegen einige von Jacos Leuten durchzuführen. Gangkrieg. Jacos Leute hatten eine Drogenküche übernommen.

Aber Details über ihn und sein Unternehmen kannte sie nicht. Sie kannte die Gangfarben, wusste genug, um dergleichen aus dem Weg zu gehen, doch das war alles. Sie würde wohl einige Recherche betreiben würden.

Crash brummte. „Und jetzt?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe zehn Riesen auf meinem Kopf. Ich muss irgendetwas tun.“

Ein Lächeln umspielte Crashs Züge, brachte seine dank der dunklen Haut beinahe weiß wirkenden Zähne zum Vorschein. „Wie ich dich kenne, hast du einen Plan.“

Pakhet seufzte. „Kein Plan. Eine grobe Idee. Ich werde wohl versuchen Jaco oder zumindest einen seiner Enforcer hochzunehmen.“

Grinsend nickte Crash. Er hatte die Arme verschränkt. „In Joburg?“

„Wahrscheinlich.“ In Kapstadt waren die 6-Niner zwar aktiv, aber sie konnte nicht wissen, in wie weit die örtliche Zelle direkt mit der Sache verstrickt war. Einen der Köpfe hochzunehmen würde mehr Sinn machen.

„Ambitioniert“, meinte Crash.

Sie antwortete nichts. Was sollte sie denn tun? „Vielleicht auch einen der Kinder der Sonne. Die haben damit wohl auch zu tun.“

„Was sind die?“

„Kult. Irgendeine Art von Kult. Wahrscheinlich kommen die Magier von da.“ Zumindest war das ihre beste Theorie. Irgendwie mussten die Leute da ja an die Magier gekommen sein. Es war selten, dass eine Organisation von solch einer Magie bewacht wurde. Irgendetwas daran stimmte nicht.

Crash nickte. Er brummte, schien zu überlegen. „Nun, was auch immer. Gang, Magier … Solange es kein offizieller ist, kannste mit meiner Hilfe rechnen.“

Überrascht sah sie ihn an.

Er grinste, gab ein weiteres Brummen von sich und wischte sich noch einmal mit dem Handtuch über die Stirn. „Kann dir den ganzen Spaß ja nicht allein lassen, Lady.“

[13.09.2011 – D40 – Treue]

Das Fleisch brutzelte in der Pfanne. Pakhet hatte sich auf dem Rückweg Geflügel geholt, plante es mit etwas Salat zu essen. Auch hatte sie etwas für Heidenstein mitgebracht, der noch immer im Krankenhaus arbeitete.

Ihre Gedanken waren nicht bei der Sache. Noch immer überlegte sie, was sie am besten tun sollte. Konnte sie es sich wirklich erlauben, sich mit jemanden wie Jaco anzulegen? Dann wiederum: Indirekt hatte sie sich schon mit ihm angelegt. Von allem was sie wusste, konnte es sein, dass er das Kopfgeld eingestellt hatte. Dennoch: Sie war gut. Sie hatte schon andere Gangleader gefangen genommen, hatte im Auftrag diverser Organisationen schon ähnliche Sachen durchgeführt, doch hatte sie normal ein Team hinter sich und Ressourcen, die der etwaige Auftraggeber zur Verfügung stellte.

Sie wusste nicht viel über Jaco, nur, dass er vorsichtig und gleichzeitig selbstsicher war. Er hatte Vorsichtsmaßnahmen und würde es fraglos genießen, sie hinzuhalten. Es war wahrscheinlich besser, sich mit dem Magier und einem von Jacos Enforcern anzulegen, doch dafür musste sie herausfinden, wer diese Leute waren.

Magier … Natürlich gab es Magier. Gerade in diesen Breiten weit mehr, als man es annehmen würde. Viele von ihnen waren Scharlatane, wenngleich das nicht immer hieß, dass sie nicht daran glaubten, Magie zu besitzen. Es verging kaum eine Woche, ohne dass irgendwo jemand in einem Ritual ermordet wurde. Verdammt, Interpol hatte eine eigene Abteilung für die Ermittlung dieser Taten.

Mitten im Wenden des Hähnchenfilets hielt sie inne.

Natürlich! Interpol hatte eine eigene Abteilung für das Ermitteln der Muti-Morde! Vielleicht hatten sie daher auch Informationen über Kulte dieser Art!

Warum hatte sie daran nicht vorher gedacht? Wenn sie Glück hatte, hatte man sogar Informationen über etwaige Muti-Kulte und dergleichen gesammelt. Vielleicht wussten sie etwas über den Kinder der Sonne!

Nach dem Essen sollte sie Chase anrufen, nachfragen. Das war der Anfang eines Plans, eines vernünftigen Plans.

Sie wendete das Fleisch und überlegte. Ja, damit könnte sie eventuell vorgehen. Selbst wenn sie nach dem, was sie im Casino und auch im Wasserwerk gesehen hatte, nicht sicher war, ob sie sich mit den Magiern anlegen wollte.

Unwillkürlich griff sie sich an die Brust. Was war damals passiert?

Ein Klacken. Die Tür zu Heidensteins improvisierter Wohnung öffnete sich.

Ein müdes Seufzen. Also war er endlich mit der Arbeit fertig.

Kurz kroch ein Lächeln auf Pakhets Züge, ehe es jedoch wieder verschwand. Sie sagte nichts, war jedoch auch nicht überrascht, als Heidenstein sich nach knapp einer Minute zu ihr gesellte.

„Das riecht gut“, kommentierte er. „Was machst du da?“

„Fleisch braten?“ Sie schenkte ihm ein neckendes Lächeln, selbst wenn es müde ausfiel.

Er grinste. „Krieg ich was ab?“

„Ich habe extra was für dich mitgebracht“, antwortete sie.

„Danke.“ Er trat neben sie, um einen Blick in die Pfanne zu werfen. Dann fiel ihm ein, warum sie überhaupt fortgewesen war. „Was hat Alice in Erfahrung gebracht?“

Pakhet seufzte. Sie schürzte die Lippen und zuckte mit den Schultern. „Lange Geschichte kurz: Die ganze Geschichte ist eine verdammte Verschwörung.“ Sie erzählte ihm knapp, was sie bisher von Alice wusste. Politiker, Banker, Hilfsorganisation, Jaco und seine Gang.

Heidenstein schwieg. Er war etwas blass geworden und ein düsterer Ausdruck legte sich über seine Züge. „Fuck“, flüsterte er dann.

Es war selten, ihn fluchen zu hören.

„Das kannst du laut sagen“, erwiderte sie matt und nahm die Pfanne vom Herd. Sie streckte sich, um Teller aus dem Schrank über der knappen Küchenzeile zu holen, doch Heidenstein kam ihr zuvor. Also überließ sie ihm das Fleisch, während sie sich selbst eine Hand voll Tomaten aufschnitt.

Heidenstein zögerte, stellte die Teller dann aber an den kleinen Küchentisch, ehe er Wasser aus dem Kühlschrank nahm.

Erst als sie ihren Salat zurecht gemacht und sich ihm gegenüber hingesetzt hatte, wagte er es wieder zu sprechen. „Und, was hast du jetzt vor?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich werde mit Chase reden. Wir brauchen einen Ansatz und …“ Sie zögerte. „Interpol hat wegen der Muti-Morde eventuell eine Übersicht über die ganzen Kulte dieser Art.“

„Also jagst du als erstes die Magier?“ Er schien nicht zu wissen, ob diese Aussicht ihn besorgen sollte.

Pakhet zuckte mit den Schulter. Sie schnitt ein Stück des Filets ab. „Ja. Sieht ganz danach aus.“ Sie führte die Gabel zum Mund, aß, sich dessen bewusst, dass er sie besorgt ansah. „Erst einmal schauen, was Chase weiß“, sagte sie dann.

Heidenstein hielt inne, ehe er nickte. „Ja.“ Er seufzte. „Das ist wahrscheinlich das Beste.“ Dann begann auch er zu essen.

[16.09.2011 – S08 – Heimlichkeiten]

Zwischen den Nachforschungen in Sachen Jaco und dem verdammten Magierzirkel und ihrem normalen Job, fragte Pakhet sich langsam, wie sie überhaupt noch schlafen sollte. Sie hatte zwei Tagen zuvor die Daten an Chase weitergegeben und er hatte versprochen, zu versuchen, an die Informationen zu kommen. Nicht das dieses Versprechen viel wert war. Es konnte was bringen oder auch nicht.

Derweil blieb eine Wahrheit: Trotz des Geldes, das sie gespart hatte, brauchte sie Einkommen. Außerdem konnte sie es sich nicht erlauben, Michael weiter gegen sich aufzubringen. Und so hatte sie den Tag mit einem zugegebenermaßen schnellen Job verbracht. Personenschutz. Lokal. Es hatte zwar nur einen Bruchteil des Geldes eingebracht, den sie an Alice abgetreten hatte, doch war es besser als nichts.

Es war nichts passiert. Solche Jobs mochte sie am liebsten. Bodyguard spielen. Gefährlich aussehen. Geld kassieren. Früher hätte sie sich beschwert, doch nach den letzten Wochen war es eine angenehme Abwechselung.

So packte sie nun einen Teil ihrer Ausrüstung ein, zog ihre normalen Sachen an, tauschte ihre Prothese. Dann konnte sie zum Krankenhaus zurückfahren.

Zumindest war das ihr Plan, bis sie auf dem Weg ins Erdgeschoss beinahe mit Smith zusammenstieß.

„Pakhet“, grüßte er sie und lief einen Moment später schon neben ihr. „Dich habe ich gesucht.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Was kann ich für dich tun?“

„Ich dachte eigentlich, wir könnten uns noch auf einen Kaffee treffen“, erwiderte er.

Sie verstand. „Wie wäre es besser auf ein Abendessen.“ Dabei aß sie bei weitem zu viel aus. Nicht nur, dass es kostete, es war auch weit ungesünder, als wenn sie selbst kochte.

„Das ist fraglos eine Möglichkeit. Vorschläge?“

Kurz überlegte sie. „Café Manhatten.“

„Klingt gut“, erwiderte er und holte sein Handy heraus, um eine kurze Nachricht zu schreiben.

Pakhet beobachtete, wusste es jedoch besser, als eine Frage zu stellen. „Soll ich dich fahren?“

Er zuckte mit den Schultern. „Gern. Wenn du mich später wieder absetzt.“

Sie nickte nur, ging dann mit langen Schritten in Richtung des Ausgangs. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, noch in Michael zu laufen. Sie kam nicht umher, ihm mehr zu misstrauen als ohnehin schon. Er plante etwas. Mehr, als er ohnehin schon getan hatte. Sie wusste nur nicht was. Sie wollte es besser nicht herausfinden. Am Ende würde Smith noch dafür zahlen müssen, dass er ihr half.

Einige Minuten später saßen sie in ihrem Wagen, während sie vom Parkplatz fuhr.

„Das Auto passt nicht wirklich zu dir“, kommentierte Smith, während er mit verschränkten Armen links von ihr saß.

Sie zuckte mit den Schultern. „Umso besser. Niemand vermutet, dass es mein Wagen ist.“

„Ich weiß.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe Siobhan Bescheid gesagt. Sie hatte gefragt, was aus der Sache geworden ist.“

„Warum hat sie sich nicht selbst bei mir gemeldet?“, fragte Pakhet, während sie abbog.

Der Verkehr in der Gegend war um diese Zeit dicht. Keine dreihundert Meter standen sie vor einer weiteren Ampel.

„Ich nehme an, weil sie Rücksicht nehmen wollte“, erwiderte Smith.

Pakhet antwortete nichts. Siobhan hatte sie bei der Aktion am Wasserwerk beeindruckt, doch gänzlich sicher war sie nicht, was sie von ihr halten sollte. Sie war mächtig und ihre Möwe war seltsam.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, ehe Pakhet ihn ansah. „Was weißt du über Jaco Khan und die 6-Niner?“

Smith warf ihr einen überraschten Blick zu, sah dann aber wieder nach vorne durch die Windschutzscheibe. Er grübelte für einen Moment. „Ich weiß, dass er allein in den letzten drei Jahren zwei Mal auf Mord angeklagt wurde und freigekommen ist.“

„Bestechung?“

„Und ein guter Anwalt“, erwiderte Smith.

Pakhet nickte.

„Er organisiert fiel. Drüben in Joburg. Er hat sich wirklich bemüht, den Drogenmarkt zu kontrollieren“, fuhr Smith fort. „Die meisten Drogenküchen haben irgendwie mit ihm zu tun. Konkurrenz wird angegriffen, wie du ja weißt.“

Wieder nickte sie nur, bog nun nach links ab.

„Er soll auch verdammt abergläubisch sein“, meinte Smith dann.

„Wieso überrascht mich das nicht?“, murmelte sie.

Wieder musterte Smith sie. „Also steckt er dahinter?“

„Unter anderem“, erwiderte sie und seufzte. „Wenn du mir Infos über ihn und die 6-Niner beschaffen kannst, wäre ich dir mehr als verbunden.“

Smith nickte. „Sonst noch etwas?“

„Was weißt du über die Kinder der Sonne?“

Für eine Weile grübelte Smith, während Pakhet abbog. „Nichts wirklich.“

„Ein Magier namens Zea?“

Smith schüttelte den Kopf. „Ich bin allerdings zu wenig in den magischen Kreisen aktiv. Insofern fragst du das nachher vielleicht besser Siobhan.“

Pakhet seufzte, nickte aber. Es war ihre beste Chance, oder?

Sie hielt nach einer Parklücke Ausschau. Immerhin war das Café Manhatten nur einen Block entfernt. Schließlich stellte sie sich auf den Kundenparkplatz eines Friseurs. Es würde sich niemand beschweren, immerhin war das Geschäft geschlossen. Als sie die Handbremse anzog, sah Smith zu ihr.

„Also planst du dich mit Jaco und irgendeinem Magier anzulegen?“

Sie lächelte matt, nickte. „Für den Anfang.“

[16.09.2011 – SI04 – Planung]

Das Café Manhatten lag an einer Straßenecke, nicht weit vom Hafen entfernt. Es war ein relativ billiges Lokal, doch ihr Budget war groß, aber letzten Endes doch nicht unendlich. Entsprechend erschien es ihr eine gute Alternative, zumal sie hier zumindest reine Fleischgerichte bekommen konnte.

Zu ihrer Überraschung bemerkte sie die Möwe, die in dem Baum auf der Terrasse des kleinen Ladens saß, ziemlich direkt.

Sicher, sie waren in der Nähe des Hafens, doch war es selten, dass die Tiere sich so hier niederließen – allein, da sie meistens fortgetrieben wurden. Tat man es nicht, würde man die Tiere nur dazu dressieren direkt auf den Tischen auf das Essen zu warten.

Diese Möwe schien jedoch kaum jemand zu beachten und auch sie sah zwar interessiert, aber nicht mit der üblichen Gier auf das Essen hinab.

Das musste Trixie sein. Der Möwengeist Siobhans.

Pakhet verkniff sich eine Bemerkung. Sie war einzig überrascht, dass Siobhan bereits da war. Lebte sie hier in der Nähe? Trotz Verkehr hatten sie sicher nicht mehr als zwölf Minuten von der Firma hierher gebraucht.

Doch tatsächlich. Da saß die indisch wirkende Frau mit der seltsamen Muschel-Feder-Kette auf einem der auf der Terrasse zu findenden Tische. Dem einzigen, an dem noch Plätze frei waren.

Sie hob die Hand, als sie sie erkannte und so setzten sich Pakhet und Smith zu ihr.

Siobhan strahlte sie an. „Ah, da seid ihr ja schon.“

Wieder musste sich Pakhet die Bemerkung verkneifen. „Dein Möwengeist hat keine Probleme zuzusehen?“

„Wenn ich ihr dafür später Fisch am Hafen kaufe, nicht“, erwiderte Siobhan. Sie lächelte, nickte dann Smith zu.

Pakhet zuckte mit den Schultern, wandte sich der Karte zu, auch wenn sie zumindest grob wusste, was sie essen wollte. Salat. Fleisch. Ihr übliches Abendessen. Sie konnte nicht so weitermachen, wie während der Vorbereitung auf den Raid.

„Was wollt ihr essen?“, fragte Siobhan nach kurzer Zeit.

„Ich denke ich nehme einen Burger“, erwiderte Smith und sah sich nach dem Kellner um.

Pakhet antwortete nichts. Sie war sich nicht sicher, was sie von der Situation halten sollte. Bis Heidenstein daher gekommen war, hatte sie es gemieden, überhaupt mit Kollegen essen zu gehen, sofern es nicht Teil eines Jobs war. Sie hatte ab und an mit Smith Kaffee getrunken, aber das war alles. Fraglos, Siobhan war keine Kollegin, doch noch immer … Sie war sich nicht sicher, was sie von ihr halten sollte.

Smalltalk war ohnehin nicht ihr Gebiet.

Entsprechend war sie recht froh, dass bald eine Kellnerin zu ihnen hinüberkam, sie bestellen ließ. Dabei entging ihr nicht der misstrauische Blick, den sie ihr zuwarf. Hatte sie das Holster unter der Jacke bemerkt oder fand sie die Lederjacke an sich seltsam?

Pakhet sagte nichts und auch die Kellnerin behielt etwaige Gedanken für sich.

Erst als sie gegangen war, lehnte Siobhan sich vor. Sie lächelte auf eine freundliche, sehr gewinnende Art, die wahrscheinlich nicht zuletzt Murphy zugesagt hätte. „Ich wollte fragen, ob du weitere Informationen hast. Irgendetwas, womit man dir helfen kann?“

Pakhet zögerte für einen Moment. Direkte Konfrontation war vielleicht die beste Methode. „Warum willst du das wissen?“

„Weil ich die ganze Geschichte sehr seltsam finde“, erwiderte Siobhan. „Und weil ich durchaus etwas dagegen habe, wenn Magier …“ Sie ließ den Satz auslaufen. Wahrscheinlich war es nicht der beste Ort, um diese Gespräche zu führen.

Pakhet lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musterte die andere Frau, die ihr in jeder Hinsicht unähnlich war. „Ich habe aktuell kein Geld, um dich dafür zu bezahlen.“

„Das ist nicht schlimm“, erwiderte Siobhan. „Ich habe anderes Einkommen.“

Es war vielleicht paranoid, doch so wirklich konnte Pakhet daran nicht glauben. Leute wollten immer einen Preis, jedenfalls wenn sie dauerhaft halfen. Es sei denn natürlich, sie hatte andere Motive. Sie war nicht hinter ihr her, oder? Doch Smith schien ihr zu vertrauen und Smith hatte – anders als Michael, sowohl Menschenkenntnis, als auch Moral.

Sie tauschte einen Blick mit ihm, erntete ein zusprechendes Nicken.

Also würde sie reden?

„Kennst du dich mit Magierzirkeln hier im Land aus?“, fragte sie daher. Es war eine andere Methode an die Sache dranzugehen.

„Zum Teil“, erwiderte Siobhan. „Das, was ich durch meine Arbeit mitbekomme. Mit manchen habe ich schon zusammengearbeitet. Viele sind nicht ernstzunehmen. Kulte.“

„Kennst du die Kinder der Sonne?“ Pakhet mochte es nicht darüber zu sprechen.

„Ich habe von ihnen gehört“, erwiderte Siobhan. „Sie haben keinen besonders guten Ruf. Es sind echte Magier darunter.“

„Wie viele?“

„Genug, um die Leute davon zu überzeugen, dass an ihrer Religion etwas dran ist und deswegen allerhand Unsinn zu tun.“ Sie schien die kommende Frage nach der Art von „Unsinn“ vorherzusehen und fuhr daher fort: „Das übliche. Geld. Manchmal kleine Verbrechen. Ich habe gehört, einige Leute dealen Drogen, angeblich im Auftrag. Aber auch ein paar schlimmere Dinge. Grabräuberei zum Beispiel.“

„Grabräuberei?“

„Und dergleichen, ja“, erwiderte Siobhan. Sie zuckte mit den Schultern, verstummte, als die Kellnerin mit ihren Getränken wiederkam.

Tee, Eiskaffee und ein alkoholfreies Bier für Smith.

Siobhan rührte in dem Tee, während sie darauf wartete, dass die Kellnerin wieder verschwand. „Ich weiß nicht genaueres, aber ich habe ein paar Sachen mitgehört, als ich in Joburg war.“ Dann kroch das Lächeln zurück auf ihr Gesicht. „Soll ich mich vielleicht ein wenig weiter umhören?“

Gute Frage. Doch hatte sie eine Wahl? Im Moment konnte sie jede Hilfe brauchen. Sie hasste es dennoch.

Pakhet nickte. „Das würde mir helfen. Aber … Sei darüber informiert, dass in dieser Geschichte ein paar …“ Wie sollte sie es ausdrücken, ohne zu viel zu sagen? „Das ganze ist eine Verschwörung. Und ja, ich weiß, wie albern es klingt.“ Sie wollte nicht zu den Aluhutträgern gehören. Wenn überhaupt war das Alices Schuld. „Es sind ein paar einflussreiche Leute in die Sache verstrickt, also wenn du dir nicht sicher bist …“

Siobhan unterbrach sie: „Hast du die Frage deinem Freund auch gestellt?“ Auf Pakhets verwirrten Blick hin erklärte sie: „Dem komischen Doktor, meine ich.“

Pakhet musste sich zurückhalten, um keine Bemerkung zu machen. „Er ist nicht mein Freund“ hätte wohl wie die beleidigte Antwort eines Teenagers geklungen. Daher zuckte sie mit den Schultern, auch wenn dem Grinsen auf Siobhans Gesicht nach ihre Gedanken sich sehr wohl in ihrer Mimik abgezeichnet hatten. „Schon lange bevor das ganze angefangen hat“, erwiderte sie.

[18.09.2011 – M24 – Verabredungen]

Pakhet sah auf ihr Handy. Sie hatte eine Nachricht von Jack bekommen.

„Chase hat mir erzählt. Habe ein paar Informationen zu Jaco. Wann können wir uns treffen, Sweetheart?“

Natürlich hatte er sich das „Sweetheart“ nicht verkneifen können. Mittlerweile nahm sie es ihm nicht einmal mehr übel. Sie erinnerte sich zu gut, wie verloren er dort auf dem Parkplatz gewirkt hatte. Ja, sie hatte Mitleid. Sie hatte wirklich Mitleid mit ihm.

Sie sah auf die Nachricht. Sie hatte ihn nicht um Hilfe gebeten. Er hatte sich dafür entschieden. Sie hatte versprochen ihn zu beschützen. Wie konnte sie das so?

Dennoch antwortete sie: „Übermorgen. Komm zum Krankenhaus.“

Vielleicht war es nicht das klügste, sich hier zu treffen. Wo sonst? Sie konnten sich nicht immer in der Öffentlichkeit treffen.

Ein Klopfen am Fenster ließ sie zusammenzucken. Mittlerweile war sie beinahe daran gewöhnt. Murphy in Rabengestalt. Sie ging zum Küchenfenster.

Murphy war nicht allein. Da war auch noch eine Möwe. Trixie.

Pakhet öffnete das Fenster, ließ die beiden herein. „Was macht ihr hier?“

Die Möwe krächzte, als sie ins Wohnzimmer flog, während Murphy seine menschliche Gestalt annahm und wieder einmal splitterfasernackt vor Pakhet stand.

„Die Möwe hat mir erzählt, dass …“ Weiter kam er nicht, ehe Trixies Stimme aus dem Wohnzimmer erklang.

„Siobhan hat mich geschickt. Sie hat Informationen über Zea. Sie wollte fragen, ob du sie treffen willst.“

Pakhet ging ins Wohnzimmer, musterte die Möwe, die auf dem Tisch saß. „Wir können uns treffen, ja.“ Damit ging sie in ihr Zimmer hinüber, um die Kleidung, die sie für Murphy geholt hatte, aus dem Schrank zu nehmen. „Was hat Siobhan herausgefunden.“

„Sie sagt, deine Vermutung ist richtig“, antwortete Trixie. „Die beten ägyptische Götter an.“

Wortlos drückte Pakhet Murphy die Kleidung in die Hand, während ihre Aufmerksamkeit auf der Möwe ruhte. „Okay. Danke.“ Sie überlegte. „Kann sie übermorgen rüberkommen? Dann ist auch Jack da.“

Murphy protestierte: „Hey? Was soll das?“ Er sah auf die Kleidung, die er in den Händen hielt.

„Habe ich für dich gekauft. Damit du hier nicht nackt herumlaufen musst.“ Sie schenkte ihm einen amüsierten Blick.

Der Junge zog einen Schmollmund und sah auf die Kleidung. Ein einfaches T-Shirt, eine Jeans, Unterwäsche. „Woher weißt du überhaupt, dass sie passt?“

„Weil bei dir alles passen kann“, erwiderte sie. Sie hatte die Kleidung in Größe S geholt, da Murphy in seinen Standardgestalten, wenn er bei ihr war, meist hager war.

Er schenkte ihr einen beleidigten Blick, setzte sich dann auf das Sofa, während die Möwe ihn interessiert beobachtete, dabei ihr Kopfgefieder leicht aufstellte.

Pakhet wuschelte dem Jungen durch das Haar. „Komm, tu mir den Gefallen.“

Er sah sie an. „Und was ist, wenn nicht?“

Zur Antwort zuckte sie nur mit den Schultern. Sie würde kaum etwas tun. Dennoch fühlte sie sich unwohl, wenn er hier so nackt rumsaß.

Offenbar ahnte er das. „Krieg ich dann ein Eis?“

„Von mir aus.“ Sie schenkte ihm einen amüsierten Blick.

Mit langgezogenem Seufzen stand er auf. „Okay.“ Er zog auch das Wort unnötig in die Länge. Damit ging er zum Bad, während die Möwe ihm hinterhersah.

Pakhet wandte sich ihr wieder zu. „Kannst du das Siobhan sagen?“

Der Kopf des Tieres schreckte zu ihr herum. Trixie wirkte verwirrt. „Was?“

„Ob Siobhan übermorgen Abend herkommen kann“, meinte Pakhet.

Trixie plusterte sich auf, raschelte mit den Flügeln. „Ja, kann ich ausrichten.“ Sie zögerte. Beinahe wirkte es, als würde sie seufzen, doch wahrscheinlich taten Möwen so etwas nicht. „Ich werde dann mal.“ Damit schlug sie mit den Flügeln und entschwand wieder durch das Küchenfenster.

Pakhet schüttelte den Kopf. Die Möwe war bisher definitiv ihr seltsamster Verbündeter.

Murphy kam in das Wohnzimmer zurück, blieb aber in der Nähe der Tür stehen und verschränkte die Arme. Er schmollte. Wegen der Kleidung?

„Was ist, Kid?“ Sie sah zu ihm.

Er blähte die Wangen auf, wie es ein wirkliches Kind tun würde. „Du hast mich nicht um Hilfe gebeten!“

Für einen Moment brauchte sie, um die Worte zu verstehen. „Du meinst wegen der Sache?“

Er sah sie nur an. Offenbar wollte er: „Was sonst?“ sagen. Noch immer waren seine Arme verschränkt. Seine Augenbrauen schoben sich zusammen.

Pakhet seufzte leise. „Es gibt aktuell wenig, was du tun kannst. Außerdem …“

Er unterbrach sie: „Wenig, was ich tun kann? Ich kann Informationen besorgen. Ich bin darin wahrscheinlich besser, als irgendwer anderes. Also jedenfalls offline.“ Er gestikulierte, löste zumindest so seine Arme.

„Du bist aktuell nicht in Joburg und kannst nicht nach Joburg.“ Sie bemühte sich um einen strengen Blick. „Du hast einen Job, schon vergessen?“

„Crash kommt auch ein paar Tage ohne mich aus.“

„Hast du ihn danach gefragt?“

„Nein, weil du mich ja nicht um Hilfe gebeten hast!“ Seine Stimme wurde lauter. Er schien nicht einmal so beherrscht, wie er es normal war. Nur Schauspielerei oder war er wirklich so beleidigt?

„Ich versuche Rücksicht auf dich zu nehmen“, meinte sie.

„Nein. Du willst mich beschützen“, erwiderte er. „Weil du glaubst, dass ich mich nicht selbst verteidigen kann.“

War es so offensichtlich? Seine Worte trafen es nicht ganz, aber doch war genug Wahrheit daran.

„Kid“, meinte sie sanft. „Ja, ich gebe zu, ich will dich beschützen. Ich will dich nicht weiter darein ziehen. Du hast einen Job. Du hast eine Chance von diesem ganzen Scheiß wegzukommen. Die will ich dir nicht nehmen.“

„Aber es ist noch immer meine Entscheidung! Ich will dir helfen! der ganze Kram geht mir nicht einfach am Arsch vorbei. Ich will helfen. Ich will dir helfen!“

Sie konnte nicht anders. Noch einmal seufzte sie. „Ich weiß. Ich verstehe es auch. Ich werde dir Bescheid sagen, wenn es etwas gibt, was du hier machen kannst, ja?“

„Und was ist mit Joburg?“

„Du hast Crash gegenüber Verpflichtungen. Murphy. Bitte. Ich denke nicht schlecht von dir. Ich glaube dir, dass du dich verteidigen kannst.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber schau doch. Ich kann mich verteidigen, oder?“

Er antwortete nicht, verschränkte wieder die Arme.

„Glaubst du, dass ich mich verteidigen kann, Murphy?“, wiederholte sie die Frage, dieses Mal eindringlicher.

Er schnaubte. „Ja.“

„Ich wäre gestorben, als wir an diesem Casino waren. Wäre Doc nicht da gewesen, wäre ich gestorben. Da will ich dich nicht allein reinrennen lassen. Auch nicht, um zu recherchieren. Wenn es etwas gibt, was du hier machen kannst oder wo du uns vor Ort helfen kannst, dann sage ich dir Bescheid, aber ich will nicht, dass du allein dahin gehst und …“ Sie schüttelte den Kopf.

Sein Blick war noch immer wütend, funkelte. Dann aber wich er ihrem Blick aus, sah zu Boden.

„Murphy. Ist es nicht eigentlich eine gute Sache, dass mir genug an dir liegt, dass ich dich beschützen will?“ Vielleicht war es die falsche Frage.

Er zögerte. „Wenn du dann deswegen …“ Er hielt inne, fing sich. Ein blasses Lächeln erschien auf seinen Lippen. Da war seine Maske wieder. „Ich meine, mal ehrlich. Alles was ich vermeiden will, ist dass du scheiterst und mal ehrlich, ohne meine Hilfe, wie willst du das denn auf die Reihe bekommen? Willst du diesem Jack oder irgendeinem Polizisten vertrauen?“

„Ich denke, die beiden haben ihre eigenen Gründe, gute Arbeit zu leisten, ja.“ Sie ging zu ihm hinüber. „Komm, Kid. Ich habe eine hohe Meinung von dir. Wirklich. Du bist ein verfluchter kleiner Jedi. Aber im Moment ist es besser, wenn sich jemand darum kümmert, der sich in Joburg auskennt.“ Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und legte sie dem Jungen auf die Schulter.

Beinahe rechnete sie damit, dass er versuchen würde, sie anzusehen, doch sah er sie nur an.

Für einen Moment verblasste sein Lächeln wieder gänzlich und eine seltsame Verletzlichkeit erschien in seinen Augen. Doch dann war das vergangen. Wieder fand das Lächeln zurück auf seine Lippen. „Aber ich kann dir helfen, wenn du was unternimmst? Immerhin kommt Crash dann mit?“

Pakhet atmete tief durch, lächelte dann aber. „Sicher.“ Dabei ahnte sie, dass sie dieses Versprechen bereuen würde.

[17.09.2011 – J06 – Angriffsplan]

Sie saßen bereits zu dritt im Wohnzimmer, als Siobhan bei ihnen ankam.

Jack war vorher gekommen. Heidenstein hatte dafür gesorgt, am Abend Zeit zu haben. Er hatte es sich einfach nicht nehmen lassen.

Pakhet war dankbar dafür.

Immer wieder warf sie Jack einen Seitenblick zu. Vor ihm stand sein drittes Glas Whiskey, auch wenn er bisher nicht den Eindruck erweckte, angetrunken zu sein. „Also warten wir wirklich auf Siobhan?“, meinte er.

Sie nickte. Sie wollte nicht alles doppelt und dreifach besprechen, selbst wenn der weniger rationale Teil ihrer selbst jetzt lieber alle Informationen hätte. Sie beherrschte sich. Sie ließ sich nicht von ihren Impulsen beherrschen.

Selbst trank sie einen Kaffee. Immer wieder merkte sie den Drang, sich zu betrinken, doch sie beherrschte sich. Es würde nicht besser machen, würde sie entwässern, ihren Schlaf schlechter machen. Es würde ihre Anspannung nur kurzfristig beseitigen.

Endlich klingelte ihr Handy.

„Ich gehe runter“, meinte Heidenstein.

Doch ein klopfen am Fenster belehrte ihn eines Besseren.

Sie tauschten Blicke, dann ging Heidenstein zum Küchenfenster, um zwei Möwen hineinzulassen, von denen eine die Gestalt von Siobhan annahm. Zumindest war sie, anders als Murphy, bekleidet, wenngleich nur knapp. Sie war barfuß, als sie ins Wohnzimmer kam. „Entschuldigt die Verspätung“, meinte sie lächelnd.

Jack stand auf. „Kein Problem, Cherie.“

Pakhet verdrehte die Augen. Jack schien dieselbe Art bei jeder Frau zu Tage zu legen. Dann räusperte sie sich selbst. „Schon in Ordnung. Willst du etwas trinken?“

„Gerne. Habt ihr Cola?“

„Nur Kaffee, wenn's um Koffein geht“, erwiderte Heidenstein.

Siobhan zuckte mit den Schultern. „Soll mir auch Recht sein.“

Als Heidenstein aus der Küche zurückkam, hatte er eine Tasse dabei. Er stellte sie vor Siobhan, die sich die Kanne nahm und eingoss.

Ihre Möwe setzte sich auf die Rückenlehne des Sessels, begann ihr Gefieder zu putzen.

Pakhet seufzte. „Okay. Was habt ihr herausgefunden?“ Wie sehr sie es doch hasste, auf die Informationen der anderen angewiesen zu sein. Sie konnte Murphy verstehen. Gerne hätte sie auch selbst etwas getan, doch konnte sie ihren Job bei Michael nicht weiter ignorieren. Er würde sich rächen. Und besonders gut kannte sie sich nicht in Joburg aus.

Jack schenkte Siobhan einen süffisanten Blick und holte dann ein Tablet heraus. „Wenn du mir den Vortritt lässt, Sweetheart?“

Siobhan schien dies zu amüsieren. Ihr Lächeln wurde reizvoll, während sie ihn beobachtete. „Natürlich, Jacques.“

Er zwinkerte, rief dann eine Datei auf. Er legte das Tablet auf den Wohnzimmertisch. „Also, das ist, was ich weiß: Jaco hat seine Gang relativ flach organisiert. Die verschiedenen Abteilungen sind gleichberechtigt. Es gibt immer einen Anführer, einen Vertreter und eine Person, die die Gang vertritt. Soviel konnte Chase mir sagen. Sie haben eine Art demokratische Versammlung, die größere Züge organisiert. Ressoucen aufteilt. Sowas. Jedenfalls schickt jede Gang jemanden hin.“

„Also ist es mehr als eine Gang?“, fragte Heidenstein.

Jack nickte. „Mehr oder weniger. Sie tragen alle dieselben Gangfarben, aber Jaco scheint meistens die Gangs, die sich ihm anschließen, autonom zu lassen. Sie haben noch eigene Namen, eigene Titel. Zahlen halt Abgaben.“

„Übliche Verbrecherbürokratie, also“, kommentierte Siobhan.

„Jedenfalls, er hat selbst eine fünfer Spitze, die über allen anderen steht und natürlich auch Teil des Ausschusses ist. Interpol kennt nicht alle Mitglieder, aber weiß zumindest, dass eine gewisse Elna und ein Mandla Jacobs dazu gehören. Elna ist lokal im Süden Joburgs ziemlich bekannt. Sie hat ihre Finger in Drogenkram, wurde aber auch mit ein paar Morden in Verbindung gebracht. Unter anderem auch mit vier Muti-Morden. Deswegen meint Chase, dass es nicht dumm wäre über sie die Verbindung zu diesem Zea zu suchen.“ Er rief zwei Bilder auf.

Das eine zeigte eine afrikanische Frau mit fleckiger Haut. Sie wirkte gleichzeitig alt und jung. Ihre Haut wirkte mitgenommen, stark gealtert, doch hatte sie wenige Falten. Ihr Haar war gänzlich schwarz und voll, in einen Zopf aus unordentlichen Rasterzöpfen gebunden. Ein goldener Ring zierte ihre Nase. Auch ihre Ohren waren mit mehreren Steckern behangen.

Der Mann war farbig, hatte eine Glatze. Er schien um die fünfzig zu sein, wirkte aber kräftig, muskulös. Eine kängliche Narbe zierte die rechte Hälfte seines Gesichts. Was auch immer es gewesen war, hatte wahrscheinlich sein Auge gekostet. Jedenfalls hing das Augenlid nutzlos herunter.

„Etwas zu dem Magierzirkel?“, fragte Pakhet. „Den Kindern der Sonne?“

„Ich weiß nicht viel. Nur, dass Kela, jemand der offenbar dem Zirkel angehörte, letztes Jahr wegen eines Ritualmordes an einem Kind verurteilt wurde.“

Pakhet nickte. Es war nicht wirklich überraschend, dass eine magische Vereinigung, real oder nicht, mit Muti-Morden in Verbindung stand. Es war eins der großen Probleme im Land. Es war vielleicht nicht so schlimm, wie einige Vorurteile es nahelegten, doch schlimm genug, dass es eigene Ermittlungsteams dafür gab. Immer wieder wurden Leute aufgefunden, deren Organe, Knochen oder Blut rituell entnommen worden waren. Gerade Kinder waren häufig Opfer. Aberglaube konnte sehr mächtig sein.

„Dafür habe ich etwas dazu“, meinte Siobhan. „Ich habe mich genau dahingehend umgehört. Allerdings ohne Fotos.“ Sie sah lächelnd auf die Sachen, die Jack herausgeholt hatte.

„Eigentlich war ich noch nicht fertig“, erwiderte er, jedoch auf eine äußerst charmante Art. Er lächelte, trank einen Schluck seines Whiskeys. „Aber sicher, mon cherie, mach du erst einmal weiter.“ Er hob das Glas, als würde er anstoßen wollen, nippte dann weiter daran.

Siobhan warf ihm einen amüsierten Blick zu, räusperte sich dann und tauschte kurz einen Blick mit Trixie, die sich aufplusterte.

„Ich habe ein wenig spioniert“, verkündigte sie dann. „Dieser Zea ist ein recht bekannter Magier. Er hat viele Treffen. Ich bin ihm gefolgt.“

Siobhan erklärte: „Wir haben relativ schnell etwas über ihn herausgefunden. Er ist sehr bekannt in der Community in Joburg.“ Offenbar redete sie von der Community der Magier. „Wir haben uns also ein wenig informiert. Er bietet allerhand Dienstleistungen an. Scheint real zu sein. Wirklich magisch. Und er folgt einer alten Gottheit.“ Sie sah kurz zu Pakhet.

„Welcher Gottheit?“, fragte sie.

Siobhan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ägyptisch. So viel kann ich sagen.“

„Nicht verwunderlich, nach den ägyptischen Dämonen“, meinte Heidenstein.

„Er hat einige Zeremonien.“ Trixie flatterte auf den Tisch. „Er hat offenbar einen kleinen Tempel, außerhalb der Stadt. Ein altes Gebäude. Magisch geschützt. Viele Magier dort. Auch Dämonen.“ Wieder plusterte sie sich auf. „War geschützt.“

Das klang nicht wirklich vielversprechend.

„Wie viele sind viele?“, fragte Pakhet.

„Ich habe über den Tag knapp dreißig Magier dort gesehen. Verschieden stark begabt. Manche kaum. Aber knapp dreißig.“

Dreißig Magier? Nun, nicht wirklich viele, wenn man bedachte, dass in Johannisburg sicherlich mindestens zweihundert, wenn nicht sogar dreihundert Magier lebten. Und das war rein auf die Bevölkerung gerechnet. Bedachte man, dass Joburg, wie auch Kapstadt viele Leute aus aller Welt anzog, nicht zuletzt wegen der hier recht ausgeprägten und tolerierten Unterwelt, konnten es locker vierhundert sein. Zumal es schwer war die Anzahl der gering talentierten Magier zu schätzen.

Die Frage war nur, ob sie es mit dreißig Magiern aufnehmen konnten.

„Wie viele davon waren meistens am Gebäude?“, fragte sie.

„Sechs bis zehn“, erwiderte Trixie.

„Es wird jedenfalls nicht leicht sein, darein zu kommen.“ Siobhan schürzte ihre Lippen. Sie hatte sich, die Kaffeetasse in der Hand, im Sessel zurückgelehnt, hatte die Füße angezogen und wirkte entspannt. Ihre Augen funkelten. „Es wäre nichts, wo ich reinmaschieren würde. Schon gar nicht mit den Dämonen.“

Die Dämonen waren ein anderer Grund dahin zu gehen. Denn wenn die Sache im Casino und dem Wasserwerk Pakhet eins gezeigt hatte, dann, dass es möglich war, dass sie Leute an die Dämonen verfütterten. Vielleicht sogar weitere Kinder.

„Das ist ja die Sache, über die ich reden wollte“, meinte Jack. Er tippte wieder etwas auf dem Tablet ein und rief eine Karte auf. Ein Satelitenbild. Ein Gebäude war markiert. Dem Bild nach, war es in einem der ärmeren Viertel von Johannisburg, aber keinem Ghetto. Einfache Gebäude, aber immerhin wirkliche Gebäude, anstatt Wellblechhütten. „Hier. Da drin hat Elna eine kleine Drogenküche. Von allem was Chase mir sagen konnte, steht das ganze schon seit einer Weile unter polizeilicher Beobachtung, aber aus irgendeinem Grund wurde nie zugeschlagen.“

„Also wegen Bestechung, hmm?“, meinte Pakhet.

Er zuckte mit den Schultern. „Darüber denken wir besser nicht nach, Cherie.“ Er zoomte näher in die Karte. „Jedenfalls war ich gesamt drei Mal da. Und ich habe ein paar Leute beobachten können.“ Damit wischte er nach links, rief das nächste Bild aus. „Das ist dieser Zea, oder?“

Das Bild zeigte einen älteren, aber kräftigen arabischen Mann. Er trug einen gepflegten Vollbart, die Haare waren länger, aber in einen Zopf geflochten. Seine Kleidung wirkte, als wäre er irgendeinem historischen Schauspiel entlaufen: Ein weiter (), dazu allerdings eine Art Toga und eine Robe, die weiß um seinen Körper fiel. Er trug einen Stab bei sich, der deutlich wie irgendeine Art Zauberstab wirkte. Da waren Zeichen eingeritzt und mit dunkler Tinte nachgezogen worden. Vielleicht waren sie auch eingebrannt.

„Klischeehafter Magier“, murmelte Pakhet.

„Willkommen in Magierkreisen“, erwiderte Siobhan sardonisch. Mit einem Nicken sah sie zu Jack. „Ja. Das ist Zea.“

Er lächelte. „Er scheint sich dort mit Elna zu treffen. Ich nehme an, er hat über sie Kontakt mit Jaco.“

[23.09.2011 – F05 – Machtspiele]

Noch drei Tage, dann würden sie nach Johannisburg fliegen.

Bis dahin musste sie sich bemühen, alles normal wirken zu lassen. Sie war in der Firma, schlug Zeit tot. Eigentlich hätte sie Arbeit für Heidenstein erledigen sollen, hätte sich um die Security in seinem Krankenhaus kümmern sollen. Sie hatte es ihm versprochen, doch wollte sie Michael keinen weiteren Grund geben, sauer auf sie zu sein.

Deswegen stand sie hier. Wieder einmal im Schießstand. Schießen half ihr, sich zu konzentrieren, half ihr, nicht alles tausendfach zu hinterfragen. Sie musste sich gänzlich auf ihre Waffe und das Ziel konzentrieren. Auf die Waffe, das Ziel und ihre Atmung.

Pakhet atmete ein, aus, schoss. Beinahe ein Volltreffer. Aber nicht gut genug. Im Ernstfall konnten wenige Zentimeter den Unterschied machen.

Wenn sie verfehlte, dann konnte es den Unterschied machte, ob der Gegner noch einmal feuern konnte.

Noch einmal!

Einatmen, ausatmen, schießen.

Die Tür ging auf. „Pakhet“, sagte jemand.

Sie sah sich um. Sie trug die vorgeschriebene Schutzkleidung nicht einmal. Warum? Sie hatte es nie eingesehen. Sie konnte gut genug mit den Waffen umgehen. Im Feld trug sie weder Ohrenschutz noch eine Schutzbrille.

Agent war in den Raum gekommen. Sie hatte ihn ewig nicht mehr gesehen. Er hatte eine neue Narbe, offenbar von einem Job, der nicht ganz nach Plan verlaufen war. Aber es hätte schlimmer sein können. Die Narbe war am Rand seines Halses. Das hätte schnell tödlich sein können.

„Agent“, meinte sie. Wirklich gut konnte sie ihn nicht leiden.

„Ich war eben bei Mr Forrester“, erwiderte er. „Er will mit dir reden.“

Sie musterte den Hacker. Gerne hätte sie etwas erwidert. Sie besann sich jedoch eines besseren.

Michael. Was wollte er jedoch schon wieder? Es war ein Powerplay. Eine Vorführung seiner Macht. Anstatt sie zu nerven, wie er es früher immer getan hätte, wollte er ihr zeigen, dass er sie zu sich rufen konnte.

Sie wollte ihm diese Genugtuung nicht gönnen, doch was für eine Wahl hatte sie schon?

Sie nickte. „In Ordnung.“ Damit sicherte sie ihre Waffe, steckte sie ins Holster an ihrem Gürtel.

Agent musterte sie, sagte jedoch nichts weiteres. Kein Abschied. Gar nichts.

Auch gut. Sie konnten beide einander nicht leiden. Gegenseitigkeit war doch etwas angenehmes.

Missmutig ging sie zum Treppenhaus, ging in das oberste Stockwerk. Michael. Sie konnte ahnen, was er von ihr wollte. Es gefiel ihr nicht, doch zumindest konnte sie sich innerlich darauf vorbereiten.

Endlich war sie vor seiner Tür, klopfte, wartete aber auf keine Antwort. „Du hast mich rufen lassen“, sagte sie voller Sarkasmus. „Also, was willst du?“

Michael saß vor seinem Rechner, schien etwas auf dem Bildschirm zu lesen und sah zu ihr hinüber. Berechnung lag in seinem Blick. Herablassung. „Ah, da bist du ja, Jojo. Ich dachte, ich habe mal wieder ein kleines Gespräch mit dir.“ Er zeigte auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisch.

Sie blieb mit verschränkten Armen in der Nähe der Tür stehen. „Dann rede.“

„Ich habe gehört, du hast neue Hobbys.“

„Vielleicht? Und?“ Er konnte sie nicht davon abhalten, etwas zu tun.

„Bist du nicht der Meinung, dass das etwas gefährlich ist?“, meinte Michael. Wieder wandte er sich dem Rechner zu. Eine deutliche Geste: Er musste keine Angst vor ihr haben. Sie würde ihn nicht erschießen.

Wie sehr sie es doch hasste, dass er Recht hatte.

„Wenn ich etwas gefährliches mache, ist es meine Entscheidung, Michael.“

Er zuckte mit den Schultern. „Deine. Ja. Und die, deiner ganzen neuen Freunde. Hmm.“ Er stützte den Kopf auf seiner Hand auf. „Wie geht es deinem Mitbewohner?“ Aus den Augenwinkeln sah er zu ihr.

Natürlich wusste er es. Sie hatte es nicht wirklich geheim gehalten, doch sie wollte es ihm nicht aufbinden. „Gut genug.“

„Du bist selbst erstaunlich gut, dem Tod zu entgehen, Joanne“, meinte Michael. „Aber willst du wirklich darauf bauen, dass es dem guten Doktor und dem Straßenjungen ähnlich geht? Ihr legt euch mit ziemlich mächtigen Leuten an.“

„Was weißt du darüber?“ Ihre Muskeln spannten sich an. Dabei konnte sie nichts tun.

Michael zuckte mit den Schultern. „Nun, wer zehntausend für deinen Kopf bieten kann, hat Geld und wer Geld hat, hat Macht.“ Er grinste. „Du kennst die Regeln.“

Wenn sie mehr Informationen wollte, sollte sie zahlen. Auf die Gefahr hin, dass er ihr falsche Informationen gab, um sie in eine Falle zu locken. „Nun, bisher hat es niemand auf mich angelegt.“

„Noch nicht. Aber wenn du so weitermachst … Stell dir vor, jemand würde etwas über den guten Doctor herausfinden. Oder über den Jungen. Was würde dann wohl passieren?“

„Ist das eine Drohung?“ Es klang ganz danach.

„Es ist nur eine Feststellung. Gänzlich neutral.“ Nun wandte er sich wieder ihr zu. „Aber, Joanne. Willst du es wirklich darauf ankommen lassen. Was ist hier überhaupt dein großes Ziel? Willst du dich beweisen?“

Sie antwortete nicht. Er würde es ohnehin nicht verstehen. Stattdessen zwang sie sich zu einem kühlen Lächeln, bemüht das Pochen ihres Herzens zu ignorieren. „Wie du es sagst, Michael. Ich brauche einfach ein Hobby.“ Dann hielt sie inne. „War das alles?“

[23.09.2011 – X18 – Angst und Wut]

Noch immer rauschte das Blut in Pakhets Ohren, als sie ganze zwei Stunden später vor dem Anderson Hospital vorfuhr.

Sie hatte die Wut in ihrem Bauch die ganze Zeit nicht besiegen können. War es wirklich Wut oder war es Angst? Sie war sich nicht sicher. Was war mit ihr los, dass sie nicht einmal das unterscheiden konnte?

Sie sagte sich die ganze Zeit, dass sie die Sache unter Kontrolle hatte. Michael konnte ihr nichts tun, doch sie wusste auch, dass sie sich damit selbst belog. Michael konnte sehr viel tun, allein dadurch, dass er Informationen verbreitete.

Er würde es vielleicht nicht tun, aber vielleicht eben schon. Die unterschwellige Drohung war deutlich gewesen. Wie viel wusste er über das, was sie planten? Wie viel wusste er über ihre Verbindung zu Chase? Warum interesserte es ihn überhaupt so sehr?

Sie wusste warum, doch der Grund war nur ein weiterer Auslöser für ihr Herzrasen.

Verdammt. Sie musste mit Heidenstein darüber reden. War es nicht schlimm, dass es das erste war, das sie dachte? Sie wollte mit Heidenstein reden. Dann würde es besser gehen. Es würde ihr helfen, ihre Gefühle, ihre Gedanken zu ordnen.

Sie stieg aus, schloss ihren Wagen ab, ging ins Krankenhaus. Die beiden Goons der Vory grüßten sie. Die meisten, die hier rotierten kannten sie mittlerweile gut. Natürlich. Immerhin hatte sie mit ihnen allen geredet.

Aber wenn die Goons hier waren, hieß es auch, dass Heidenstein wahrscheinlich in der Straßenklinik war. Jedenfalls wenn sie draußen standen.

Also ging sie zuerst in den Keller. Doch das Glück war heute nicht auf ihrer Seite. Heidenstein war dabei jemanden zu verarzten. Jemand, der sogar offenkundig unter Narkose lag, während eine junge Frau, die Pakhet als Athea erkannte, ihm assistierte.

Was auch immer das bedeutete. Vielleicht ein Supe, der nicht anders konnte, der nicht auf offiziellen Listen auftauchen durfte. Eine Erklärung. In letzter Zeit hatte Heidenstein die meisten, die sich eine normale Behandlung nicht erlauben konnten, dennoch oben behandelt. Wie viel Verluste er deswegen wohl machte? Sie wollte es lieber nicht fragen. Er war gutherzig. Zu gutherzig. Doch war es auch ein Grund, warum sie …

Sie ging in sein Büro, setzte sich an den Rechner. Sie wollte auf ihn warten. Doch hatte sie nicht die Ruhe dazu. Sie ging im Büro auf und ab, setzte sich auf seinen Hocker, stand wieder auf, ging wieder auf und ab, fuhr den Rechner hoch, nur um sich daran zu erinnern, dass es wenig an diesem Rechner zu tun gab.

Sie seufzte. Dann stand sie wieder auf und ging nach oben. Er hatte sie gesehen. Er würde hoffentlich wieder hochkommen, wenn er fertig war. Oben konnte sie sich zumindest die Zeit vertreiben. Oben konnte sie ihre Gedanken zumindest von der Frage ablenken, was zur Hölle es war, das Michael plante. Warum musste er sie die ganze Zeit kontrollieren?

[23.09.2011 – D41 - Zweifel]

Es dauerte über eineinhalb Stunden, ehe sich die Tür zu ihrer Wohnung im obersten Stockwerk des Krankenhauses öffnete.

Heidenstein kam hoch. Etwas blass, etwas müde und dennoch lächelte er, als er sie sah. „Wie war dein Tag?“

Eigentlich sollte sie fragen, wie sein Tag gewesen war. Doch sie konnte nicht. Sie hatte die letzten eineinhalb Stunden mehr schlecht als recht damit verbracht durch die Fernsehkanäle zu zappen. „Michael hat mich heute zu sich berufen lassen.“

Natürlich verstand Heidenstein sofort. Schrecken zeigte sich in seinem Gesicht. Er kam zu ihr hinüber, legte dabei den Arztkittel, den er über den Arm getragen hatte, auf den Sessel und setzte sich neben sie auf das Sofa. „Was ist passiert?“

„Ich glaube er beobachtet uns“, erwiderte sie. „Oder uns.“ Sie schüttelte den Kopf. „Jedenfalls weiß er offenbar von der Sache mit Joburg, wahrscheinlich auch von der Verbindung mit Chase.“

„Und?“ Zögerlich legte Heidenstein seine Hand auf ihre Schulter. Er war sich wie immer nicht sicher, wie er sie berühren durfte.

„Er … Nun, er ist immer noch nicht davon begeistert, dass ich das hier mache.“ Dass sie ein Hobby hatte. „Er hat eine recht deutliche Meinung dazu. Er hat … Unterschwellig gedroht, Informationen zu leaken. Über dich, über das Krankenhaus, dass ich hier liege, über Murphy.“

Heidenstein schürzte die Lippen. „Pakhet.“ Er schien sich nicht ganz sicher zu sein, was er sagen sollte. „Hat er es deutlich gesagt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Du kennst Michael. Er kennt mich. Ich kenne ihn. Er weiß, was ich mache. Er hat es deutlich genug gesagt.“

„Warum interessiert es ihn überhaupt?“, fragte Heidenstein.

Sie hatte mehr als genug Gelegenheit gehabt, in den letzten drei Stunden darüber nachzudenken. Sie seufzte, sah zum Fernseher, der noch immer auf lautlos lieb. „Weil er daran gewohnt ist, mich zu kontrollieren. Er hat mich die ganze Zeit kontrolliert. Und jetzt …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich war seine perfekte kleine Soldatin …“ Sie hielt inne. Wahrscheinlich sagte sie gerade zu viel. Noch einmal schüttelte sie den Kopf. „Er will, dass ich wieder bin wie vorher.“

„Vorher?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Er will Kontrolle. Er will, dass ich einfach meinen Job mache. Ohne mein Leben außerhalb zu riskieren.“ Und ohne ein Gewissen zu entwickeln. Wenigstens ohne mehr Gewissen zu entwickeln, als sie ursprünglich hatte. Genug, um bestimmte Jobs abzulehnen, aber nicht genug, um alle Jobs zu hinterfragen.

Dabei war es doch seine Schuld gewesen. Es war seine Schuld. Seine Schuld und die von Smith.

„Du bist deine eigene Person“, meinte Heidenstein und strich vorsichtig über ihre Schulter.

Sie nickte. Natürlich war sie ihre eigene Person. „Aber was ist, wenn du …“

„Das ist egal. Ich bin freiwillig hier. Das weißt du.“

„Ja. Und was ist mit Murphy?“

Heidenstein schwieg. Seine Hand hielt in seiner Bewegung inne. Für einen Augenblick sah auch er in Richtung des Fernsehers. „Er hat auch eine Entscheidung getroffen.“

„Er ist ein Kind.“

„Er ist ein Straßenkind. Ein Teenager. Er ist alt genug …“

„Aber nicht weise“, murmelte sie. Das konnte sie auch von sich selbst nicht behaupten.

Doch natürlich war Murphy nicht das einzige Kind. Da waren noch so viele andere. So viele andere Kinder, wahrscheinlich auch Erwachsene, die gefangenen waren, gehandelt, an Dämonen verfüttert wurden.

Die einzige Frage, die blieb, war, ob sie es wirklich ändern konnten. Sie waren auch nur Menschen. Sie waren nicht viele. Sie hatten nicht das Geld, nicht dieselben Mittel. Wie konnten sie diese ganze Sache gewinnen? Konnten sie es überhaupt.

„Wir tun das Richtige“, meinte Heidenstein vorsichtig.

Sie sah ihn an. „Ich weiß.“

Und am Ende würden sie dennoch verlieren. Sie hatten keine Chance.

[27.09.2011 – P04 – Vorbereitung]

Die Büros von Interpol in Pretoria waren stickiger, als die Firma in Kapstadt. Vielleicht lag es auch nur daran, dass es ein schwüler Tag war. Nicht ungewöhnlich warm, aber schwül. Die Luft schien nahezu zu stehen.

Die misstrauischen Blicke, die die fünf Polizisten, abgesehen von Chase, ihnen zuwarten, entgegen Pakhet nicht. Sie war in der Begleitung von Heidenstein, Jack und Siobhan hier, wobei Siobhan zumindest ihren Möwengeist nicht dabei hatte.

Wahrscheinlich wäre das für die einfachen Menschen hier zu viel gewesen. Eine sprechende Möwe.

Interpol mochte vielleicht von Magie wissen, doch war Pakhet sich nicht sicher, wie sie auf offensichtliche Magie reagieren würden. Menschen waren oftmals doch msistrauisch, abergläubig.

Auch Chase hatte einen langen Blick mit ihr getauscht, hatte jedoch nichts gesagt. Alles was die anderen Polizisten zu wissen schienen, war, dass sie hier waren um zu helfen. Sie mussten wissen, dass sie Söldner waren, mussten ihre eigene Meinungen dazu haben.

Gott, es war nicht so selten, dass die Polizei Söldner anheuerte. Dennoch schienen zumindest zwei der Männer hier ihnen nicht zu trauen.

Ein rothaariger, sommersprossiger Typ hatte sich nun bereits vier Mal zu ihr umgedrehte.

„Das Gebäude hat drei tatsächliche Eingänge“, erklärte Chase vor einem Bild des Gebäudes, das auch Jack ihnen schon gezeigt hatte. „Die Vordertür, ein Hinter- und ein Seitenangang. Wir gehen davon aus, dass sie nicht zuletzt als Fluchtmöglichkeit gedacht sind.“ Er wechselte die Folie, der eher schlecht, als recht zusammengeschusterten Powerpoint-Präsentation. „Wir wissen, dass es eine Drogenküche darin gibt, wissen auch, dass das Gebäude einer der Hauptumschlagsplätze für () Geschäfte ist. Wir sind allerdings vorrangig wegen diesem Mann hier.“ Das Bild von Zea. „Der Einsatz wird beginnen, wenn wir sicher sein können, dass er im Gebäude ist.“ Er zeigte das Bild von Zea.

Briefings. Sie hatten immer wieder etwas beruhigendes. Es gab in diesem Raum niemanden, der sich der genannten Informationen nicht bewusst war, doch war es wichtig, sicher zu gehen, dass alle auf denselben Stand waren.

„Wir haben leider keinen Plan des Gebäudes. Einen Eintrag in der (Behörde) gibt es nicht. Aktuell ist davon auszugehen, dass es mindestens ein Untergeschoss gibt. Mit Bewaffnung ist zu rechnen.“

Niemand stellte Fragen. Natürlich nicht. Hier gab es so etwas wie ein Protokoll. In der Firma hätte schon lang jemand hinterfragt, ob es nicht besser war, Zea auf der Straße abzufangen. Doch hier gab es keine solche Fragen. Natürlich nicht. Die Polizisten waren sich dessen bewusst, dass es so leichter wäre, weitere Verhaftungen durchzuführen, dass es außerdem kein unnötiges Risiko gab, wenn der Magier begann auf offener Straße zu zaubern. Nicht dass man sich zu viele Gedanken um irgendwelche Geheimhaltung machte. Doch wäre die Kontrolle der Situation in einem Gebäude einfacher.

„Wir müssen leider auch mit magischer Verteidigung rechnen“, fuhr Chase vor. „Wir haben Informationen, dass Zea etwas mit der magischen Verteidigung bei unserem Einsatz vor drei Wochen zu tun hatte. Entsprechend ist es nicht auszuschließen, dass es hier ähnliche Sicherungen gab.“

Pakhet hoffte nur, dass es nicht wieder einen magischen Raum mit Magier und Riesenschlage gab. Sie war nicht darauf aus, diese Konfrontation ein weiteres Mal zu wiederholen.

„Wir haben daher professionelle Hilfe, die mit dem Umgang mit magischer Verteidigung erfahren ist.“ Er nickte noch einmal in die Richtung von ihnen. Zu beginn seiner Präsentation hatte er dasselbe bereits schon einmal gesagt. „Ms Montgomery hat uns bereits in Kapstadt unterstützt und hat Erfahrung mit magischer Sicherung gesammelt.“

Pakhet stand auf. Sie fühlte sich nicht unbedingt wohl dabei. Die Angst, dass jemand sie erkennen könnte, spukte noch immer durch ihren Kopf. Es war irrational, doch galt das für viele Ängste. Sie ging zu Chase, nahm seinen Präsenter. Sie mochte diese Geräte nicht. „Wir haben es in Kapstadt mit mehreren Dämonen zur Verteidigung zu tun gehabt. Die Dämonen“ – sie blätterte zur nächsten Folie, die einige der schlechten Bilder, die sie von der Actioncam hatten, zeigte – „sind durchaus anfällig für normale Waffen, sind jedoch nicht zu unterschätzen. Angriffe, die nicht direkt tödlich sind, halten die Wesen nicht auf. Hohe Kaliber sind anzuraten.“ Auch wenn es eine größere Gefahr für Eigenbeschuss und etwaige Zivilisten war. „Wir sind darauf vorbereitet. Ich würde daher anraten, uns den Kampf gegen die Dämonen zu überlassen.“

Der Rotschopf fixierte sie. „Und was für eine Art von Dämon soll das sein?“

„Ägyptisch“, erwiderte sie sachlich. Sie glaubte die Frage sehr wohl zu verstehen.

War er gläubig? Wahrscheinlich. Diverse Gläubige hatten Probleme mit magischen Wesen, die nicht ihrem spezifischen Glauben entsprachen.

„Diese Art von Dämonen kommt aus dem ägyptischen Raum. Von allem was wir wissen, verfolgt Zea eine altägyptische Tradition.“ Sie sah ihn mit festen Blick an.

Laut seinem Namensschild hieß er „Doyle“. Wahrscheinlich ein Ire. Ein sehr klischeehafter Ire, wenn sie nach dem Rotschopf ging.

Doyle sah sie an. „Und was können Sie gegen die Dämonen machen?“

„Meine Kollegen und ich haben etwas Erfahrung darin, Dämonen zu bekämpfen. Wir werden außerdem noch Unterstützung von einem Gestaltwandler haben.“ So konnte Crash zumindest seine Identität für sich behalten.

Zumindest die Tatsache, dass Gestaltwandler sich ein wenig als die Schützer der Erde gegen Dämonen betrachteten, sollte bekannt sein. Was auch immer jemand von Gestaltwandlern hielt, so war es doch relativ bekannt. Selbst wenn Crash kein Werwolf war, so würde ein Hufabdruck fraglos auch einen Eindruck hinterlassen.

Doyle murmelte seinem Nachbarn etwas zu, sah sie dann jedoch an und nickte. Offenbar war damit diese Frage geklärt.

Pakhet sah zu Chase. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz. Solche Einführungen hatte sie schon oft für Söldner gemacht, doch gegenüber den Polizisten, bei denen sie nicht einmal sicher sein konnte, was sie wussten, tat sie sich schwer. Sie war zu nervös.

Dankbarerweise nickte Chase und nahm ihr den Präsenter ab. Er trat wieder nach vorne. „Danke, Ms Montgomery.“

Sie setzte sich wieder neben Heidenstein, tauschte einen kurzen Blick mit ihm.

Dann hörte sie Chase weiter zu.

„Wir haben nur ein kleines Team“, fuhr dieser nun fort. „Wir müssen den Plan daher anpassen.“

[27.09.2011 – C08 – Kavallerie]

Crash war in der Menge der Leute am Flughafen leicht zu erkennen. Er ragte aus der Menge, war mindestens einen Kopf größer als die meisten. Sein großer, breiter Körperbau stach aus der Menge hervor.

Diverse Leute warfen ihm beeindruckte Blicke zu, während er in einem Jogginganzug und mit gleich zwei Sporttaschen über der Schulter auf sie zukam.

„Hey, Großer“, größte Pakhet ihn, als er in Hörweite war.

„Hey, Lady.“ Er klopfte ihr auf die Schulter.

„Hey, Pakhet.“ Natürlich war Murphy bei ihm, wie immer in seiner Begleitung in der Öffentlichkeit in der Gestalt des Managers: Hellhäutig, vielleicht 30 Jahre alt, braunhaarig, durchschnittlich. Dennoch verriet das Glänzen seiner Augen ihn sofort als Murphy, selbst wenn sie diese Gestalt noch nie gesehen hatte.

„Kid.“

„Bitte, ich bin gerade sehr erwachsen“, erwiderte Murphy.

Crash klopfte ihm etwas zu hart auf den Rücken. „Bist du nicht, Knirps.“

Murphy protestierte, wurde jedoch ignoriert.

„Ich habe einen Leihwagen“, sagte Pakhet.

Crash nickte, schob Murphy neben sich her, während er ihr folgte.

„Mit dem Job alles okay?“, fragte sie.

Crash brummte, nickte.

„Ich habe ihnen gesagt, er ist auf einem Familientreffen“, erklärte Murphy. „Das war natürlich alles kein Problem. Es ist ja eh nichts und so wichtig ist er ja nicht.“

Er erntete einen amüsierten Seitenblick.

„Ich habe alles geregelt“, fuhr Murphy fort. „Immerhin bin ich ja sein Manager. Sein sehr erwachsener Manager.“

Pakhet konnte nicht anders. Ein kurzes Lachen kam über ihre Lippen. Beinahe war sie sicher, dass der Junge gerade versuchte sie aufzumuntern. Sie war nervös. Hatte er es bemerkt? Noch immer gefiel es ihr nicht, dass Murphy hier war, doch was konnte sie dagegen tun?

„Wann ist der Einsatz geplant?“, brummte Crash, während sie durch einen Gang hinüber zum Parkhaus gingen.

„Später“, erwiderte sie. „Ich bringe euch erst einmal zum Hotel.“

„Ich bin immer noch der Meinung, dass wir etwas mehr unserem aktuellen Status entsprechend unterkommen sollten“, meinte Murphy. Er hatte fraglos schon nachgeschaut, wo Pakhet sie eingebucht hatte. Ein durchschnittliches Hotel. Nicht heruntergekommen, doch es gab fraglos besseres. Es wäre nicht zu auffällig.

„Es passt schon“, brummte Crash.

Pakhet nickte. Sie tauschte einen Blick mit ihm, konnte das Funkeln in seinen Augen sehen. Freute er sich auf den Einsatz? Wollte er wirklich wieder kämpfen?

Sie fuhr mit ihnen auf eine der oberen Etagen des Parkhauses, wo der schwarze Chevrolet stand, den sie für ihren Aufenthalt gemietet hatte. Hoffentlich hatte der Wagen am Ende keine Löcher.

„Also“, meinte Murphy, als sie im Wagen saßen. „Was ist der Plan.“

Pakhet sah zu ihm.

Während Crash auf dem Beifahrersitz saß und verboten groß aussah, da der Wagen definitiv nicht für jemanden seiner Größe gebaut war. Dabei war es schon ein relativ großer Hummer, saß Murphy auf der Rückbank, nahm wieder seine übliche Gestalt des dunkelhaarigen Teenagers an.

„Wir haben das Gebäude unter Beobachtung“, meinte sie. „Wir warten darauf, dass Zea herkommt. Wenn Siobhan Recht hat, wird Zea morgen Nachmittag herkommen.“ Laut Siobhan lag eine gewisse Regelmäßigkeit in Zeas Besuchen bei den Kindern der Sonne.

„Womit müssen wir rechnen?“, fragte Murphy. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung.

Pakhet seufzte. Sie schaltete den Wagen in den Rückwärtsgang und fuhr aus der Parklücke. „Mit allem.“

[27.09.2011 – D42 – Beruhigung]

Pakhet hasste es. Schon wieder lag sie hier. Neben ihm. Neben Heidenstein. Sie war sich nicht sicher, was der nächste Tag bringen würde. So viele Variablen. Sie hasste es. Was, wenn etwas schief ging? Was, wenn Murphy oder Heidenstein etwas geschah?

Der Gedanke daran, machte sie unruhig, nervös. Und deswegen lag sie nun hier.

Sie wusste, dass sie aufstehen sollte. Sie wusste, dass sie zurück in ihr eigenes Hotelzimmer gehen sollte. Zwei Zimmer weiter. Doch sie tat es nicht. Sie schlief besser neben ihm, schlief besser, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Sie hasste es.

Es war nicht einmal zehn. Eigentlich zu früh zum Schlafen. Sie hatte Heidenstein den Rücken zugewandt, starrte auf die Vorhänge des Fensters.

Er lag neben ihr, hatte sich ihr zugewandt. Er wusste, dass sie nicht reden wollte. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn er sie anfasste.

Und dennoch … Für einen Moment spürte sie seine Finger auf ihrer Haut, knapp oberhalb ihrer Hüfte. Wäre es nicht ihre linke Seite gewesen, hätte sie seine Hand weggeschlagen. Doch ihr Armstumpf hing unnütz an ihrer Seite, unfähig dergleichen zu tun.

Sie machte einen leisen Kehllaut. „Lass das.“

Sofort zog Heidenstein die Hand zurück. „Sorry.“

Sie wandte sich halb zu ihm herum, die Stirn gerunzelt.

„Sorry.“ Er seufzte. „Ich habe nur …“

„Was?“

Noch ein Seufzen, während er ihren Blick suchte. „Du hast erstaunlich wenig Narben, für sieben Jahre …“

Ein unwillkürliches Lachen entfuhr ihrer Kehle. Sie wedelte mit dem Armstumpf, der nur bis knapp unterhalb ihrer Schulter reichte. „Ernsthaft?“

„Abseits vom Arm“, erwiderte er. Er streckte die Hand danach aus, hielt im letzten Moment jedoch inne.

Pakhet deutete ein Schulterzucken an. „Gutes Heilfleisch.“ Und einige Schulden bei Geistern.

„Magisch?“, fragte er.

„Ich weiß nicht. Vielleicht.“ Sie seufzte. Hätte ihr Körper damals besser geheilt, hätte sie den Arm vielleicht nicht verloren. Damals war Magie keine Option gewesen. Sie hatte davon nichts gewusst.

„Vielleicht sollte ich dich mal untersuchen.“ Er zwinkerte, meinte es als Scherz.

„Du meinst mich obduzieren, hmm?“ Sie schmunzelte und drehte sich auf den Rücken. Er schien reden zu wollen, also würde sie reden. Es war ohnehin zu früh, um zu schlafen. Zu früh.

Seine Augen wanderten kurz über ihren Oberkörper, ehe sie sich wieder auf ihr Gesicht fixierten. „Vielleicht sollte ich es versuchen.“

„Ich verzichte lieber darauf, ein Versuchsobjekt zu sein, Doc.“ Sie blickte zur Decke hinauf.

Sämtliches Licht kam von der kleinen Nachtlampe, die am Rand des Schreibtisch stand. Es war ein mattes, gelbliches Licht.

„Nur ein Scherz.“ Er seufzte. Er lag auf der Seite, hatte seinen Kopf auf seinen rechten Arm gestützt. „Darf ich dich was fragen?“

„Du darfst mich was fragen“, erwiderte sie und musterte ihn aus den Augenwinkeln. „Ich kann nur keine Antwort garantieren.“

„Das Risiko gehe ich ein.“ Er lächelte matt, seine Augen erstaunlich starr auf ihr Gesicht gerichtet. „Ich habe mich nur gefragt, wie oft du in deiner Karriere schon … Nun, wie oft du dem Tod knapp entkommen bist.“

„Beinahe-Tode, hmm?“ Sie presste kurz die Lippen aufeinander. „Kommt drauf an. Zählst du so etwas, wie im Wasserwerk? KO in feindlichem Gebiet?“

„Ganz wie du meinst.“

Wieder schaute sie zur Decke hinauf. Sie konnte seinen Blick nicht zu lange ertragen. Die Erinnerungen, die versuchten sich in ihren Geist zu drängen, waren jedoch nicht besser. „Mit knappe zehn Mal, glaube ich. Ohne vier Mal.“ Sie seufzte. „Das erste Mal auf meinem ersten Einsatz.“

„Was ist passiert?“ Er wollte wirklich mehr über sie erfahren, oder? Natürlich wollte er das.

Kurz drehte sie den Kopf auf die Seite, um ihn direkt anzublicken. Hatte er noch immer Hoffnung, dass sie mehr sein konnten, als das hier? Wollte sie darüber nachdenken? Eher nicht. Nein. Sie hatte ihm klar gesagt, was sie waren. Freunde mit Vorzügen. Er hatte gesagt, dass er verstand.

„Das ist ein Geheimnis“, erwiderte sie.

Wieder ein Seufzen. „In Ordnung.“

„Und du?“ Besser sie redeten über ihn, als über sie. „Wie oft bist du beinahe gestorben?“ Sie zögerte. „Wie lang machst du so etwas überhaupt schon?“ Es konnte nicht zu lange sein. Sie glaubte nicht, dass er angefangen hatte, bevor seine Firma pleite gegangen war.

„Seit letztem Jahr“, erwiderte er matt. „Aber ich habe die meiste Zeit nur für Victor … Na ja, du weißt.“

„Bodyguard?“

Nun war er es, der lachte. „Natürlich nicht. Mediziner. Für seine Leute. Ab und an in gefährlicheren Situationen.“ Wieder wanderte seine Hand zu ihr – dieses Mal zu ihrer Schulter – hielt jedoch wieder inne. „Und bevor ich auf die Firma umgestiegen bin … Ich hatte zwei gefährliche Situationen. Na ja, und danach das eine Mal, als ich mit Victor in Russland war …“

„Du meinst, als du nicht mehr mit mir gesprochen hast?“ Sie wandte sich ihm etwas weiter zu.

Ein schuldbewusstes Lächeln, war seine Antwort. „Ja, ich fürchte.“

„Was war damals los?“, fragte sie, bevor sie sich davon abhalten konnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.

Jetzt berührte er sie tatsächlich. Seine Finger wanderten sanft ihre Schulter entlang. Er rückte näher und ließ sie damit überlegen, ob sie weiter fortrücken sollte. „Ich habe mich mies gefühlt. Und ich …“ Er schürzte die Lippen, zögerte. „Ich habe mir über ein paar Sachen klar werden müssen.“ Er machte ein Geräusch, das wie ein unterdrücktes, nervöses Lachen klang. „Na ja. Ich habe halt weniger Glück als du.“

„Glück?“, fragte sie.

„Nun, vier Beinahe-Tode in sieben Jahren ist ein guter Schnitt.“ Er lächelte. „Ich beneide dich.“ Dann runzelte er die Stirn. „Entschuldige.“ Seine Hand wanderte sie ihrem Armstumpf. Er war sich offenbar dessen bewusst geworden, wie seine Worte klangen. „Entschuldige.“

„Schon gut.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich verstehe.“

Dankbar nickte er. „Na ja, und dann war halt da noch das eine Mal, als ich fast von Zombies gefressen wurde.“ Damit kam er zu ihrer eigentlichen Frage zurück. „Aber dankbarerweise war da jemand, der mich gerettet hat.“

„Jemand, der dich fast mit einer Granate in die Luft gesprengt hätte“, murmelte sie. Selbst so, da er sich ihr zugewandt hatte, war ein Teil seiner Narben sichtbar, die an seiner Seite sich hell von seiner leicht gebräunten Haut abhoben.

„Du weißt, dass ich dir das nicht vorwerfe“, erwiderte er. „Du bist zurückgekommen, hast mich gerettet. Dafür bin ich dir dankbar.“ Diese Weichheit lag erneut in seinem Blick. „Viele hätten das nicht getan.“

Wieder grummelte sie. Was musste er so sentimental sein? „Ich habe doch den doofen Mediziner von meinem Team nicht verlieren können.“

Er lachte leise. „Natürlich nicht.“

Schweigen senkte sich über sie, während seine Hand noch immer auf dem kläglichen Überrest ihres linken Arms lag. Warum störte es ihn nicht? Verfickter Idiot.

Pakhet musterte ihn. Sie ahnte, was seine beiden anderen Beinahe-Tode gewesen waren. Da war eine Schusswunde knapp unter seinem linken Schlüsselbein. Die Narbe war groß genug, um deutlich aufzufallen. Es musste mehr Glück als Verstand gewesen sein, dass er das überlebt hatte. Sie hatte außerdem eine Narbe an seinem Hinterkopf gespürt. Wahrscheinlich von einem Sturz. Davon abgesehen waren da mehrere kleinere Narben über seinen Körper verteilt. Auch noch eine weitere Schusswunde in seinem rechten Arm.

„Die Narbe an deiner Hüfte“, meinte er plötzlich. „Wie ist das passiert?“

Sie hob eine Augenbraue. Zu spät wurde ihr klar, dass sie gestarrt hatte. „Das?“ Ihr wurde klar, dass es die Wunde war, die er zuvor angesehen hatte. „Werhyäne.“

„Hyäne?“, fragte er.

Sie nickte. „Eine der Monsterjagden.“ Für einen Moment schloss sie die Augen. „Unangenehm.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Er schürzte die Lippen, sah sie jedoch weiterhin mit diesem weichen, ja, sanften Blick an. Dann wanderte seine Hand zu ihrem Gesicht. Seine Fingerspitzen strichen über ihre Schläfe.

Nun hob sie die Hand, schob seine weg. „Bitte.“

Er seufzte. „Entschuldige.“ Er musterte sie wieder. „Ich habe nur … Die Narbe sieht nach einer Schusswunde aus.“

„Ist es auch.“ Als sie sicher war, dass er sie nicht wieder berühren würde, strich sie selbst unwillkürlich über die beinahe komplett verblasste Narbe die nicht ganz von ihren Haaren versteckt war.

„Aber das …“ Er zögerte. „Wie hast du überlebt?“

„Glück.“ Sie grinste. Genau das, was er ihr zuvor vorgeworfen hatte. Das war einer ihrer Beinahe-Tode gewesen. „Die Kugel ist ins Auge und über die Schläfe ausgetreten.“

„Aber dein Auge …“

Natürlich. Ihr Auge schien in bester Ordnung zu sein. Doch das war letzten Endes nur eine gute Illusion. Ein Artefakt, das ihr Auge ersetzte. Eigentlich war es ein Upgrade. Visuell war es von ihrem gesunden Auge nicht zu unterscheiden, war jedoch fähig zumindest etwas mehr zu sehen. „Magie“, sagte sie.

Er musterte sie. „Wow.“

Pakhet lächelte nur matt. Eigentlich sollte sie Fragen stellen. Auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, ob sie mehr über ihn wissen wollte. Verdammt … Aber es war besser, als wenn sie weiter über sie sprachen. „Warum hast du bei der Firma angefangen, Anderson?“

„Victor hat es vorgeschlagen“, erwiderte er. „Ich glaube, er wollte verhindern, dass ich in die ganze Vory-Sache noch weiter reinrutsche.“

„Woher kennst du diesen Victor?“

„Aus der Schule.“ Er lachte leise, als er ihren ungläubigen Blick bemerkte. „Ja, ich bin mit dem Sohn einer Mafiosofamilie zur Schule gegangen.“

Sie hob eine Augenbraue. „Will ich wissen, wieso?“

„Hat sich so ergeben.“ Er lachte noch immer. „Nein. Zufall. Ich bin auf eine teure Privatschule gegangen und es hat sich so ergeben, dass Familie Dracovic ihren Sohn ebenfalls auf eine teure Privatschule geschickt hat.“

„Teure Privatschule, hmm?“ Wieso kam es ihr nur so bekannt vor? Sie erinnerte sich daran, wie ihre Eltern sie einst ebenfalls auf eine solche Institution geschickt hatten – und wie sie am Ende der Schule verwiesen wurde. Sie hatte das Institut gehasst. „Und jetzt schau dir an, wo du gelandet bist.“ Sie drehte sich auf die linke Seite, vorsichtig, da der Armstumpf drückte. Unwillkürlich legte sie die Hand auf seine stoppelige Wange. Was tat sie da?

„In guter Gesellschaft“, erwiderte er mit einem Grinsen.

„Idiot.“ Sie seufzte. Was fand er nur an ihr? Wie konnte er sich von ihr angezogen fühlen? Sie wollte es nicht fragen. „Bist du nicht müde?“

„Noch nicht wirklich, nein.“ Er legte seine Hand auf die ihre, hielt sie. Verdammt.

Was sollte sie tun? Ihr fiel nur eine Sache ein. Die Flucht nach vorne. Sie rückte näher an ihn heran, streckte sich, um ihn zu küssen. „Was sollen wir dagegen tun?“

Er lächelte, zog sie näher an sich heran. „Ich wüsste da etwas.“

Pakhet ließ es zu. Denn zumindest redeten sie so nicht weiter. Und sie brauchte es. Seine Nähe. Seine körperliche Nähe.

[28.09.2011 – P04 – Einsatz]

Sie warteten im Wagen. Chase und seine Leute hatten das Gebäude überwacht. Natürlich konnten sie nicht davor warten. Es würde jemanden auffallen. Vor allem, wenn es Dämonen gab, die im Astralraum um das Gebäude herum lauerten.

Heidenstein saß neben Pakhet. Murphy und Crash auf der Rückbank, die Crash beinahe komplett einnahm. Im Moment hatte er noch seine normale Gestalt. Er trug eine zu weitrschusssichere Weste, woher er diese auch immer bekommen hatte. Sonderanfertigung? Sie hatte nicht gefragt.

Sie trug ihre eigene Einsatzkleidung: Die magisch verstärkte Lederweste unter einer mundan verstärkten Lederjacke. Es sollte die meisten Angriffe abwehren, war jedoch keine absolute Sicherung. Wieder hatte sie auf einen Helm verzichtet. Er würde ihren Kopf schützen, würde sie jedoch behindern. Sie gewann nichts dadurch.

Auch Heidenstein trug keinen Helm. Er trug, was letzten Endes Motorradkleidung war, zusammen mit einer stichsicheren Weste.

Keiner von ihnen sprach. Sie waren knappe dreihundert Meter von dem Gebäude entfernt. Sie würden laufen müssen, wenn es losging.

Siobhan und ihre Möwe hatten direkt vor dem Gebäude Stellung bezogen – in der Gestalt von Möwen, selbst wenn sie als solche hier, im Inland, bei weitem mehr auffallen würden, als in Kapstadt.

Pakhets Blick wanderte zu Heidenstein, der sicher bereits zum vierten Mal seine Waffe überprüfte.

Er erwiderte ihren Blick, bemühte sich um ein Lächeln, das letzten Endes sehr steif ausfiel.

Pakhet atmete durch, als das Funkgerät knackte.

Das war Siobhans Stimme. Dann hatte sie Zea vor den Polizisten entdeckt.

Sie nahm das Funkgerät. „Rodger.“ Dann betätigte sie den Knopf, um die Frequenz zu wechseln. „Chase? Die Vögel haben den Magier gesehen.“

„Verstanden“, bestätigte der Polizist nach knappen drei Sekunden Stille.

„Wir begeben uns in Stellung“, sagt sie dann, ehe sie das Funkgerät zurücksteckte.

Wären sie in einem von Roberts tollen Actionfilmen hätten sie die tollen Ohrenstecker, die das Make-Up Department auf halben Weg beim Dreh der Actionszenen vergessen würde, doch leider hatten sie diesen Luxus nicht. Keine echten Ohrstecker.

Der Plan war, dass sie und Crash für Ablenkung sorgen würden, während Heidenstein zusammen mit Siobhan sich im Gebäude eine Übersicht verschaffte.

Sie mochte diesen Plan nicht absolut, doch war es immer noch eine der besten Alternativen. Sie musste hoffen, dass Heidensteins Unsichtbarkeitszauber gut genug war – nicht das er das letzte Mal viel gegen die Dämonen gebracht hätte.

Sie würden sehen.

Mit einem Nicken zu Heidenstein, stieg sie aus.

„Kid“, sagte sie.

Ein genervtes Stöhnen war die Antwort. „Ich weiß schon.“ Er war noch immer nicht begeistert davon, Backup zu sein. Doch verdammt, sie würde ihn da nicht reinlaufen lassen, wenn es nicht unbedingt sicher war.

Sie liefen die Straße hinab.

Es war früher Abend. Später als Siobhan vorhergesagt hatte, doch kam es ihnen wahrscheinlich entgegen. Leute kamen von der Arbeit. Es herrschte Bewegung auf den Straßen. Es würde sie weniger auffällig machen – einmal abgesehen von Crash, der sich durch keine Menge bewegen konnte, ohne aufzufallen. Sein zugedeckter, aber sehr wohl vorhandener Köcher mit Speeren half ihm dabei nicht.

Es war nicht optimal, doch letzten Endes besser, als auf ihn zu verzichten.

Das Gebäude kam in Blick. Die Straßenlaterne davor flackerte. Generell schien die Spannung in der Straße nicht gänzlich stabil zu sein. Positiv, für ihre jetzige Situation.

Zwei Möwen saßen auf einer der Straßenlaternen. Eine von ihnen erhob sich in die Luft, kreiste über ihnen.

Siobhan.

„Doc“, flüsterte Pakhet.

Er nickte.

Chase und seine Leute – es waren nur sechszehn Mann – warteten in vier Einsatzfahrzeugen in der Nähe. Weit genug, um hoffentlich nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Niemand war begeistert von dem Vorschlag gewesen, ihnen den Vortritt zu lassen, doch gleichzeitig hatte sich auch niemand dafür gemeldet, stattdessen die Spitze zu übernehmen. Die Dämonen waren Abschräkung genug.

Heidenstein folgte Siobhan, die in die Straße neben dem Gebäude, ein wirklich eindrucksloser, simpler, aber zumindest fertiger Betonbau, flog. Kaum, dass er aus der Menge heraus war, aktivierte er dein Unsichtbarkeitszauber.

Die Menschen, die zu Fuß am Rand der Straße unterwegs waren, waren zu sehr auf Crash fokussiert, um Heidenstein zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Pakhet atmete tief durch, sah zu Crash. „Bereit, Großer?“

Er brummte eine Bestätigung, nickte. Seine Muskeln spannten sich an, während er zum Gebäude hinüberging.

Pakhet folgte ihm, die Hand am Holster ihrer Waffe. Sie würde die Waffe nicht auf der Straße ziehen, wenn es sich vermeiden ließ. Allerdings waren da zwei Typen, die an der Hauswand lehnten. Bei einem von ihnen hatte sie eine Waffe, die unter dem Rand seines T-Shirts hervorlugte, gesehen. Er hatte kein Holster, hatte sie einfach in seinen Gürtel gesteckt.

Vielleicht war es ein guter Moment für die Pfeilpistole. Die Waffe war leise und wäre weit weniger Aufsehenserregend.

Sie griff nach der Waffe, bemüht keine Aufmersamkeit auf sich zu ziehen. Normal hätte sie den Seiteneingang bevorzugt, doch sah der Plan vor, die etwaigen Kriminellen im Inneren des Gebäudes nach hinten und zum Seitenausgang zu treiben.

Eine der beiden Wachen bemerkte sie. „Hey!“ Er griff selbst nach einer Waffe. „Was willst du hier?“

Der andere rief: „Fuck. Das ist die …“

Weiter kam er nicht.

Mehrere DInge geschahen. Ein lauter Knall ertönte, gefolgt davon, dass es dunkel zwischen den Häusern wurde. Wahrscheinlich Murphy oder Trixie, die irgendwie die Straßenlaternen ausgeschlatet hatten.

Gleichzeitig feuerte sie ihre Waffe, die im Hals vom zweiten Typen endete. Er griff nach dem Pfeil, sah sie an, hob seine Waffe.

Sein Kollege war schneller. Der Knall einer Waffe ertönte und im nächsten Moment brach komplettes Chaos aus.

Die normalen Leute, die auf der Straße gewesen waren – es waren nicht wenige – brachen in Geschrei aus. Dann begannen die ersten zu fliehen.

Sirenen. Damit war wohl auch Chase unterwegs.

Crash packte die Wache, die geschossen hatte, an der Schulter, rammte ihn in die Hauswand. Dem Mann bliebt der Atem weg, er brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Zu lang. Crash hatte ihn mit einem gezielten Schlag gegen seinen Solarplexus ausgeschaltet.

Pakhet verzog das Gesicht. Lebte der Typ noch?

Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Crash mit einem solchen Schlag den gesamten Brustkorb des Mannes zerquetschen konnte.

Sie würde den Typen der Polizei überlassen müssen. Sie würde später sehen, was dabei herum kam.

Stattdessen ging sie zur Tür hinüber. Es war eine einfache Holzeingangstür, nicht besonders gesichert. Sie wechselte die Waffe, schoss zwei Mal auf das Schloss, brachte es damit dazu, durch die Tür zu brechen. Sie nahm die Pistole mit ihrer Prothese, griff mit der rechten Hand in die Tasche an ihrem Gürtel. Sie hatte Rauchgranaten dabei.

Immerhin waren sie das Ablenkungsmanöver.

Sie sah zu Crash. Er nickte.

Dann entsicherte sie den kleinen Kanister, kickte die Tür auf, warf ihn hinein.

Sie atmete tief durch, sammelte ihre Energie und lief dann hinaus.

Im Inneren des relativ breiten Eingangsraums hatte sie gerade genug Zeit, sich einen groben Übersicht zu verschaffen, ehe die ersten Kugeln flogen.

Automatische Waffe. Nicht gut.

Rauch begann den Raum zu füllen.

Instinktiv wich sie wieder in die Eingangstür zurück. Das Feuer kam von links der Tür.

Der Raum schien eine Mischung aus Pub und Aufenthaltsraum zu sein. Hier standen einige Tische und es gab eine Art improvisierte Bar aus Baupaletten. Von allem was sie gesehen hatte, hatten sich die ersten – wohl, als sie den Krach von der Straße gehört hatten – hinter ein paar Tischen verbarrikadiert.

„Überlass' das mir“, brummte Crash und kam durch die Tür.

Seine Gestalt veränderte sich. Er wuchs noch weiter.

Pakhet hatte mehr als einmal gesehen, wie ein Gestaltwandler eine andere Form annahm. Es wirkte dennoch jedes Mal aufs neue pervers, unnatürlich. Sein Kopf veränderte sich, bekam mehr und mehr Züge eines Tierschädels, während er jedoch Hände und aufrechte Gestalt behielt.

Zotteliges, braungraues Fell begann seinen Körper zu bedecken. Seine Schuhe fielen von den Hufen, die nun seine Füße ersetzten.

Er erinnerte an einen Minotaurus, wenngleich nicht genau. Denn normalerweise sollten Minotauren nicht so zottelig und fellig sein – nicht, dass sie je einen realen Minotauren gesehen hatte.

Er schnaubte, rannte dann in den Raum hinein. Viel mehr konnte sie nicht sehen. Der Rauch hatte sich zu weit ausgebreitet. Nur eins war klar: Crash war nahezu lächerlich schnell. Wunderte es sie?

Automatisches Feuer. Ein Brüllen. Dann ein lautes Krachen.

Sie folgte Crash, blinzelte. Der Rauch brannte auch in ihren Augen. Sie hielt den Atem an.

Als sie an der Barrikade ankam, war davon wenig übrig. Was sie im Qualm sehen konnte, waren vier leblose Körper. Ohnmächtig? Tod?

Crash zerbrach ein Gewehr unter seinem Huf, als wäre es eine Spielzeugwaffe.

Dann weiteres Feuer. Es musste von der anderen Seite des Raums kommen. Jemand feuerte blind in den Rauch.

Pakhet aktivierte ihren Armreif. Dann lief sie zur Wand, rannte mit langen Schritten an ihr entlang. Dankbarerweise schien der Schütze zu panisch zu sein, um diese Methode vorherzugehen.

Da. Ein Schatten im Rauch.

Auch hier drinnen schien das Licht ausgefallen zu sein, wurde ihr klar. Wahrscheinlich hatte der Zauber die Sicherung für die ganze Straße überlastet. Der Knirps war gar nicht so dumm. Oder die Möwe. Wer auch immer es gewesen war.

Sie tackelte den Mann, der wild in den Raum schoss, warf ihm gegen die nächste Wand. Mit einem Schlag gegen seinen Kiefer schaltete sie ihn aus. Gerne hätte sie ihn gefesselt, doch schien das im Moment keine gute Idee.

Der Typ war durch eine Tür gekommen.

Sie öffnete sie.

Wenig verwunderlich wurde erneut geschossen. Dann endete das Feuer jedoch. Offenbar hatten sie erkannt, dass niemand da war.

Sie rechneten nicht mit Unsichtbarkeit. Gut.

Pakhet zählte innerlich bis acht, dann schnellte sie in den Raum.

Jemand hatte die Fenster verbarrikadiert. Etwas, das bereits vorher geschehen war. Drei Leute, auch hier. Eine davon eine Frau, knapp bekleidet, aber ebenfalls mit Waffe.

Blind schoss Pakhet mit der Pfeilpistole auf die Frau, lief dann auf einen der zwei Kerle, einen bulligen Afrikaner zu. Sie legte ihre Hand unter seine Pistole, hob sie nach oben.

Er hatte sie nicht kommen sehen, feuerte wild. Sein Kollege schrie auf, schien überfordert.

Gut. Pakhet entriss dem ersten die Waffe ganz, versetzte ihm einen Tritt knapp unterhalb der Kniescheibe, dann einen weiter unten, gegen seinen Fuß. Er verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorne und erlaubte ihr damit, die Seite seines Nackens zu treffen.

Der andere schien noch immer nicht zu verstehen, was genau vor sich ging.

Keiner der Leute hier schien ordentlichen Schutz zu tragen. Sie hatten deutlich nicht damit gerechnet, dass es einen Angriff gab. Gut. Ausgezeichnet.

Sie schoss einen Pfeil in den Nacken des Typen, entwaffnete ihn dann, brachte ihn zum Fall, während Crash in seiner Hybridgestalt durch die Tür kam.

Er machte einen fragenden Laut. Offenbar konnte er in dieser Gestalt nicht sprechen.

Die Frau ging zu Boden.

„Hier, Großer“, sagte Pakhet mit gesengter Stimme.

Sie lud die Pfeilpistole nach. Die Waffe war im Kombination mit der Unsichtbarkeit verdamm praktisch. Sie würde Heidenstein später noch einmal dafür danken müssen. Langsam hatte sie auch den Dreh raus, auf Gefühl zu schießen, ohne zu zielen, da es anders nicht ging, solange sie ihre eigene Waffe nicht sah.

„Weiter“, meinte sie dann.

Sie mussten den Weg zum Keller finden. Zumindest war das die Idee. Heidenstein und Siobhan würden nach oben gehen. Sie musste hoffen, dass den beiden nichts geschah.

Dann ging die Tür auf. Zwei Personen kamen herein, schrien im nächsten Moment, als sie Crash sahen, der in dieser Gestalt bis unter die Decke reichte. Nicht nur das: Auch wuchsen zwei Hörner aus seinem Kopf, die seine Gestalt noch beeindruckender wirken ließen.

„Lass sie laufen“, flüsterte Pakhet.

Sie mussten nicht jeden hier drin ausschalten. Sie waren letzten Endes wegen Jacos Helfern da und wegen Zea.

Sie sollten die Treppe finden. Vielleicht wieder eine Falttür?

Pakhet lief zur Tür, durch die die zwei eben gekommen war. Sie stand noch immer offen.

Auch im nächsten Raum herrschte nur Zwielicht. Ohne ihr magisches Auge hätte sie kaum etwas gesehen. So allerdings sah sie genug, um zu sehen, dass hier Dinge an der Wand lagerten. Ein einfaches, billiges Regal stand hier. Darin verschiedene Pakete. Kurz überlegte sie nachzusehen, verzichtete dann jedoch darauf.

Sie wollte einen Raum weitergehen, als die Situation weiter eskalierte.

Ein seltsamer Laut, irgendwo zwischen Knurren und Schrei erklang und dann brach die Wand zu ihrer linken ein.

Zwei lange, schuppige Kiefer schnappten nach ihr, hätten sie erwischt, hätte Crash nicht schneller gehandelt. Mit einer Bewegung seines Arms fegte er Pakhet zur Seite, warf sie zu Boden, während sein anderer Arm einen Speer fasste.

Schwarzes Blut flutete auf den Boden, während Pakhet sich sammelte. Ein kehliges und viel zu lautes Knurren erklang aus der Kehle des Dämons.

Ein Krokodil. Ein gänzlich schwarzes Krokodil mit Schuppen, die aussahen, wie aus Obsidian. Noch so ein verdammter ägyptischer Dämon. Und dem rumorenden Geräusch hinter ihnen nach, riss der Schwanz des Ungeheuers gerade den hinteren Teil des Gebäudes ein.

Dann ein Ruf. „Pakhet!“ Heidenstein.

Es kam von hinter dem Krokodil.

„Ja!“, erwiderte sie. Sie berappelte sich, kam wieder auf die Beine.

„Das Gebäude stürzt ein!“

Ach ne.

Dann Siobhans Stimme. „Zea. Das war Zea!“

Was sollten sie jetzt tun? Sie sah auf die glänzende schwarze Schnauze, die versuchte, Crash zu schnappen zu bekommen, der immer wieder mit seinem Speer auf die Nase einstach. Er schaffte es regelmäßig die Schuppen zu durchstechen. War er so stark oder waren die Schuppen nicht so fest, wie sie aussahen? Sie konnte es nicht sagen.

Ein tiefes Brummen. Crash sah in ihre Richtung.

Wie hatte er überhaupt gewusst, wo sie war? Hatte er nur geraten?

Er knurrte.

Sie verstand. „Wo ist Zea?“

„Seitenausgang“, kam es von Siobhan.

Ein weiteres Donnern. Die Rückwand schien gänzlich einzustürzen.

Pakhet wandte sich nach links. Da war eine weitere Tür. „Ich überlass das hier dir!“, rief sie Crash zu.

Er brummte. Eine Bestätigung. Gut.

Dann lief sie. Dankbarerweise war die Tür nicht abgeschlossen. Sie gab nach, als sie dagegen stieß. Sie war in einer Art Flur. Gott. Die Architektur dieses Gebäudes war chaotisch. Dass es überhaupt hielt, schien verwunderlich. Es war wohl eher irgendwie gebaut worden, aber nicht mit einem Plan.

Doch da war eine Tür. Eine offene Tür.

Das musste der Seitenausgang sein.

Sie lief.

Draußen klang Feuer. Halbautomatische Waffen. Pistolen größtenteils.

Chase und sein Team? Waren hier drin überhaupt so viele Leute gewesen?

Sie hasste es in Situationen zu sein, die sie nicht gänzlich einschätzen konnte. Keine Zeit zum Nachdenken. Sie war wegen diesem Zea hier! Also schauen, wo er war?

Dann ein Schrei. Ein Knurren. Es kam von der Straße. Noch ein Dämon?

Sie lief, griff mit der Hand ihrer Prothese nach dem Rahmen der Tür, um besser um die Ecke zu kommen.

Tatsächlich. Einer der Schakale stand auf der Straße, zog das Feuer auf sich.

Sie deaktivierte den Unsichtbarkeitszauber. Sie wollte nicht unsichtbar dazwischen geraten.

Dann zuckte ein Blitz auf die Straße hinab, ohne dass eine Wolke im Himmel hängen würde. Das musste ein Zauber sein. Die Möwe? Oder Zea?

Murphy beherrschte Blitzzauber, doch nicht in diesem Ausmaß. Also blieb nur eine der beiden Möglichkeiten.

„Kid?“, rief sie. Vielleicht klang etwas Panik aus ihrer Stimme. Sorgte sie sich tatsächlich so sehr um den Jungen?

Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, da der Schakal sie im nächsten Moment entdeckte. Offenbar empfand er die Polizisten für weniger interessant, als sie. Jedenfalls sprang er auf sie zu.

Das Biest war gerade groß genug, um in die Gasse zwischen diesem Gebäude und dem nächsten zu passen, so dass es, wie ein Hund, versuchte nach ihr zu schnappen.

„Verdammtest Biest“, murrte sie, als sie zurücksprang.

Sie steckte die Waffe weg, zog die zweite Rauchgranate. Wenn dieses Wesen auch nur etwas wie ein normaler Hund funktionierte, würde es das so gar nicht mögen. Sie entsicherte die Rauchgranate, warf sie, wartete, dass der Schakaldämon mit einem Japsen zurückzuckte.

Dann sammelte sie ihre Energie, sprang auf das Nachbargebäude, um über dem Schakal zu sein.

Lang hatte der Schock der Granate nicht geraten. Nun war das Monster wütend und das war nicht ihr einziges Problem.

Zu spät bemerkte sie den Blitz. Zu spät? Nun, sie hatte keine Zeit ihn zu bemerken. Er entstand im Bruchteil einer Sekunde, zuckte auf sie hinab.

Einen Moment war alles heiß, dann fegte die Druckwelle sie zurück.

Sie war für einen Moment wie betäubt, hatte pures Glück, dass sie nicht auf den Boden geworfen wurde, sondern auf dem Dach blieb. Ihre linke Seite schmerzte. Aber sie lebte. Sie lebte und war alles in allem okay.

Sie konnte aufstehen. Sie musste aufstehen. Sie musste definitiv aufstehen, da gerade der verdammte Schakal auf dem Dach landete.

Ihre Prothese bewegte sich nicht. Verdammt.

Sie sah auf ihren linken Arm. der Blitz hatte die Jacke durchgebrannt, hatte die Prothese verkohlt? War das Ding kaputt? Fuck. So leicht würde sie es nicht ersetzen können. Das war verdammte (), etwas, das sie hatten stehlen müssen.

„Fuck!“

Sie bekam mit ihrer rechten Hand irgendwie ihre Pistole zu fassen. Schoss in das Maul des Schakals, als dieses nach ihr schnappte.

Die Bestie schreckte zurück, gab Pakhet damit den Hals frei.

Ein weiterer Schuss, so gezielt, dass sie idealer Weise die Wirbelsäule treffen sollte – wenn Dämonen so etwas hatten. Zumindest schnitt die Kugel in die Haut.

Noch ein Schuss, auf die Brust, gefolgt von einem weiteren. Dann ein letzter. Auf das Auge.

Es schien zu reichen. Das Monster brach zusammen.

Pakhet konnte sich nicht erlauben zu warten, sie sprang auf die Beine, wohl wissend, dass der Schock einsetzen würde, sobald das Adrenalin ihr System verließ. Wenn sie nicht irrte, hatte sie eine schwere Brandverletzung an der Seite erlitten.

„Pakhet!“, rief eine Stimme unten.

„Zea!“, erwiderte sie. „Auf der Straße!“

Sie lief zum Rand des Flachdaches, in der Hoffnung, dass sie den Magier erdecken konnte.

Statt dem Magier zu sehen, brach das Dach unter ihren Füßen weg. Es zerfiel einfach zu Sand. Auch ein Zauber.

Sie konnte nicht darüber nachdenken, sprang auf die Straße, bemüht ihre Energie in die Beine zu leiten, den halben Fall so aufzufangen.

Sie stolperte, kam aber ohne gebrochene Beine unten an.

„Pakhet!“, hörte sie gleich zwei Stimmen.

Heidenstein und Murphy.

„Wo ist er hin?“, rief sie, berappelte sich.

„Trixie ist hinterher!“, erwiderte Murphy. „Alles …“ Er sah ihren Blick, nickte dann die Straße hinab.

Hier lieferten sich noch immer einige Gangmitglieder oder vergleichbares ein Feuergefecht. Sie durfte nicht darüber nachdenken. Sie rannte.

„Alles okay?“ Das war Heidenstein. Er war neben ihr. Seinerseits wieder sichtbar.

Sie antwortete nicht. Sie hatte nicht mehr lange Zeit. Schon spürte sie ihre Seite schmerzen.

Dann kam sie um die Ecke. Diese Straße war noch immer von Wagen befahren. Zumindest gab es keinen weiteren Dämon.

Und da hinten. da war der Magier. Er hatte sicher zweihundert Meter Vorsprung.

„Scheiße!“, fluchte sie, lief hinterher. Wo wollte er hin? Es war wahrscheinlich egal. Sobald er untertauchen konnte, war er sicher. Verdammt, für einen alten Mann, war er erstaunlich fit. Vielleicht Magie, vielleicht Training. So oder so, hätte sie ein Problem.

Doch da war die Möwe. Auf einmal schoss sie aus dem Himmel hinab, landete auf dem Kopf des Mannes, brachte ihn beinahe zu Fall.

Pakhet zögerte nicht. Es war eine gute Chance. Sie zielte auf seine Beine. Die Distanz war für die (Pistole) groß. Deswegen schoss sie gleich drei Mal. Eins, zwei, drei.

Einer der Schüsse traf. Der Mann schien einzubrechen, rappelte sich dann jedoch wieder auf, wollte sich weiterschleppen, als Murphy – es musste Murphy sein – an Pakhet und Heidenstein vorbeisprintete. Er hatte eine relativ große Gestalt angenommen, schaffte es zum Magier aufzuschließen.

Er schien einen Zauber vorzubereiten, holte aus. Dann berührte er den Magier.

Für einen Moment verkrampfte sich die Gestalt des Mannes, dann ging er zusammen mit Murphy zu Boden.

[28.09.2011 – X19 – Widerstand]

Pakhet war sich nicht ganz sicher, wie sie hierhergekommen war. Wo war hier überhaupt?

Sie blinzelte. Es war das Innere eines Krankenwagens. Seltsam.

Ihr war schwindelig. Immer wieder wurde ihr schwarz vor Augen. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie der Zauber Zeas sie getroffen hatte. Heidenstein war neben ihr gewesen. Und dann? Er hatte sie hergebracht, oder?

Heidenstein. Seine Stimme dran an ihr Bewusstsein.

Er redete mit jemanden. Draußen. „Lassen Sie mich bitte um sie kümmern. Ich bin Arzt, ich kenne sie.“

„Ich kann nicht einfach jeden Arzt …“, erwiderte eine tiefere Männerstimme. „Ich muss sie zum Krankenhaus bringen.“

Irgendwann musste sie kurz das Bewusstsein verloren haben. Heidenstein hatte sie zum Krankenwagen gebracht. Chase hatte Krankenwagen hierher kommen lassen. Natürlich. Sie waren bereit gestanden.

Ihre linke Seite schmerzte, doch war es ein dumpfer Schmerz. Hatte Heidenstein ihr schon Schmerzmittel verabreicht? Es würde das Schwirren ihres Kopfes erklären. Vielleicht war es auch nur der Schock.

„Bitte. Ich bin mit ihr vertraut. Lassen Sie mich …“

Sie musste etwas sagen, oder? Sie wollte definitiv nicht in ein Krankenhaus. Wenn sie dort endete, würde sie nicht nur alles irgendwie erklären müssen, sondern käme wahrscheinlich auch nicht für die nächsten Tage aus dem Krankenhaus raus. Nein, das konnte sie nicht zulassen.

Sie kniff die Augen zusammen, versuchte zu atmen, versuchte ihre Energie zu konzentrieren, in der Hoffnung, ihren Kreislauf zu stabilisieren. Dann kämpfte sie sich auf die Beine und ging zur Rücktür des Krankenwagens, wo Heidenstein mit einem Sanitäter stand.

„Es ist schon okay“, flüsterte sie. „Ich muss nicht ins Krankenhaus.“

Der Sanitäter starrte sie schockiert an. „Sie sollten sich hinlegen.“

„Ich will nicht ins Krankenhaus“, erwiderte sie. „Ich kann stehen. Ich will mit zur Polizeistation. Bitte.“

Auch Heidenstein schien nicht begeistert. „Du solltest dich wirklich hinlegen, Pakhet. Dein Kreislauf …“

Sie wusste sehr wohl, dass ihr Kreislauf es nicht lange schaffen würde. Sie hatte einige Verbrennungen erlitten. Wahrscheinlich wirkte sich das auch jenseits des Schocks schlecht auf ihren Kreislauf aus. Sie sah zu Heidenstein, kletterte dann mühselig aus dem Wagen. „Wo ist Chase?“

„Bei dem Einsatzkommando.“ Heidenstein zögerte, kam dann zu ihr, um sie zu schützen. „Bist du dir sicher, dass du nicht …“

„Sehr sicher“, erwiderte sie. „Ich kann schon. Bitte.“

Für einen Augenblick zögerte er, dann nickte er.

Sie wandte sich dem Sanitäter zu. „Es ist okay. Bitte.“ Normal bat sie selten so viel für etwas. Allerdings wartete sie nicht, dass der Sanitäter antwortete, stattdessen humpelte sie los.

Heidenstein lief neben ihr, stützte sie weiter. „Sei vorsichtig.“

„Klar“, murmelte sie.

Ein Seufzen kam über seine Lippen, doch sagte er nichts mehr. Er half ihr, aufrecht zu bleiben, bis sie Chase fanden.

Er bemerkte sie nicht sofort, war offenbar gerade dabei etwas mit einem der anderen Einsatzleiter zu besprechen, als dieser sie bemerkte. Chase drehte sich zu ihr um. Für einen Moment war er irritiert. Er entschuldigte sich bei seinem Kollegen, kam hinüber. „Was machen Sie hier? Sie sollten ins Krankenhaus.“

„Es geht schon“, erwiderte sie. „Ich will mit zur Station.“

Chase wirkte hin und her gerissen. „Sie haben uns wirklich sehr geholfen, aber es wäre besser, wenn …“

Ihre Geduld war nicht endlos, besonders nicht in ihrer Situation. „Bitte nehmen Sie mich. Ich will wissen, was er sagt.“

„Wir werden ihn auch erst einmal im Krankenhaus untersuchen lassen“, meinte Chase.

„Den Magier?“

Er seufzte müde, schüttelte dann den Kopf. „Nein. Nicht den Magier. Wir können nicht riskieren …“ Er atmete durch, um seine Gedanken zu sammeln. „Gut. Ja. Kommen Sie mit. Kommen Sie mit.“

Sie nickte.

Stille. Chase schürzte die Lippen. Die Muskulator an seinem Kiefer war angespannt. Dann endlich nickte er. „Aber auf Ihre eigene Verantwortung“, murrte er. Damit wandte er sich an Heidenstein. „Sie kümmern sich um sie?“

[28.09.2011 – D43 – Persönlicher Medic]

Ganz konnte sie der ärztlichen Behandlung nicht entkommen. Sie endete im Erste-Hilfe-Zimmer der Polizeistation in Pretoria, mit Heidenstein an ihrer Seite.

Er hatte ihr nun wirkliches Schmerzmittel und Lokalanästhetikum verabreicht, hatte ihr die Prothese abgenommen.

„Nur für's Protokoll. Es ist meine professionelle Meinung, dass du ins Krankenhaus solltest. Es ist eine beschissene Idee, den Schaden ohne Vollnarkose zu beheben“, meinte er.

„Du bist Magier, oder?“, murmelte sie.

Sie lag beinahe gänzlich nackt bäuchlings auf der Liege. Der Blitz hatte eine Brandwunde, die von ihrer Schulter ihre Seite herunterreichte und auch ihren Armstumpf arg betroffen hatte, hinterlassen. Die Haut war teilweise mit Blasen überzogen, teilweise jedoch gänzlich verkohlt.

Heidenstein schüttelte den Kopf. „Was willst du hier denn noch?“, fragte er leise.

„Ich will wissen, wie das alles weitergeht. Ich will helfen“, murmelte sie. Sie hatte den Kopf auf ihren rechten Arm aufgestützt, sah seitlich zu Heidenstein hinüber, der begonnen hatte mit einem Tuch die Wunde zu reinigen. Wahrscheinlich sollte es ihr Gedanken machen, dass einige dunkle Stücke verbranntes Gewebe sich dabei lösten.

Wieder ein Kopfschütteln. „Es ist ein Wunder, dass du damit noch stehst.“

„Pure Willenskraft“, erwiderte sie und schloss die Augen.

„Du würdest allen mehr helfen, würdest du ins Krankenhaus gehen.“

Sie schwieg. Noch immer schwirrte ihr Kopf. Selbst durch den Nebel aus Schmerzmittel und Anästhetikum drang von Zeit zu Zeit ein scharfer Schmerz zu ihrem Bewusstsein durch. Sie ließ es sich nicht anmerken. Sie wollte Heidenstein nicht darin bestätigen, dass sie zum Krankenhaus sollte.

Heidenstein seufzte, ging dann zu seinem Arztkoffer hinüber, den er auf einem Tisch abgestellt hatte. Er holte etwas heraus.

Pakhet öffnete die Augen nicht, um zu sehen, was es war. Es war nicht wichtig. Sie wusste genug über die Wunden, um zu ahnen, dass er totes Gewebe fortschneiden würde.

Anders als sie, war Crash mit ins Krankenhaus gefahren. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, hatte nur von Murphy davon gehört. Offenbar hatte er zwei, drei Wunden, die würden genäht werden müssen.

Sie seufzte, versuchte sich zu entspannen. Es würde wohl eine Weile dauern, bis Heidenstein fertig würde. Ihr lief die Zeit nicht davon. Immerhin war Interpol erst einmal damit beschäftigt, etwaige Protokolle zu schreiben, Daten aufzunehmen und den restlichen Papierkram zu bewältigen, bei dem sie kaum eine Hilfe war.

Davon einmal abgesehen, dass auch Zea und die andere erst verarztet werden mussten. Die Frau war vielleicht sogar im Krankenhaus, nur mit Zea hatte man das Risiko nicht eingegangen. Immerhin war er Magier.

Alles in allem war die Aktion schneller gegangen, als sie gedacht hatte. Dabei war allerdings das verdammte Krokodil Hilfe und Hindernis gewesen. Es waren Leute gestorben, als das Haus zusammengebrochen war. Unter anderem ihre Gefangenen von vorher. Den Zugang zum Keller hatte bisher niemand gefunden. Von allem, was sie wussten, wurde noch danach gesucht.

„Du bist wirklich verrückt“, murmelte Heidenstein während er arbeitete.

Sie machte einen undefinierbaren Laut, öffnete ihre Augen aber nicht.

„Warum bist du damit noch weitergelaufen?“, fragte er.

„Musste den Magier holen“, murmelte sie.

Er seufzte, arbeitete weiter. Er schnitt. So viel spürte sie. Der Schmerz war dumpf und weit entfernt. Sie konnte damit leben.

„So viel zum Thema kaum Narben“, murmelte sie.

Heidenstein seufzte. „Ja. So viel dazu.“ Dann setzte er seine Arbeit fort. „Ich schaue mal, dass ich den schlimmsten Schaden reparieren kann.“

„Danke“, murmelte sie.

„Dafür bin ich ja da“, erwiderte er. „Dein persönlicher Medic, nicht?“

[28.09.2011 – J07 – Zuckerwasser]

Sie saß in der Kantine der Interpol-Station, löffelte mit einer Hand die Macaroni, die es hier heute gab. Nicht das, was sie üblicher Weise gegessen hatte, doch hatte Heidenstein drauf bestanden. Eine Verbrennung auszuheilen braucht viele Kalorien, hatte er gesagt, deswegen sollte sie kalorienhaltig essen.

Neben ihrem Teller standen ein Glas und eine Tasse. Das Glas gefüllt mit irgendeinem viel zu zuckrigen Soda, die Tasse mit schwarzem Kaffee.

Immer wieder warf Heidenstein ihr Seitenblicke zu.

Sie hatten ihre Prothese abnehmen müssen. Der Schaden war zu groß und dank der Verbrennung an ihrem Armstumpf war es sinnlos, die andere Prothese überzuziehen. Also saß sie hier. Verkrüppelt. Heidenstein hatte ihre ganze Seite mit Salben, Pflastern und Verband bedeckt, hatte ihr außerdem ein langärmliges Hemd geliehen, das sie darüber tragen konnte.

Sie hatten den Ärmel geknotet, damit er nicht leer und nutzlos an ihr hinabhing.

Schritte näherten sich von hinten. Dann zog jemand den Stuhl zu ihrer linken zurück. „Du hast nichts dagegen, oder, Sweetheart?“

Die Worte identifizierten ihn noch mehr, als seine Stimme.

„Jack.“

Er setzte sich, grinste sie an. „Ich habe gehört, du hast dich geweigert ins Krankenhaus zu fahren, wie ein braves Mädchen?“

Pakhet verdrehte die Augen, trank einen Schluck des ekelig süßen Gesöffs. „Ich will hier sein, wenn sie Zea interviewn.“

„Ich bin ins Krankenhaus gefahren und schon wieder da“, konterte Jack.

Das brachte sie darauf, dass sie ihn das letzte Mal am Morgen gesehen hatte. „Was hast du wieder gemacht?“

„Kugel in der Seite. Keine Organe. Alles okay.“ Er grinste. „Wie gesagt: Glück im Unglück.“

„Will ich deine Statistik hören?“, murmelte Heidenstein.

„Einundzwanzig.“ Jack sah ihn an. „Einundzwanzig Kugeln soweit. Das ist die Hälfte von Zweiundvierzig.“

„Und dann wirst du das Leben verstehen?“ Heidenstein schüttelte den Kopf, nippte selbst an seinem Getränk.

„Das werden wir dann sehen“, antwortete Jack. Dann wandte er sich wieder Pakhet zu. „Verbrennungen, habe ich gehört?“

„Ja.“ Sie zwang sich weiter zu essen.

„Glaubst du nicht, dass es besser ist, wenn du dich hinlegst?“

Nicht auch noch er. Pakhet stöhnte. „Ich komme schon damit klar. Ich kann stehen. Ich kippe nicht um. Alles in allem geht es mir gut.“ Vielleicht war sie zu heftig.

Jack schreckte zurück. „Schon gut, Sweetheart. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich mache mir nur Sorgen, ja? Wenn du dich nicht ausruhst, machst du dir am Ende noch weitere Probleme.“

„Das sage ich ihr auch schon die ganze Zeit“, murmelte Heidenstein.

Pakhet seufzte, schüttelte den Kopf. „Ich komme schon klar. Es ist alles in Ordnung.“

„Pakhet. Gute fünf Prozent deiner Haut sind verbrannt. Das ist nicht okay“, meinte Heidenstein. „Eigentlich solltest du nicht stehen können.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Es geht mir gut.“ Dass ihr Kopf noch immer schwirrte verschwieg sie dabei. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Irgendwie würde sie es schon schaffen lang genug zu stehen. Sie wollte nicht schwach sein. Es war schlimm genug, dass sie getroffen war. Mehr Schwäche durfte sie nicht zeigen.

Heidenstein musterte sie lange, schüttelte den Kopf. Eine Erwiderung schien er sich zu verkneifen.

Ganz so nachgiebig war Jack dagegen nicht. Er sah sie an. „Und was willst du so erreichen?“

Sie antwortete nichts. Stattdessen trank sie etwas von dem ekelhaft süßem Gesöff.

„Ich sage nur“, meinte Jack, „wenn du am Ende vor Zea umkippst, hast du nicht unbedingt deine Stärke bewiesen.“

„Ich weiß“, murmelte sie und verzog das Gesicht. „Aber ich komme schon klar.“ Sie schürzte die Lippen, wollte noch etwas trinken, setzte das Glas aber ab. „Danke für deine Besorgnis.“ Sie zog eine Grimasse. „Mäuschen.“

[28.09.2011 – X20 – Verhör]

Zea schien die Sache nicht wirklich ernst zu nehmen. Für jemanden, der noch vor ein paar Stunden einen Schuss ins Knie bekommen hatte, wirkte er außerordentlich entspannt und vielleicht ein wenig herablassend. Er musterte Officer Duwell, der ihm gegenüber saß.

„Noch einmal von vorne“, meinte Duwell. „Ihr Name ist Zea Hadad und Sie bezeichnen sich als den Leiter der Kinder der Sonne, richtig?“

Zea lehnte zurück, soweit es seine Fesseln erlaubten. Sie hatten ihm einfache Kleidung gegenüber seiner vorherigen Gewandung angezogen, hatten seine Hände an den Tisch gefesselt, hatten ihm auch einen Armreif übergezogen, der ziemlich sicher antimagisch war. Sein Blick wanderte zum Einwegspiegel, hinter dem Pakhet zusammen mit Chase, Heidenstein und Jack wartete, den Verhör abwartete.

„Mr Hadad“, meinte Duwell. „Reden Sie bitte mit mir.“

„Ich muss mit niemanden reden“, erwiderte der Magier, ohne die Polizistin anzusehen. „Ich frage mich noch immer, warum ausgerechnet Sie mich haben. Warum nicht die Südafrikanische Polizei?“

„Sie sind verdächtigt, an drei Muti-Morden beteiligt gewesen zu sein“, antwortete Duwell.

Zea antwortete nicht sofort. „Deswegen haben Sie mich aber nicht gesucht, oder? Ich habe die Bitch da draußen gesehen. Sie sucht mich wegen dem Markt, oder?“ Er lächelte. Sein Blick wanderte zum Spiegel.

„Antworten Sie auf meine Fragen“, erwiderte Duwell.

Der Magier musterte nur weiter den Spiegel. Es war, als könnte er sie sehen – aber das war unmöglich. Er wusste bloß, dass sie hier war. „Ist sie hier?“

Ein Schauer lief über Pakhets Rücken. Sie sollte sich davon nicht beeindrucken lassen, doch etwas an Zea, ließ sie schaudern. Vielleicht war es nur der Gedanke daran, dass sie ihn nicht festhalten konnten, dass er eventuell Möglichkeiten hatte, hier heraus zu kommen, sogar ohne Magie. Wenn sie ihm nichts nachwiesen … Was war dann?

Verdammt. Er musste sie nur hinhalten, abwarten. Sie würden ihn nur so lange festhalten können und gerade mit der Unterstützung von Nel wäre er zu schnell wieder draußen. Und dann? Dann hätte Chase noch ein größeres Problem.

„Warum arbeitet ihr mit ihr zusammen?“, fragte Zea nun.

„Mr Hadad. Sie sind hier, weil …“

„Weil sie da war. Sie und ihre kleine Truppe“, erwiderte er. Wieder sah er zum Fenster.

Er schien zu genau zu wissen, was vor sich ging. Er verstand die Situation besser, als sie es taten. Sie würden nichts tun können.

Vielleicht hätte sie doch besser ins Krankenhaus gehen sollen. Vielleicht war es dumm für sie, hier zu sein.

Heidenstein legte eine Hand auf die ihre, suchte ihren Blick. Er lächelte, matt, müde, aufmunternd, ermutigend. War er wirklich noch positiv oder wollte er sie nur aufmuntern?

Sie verstand ihn manchmal einfach nicht.

Dennoch bemühte sich sich um ein dankbares Lächeln, ehe sie die Aufmerksamkeit wieder Zea zuwandte.

Duwell sah Zea an, versuchte es noch einmal. „Der Mord an Zuzu Nkosi. Hatten Sie damit zu tun?“

„Ich antworte nur auf ehrliche Fragen“, erwiderte der Magier. „Aber ich mache Ihnen ein Angebot. Diese Bitch ist hier, nicht? Lassen Sie mich mit ihr sprechen. Dann beantworte ich vielleicht ihre Alibi-Fragen.“

„Sie sind in keiner Position zu verhandeln“, meinte Duwell und entlockte ihm damit ein kurzes Lachen.

Pakhet verstand es sehr wohl. Es war eine klischeehafte Antwort gewesen und Zea wusste sehr wohl, dass er in der Position zu verhandeln war. Sie hatten keine Beweise gegen ihn oder jedenfalls nicht genug. Wenn er seine Karten richtig spielte, konnte er sie sogar dafür belangen – vor allem mit der Unterstützung von Nel.

Chase sah sie an.

„Ich würde gehen“, antwortete sie. „Ich kann mit ihm sprechen.“

Der Polizist schürzte die Lippen. Es schien ihm nicht zu gefallen. Wahrscheinlich weil es gegen ein Protokoll verstieß.

„Wie viele Beweise haben Sie wegen der Morde gegen ihn?“, fragte Pakhet.

„Wir haben Beweise, seinen Kult zu implizieren. Wir haben Aussagen, die ihn zumindest an den Ort eines Mordes bringen. Keine konkreten Beweise“, erwiderte Chase.

„Und wenn er nicht wegen der Muti-Morde aussagt …“ Jack tauschte Blicke mit Chase. „Lass sie mit ihm sprechen.“

Noch immer schien Chase nicht davon überzeugt zu sein. Er sah zu Pakhet, dann zu Jack. Für einen Moment schien er nachzudenken, doch dann drückte er auf einen Knopf am Rand des Fensters. Ein Buzzen ertönte, ließ Duwell aufsehen.

Ein Grinsen breitete sich auf Zeas Gesicht aus.

[28.09.2011 – X21 – Götter]

Zugegebenermaßen war Pakhet unsicher, was sie von der Situation hielt, als sie in den Verhörsaal kam. Es war ein einfacher Raum, hell, nicht so finster, wie es gerne in Hollywoodfilmen dargestellt wurde. Sinnvoll, ja, da Helligkeit die Leute auf Dauer nervöser machte. So war sogar der Tisch in einer hellen Farbe gehalten und nicht metallern grau, wie man es aus Filmen kannte.

Zea schien äußerst zufrieden mit der Situation zu sein. Zwar konnte er sich nicht vollkommen entspannt zurücklehnen, da seine Hände noch immer an den Tisch gefesselt waren, jedoch schien er alles in allem locker. Er war nicht das erste Mal gefangen. Bisher war er auch immer rausgekommen, nicht?

„Dann stimmt es also wirklich“, meinte er, musterte sie, „nur ein Arm.“

Pakhet konnte nicht anders. Instinktiv sah sie an ihrer linken Seite herunter, wo der Ärmel noch immer im Knoten hing. Sie hätte sich besser beherrschen sollen.

„Ich habe gehört, du bist auf der Straße als Pakhet bekannt“, fuhr er fort, als sie sich setzte.

Sie sammelte sich, schaute ihn an. Ihr Gesicht wurde entspannt, ihr Blick kühl. Sie hatte genug Erfahrung hiermit, um eine Maske aufzusetzen. Es war nicht das erste Mal, dass sie jemand verhörte, selbst wenn sie es normalerweise für irgendwelche Gangbosse tat. Hier hatte sie weit weniger Methoden. Immerhin war die reale Polizei auch dahingehend nicht Hollywood. Sie würden sich fraglos beschweren, würde sie anfangen ihn zu verprügeln.

„Was tut es zur Sache?“, fragte sie.

Er lächelte. „Ich kenne jemand, der dir den Namen übel nehmen würde.“

„Und warum?“

„Man könnte behaupten, du gibst dich als jemand aus, der du nicht bist.“

Gab es noch jemand, der unter dem Namen aktiv war? Sie hätte bisher davon nichts gehört. Wenn Leute sich nach ägyptischen Jagdgöttern benannten, endeten sie meistens bei Bastet. Der Name war häufiger. Doch ihres Wissens war sie die einzige, die als Pakhet aktiv war. Vielleicht wollte er sie nur verwirren.

„Komm schon, Bitch. Erzähl mir. Warum machst du das ganze hier? Wer hat dich beauftragt?“

„Niemand“, erwiderte sie kühl, tonlos. „Ich habe mich selbst dazu entschlossen.“

„Sicher“, meinte er mit einem Lächeln. „Ich weiß, dass es ein paar gab, die Probleme damit hatten. Also … Wer? Herkules? Arthur vielleicht?“

Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Zwar kannte sie mindestens sechs Söldner und Soldaten, die unter dem Namen Herkules agierten, doch verstand sie nicht, was sie damit zu tun haben sollten. Sie entschloss sich, die Frage zu ignorieren. „Was hat Carel Nel mit der Operation zu tun?“

Zea zuckte mit den Schultern. „Wer ist Carel Nel?“ Sein ganzer Tonfall verspottete sie. Er wusste genau, wovon sie sprach, doch sie hatte keine Möglichkeit ihn zu einer Antwort zu zwingen.

„Was ist mit Jaco. Was ist seine Aufgabe in all dem? Ich nehme an, er ist für die Drecksarbeit zuständig?“, fragte sie.

„Jaco ist ein Idiot“, erwiderte Zea. „Er ist respektlos gegenüber Mächten, die er nicht versteht.“

„Wow. Das war einer der klischeehaftesten Sätze, die ich in der letzten Zeit gehört habe“, konterte sie. „Und als nächstes wollen Sie mir erzählen, dass irgendwelche dunkle Mächte unsere Welt angreifen, oder was?“

Er grinste. „Nein. Keine dunklen Kräfte von irgendwo sonst. Menschen reichen untereinander schon aus.“

„Wunderbar, etwas worauf wir uns einigen können.“ Pakhet musterte ihn kühl. Das einfache Shirt – kein Gefängnisshirt, einfach nur ein dunkles T-Shirt – wirkte unter seinem Bart etwas deplatziert.

„Ich denke, wir könnten uns bei vielen Dingen einigen“, erwiderte er. „Wir könnten darüber reden.“

Sie verdrehte die Augen. Sie durfte ihm keine Schwäche zeigen. Er würde jedes Zögern, jede Unsicherheit gegen sie verwenden. „Oh, ja, ein gänzlich neues Weltbild, da bin ich mir sicher. Jetzt komm schon. Sie wollten mit mir reden. Sie wollten unbedingt mit mir reden. Also: Warum?“

„Weil ich wissen will, für wen du arbeitest, Bitch. Wer hat dich beauftragt, dich uns entgegen zu stellen?“

„Niemand. Ich tue es aus meinen eigenen Gründen.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Ich tue es aus meinen Gründen. Weil es das richtige ist. Weil das, was ihr diesen Kindern antut unmoralisch ist.“

„Eine Söldnerin, die über Moral spricht?“, fragte er. Er wich ihrem Blick nicht aus, erwiderte ihn kühl.

„Ja.“ Sie durfte sich nicht abwenden.

Er lächelte. Und da war etwas. Etwas in seinen Augen. Es waren nicht seine normalen, dunklen Augen, sondern die goldenen Augen einer Katze, inklusive der geschlitzten Pupillen. Nein, nicht nur die Augen. Da war der Kopf einer Katze. Eines Löwen. Nein, einer Löwin. Er hatte keine Mähne.

Die Erinnerung an das, was sie in der Taschendimension gesehen hatte, kehrte zurück. Die Gestalt. Der Bogen. Der Pfeil. Der Schmerz in ihrer Brust.

Sie schreckte zurück.

Ein kurzes Lachen. Zea musterte sie. „Ich wäre an deiner Stelle vorsichtiger, Pakhet.“ Sie betonte ihren Namen auf eine spöttische Art.

Für einen Moment war sie still. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Was hatte sie gerade gesehen? Nun, da sie ihn so ansah, schien er vollkommen normal zu sein.

Sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. Verdammt. Sie durfte keine Schwäche zeigen. „Warum?“, fragte sie. „Warum helfen Sie Nel und diesen Leuten?“

„Weil Dämonen Futter brauchen“, erwiderte er. „Reicht das nicht?“ Etwas abfälliges klang aus seiner Stimme.

Pakhet wandte sich ab. „Wahrscheinlich reicht es.“ Damit stand sie auf. Er würde ihr nicht mehr erzählen. Das alles war ein Test gewesen. Zu welchem Zweck verstand sie nicht. Doch sie hatte das Gefühl etwas Dummes zu tun, wenn sie noch länger hier blieb.

[29.09.2011 – X22 – Entzündung]

Als Pakhet aufwachte, war ihre Kleidung durchgeschwitzt. Sie musste nicht einmal prüfen, um zu wissen, dass sie fiebrig war. Ein Infekt? Eine Infektion der Wunde? Vielleicht hätte sie doch zum Krankenhaus gesollt.

Sie konnte sich nicht klar daran erinnern, was sie geträumt hatte, wusste jedoch, dass es Albträume gewesen waren. Sie hatte sich in dem Traum an das Casino erinnert, aber nicht nur das. Da waren andere Dinge gewesen. Dinge, die keinen Sinn ergeben hatten. Was? Es war, als würde sie sich dran erinnern und gleichzeitig auch nicht. Die ganze Zeit schienen die Erinnerungen an den Traum durch ihr Bewusstsein zu spuken, doch jedes Mal, wenn sie versuchte, sie zu greifen, lösten sie sich auf.

„Fuck“, murmelte sie.

Ihre Seite schmerzte. Es war ein beinahe bewusstseinsraubender Schmerz. Offenbar hatte das Schmerzmittel, das Heidenstein ihr verabreicht hatte, aufgehört zu wirken.

Der Teil, den er genäht hatte, war nicht einmal das schlimmste. Es waren die leichteren Verbrennungen, die schmerzten – höllisch schmerzten.

Sie stöhnte, als sie die rechte Hand ausstreckte und nach dem Handy auf dem Nachttisch griff. Sie schaute auf das Display.

Es war früher Morgen. Kurz vor Sechs.

Vielleicht hatten die Albträume sie geweckt, vielleicht auch der Schmerz. Sie wusste es nicht. Sie wollte nicht zu Heidenstein gehen, um nach mehr Schmerzmittel zu fragen, aber würde sie es früher oder später tun müssen.

Verdammt. Natürlich tat es weh. Was hatte sie erwartet? Sie hatte gewusst, dass die Wunden schwer waren. Doch mit ausreichend Schmerzmittel und ohne es anzusehen, war es leicht, diese Dinge zu ignorieren.

„Fuck.“ Jetzt bereute sie es, nicht im Krankenhaus zu sein. Doch sie durfte nicht. Vor allem nicht in der Situation. Sie konnte nicht einfach ins Krankenhaus. Jaco war da draußen. Er hatte in der Vergangenheit nicht davor zurückgeschreckt, Krankenhäuser anzugreifen. Einmal hatte er welche von seinen Leuten hingeschickt, hatte jemand auf dem OP-Tisch erschossen, erschießen lassen.

Wenn er mittlerweile mitbekommen hatte, dass sie hier war, war nicht auszuschließen, dass er es auch hier machte.

Ja, sie entschuldigte vor sich selbst, nicht ins Krankenhaus zu gehen.

Sie hasste es, anderen Recht zu geben.

Noch immer schwirrten ihr die Worte Zeas im Kopf herum. Was hatte er gemeint? Wovon hatte er gesprochen? Wahrscheinlich waren es nur irgendwelche Psychospielchen, um sie zu verwirren. Dennoch: Es war creepy. Was er gesagt hatte, wie er es gesagt hatte. Wenn sie Pech hatten, kam er raus.

Bildete sie es sich nur ein oder wurden die Schmerzen schlimmer? Sie kamen in Wellen.

Fuck.

Sie stöhnte, biss die Zähne zusammen. Sie wollte Heidenstein nicht deswegen wecken. Sie wollte es nicht. Sie wollte nicht eingestehen, dass sie seine Hilfe brauchte. Sie hasste es, auf Hilfe angewiesen zu sein.

Doch kam sie kaum drum herum.

Sie kämpfte sich hoch. Ihr Blutdruck sank ab. Ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen.

Okay. Ja. Sie hätte ins Krankenhaus gehen sollen. Sie brauchte Heidenstein. Sonst hätte sie ein Problem. Ein noch größeres Problem.

Sie hievte sich auf die Beine. Irgendwie blieb sie stehen, stützte sich mit dem rechten Arm gegen die Wand und hinkte zur Tür des Hotelzimmers hinüber.

[29.09.2011 – M25 – Aufmunterung]

„Man siehst du beschissen aus“, stellte Murphy fest, als er in die Kabine des Flugzeugs kletterte.

Sie hatten mit Smith telefoniert, hatten sich nun einen Transportflieger besorgt, der sie nach Kapstadt zurückbringen würde. Es war einfach nicht möglich für sie, mit Infektion und Wunde in einen normalen Linienflug zu fliegen.

So lag sie nun halb auf einem der Stühle, während Heidenstein mehr schlecht als Recht eine Aufhängung für einen Tropf improvisiert hatte. Sie brauchte mehr Flüssigkeit, Schmerzmittel und Fiebersenker. Sie hasste es, sich so schwach zu fühlen.

„Danke“, erwiderte sie und sah den Jungen an, der sich auf den Stuhl neben sie setzte. Sie hatte ihn seit dem Einsatz am Vortag nicht mehr gesehen. Natürlich trug er wieder seine Teenager-Gestalt, wirkte jedoch blasser als normal. Es gab offenbar nur so viel, was seine Magie erreichen konnte.

„Was hast du denn auch gestern gemacht?“, fragte er.

„Zauber.“ Sie deutete ein Schulterzucken an. „Hast du es nicht gesehen?“

„Ich war zu abgelenkt mit den Dämonen“, erwiderte er.

Sie lächelte matt. Zumindest war bei dem Jungen alles in Ordnung und auch Crash schien halbwegs in Ordnung zu sein. Immerhin saß er noch normal. Einzig ein großes Pflaster hing in seinem Nacken. Offenbar eine Wunde aus seinem Kampf mit dem riesigen Krokodil.

Lieber hätte sie seine Geschichte gehört. Etwas, das sie von ihren Schmerzen ablenkte, selbst wenn sie durch die Mittel erträglich wurden.

Murphy saß neben ihr, sah sie an. Er schluckte. Er fühlte sich deutlich unwohl.

Warum? Weil es ihr schlecht ging? Weil sie schwach war? Oder weil sie aktuell nur einen Arm hatte? Da sie noch immer nicht wieder die Prothese tragen konnte, da sie mit den Wunden rieb, war es nun sehr offensichtlich.

„Habt ihr gestern noch etwas von diesem Zea erfahren?“, fragte er schließlich.

„Nur, dass er gewissenlos und verrückt ist“, erwiderte sie und schloss die Augen. „Er hat die ganze Zeit nur wirres Zeug geredet. Wenig Sinnvolles. Es kann sein, dass sie ihn freilassen müssen.“

„Fuck.“ Murphy sah auf den Boden.

„Du sagst es, Kid.“ Sie wusste nicht mal, was sie machen konnte. Vielleicht war alles umsonst gewesen. „Aber hey, ohne dich und die Möwe hätten wir ihn gar nicht geschnappt. Deine Aktion war ziemlich gut.“ Gerne hätte sie ihm die Hand auf die Schulter gelegt, hätte ihn auf die Schulter geklopft, doch da er zu ihrer linken saß, ging es nicht.

Er lächelte verlegen. Ernsthaft verlegen. „Danke.“

„Elektrozauber?“, fragte sie. Immerhin hatte sie schon häufiger gesehen, dass er Leute mit einem Zauber getasert hatte.

Er grinste. „Nein. Nicht ganz. Ich war mir nicht sicher, was passiert wäre. Also …“ Er brach ab, wirkte halb hämisch, halb amüsiert.

„Ja?“

„Sagen wir es mal so. Ich habe zusammen mit Alice einen anderen Zauber entwickelt.“ Er hob seine Augenbraue vielsagend.

Pakhet glaubte zu verstehen. Sie fragte besser nicht. „Du bist unglaublich, Kid.“

„Natürlich bin ich das“, erwiderte er und grinste.

Sie lächelte, lehnte sich wieder zurück. Für einen Moment schloss sie die Augen. Auch wenn sie es nicht zugeben würde, war sie beinahe froh, dass sie in ein paar Stunden im Krankenhaus liegen würde.

Sie hatte genug getan, sagte sie sich. Sie hatte genug getan.

„Kann ich vielleicht noch etwas für dich tun?“, bot Murphy an.

Sie sah ihn an. „Ich glaube im Moment nicht. Sofern du deine Heilzauber nicht verbessert hast.“

„Ich fürchte nicht, nein.“ Er seufzte. „Ich fürchte, es ist einfach nicht meine Spezialität.“

Sie blickte zur Kabinendecke. „Was ist denn deine Spezialität?“ Zumindest würde das Gespräch sie ablenken.

Das Flugzeug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Sie würden also in Startposition fahren.

„Willst du das wirklich wissen?“, fragte er.

Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Warum nicht?“ Immerhin wusste sie, dass die Spezialität von Heidenstein Heil- und Erdzauber waren. Wobei sie nicht gänzlich sicher war, ob es wirklich sein Talent war oder er einfach am meisten in Sachen Heilzauber trainiert hatte. Doch jene extrem guten Heiler waren selten, sehr selten. Nicht, dass sie es wirklich nachvollziehen konnte, doch wusste sie, dass Heilmagie schwer sein sollte.

„Na ja, ich bin halt gut, mit allem was Illusionen angeht“, meinte der Junge. „Illusionen erschaffen, Leute glauben lassen etwas bestimmtes gehört und gesehen haben. Generell. Wahrnehmung verändern. Sowas.“

„Also Gedankenmagie.“

„Nein. Ich manipuliere keine Gedanken!“, protestierte Murphy. „Also ich könnte es, aber ich mache es nicht. Sowas ist krank. Ich lasse die Leute nur glauben, was anderes zu sehen.“

„Auch mit deinem Aussehen?“ Sie glaubte es eigentlich nicht, doch das machte eine gute Illusion aus.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist … Physisch. Aber ich kann es nur bei mir selbst. Ich … Das ist so eine Sache mit meinem Körper. Ich konnte das schon immer.“

Also nicht erst seit der Pubertät. Das war ungewöhnlich. Die meisten erwachten erst in dem Alter. Sie sagte jedoch nichts. Sie musste nicht dafür Sorgen, dass der Junge sich wegen ihr unwohl fühlte.

„Cool“, meinte sie schließlich.

Beinahe schien er erleichtert. Er grinste. „Ja, nicht?“

Sie schenkte ihm ein Lächeln, während das Flugzeug beschleunigte. Noch zwei, drei Stunden und sie wären in Kapstadt.

[01.10.2011 – D44 – Stationär]

„Es sieht zumindest besser aus“, meinte Heidenstein, während er die Wunde mit einem seiner magischen Tränke, der verdächtig nach Kamille roch, einrieb.

Pakhet lag auf dem Bauch, ihr Oberkörper entkleidet. Sie war in einem Raum des Krankenhauses. Einem Patientenzimmer. Heidenstein schwor weiterhin darauf, dass sie sich so besser auskurieren konnte, weil sie eine andere Einstellung hatte. Wenn man Joanne fragte, so war diese Einstellung vor allem „genervt“.

Sie murrte. „Es wäre ganz in Ordnung, würdest du es richtig heilen.“

„Je schneller ich die Wunde heile, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas schiefgeht“, meinte er. Er richtete sich auf, ging zum kleinen Bad neben dem Zimmer, um sich die Hände zu waschen.

Mittlerweile war die Wunde operiert. Er hatte darauf bestanden, die Ränder der Wunde sauber zu schneiden. Sie hatte darauf bestanden, es nur mit örtlicher Betäubung zu machen. So hatten sie beide den jeweils anderen genervt und keiner hatte ganz bekommen, was er wollte.

Als er zurückkam, um neue Pflaster auf die Wunde zu kleben, sah sie ihn an. „Du willst vor allem, dass ich liegenbleibe.“

„Du wirst ein wenig brauchen, um die Prothese wieder tragen zu können.“ Er nahm zuerst eine Mullbinde, wickelte sie um ihren Armstumpf. Das war mittlerweile sein Vorgehen für diesen: Mull und Watte darum, dann einen dieser Mullschläuche darüber, zuknoten und das andere Ende durch das Pflaster festhalten. Es hielt. Irgendwie.

„Auch das ginge schneller, würdest du mich heilen.“

Er ließ ein müdes Seufzen hören. Es war deutlich, dass er diese Diskussion nicht mehr mit ihr führen wollte. „Ich weiß, dass du dazu neigst, dich zu übernehmen. Du bist dahingehend wie ich. Also mache ich einen Punkt daraus, zumindest auf deine Gesundheit zu achten.“

„Anders als auf deine, eh?“, meinte sie. „Du siehst ziemlich scheiße aus.“ Und das sagte sie nicht nur, um ihn zu ärgern. Er war deutlich übermüdet.

Heidenstein arbeitete weiter, sah ihr nicht ins Gesicht. „Ich habe halt ein paar Sachen aus letzter Woche nachzuholen. Victor braucht Hilfe und dann habe ich noch eine gewisse Söldnerin, die wieder unvernünftig sein musste und von einem Magier fast getötet wurde.“

„Ich war weit vom Tod entfernt.“

„Zehn Zentimeter ist nicht weit“, erwiderte er. „Rein physisch macht es nicht einmal einen Sinn, dass du lebst, dass der Blitz nicht durch dein Herz gegangen ist.“ Er schnitt ein Stück des Mullschlauches ab, zog ihn über den Arm, machte aber noch nicht den Knoten. Dann griff er nach dem ersten Pflaster, dass er bereits zugeschnitten hatte.

Pakhet schloss die Augen, seufzte leise. „Ich bin schwer zu töten.“

Keine Antwort. Er klebte das Pflaster oberhalb des Armstumpfes auf. „Ich hoffe, dass es dabei bleibt“, murmelte er. Er atmete tief durch, nahm dann das nächste Pflaster.

Sie schwieg, schaute zum Fenster. Es war bereits Abend. Draußen wurde es dunkel. Sie war sich wieder nicht sicher, wie sie auf ihn reagieren sollte. Warum berührte seine Sorge sie? Es war letzten Endes albern. Er konnte sich um einige andere Leute Sorgen.

Sie schloss wieder die Augen, atmete tief durch. Mittlerweile war der Schmerz der Wunde erträglich, obwohl sie erst zwei Tage in Kapstadt zurück waren. Auch ihr Kreislauf hatte sich bereits stabilisiert, solange sie sich nicht zu lange auf den Beinen zu halten versuchte.

Schließlich berührte Heidenstein sie auf dem Rücken. „Ich denke, ich bin fertig.“

Sie drehte sich um, musterte ihn. Es war seltsam. Im Moment sah er sie anders an, als wenn sie oben waren. Er sah sie an wie eine Patientin, schien ihre Nacktheit nicht einmal groß zu bemerken. Er sah sie eher so an, wie sie es von ihm erwarten würde.

Instinktiv wollte sie die Arme verschränken, doch natürlich ging es ohne die Prothese nicht. Wie so oft realisierte ihr Hirn dadurch das Fehlen des Arms. Es war etwas, an das sie sich auch nach beinahe acht Jahren nicht ganz gewöhnt hatte. Irgendein Teil ihres Gehirns war noch immer der Meinung, dass ein Arm dort sein sollte. Die Tatsache, dass sie beinahe von Anfang an ihre Prothese getragen hatten, half fraglos nicht.

Schließlich wich sie seinem Blick aus. „Michael hat mir geschrieben“, sagte sie.

„Wann?“ Er packte den Abfall von ihrer Verarztung zusammen.

„Heute Nachmittag.“ Sie griff nach ihrem Handy, zeigte es ihm.

Es war nur eine kurze Nachricht: „Hobbys schön und gut, aber wenn du deswegen im Krankenhaus landest, haben wir ein Problem.“

Heidenstein sah darauf. „Er ist ein Arschloch.“

„Ich weiß“, erwiderte sie.

Heidenstein schüttelte den Kopf. „Kannst dich nicht von ihm …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht.“

„Wie gesagt. Er hat genug gegen mich in der Hand. Ich komme nicht von ihm weg.“

Für einen Augenblick schien es, als wolle Heidenstein was anderes sagen. Dann seufzte er, trat zu ihr. „Pass nur auf, ja?“

„Ja, Herr Doktor“, murmelte sie. Sie schloss die Augen für einen Moment. „Können wir noch irgendetwas machen? Einen Film schauen? Ich langweile mich hier sonst zu Tode.“

Er lächelte. „Ich schaue, was ich machen kann.“

[02.10.2011 – P04 – Information]

„Miss Pakhet“, grüßte Chase sie am Telefon, als sie abhob.

Es war ihr dritter Tag im Krankenhaus. Sie wurde immer unruhiger. Ein undeutliches Gefühl sagte ihr, dass der Anruf nicht helfen würde. „Inspector Chase.“ Sie konnte nicht umher leicht zu grinsen. Irgendwie ein passender Name. Vielleicht sorgten auch die Schmerzmittel dafür, dass sie es lustig fand. Nicht, dass sie die Mittel ihrer Meinung nach noch brauchte. „Sagen Sie mir bitte, dass Sie was gutes zu berichten haben.“

„Ja und nein.“ Er seufzte. „Wir haben Zea einbehalten können. Wir haben eine Zeugenaussage, wegen der wir ihn festsetzen können und versuchen zu veranlassen, ihn aus dem Land zu bringen. Wir haben hier wenig um jemanden mit magischen Kräften festzuhalten.“ Er klang darüber verbittert.

Es war eine gute Frage. Selbst Pakhet wusste nicht wirklich, wie jemand mit magischen Kräften auf Dauer festgehalten wurde, da es ohne andere Leute, die selbst Magie beherrschten, ziemlich schwer sein dürfte. „Wohin werden Sie ihn bringen?“

„Das werden wir sehen.“

Sie sah zum Fenster, überlegte kurz. „Hat er mehr gesagt?“

„Zum Teil. Er hat zwei Leute aus Jacos Gang belastet. Eine Rua, einen Marco. Sie hätten auch damit zu tun gehabt. Er hat sich geweigert etwas zu Jaco zu sagen, geschweige denn sonst jemand.“ Ein unterdrückter Laut. Es klang verzweifelt, frustriert.

„Was?“

„Er redet die ganze Zeit davon, dass wir nichts verstehen könnten. Dass alles eine höhere Bedeutung hat.“ Ein tiefer, hörbarer Atemzug. „Wenn Sie mich fragen, ist der Mann verrückt.“

„Passiert erstaunlich vielen Magiern“, erwiderte Pakhet. Deswegen war es auch üblicherweise so, dass diese eher umgebracht wurden, als gefangengenommen. Es war die Mühe einfach nicht wert, zu versuchen sie irgendwie aufzuhalten.

Sie bekam keine Antwort. Er schwieg für einen Moment. „Basie mussten wir an die örtlichen Behörden übergeben. Es würde mich nicht wundern, wenn sie freikommt.“

„Verstehe.“ Das wäre typisch, doch von allem, was sie wussten, nicht überraschend. „Haben Sie Probleme?“

„Ja“, erwiderte Chase. „Ein Major General von der örtlichen Polizei hat uns Vorwürfe gemacht. Immerhin hat der Einsatz einige Zerstörung ausgelöst. Und natürlich haben wir in den Protokollen die Magie ignoriert. Sie wissen, wie es ist.“

Ja, die meiste Zeit wurden magische Sachen getrennt festgehalten, von offiziellen Protokollen ferngehalten. Es war schon immer so gehandhabt worden und wurde meistens weiterhin so gehandhabt. Warum? Weil es niemand wissen sollte. Warum es niemand wissen sollte, konnte niemand so genau sagen.

Als sie im Irak war, hatte es diese Geschichte von einem alten Army-Stützpunkt, in dem sich Dämonen ausgebreitet hatten, gegeben. Sie hatte wohl damals schon ihre Kräfte gehabt, hatte jedoch nie davon gewusst. Sie hatte die Geschichten nicht ernst genommen. Jedenfalls hatte man damals einen Priester dorthin geschickt, zu exorzieren. Ernst genommen hatte die Geschichte dennoch niemand.

„Wenn ich noch etwas herausfinde, werde ich es Ihnen sagen“, meinte sie schließlich.

„Danke. Ich weiß nicht, wie viel wir in der Zukunft noch helfen können.“ Seine Stimme klang bitter. Ein Seufzen. „Ich weiß nicht wirklich, was wir noch tun können.“

Pakhet nickte. Er konnte sie nicht sehen, doch was sollte sie tun? „Ich werde sehen, was wir daran machen können“, sagte sie matt.

Stille. Er verstand genau, was sie meinte. Schließlich räusperte er sich. „Ja. Tun Sie das.“ Stille. Schon wollte sie auflegen, doch dann erhob er wieder die Stimme. „Wie geht es Ihnen?“

„Den Umständen entsprechend relativ gut“, antwortete sie. „Auch wenn ein gewisser Arzt darauf besteht, dass ich liegen bleibe.“

„Manchmal sollte man auf seinen Arzt hören.“ Ein Schmunzeln war aus seiner Stimme zu hören. „Gute Besserung.“

Mit einem genervten Seufzen ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. „Danke.“

[03.10.2011 – C09 – Krankenbesuch]

Tag vier verging genau so langweilig, wie ihre bisherigen Tage im Krankenhausbett. Sie konnte nicht mehr liegen. Die Tatsache, dass sie auch auf den Seiten schlecht liegen konnte und generell Druck auf der Wunde zumindest nicht angenehm war, machte es nicht besser. Dasselbe konnte man auch für Heidenstein sagen, der sie die ganze Zeit mit seiner Besorgnis nervte, ansonsten aber kaum da war. Immerhin musste er sich um sein Krankenhaus und was auch sonst noch kümmern.

Gelangweilt zappte sie durch das Fernsehen. Sie mochte es ja, Dokus oder Filme zu sehen, doch nicht vier Tage am Stück. Nur konnte sie auch dem Lesen wenig abgewinnen.

Sie stöhnte genervt auf, als es an der Tür ihres Zimmers klopfte. Es war wahrscheinlich Heidenstein, der das Abendessen vorbeibrachte. Es war etwas früh dafür, doch meistens kümmerte er sich um sie, wenn er Zeit hatte, da er ihre Versorgung meistens selbst übernahm.

„Ja“, grummelte sie in Richtung der Tür.

Zu ihrer Überraschung war es nicht Heidenstein, der reinkam, sondern die hühnenhafte Gestalt Crashs in Begleitung von Murphy.

„Hi, Pakhet!“ Der Junge grinste, kam zu ihr hinüber. „Na. Wie geht es dir?“

„Was macht ihr hier?“, war ihre Gegenfrage.

„Dich besuchen“, brummte Crash. Er packte eine Stofftasche auf ihr Bett. „Dachten uns, du langweilst dich.“

Pakhet konnte nicht anders. Sie lächelte. „Ja, ich langweile mich tatsächlich.“ Sie seufzte, lehnte sich zurück. „Der Doc nervt verdammt noch einmal.“

„Kann ich mir vorstellen. Aber denk immer daran, er will ja nur dein Bestes“, meinte Murphy. „Und du schuldest mir eine Antwort: Wie geht es dir?“

„Erträglich“, erwiderte sie.

Crash holte eine Packung Chips aus der Tasche heraus, reichte sie ihr, kramte dann Glasflaschen heraus. Bier.

„Was soll das denn werden?“ Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Rugby-Spiel. Lions gegen Oumas. Hab frei. Dachte, wir schauen zusammen“, meinte Crash.

„Wir dachten, du kannst ein wenig Abwechselung gebrauchen, während du hier hockst. Und dann meinte der Große“ – ein warnendes Brummen – „dann meinte Crash, wir könnten mit dir Rugby schauen.“

Pakhet zuckte mit den Schultern. Sie würde nicht sagen, wie dankbar sie war, doch wussten die beiden es wahrscheinlich auch ohne ihre Worte. Murphy würde es ihr bald schon vorhalten. „Klar. Können wir machen.“ Sie nahm die Flasche entgegen, die Crash ihr geöffnet anreichte. „Danke, Großer.“

Murphy übernahm die Gewalt über die Fernbedienung, schaltete auf einen Sportkanal, wo bereits das übliche Vorspiel-Geplänkel lief. Infos über Mannschaften, Aufstellung, Fans. Vor jedem Spiel dasselbe. Jedenfalls wenn sie Zeit dafür hatten.

„Wie habt ihr Doc dazu bekommen, das hier zu erlauben?“ Sie hob die Flasche. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Heidenstein es zugelassen hatte.

„Geschmuggelt“, brummte Crash mit einem breiten Grinsen.

Sie lachte kurz auf. „Ich verstehe.“ Dann hob sie die Flasche und stieß mit ihm an. Die Bierflasche sah verboten klein in seiner riesigen Hand aus. Crash war wirklich ein verflucht großer Kerl.

Sie trank, während Murphy sich auch eine Flasche schnappte und kunstvoll am Metallrahmen des Bettes öffnete. Er trank, atmete danach entspannt aus. „So ist doch nett.“

Sie war den beiden verflucht dankbar. Sie fühlte sich besser, als den ganzen Tag. Verdammt. Dabei war es eigentlich nicht ihre Art.

Kurz wandte sie sich Crash zu. „Wie geht es dir?“

Crash brummte. „Alles gut. Geheilt.“

„Magisch oder normal?“ Da er im Krankenhaus gewesen war, konnte sie nicht glauben, dass seine Wunden auf normalem Wege schon geheilt waren.

„Mischung“, erklärte Murphy. „Der gute Crash hat eh super Heilkräfte. Du weißt ja, Gestaltwandler sind damit relativ gut. Aber wir haben uns auch einen Heiltrank gekauft. Macht zwar nicht alles heil, hilft aber zumindest. Ist sogut wie nichts mehr zu sehen. Man kann ja wirklich neidisch werden.“

Crash verdrehte nur die Augen und brummte amüsiert. Wahrscheinlich waren das für seinen Geschmack zu viele Worte für wenig Aussage gewesen.

Pakhet lehnte sich im Bett zurück, richtete das Kopfende noch etwas weiter auf und wandte sich dem Spiel zu, das kurz darauf begann.

Es tat gut, mal wieder Zeit mit jemand anderen als Heidenstein zu verbringen. Natürlich hätte sie auch Robert anrufen können. Sie war sich sicher, dass er herübergekommen wäre, doch hätte sie ihm dann so vieles anderes erklären müssen.

Er hatte sich seit fast zehn Tagen nicht bei ihr gemeldet. Er war ohne Frage sauer auf sie, doch sagte sie sich, dass es im Moment nicht anders ging. Sie konnte ihm nicht alles erklären, was vor sich ging. Schon gar nicht die Sache mit Heidenstein. Und auch von ihrer eigenen Vendetta wäre er alles andere als begeistert. Sie kannte ihn: Er mochte Helden, hielt dennoch jeden für verrückt, der sein eigenes Leben für andere riskierte.

Crash kommentierte das Spiel zusätzlich für sie. Einsilbig, natürlich, was Murphy dazu brachte, seine Kommentare auszuführen. Es war albern, wirr, aber es brachte sie zum Lachen. Das hieß: Bis die Tür aufging und Heidenstein mit einem Tablett hereinkam.

„Ich sehe, du hast Besuch“, stellte er nüchtern fest. Er schien erst amüsiert. „Ihr wisst schon, dass die Besuchszeiten eigentlich vorbei sind?“

„Hab dich nicht so, Doc“, meinte Murphy. „Wir sind doch Freunde.“ Er warf ihm einen vielsagenden Blick zu, der Heidenstein jedoch nur dazu brachte, die Augen zu verdrehen.

Er brachte das Tablett zum Nachttisch hinüber, als ihm die ersten vier bereits leeren Flaschen auffielen. „Bier?“ Er klang entgeistert.

Pakhet sah ihn an, suchte seinen Blick. „Ja.“

„Du weißt, dass es eine bescheuerte Idee ist mit deinem Kreislauf und allem?“ Seine Stimme war spitz.

Jetzt war es Pakhet, die die Augen verdrehte. „Ich finde, es ist eine ganz ausgezeichnete Idee. Predigst du mir nicht die ganze Zeit etwas von Kalorien? Bier hat einige Kalorien und ist dabei nicht so ekelig, wie der komische Zuckerkram.“

„Aber Alkohol entwässert auch und ist damit schlecht für deinen angeschlagenen Kreislauf“, erwiderte er.

„Jetzt hab dich nicht so, Doc“, meinte Murphy. „Pakhet ist schon ein großes Mädchen. Sie weiß schon, was sie tut.“

Sie sah zu ihm. „Du sei mal besser ruhig.“

„Was? Ich helfe dir doch!“

Ein unfreiwilliges Grinsen breitete sich auf Heidensteins Gesicht aus, doch dann wurde er wieder ernst, atmete tief durch. „Wie du meinst. Aber sei dir dessen bewusst …“

Sie unterbrach ihn, beendete seinen Satz für ihn: „Ich bin mir dessen bewusst, dass es deiner professionellen Meinung widerspricht. Schon verstanden.“ Sie verdrehte die Augen. „Entspann dich, Doc.“

„Du bist meine Patientin“, erwiderte er.

„Und eine Freundin. Und als deine Freundin biete ich dir an, eine Flasche Bier zu nehmen und dich zu uns zu setzen.“

Für einen Moment war er still, sah sie an. Dann seufzte er, nahm die Flasche, die Crash ihm hinhielt und setzte sich auf den Rand am Ende ihres Bettes.

[06.10.2011 – D44 – Ingenieur]

Als sie in die Wohnung kam, fand sie die Prothese, die sie beim Kampf in Johannisburg getragen hatte, auf dem Tisch liegen.

„Oh“, machte sie, als sie sie erkannte. Etwas wirkte anders.

Heidenstein, der neben ihr stand, räusperte sich. „Ich habe mir herausgenommen, sie zu reparieren. Oder habe es zumindest versucht. Wir müssen schauen, wie gut es funktioniert hat.“

Sie sah ihn an, unsicher, wie sie darauf reagieren sollte. „Danke. Seit wann kennst du dich mit sowas aus?“

„Ich habe mir vieles angelesen“, erwiderte er. „Na ja, und Hazel bezahlt, mir die Unterlagen zu besorgen. Also für dieses Modell. Militärprototyp, ja?“

Pakhet zögerte. Sie schürzte die Lippe. So etwas sollte er eigentlich nicht tun. Es sorgte nur dafür, dass sie sich noch schlechter fühlte, noch unsicherer ihm gegenüber. „Ja. Militärprototyp“, antwortete sie. „Ich gebe dir das Geld wieder.“

Er klopfte vorsichtig auf ihre Schulter. „Nicht nötig. Ich fand es interessant.“

Sie schloss die Augen, atmete tief durch. „Du bist ein verfickter Idiot.“

„Das hast du mehrfach gesagt“, meinte er.

Es war nun genau eine Woche her, dass sie aus Johannisburg zurückgekommen waren. Er hatte ihr endlich erlaubt nach oben zu kommen, den Rest hier auszukurieren. Er bestand auf mindestens drei weitere Tage Bettruhe für sie. Am liebsten hätte sie ihn dafür erwürgt – natürlich rein metaphorisch gesprochen. Doch verdammt, seine ruhige, fürsorgliche Art sorgte nur dafür, dass sie sich noch unsicherer fühlte. Wie sollte sie mit ihm umgehen? Wie zur Hölle sollte sie mit ihm sprechen?

„Danke“, sagte sie schließlich, setzte sich aufs Sofa und hob die Prothese mit ihrer rechten Hand hoch. Es war recht deutlich, wo er Kontakte und teilweise auch die Schutzbleche ausgetauscht hatte, nicht zuletzt, da die, die er ausgetauscht hatte, eine andere Farbe hatten. „Ist sie aufgeladen?“

„Ja, aber ich würde dich bitten, es erst zu probieren, wenn deine Haut ordentlich verheilt ist. Warte noch ein oder zwei Tage, Pakhet.“ Er zögerte, setzte sich dann neben sie, nahm ihr die Prothese ab. „Ich muss immer noch sagen, dass es mich beeindruckt.“

„Na ja, ich brauchte irgendetwas um auf Einsätze zu gehen.“

„Gestohlen?“, fragte Heidenstein.

„Nein. Michael hat sie für mich besorgt. Er hat irgendjemanden bestochen, den Prototypen aus einem Labor zu entwenden.“ So wie er sie einst bestochen hatte, zu helfen, Waffen und Daten aus dem Militärlager zu entwenden oder eher wegzusehen, während das geschah.

Doch das war lange her. Mehr als sieben Jahre. Es war vergangen. Es war nicht sie gesehen, die er bestochen hatte, sondern Joanne.

Heidenstein schwieg für einen Moment. Er leckte sich über die Lippen, zögerte, räusperte sich dann. „Wie ist das mit deinem Arm passiert?“

Das ging ihn nichts an. Doch verdammt, das konnte sie ihm nicht sagen. Die genauen Details gingen ihn allerdings auch nichts an. „Sagen wir es einmal so: Eine medizinische Behandlung ist schief gegangen und am Ende konnten sie nur noch amputieren.“

Heidenstein sah sie für einen langen Moment an. Er hielt inne, betrachtete wieder die Prothese, dann ihren Armstumpf, der aktuell durch den Ärmel eines einfachen dunklen T-Shirts verborgen war. Er zögerte, hob den Ärmel dann an, berührte ihren noch immer verbundenen Armstumpf. „Hast du je darüber nachgedacht, ihn magisch wieder herstellen zu lassen?“

Sie sah zu seiner Hand und dem kläglichen Überbleibsel ihres Arms. Ein verächtliches Geräusch kam über ihre Lippen. „Natürlich habe ich das. Seit ich von Magie wusste zumindest. Aber … Da war die Wunde schon zu alt und eine solche Wunde zu heilen, eine Gliedmaße, die lange verloren ist nachwachsen zu lassen kostet. Mehr als nur Geld. Es ist Geistermagie. Feenmagie. Es ist weit mehr, als die meisten normalen Magier machen können. Und selbst wenn es jemanden gibt, der so mächtig ist … Selbst die Menschen verlangen meistens mehr als Geld.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist, wie es ist. Mein Arm ist weg. Ich kriege ihn nicht mehr zurück.“

Heidenstein ließ seine Hand sinken. Er wich ihrem Blick aus. „Und wenn du die Möglichkeit hättest … Also rein theoretisch. Wenn es einen Weg gäbe, den Arm zu heilen. Würdest du es tun?`„

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Sie schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug. „Es macht doch ohnehin keinen Sinn über Unmöglichkeiten nachzudenken, oder?“

„Vielleicht.“ Er seufzte, legte eine Hand auf ihr Knie, hielt inne, zog die Hand dann wieder fort. „Du wusstest damals noch nicht von Magie? Aber du bist selbst … Magisch, oder?“

„Passiv magisch“, erwiderte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur gewusst, dass ich etwas stärker, schneller, geschickter bin, als die meisten. Es gibt solche Leute. Dass es Magie ist, habe ich erst gewusst, nachdem …“ Nachdem sie hierher gekommen war, nachdem sie angefangen hatte für Michael zu arbeiten. Das war der Moment gewesen, in dem Magie für sie real geworden war. Als sie Pakhet wurde. Sie schüttelte den Kopf. „Halt später.“

Heidenstein musterte sie. „Verstehe.“

„Wie lange wusstest du schon von Magie?“ Es war definitiv besser über ihn zu sprechen, als über sie.

Er lächelte mit einer Spur von Nostalgie in seinem Blick. „Ich wurde schon mit zwölf von meinem Onkel ausgebildet. Relativ früh also.“

„Und dennoch Arzt geworden?“, fragte sie.

Jetzt war er es, der mit den Schultern zuckte. „Ich habe immer gehofft eine Möglichkeit zu finden … Du weißt schon. Dinge zu heilen, die als unheilbar gelten. Indem ich irgendwie magische Eigenschaften anders nachahme und …“ Wieder seufzte er. „Es hat ja auch zum Teil funktioniert.“

Sie glaubte, zu verstehen. „Die Forschung, die angeblich nicht deine war?“

Er nickte, seufzte noch einmal, stand dann auf. „Was hältst du davon, wenn ich dir einen Kaffee mache?“

Also konnte auch er Themen ausweichen. Interessant.

Sie lächelte. „Du kennst mich. Immer gern.“

[08.10.2011 – S09 – Frappuccino]

„Das ist kein Kaffee“, stellte Pakhet sachlich fest, als Smith die Plastiktasse vor sie stellte.

Es war eine von diesem „Frappuccino“-Mischungen des Coffeshops vor sie stellte.

„Oh, es ist Kaffee“, erwiderte er mit einem milden Lächeln. „Blended Kaffee.“

„Diese Dame bevorzugt allerdings reinen Kaffee.“ Sie zog einen Schmollmund, nahm dann aber den Becher. Es war offenbar gekühlter Frappuccino, der für ihren Geschmack deutlich zu sehr nach Vanille roch und … War es Karamell?

„Lass uns laufen, es ist besser als hier im Laden zu reden“, sagte er und tippte sie auf die Schulter.

Sie nickte. Coffeeshops war ohnehin nicht ihre Art von Laden. Sie konnte es nicht in Worte fassen. Vielleicht zu viele junge Leute. Vielleicht zu viele ignorante Leute. Vielleicht zu viele der Apple-Jünger. Was wusste sie. Sie fühlte sich in den Läden nicht besonders wohl.

„Also. Was ist genau passiert?“, fragte er.

Er hatte sie im Krankenhaus nicht besucht, um nicht noch mehr von Michaels Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen. Es brachte wahrscheinlich wenig, doch am Ende half es vielleicht zumindest, um Smith aus etwaigen Racheplänen Michaels rauszuhalten. Er musste nicht noch weiter damit hineingezogen werden. Nicht, wenn sie versuchen konnten, es zu verhindern. Selbst wenn sie nicht sicher sein konnten, ob Michael nicht dafür sorgte, dass ihnen jemand half.

Vielleicht war dieser Gedanke auch nur wieder Paranoia. Sie war sich nicht sicher.

Dennoch erzählte sie ihm knapp, was in Johannisburg passiert war. Er hatte bereits von Jack eine kurze Übersicht der Ereignisse gehört, die sie nur ergänzte. Viel gab es letzten Endes nicht zu berichten. „Ich habe vor ein paar Tagen mit Chase telefoniert. Sie mussten die Ganger der örtlichen Polizei übergeben. Wahrscheinlich wird sie freigelassen. Aber es gibt zumindest eine Chance Zea und damit vielleicht die magischen Einflüsse zu eliminieren.“

„Wenn Zea der einzige Magier ist, der ihnen hilft“, erwiderte Smith nachdenklich.

Auch sie hatte darüber bereits nachgedacht. Immerhin hatte sie andere Magier gesehen. Nicht zuletzt den einen Magier, den sie getötet hatte. Das war nicht Zea gewesen. Und diese seltsame Gestalt …

Sie müssten abwarten. Sehen was sich ergeben würde. Wenn es weitere Magier gab, würden sie es sehen. Sie konnte hoffen, dass die anderen Magier Zea gefolgt waren, sich nun aus der Sache heraushalten würde. Vielleicht was das zu positiv gedacht. Vielleicht färbte Heidenstein auf sie ab.

„Die Moral ist, dass wir erst einmal keine Unterstützung von Chase erwarten können?“, fragte Smith nachdem sie einige Sekunden geschwiegen hatte.

„Wahrscheinlich nicht. Nein. Sie würden Konflikte mit der örtlichen Polizei riskieren. Vor allem wenn wir Recht haben und Nel in die Sache verstrickt ist.“ Sie nippte an dem Strohhalm, verzog das Gesicht. Wie sie vermutet hatte: Zu süß.

Zumindest trug sie nun ihre Prothese wieder. Ihre normal aussehende Prothese, doch hatte sie auch die andere probiert. Sie funktionierte wieder. Selbst wenn die Sensoren anders waren als zuvor. Aber das ließ sich nachjustieren.

Solange sie nicht auf Einsatz war bevorzugte sie diese Prothese. Sie zog weniger Blicke auf sich, selbst wenn sie ein kurzärmliges Oberteil trug, wie jetzt.

Smith trank an seinem eigenen Kaffee oder eher seinem eigenen Frappuccino. Er war Pakhet nie als einer der Hipster vorgekommen, aber dann wiederum sollte sie es vielleicht nicht überraschen. Sie kannte ihn letzten Endes doch kaum. „Und?“, fragte er schließlich. „Was hast du vor?“

Sie sah auf den durchsichtigen Plastikbecher, bewegte ihn, beobachtete den Eiswürfeln dabei, wie sie durcheinanderrutschten. Zu viele Eiswürfel. War in dieser Mischung überhaupt Kaffee? „Ich denke, ich werde versuchen Michael zu beruhigen. Und abwarten. Abwarten, was sie als nächstes tun.“

„Wenn sie wissen, dass du es warst, vielleicht dein Kopfgeld erhöhen“, meinte Smith.

Alice achtete bereits darauf. Soweit war nicht dergleichen passiert. „Zehntausend sind eine große Menge für mich kleinen Fisch.“

„Ja. Und das macht mir Sorgen.“

Noch einmal nahm sie einen Schluck, verzog wieder das Gesicht. „Solange sie kein Kopfgeld auf Heidensteins Kopf setzen oder den von Crash, soll es mir Recht sein.“

„Du kommst damit klar?“ Er warf ihr einen Seitenblick zu.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wohl oder übel.“

[12.10.2011 – X23 – Bodyguard]

Es war zu früh für sie, sich wieder in einen Kampf zu begeben. Heidenstein hatte Recht und wie immer hasste sie es, dass er Recht hatte.

Ihr Kopf schwirrte. Ihr war Schwindelig. Das war ihr Kreislauf, der deutlich noch nicht wieder bereits für all das war. Doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sonst würde sie sterben und der verdammte Williams, ihr Schützling auch.

Sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt mit Heidenstein, Murphy und den anderen zu arbeiten. Leute, die sie kannte. Leute, denen sie vertraute. Leute, die ihre Taktik, ihr Vorgehen kannten, ihr vertrauten. Doch sie hatte nicht den Luxus, sich aktuell ihre Jobs aussuchen zu können. Sie musste dafür Sorgen, dass Michael aufhörte, Fragen zu stellen und so war sie hier. Williams. Angeblich auf einer Geschäftsreise hier. Sie ging davon aus, dass er irgendetwas Zwielichtiges tat. Immerhin hatte er ganz offenbar die Aufmerksamkeit der Vory auf sich gezogen.

Sie war sich zumindest halbwegs sicher, dass die vier Angreifer Vory waren. Sie riefen sich etwas auf Russisch zu. Waren es wohl die Leute, von Heidensteins Victor?

Nun, sie konnte nicht fragen. Sie würde erschossen werden und Williams gleich mit ihr.

Sein normaler Bodyguard lag bereits auf dem Boden des Parkplatzes. Der Wagen, den sie von der Firma geliehen hatten. Gesichert. Nicht gänzlich kugelsicher, aber besser als die meisten normalen Wagen. Speziell die meisten Leihwagen.

Mr Williams und sein kleiner Handlanger, der sich nur als Souvet vorgestellt hatte, hatten ihn direkt mit der dazugehörigen Security gemietet. Sie und ein anderer Söldner namens Knox waren hier, hinter zwei verschiedenen anderen Wagen in Deckung gegangen.

Williams war bei ihr, Souvet bei dem anderen. Er war angeschossen.

Sie hielt Williams mit der Prothese beim Arm, nachdem er Anstalten gemacht hatte, wild davon zu rennen. Er würde so sicher erschossen werden.

Sie schloss die Augen, konzentrierte sich, rief sich die Geographie des Parkplatzes in Erinnerung. Der Parkplatz lag neben einer Mall, die allerdings geschlossen war. Denn natürlich war sie das. Es war doch ein Klischee, oder? Um genau zu sein war die Mall noch nicht eröffnet, wurde noch gebaut.

Der Parkplatz war gute eineinhalb Hektar groß, kurzum riesig. Es hatten schon ein paar Leute Fahrzeuge hier abgestellt. Vorrangig, weil hier in der Nähe einige Bürogebäude waren und die Parkplätze daher wahrscheinlich entgegenkommend waren.

Vorteil: Sie hatte Deckung. Es gab keine gute Möglichkeit mit Waffen kurzer Reichweite von irgendwelchen Dächern zu agieren. Dafür waren sie zu zentral auf den Parkplatz.

Nachteil: Für jemanden mit einem Scharfschützengewehr boten sie ein wunderbares Ziel. Die Situation war dank der Autos unübersichtlich. Sie hatte nicht im Sinn, wo genau ihre Angreifer waren.

Unschlüssig: Jemand würde auf kurz oder lang die Polizei oder – wahrscheinlich – die private Sicherheit der Mall rufen. Die Leute in der Gegend vertrauten der Polizei nicht. Nicht ihrer Erfahrung nach.

Vier Leute. Eigentlich keine Herausforderung. Doch Williams war einer dieser viel zu paranoiden, panischen Schützlinge, die ständig hektisch waren und sich nicht verstecken konnten.

Zwei Parkreihen weiter stand ein anderer Wagen, hinter dem Knox – ein indisch-afrikanischer Mann mit breiten Schultern – zusammen mit Souvet, einem hageren Europäer saß. Da die Fahrzeuge nicht dicht bei dicht standen, war die Situation unübersichtlich, aber nicht unübersichtlich genug, als dass man hätte zwischen den Wagen herkrabbelnd entkommen können. Sie saß mit dem Rücken zu einem Wagen. Vor ihr war jedoch für drei Parklücken keiner.

Knox gestikulierte zu ihr. Sein Plan war, um den Heckflügel des Fahrzeuges zu krabbeln, sich in Stellung zu bringen. Seine schwere Pistole hatte Reichweite.

Sie schüttelte den Kopf. Sie hörte nur zwei Schützen. Diese wollten sie wahrscheinlich nervös machen, zu genau solchen Manövern bewegen, während die anderen darauf warteten, dass sie sich bewegten oder versuchten zu entkommen.

Sie war schon oft genug in diesen Situationen gewesen, um die Taktiken zu kommen.

Wieder gestikulierte er zu ihr. „Jetzt oder nie.“

Am liebsten hätte sie laut gestöhnt, doch tat sie es nicht. Sie wandte sich Williams, der seinerseits, ein schlanker, dunkelhaariger Europäer war. Sein eigentlich hübscher Anzug war sehr staubig. „Du bleibst hier“, zischte sie auf englisch.

Er sah sie verstört an. „Wir müssen …“

„Ich sage, was wir müssen.“ Sie ließ ihn los, wartete, ob er wegrannte.

Er blieb. Gut. Er war nicht ganz dämlich.

Sie hockte sich hin, bereitete ihre Sig Sauer vor. Sie benutzte nicht Heidensteins Pfeilpistole, da diese auf lange Distanzen nicht optimal war. Außerdem sorgte nun einmal richtige Munition für größeren Einschüchterungsfaktor.

Zwei Schützen. Einer auf halb elf, der andere, von ihrer Position aus, auf zwei Uhr. Sie sollte es schaffen. Doch wenn sie sich nicht ganz irrte, war der auf zwei Uhr in guter Deckung. Da war ein größerer Rover zwischen ihnen. Immerhin hatte er auch auf Knox angelegt.

Egal. Wenn er in Deckung war, hatte sie wahrscheinlich auch Deckung vor ihm.

Noch einmal holte sie tief Luft, atmete aus und stand dann auf. Sie hob die Waffe, sah, zielte, schoss, noch bevor ihr Bewusstsein verarbeitet hatte, was sie sah. Da hinten, bei einem weißen, alten VW stand einer ihrer Angreifer. Er schoss mit einer halbautomatischen Pistole auf sie. Dann traf ihre Kugel ihn in der Schulter, etwas zu nahe am Zentrum seines Körpers.

Er fiel rückwärts, während sie einen Schuss zu ihrer linken hörte.

Der andere Angreifer. Natürlich. Wie sie gesagt hatte, er hatte nur darauf gewartet.

Sie machte einen Schritt zur Seite. Die Frontscheibe des Wagens neben ihr splitterte. Die Alarmanlage ging nun endlich los. Das hatte lange gedauert.

Sie beachtete sie nicht, wandte ihre Waffe. Zielte. Drei Schuss. Zwei auf die Schulter, ein auf das Knie. Zwei trafen, einer auf der Schulter, der andere am Knie.

Dann ein Schrei. Knox. Natürlich. Er hatte sein Hauptziel ausgeschaltet, den anderen jedoch nicht gesehen, nicht erwartet. Sie wandte sich um, lief hinüber, während der andere Angreifer, der hinter einem weißen Transporter direkt vor dem Eingang des Einkaufszentrums Stellung bezogen hatte. Fuck. Er hatte eine Uzi. Die Dinger waren nicht genau, aber das war egal.

Ging es eigentlich noch auffälliger?

Das regelmäßige Knallen der automatischen Waffe durchschnitt die Luft. Sie ließ sich hinter den Wagen, wo auch Knox lag, fallen. Er lebte noch, stöhnte deutlich hörbar vor Schmerzen. Darum konnte sie sich später kümmern. Was für ein Idiot. Warum hatte er nicht gehört?

Egal. Noch einer übrig, richtig?

Entfernung zu ihrem Ziel waren knapp achtzig Meter. Kurz, sollte man meinen, aber nicht optimal für ihre Waffe. Egal. Sie musste es probieren. Sie hatte ihn gesehen. Solange er Feuer aufrecht erhielt, konnte er seine Position nicht zu stark verändern.

Sie rief sich das Bild seiner Position in den Kopf, machte ihren Plan. Dann stand sie auf. Feuerte. Fünf Mal auf verschiedene Höhen, wohl wissend, dass sie ihn tödlich treffen konnte.

Zwei trafen. Einer davon nur als Streifschuss. Er ging nicht zu Boden, schrie jedoch auf und ließ die Waffe sinken, um sich die Schulter zu halten.

Sie verfluchte sich, sprintete aber los. Sie war schnell. Sehr schnell.

Noch sechzig Meter. Er sammelte sich. Noch vierzig. Er hob die Waffe. Noch zwanzig. Er drückte den Trigger.

Sie schlug einen Haken, sprang zur Seite. Dann ein loses Klackern. Sein Magazin war erschöpft. Sie hatte glück.

Dann tackelte sie ihn, warf ihn zu Boden. Noch während sie zu Boden gingen, traf ihr erster Schlag seinen Solarplexus. Dann riss sie seine Waffenhand nach oben, schleuderte die Waffe aus seiner Hand. Ihr Bein traf ihn gegen die Hüfte. Dann fand ihre Prothese seinen Hals, schlug gegen seinen Adamsapfel.

Er kam mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt liegen, rührte sich nicht mehr.

Sie atmete durch, tastete dann nach seinem Puls. Er lebte noch. Das was besser als gedacht.

Dann ein Schrei. Williams. Sie sah sich um, ahnte aber bereits was passiert war. Er war zu Boden gegangen. Mitten auf freier Fläche. Wahrscheinlich einer der zu Boden gegangenen, aber nicht ohnmächtigen Angreifer.

Ein weiterer Schuss.

Die gute Nachricht: Williams schrie noch.

Sie wechselte ihre Waffe gegen die Pfeilpistole, sprintete zurück. Da, der Angreifer von hinter dem Wagen. Sie kam hinter den Wagen. Er bemerkte sie nicht, während er versuchte noch einmal einen Schuss auf Williams abzugeben. Seine Hand zitterte.

Dann traf ihr Pfeil ihn in den Arm, er sah sich zu ihr um, zielte auf sie. Doch der Pistol ging weit über ihren Kopf hinweg. Er hatte zu früh abgedrückt.

Dann war sie bei ihm, trat die Waffe aus seiner Hand, richtete dann ihre Waffe auf ihn, wartete.

Sein Atem wurde heftiger als zuvor. Er war verwirrt. Dann verlor er das Bewusstsein.

Noch immer schrie Williams. Wunderbar. Er lebte noch.

Sie verdrehte die Augen, ging zu ihm hinüber. Es war nur ein verdammter Streifschuss am Bein. Dramaqueen. Wie konnte sie diese Einsätze einmal genossen haben? Es war einfach nur nervig. Unglaublich nervig.

Sie kniete sich neben ihn. „Du hättest nicht laufen sollen.“

In der Ferne erklangen endlich Sirenen. Dem Geräusch nach private Security. Sie hatte es doch gewusst.

[12.10.2011 – A04 – Information]

Als sie an diesem Abend zurück in die Wohnung kam, die sie mit Heidenstein teilte, fand sie zu ihrer Überraschung nicht nur Heidenstein dort.

„Hey, Großer“, grüßte sie Crash, der zusammen mit Alice auf dem Sofa saß und ein Wasser trank.

Vor Alice stand ein Glas mit einer hellgelben Flüssigkeit. Wahrscheinlich Fanta. Gerade hob sie es und trank genießerisch einen tiefen Zug. „Hi, Pakhet!“, meinte sie dann und hob die Hand.

Wie immer hatte sie diese extrem selbstüberzeugte Stimme, dasselbe überzeugte Auftreten. Sie grinste.

Heidenstein saß auf dem Sessel. Damit blieb wohl kein Platz mehr für sie. Doch irgendetwas sagte ihr, dass die beiden doch wegen ihr da waren. Sie musterte sie.

„Was macht ihr hier?“

„Der Große wollte dich besuchen. Ich dachte mir, ich komme mit, da ich ein paar Neuigkeiten für dich habe“, erwiderte Alice und trank erneut.

Pakhet zog ihre Lederjacke aus, hängte sie über einen Haken des Kleiderständers rechts neben der Tür und ging zu ihnen hinüber.

Heidenstein machte Anstalten aufzustehen, erntete dafür jedoch einen bösen Blick.

„Ich kann stehen.“

Er hob abwehren die Hände, blieb sitzen, sah aber zu ihr auf, als sie hinter den Sessel trat und sich dagegen lehnte. Beinahe schien er irgendetwas fragen zu wollen. Wahrscheinlich so etwas wie: „Wie war dein Tag?“ Oder etwas ähnlich albernes, aber er beherrschte sich.

Letzten Endes hätte sie auch nicht gewusst, was sie darauf hätte antworten sollen. Ihr Job war erfolgreich gewesen. Aber dennoch lagen ihre Nerven blank. Dieser Williams hatte genervt und als sie ihre verbleibende Zeit in der Firma im Fitnessraum verbracht hatte, war Michael da gewesen. Er hatte nichts gesagt, sondern sie nur für knapp zwei Minuten beobachtet.

„Worum geht es?“, fragte sie Alice.

Das Mädchen lehnte sich zurück, lächelte. „Ich bin extrem gütig zu dir, weißt du?“

Pakhet gab ihr keine Antwort, hob bloß eine Augenbraue.

„Ich habe noch ein wenig Arbeit in die Sache gesteckt und habe ein, zwei Dinge herausgefunden, die dich interessieren könnten.“ Sie verschränkte die Arme, grinste selbstzufrieden. Offenbar wollte sie, dass Pakhet sie fragte, was es denn war, was sie herausgefunden hatte.

Doch Crash stupste seine Schwester an und brummte.

Alice verdrehte die Augen, seufzte. „Okay, okay.“ Sie holte tief Luft, wie jemand, der gleich eine Rede halten wollte. „Also erst einmal, haben sie ihre Server umgezogen und verschlüsselt. Sie haben offenbar gemerkt, dass ich dran war. Allerdings muss ich sagen, dass sie immer noch einen beschissenen Job machen. Ich komme schon an die Daten dran.“ Ihr Blick bat beinahe um Applaus.

„Super“, meinte Pakhet. „Danke.“ Dann hielt sie inne. „Und das andere?“

„Ach, die haben die Sache mit deinem Kopfgeld ein wenig weiter verteilt. Nicht mehr nur ein Board sondern gleich mehrere. Die scheinen frustriert zu sein, dass man dich noch nicht gekillt hat. Also wollen sie ein wenig nachhelfen.“

„Höheres Kopfgeld?“

Alice schüttelte den Kopf. „Dafür sind sie zu geizig, scheint mir.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich dachte, du wolltest das Wissen.“

„Danke, Alice“, murmelte Pakhet und seufzte. Es war nicht viel schlimmer, als vorher. Nur dass die Wahrscheinlichkeit stieg, dass irgendjemand die Anzeige fand, der sich tatsächlich damit beschäftigen wollte.

Sie senkte den Blick, womit er beinahe automatisch bei Heidenstein landete, der im Sessel den Kopf in den Nacken gelegt hatte, um zu ihr zu sehen.

Sein Blick war besorgt. Was sonst? Er verkniff sich erneut einen Kommentar, versuchte aber deutlich wortlos mit ihr zu kommunizieren. „Wir finden schon einen Weg“, schien sein Blick zu sagen.

Alice musterte sie beide. „Ihr seid beide ziemliche Idioten, oder?“

Pakhet sah zu ihr hinüber. „Was?“

„Ich sagte, ihr seid Beide ziemliche Idioten.“

Crash sah zu ihr, brummte warnend, erntete doch einen genervten Blick.

„Kannst du dir dieses Trauerspiel wirklich noch länger ansehen?“, fragte Alice.

Wieder brummte Crash nur. „Ja. Es geht mich nichts an.“

Pakhet beschloss, diese Einwände zu ignorieren. Sie räusperte sich. „Ich entnehme dem Kommentar zu deiner Güte, dass mich diese Information ausnahmsweise nichts kostet?“

Alice verdrehte die Augen. „Ja“, meinte sie dann mit Nachdruck, sah dabei aber zu Heidenstein. „Ausnahmsweise nicht.“

[15.10.2011 – F06 – Stalking]

Das Wochenende kam nach einer Woche, in der es eindeutig zu viele Einsätze gab. Sie war sich sehr sicher, dass es daran lag, dass Michael ihr eine Lektion erteilen wollte. Egal. Hauptsache war, dass sie überlebte. Irgendwie überlebte sie. Sogar ohne nennenswerte Verletzung. Sie hatte Glück. Zu viel Glück vielleicht. Sie hatte Glück.

Es war Samstag, kurz vor elf. Sie saß mit Murphy zusammen in einer weiteren Eisdiele. Langsam bekam sie das Gefühl, dass er vorhatte früher oder später jede nennenswerte Eisdiele der Stadt auszuprobieren. Zumindest die, bei denen er sicher war, keine Salmonellen zu bekommen.

Diese war in einer kleinen Seitengasse in der Nähe der Mill Street gelegen. Es war eine sehr modern eingerichtete Eisdiele, deren Inneneinrichtung sogar Neonstrahler an der Wand beinhaltete und sie damit ein wenig an einen Nachtclub erinnerte, wäre da nicht die entspannte, lockere Popmusic gewesen, die aus den Lautsprechern tönte.

Vor Murphy, der wieder in seiner europäischen Teenagergestalt vor ihr saß, stand ein großer Schokoladeneisbecher mit Früchten. Der Becher war beinahe so groß, wie sein Kopf, doch er schien sich der Herausforderung bestens gewachsen zu sehen. Munter schaufelte er das Eis in sich hinein, sprach dabei des öfteren mit vollem Mund.

„Weißt du Pakhet, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mich wahrscheinlich selbstständig machen“, meinte er. Sie hatte ihm in Ansätzen von ihrer vergangenen Woche erzählt, was er als Aufforderung für Lebensverbesserungsvorschläge sah. „Ich meine, mal ehrlich, du bist eh zu gut für diese 'Firma'. Oh, oder ich weiß, du fängst an als Crashs Bodyguard zu arbeiten. Das käme sicher gut. Du und der Große kommt doch sowieso so gut miteinander aus.“

Sie hörte ihm vorrangig zu, während sie mit ihrem Löffel im Eiskaffee vor ihr rührte. Sie lächelte milde. „Ich kann so leicht nicht aufhören. Und ich weiß nicht, ob es Crash helfen würde, wenn sein Bodyguard gesucht wird.“

„Und was ist mit dem Job, den du sowieso für den Doc machst? Security für sein Krankenhaus. Es läuft doch besser. Ich meine, das wird jetzt nicht so großartig sein, aber … Du weißt schon.“

„Selbes Problem?“ Sie nahm den Strohhalm in den Mund, nahm einen Schluck.

„Oh, bitte. Der Doc hängt doch sowieso schon mit drin. Und bevor du was sagst: Lass ihm. Er scheint sich ja geradezu zu freuen, dass er mit drinnen hängt.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Was soll das heißen?“

„Ach, du weißt genau, was das heißt. Du. Der Doc.“ Er ließ sogar seinen Löffel sinken, um zu gestikulieren. Er hob die Hände, zeigte auf sie. Machte dann eine umgreifende Geste, hob vielsagend die Augenbrauen.

Sie seufzte. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Oh, bitte. Du merkst doch auch, dass der Doc etwas von dir will. Ich meine, selbst du kannst nicht so blind sein, das zu ignorieren. Hast du eigentlich mal bemerkt, wie er dich ansieht?“ Seine Stimme klang ob ihrer Ignoranz beinahe schon empört.

Sie sah auf das Glas vor ihr, schürzte die Lippen. Offenbar genug Antwort für Murphy.

„Du hast es bemerkt. Natürlich. Es ist schwer nicht zu bemerken. Du willst es nur nicht bemerken.“

„Murphy. Ich glaube, ich brauche keine romantische Beratung von einem Teenager.“

Er verdrehte die Augen und sah sie mit verschränkten Armen an. „Ja, offenbar doch. Mal ehrlich. Du solltest ihm schon mal klar sagen, was du willst.“

„Habe ich“, murrte sie und verfluchte sich im nächsten Moment dafür. Es ging den Jungen nichts an. Sie wollte selbst nicht nachdenken, noch weniger wollte sie dem Jungen mitteilen, dass es okay war, dass er sich in ihre Angelegenheiten einmischte.

Er seufzte und machte ein für ihn viel zu ernstes Gesicht. „Mal ehrlich. Ich finde den Doc verdammt noch mal creepy. Er ist ein verdammt komischer Typ. Bin mir nicht sicher, ob er irgendwo einen Mordkeller hat oder so. Aber jetzt davon abgesehen … Du musst diese Probleme einmal angehen. Sonst wird das ja nie besser.“

„Weise Worte“, meinte sie sarkastisch. Sie würde garantiert nicht noch einmal mit Heidenstein darüber sprechen. Sie hatte ihm klar gesagt, was sie waren: Freunde mit Vorzügen. Er hatte ihr zugestimmt. Für sie war die Sache geklärt.

„Ich weiß“, erwiderte Murphy. „Und sehen wir es mal, wie es ist. Dir ginge es dennoch besser, wenn du für den Doc arbeitest, als bei diesem anderen Arschloch.“

„Du meinst Michael?“

Murphy verzog die Miene. „Genau. Mr Forrester.“ Er sprach den Namen mit der Stimme eines Filmbösewichts aus. „Der Typ ist einfach ein Arsch. Und er macht es doch im Moment nicht besser, oder? Ich meine, warum lässt du dir den Scheiß gefallen?“

„Weil Michael und ich …“ Sie konnte nicht mit dem Jungen darüber reden.

„Michael und du?“, echote er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe. Ihr habt eine Geschichte zusammen.“

„Nicht so, wie du denkst. Michael war nur immer ein Arschloch. Aber ein Arschloch, dass du besser auf deiner Seite hast, irgendwo, wo du ihn sehen kannst, als in deinem Rücken.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist gut zu wissen“, meinte eine kühle Stimme hinter ihr.

Sie fuhr herum, die Hand beinahe automatisch am Heft der versteckten Klinge unter ihrer Hose.

Michael? Ja, es war Michael. In Begleitung einer dunkelhäutigen Frau, die wahrscheinlich auch für die Firma arbeitete. Er trug übliche Touristenklamotten. Ein verdammtes Ananas-Shirt. Einen dieser albernen Hüte. Fuck. Was machte er hier?

„Jetzt beruhig dich mal. Ich bin ja nicht hier, um dich umzubringen, oder?“ Er grinste, nahm seinen Stuhl und setzte sich zwischen sie und Murphy. „Pakhet, meine Liebe. Es verletzt mich wirklich zutiefst. So redest du hinter meinem Rücken?“

Fuck. „Du bist mir gefolgt.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Wie hatte sie es nicht bemerkt? Sie hatte darauf geachtet. Sie achtete im Moment immer darauf. Wie zur Hölle hatte er ihr entgehen können? Fuck.

„Wieso nimmst du nur so etwas an?“ Er klang übertrieben gekränkt. „Ich war vielleicht rein zufällig hier, als ich dich und deinen kleinen Schützling bemerkt habe.“ Er legte eine Hand auf Murphys Wange, kniff dann hinein, wie man es früher einmal bei einem kleinen Kind getan hätte.

„Pack mich nicht an, Arschloch“, knurrte Murphy und riss Michaels Hand weg. Seine eigene Hand war von dunklen Schuppen überzogen, hatte Klauen.

Michael grinste, sah auf Murphys Hand. „Interessant.“

„Lass ihn aus der Sache heraus“, meinte Pakhet kühl. „Wenn du was von mir willst, dann rede mit mir.“

Michael musterte sie. Es wirkte ein wenig, als hätte er einen Kurs in „Wie bin ich das größte mögliche Arschloch“ besucht. Er hatte es sicher lange geübt. Seine Lippen kräuselten sich erneut in ein Lächeln. „Aber du bist doch diejenige, die ihn in die Sache mit hineingezogen hat, oder? Ach, bitte, du hast die Sache überhaupt begonnen und hast alle deine kleinen Freunde mit reingezogen, oder?“

„Wir haben uns entschieden. Wir wollen ihr helfen“, zischte Murphy.

Michael ignorierte ihn. „Ach, komm schon, Jo. Ist das denn wirklich das, was du willst? Ich mache mir jetzt seit Monaten Sorgen um dich. Ich meine, erst dein neuer Freund, dann dieser Knirps, dann auf einmal das Bedürfnis eine große Heldin zu sein. Warum?“

„Weil du mich auf einen Job geschickt hast, der mit Kindern zu tun hatte“, erwiderte sie kühl.

„Nein. Ich habe dir eine Lektion erteilt.“ Er seufzte. „Und dich offenbar falsch eingeschätzt. Ich dachte, du wärst professionell. Aber du hast mich enttäuscht.“ Er schüttelte den Kopf bedauernd. „Es ist dieser Arzt, der gute Doktor Heidenstein, nicht? Er hat dich weich gemacht, der elende Weltverbesserer, nicht?“

„Vielleicht hast du mich nur nie wirklich gekannt“, antwortete sie. „Lass Heidenstein aus der Sache heraus.“

„Warum sollte ich? Er hat dich … Ach, was ist das überhaupt hier? Mit ihm? Mit diesem Jungen? Spielt ihr Vater-Mutter-Kind? Weil eins kann ich dir sagen: Du wärst eine ernsthaft bescheidende Mutter.“ Er sah sie herausfordernd an.

„Hör mal, Arschloch“, knurrte Murphy. Er knurrte wirklich. Seine Augen waren dunkel unterlaufen. „Du verstehst davon vielleicht nichts, aber Pakhet und ich sind befreundet. Freundschaft. Schon mal gehört? Wahrscheinlich nicht, weil jemand du wahrscheinlich keine Freunde hat.“

Michael sah ihn mit geweiteten Augen an, schenkte ihm dann aber einen mitleidigen Blick. „Verteidigst deine Mum, hmm? Süß.“

„Lass uns verdammt noch mal in Ruhe, du Arsch.“ Murphy funkelte ihn an. Er sah aus, als würde er jeden Moment auf ihn losgehen.

Michael verdrehte die Augen, sah ihn an. „Ich habe kein Interesse an dir, Wechselbalg. Ich habe nur an ihr Interesse.“ Er zeigte beiläufig auf Pakhet. „Wenn du nicht mit hineingezogen willst, kann ich dir nur raten, dich von ihr fernzuhalten. Dann wäre uns denke ich beiden geholfen.“

„Ich mache, was ich will.“ Murphy sah zu ihr. „Lass uns gehen, Pakhet.“

Sie war geneigt ihm zuzustimmen. Sie sollten gehen, Michael allein lassen. Doch was würde er dann machen? Fuck. Sie konnte nicht gehen.

Sie biss die Zähne zusammen, wandte sich Michael zu. „Was willst du?“

„Ein Versprechen, dass du deine ganzen seltsamen Hobbys sein lässt und dich wieder auf deinen Job konzentrierst, Jo.“ Er funkelte sie an. „Ich habe zu viel in dich investiert, als dass ich dich jetzt an ein paar Idioten und irgendeine neugefundene Art von selbsternannten Heldentum zu verlieren.“

„Ich kann machen, was ich will“, erwiderte sie.

„Oh, ja, ich weiß.“ Seine Stimme wurde leiser. Er sah ihr in die Augen, sein Blick kühl und berechnend. „Denk darüber nach. Ich weiß, wer du wirklich bist. Und dein Name, dein Straßenname ist in letzter Zeit recht berühmt geworden, oder? Was wäre dir lieber? Wenn ich vielleicht ein paar gewissen Leuten mitteile, dass du nicht tot bist? Wenn ich deine Daten an Carel Nel weitergebe? Oh …“ Er lächelte schelmisch. „Wie wäre es damit, wenn ich an Nel weiterleite, was es mit der Identität deiner Helfer auf sich hat? Der gute Doktor Anderson und dieser kleine Knirps. Hey, vielleicht würden die mir sogar Geld geben, wenn ich den Kleinen hier einfangen lasse und ihnen gebe. Als Köder.“

Murphy wurde bleich, erstarrte auf einmal. Er biss die Zähne zusammen.

Eine von Michaels Händen war unter den Tisch gewandert. Pakhet ging jede Wette ein, dass sie eine Waffe hielt.

„Fuck. Michael. Bist du wirklich so ein Egomane, dass du ein Kind töten würdest?“, fragte sie leise.

„Ich bin kein Kind!“, protestierte Murphy.

Michael grinste sie an. „Du hörst es.“ Er war wirklich ein Psychopath. Hatte er Spaß daran? Sah er sich wirklich als Bösewicht und genoss es?

„Michael. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich einfach alles fallen lasse, nur weil du …“ Sie schüttelte den Kopf. „Fuck. Michael. Lass mir mein Leben. Lass mir mein verdammtes Leben. Es geht dich nichts an, mit wem ich befreundet bin, was für 'Hobbys' ich habe.“ Wieder schüttelte er den Kopf, als er nichts erwiderte. „Versuchst du alle anderen auch so zu kontrollieren?“

Er seufzte. „Für gewöhnlich nicht.“

„Warum interessiert es dich dann, was mit mir ist? Warum interessiert es dich, ob ich mich beim Versuch Nel zu stellen umbringe oder nicht?“

„Weil ich einiges in dich investiert habe, Joanne. Pakhet.“ Er sah sie an. „Du bist eine Investition. Soweit eine recht gute Investition. Effektiv. Erfolgreich. Du bist eine gute Kämpferin. Bist dabei auch noch intelligent. Magische Kräfte, wenngleich nur latente. Das ist mehr, als die meisten meiner Söldner zu bieten haben. Deine Erfolgsquote gehört zu den besten. Jede Woche, die du mir in der Firma fehlst, weil du bei deinem geliebten Doktor arbeitest oder im Krankenhaus liegst, weil du meinst, dich mit Gegnern, die außerhalb selbst deiner Liga spielen anlegen zu wollen, ist ein finanzieller Ausfall für mich.“

„Und um wie viel?“, erwiderte sie. Es war albern. Die meiste Zeit bestand ihr Job daraus, auf Einsätze zu warten. So voll wie die letzte Woche war es nie gewesen und letzte Woche war eindeutig ein Fall von Michael gewesen, der sie übermäßig eingespannt hatte.

„Zwölf bis achtzehntausend Rand. Im Monat.“

„Und warum interessiert es dich? Du machst … Wie viel? Zweihunderttausend?“

„Es geht ums Prinzip“, erwiderte Michael.

Sie schnaubte. „Nein. Ich sage dir, worum es dir geht. Du willst mich kontrollieren.“ Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Verdammt. Sie kannte es so verdammt gut. „Du willst mich kontrollieren. Du siehst mich als dein Eigentum und deswegen kommst du nicht damit klar, dass ich mein eigenes Leben habe.“

Er zuckte mit den Schultern. „Warum brauchst du dein eigenes Leben? Du hast es doch bisher auch nie gebraucht.“

„Fick dich, Arschloch“, zischte Murphy. „Nur weil sie etwas bisher nicht hatte, heißt das nicht, dass sie es nicht brauchte.“

„Sprichst du aus eigener Erfahrung?“

„Halt einfach dein Maul. Sie ist dir gar nichts schuldig.“ Er sah flehend zu Pakhet hinüber. „Lass uns gehen.“

Noch immer zögerte sie.

Michael ließ ein dramatisches Seufzen hören, legte seine Hand mit der Waffe auf den Tisch. Leute von Nachbartischen sahen zu ihnen hinüber. Ein Paar war schon aufgestanden und gegangen, die meisten waren jedoch unsicher.

„Komm, Pakhet“, meinte Michael nun in einem geschäftsmäßigen Ton. „Ich weiß, ich weiß, ich sollte dich nicht bedrohen. Mein Fehler. Weißt du was, machen wir das anders: Was muss ich dir dafür geben, damit du weitermachst, wie du es früher gemacht hast. Keine Pseudo-Familie, kein Krankenhaus, kein Hobby-Heldentum. Was brauchst du? Neues Haus? Irgendein cooles neues Fahrzeug? Luxus Urlaub?“ Eine Idee schien ihm zu kommen. „Was ist, wenn ich jemanden dafür zahlen würde, deinen Arm wiederherstellen zu lassen. Ohne irgendwelche Fallstricke für dich.“

„Weil ich dir dahingehend vertrauen könnte“, meinte Pakhet verächtlich. „Michael. Ich sehe Heidenstein und Murphy als Freunde an.“ Crash und Jack erwähnte sie nicht. Sie wollte sie nicht auch noch mit hineinziehen. „Ich will diese Freunde behalten.“ Sie holte Luft. Sie hasste es ihm überhaupt etwas anzubieten, doch hatte sie eine Wahl? „Ich sage dir was. Ich zahle dir das Geld, was du so verlierst.“

„Pakhet“, rief Murphy gedämpft aus. „Warum gehst du überhaupt darauf ein?“

Sie ignorierte ihn. Er konnte es nicht verstehen und das war gut. Er hatte Michael nicht so kennen gelernt wie sie. „Du sagtest Achtzehntausend. Ich gebe dir Achtzehntausend. Im Monat, wenn es sein muss.“

Michael seufzte. „Das ist zu einfach, oder? Nein. Wie gesagt, hier geht es ums Prinzip.“

„Verdammt, Michael …“

Er unterbrach sie: „Dreizigtausend. Im Monat. Oder jemand erfährt, wo er diesen Knirps oder den guten Doktor Anderson finden kann.“

„Arschloch“, hauchte sie.

Er lächelte nur milde. „Das ist mein einziges Angebot.“

Mit einem Schnauben holte sie ihr Handy heraus. Fuck. Was hatte sie für eine Wahl? Sie konnte wenig anderes machen. Sie würde Heidenstein oder Murphy nicht aufgeben. Genau so wenig würde sie die Jagd nach Nel aufgeben, solange dieser weiterhin Kinder entführte. „Ich überweise es dir“, zischte sie. „Lass mich dafür verdammt noch mal in Ruhe!“

„Wir werden sehen“, murmelte Michael.

„Du bist ein Arschloch“, zischte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Ganz wie du meinst.“

Zu gerne hätte sie ihm eine Kugel in den Kopf gejagt, doch sie wusste, dass sie das nicht tun konnte. Stattdessen stand sie auf. „Lass uns gehen, Kid.“

Murphy sah sie für einen langen Moment an. Den Blick auf seinem Gesicht konnte sie nicht beschreiben. Er zögerte, nickte dann aber. „Ja. Lass uns gehen.“

[15.10.2011 – M26 – Wut und Angst]

Sie waren auf dem halben Weg zurück zum Parkplatz, wo Pakhet ihren Wagen und Murphy wahrscheinlich auch sein Motorrad abgestellt hatte. Zumindest vermutete sie, dass er so hergekommen war. Da erhob Murphy das erste Mal die Stimme.

„Was war das, Pakhet?“, fragte er.

Sie antwortete nichts. Nur schwer konnte sie das Zittern ihrer Hand unterdrücken. Wut brannte in ihrer Brust, aber auch Angst. Sie konnte es nicht zugeben. Doch verdammt. Sie konnte nicht. Sie konnte einfach nicht.

„Pakhet!“, rief er aus.

Sie ging weiter. „Du solltest besser nach Hause, Kid. Geh zu Crash.“

„Erst, wenn du mir sagst, was zur Hölle das da war! Was war das? Es ist nicht deine Art, dich von einem Arsch wie ihm herumkommandieren zu lassen!“

Wenn es nur so wäre. „Vielleicht ist genau das meine Art“, murmelte sie. Sie schoss die Augen, atmete tief durch. „Hör zu, Murphy. Du kannst das nicht verstehen. Es ist besser, wenn du es nicht verstehst. Geh zu Crash. Es ist besser.“

Er griff nach ihrer Hand. Etwas, das er normalerweise nicht tat. „Pakhet. Verdammt. Normal bist du so nicht. Was ist es, das dir an ihm so eine Angst macht?“

„Das er kein Gewissen hat“, murmelte sie. Sie sah ihn an, riss ihre Hand los.

Da endlich war der Parkplatz. Sie wollte weg. Einfach weg. Wohin? Sie würde am Ende doch zum Krankenhaus fahren, doch am liebsten wäre sie irgendwohin gefahren. Weg. Doch das war nicht der Sinn. Sie wollte nicht aufgeben, was sie hier hatte. Das war der Grund, warum sie Michael bezahlt hatte.

Fuck, das waren fast zweitausend Dollar im Monat. Im Moment konnte sie sich das kaum erlauben.

„Pakhet. Verdammt. Rede mit mir.“

Sie hatte den Wagen erreicht, öffnete die Fahrertür auf der rechten Wagenseite und sah Murphy an. „Wirklich, Kid. Es ist besser, wenn du dich nicht weiter mit Michael anlegst. Er ist ein Arsch, aber ein Arsch, das du besser nicht gegen dich hast.“ Damit stieg sie ein, startete den Wagen.

Murphy schlug von draußen auf die Kühlerhaube, doch tat er nicht wirklich etwas, um den Wagen aufzuhalten, fluchte nur.

Sie konnte es ihm nicht erklären. Warum zur Hölle tat es so weh, ihn so zu sehen? Zu sehen, dass er enttäuscht von ihr war …

Sie fuhr. Sie fuhr einfach nur. Sie versuchte ihre Atmung ruhig zu halten, ihr Herz zu beruhigen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Verdammt. Der Junge hatte Recht. Es war nicht ihre Art. Sie war nicht die Art von Person, die sich von jemanden wie Michael beeinflussen ließ. Zumindest wollte sie es nicht sein. Als sie ihr altes Leben aufgegeben hatte, hatte sie sich geschworen sich nie wieder kontrollieren zu lassen. Die letzten Jahre hatte sich Michaels Kontrolle auch nie wie eine solche angefühlt.

Doch es war nur gewesen, weil sie mitgespielt hatte, oder? Weil sie ohnehin getan hatte, was er wollte.

Verdammt. Fuck. Verfluchte Scheiße. Sie hasste es. Sie hasste es. Sie hatte es gewusst, hatte versucht es zu ignorieren. Wie alles andere auch. Ignoranz kann schön sein, erleichternd. Warum?

Warum?

Die Stadt rauschte an ihr vorbei, während sie sich darauf konzentrieren musste, nicht zu schnell zu fahren. Sie fuhr auf die M7, umfuhr damit einen guten Teil der Flats, um so schneller zum Anderson Krankenhaus zu kommen. Einem kleinen Stau konnte sie dennoch nicht entgehen. Sie musste sich beherrschen. Am liebsten hätte sie geschrien. Dabei hätte es sie so nicht überraschen sollen. Michael hatte es die ganze Zeit schon angedeutet. Hatte angedeutet, dass er früher oder später etwas dagegen tun würde. Gegen ihre Beziehung zu Heidenstein. Gegen ihre Freundschaft mit Murphy.

Und jetzt? Sie konnte die beiden nicht in Gefahr bringen. Michael hatte Recht. Es wäre besser, würde sie wieder zu ihrem alten Leben zurückkehren. Einfach Pakhet sein. Pakhet, die keinen Freund außer Robert hatte. Pakhet, die ihren Job machte, die gut in ihrem Job war, dafür anerkannt wurde. Pakhet, die sich keine Gedanken darüber machte, was zur Hölle Heidenstein eigentlich wollte.

Endlich. Das Krankenhaus. Der Parkplatz. Sie wollte mit Heidenstein sprechen und gleichzeitig wollte sie ihn nicht sehen. Warum mussten diese Freundschaften eigentlich alles so viel komplizierter machen?

Was sollte sie tun? Um diese Zeit war er wahrscheinlich in der Klinik. Entweder in der normalen Klinik oder der Straßenklinik. Sollte sie ihn aufsuchen? Nein. Nein. Das konnte sie nicht tun. Sie würde nach oben gehen. Sich ablenken. Vielleicht sollte sie sich besser abreagieren. Doch wie? Fuck.

Sie stellte den Wagen ab, nahm im Krankenhaus die Treppen. Das Stehen im Aufzug hätte sie nicht ertragen. Beinahe schon beiläufig öffnete sie die Tür zu der seltsamen improvisierten Wohnung, die sie mit Heidenstein teilte, als sich zwei Blicke ihr zuwandten.

„Pakhet“, sagte Heidenstein erleichtert.

Murphy lief derweil auf sie zu. „Jetzt rede endlich mit mir.“ Er war halb nackt, trug nur eine Unterhose. Wahrscheinlich war er in Rabengestalt hergeflogen. Das machte es nicht leichter mit ihm zu reden.

„Ich habe es doch schon gesagt, Kid“, seufzte sie. Sie konnte nicht mehr. Sie ließ sich auf den Sessel sinken, da Heidenstein auf dem Sofa saß. „Es ist kompliziert. Je weniger du weißt, desto besser.“ Sie legte das Gesicht in die Hände ab, lehnte die Ellbogen auf den Knien auf. Am liebsten hätte sie sich gänzlich zusammengekauert, doch das war nicht sie.

„Ich komme damit klar, Pakhet“, protestierte Murphy. „Ich helfe dir. Egal was es ist. Sag mir doch nur, warum du dich von einem solchen Arschloch …“ Er verstummte. Wahrscheinlich hatte Heidenstein ihm eine Hand auf die Schulter gelegt.

Jedenfalls war er aufgestanden. Sie konnte es hören. Er kam näher. „Pakhet?“, fragte er vorsichtig. „Was ist passiert?“ Zögernd und sehr vorsichtig setzte er sich auf die Armlehne des Sessels.

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. „Was hat dir Murphy nicht erzählt?“ Sie versuchte ihrer Stimme einen amüsierten Klang zu geben, klang am Ende jedoch nur bitter.

Heidenstein holte tief Luft. „Murphy sagte, Michael sei euch gefolgt, als ihr Eisessen wart. Er sagte, Michael hat euch bedroht und versucht, dich dazu zu bringen uns irgendwie aufzugeben. Und dass du dich hast von Michael um Geld erpressen lassen.“

„Das ist alles, was es zu wissen gibt.“

Heidenstein zögerte für eine ganze Weile. Langsam legte er die Hand auf ihre Schulter, zuckte einmal kurz zurück, ließ die Hand dann aber dort liegen. „Pakhet. Was ist wirklich passiert?“

Was sollte sie ihm denn sagen? Sie konnte ihm nicht erzählen, was damals passiert war.

Warum eigentlich nicht? Doch sie wusste nicht, wie er reagieren würde. Sie wollte ihr altes Leben sowieso nur vergessen. Das damals, das war nicht sie gewesen. Sie war Pakhet. Pakhet, nicht Joanne.

„Pakhet?“, fragte Heidenstein noch einmal leise.

„Jetzt rede endlich mit mir“, forderte Murphy, selbst wenn er offenbar bemüht war, seine Stimme verständnisvoller klingen zu lassen. Er schien direkt vor ihr zu stehen. „Es ging dabei auch um mich, oder? Habe ich dann kein Recht darauf, es zu erfahren.“

Ein bitteres, unfreiwilliges Lachen kam über ihre Lippen. „Es ging nicht wirklich um dich, Kid. Es ging ums Prinzip.“ Sie seufzte. „Ich war dumm. Ich habe gewusst, wie Michael drauf ist, aber ich habe mich darauf verlassen, dass er mir gegenüber nicht so sein wird.“ Warum eigentlich? Weil er es ihr erlaubt hatte, einfach in sein Büro zu stürmen und einen Aufstand zu schieben, wenn sie sauer auf ihn war, vielleicht. Weil sie sogar bei ihm zuhause gewesen war. Er hatte sie behandelt, wie einen besonders gut dressierten Hund.

„Wie?“, fragte Murphy mit Nachdruck.

„So“, antwortete sie nur. Sie hob den Kopf, sah ihn an. „Er war immer so. Wenn Leute etwas taten, das ihm zuwider war, hat er sie manipuliert. Mit Angeboten. Mit Drohungen. Je nachdem. Manchmal mit beidem. Er wollte, dass alle so sind, wie er will. Genau so, wie er will.“

„Und du hattest die ganze Zeit keine Probleme mit ihm“, schloss Heidenstein.

Sie nickte. „Ja. Weil ich genau war, wie er wollte. Sein Werkzeug. Sein kleiner Auftragsroboter.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir hatten ein paar Abmachungen. Ich würde nie gegen Kinder agieren. Er würde mich von ein paar Sachen fernhalten. Und Robert durfte wissen, dass ich …“ Dass sie lebte. Doch das konnte sie nicht sagen.

„Dass du als Söldner aktiv bist?“ Offenbar war das das Ergebnis, zu dem Heidenstein gekommen war.

Eine vernünftige Erklärung. Also nickte sie stumm. „Ja. So in etwa.“

„Und was ist dann sein Problem?“, fragte Murphy.

„Dass ich sein persönliches Projekt war, nehme ich an“, murmelte sie. „Er hat ein paar davon. Leute, die nicht zu ihm für einen Job gekommen sind, sondern zu denen er gekommen ist. Meist Leute, gegen die er Dinge in der Hand hat. Mehr als normal.“

„Und was hat er gegen dich in der Hand?“, fragte Heidenstein.

Sie schüttelte den Kopf. Darüber würde sie nicht reden. Selbst ihm gegenüber nicht.

Für Murphy schienen andere Fragen wichtiger zu sein: „Und was solltest du sein?“

„Was auch immer er wollte. Gewissenlos. Effektiv. Nehme ich an.“ Sie schüttelte den Kopf. Das wirklich Gruselige war, dass sie vieles an Michaels Psyche verstand. Er wollte kontrollieren. Ihm ging es weniger um Heidenstein und Murphy speziell, sondern darum, dass sie Faktoren waren, die ihr Verhalten mehr beeinflussten, als er. Vielleicht um Heidenstein, da dieser eben genau das Gegenteil war, von dem, was er erwartete. Ihm ging es auch nicht darum, dass sie sich mit Nel angelegt hatte, sondern dass er sie geprobt hatte. Er hatte ihre Loyalität testen wollen. Sie hatte den Test nicht bestanden. Dafür rächte er sich.

„Und was will er mit uns machen? Uns umbringen?“, fragte Heidenstein schließlich.

„Nein. Wahrscheinlich nicht. Michael macht sich nur selten die Hände selbst dreckig.“ Sie hatte nur zwei Mal gesehen, wie er eigenhändig jemanden getötet hatte. Dafür hatte er seine Leute. „Es ist doch sehr einfach, oder? Nel sucht nach mir.“ Sie sah zu Murphy. „Du hast ihn gehört. Er würde dich fangen lassen. Würde dich an Nel oder Jaco oder sonst wen ausliefern, damit diese mich zu ihnen locken können.“

„Ich käme da schon alleine raus!“, versicherte Murphy. Er sah beinahe beleidigt aus.

Doch sie wusste es besser. Die ganze Zeit schon hatte sie solche Albträume. Albträume, in denen sie Murphy mit einem dieser Halsbänder sah.

Sie schüttelte nur den Kopf. „Das würde ich nicht riskieren, Kid.“

Verständnislos sah er sie an. „Was soll das heißen?“

Sie schloss die Augen. Sollte sie lügen? Sie wusste nicht, wie er reagieren würde. „Wenn sie dich hätten, würde ich mich ausliefern. Ich würde nicht riskieren, dass sie dir etwas antun?“

Es war eine der wenigen Situationen, in denen sie Murphy sprachlos gesehen hatte. Er starrte sie mit offenem Mund an. „Das sagst du nur so“, brachte er ständig hervor. „Bitte.“ Er fasste sich. „Ich meine, vertraust du mir nicht? Bitte, ich käme schon mit ein paar Dämonen oder Magiern klar. Ganz einfach. Ich verwandele mich in einen Raben, fliege davon.“ Er wedelte mit den Armen wie mit Flügeln. „Bitte. Das ist doch nicht schwer.“

Sie antwortete nicht, sah ihn stumm an. Sie wussten beide, dass er kein großer Kämpfer war, dass es schwer sein würde zu entkommen, wenn sie ihn einmal hatten. Drogen, Artefakte, Dämonen … Sie würden ihn schon irgendwie gefügig machen. Und dann? Bestenfalls würden sie ihn nur gefangenhalten, wenn sie nicht kam ihn misshandeln. Foltern? Vergewaltigen? Wenn er Glück hatte, töteten sie ihn nur. Doch sie wollte nichts davon riskieren. Niemals. Nein.

Wahrscheinlich konnte er ihre Gedanken erahnen. „Du bist dumm, Pakhet. Wirklich. Bitte. Wofür brauchst du mich denn? Würdest du einfach dein Leben wegschmeißen, weil ich … Ich meine, wirklich!“ Er stolperte rückwärts, fiel beinahe über den Wohnzimmertisch. „Verdammt. Pakhet!“

„Es ist, wie du sagst, Kid“, meinte sie. „Du bist ein Freund. Ein Freund den ich nicht aufgeben will.“

„Dann solltest du mir mehr vertrauen. Verdammt. Ich komme klar. Echt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich komme schon klar.“ Noch einmal schüttelte er heftig den Kopf, ehe er schrumpfte und in Gestalt eines Rabens in die Küche flatterte, wo das Fenster wahrscheinlich offenstand.

Wieder vergrub sie das Gesicht in ihren Händen. Verdammt. Sie konnte nicht mehr. Murphy hatte Recht. Das hier war so untypisch für sie und doch konnte sie nicht anders. Hatte Michael so viel Kontrolle über sie?

Heidenstein rieb vorsichtig ihre Schulter, rückte näher an sie heran, wartete, wahrscheinlich darauf, dass sie ihn wegdrücken würde. Doch für den Moment tat seine Nähe gut. Im Moment brauchte sie es. So ließ sie es auch zu, dass er sie näher an sich zog, seinen Arm um sie legte.

Sie zögerte, lehnte sich dann aber an ihn. „Doc?“, hauchte sie.

„Ja?“

Sie hasste sich dafür, ihn so zu fragen. „Ich könnte etwas Ablenkung gebrauchen.“ Sie sah ihn an.

Er starrte nur. Für einen Moment sah es aus, als würde er etwas sagen wollen. Er zögerte, schüttelte leicht den Kopf. „Pakhet. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Ich kann gerade nicht weiter darüber nachdenken.“

„Aber vielleicht solltest du darüber reden“, meinte er sanft. Während sein rechter Arm noch immer um sie lag, berührte er mit der linken Hand vorsichtig ihre Wange. „Pakhet …“

Sie wich seinem Blick aus. „Ich kann nicht darüber reden. Nicht jetzt.“ Nie.

„Warum nicht?“, fragte er.

Sie schloss die Augen. „Ich kann es einfach nicht.“ Dann zwang sie sich, ihn wieder anzusehen. „Bitte, Doc.“ Flehte sie ihn jetzt schon an? „Bitte.“

Er antwortete nicht sofort. Sein Konflikt war deutlich auf seinem Gesicht zu erkennen. Ein Teil von ihm wollte es, wollte ihr vielleicht auch den Gefallen tun, ein anderer Teil hielt es dennoch weiter für eine beschissene Idee, wusste vielleicht auch, dass sie damit nur davonlief.

Verdammt. Vorsichtig beugte sie sich zu ihm hinüber, um ihn zu küssen und nach ein oder zwei Sekunden erwiderte er ihren Kuss zurückhaltend.

Als sie sich von ihm löste, sah er sie an. „Du weißt, dass es dir nicht weiterhilft.“

„Und?“ Es gab ohnehin nichts, das ihr im Moment helfen konnte. „Es verhindert, dass ich durchdrehe.“ Sie sah ihn in die Augen, bemüht ihrem Blick Festigkeit zu geben.

Für einen Moment schloss er die Augen. Dann seufzte er, leckte sich über die Lippen. Schließlich nickte er mit einem Seufzen.

[16.10.2011 – D25 – Albträume]

Wüste. Der Geruch von getrocknetem Blut. Eine untergehende Sonne. Savanne. Ein Löwenrudel. Blut. Ein junger, gerissener Elefant. Hyänen. Geier. Die Geier kämpften untereinander um das Fleisch. Blut. Der Geruch von Tod. Die seltsame Gestalt. Sie war im inneren einer Kammer. Was für eine Kammer? Wie kam sie hierher. Der Bogen. Der Pfeil. Er ragte aus ihrer Brust. Schmerzen. Ihr eigenes Blut. Sie konnte nicht atmen.

Sie fiel. Sie konnte nicht atmen. Sie war Unterwasser. Nein. Oder?

Dunkelheit umgab sie. Eine schwere, zähflüssige Dunkelheit. Sie war wie gelähmt. Sie konnte sich nicht bewegen. Wo war sie?

Murphy. Er war gefesselt. Er war gefesselt, wie eins dieser Kinder. Ein Rudel Schakale kauerte um ihn herum. Sabber tropfte von ihren Lefzen.

Sie wollte schreien, wollte etwas tun, doch sie konnte sich nicht bewegen.

„Pakhet?“ Heidenstein. Das war Heidensteins Stimme. „Pakhet.“ Er war bei ihr. Stand vor ihr.

Sie wollte etwas tun. Sie wollte aufstehen. Ihre Beine bewegten sich nicht. Hatte sie überhaupt einen Körper?

„Pakhet?“ Er stand vor ihr. Dann ragte ein Pfeil aus seiner Brust. Blut. Sein Blut. Er fiel zu Boden, zerfloss in Blut.

Sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nichts sagen, nicht Schreien. Sie lag auf einem Tisch. Männer, deren Gesichter sie nicht erkennen konnte, standen um sie. Jemand fasste zwischen ihre Beine. Sie wollte ihn treten, schlagen. Doch sie konnte nicht. Sie hatte keine Arme. Ihre Beine waren gefesselt. Sie hatte keine Arme, nicht ihren rechten Arm.

Die Gestalt. Sie stand über ihr. Die Augen eines Löwen sahen auf sie hinab.

„Pakhet!“ Jemand schüttelte sie.

Sie atmete tief ein, hatte das Gefühl, sie würde ersticken. Dann langsam tauchte ihr Bewusstsein aus dem Traum auf. Es war ein Traum. Natürlich war es ein Traum. Was sollte es sonst sein?

Sie sah Heidenstein an. Er saß neben ihr, hatte ihre Schultern gegriffen, hatte sie offenbar geschüttelt und wirkte nun erleichtert.

„Was …?“ Mehr brachte sie nicht heraus.

Er zögerte, musterte sie lange. „Du hattest einen Albtraum, glaube ich. Du hast im Schlaf geschrien. Und dann …“ Er zögerte. „Du hast für einen Moment aufgehört zu atmen.“ Er atmete auf, schien nun erleichtert.

Sie musterte ihn, verstand noch immer nicht ganz. Ihre Brust brannte. Da, wo der Pfeil sie getroffen hatte. Was war gerade passiert? Es hatte sich so real angefühlt, doch das war normal für Träume. Es musste ein einfacher Albtraum gewesen sein, wahrscheinlich wegen Michael.

Sie lag in Heidensteins Bett, war nackt. Verdammt. Normalerweise hatte sie so weniger Albträume. Dabei wollte sie es nicht zugeben. Sie hasste es. Sie hasste es wirklich.

Müde schloss sie die Augen, versuchte sich an Details zu erinnern. Sie wusste, dass etwas mit Murphy gewesen war, dass Heidenstein in dem Traum gestorben war, dass da diese Gestalt gewesen war. Diese seltsame Gestalt, die sie auch in der Taschendimension gesehen hatte. Was hatte es mit dieser Gestalt auf sich? Warum machte sie ihr solche Angst.

Ein Zittern lief durch ihren Körper, brachte Heidenstein wieder dazu, sie an der Schulter zu fassen. „Alles okay?“ Er klang ernsthaft besorgt.

Natürlich war er das.

Sie hasste dieses Gefühl der Schwäche, sah an ihre rechte Seite. Ihr rechter Arm war da. Warum fragte sie sich das überhaupt? Hatte es auch etwas mit dem Traum zu tun?

Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Es war nur ein Albtraum. Nur ein Albtraum.

„Es ist schon okay“, hauchte sie schließlich. „Du kannst dich hinlegen.“ Noch immer saß er neben ihr, auf der Wandseite des Bettes.

Er sah sie an, zögerte für einen Moment, legte sich dann wieder hin, legte sich auf die Seite, um sie ansehen zu können. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand. „Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“

Pakhet nickte. „Ja.“ Sie rückte etwas näher an ihn heran, hasste sich dafür. „Es ist schon okay. Es war nur ein Albtraum. Nur ein Albtraum.“

Sein Blick war überrascht, doch er legte einen Arm um sie herum. Er seufzte. „Ich habe mir Sorgen gemacht, Pakhet.“

Wieder nickte sie. „Natürlich hast du das, mein immer besorgter Idiot.“ Warum klang ihre Stimme so sanft? Noch einmal atmete sie tief und bewusst durch, genoss das Gefühl der Luft in ihrer Lunge. Dann sah sie ihn wieder an, streckte sich und küsste ihn vorsichtig auf die Lippen.

Sie wusste, dass es schwach war. Sie war schwach. Doch für den Moment konnte sie nicht anders. Sie brauchte ihn, brauchte seine Nähe.

[16.10.2011 – SI05 – Helfende Hände]

Pakhet saß auf die Tasse vor ihr. Warum zur Hölle saß sie schon wieder in einem dieser verfluchten Coffeeshops? Sie war sich nicht sicher.

„Man, du siehst echt beschissen aus“, meinte Siobhan nüchtern. Sie nippte an dem Shake oder was auch immer es war, was dort in diesem Plastikbecher vor ihr war. Es hatte eine sehr milchige hellbraune Farbe. Es war definitiv mehr Milch als Kaffee, wenn überhaupt Kaffee darin war.

„Nicht gut geschlafen“, murmelte Pakhet. Sie hatte eigentlich den ganzen Tag im Krankenhaus bleiben wollen. Es war Sonntag. Am liebsten hätte sie sich einfach irgendwo versteckt. Warum war sie so schwach?

„Der Rabenjunge hat gesagt, dass du gestern ein unschönes Gespräch mit deinem Chef hattest“, sagte die Druidin. Mit dem Strohhalm rührte sie durch das Getränk, musterte Pakhet dabei.

Sie seufzte. Daher hatte sie sie also treffen wollen. Konnte es sein? Warum interessierte es sie eigentlich? Doch es würde erklären, warum sie auf einmal versuchte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Bisher war es immer sie oder Smith gewesen, die umgekehrt Kontakt zur Druidin aufgenommen hatten. Also, was jetzt? „Ja. Hatte ich.“

Siobhan war so anders als sie. Sie fiel nicht auf. Ihre Haut war dunkel. Sie war zwar offensichtlich persischer Abstammung, doch es fiel bei weitem nicht so auf. Mit der Bluse, die noch dazu einen gewagten Ausschnitt hatte, und der enganliegenden Dreiviertelhose sah sie modisch aus und definitiv nicht wie jemand, der ab und an auf gefährliche Einsätze ging. „Verstehe. Er sagte auch, dein Chef ist ein Arsch.“

Pakhet trug wie so oft nur ein dunkles Tanktop, hatte ihre Lederjacke darüber gezogen, um den Ansatz der Prothese und ihre neuen Narben zu verbergen. Dazu ein einfache Herrenjeans, die mit einer vernünftigen Auswahl an Taschen daherkam. Unter der Jacke trug sie außerdem ein Holster für eine Waffe. Ohne fühlte sie sich zu nackt. „Michael ist ein Arsch, ja.“ Sie hob ihre Tasse. Dieses Mal hatte sie selbst bestellt. Eine große Tasse schwarzen Kaffee.

„Was ist sein Problem?“, fragte Siobhan.

Pakhet beschloss, dass sie von Michael redete. „Er ist ein Kontrollfreak.“

„Und was will er kontrollieren?“

Genervt sah Pakhet zu ihr. Sie schuldete dieser Fremden doch keine Antwort. Sie war dem Gespräch schon mit Heidenstein aus dem Weg gegangen. Dennoch wollte sie keine Diskussion anfangen. Also redete sie über den Teil, der Siobhan vielleicht etwas anging: „Er hat ein Problem damit, dass ich mich mit diesem Ring angelegt habe. Dass ich versuche diese Kinder zu retten.“ Sie nahm einen Schluck Kaffee, dachte, damit sei die Frage beantwortet, doch Siobhan schien noch immer auf eine Erklärung zu warten. Pakhet verzog die Lippen. „Er hat mich auf die Mission geschickt, dieses eine Mädchen, das von den Leuten entführt wurde, zurückzubringen. Er wollte einen Punkt machen, da er wusste, dass ich eine Schwachstelle habe, wenn es um so junge Opfer geht. Aber er dachte wohl, ich wäre professionell genug sein.“

Siobhan lehnte sich auf dem kleinen Ledersessel zurück, auf dem sie sah, ihr Milchgetränk in der Hand. Sie nippte. „Und er hat sich verschätzt.“

Pakhet sah auf ihren Kaffee. Sie nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

„Glaubst du wirklich, dass du es schaffen kannst?“, fragte Siobhan.

Pakhet zögerte. Sie fragte es sich selbst. Es war doch wirklich suizidal. Man sollte aufgeben, wenn es keine Möglichkeit gab zu gewinnen. Besonders wenn das Leben anderer Leute mit daran hing. Manche Drachen konnten nicht erschlagen werden. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich. „Aber wenn ich es nicht versuche, könnte ich es mir nicht verzeihen.“

Siobhan lächelte, den Strohhalm noch immer zwischen den Lippen. „Ich verstehe.“

Pakhet musterte sie. Nach den Fragen hatte auch sie das Recht zu fragen. „Und du? Du hast mir jetzt geholfen, ohne, dass ich dich bezahlt habe.“

Das Lächeln auf den Lippen Siobhans wurde mysteriös. Sie hob die Augenbrauen. „Nun, vielleicht fand ich deinen Einsatz inspirierend.“ Sie lachte leise. „Nein. Ich habe ein Problem mit Leuten, die Geister nutzen, um mit ihnen andere zu tyrannisieren. Meine Schwäche, wenn du so willst.“

„Das heißt, du wirst nur bei diesen Einsätzen helfen?“

Siobhan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht auch anders. Immerhin will ich nun auch wissen, wie es ausgeht.“ Sie schmunzelte. „Na ja, und die gute Trixie hat ihren Narren an deinem Rabenjungen gefressen.“

Pakhet konnte nicht anders. Sie sah die Druidin sprachlos an. „Was?“

„Man könnte sagen, sie ist unglücklich verliebt“, meinte Siobhan. „Aber keine Sorge, sie weiß sich zu benehmen.“

Für einige Sekunden war Pakhet sprachlos. Was sollte sie auch dazu sagen. Ein Möwengeist, der etwas von Murphy wollte? Das war ironisch und ein wenig creepy. Doch solange es nicht damit endete, dass der Geist Murphy entführte oder sonst etwas mit ihm tat … Sie konnte dem Geist wohl kaum verbieten, zu lieben. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Meine Welt wird immer seltsamer.“

„Oh, glaub mir, es ist immer steigerungsfähig.“ Siobhan lachte, dann nippte sie wieder an ihrem Strohhalm.

[16.10.2011 – R04 – Lügen]

Das Handy in der Freisprechanlage klingelte. Roberts Name erschien auf dem Bildschirm.

Sofort konnte Pakhet das schlechte Gewissen in ihrer Magengegend brennen spüren. Verdammt, sie hatte sich so lange nicht mehr bei Robert gemeldet, hatte ihn seit nun über drei Wochen nicht mehr getroffen. Er musste so sauer sein. Er hatte jedes Recht dazu. Doch was sollte sie ihm auch sagen? Sie konnte nicht riskieren, dass er noch mit hineingezogen wurde. Dabei lag das letzten Endes wohl vor allem in Michaels Hand.

Sie zögerte, hob dann ab. „Ja?“ Ihre Stimme klang belegt.

Es war Dienstagabend. Sie war auf dem Rückweg von der Firma, selbst wenn heute einer der ereignislosen Tage gewesen war.

„Hey, Joanne“, sagte Robert. Seine Stimme war leise, zurückhaltend.

„Hi, Robert.“ Sie schürzte die Lippen, sah auf die Straße vor ihr. „Was gibt's?“

Stille. Er schluckte hörbar. „Das wollte ich eigentlich dich fragen. Ich habe ewig nicht von dir gehört. Ich …“ Eine erneute kurze Stille. Die Leitung rauschte. „Ich frage mich, ob ich sauer sein soll oder mir Sorgen machen soll.“

„Du darfst mir sauer sein“, antwortete sie. Sie trat auf die Bremse, als eine Ampel vor ihr rot schaltete. „Ich bin eine beschissene Freundin.“

Er seufzte. „Du machst es so nicht leichter, dir sauer zu sein“, stellte er dann fest.

„Vielleicht ist das mein Plan“, antwortete sie. Sie versuchte zu lächeln, wohl wissend, dass man es auch am Telefon hören konnte, doch brachte sie es nicht zustande.

Stille. Die Ampel sprang wieder auf Grün. Sie fuhr an. Schließlich brachte sie sich dazu weiterzusprechen: „Hör zu Robert, ich weiß, dass es doof ist, aber ich habe gerade diese große Sache und … Es macht es nicht leichter gerade, sich zu treffen. Es ist kompliziert.“

„Das klingt, als sollte ich mir doch Sorgen machen“, meinte er.

„Ach, du weißt, wie mein Job ist.“ Normalerweise wollte er nicht über ihren Job reden.

„Ja, ich weiß, wie dein Job ist. Ein Grund mehr mir Sorgen zu machen, oder? Du weißt, dass du mit mir reden kannst, ja?“

„Ich weiß auch, dass du möglichst nichts darüber hören willst, wer als letztes gestorben ist.“ Sie seufzte. „Glaub mir, es ist besser, wenn du nichts von dem Job weißt, an dem ich gerade bin.“

Stille. „Okay. Aber verdammt, Joanne …“ Er unterbrach sich. „Pakhet. Ich …“ Ein kurzes Zögern. „Ich vermisse unsere Videoabende, ja?“

„Ich weiß.“

Stille. Die nächste Ampel kam.

Dann sprach Robert endlich weiter. „Meldest du dich, wenn du wieder Zeit hast?“

„Ja.“

„Wirst du vorher sterben?“ Es klang halb wie ein Scherz, hab jedoch vollkommen ernst.

Was sollte sie darauf antworten? „Ich hoffe nicht.“ Es sei denn irgendein Zauberer oder Auftragskiller brachte sie vorher um. Doch von letzteren hatte sie bisher noch niemanden gesehen.

„Du hoffst?“

„Ich werde mein möglichstes daran setzen, um am Leben zu bleiben“, erwiderte sie. „Jetzt komm. Nimm es nicht so ernst. Und vielleicht kann ich mal schauen, dass wir uns demnächst irgendwie treffen können.“ Die Frage war halt nur wo.

Das schien auch Robert zu denken. „Bei dir?“

„Besser nicht“, antwortete sie. Denn auch wenn es wahrscheinlich das unauffälligste wäre, käme er zum Krankenhaus, so wollte sie einfach nicht, dass er davon erfuhr. Dass sie mit Heidenstein zusammengezogen war. Sie wusste nicht, wie er reagieren würde. Und ja, zugegebenermaßen fürchtete sie auch etwas anderes.

Er kannte sie genug um das zu merken. „Warum nicht?“

Sie musste lügen. „Ich kann aktuell nicht zu meinem normalen Haus. Es ist kompliziert.“ Eigentlich war zumindest das sehr einfach.

Erneute Stille. „Okay.“ Seine Stimme klang misstrauisch.

Verdammt. „Hör zu, Robert. Ich muss auflegen. Ich … Ich melde mich bei dir, wenn ich genaueres weiß, ja?“

„Okay. Bis dann.“

[20.10.2011 – J08 – Hinterhalt]

Die Wellen trafen rauschend auf die Felsen unterhalb der Promenade. Eine Welle nach der anderen wurde gebrochen. Der nächtliche Seewind wehte angenehm in Pakhets Gesicht.

Wie lange war sie schon nicht mehr einfach hier gewesen? Einfach in der Nähe des Strandes. Sie hatte es als Jugendliche, als sie hier gewohnt hatte, bevor sie für das Militär in die USA zurückgekehrt war, häufiger gemacht. Gerade hier in Green Point hatten sich Jugendliche öfter getroffen. Jedenfalls, wenn man ein wenig mehr Taschengeld bekam. Die Sachen hier waren nicht zu teuer und dabei cool genug.

„Du hattest Recht“, gab sie zu und sah zu Jack hinüber, der neben ihr ging. „Das hier ist nett.“

„Nett, sagt sie.“ Er schmunzelte.

Es war Abend, knapp nach zehn, Donnerstag. Sie hatte sich mit Jack zum Abendessen getroffen, weil er sie gefragt hatte – als Freund. Sie konnte es gebrauchen, mit jemanden als Freund zu reden. Speziell mit jemand anderen als Heidenstein, mit dem es doch immer wieder seltsam wurde.

Sie lächelte milde. „Was soll ich sonst sagen?“

„Es war eine wunderbare Idee hierher zu kommen. Vielen Dank für den Vorschlag, Jack.“ Er lachte, schüttelte dann aber den Kopf. „Wenn es nicht klar ist: Ich mache dumme Scherze.“

Pakhet zuckte mit den Schultern, lächelte. „Es ist klar.“ Sie schaute aufs Meer, das sich als schwarze Ebene in die Dunkelheit erstreckte. „Willst du mich aufmuntern?“

Er stellte sich neben sie. „Du wirktest angespannt. Ich dachte, ich versuche, dass du etwas entspannter wirst.“ Er klopfte auf ihre Schulter in einer wirklich freundschaftlichen Geste. „Ich habe gehört, dass du Ärger mit deinem Chef hattest.“

„Murphy?“ Sie fragte sich, was er mit Jack zu tun hatte.

„Siobhan“, erwiderte Jack. „Beziehungsweise ihr seltsamer Möwengeist.“

„Was hast du mit ihrem Möwengeist zu tun?“ Pakhet musterte ihn, unsicher ob sie amüsiert oder besorgt sein sollte.

„Der Möwengeist ist bereit erstaunlich viel zu tun, wenn man ihn mit Fisch bezahlt.“

„Viel? Will ich genaueres Wissen.“

Er gluckste. „Möwen sind unauffällig, wenn es darum geht Situationen zu überwachen. Man bemerkt sie praktisch gar nicht.“ Und um seine Worte zu unterstreichen flogen drei krächzende Möwen in genau diesem Moment über ihn hinweg. Er sah hinauf, lachte.

„Du meinst eher, dass man ihnen meistens keine Beachtung schenkt“, erwiderte sie. Sie setzte ihren Weg fort. „Ja, das stimmt wohl.“ Sie atmete tief durch.

Tatsächlich tat es gut, hier zu sein. Die Meeresbrise tat ihrem Gemüt gut, half ihr, sich zu entspannen. Es tat auch gut zusammen mit Jack zu lachen. Offenbar hatte er tatsächlich akzeptiert, dass sie ihn nur als Freund sah. Jedenfalls nahm sie von ihm keinerlei andere Andeutungen mehr wahr. Er wirkte offen, nett, aber eher freundschaftlich. Locker. Es tat gut mit ihm zu reden, selbst wenn sein Blick zwischenzeitlich immer wieder in die Ferne schweifte.

Für einen Moment schwieg er, dann ging er neben ihr her. „Und, was ist sonst so?“

Sie hatten schon den ganzen Abend geredet, wenngleich oberflächlich. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Also zuckte sie mit den Schultern. „Was soll sein?“

Auch er zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? Neue Entwicklungen in deinem Leben. Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie es dem Doc geht.“

„Dem geht es wunderbar. Er hat in letzter Zeit immer mehr in seinem Krankenhaus zu tun und ich nehme an, dass das eine gute Sache ist. Er macht dafür weniger für die Firma und … Ja. Je seltener er sich in die Nähe von Feuerwaffen begibt, desto besser.“

„Vertraust du ihm nicht?“, fragte Jack.

„Natürlich vertraue ich ihm.“ Sie warf ihm einen irritierten Seitenblick zu, schüttelte dann den Kopf. „Nein. Ich bevorzuge nur zu wissen, dass er sicher ist.“

„Ah, ja. Natürlich.“ Sein Blick war vielsagend.

„Natürlich?“

Er grinste verschmitzt, wich ihrem Blick aus, sah gen Himmel. „Nichts, nichts.“

Pakhet verdrehte nur die Augen. Sie wollte besser nicht wissen, was er wieder dachte. Es war wahrscheinlich dasselbe, dass auch Murphy dachte und sowieso … Jeder. Sie selbst wollte nicht darüber nachdenken. „Und bei dir?“

„Was?“ Er sah zu ihr.

„Was macht das Leben bei dir?“

„Dasselbe wie immer. Ich lebe. Und hey, ich bin seit beinahe zwei Wochen nicht mehr angeschossen worden.“

„Oho. Große Fortschritte.“ Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Riesige Fortschritte“, erwiderte er. Dann holte er tief Luft. „Ansonsten? Ich habe zwei kleine Jobs gehabt. Informationsbeschaffung. Dafür auch die Möwe.“

„Aha.“

„Ja.“ Er verfiel in Schweigen. „Ansonsten … Ich war Abends häufiger weg.“

„Weg?“

„Bars. Sowas.“ Er setzte gedankenverloren einen Fuß vor den anderen, blickte weiter zum Himmel hinauf.

Die Nacht war größtenteils sternenklar. Nur einzelne Wolken hingen am Himmel. Rötlich reflektierten sie das Licht der Stadt, das wie ein Kegel über ihnen zu hingen schien.

„Was machst du in Bars?“, fragte sie, vorrangig um das Gesprächsthema bei ihm zu halten.

Ein vages Schulterzucken. Er ging zum Geländer der Promenade, lehnte sich hinüber, um auf das Meer zu schauen. Da war wieder der verlorene Blick in seinen Augen. „Was man in Bars macht“, antwortete er schließlich. „Trinken. Leute kennenlernen.“

„Partnersuche?“, schloss Pakhet.

Jack holte tief Luft. Es schien ein halbes Seufzen zu sein. „Na ja. Ja. Ein wenig. Aber irgendwie auch nicht. Ich glaube nicht, dass ich so leicht jemanden finde, der zu mir passt und mit dem ich …“ Er wandte ihr seinen Kopf zu. „Du weißt schon.“

Sie schüttelte den Kopf. „Sag schon.“

„Na ja, mit dem ich wirklich zusammen sein könnte. Manchmal rede ich mit den Leuten, aber irgendwie … Es klickt nicht, weißt du?“

Sie versuchte vage reinzuschauen. Was war die angemessene Antwort auf diese Frage. „Nicht wirklich“, gab sie schließlich zu. „Ich bin nicht wirklich eine Beziehungsexpertin.“

„Bist du aromantisch?“, fragte er.

Nun zuckte sie mit den Schultern. „Vielleicht so etwas, ja. Keine Ahnung. Habe einfach … Besseres …“

Weiter kam sie nicht, als der gedämpfte Knall eines Schusses die Nacht durchschnitt.

Pakhet dachte nicht lang. Sie schreckte zur Seite, stieß Jack mit sich. Sie sah die Kugel nicht, meinte aber etwas zu spüren, dass knapp von ihr entfernt die Luft durchschnitt. Wenn es eine Kugel war, landete sie wohl im Meer hinter ihnen.

Sie fuhr herum, suchte ihre Umgebung mit den Augen ab.

Es bestand keine Frage: Die Kugel war für sie bestimmt. Der Lautstärke und allem nach, war ihr Gegner auf mittlerer Distanz. Gewehr, aber kein Scharfschützengewehr.

Sie waren mitten im Offenen. Zwischen ihnen und den nächsten Gebäuden waren knapp hundertfünfzig Meter Grasebene, auf der nur vereinzelte, kleine Bäume standen. Auf ihrer anderen Seite waren Felsen und das Meer. Ja, ein möglicher Notfallplan, doch ein beschissener, wenn sie bedachte, wie schlecht sie schwimmen konnte. Es war mit der Prothese einfach nicht leicht.

Ein weiterer Schuss. Dieses Mal traf er deutlich auf den Boden vor ihnen, ließ einen der Pflastersteine zersplittern.

„Pakhet?“, fragte Jack angespannt.

Baum. Die kleine Baumgruppe auf der Mitte des Grünstreifens war die beste Möglichkeit.

„Renn. Baum.“ Mehr sagte sie nicht, als sie selbst lossprintete.

Fuck. Das war ein Assassine. Das war jemand, der wegen ihr hier war. Für sie bestand daran kein Zweifel. Warum auch sonst?

Wahrscheinlich war er auf einem der Apartmenthäuser. Mit einem üblichen Jagdgewehr hätte er damit fast die optimale Distanz. Es war eventuell ein bisschen zu weit – deswegen hatte er auch noch nicht getroffen.

Fuck. Wie sollte sie ihren Angreifer erreichen? Sie hatte ihre Pistole dabei, sowohl ihre normale, als auch die Pfeilpistole, doch keine davon hatte die effektive Distanz, um jemanden auf dem Dach eines zehn oder zwölfstöckigem Gebäude zu treffen. Nicht, wenn sie auf dem Boden war.

Und zehn Stockwerke konnte sie nicht springen. Sie hatte ein paar Kräfte, aber sie war nicht Superman.

Fuck.

Ein weiterer Schuss. Dann hatten sie die Baumgrenze, die den kleinen Park von der Straße trennte erreicht. Wenn sie richtig über die Position des Schützen lag, so sollte dieser keine Sicht mehr auf sie haben. Der Winkel war nun auch nicht mehr optimal.

Ein Fluchen hinter ihr.

Sie sah sich um. Jack hielt sich die Hüfte. Er hatte echt nicht gescherzt, oder?

„Erschossen?“, fragte sie.

„Streifschuss“, zischte er.

Sie schloss die Augen und fluchte leise. „Bleib hinter dem Baum.“ Damit schaute sie über die Straße zu den Gebäuden. Wo war er? Wo?

Da. Sie sah eine Bewegung.

Sie schloss das rechte Augen, um rein mit dem magischen Auge zu sehen, das von der Dunkelheit und dem blendenden Straßenlicht weniger eingeschränkt war. Ja. Jemand war aufgestanden. Er sah auf sie hinab. Er hatte das Gewehr in der Hand, versuchte sie wahrscheinlich zu sehen.

Verdammt. Sie musste verrückt sein. Dennoch rannte sie auf die Straße. Es war nicht mehr viel Verkehr. Sie musste den Typen ablenken, möglichst vielleicht auch einschüchtern.

Das Gebäude war U-förmig. Und es hatte Balkone auf der Seite. Das konnte sie nutzen, zumal die Balkone versetzt angebracht waren. Sie hoffte nur, sie hatte genug Energie. Ausdauer.

Sie lief. Ein weiterer Schuss, doch er traf die Straße weit hinter ihr. Sie machte einen Satz, der sie gute fünf Meter weiter nach vorne beförderte, auf die andere Seite der Straße. Jetzt müsste er zum Rand des Gebäudes kommen, um sie zu treffen.

In der Ferne ertönten Sirenen. Jemand musste die Polizei gerufen haben.

Sie sah am Gebäude hinauf. Er sah hinab. Es war dunkelhäutig oder trug dunkles Camouflage, doch genaues konnte sie nicht erkennen. Er zielte, doch als sie ihre Waffe zog, fluchte er, stolperte vom Rand des Daches zurück.

„Feigling“, zischte sie. Sie rannte um das Gebäude, als weitere Schüsse erklangen. Pistolen, dieses Mal. Zusammen mit dem Quietschen eines driftenden Wagens. „Oh Fuck.“ Sie ging hinter einem der am Straßenrand packenden Wagen in Deckung, kauerte sich zusammen. Hatten sie sie gesehen?

Weitere Schüsse, offenbar blind in die Gegend gefeuert. Arschlöcher. Unprofessionelle Arschlöcher.

Einige Autoalarme gingen los. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte die Straße.

Da hinten kam der Wagen um die Ecke. Es war ein Landrover. Zwei Leute hingen aus dem Beifahrerfenster heraus. Einer von ihnen ziemlich sicher ein Asiat.

Sie sollte sie aufhalten, sie erschießen, doch war es das wirklich wert? Nein. Die Polizei war hierher unterwegs. Sie wollte nicht hier mit einer Waffe bei sich gefunden werden, schon gar nicht, wenn sie bedachte, dass es da Nel gab. Nel, der Einfluss bei der Polizei ausübte.

Und da war noch Jack.

Sie blieb in ihrem Versteck. Sie fuhren vorbei. Schossen wild in die Gegend. Verschwanden um die Ecke. Etwas wurde gerufen. Sie hörte es über den Lärm nicht gut genug, um zu verstehen.

Dann entfernten sich die quietschenden Reifen des Wagens.

„Fuck“, murmelte sie. Sie wandte sich ab und lief zurück zu Jack, der mit dem Rücken zum Baum, der zwischen ihm und der Straße war, auf den Boden gesunken war, sich nun sein Hemd gegen die Seite drückte.

Sie hockte sich neben ihn. „Lass uns schauen, dass wir hier wegkommen.“

Er sah sie an, versuchte ein verwegenes Grinsen. „Aber sicher, Sweetheart.“

Sie verdrehte die Augen, half ihm auf. „Ich dachte darüber wären wir hinweg.“

Jack lachte leise. Offenbar konnte selbst ein Streifschuss ihn seinen Humor nicht nehmen.

[20.10.2011 – J09 – Kugelmagnet]

„Schau nicht so besorgt, Chérie“, meinte Jack, während sie die M7 hinabfuhren.

Er lag halb auf der Rückbank ihres Wagens. Seinen Wagen hatten sie wohl oder übel an Green Point stehen lassen müssen. So konnte er nicht fahren. Sie hatte mit ihrem Erste-Hilfe-Set einen Druckverband improvisiert, jedoch nicht besonders effektiv. Der Streifschuss war knapp unterhalb seiner Hüfte und damit schwer zu verbinden.

Sie hatte Heidenstein bereits angerufen. Mehr konnte sie nicht tun.

„Hey, Sweetheart, rede mit mir“, meinte Jack. Er redete, um seine Schmerzen zu vergessen, was es jedoch nicht weniger nervig machte.

Sie sah sich kurz zu ihm um. „Was hatten wir über meinen Namen gesagt?“

Er seufzte, schloss seine Augen und lehnte den Kopf an das Fenster. „Pakhet.“ Er atmete tief durch. „Bitte rede mit mir.“

Sie sah auf die Straße. „Wie oft wirst du eigentlich im Schnitt angeschossen? So in einer Woche?“

Er schmunzelte, öffnete seine Augen aber nicht. „Na ja, so alle zwei bis vier Wochen. Aber meistens nur Streifwunden. Wie gesagt, meistens habe ich Glück im Unglück. Selbst wenn eine Kugel stecken bleibt, habe ich Glück. Einfache Wunden, wenig Organschaden. So etwas.“

„Ist ja nichts weiter bei, eh?“ Sie konzentrierte sich auf die Straße, fuhr beständig gute zehn km/h über dem Limit. Es war ohnehin kaum jemand unterwegs. Wenn würde sie am ehesten in irgendein wildes Tier fahren.

„Man kann sich an sehr viel gewöhnen“, murmelte er. „Schmerzen gehören dazu.“

Der Ton seiner Stimme sorgte dafür, dass sich etwas in ihr zusammenzog. Sie hatte Mitleid. Was war es?

„Jack?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja, Süße?“, erwiderte er mit einem Grinsen. Dann merkte er, was er gesagt hatte. „Ich meine: Ja, Pakhet?“

„Was …“ Wie sollte sie die Frage formulieren. „Warum interessierst du dich so für den Fall? Warum warst du bereit, für praktisch kein Geld mit bei dem Einsatz zu helfen? Jetzt sogar umsonst? Ich denke nicht, dass ich dich so um den Finger gewickelt habe?“

Für eine Weile war er still. Er öffnete die Augen, sah auf die Decke der Fahrerkabine. Er atmete tief durch den Mund, während er die Wunde hielt. „Das ist eine lange und wenn du mich fragst viel zu dramatische Geschichte“, meinte er schließlich. „Müssen wir darüber reden?“

Sie musterte ihn im Rückspiegel. Diese Antwort bestätigte umso mehr ihre Vermutung, auch wenn sie diese nicht aussprechen wollte. „Nein, müssen wir nicht. Ich … Ich habe es mich nur gefragt.“

„Wie gesagt, Chase und ich kennen uns seit einer Weile. Ich helfe öfter bei solchen Jobs.“ Er lächelte wieder, auch wenn sein Lächeln etwas erzwungen wirkte. „Wie gesagt, es ist alles furchtbar dramatisch und würde mir wirklich den Abend versauen.“

„Mehr als ein Streifschuss?“

Er lachte leise. „Ach, bitte. Ein Streifschuss macht den Abend erst richtig interessant.“

Sie antwortete nicht mehr. Sie sollten in zwei, drei Minuten beim Krankenhaus sein. Dann sollte sich Heidenstein um Jack kümmern können.

Nach einer Minute sprach Jack wieder. „Du hast im Vergleich zu mir meistens Glück.“

„Solange keine Magier mitspielen“, erwiderte sie. „Aber ja. Schusswaffen … Wenn überhaupt kriege ich Streifschüsse ab. Es ist selten, dass es mehr ist. Aber ich habe halt auch …“

„Kräfte?“, fragte Jack.

Sie nickte. „Ja. Nicht viel, aber doch ein paar, die es einfacher für mich machen zu kämpfen.“ Die es einfacher machten, einer Kugel auszuweichen. Sie hasste es dennoch, es darauf ankommen zu lassen.

Da. Die Abfahrt. Sie bog ab. Das Krankenhaus war schon in Sicht.

„Sieht aus, als seien wir gleich da“, murmelte Jack. „Der gute Doktor hat mich wahrscheinlich schon vermisst.“

Pakhet lächelte matt. „Oh, ja, ganz sicher.“

„Glaubst du, er ist eifersüchtig auf mich?“

„Eifersüchtig?“

„Na, weil ich dich Sweetheart nennen darf, ohne dass du mich schlägst.“

Sie murrte. „Normalerweise schlage ich niemanden so schnell. Alles andere sind Gerüchte.“

„Dann darf er dich Schatz nennen?“, fragte Jack.

Sie verdrehte die Augen. „Natürlich nicht. Und wenn du mir weiterhin alberne Spitznamen gibst …“

„Oh, ich bin gespannt.“ Jack grinste.

„Bist du irgendeine Art von Masochist?“

„Nein. Ich bin einfach an Schmerzen gewohnt.“

[20.10.2011 – D46 – Verdacht]

Pakhet saß auf dem Sofa in ihrer Wohnung, als Heidenstein endlich hochkam.

Sie hatte bereits geduscht, während er sich um Jack gekümmert hatte. Immerhin hatte sie wenig tun können, um ihm dabei zu helfen. Er war der Arzt.

Langsam spürte sie die Müdigkeit, hatte aber warten wollen, bis er fertig war. Sie sah zu ihm. „Wie geht es Jack?“

Heidenstein seufzte, zog seinen Kittel aus, legte ihn über die Rückenlehne des Sofas. „Alles in allem okay. Es ist nur eine Streifwunde. Ich habe sie desinfiziert, genäht und ihm Schmerzmittel gegeben. Er schläft unten für die Nacht.“

Pakhet nickte. „Danke.“

„Warum bedankst du dich?“ Er ging um den Wohnzimmertisch herum, setzte sich auf den Sessel. Ungewöhnlich für ihn. Meistens suchte er ihre Nähe.

„Ich mache mir Sorgen um ihn, das ist alles. Er ist …“ Sie hatte keine Worte dafür.

„Ja.“ Heidenstein schürzte die Lippen. Er schien kurz zu überlegen. „Weißt du, wo er genau herkommt?“

Sie wusste genau, was er mit der Frage meinte. Es ging ihm nicht um die physische Herkunft Jacks, sondern um seinen Hintergrund. „Nein.“

Heidenstein seufzte. „Ich glaube, er nimmt Drogen.“

„Wundert mich nicht.“ Sie hatte so etwas geahnt. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, doch wirkte Jack auf sie wie jemand, der ein Trauma vergessen wollte. Was es genau war? Sie hatte eine Vermutung, wusste es aber nicht sicher.

Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand so normal und gut angepasst wirkte wie Jack. Sie hatte es öfter mitbekommen. Kaum verwunderlich, hatten doch schon so viele ihrer Jobs mit Drogen zu tun gehabt. Normale Leute dachten oft daran, dass Drogenabhängige irgendwo versifft und mit verfilztem Haar in Straßenecken lagen, doch das war nur ein Teil. Es gab genug, die normale Jobs hatten. Genug, die sogar erfolgreich waren. Zur Hölle, es war ein offenes Geheimnis, dass die Unterhaltungsindustrie auf Koks, Hasch und Heroin, teilweise aber auch härteren Drogen lief.

Das jemand wie Jack Drogen nahm, war entsprechend nicht überraschend.

„Ich denke, er braucht Hilfe“, meinte Heidenstein.

„Ich weiß“, erwiderte sie.

Heidenstein schwieg eine Weile. „Vielleicht solltest du mit ihm darüber sprechen.“

Sie seufzte leise. „Ich weiß nicht, ob er mir dafür genug vertraut.“

„Du könntest es probieren“, erwiderte Heidenstein. „Bevor es schlimmer wird.“

Sie nickte, schürzte ihre Lippen. „Was meinst du, nimmt er?“

„Er hatte Spritzspuren. Keine Ahnung. Heroin vielleicht. Vielleicht auch Heroin oder irgendein Morphin.“

Sie nickte noch einmal. „Ich werde sehen. Ich will ihn nicht bedrängen.“

Heidenstein seufzte. „Ja.“ Er stützte das Kinn auf seinen Händen an, drückte dann mit den Fingern gegen seine Augen. Dann sah er sie wieder an. „Ich habe noch gar nicht …“ Er schüttelte den Kopf. „Du wurdest angegriffen. Was ist passiert?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Jemand mit einem Jagdgewehr. War auf einem Gebäude, hat auf uns runtergeschossen. (Munitionstyp). Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber da waren auch andere. Ich nehme an, sie hatten mit ihm zu tun.“

„Irgendeine Ahnung, wer es war?“

„Assassinen.“ Sie sah ihn an, versuchte ihm zu vermitteln, dass es sie nicht zu sehr störte. „Es war zu erwarten. Zehntausend sind nicht ohne.“

„Ja.“ Heidenstein schüttelte den Kopf, schloss die Augen. „Fuck.“

Sie kam nicht umher zu grinsen. „Du fluchst einmal?“

„Ja, ich fluche.“ Er wandte zu ihr, sah ihr in die Augen. „Ich meine, fuck, Pakhet. Ich mache mir Sorgen. Was, wenn dich einer getroffen hätte? Was, wenn du …“

„Ich werde nicht so schnell getroffen“, meinte sie. „Es war kein Magier dabei, also …“

„Es ist nicht so, als seist du unverwundbar.“ Seine Miene war ernst. Angst zeichnete sich in seinem Blick ab. Ernsthafte Angst.

Was ein Idiot … Warum ließ es sie doch lächeln? „Ich bin nicht unverwundbar, aber ich bin gut. Mal ehrlich, Doc. In meinem Leben haben so viele Leute schon auf mich geschossen, aber ich lebe noch. Ich komme schon damit klar. Solange sie nur schießen.“

Das war der Moment, in dem er aufstand und zu ihr hinüber kam, sich neben sie setzte und ihre Hand griff. Eigentlich hätte sie ihre wegziehen sollen, doch sie ließ es zu.

„Ich mache mir Sorgen, Pakhet. Ich will dich nicht verlieren.“

„Ich weiß“, antwortete sie und drückte seine Hand. Sie sah ihn an, lächelte. „Es ist schon okay. Und wenn ich doch mal getroffen werde, habe ich ja dich.“

„Ich bin also deine Lebensversicherung?“, meinte er matt.

„Ein wenig, ja.“ Sie lehnte sich zurück, zog ihn mit sich. Es war zu viel Nähe, doch schien gerade er es zu brauchen.

Er sah sie einige Sekunden lang an. Wieder schien er unsicher zu sein, verstand aber sehr wohl, was sie meinte. Dann lehnte er sich zu ihr hinüber, küsste sie sanft auf die Lippen.

Pakhets Lächeln wurde weiter. Es war gut. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter, ließ sich dann der Länge nach aufs Sofa sinken, zog ihn mit sich. Dieses Mal brauchte er sie und es war gut. Zumindest fühlte sie sich so nicht, als würde sie ihn ausnutzen.

[21.10.2011 – J10 – Schulden]

Pakhet verbrachte den gesamten nächsten Tag im Krankenhaus. Sie war Heidenstein ohnehin einige Stunden als seine Security schuldig. Manchmal ärgerte sie sich über ihn. Sie war auch seine Mitarbeiterin und sollte ihren Job eigentlich gewissenhaft machen, doch zwischen Michaels Drohungen und dem Zeitaufwand, der in die ganzen Ermittlungen und Einsätze geflossen war, schuldete sie ihm über fünfzig Stunden. Und weil er ein Idiot war, hatte er sie dennoch bezahlen wollen. Sie hatte es nicht angenommen. Verdammt, er ärgerte sie.

Heute gab ihr die Arbeit im Krankenhaus zumindest eine Möglichkeit immer wieder bei Jack vorbei zu schauen. Laut Heidenstein war es besser, wenn er bis zum Montag hier blieb. Nicht, weil seine Wunde so schlimm war, sondern weil er ihn im Auge behalten wollte.

Also nutzte sie immer wieder kürzere Pausen, um zu Jack zu gehen, der im Krankenzimmer der Straßenklinik lag und den meisten Tag damit verbrachte auf einem Tablet, das Heidenstein ihm geliehen hatte, irgendwelche Videos zu schauen.

„Schaust du wieder Porno?“, fragte sie, als sie am späten Nachmittag hereinkam.

„Die ganze Zeit.“ Jack zeigte ihr eine absolut ernste Miene, redete mit übertrieben ernster Stimme, lachte dann aber.

„Wie geht es dir?“

„Noch immer etwa so, wie vor zwei Stunden, Sweetheart.“ Er rutschte tiefer ins Kissen und schloss die Augen. „Die Wunde brennt etwas, aber sonst ist alles bestens.“

„Dann ist gut.“ Sie kam zu ihm, besah sein Gesicht. Er wirkte unter der dunklen Haut noch immer etwas blass.

Er sah sie an. Seine Augen waren beinahe gänzlich schwarz. „Was ist?“

„Ich schaue mal, ob du heute Abend bei uns in die Wohnung kannst“, meinte sie. „Wir könnten …“ Sie hielt inne, überlegte kurz. „Uns irgendeinen Film ansehen und Pizza essen?“

„Das klingt wunderbar, Pakhet.“ Sein Lächeln war warm, ernsthaft dankbar. „Das klingt wirklich gut.“

Sie nickte. Wenn sie ihn ein wenig ablenken konnte, war es eine gute Sache und so fragte sie Heidenstein, als sie ihn das nächste Mal sah.

Natürlich hatte er nichts dagegen. Er bot sich sogar selbst an, Pizza zu holen. Immerhin lieferten die meisten Dienste nicht hier heraus, da sie von der eigentlichen Stadt sogar hinter den Flats lagen.

„Ich habe eine vegetarische Pizza geholt“, meinte er, als er vier Pappboxen auf den Wohnzimmertisch stellte. „Ich war nicht ganz sicher, was du isst, Jack.“

Jack lag bereits auf dem Sofa. Waagerecht, da Heidenstein darauf bestanden hatte. Nicht, weil Jack unbedingt liegen sollte, sondern weil es laut Heidenstein die Wunde entspannte. „Das ist wirklich sehr rücksichtsvoll von dir, Doc. Aber du hättest auch fragen können.“ Er zog einen Schmollmund.

„Ich habe nicht dran gedacht“, gab Heidenstein zu.

Jack zuckte mit den Schultern. „Kommt vor, Schätzchen. Aber schon gut. Ich esse beinahe alles.“ Er zwinkerte und nahm sich eine der Boxen. „Danke.“

„Bitte“, meinte Heidenstein. Er zögerte, brachte Jack damit zum Lachen.

„Ach, ihr seid beide so steif“, meinte er. „Kommt. Entspannt euch.“

Pakhet konnte nicht anders. Sie tauschte einen Blick mit Heidenstein, der seinerseits genau so unschlüssig war, wie sie sich fühlte.

Sie war nicht ganz sicher, wie sie mit Jack reden sollte. Eventuell sollte sie ansprechen, worüber sie gestern mit Heidenstein gesprochen hatte, auf der anderen Seite konnte es sein, dass Jack sich bedrängt fühlte, wenn sie zu zweit auf ihn einredeten.

„Was wollen wir schauen?“, fragte Jack in das angespannte Schweigen.

„Irgendeinen Actionfilm“, meinte Heidenstein.

Pakhet warf ihm einen Blick zu. „Oder wir schauen uns irgendeine miese Arztserie an, um den guten Doc zu ärgern.“

„Oh, eine mit viel Herzschmerz?“ Jack grinste.

Heidenstein seufzte. „Was auch sonst?“

Pakhet konnte nicht umher zu lachen. „Hey, ich habe dir nicht umsonst die DVDs geschenkt.“

„Du willst mich nur foltern“, meinte Heidenstein und zog einen Schmollmund, schaffte es aber doch nicht, das Grinsen für zu lange zu verkneifen. „Ganz wie ihr meint.“ Er ließ sich auf den Sessel sinken.

Pakhet sah zu Jack, der grinste, das erste Stück Pizza bereits in der Hand. Dann zuckte sie mit den Schultern, nahm das DVD-Set zu Grey's Anatomy aus dem Regal. Es war ein Scherzgeschenk gewesen. Doch hey, was tat man nicht alles, um Heidenstein zu ärgern.

Sie packte eine DVD in den Player, sah sich dann um. Ein Problem gab es mit Jack der so lag: Es gab keinen freien Sitzplatz mehr.

Das schien er genau zu wissen. Er sah sie an. „Jetzt musst du dich entscheiden, mit wem du kuscheln willst? Zu mir oder dem Doc?“

Sie verdrehte die Augen und holte einen der Stühle aus der Küche. Sie warf Jack einen langen, vielsagenden Blick zu, der ihn zum Lachen brachte.

„Ich habe es verstanden.“

[22.10.2011 – A05 – Familie]

Langsam kletterte die Gondel zur Spitze.

Was machte sie hier? Sie war sich nicht sicher. Und doch kam Pakhet nicht umher zu lächeln, während sie Murphy beobachtete, der mit übertriebener Begeisterung am Fenster der Riesenradgondel saß.

Der leichte Regen erlaubte zwar nicht für eine gute Aussicht, doch es war problemlos möglich die nähere Umgebung und den Hafen zu sehen.

Alice war weniger begeistert. Sie wirkte beinahe gelangweilt, als sie Pakhet von der gegenüberliegenden Bank ansah. „Wo waren die Leute?“, fragte sie.

Pakhet seufzte, zeigte seitlich aus der Gondel. „Siehst du das u-förmige Gebäude dahinten? Der Schütze war auf dem Dach.“

Auch wenn es wahrscheinlich vergeblich war, jetzt noch etwas zu finden zu versuchen, so hatte Alice vorgeschlagen an diesem Sonntag zu Point Green und Point Harbour zu fahren, um sich den Ort des Angriffs anzusehen. Wahrscheinlich war es eher darin begründet, dass Murphy eigentlich hatte wieder Eisessen gehen wollen. Was wusste Pakhet schon? Jedenfalls hatte sie nun ausnahmweise beide Jugendlichen hier.

„Warst du schon oben?“, fragte Alice.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich war seit dem Angriff noch nicht wieder hier.“

„Oh, ich könnte gleich hochfliegen und nachschauen“, schlug Murphy vor und wandte sich ihnen wieder zu. Er ließ sich neben Alice fallen, drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Pakhet musterte den Jungen. Von seiner Aufregung nach dem Gespräch mit Michael war nichts geblieben. Er hatte es seither nicht wieder erwähnt.

Warum nicht? Es überraschte sie, doch wollte sie ihn nicht wieder drauf ansprechen.

„Meinst du, dass das eine gute Idee ist?“, fragte sie.

„Wenn es eine schlechte Idee ist, dann versucht er es besonders gerne“, meinte Alice und verdrehte die Augen. „Er liebt schlechte Ideen.“

„Oh, jetzt sei doch nicht so.“ Murphy winkte ab. „Du lässt mich ganz rot werden.“

„Dann werd rot.“

Pakhet verkniff sich einen Kommentar zum Verhalten der beiden Jugendlichen. Als Murphy Alice die Zunge herausstreckte und die beiden prompt anfingen, sehr innig zu knutschen, schaute sie weg.

Es fühlte sich einfach falsch an.

„Es ist auch dumm, dass du das Nummernschild nicht gesehen hast“, stellte Alice schließlich fest, während die Gondel langsam wieder herunterfuhr.

„Ich weiß.“ Sie hatte im Moment des Konflikts nicht daran gedacht. Sie hatte sich versteckt. Es war vernünftiger gewesen.

Alice seufzte. „Na ja, was will man tun? Vielleicht finden wir noch Spuren.“ Sie sah zu Murphy. „Schau dich ruhig um.“

„Werde ich tun.“ Murphy grinste und salutierte.

Pakhet sah wieder aus dem Fenster, sah auf den Hafen. Es war seltsam schon wieder hier zu sein. Vielleicht hätte sie in den letzten sieben Jahren häufiger normal ausgehen sollen. Einfach nur mit Freunden ausgehen. Also mit Robert, der bis vor kurzem ihr einziger Freund gewesen war. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

Die Gondel kam in der Ausgangsstellung an und wurde von einem der Mitarbeiter geöffnet.

Sie stiegen aus, suchten eine ruhige Ecke. „Also“, meinte Murphy, „ich werde dann mal nachschauen gehen. Treffen wir uns hier?“

Sie waren in einem Hinterhof des Museums. Es war nicht gänzlich unbeobachtet, aber besser als an einem der anderen Orte. Dankbarerweise hatte das miese Wetter dafür gesorgt, dass es nicht so gerappelt war, wie es von einem Sonntag zu erwarten war.

„Mach nur.“ Alice klopfte ihm auf die Schulter.

„Und danach gibt es Eis?“ Erwartungsvoll sah er Pakhet an, die erneut die Augen verdrehte.

„Ja, von mir aus.“

„Yay.“ Damit sprang er in die Luft, schrumpfte zu einer Dohle zusammen, befreite sich irgendwie aus seiner Kleidung und flatterte davon.

Alice schüttelte den Kopf, sammelte seine Kleidung auf und lehnte sich dann gegen das Gebäude, nah genug daran, um vor dem Regen geschützt zu sein.

Für einige Sekunden sah Pakhet der Dohle hinterher, doch dann tat sie es Alice gleich, lehnte sich neben sie. Aus purer Gewohnheit holte sie ihr Handy heraus, sah auf den Bildschirm. Keine neuen Nachrichten.

„Was siehst du in Murphy?“, fragte Alice plötzlich.

Überrascht sah Pakhet sie an. „Was?“

„Murphy.“ Mit kühlem Blick sah das Mädchen sie an. „Was siehst du in ihm?“

„Warum?“

„Er war ziemlich aufgelöst, als er das letzte Mal nach Hause kam. Hat darüber gemeckert, dass du dich von diesem Michael an der Nase herumführen lässt.“

Pakhet zuckte mit den Schultern. „Und?“

Alice musterte sie weiter eisern. „Du solltest aufpassen. Er hält große Stücke von dir. Er wurde schon einmal von seinen Eltern enttäuscht und wenn du ihm …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann vielleicht nicht viel gegen dich machen, Pakhet, aber sei dir dessen bewusst, dass du nie wieder ein Telefon benutzen können wirst.“

Offenbar wollte sie ihren Punkt untermauern, denn im nächsten Moment ging das Handy in Pakhets Hand aus.

Pakhet sah das Mädchen an. Was sollte sie darauf denn antworten? Sie holte mehrfach Luft, setzte an, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Verstanden.“

Wieder senkte sich Stille über sie. Pakhet startete ihr Handy neu, wartete. Der Regen wurde etwas härter und dann kam Murphy endlich zurück. Mehr schlecht als Recht landete die Dohle auf dem Boden, plusterte sich auf und ließ etwas auf den Asphalt fallen.

Eine leere Patrone.

Pakhet wollte sie aufheben, doch Alice war schneller. „Ha“, meinte sie dann.

„Was?“

„Ich kann daran vielleicht etwas herausfinden“, sagte Alice und steckte die Patrone in ihre Handtasche.

Murphy wuchs aus der Dohle heraus, stand einmal wieder nackt vor ihnen. Er grinste. „Eis?“

[24.10.2011 – F07 – Grenzen]

Es war ein weiterer ereignisloser Tag in der Firma. Der größte Unterschied zu den letzten zwei Wochen: Heidenstein war hier. Immerhin arbeitete er zumindest offiziell noch für Michael, auch wenn er beinahe durchweg in der Krankenstation war, seit die Chaostruppe getrennter Wege gegangen war.

So saßen sie in einem Seitenzimmer der Station, tranken Kaffee. Was sollten sie auch sonst tun?

„Wie lange willst du noch hier bleiben?“, fragte sie.

Er schien zu verstehen, zuckte mit den Schultern. „Wenn es so weitergeht, wie bisher, vielleicht noch zwei oder drei Monate. Dann sollte das Krankenhaus hoffentlich stabil genug sein.“

Sie nickte. Die Einkünfte hatten sich immer weiter stabilisiert, auch wenn sie nicht gänzlich sicher war wie. Heidenstein behandelte zu viele ohne Geld dafür zu verlangen. Nachdenklich nippte sie am Kaffee.

„Du bist gelangweilt“, stellte er fest.

„Captain Obvious.“ Die Augen verdrehend lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück. „Ja. Erst hat Michael mich gestresst und jetzt …“

Heidenstein musterte sie über seine Kaffeetasse hinweg. „Verstehe. Vielleicht solltest du schauen, dass du mehr im Krankenhaus bist.“

„Du weißt, dass es eine miese Idee ist“, erwiderte sie. „Michael würde …“ Sie hielt inne, als die Tür geöffnet wurde.

Wenn man vom verdammten Teufel sprach … Sie fragte sich, ob er tatsächlich darauf lauerte, dass sie ihn ansprach, ehe er hereinkam. War er wirklich so pendantisch?

Er lächelte sein übliches, charmantes Lächeln. „Was? Habt ihr etwa gerade über mich gesprochen?“

Pakhet schürzte die Lippen, sah zu Heidenstein, der Anstalten machte, aufzustehen.

Oh nein, er würde sich nicht auch noch einmischen. Es war schon schlimm genug, dass Michael so oder so einen Groll gegen ihn hegte. Das musste er nicht noch schlimmer machen.

Sie stand auf, stellte sich vor Michael. „Was gibt es?“ Sie schenkte ihm ein eisiges Lächeln.

„Ach, ich wollte nur schauen, ob du noch lebst. Ich habe dich doch tatsächlich suchen müssen. Normalerweise bist du leichter zu finden.“ Er sah an ihr vorbei. „Aber dann habe ich gehört, dass dein Freund sich dazu erbarmt, her zu kommen, also musstest du ja hier sein.“

Sie stellte sich in Michaels Blickfeld, wiederholte ihre Frage: „Was gibt es?“

„Ich habe nur gehört, dass du am Wochenende einen kleinen Zusammenstoß mit einer Gruppe Assassinen hattest?“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter, packte sie dann fest.

„Ja. Aber wie du siehst ist alles in Ordnung.“ Sie bemühte sich ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

„Bei dir schon, ja“, erwiderte er.

Wusste er, was mit Jack passiert war? Woher schon wieder? Er konnte diese Dinge doch nicht alle wissen. Es sei denn, er beobachtete sie. Verdammter Kontrollfreak!

„Hattest du etwas mit der ganzen Sache zu tun?“, fragte sie.

Schockiert sah er sie an. „Ich? Ich doch nicht.“ Er ließ ihre Schulter hoch, breitete seine Arme in einer Geste purer Unschuld aus. „Ich bitte dich. Ich mag ein Arschloch sein, aber ich halte mich an meine Abmachungen, oder?“

„Nein, tust du nicht.“

„Du hast wirklich eine miese Meinung von mir“, murmelte er.

„Aus gutem Grund“, antwortete sie. „Also sag mir, warum bist du hier. Du wusstest schon, dass ich lebe, dass ich hergekommen bin. Also warum bist du hier? Um noch ein wenig deine Kontrollspielchen zu spielen? Oder hast du mit Absicht darauf gewartet, dass ich mich mit Heidenstein treffe, damit du ihn auch noch ein wenig herausfordern kannst?“

Michael schmunzelte und konnte sich ein leises Glucksen nicht ganz verkneifen. „Aber, aber, Pakhet.“ Er betonte ihren Namen schon wieder übertrieben. „Ich habe nur sehen wollen, ob wir vielleicht noch weitere Geschäfte abschließen können.“ Er musterte sie, fuhr fort, als sie nichts erwiderte: „Zum Beispiel: Zwanzigtausend für die Identität deiner Angreifer, damit du sichergehen kannst, dass es nicht noch einmal passiert.“

Bluffte er oder wusste er es wirklich? Verdammt, woher hatte er diese Informationen nur immer?

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Danke. Ich habe meine eigenen Leute daran.“

„Du meinst die kleine Hackerin?“, erwiderte Michael. „Crashs kleine Schwester, hmm?“

Sie antwortete nicht.

„Pass besser auf. Du weißt, warum die Familie der beiden tot ist, oder?“

Sie wusste es nicht. Natürlich nicht. Also presste sie nur ihre Kiefer zusammen.

Michael grinste. „Ich verstehe.“ Damit holte er tief Luft, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. „Nun, es freut mich, dass du noch lebst.“

„Fick dich, Michael“, murmelte sie.

Er sah sie über die Schulter an. „Du weißt, dass mir das zu viel Intimität wäre.“ Damit öffnete er die Tür und verließ das Zimmer, ließ sie fluchend zurück.

Heidenstein atmete merklich auf. Er schwieg für einige Sekunden, stand dann aber auf und legte seine Hand auf ihre Schulter. Anders als Michael war seine Berührung vorsichtig, sanft. „Alles okay?“

Sie sah ihn an. „Danke, dass du dich nicht eingemischt hast.“

Er leckte sich über die Lippen. „Es hat einige Beherrschung gebraucht.“

Noch immer raste ihr Herz vor Anspannung und Wut. Sie atmete durch. „Danke“, wiederholte sie. Dann griff sie nach ihrer Kaffeetasse, leerte sie in einem Zug. „Ich glaube, ich muss mich abreagieren gehen.“

[24.10.2011 – X24 – Eskapismus]

Sie tat es schon wieder. Sie entging dem Konflikt, versuchte zu fliehen, indem sie auf dem verdammten Crosstrainer ging. Einfach trainieren, die Gedanken leeren. Als ob es das noch brachte.

Es war klar, dass Michael so leicht nicht nachgeben würde. Wenn sie weitermachte wie bisher, dann würde er sie immer weiter erpressen. Und irgendwann würde des Kontrollspielchens mit ihr, diesem kleinen, albernen Katz und Maus Spiel leid sein, und dann? Entweder würde er sie, Heidenstein oder Murphy umbringen lassen. Vielleicht auch erst die anderen beiden, dann sie. Sie wusste es. Sie kannte Michael. Die meiste Zeit interessierte es ihn nicht, was die Leute taten, aber … Ja, offenbar gehörte sie zu seinen besonderen wenigen. Denjenigen, die ihm besonders „am Herzen“ lagen.

Ach, verdammt. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte nicht ewig davonlaufen. Sie war schon vor ihrem alten Leben davon gelaufen. Aber was hatte sie für eine Wahl gehabt? Sie hatte Hale nicht ausliefern können. Man hätte ihr nicht geglaubt. Ihn zu töten war nach allem was er getan hatte eine Genugtuung gewesen.

Sie wünschte sich, sie könnte Michael auch einfach so töten. Doch Michael war nicht wie Hale. Michael war vorsichtiger. Er war einfach nur ein Arschloch. Nur leider ein vorsichtiges Arschloch. Er würde einen Tatmannschalter haben. Mindestens einen.

Und dann? Sie würde sich ausliefern und diverse andere mit ihr. Michael hätte solche Daten über jeden seiner „besonderen wenigen“, seiner ausgewählten Elite. Nicht, dass die anderen sie interessierten. Sie wusste größtenteils nicht einmal wer sie waren.

Doch bestand die Möglichkeit, dass unter den Daten auch die Daten von Heidenstein und Murphy waren, vielleicht sogar Crash und Alice oder Jack. Das konnte sie nicht riskieren.

Verdammt. Sie hatte einiges Geld gespart, hatte gleichzeitig jedoch schon zu viel ausgegeben, um diese verdammte Jagd auf Nel und seine Goons zu finanzieren. Und dann? Wohin würde es sie am Ende bringen? Sie würde Michael nicht ewig bezahlen können.

Wie kam sie hier heraus?

Sie wollte nicht darüber nachdenken, musste es aber dennoch. Sie versuchte sich auf den Crosstrainer zu konzentrieren, zumindest für einige Minuten ihren Geist zu leeren. Sie musste ruhiger werden. Ihr Herz schlug noch immer zu schnell, gerade im Rahmen des Trainings. Es machte es schwer, ihren Atem zu kontrollieren.

Heidenstein hatte Recht. Sie konnte nicht ewig so weitermachen. Nicht mit diesem Job, nicht mit Michael. Sie wollte … Ja, was? Sie wollte wieder ein normales Leben haben. Wollte sie das wirklich?

Sie wusste nur eine Sache sicher: Sie wollte nicht riskieren, dass wegen ihr Murphy etwas geschah. Vor allem nicht Murphy. Sie wollte den Jungen beschützen. Warum? Was war es an dem Jungen?

Offenbar war sein Charme wirklich infektiös.

Ihre Bewegungen wurden langsamer, sie verschnaufte, sah auf die Anzeige des Crosstrainers, schloss dann die Augen. Verdammt. Wie kam sie hier heraus? Sie brauchte jemand, der ihr half. Doch sie konnte nicht Heidenstein fragen. Sie konnte ihn nicht noch weiter mit hereinziehen.

„Verdammt“, flüsterte sie. Sie stieg vom Trainingsgerät, streckte sich und trank einen Schluck. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl am Rand des kleinen Trainingsraums fallen, vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Was konnte sie tun?

Da ließ ein Geräusch sie aufsehen. Jemand kam durch die Tür.

„Smith“, murmelte sie, als sie die für einen Personalmanager eigentlich zu kräftige Gestalt erkannte.

Er musterte sie. „Heidenstein sagte, dass ich dich hier finde. Hast du Zeit?“

[24.10.2011 – S09 – Ausreden]

Schon wieder ein Kaffee. Nicht, dass Pakhet sich je über einen Kaffee beschwert hätte. An sich war Koffein bei einem zu schnellen Herzschlag nicht die beste Idee, aber hey, gegen Koffein war sie wahrscheinlich bereits seit Jahren immun.

Sie saß gegenüber Smith in dessen Büro, das groß, aber nicht so groß wie das Michaels war.

„Heidenstein sagte, Michael hat vorhin mit dir gesprochen“, meinte Smith nun, während er Milch in seinen Kaffee rührte.

„Ja. Hat er.“ Wie immer trank sie ihren Kaffee schwarz.

„Was wollte er?“

„Dasselbe wie immer. Machtspiele spielen.“ Sie schürzte die Lippen.

Noch immer rührte Smith seinen Kaffee, obwohl die Milch bereits gut untergerührt war. Doch sie sagte nichts. Wahrscheinlich wollte Smith nur seine Hände beschäftigen.

„Er hat dich erpresst?“, fragte Smith.

Woher wusste er das? Hatte ihm jemand davon erzählt. Für einen Augenblick hielt sie inne, dann nickte sie. „Es ist sein übliches Problem. Er will mich kontrollieren. Es gefällt ihm nicht, dass er mich nicht mehr unter Kontrolle hat.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Smith.

„Er ist ohnehin schon auf dich sauer.“ Sie hob den Blick, sah Smith direkt in die dunklen Augen. „Wenn du mir weiter hilfst, wirft er dich mindestens heraus, wenn nicht sogar mehr.“

„Ich weiß.“ Smiths Stimme war neutral, vollkommen sachlich. Er schluckte deutlich merkbar, hob dann die Kaffeetasse und trank.

Warum war sie von so vielen Idioten umgeben? Warum waren sie alle bereit so viel zu riskieren? Sie hatte sich nie besonders viele Gedanken um Smith gemacht. Er war ihr immer als der nettere „Chef“ erschienen, selbst wenn er nur die Einsatzplanung machte. Jedenfalls war er bei weitem nicht so ein Arsch, wie Michael und dafür hatte sie ihn immer respektiert. Auch wenn sie nur zwei Mal solche Konflikte mit Michael gehabt hatte, wie jetzt, so hatte sie ihn schon immer als Arsch bezeichnet.

Sie musterte Smith. Es gab eine Sache, die sie nicht wusste, die sie in den sieben Jahren, die sie Smith kannte, nie gefragt hatte. Sie räusperte sich. Vielleicht ging sie zu weit. „Wie kommst du hierher?“

„Hierher?“ Smith hob eine Augenbraue. Ein amüsiertes Glänzen lag in seinen Augen.

„In die Firma“, erklärte sie, sicher, dass er bereits verstanden hatte.

Kurz zögerte Smith, dann streckte er sich und lehnte sich zurück. „Kurz gesagt: Ich bin vor mehr als zehn Jahren hierher gekommen um als Söldner zu arbeiten. Ich komme von einem der Xhosa-Dörfer im Osten und … Wir hatten nie viel.“

Sie zögerte. War sie zu voreilig in ihren Schlüssen? „Du hast eine Familie?“

Smith antwortete nicht, lächelte nur. „Michael hat damals die ersten Söldner gesammelt. Ich war von Anfang dabei.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es stellte sich heraus, dass ich besser in der Planung war, als im Feld. Also … Tja.“ Er zuckte noch einmal mit den Achseln. „Ich war bereits in seinem 'Team' als er die Firma als Cover gegründet hat.“

Pakhet nickte. „Ich verstehe.“ Sie trank vom Kaffee.

Sie hätte Smith eher als jemanden eingeschätzt, der in der Stadt aufgewachsen war, nicht wirklich mit der Kultur verbunden war. Doch dann wiederum … Sie erinnerte sich daran, dass er mehr als einmal auf eine Monsterjagd im Osten des Landes geschickt hatte. War das der Grund? Dass das seine Leute waren.

„Du willst raus, oder?“, fragte er.

Erschrocken blickte sie auf. Mit der Frage hatte sie nicht gerechnet. Sie starrte ihn an. „Was?“

„Du willst raus“, wiederholte er. „Aus der Firma. Aus der Söldnerei.“

Sie hielt inne. Was sollte sie antworten? „Ich kann nicht einfach raus. Michael lässt es nicht zu, das hat er deutlich gemacht.“

„Ich weiß“, antwortete Smith. Er schürzte die Lippen. „Aber vielleicht finden wir einen Weg. Früher oder später. Du könntest dich freikaufen.“

„Wie?“, erwiderte sie. „Michael geht es nicht ums Geld. Ihm geht es um Kontrolle. Er will mich kontrollieren.“ Er liebte es zu sehr, dass er sie kontrollieren konnte.

Smith seufzte. „Ich weiß.“ Er schloss die Augen, wollte offenbar nachdenken. Schließlich öffnete er die Augen dann wieder. „Wir finden schon einen Weg, Pakhet.“ Er zögerte, lächelte dann. „Joanne.“ Sein Blick traf den ihren. Er schien auf eine Erwiderung zu warten, einen Protest.

Wollte sie etwas sagen?

Sie schwieg.

„Ich habe eine größere Sache hier“, meinte Smith dann. „Es geht darum jemanden auszuspionieren. Längere Zeit, Einzeleinsatz. Ich hätte eventuell eine Möglichkeit dich als Bodyguard reinzubringen. Damit wärst du für die Arbeitszeiten beschäftigt, hättest damit vielleicht Michael ein wenig vom Hals.“

Pakhet zögerte, schürzte die Lippen, nickte aber. „Okay.“

[25.10.2011 – D47 – Notaufnahme]

„Doc?“, rief sie in den nur teilweise beleuchteten Flur. Eigentlich war die Klinik zu, doch Heidenstein hatte geschrieben, dass er hier unten wäre.

„Hier“, erwiderte Heidenstein mit müder Stimme.

Sie fand ihn in einem der Behandlungsräume mit einer jungen Frau auf dem Behandlungstisch. Sie brauchte etwas, um das asiatische Mädchen zu erkennen. Es war die kleine Hackerin, die sie damals dabeigehabt hatten, als sie Crash seinem neuen Job ungeplant besorgt hatten.

Sie hatte eine blutige Nase, ein blaues Auge, eine Platzwunde am Kopf und einige Kratzer an den Armen. Es sah fast aus, als wäre sie von einem Motorrad gefallen und dann noch verprügelt worden.

Heidenstein war damit beschäftigt, die Platzwunde an ihrer Stirn zu nähen, während das Mädchen mit geschlossenen Augen dasaß, offenbar bemüht, sich zu entspannen. Sie zitterte.

Hier gab es eine Geschichte, dessen war Pakhet sich sicher. War Heidenstein mit Hazel auf einer Mission gewesen? Aber warum behandelte er sie hier und nicht in der Firma?

Sie beobachtete ihn. Mit ruhiger, geübter Hand schloss er die Wunde, ehe er sich den anderen Verletzungen zuwandte, sie auswusch. „Alles okay?“, fragte er vorsichtig, als das Zittern sich verstärkte.

Das Mädchen schluckte, nickte, sprach nicht.

„Gut. Du hattest noch Glück. Keine Brüche. Auch wenn es sein kann, dass die Wunde an deiner Wange noch anschwellen kann.“ Er holte ein größeres Pflaster heraus, gab etwas Salbe darauf, ehe er damit die aufgeschürfte Schulter beklebte. „Du hättest Hilfe rufen sollen.“

Wieder nickte das Mädchen nur stumm. Die Spuren getrockneter Träne waren auf ihren Wangen erkennbar.

Was war passiert?

Pakhet war erst von ihrem Job gekommen. Dem verdammten Spionagejob für Smith, der definitiv besser als alles war, was sie von Michael bekommen hätte. Sie war auf einem Handelsheini, der im Hafen für eins der Logistikunternehmen zuständig war, verantwortlich. Manager. Wahrscheinlich hatte seine eigene Firma sie angesetzt. Angeblich veruntreute er Geld. Während sie keinen konkreten Beweis hatte, konnte sie es sich vorstellen. Der Typ lebte das Highlife zu sehr, selbst für einen Manager. Nur war es schwer, als nicht einziger Bodyguard an die Informationen zu kommen.

Der Typ war widerlich. Doch das musste nicht interessieren. Letzten Endes agierte sie gegen ihn.

Sie zögerte. Vielleicht sollte sie hochgehen, doch wollte sie nicht allein sein. Sie konnte nicht sagen wieso. Sie fühlte sich aktuell wohler, wenn sie hier war, zusah, wie er das arme Mädchen verarztete.

Hatte sie Hazel überhaupt jemals sprechen hören? Sie war sich nicht sicher. War sie stumm? Vielleicht.

„Ich sag dir was“, meinte Heidenstein, als er sie endlich fertig verarztet hatte, „ich mache dir ein Zimmer im Krankenhaus oben zurecht und du bleibst erst einmal da, bis wir etwas anderes gefunden haben, ja?“

Hazel sah ihn mit dunklen Rehaugen an. Sie zog die Nase hoch, nickte dann. „Danke“, hauchte sie leise, senkte den Blick dann wieder.

Sprechen konnte sie also. Sie hatte nur offenbar keinerlei Selbstbewusstsein.

Heidenstein half ihr auf, legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. „Komm. Ich schaue, wohin wir dich bringen.“ Er sah zu Pakhet, offenbar fragend, was sie tun wollte.

Sie seufzte. „Ich räume hier auf und gehe dann hoch.“

Er lächelte, der Blick in seinen Augen warm. „Danke.“

Sie nickte zur Antwort, machte sich daran, das Verbandsmaterial, blutige Tupfer und anderes wegzuräumen. Einen Teil in den Müll, den anderen Teil in ein Alkoholbad. Heidensstein würde es später schon richtig reinigen. Dann nahm sie ihre Jacke und machte sich auf den Weg nach oben, wo sie sich nach kurzer Überlegung begann, zu kochen. Eigentlich war es zu spät, um noch zu essen, doch verdammt, sie hatte Hunger.

Sie sah zum Fenster. Draußen fuhren Autos die M6 entlang, die Scheinwerfer warfen Lichtkegel in die Dunkelheit.

Ohne großartig darüber nachzudenken, nahm sie Fisch aus der Tiefkühltruhe, begann ihn zuzubereiten, bis das Klacken der Wohnungstür sie darauf aufmerksam machte, dass Heidenstein endlich da war.

Er hängte seinen Kittel auf, kam dann zu ihr herüber. „Du kochst.“

„Offensichtlich“, meinte sie und sah ihn an.

Wieder dasselbe warme Lächeln. „Danke dir.“

„Ich möchte vielleicht auch essen“, erwiderte sie. „Jetzt sag mir, was macht das Mädchen hier? Ich spüre, da gibt es eine Geschichte.“

„Smith hatte mich gebeten, nach ihr zu sehen. Sie war zwei Tage lang nicht gekommen.“ Er lehnte sich neben ihr gegen die Arbeitsplatte, mit genug Abstand, um nicht im Weg zu sein. „Sie hat am Rand der Flats gelebt. Offenbar ist eine der Gangs vorbeigekommen …“

„Haben sie sie angefasst?“, fragte Pakhet, unsicher, ob sie die Antwort hören wollte.

Heidenstein schüttelte den Kopf. „Von ihren Verletzungen her nicht. Sie haben sie zusammen geprügelt und ein paar Sachen gestohlen.“ Er schürzte die Lippen. „Du, ich wollte dich was fragen.“

Sie sah ihn an. Sie ahnte, was kommen würde. „Wohin genau?“

Er atmete erleichtert auf, lächelte. „Ich habe noch einen Abstellraum. Die Sachen daraus könnte ich aber auch woanders hinbringen. Dann wäre sie hier in der Wohnung und …“ Er ließ den Satz verklingen.

„Sicher?“, schlug Pakhet vor.

Heidenstein nickte.

Pakhet schüttelte den Kopf, wendete den Fisch. „Ist das eigentlich ein Hobby von dir?“

„Was?“

„Irgendwelche Kolleginnen davon zu überzeugen, bei dir einzuziehen?“, meinte sie.

Er räusperte sich, hustete überrascht, als hätte er sich verschluckt. „Ähm. Nein. Und … Ich habe kein …“ Er rang um Worte, schien sich rechtfertigen zu wollen. „Also du darfst nicht denken, dass ich sie … Na ja.“

Sie lachte, schüttelte nur wieder den Kopf. „Entspann dich. Ich glaube nicht, dass du Interesse an ihr hast. Wie alt ist sie? 18? Du könntest locker ihr Vater sein.“

Noch einmal räusperte er sich. „Ähm, ja.“

Sie nahm die Pfanne vom Herd, stellte die Herdplatte aus. „Glaub ja nicht, dass ich eifersüchtig wäre. Ich will nur sichergehen, dass du dich mit deiner Gutmütigkeit nicht übernimmst.“

Heidenstein zögerte, nahm dann ihre Hand, zog daran, um ihr zu bedeuten sich ihm zuzuwenden. „Hör zu, Pakhet. Darum geht es nicht. Mir … Das hier ist jetzt auch deine Wohnung. Ich frage dich ernsthaft, ob es dich stören würde, wenn Hazel für eine Weile hier mit herzieht.“

Sie seufzte. „Es stört mich nicht. Aber du weißt, dass sie, wenn es einen Angriff gibt, ebenfalls in Gefahr bringt.“

„Ja.“ Er schürzte die Lippen. „Ansonsten stört es dich wirklich nicht?“

Beinahe schien er zu hoffen, dass sie „Ja“ sagen würde. Warum?

Dann wurde es ihr klar. So waren sie hier zu zweit. Sie hatten soetwas wie Privatssphäre und egal, wie sie es zu ignorieren versuchte, so gab er sich doch von Zeit zur Zeit der Illusion hin. Die Sache war, dass sie zugegebenermaßen ihre Privatsphäre nicht missen wollte. Vor allem nicht, wenn sie an Michael dachte.

„Sagen wir es so“, meinte sie schließlich. „Mir wäre es lieber, wenn sie nicht in der Wohnung wäre, solange ich nicht sicher weiß, inwieweit Michael sie kontrolliert.“

Heidenstein holte Luft, setzte an, um etwas zu erwidern, brach ab, begann erneut: „Okay. Woanders im Krankenhaus?“

Sie seufzte, lächelte. Beinahe hätte sie eine Hand auf seine Wange gelegt, unterdrückte diesen Impuls jedoch. „Ich denke, damit ließe sich arbeiten, ja.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du bist ein Idiot, die ganze Zeit anderen helfen zu wollen.“

„Ist das ein Kompliment?“

Sie zuckte mit den Schultern, wandte sich dann den Schränken in der Küche zu. „Such's dir aus.“

[28.10.2011 – SI06 – Frauenabend]

„Und was genau willst du besprechen?“, fragte Pakhet und sah sich unsicher in dem Pub um.

Siobhan schaute sie verschmitzt an. „Ich habe nicht davon gesagt, dass ich etwas besprechen will.“ Sie nippte an der Guinnessflasche auf eine Art, die in anderem Kontext wohl aufreizend gewirkt hätte.

Pakhet seufzte. „Und warum?“ Sie musterte relativ lustlos ihre eigene Flasche.

Sie saßen an einem Tisch in einem Irish Pub. Im Hintergrund wurde irgendein Fußballspiel übertragen, dessen deutlich irischer Kommentator die ganze Zeit Spielbeschreibungen in den Raum brüllte. Obwohl das Spiel lief, schallte außerdem relativ laute, klischeehafte irische Musik durch den Raum, als wollte man garantieren, dass sie den Pub mit Kopfschmerzen verließ.

Die meisten Besucher waren Männer, kaum verwunderlich. Weiße waren beinahe in der Überzahl. Was erwartete man auch von einem Irish Pub?

„Ach, komm, zieh nicht so ein Gesicht“, meinte Siobhan und stieß mit ihrer Flasche leicht gegen die Pakhets. „Trink. Mach dir eine gute Zeit.“

Pakhet hob die Flasche, trank einen tiefen Schluck. Es war definitiv nicht ihre Biermarke. „Und was ist das hier dann?“

„Weiberabend.“ Siobhan grinste. „Komm schon. Wir trinken, bis wir nicht mehr stehen können, quatschen und du entspannst dich einmal.“

„Du bist dir dessen bewusst, dass ich nach Hause kommen muss?“, fragte Pakhet. Einmal davon abgesehen, dass sie den Gedanken nicht mochte, betrunken zu sein. Ihre Aufmerksamkeit wäre eingeschränkt. Auch wenn sie ihre magisch verstärkte Lederweste unter ihrer schwarzen Bluse trug, so war es absolut möglich, dass jemand auf sie feuerte, sie verletzte oder sogar tötete.

Siobhan schien dahingehend unbesorgt. „Dann ruf dir ein Taxi.“

„Raus in die Flats?“

„Okay. Ruf deinen Doc an. Der holt dich garantiert ab. Im Notfall ruf sogar ich ihn für dich an.“ Sie zwinkerte.

„Ich glaube nicht, dass er davon begeistert wäre“, murmelte Pakhet. Dennoch nippte sie am Bier. Sie mochte es nicht, aber sie vertrug genug, als dass sie ein Bier trinken wollte.

Siobhan verdrehte die Augen. „Jetzt sei keine Spaßbremse. Du musst auch mal entspannen. Und irgendwie sehe ich aktuell nicht, wie wir das hinbekommen.“ Sie musterte sie. „Komm. Und wenn ich dir ein Hotelzimmer bezahlen muss.“

Missmutig fixierte Pakhet ihr Bier. „Warum auf einmal das Interesse?“

„Weil du es gebrauchen kannst.“ Siobhan schmunzelte, sah zur Bar hinüber. „Reicht das nicht?“

„Du bist dir dessen bewusst, dass die letzte Person, mit der ich einen sozialen Abend verbracht habe, angeschossen wurde?“

Siobhans Antwort wurde von einem Schulterzucken begleitet. „Trixie hält draußen Wache. Also komm. Entspann dich.“ Sie grinste. „Ich weiß was.“ Ohne eine Erklärung davon, was sie wusste, stand sie auf und ging zur Theke hinüber, die relativ gut befüllt war.

Kein Wunder. Es war Samstag.

Pakhet seufzte schwer, lehnte sich auf der lederüberzogenen Sitzbank zurück, legte die Arme hoch. Sie sah zur Decke, atmete tief durch.

Unrecht hatte Siobhan nicht. Sie konnte Entspannung gebrauchen. Sie sollte sich einmal wieder ausruhen. Die letzte Woche war stressig gewesen und die Infos, für die sie in dieser verdammten Firma war, hatte sie noch immer nicht. Sie war schon am überlegen, alternative Taktiken zu versuchen. Immerhin war der Chef der Sicherheit ein Kerl. Also konnte sie vielleicht so aus ihm etwas herausbekommen. Vielleicht. Doch während es einfach für sie war, ein Date für den Abend, einen Typen für einen One-Night-Stand zu finden, war es etwas anderes, jemanden dazu zu verführen, seinen Job zu vernachlässigen.

Noch immer machte sie sich wegen Michael Gedanken. Irgendwann würde sie nicht mehr weiterwissen. Irgendwann musste sie sich entscheiden.

Ach, was war ihr Leben nur so kompliziert? Konnte es nicht dazu zurückkehren, wie es einmal gewesen war? Doch würde sie dafür so viel aufgeben müssen. Zu viel. Wann war es zu viel geworden?

Mit einem dumpfen „Klonk“ stellte Siobhan eine große Flasche und zwei Gläser auf den Tisch, entschwand dann noch einmal in Richtung der Bar. Dann kam sie mit einer Schüssel Pommes zurück.

Pakhet musterte die Flasche. Es war ein Whiskey. Nicht der beste, aber auch nicht unbedingt schlecht.

„Du weißt, wie furchtbar diese Mischung für die Figur ist?“, fragte Pakhet.

Siobhan sah sie abschätzig an. „Ach komm, du kannst nicht immer daran denken.“

„Mein Job ist es, physisch fit zu sein“, erwiderte Pakhet. „Ich kann mir keinen zu hohen Fettanteil erlauben.“

„Ach, bitte, Mädchen. Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nie besäufst.“

Pakhet schürzte die Lippen, sagte aber nichts. Natürlich betrank sie sich. Was auch sonst?

Siobhan stellte eins der kleinen Schnapsgläser vor sie. „So. Wenn schon dann richtig.“

„Also willst du mich abfüllen?“

Ein Grinsen. „So in etwa.“ Sie füllte auch sich das Glas ab, hob es. „Auf. Komm schon.“

Pakhet lächelte matt, verdrehte die Augen und hob dann das Glas. „Wegen meiner.“ Sie leerte das Glas. Dabei war es eigentlich eine Verschwendung des guten Whiskeys. „Glaubst du nicht, was billigeres wäre dafür besser?“

„Ach, wenn ich dich abfülle, dann mit Stil.“ Sie füllte beide Gläser auf.

Auch dieses Glas leerte Pakhet. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Sie wollte Siobhan nicht vor den Kopf stoßen. Dennoch fühlte es sich seltsam an. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal mit einer anderen Frau „abgehangen“ war. Sie war einfach immer besser mit Kerlen klargekommen. Schon in der Schule.

Sie seufzte, als sie das Glas absetzte. „Und jetzt?“

„Jetzt tratschen wir“, meinte Siobhan.

Pakhet musterte sie. „Und worüber?“

„Wie wäre es mit Männern?“

Leise lachte Pakhet, lehnte sich wieder zurück. „Was gibt es zu Männern zu sagen?“

„Einiges“, meinte Siobhan. „Was magst du in einem Mann?“

Weiter lachend, verdrehte Pakhet die Augen. „Glaubst du nicht, dass man mit den Fragen warten sollte, bis ich mehr getrunken habe?“

„Meinst du?“

„Definitiv“, erwiderte Pakhet. „Wenn diese Fragen überhaupt sein müssen.“

„Oh ja, das müssen sie.“ Siobhan grinste, füllte die Gläser wieder auf. „Was soll man auch sonst bereden? Immerhin ist der Job kaum möglich, hmm?“

„In vagen Formulierungen schon. Sowas, wie: Mein Chef ist ein Arsch. Es würde mich nicht wundern, wenn mein Chef jemanden losgeschickt hat, um mir auch hier hinterher zu spionieren.“

„Glaubst du wirklich, dass er das tut?“

Pakhet zuckte mit den Schultern, nahm das aufgefüllte Glas. „Ich weiß es. Es hat mir in der Vergangenheit schon hinterher spionieren lassen.“

„Und die Meinung kannst du ihm nicht sagen, eh?“

„Natürlich nicht.“ Pakhet murrte, füllte sich das Glas nun selbst nach. „Er hat zu viel Macht über mich und ich hasse es. Er will mich kontrollieren.“ Sie leerte das Glas. „Ich hasse das Arschloch.“

Auch Siobhan leerte ein weiteres Glas. „Verstehe ich. Solltest du je mal Hilfe damit brauchen, ruf Trixie dazu.“

„Was will die Möwe denn tun?“

„Fensterverschönerung.“ Erst grinste Siobhan, dann brach sie in ein gellendes Lachen aus. Sie lehnte sich zurück.

Auch Pakhet schmunzelte. Sie nahm wieder das Bier. Sonst wäre der Whiskey zu schnell leer. „Was machst du eigentlich beruflich?“

Siobhan versuchte ihren Lachkrampf unter Kontrolle zu bekommen, holte tief Luft. „Normal? Kleine magische Hilfsarbeit.“

„Und das heißt?“ Pakhet hob eine Augenbraue, während sie wieder an einem Bier nippte.

„Zum ersten: Ich verkaufe magische Gegenstände in einem Laden“, erwiderte Siobhan. „Zusammen mit zwei anderen.“ Die Art, wie sie es formulierte, sagte, dass sie wohl nicht mehr über die Identität der beiden preisgeben würde. „Meistens an Touristen. An Leute hier bieten wir Hilfe an. Exorzismen vorrangig. Manchmal nehmen wir auch mit toten Vorfahren Kontakt auf oder versuchen es zumindest.“

Pakhet verzog das Gesicht. Sie konnte nicht anders. Sie mochte den ganzen Kram mit Totengeistern nicht, nicht zuletzt, da sie sich nicht sicher war, inwieweit sie daran glaubte, an Geister oder Seelen oder ein Leben nach dem Tod. Doch das war eine Diskussion für einen anderen Tag. Zumindest sprach Siobhan sie nicht auf ihre Grimasse an.

Siobhan trank einen großen Schluck aus ihrem Bier. „Du bist rein Söldnerin, richtig?“

„Ja“, erwiderte Pakhet. „Und ich arbeite im Krankenhaus von Heidenstein.“

Ein dünnes Lächeln. „Verstehe.“ Die Augen der Druidin glänzten.

Pakhet murrte, trank. Warum spielte sie hier noch einmal mit? Sie konnte praktisch spüren, wie Siobhan darauf gierte, bestimmte Fragen zu stellen.

Sie nahm sich einen Pommes. Die Dinger waren schon ordentlich abgekühlt.

Siobhan hielt sich jedoch zurück. Sie begann auch zu essen, während ihr Blick durch den Raum wanderte. „Hmm“, machte sie schließlich, noch immer an einem Pommes kauend.

„Hmm?“, echote Pakhet und musterte sie fragend.

„Was machst du aktuell auf deinem Job?“

Pakhet trank einen weiteren Schluck. „Das ist ein Geheimnis.“

„Ach, komm schon. Du musst ja keine Namen nennen.“

Pakhet verdrehte die Augen. „Ich versuche Informationen von einem viel zu reichen Typen zu bekommen.“

„Und hast sie noch nicht?“, schloss Siobhan.

Sie zuckte mit den Schultern. „Sie sind paranoid da. Muss meinen Plan ändern. Keine Ahnung.“ Sie nahm eine weitere Hand voll Pommes.

„Und wie kommst du generell an Informationen?“

Wieder ein Schulterzucken. Was konnte sie schon groß dazu sagen? „Situationsabhängig. Mal kann man sich reinschleichen, kommt direkt heran. Mal muss man die richtigen Leute bestechen, mal mit den richtigen Leuten schlafen.“

„Böse“, lachte Siobhan, schien davon jedoch eher amüsiert.

„Und manchmal reicht es einfach, den richtigen Leuten in die Fresse zu schlagen.“

Das Lachen Siobhans wurde noch lauter. Sie verschluckte sich an ihrem Bier, begann zu husten, lachte dennoch prustend weiter.

Pakhet kam selbst nicht umher leise zu lachen. „Alles okay?“

Die Antwort war nur weiteres Lachen, während die Druidin bemüht schien, sich wieder zu beruhigen. Dennoch brauchte sie sicher eine Minute, bei der sie auch die Aufmerksamkeit einiger Sitznachbarn auf sich zog. Schließlich aber holte sie tief Luft. „Ich sehe, vielfältige Methoden.“

Pakhet sah sich um. Sie mochte es nicht, so viel Aufmerksamkeit zu haben. „Kann man so sagen.“

Siobhan musterte sie. „Okay. Chancengleichheit. Du kannst mich etwas fragen.“

„Großartig.“ Wieder verdrehte Pakhet die Augen. Die Wahrheit war, dass sie nicht wirklich wusste, was sie die Druidin fragen sollte. Sie überlegte. „Was hat es jetzt genau mit der Möwe auf sich?“

Während Siobhan zu einer Antwort ansetzte, füllte Pakhet ihr Glas wieder auf.

„Nun, sie ist mein persönlicher Schutzgeist. Manche Magier können zusätzliche Kraft daraus ziehen, sich mit einem Geist zu verbünden und deswegen habe ich Trixie.“

„Verstehe.“ Eigentlich verstand sie nichts. Geister waren ihr immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Sie wusste, das es sie gab, doch was sie überhaupt von Fae unterschied, verstand sie nicht. Hauptsache war meistens ohnehin nur, wie sie sich dagegen wehrte.

„Und ich habe es mit Trixie ziemlich gut erwischt“, fuhr Siobhan fort. „Einige Magier dürfen einiges dafür tun, ihre Geister bei Laune zu halten. Trixie gibt sich meistens mit Fisch zufrieden.“

„Sie ist also immer so verfressen“, murmelte Pakhet.

Auf den fragenden Blick Siobhans hin erklärte sie: „Ach, ich habe gehört, sie erledigt generell Aufgaben für den richtigen Preis in Fisch.“

„Ah, du meinst wegen Jack.“

Pakhet nickte.

„Ja, Jack hatte nach der Sache mal um die Hilfe von Trixie als Spionin gebeten und ja, darin ist sie ziemlich gut.“

Pakhet trank weiteren Whiskey. Mittlerweile merkte sie, wie der Alkohol ihr zu Kopf stieg. Sie war nicht betrunken, doch deutlich angetrunken. Wahrscheinlich würde sie schwanken, wenn sie einmal aufstand.

„Jack ist schon ein Netter“, bemerkte Siobhan, offenbar im Beschluss, dass sie nun angetrunken genug für das Einstiegsthema waren.

„Hmm?“

„Ich meine nur. Er ist hübsch“, erwiderte Siobhan vielsagend. „Und sehr verspielt, scheint mir.“

„Du meinst, er flirtet mit beinahe allem und jedem?“

Siobhan grinste. „Ja, so kann man es auch sagen.“

Pakhet seufzte leise. Sie hatte immer noch dieses miese Gefühl, was Jack anging. „Du weißt, dass er letzte Woche angeschossen wurde, oder?“

„Ja, ich habe davon gehört. Ich habe mit ihm telefoniert.“

Zugegebenermaßen kam Pakhet nicht umher, bei dieser Anmerkung aufzusehen. „Aha?“

Siobhan schenkte ihr ein geheimnisvolles Lächeln, das jedoch schnell wieder zu einem Grinsen wurde. „Nein. Ich habe nur wegen einem seiner Fälle mit ihm geredet. Nicht, dass ich abgeneigt wäre. Aber er … Ich glaube er flirtet nur zum Spaß.“

„Oder aus Hoffnung, jemand wirklichen zu finden“, murmelte Pakhet.

„Ja, oder das.“ Siobhan sah sich wieder um. „Hmm, wenn du einen Kerl hier abschleppen könntest. Welchen würdest du nehmen?“

Schon wieder verdrehte Pakhet die Augen, ehe sie sich davon abhalten konnte. Solche Fragen kamen ihr albern vor. Leider war ihr alkoholbetäubtes Gehirn dem Vorschlag doch zugesprochen, weshalb sie sich umsah, bevor sie sich beherrschen konnte. Dann aber wandte sie sich Siobhan zu. „Im Moment? Niemanden.“

Siobhan ließ ihren eigenen Blick durch den Raum wandern. „Also persönlich würde ich zu dem Schokobubi drüben an der Bar nicht Nein sagen.“ Sie nickte in die Richtung.

Pakhet wandte sich um, guckte den Mann an, den sie meinte: Einen relativ dunklen, athletisch gebauten Afrikaner, mit rasiertem Schädel und auffälligem Ohrring. Sie sah wieder zu Siobhan, zuckte nur mit den Schultern.

„Ach komm schon“, meinte Siobhan. „Gibt es hier niemanden?“

Missmutig sah Pakhet sich noch einmal um. Natürlich gab es hier ein paar Typen, die sie früher vielleicht versucht hätte abzuschleppen. Es blieb jedoch so, dass sie im Moment, seitdem die ganze Sache mit dem Menschenhandel angefangen hatte, nur einmal rausgegangen war. Ansonsten … Sie hatte Heidenstein. Ein besorgniserregender Gedanke. Doch im Moment … Es war soviel sicherer. Es war vertrauter.

Sie zuckte mit den Schultern. „Im Moment nicht, nein. Nicht hier.“

Siobhan musterte sie. „Ist es wegen deinem Doktor?“

„Was?“

„Diesem Doctor Heidenstein“, erwiderte Siobhan. „Seid ihr zusammen?“

„Nein“, murmelte Pakhet. Sie leerte ihr Glas und musterte es. „Wir sind nicht zusammen.“

„Aber ihr schlaft miteinander.“ Wahrscheinlich hatte Siobhan von Anfang an auf das Thema hinausgewollt.

Pakhet stöhnte genervt, stellte das Glas ab und lehnte sich zurück. „Von Zeit zu Zeit“, gab sie dann zu.

„Und?“

„Was 'und'?“

„Und läuft da mehr?“

Wieder gab Pakhet einen verächtlichen Ton von sich. „Nein. Ich bin niemand für Romanzen.“ Warum sprachen das Thema in letzter Zeit eigentlich alle an? Gott, was war es nur, dass sich die Leute so sehr für das Liebesleben anderer interessierten? Sie fragte doch auch niemanden aus, mit wem er gerade Sex hatte und aus welchen Gründen.

„Verstehe“, murmelte Siobhan.

Ach, verdammt. Dann fragte sie halt doch. Es war besser, als das Thema so weiter zu ergründen. „Und du hast keine Beziehung, oder was?“

[29.10.2011 – D48 – Kater]

Kopfschmerzen. Übelkeit. Vor allem grauenvolle Kopfschmerzen.

„Fuck.“

Pakhets Mund war trocken.

Warum zur Hölle fühlte sie sich so hundeelend? Moment. Wo war sie überhaupt? Sie war gerade aufgewacht, oder? Verdammt. Was war hier los. Sie fühlte sich, als hätte Crash sie verdammt noch mal niedergetackelt. Und ihr war so furchtbar übel.

Sie blinzelte. Es war dunkel im Zimmer. Nur wenig Licht kam unter der Tür hindurch. Aber es bestand kein Zweifel: Sie war in ihrem Zimmer im Krankenhaus.

„Scheiße.“ Sie konnte sich noch immer nicht ganz zusammenreimen, warum sie sich so furchtbar fühlte. Zumindest war sie sicher und allem Anschein her unverletzt.

Sie schloss wieder die Augen, überlegte, was genau passiert war. Irgendwann kam ihr auch wieder die Erinnerung an die vergangene Nacht. Sie war mit Siobhan in einem Irish Pub gewesen. Sie hatten getrunken. Sie hatten getratscht. Worüber genau hatten sie getratscht?

Sie wusste es nicht mehr wirklich. Alles war ein wenig undeutlich, verschwommen. Verdammt. Alles was sie wusste, war, dass sie über Michael geschimpft hatte. Ach ja, und dann war das Gespräch irgendwann zu Jack und dann zu Heidenstein gewandert. Sie hatte nicht zu viel gesagt, oder? Ach, verdammt. Es gab nicht viel zu sagen. Sie waren Freunde mit Vorzügen. Sie waren Freunde mit Vorzügen. Das war's. Sie waren Freunde mit Vorzügen. Hatte sie das Siobhan erzählt? Sie wusste es nicht.

Sie lag da, verfluchte sich. Verdammt. Warum hatte sie sich darauf eingelassen. Mädelsabend? Was für eine beschissene Idee.

Dennoch meinte sie sich erinnern zu können, dass sie Spaß gehabt hatte. Großartig. Entwickelte sie jetzt wirklich noch ein Sozialleben?

Die Kopfschmerzen ließen nicht nach. Sie würde Kopfschmerztabletten brauchen. Und sie musste aufs Klo. Verdammt. Sie wollte nicht aufstehen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihr Kopf explodieren würde, wenn sie versuchte, sich in die Senkrechte zu bewegen. Doch sie konnte nicht viel länger warten.

Ächzend richtete sie sich auf. Auch wenn Heidenstein ihr nicht glauben würde, hätte sie ihm deutlich sagen können, dass sie sich gerade zu hundert Prozent mieser fühlte, als nachdem sie der verdammte Blitz getroffen hatte.

„Fuck“, murmelte sie nur wieder und kämpfte sich auf die Beine. Ja, sie hatten es gestern Abend deutlich übertrieben. Wie viel hatten sie eigentlich getrunken? Nur von einem Bier und einer halben Flasche Bier war sie deutlich nicht so betrunken. Doch sie meinte sich auch an mehr erinnern zu können. Likör, Sekt, Schnaps. Siobhan war nach einer Weile experimentell geworden. Einzelne Momente waren noch deutlich in ihrer Erinnerung geblieben. Beinahe wunderte es sie, dass Siobhan nicht gezaubert hatte. Das wäre doch etwas gewesen.

Sie schwankte zur Tür des Zimmers, öffnete sie und wurde von dem Sonnenlicht, dass durch das Fenster der Küche und die offene Tür schien. „Fuck“, fluchte sie erneut.

Der Fernseher lief. Heidenstein schaute, schrieb dabei irgendetwas auf einem Block, wie er es öfter machte. Nun sah er jedoch auf und konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. „Guten Morgen, meine Liebe.“

Sie murrte. „Kopfschmerztabletten.“

Wie war sie eigentlich hierher gekommen? Hatte Siobhan wirklich Heidenstein für sie gerufen? Daran konnte sie sich wirklich nicht mehr erinnern.

„Hast du gut geschlafen?“ Offenbar konnte sich Heidenstein ein wenig Schadenfreude nicht verkneifen.

Sie machte einen verächtlichen Laut, schwankte zur Badezimmertür hinüber. „Normalerweise bist du besorgter.“

„Normalerweise bist du auch wirklich verletzt, anstatt dich selbstständig und vollkommen freiwillig mit Alkohol zu vergiften“, erwiderte er.

„Ich hatte noch keine Alkoholvergiftung“, murrte sie und verschwand im Bad, wo das Licht sie nur noch mehr blendete. Verdammte Sonne. Es war Regenzeit zur Hölle. Konnte es nicht bewölkt sein?

Sie erledigte ihre Morgentoilette, entschloss sich dann eine kalte Dusche zu nehmen, in der Hoffnung, dass es gegen ihren Kater helfen würde. Es half auch. Etwas. Doch zur Hölle, so verkatert war sie seit ewigen Zeiten nicht mehr gewesen.

Sie trank häufig. Sie konnte gut trinken. Es gehörte mit zum Job. Immerhin war Abfüllen ebenfalls eine Methode, um an Informationen zu kommen. Wenn man jemand abfüllte, wollte man zumeist sicherstellen, dass man selbst am Ende noch bei Sinnen war, um die etwaigen Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Doch die Mischung gestern Abend war zu viel gewesen. Ob Siobhan vielleicht mit Magie nachgeholfen hatte? Wahrscheinlich nur ihre eigene Paranoia. Oder?

Ach, verdammt, nein, sie wollte nicht noch mehr Leuten misstrauen. Smith vertraute Siobhan, also sollte sie es auch tun, oder? Und soweit sie wusste, hatte sie sich am Abend vorher amüsiert.

Als sie endlich aus dem Bad kam, wehte der Geruch frisch gebrühten Kaffees an ihre Nase. Auf dem Tisch stand eine dampfende Kanne, sowie einer ihrer großen Kaffeebecher.

In Unterhose und Tanktop wankte sie zu Heidenstein hinüber und ließ sich neben ihn fallen. Sie seufzte. „Manchmal bist du ein Engel.“

Er lachte, legte eine Hand auf ihre Schulter, sah sie an. „Aber nur für dich.“

„Idiot.“ Sie füllte sich den Becher, hob ihn zu ihrer Nase und sog den Geruch des Kaffees gierig ein. Es sorgte dafür, dass sie sich deutlich besser fühlte. „Hast du mich gestern abgeholt?“

„Dich? Na ja, eine halbe Alkoholleiche“, erwiderte er und rieb ihre Schulter. „Aber ja, eine sehr lallende Siobhan hat mich angerufen.“

Pakhet nickte. „Danke.“ Sie trank. „Wie ist sie nach Hause gekommen?“

„Sie sagte sie fliegt.“ Heidenstein wirkte unsicher. „Wie gut ist eine andere Frage.“

Pakhet prustete in ihren Kaffee. Sie war deutlich leichter zu amüsieren, als normal, doch die Vorstellung einer Slalomlinien fliegenden Möwe erschien ihr im Moment zu komisch. „Vielleicht sollte ich sie später anrufen.“

Heidenstein zuckte mit den Schultern. „Ja, solltest du vielleicht.“ Dann lachte er. „Ich hätte dich nicht als jemanden eingeschätzt, der sich so besäuft.“

Sie leerte die Tasse, lehnte sich neben ihm zurück und sah ihn an. „Bin ich normalerweise auch nicht. Ich wurde hinterhältig abgefüllt.“

„Aha.“

„Wirklich.“

„Ja ja, als ich ob glaube, als dass man dich einfach heimlich abfüllen könnte“, erwiderte er. Er schüttelte den Kopf, klopfte dann noch mal auf ihre Schulter. „Aber freut mich, dass ihr Spaß hattet. Aber bitte … Halt dich das nächste Mal etwas zurück.“

Sie verdrehte die Augen, ehe sie sich abhalten konnte. „Aber sicher, Doc.“ Dann füllte sie sich Kaffee nach. Sie brauchte noch immer Kopfschmerztabletten.

[01.11.2011 – F07 – Dreck]

Pakhet fühlte sich dreckig. Sie war letzten Endes doch zu Plan B übergegangen. Hatte sich darauf eingelassen das Arschloch zu verführen. Es hatte funktioniert, irgendwie, und es war widerlich gewesen. Sie hatte ihn dann mit dem Betäubungsgift von Heidenstein ausgeknockt, doch zumindest hatte sie seinen Laptop mitnehmen können. Warum zur Hölle hatte kein Hacker den Job gemacht?

Sie wollte einfach nur zum Krankenhaus zurück, wollte sich Duschen und den Rest der Woche mit ihrem weitaus weniger beschissenen Security Job verbringen. Doch vorher musste sie eine Sache hinter sich bringen.

Mit einem Seufzen klopfte sie an der Tür, wartete nicht darauf, dass Michael antwortete und kam herein.

„Oh, meine liebe Ms Snyder, was kann ich heute für dich tun?“, meinte Michael und lächelte sie zuckersüß an.

Noch immer trug sie ihre Verkleidung von ihrem Job. Eine dunkle Perücke, die schwarze Security-Kleidung der Logistikfirma.

Sie packte die Tasche mit dem Laptop auf seinen Schreibtisch. „Die Daten von Helvan Logistics. Zumindest sein Laptop. Alles was ich ohne Hacker bekommen kann.“

„Ah, der Job den Smith dir gegeben hat, hmm?“, erwiderte Michael. „Es wundert mich, dass du schon damit fertig bist.“ Er nahm die Tasche, öffnete den Reisverschluss und holte den Laptop heraus. Er öffnete eine seiner Schubladen, nahm eine externe Festplatte daraus.

„Ja, der Job“, murmelte sie. „Ich werde für den Rest der Woche nicht hier sein.“

„Wieso das?“

„Erinnerst du dich nicht? Ich habe meine Stunden reduziert.“ Sie wandte sich zum gehen.

„Warte noch einen Moment“, erwiderte Michael, während er die externe Festplatte anschloss. Wahrscheinlich war darauf irgendein Hacking-Programm. Sie hatte es schon häufiger gesehen. Die meisten Hacker verließen sich auf solche vorbereiteten Programme.

Sie knurrte. „Warum?“

Wieder sah er sie mit dem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen an. „Vielleicht, weil ich noch ein wenig mit meiner liebsten Angestellten reden will.“

„Oh bitte, Michael. Spar dir den Scheiß“, murmelte sie. Sie hatte darauf heute wirklich keinen Bock mehr.

„Du bist immer so charmant.“ Er gab ein paar Sachen auf der Tastatur des Laptops ein, wartete dann.

Auch sie sprach nicht. Es gab einfach nichts, was sie Michael zu sagen hatte. Sie wollte nicht mit ihm reden, wollte nicht hier sein. Verdammt, sie wollte zum Krankenhaus zurück. Ruhe haben, eine Dusche, vielleicht ein Bad.

Dann breitete sich das Lächeln auf Michaels Gesicht zu einem Grinsen aus. „Na wer sagt es denn.“ Er sah sie an. „Ja, ich denke hiermit können wir arbeiten.“

„Sehr gut“, erwiderte sie und wandte sich.

„Ich sage doch, du bist einfach unbezahlbar, Joanne“, meinte Michael. „Warum können wir nicht weitermachen, wie bisher?“

Sie sah auf ihre Hand, die auf der Türklinke lag. „Vielleicht, weil ich einfach nicht mehr weitermachen will? Weil ich nicht auf einem dieser Jobs sterben will?“

„Und wie willst du dann sterben?“, fragte Michael. „Auf einer Mission als selbsternannte Superheldin?“

„Nicht Superheldin.“ Nicht einmal eine Heldin. „Aber wenn ich sterbe, weil ich das Richtige tue, dann soll es mir recht sein.“

„Richtig und falsch liegen im Auge des Betrachters, Joanne“, meinte Michael.

„Na und?“ Sie sah sich noch einmal zu ihm um. „Ich weiß nur, dass ich tun will, was ich selbst für richtig halte.“

Michael verdrehte die Augen, zuckte mit den Schultern. „Ich werde dich nicht verstehen.“ Er schüttelte den Kopf.

„Musst du nicht“, antwortete sie kühl. „Kann ich jetzt gehen?“

Ein ratloses Seufzen war erst Michaels einzige Antwort. Dann aber klappte er den Laptop zu. „Natürlich. Was auch immer du willst, Joanne.“ Irgendwie schaffte er es dabei, ihren Namen wie eine Drohung klingen zu lassen.

[03.11.2011 – C10 – Krankenpflege]

Securityarbeit im Krankenhaus war nicht unbedingt das spannendste. Immerhin passierte hier selten etwas, das Security erforderte und meistens kümmerten sich wenn die Muskeln, die Heidenstein von Victor geliehen hatte darum. Stattdessen kümmerte sie sich um den dazugehörigen Verwaltungskram, etwas wovon sie eigentlich sehr wenig Ahnung hatte. Doch nichts, was man nicht im Internet lernen konnte. Sie hielt ihn dennoch für einen Idioten, ihr einen Job zu überlassen, von dem sie keine Ahnung hatte. Selbst wenn sie nun drei richtige Sicherheitsmitarbeiter, die nicht von den Vory kamen, angeheuert hatten. Es war albern. Doch irgendwie schaffte sie es schon. Zumindest musste sie dafür auf niemanden schießen und mit niemanden schlafen.

Auf den unglaublichen Spaß, einen Finanzplan für das Quartal zu erstellen, konnte sie dennoch verzichten. Dieses verdammte Programm wollte nicht kooperieren und die Tatsache, dass sie mit ihrer linken Hand nicht wirklich tippen konnte, da die Prothese gut, aber nicht so gut war, half ebenso wenig.

Entsprechend war sie beinahe dankbar, als ihr Handy klingelte. Sie griff danach, speicherte die verdammte Tabelle zwischen, und hob dann ab. „Ja. Pakhet hier?“ Es war ihr Arbeitshandy.

„Pakhet. Gut.“ Das war die tiefe Stimme Crashs. Er klang sauer.

„Alles okay, Großer?“ Sie drehte sich auf dem Bürostuhl um.

„Bei mir schon“, brummte er.

Alles konnte nicht okay sein. Crash hasste es zu telefonieren. Immerhin bedeutete es, dass er reden musste, um eindeutig zu kommunizieren.

„Was ist los?“, fragte sie. Denn wenn bei ihm alles okay war, hieß es wohl, dass mit jemand anderem etwas nicht okay war.

„Murphy. Krank.“

Im Hintergrund auf seiner Seite der Leitung war ein Aufschrei zu hören: „Hey!“ Etwas raschelte im Hintergrund. Es folgte ein Husten.

„Leg dich wieder hin“, brummte Crash, offenbar an Murphy gewandt.

Weiteres Husten. Dann: „Mir geht es gut!“

„Ich höre“, meinte Pakhet. „Wart ihr beim Arzt?“

„Nein“, brummte Crash. „Knirps will nicht.“

„Und?“

„Und ich dachte …“ Er brach ab. „Kann ich ihn bringen?“

Für einen Moment war Pakhet verdattert, doch dann verstand sie die Logik. Wahrscheinlich wollte Crash nicht in einer Arztpraxis mit seinem vermeintlichen Manager diskutieren und wenn Murphy nicht wollte, würde er garantiert diese Gestalt annehmen, und sei es nur um Crash zu nerven.

Sie seufzte. Etwas zog sich in ihrer Brust zusammen. Sie sorgte sich um den Jungen. Schon wieder sorgte sie sich um den Jungen. Verdammt. „Natürlich kannst du ihn vorbei bringen. Ich sag dem Doc Bescheid.“

„Danke“, brummte Crash. „Ich packe ihn ins Auto.“

„Das wirst du nicht!“, protestierte Murphy im Hintergrund wieder.

„Bin in einer Viertelstunde da.“ Damit legte Crash ohne ein Wort des Abschieds auf.

Pakhet sah auf ihr Handy, dann auf den Bildschirm des Rechners, an dem sie gearbeitet hatte, und seufzte. Verdammt. Warum sorgte sie sich nur so sehr um den Jungen? Nun, zumindest war sie wohl nicht die einzige. Denn bei allen Streitereien schien es Crash nicht anders zu gehen. Sonst hätte er nicht angerufen.

Dummer Rabenjunge. Warum musste er auch krank werden? Warum weigerte er sich, sich auszukurieren?

Sie schüttelte den Kopf, stellte den Rechner in den Standbymodus und machte sich dann auf den Weg Heidenstein zu suchen.

[03.11.2011 – M27 – Beförderung]

„Darf ich anmerken, dass du dir vielleicht etwas zu viele Sorgen machst?“, fragte Heidenstein, während Pakhet im Flur vor seinem Büro in der Straßenklinik auf und ab lief.

Sie blieb stehen, sah sich zu ihm um. „Das sagt Herr Ständig-Überbesorgt?“

Er verdrehte die Augen. „Ja, das sagt Herr Ständig-Überbesorgt.“ Er stand auf und ging zu ihr hinüber. „Von allem, was du sagst, klingt es, als hätte der Junge sich eine ordentliche Erkältung eingefangen, vielleicht eine echte Grippe.“

Sie ließ ein langes Seufzen hören. „Ich weiß. Fuck. Ich mache mir dennoch Sorgen um den Jungen.“ Sie blickte auf ihr Handy. Crashs Anruf war mittlerweile beinahe eine Stunde her. „Wo bleiben die?“

„Wahrscheinlich hat Crash erst einen Raben jagen müssen“, meinte Heidenstein und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Komm schon. Sie kommen sicher bald.“

Gerne hätte sie etwas Schnippisches erwidert, doch wusste sie, dass er Recht hatte. Sie machte sich zu viele Sorgen. Sie war irrational. Sie sollte sich nicht so sehr um den Jungen sorgen. Es war albern. Es war übertrieben. Also schürzte sie die Lippen, nickte aber. „Okay.“ Sie folgte ihm in sein Büro, setzte sich auf die Liege neben seinem Schreibtisch.

„Was ist, wenn es was anderes ist?“, fragte sie dann.

„Was anderes?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wir wissen, dass Murphy kein Mensch ist.“ Sie dachte nach, dachte an das, was Michael gesagt hatte, als sie in der Eisdiele waren. „Ich glaube, er hat Fae-Blut.“

„Fae, eh?“, meinte Heidenstein. Dann seufzte er. „Ich habe auch schon Fae behandelt. Es ist nicht mein Fachgebiet, aber ich bin mir sicher, dass mir auch da etwas einfällt.“ Er saß auf seinem Bürostuhl und drehte sich nun zu ihr um. Er zog mit den Beinen den Stuhl an, um zu ihr zu kommen und nahm ihre Hände. „Du vertraust mir. Als Arzt. Oder?“

„Natürlich tue ich das, du Idiot. Sonst hätte ich dich nicht an der Brandwunde rumnähen lassen, oder?“

Er lächelte. „Siehst du?“

Da erklang ein kleiner Tumult aus dem Treppenhaus. Husten. Dann lauten Protest. „Jetzt lass mich runter, du alter Troll. Ich komme schon klar.“ Weiteres Husten. Die Stimme des Jungen war heiser. „Glaubst du nicht, dass du übertreibst? Ich brauche kein Krankenhaus.“

„Du brauchst Ruhe“, erwiderte Crash in seiner tiefen Stimme und öffnete offenbar die Tür zum Flur des Untergeschosses. „Hier bekommst du Ruhe.“

Pakhet stand auf und ging in den Flur hinauf.

Wäre sie nicht so besorgt gewesen, hätte sie wahrscheinlich gelacht. Crash hatte Murphy, der trotz allem seine Teenager-Gestalt trug, unter den Arm geklemmt und trug ihn so bei sich, während der Junge sich mit Händen und Füßen zu befreien versuchte, jedoch immer wieder scheiterte, hustete.

Als er sie erreicht hatte, setzte Crash Murphy mit einem Brummen ab.

Der Junge sah sie an, hustete.

„Kid?“, fragte Pakhet.

„Pakhet“, erwiderte Murphy und blickte sich um. Seine Augen waren wässerig, seine Nase lief und ganz offenbar war er nicht dazu gekommen, sie zu putzen. Seine Wangen waren deutlich gerötet. Dann hustete er wieder.

Bestimmt packte Pakhet ihn bei der Schulter und sah zu Crash. „Danke“, hauchte sie, und schob den Jungen in einen der Behandlungsräume.

„Jetzt übertreib du nicht auch noch“, beschwerte sich Murphy. „Ich bin nur etwas erkältet. Nichts, worum man so einen Aufstand machen müsste. Garantiert nichts, wozu ich ins Krankenhaus sollte. Ich kann arbeiten.“

Pakhet fühlte seine Stirn. Wie erwartet glühte sie beinahe. „Du hast Fieber.“

„Nicht der Rede wert“, erwiderte Murphy.

Sie brummte, wie es Crash wohl auch gemacht hätte, und gab ihm ein paar Tücher vom Spender über dem Waschbecken. „Putz dir die Nase.“

Murphy stöhnte genervt und schenkte ihr einen strafenden Blick. „Ja, Mum.“

Überrascht und vielleicht auch etwas ungläubig starrte sie den Jungen an. Er hatte das Wort wie eine Beleidigung ausgesprochen und sah sie nun trotzig an.

Heidenstein lachte. „Oh, eine Beförderung?“ Er stand in der Tür und kam nun rein, wusch sich routiniert die Hände und kam dann zu ihnen.

„Sie verhält sich wie so eine bemutternde Glucke!“, erklärte Murphy heiser. „Mir geht es gut, Doc!“

Heidenstein sah ihn sich an, fühlte wie Pakhet seine Stirn, stellte sich dann vor ihn, um ihn genauer in die Augen zu sehen. Er tastete seine Nebenhöhlen ab, was weiteren Protest vom Jungen einbrachte.

„Aua!“

Heidenstein seufzte, holte dann eine kleine Taschenlampe aus seiner Tasche, ehe er in einer Schublade nach einem Spachtel kramte. „Komm, Murphy, lass dich behandeln.“

Wieder hustete der Junge, nicht ohne Heidenstein einen strafenden Blick zu schenken. Dann verdrehte er betont genervt die Augen. „Okay. Klar. Wegen meiner.“ Er verzog die Lippen zu einem Schmollen, öffnete aber den Mund. „Aaaaah.“

Heidenstein untersuchte ihn weiter. Schaute ihm in den Hals, in die Ohren, zauberte dann ein Fieberthermometer aus einer weiteren Schublade hervor und steckte es Murphy unter den Arm. Er hörte seinen Rücken ab, während der Junge weiter hustete.

„Und, Herr Doktor, wann sterbe ich?“, fragte Murphy zynisch, als Heidenstein damit fertig war.

Heidenstein sah ihn matt lächelnd an. „Nicht so schnell, wenn ich etwas dazu zu sagen habe. Aber du hast dir eine ordentliche Grippe eingefangen.“ Das Fieberthermometer fing an zu piepen, wurde von Heidenstein entgegengenommen.

Auch Pakhet schaffte es draufzuschauen. 39,4. Das war eindeutig zu warm.

Heidenstein sah zu ihr, lächelte aufmunternd, wandte sich dann wieder Murphy zu. „Du bleibst erst einmal wirklich hier. Du kannst Ruhe gebrauchen und ich würde gerne ein Auge auf dich behalten, okay?“

„Muss das sein?“, murrte Murphy, offenbar gegen einen weiteren Hustenanfall ankämpfend.

Heidenstein klopfte ihm auf den Oberarm. „Es muss nicht, aber ich bestehe dennoch drauf.“

Murphy verdrehte die Augen, als Heidenstein aufstand und sich Pakhet zuwandte.

„Ich würde ihm ganz oben ein Zimmer vorbereiten. Kann ich es dir überlassen, ihm einen Zugang zu legen?“

„Du willst mich nicht an einen Tropf hängen, oder?“, murrte Murphy.

Heidenstein sah zu ihm. „Du bist dehydriert. Du brauchst Flüssigkeit.“

Pakhet nickte Heidenstein zu. „Kriege ich hin.“

Daraufhin nickte auch Heidenstein nur, ging in den Flur heraus. Er war wieder im Arzt-Modus.

Pakhet schüttelte nur den Kopf, wandte sich dann aber dem Jungen zu. „Leg dich hin, Kid.“

Erneut verdrehte der Junge seine Augen, kam aber ihrer Aufforderung nach. Er hustete zwei Mal kurz, sah sie dann an. „Und ich sage euch, ihr übertreibt.“

„Dann lass uns übertreiben“, meinte sie und ging zum Schrank hinüber, um eine Schmetterlingskanüle aus einem entsprechenden Spender zu holen.

Crash brummte. „Kann ich ihn euch überlassen?“

Pakhet sah zu ihm, nickte aber. „Klar.“ Sie schenkte ihm ein wahrscheinlich besorgtes Lächeln. „Danke, dass du ihn hergebracht hast.“

Wie zu erwarten brummte er. „Schon gut. Ich wollte ihn in guten Händen wissen.“ Er ließ ein halbherziges Grinsen sehen und wandte sich dann ab. „Ich muss eigentlich los.“

„Training?“

Wieder ein Brummen. „Junge ist so dahin gekommen.“

Auch wenn Crash sie nicht sah, nickte Pakhet. „Dann noch viel Erfolg.“

Wieder brummte er. „Bis dann.“

Pakhet antwortete nichts mehr, wandte sich stattdessen wieder Murphy zu. „Also“, meinte sie.

Er reichte ihr die Hand, starrte trotzig zur Wand, während sie seine Hand desinfizierte und dann die Kanüle hineinschob, eine Spritze Blut abnahm, um zu testen, ob sie die Vene hatte, und außerdem eine Probe für seine Senkung zu nehmen, und dann festklebte und schloss.

Kurz zögerte sie. Vielleicht sollte sie schon eine Stereo anschließen, doch dann wiederum hatte Heidenstein vielleicht etwas anderes geplant.

Wieder begann Murphy zu husten, brachte sie dazu, sich ihm zuzuwenden.

Er verdrehte die Augen. „Jetzt hör auf, so zu übertreiben.“

„Übertreiben?“, fragte sie.

„Hast du deinen besorgten Blick gesehen?“ Er klang beinahe beleidigt. „Ich komme schon klar.“

„Und deswegen kannst du keine Hilfe annehmen?“

Wieder zog er einen Schmollmund. „Nicht, wenn sie so übertrieben daher kommt.“

„Ich mache mir halt Sorgen“, erwiderte sie. Sie zog einen Hocker unter der Liege hervor und setzte sich darauf. „Ist das so schlimm?“

Er murmelte etwas Ünverständliches, was eigentlich so gar nicht Murphys Art war, brachte sie dazu eine Augenbraue zu heben.

Ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment war der Ausdruck auf seinem Gesicht herausfordernd, veränderte sich dann aber, wurde defensiv, beinahe ängstlich, ehe er sich abwandte. „Warum machst du dir solche Sorgen?“

Sie seufzte. „Vielleicht, weil du mir nicht egal bist.“ Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln.

Für einen Moment verweilte sein Blick auf ihr, dann aber wich er den ihrem wieder aus, fixierte die Tapete. Er setzte an, etwas zu sagen, doch dieses Mal beherrschte er sich, schwieg.

[03.11.2011 – D48 – Abendessen]

Murphy schlief. Er hatte es dringend nötig. Von allem was sie erfahren hatte, war er bereits seit drei Tagen krank, hatte aber weiter versucht für Crash zu arbeiten. Warum? Stolz? Oder hatte er Angst gehabt, Crash sonst im Stich zu lassen?

So oder so, Pakhet war froh, dass er schlief.

Derweil saß sie im Wohnzimmer der Wohnung und aß, was Heidenstein gekocht hatte. Was für sie Geschnetzeltes in einer Tomatensoße bedeutete, während Heidenstein und Hazel auch Nudeln dazu aßen.

Ja, auch Hazel war zu ihnen herübergekommen. Sie saß auf dem Sessel, hatte die Beine angezogen und den Teller auf ihre Knie gestellt, während sie vorsichtig immer wieder einzelne Nudeln aufpiekste und zu ihrem Mund führte.

Manchmal erschien es wie eine besondere Fähigkeit des Mädchens, nicht aufzufallen. Normalerweise merkte man immer, wenn jemand im Raum war. Leute strahlten diese Aura aus, magisch oder nicht, die andere auf ihre Anwesenheit aufmerksam machte. Menschen hatten für so etwas ein Gespür, zumindest Pakhets Erfahrung nach. Doch Hazel? Wenn sie nicht zu ihr sah, konnte sie beinahe vergessen, dass sie hier war. Ja, das Mädchen schaffte es sogar, die Nudeln aufzupieksen, ohne auch nur einen Laut zu machen. Kein einziges Mal kam sie mit der Gabel zu grob auf das Porzellan. Es war gruselig. Beinahe schon konnte man meinen, dass es eine magische Fähigkeit war.

Das Mädchen wäre eine gute Spionin gewesen – hätte sie so etwas wie Selbstbewusstsein besessen, was nicht der Fall zu sein schien.

Pakhet wusste nicht, wie sie mit ihr umgehen sollte.

„Ich werde Murphy nachher etwas rüberbringen“, meinte Heidenstein schließlich, als er seinen Teller geleert hatte. Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Oder willst du das übernehmen.“ Sein Ton verriet, dass er darüber reden wollte.

Bedächtig zerschnitt sie ein Fleischstück. „Ja, ich denke ich will nach ihm schauen.“

Heidenstein schwieg. Er wartete, erntete von ihr jedoch einen genervten Seitenblick.

„Ich mache mir Sorgen um den Jungen. Er ist noch ein Kind. Jemand sollte sich um ihn kümmern.“

„Warum bist du dir so sicher, dass er ein Kind ist?“, fragte Heidenstein.

Sie zögerte. Es war schwer zu erklären. Intuition? Normalerweise hatte sie davon nicht viel, doch anders konnte sie es nicht erklären. „Ich weiß es einfach. Er … Ich glaube nicht, dass er älter als sechzehn ist.“

Heidenstein nickte. „Was glaubst du, was mit ihm passiert ist?“

Pakhets Blick wanderte zu Hazel, deren Augen aktuell auf den Fernseher fixiert waren, auf dem irgendeine Gameshow lief. Sie schien nicht zuzuhören, vielleicht tat sie auch nur so.

Kurz hielt Pakhet inne, schürzte die Lippen. „Es gibt genug Kinder, die ihre Eltern an Drogen oder irgendwelche Gangüberfälle verloren haben“, erwiderte sie schließlich, auch wenn sie nicht sicher war, ob es stimmte. Hatte es damit zu tun, dass Murphy ein Wechselbalg war, wie Michael sagte?

Heidenstein setzte an, schwieg dann aber. Er seufzte. „Zumindest ist es gut, dass Crash und du sich um ihn kümmern.“

„Du nicht?“, erwiderte sie mit einem matten Lächeln.

Wie so oft breitete sich ein Schmunzeln auf seinen Zügen aus. „Ein wenig“, gab er dann zu.

Sie sagte nichts mehr, wandte sich stattdessen ihrem Essen zu. Zumindest war die Soße gut gewürzt. Es schmeckte, als hätte er Chillipulver untergemischt, nicht, dass sie sich darüber beschweren würde.

Sie hatte ihren Teller beinahe geleert, als das Klingeln ihres Handys sie zusammenzucken ließ.

Überrascht tauschte sie einen Blick mit Heidenstein, nahm dann das Handy vom Tisch. Jacks Nummer wurde angezeigt. Was wollte er? Vielleicht sich wieder treffen.

Sie hob ab. „Ja? Jack?“

Ein Keuchen war auf der anderen Seite der Leitung zu hören. Offenbar rannte er. „Hönigkuchen?“, fragte er atemlos.

Sie wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist los?“

„Da sind Typen hinter mir her“, erwiderte er. „Ich kann Hilfe gebrauchen.“

Ein Schuss erklang hinter ihm.

„Bitte?“, setzte er hinzu.

Sofort stand sie auf. „Wo bist du?“

„In der Nähe von Primrose Park. Im Osten.“

[03.11.2011 – X25 – Die Falle]

Es war dunkel, als sie beim Primrose Park ankamen. Die Straßenlaternen waren angegangen – zumindest die, die funktionierten.

Die Gegend um den Park, war eine einfache Wohngegend, jedoch keine der besseren. Entsprechend war die Straße nicht im besten Zustand und auch die Laternen hätten einige neue Birnen vertragen können. Was zur Hölle hatte Jack hier überhaupt gemacht?

„Bleib hier“, wies Heidenstein Hazel an, die am Steuer des Transporters saß.

Sie hatten sich entschlossen den Transporter zu nehmen, nur falls sie Jack in der Waagerechten transportieren mussten. Davon abgesehen würde zumindest ihr Wagen keine Reinigung gebrauchen.

Warum hatten sie überhaupt noch den Transporter? Er war damals für den Teameinsatz geholt worden, aber niemand vom Rest des Teams hatte je versucht, ihn zurück zu nehmen. Im Moment konnten sie dankbar dafür sein. Nur davon, dass Hazel sie fuhr, war Pakhet nicht ganz überzeugt.

Doch hatte das Mädchen sie schnell und sicher hergebracht. Offenbar konnte sie Autofahren.

Hazel sah Heidenstein nicht an, nickte aber. Angst zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.

„Okay“, meinte Heidenstein und wandte Pakhet zu.

Sie nickte. „Gehen wir.“ Damit öffnete sie die Seitentür des Wagens und sprang auf die Straße hinaus.

Sie waren auf der Ostseite des Parks, doch natürlich gab es keine Spur von Jack. Verdammt. Hätten sie nur eine genauere Angabe, wo er gewesen war. Wo konnte er abgeblieben sein?

Als er sie angerufen hatte, war er auf der Flucht vor seinen Angreifern gewesen. Die Angreifer hatten Schusswaffen gehabt. Entsprechend hatte er offene Fläche wahrscheinlich gemieden.

Das seltsamste war, dass keine Polizei hier war. Sicher, Gugulethu, das Viertel, war dafür verschrien, dass die Polizei nicht schnell war – und das obwohl es nahe des zentralen Flughafens war. Doch normalerweise bemühte sich jemand, innerhalb von einer halben Stunde da zu sein, besonders, wenn Schüsse fielen.

Wortlos liefen sie die Straße hinab, weiter Richtung Osten. Es war ihre beste Wahl. Hier musste doch irgendetwas sein. Verdammt.

Pakhet holte ihr Handy heraus, rief Jack an. Sie glaubte nicht wirklich daran, dass er rangehend würde, doch es war immerhin einen Versuch wert. Nichts. Nicht einmal ein Freizeichen. Seine Mailbox ging direktheran. Also konnten sie das hier vergessen.

Heidenstein sah zu ihr, doch sie schüttelte den Kopf.

Da. Der Knall eines Schusses durchschnitt die Dämmerung. Er kam einige hundert Meter entfernt zu sein, aus dem Südosten. Da hinten gab es einige Schulgelände. Vielleicht war Jack dahin geflohen in der Hoffnung, dass die Schulsicherheit noch da war. Es wäre zumindest kein dummer Plan.

Erneut wechselte sie einen Blick mit Heidenstein. Dann liefen sie los.

Drei weitere Schüsse. Hoffentlich kamen sie rechtzeitig. Sofern es nicht die Sicherheit war, die auf etwaige Angreifer feuerte. Verdammt, eine Polizeistation war knapp einen Kilometer von hier entfernt. Warum waren sie nicht da?

Ein ungutes Gefühl hatte sich in ihrer Magengegend breit gemacht. Was war, wenn sie wegen ihr hinter Jack herwaren?

Stille. Sie war nach den Schüssen beinahe noch gruseliger. Verflucht. Hoffentlich war Jack okay. Sie hatte versprochen ihn zu beschützen, nicht? Warum musste das eigentlich alles an einem Tag passieren?

Sie rannte weiter, als ein weiterer Schuss erklang. Er schien wirklich von einem der Schulgelände zu kommen. Noch knappe hundertfünfzig Meter, bis sie da wären. Sehr gut.

Sie wartete, damit Heidenstein zu ihr aufholen konnte, sah ihn an.

„Ich gehe rechts herum, du links“, sagte er leise, atemlos.

Für einen Moment zögerte Pakhet, nickte aber dann. Es war so genau so gut wie anders herum. Er war gut genug, als dass er etwaige Angreifer ausschalten konnte. „Geh keine unnötigen Risiken ein.“

Ein mattes Grinsen. „Ich doch nicht.“

Dann liefen sie weiter.

Die Schule bestand aus drei Gebäuden, die jeweils durch überdachte Gänge miteinander verbunden waren. Jedes der Gebäude zwei Stückwerke hoch.

Sie rannte zum nördlichen Ende des Geländes, sprang dort über die Mauer, die das Schulgebäude und den dazugehörigen Hof und Sportplatz umgab. Sie drückte sich an die Wand, lauschte, in der Hoffnung etwas zu hören.

Da. Stimmen vom Innenhof.

Sie zögerte. Was jetzt? Vom Dach des Gebäudes aus hätte sie definitiv eine bessere Ausgangsposition, stand jedoch auch auf dem Präsentierteller, sollte jemand nach oben schauen oder irgendwo ein Ausguck sein.

Verdammt. Egal. Sie sammelte ihre Energie, sprang, erreichte den Rand des Daches und zog sich so leise, wie bei dem blechernen Dach möglich, hoch.

Dann verharrte sie für einen Moment, zog ihre Waffe. Die Pfeilpistole, da sie definitiv den Vorteil hätte, dass sie ihre Angreifer danach befragen könnten. Gut. Jetzt …

Ein weiterer Schuss, dann noch einer. Ein Ruf. Ein Schrei. Heidenstein!

„Fuck!“, zischte sie und stellte sich hin. Sie lief über das Dach. Ein Fehler.

Sie war nicht die einzige, die diese Ausgangsposition gewählt hatte. Da war noch ein anderer. Ein Mann mit einem kleinen automatischen Gewehr. Er hob den Blick, sah sie, hob die Waffe. Etwas an seiner Bewegung war unnatürlich.

Auch sie hob die Waffe, während sie sich zur Seite bewegte. Sie schoss. Einmal, zwei Mal. Ein Fluchen von ihm. Dann automatisches Feuer in ihre Richtung.

Sie sprang nach hinten, zum Rand des Gebäudes, ließ sich runterfallen und landete auf dem Boden.

Das Feuer verklang. Etwas schweres fiel. Dann ein weiteres Fluchen. Es war in Niederländisch.

Kurz hielt Pakhet inne. Was hatte sie gesehen? Da waren fünf Leute gewesen, die auf dem Boden gelegen waren. Einer davon war Jack gewesen. Sie hatte nicht lang genug sehen können, um einzuschätzen, ob er lebte, ob er verletzt war. Es war anzunehmen, doch um etwas zu machen, musste sie nahe kommen.

Drei weitere Schüsse. Alle drei aus derselben Waffe. Eine Pistole. Auf wen gerichtet? Wahrscheinlich Heidenstein.

Okay. rechts herum.

Sie bewegte sich die Länge des Gebäudes entlang, bis sie das Ende erreicht hatte. Die Angreifer waren im Innenhof der Schule gewesen. Das mittlere der Gebäude war nicht ganz so lang wie die beiden äußeren, ließ daher genug Platz, als dass die Gebäude so gemeinsam einen Hof umschlossen, vielleicht dreißig Meter breit.

Sie ging um das Ende, hielt inne, lud die Waffe nach, dann sah sie um die Ecke. Jemand hielt eine Waffe auf eine am Boden liegende Person gerichtet, zwei andere standen daneben.

Sie konnte einzelne Gesprächsfetzen hören, auch wenn der Hof einen seltsamen Klang hatte.

“ … Der Typ, mit dem sie öfter unterwegs ist“, hörte sie von einem.

„Nahe“, hörte sie von dem mit der Waffe. „Sucht sie.“

Okay, die waren hinter ihr her. Verdammt.

Ihr Angreifer vom Dach war auf dem Boden gelandet. Ob er noch lebte, wusste sie nicht. Von allem was sie sagen konnte, war es durchaus auch möglich, dass er sich beim Sturz das Genick gebrochen hatte.

Egal.

Da, einer der anderen beiden ging in ihre Richtung. Okay. Warum hatte sie den Armreif nicht dabei. Unsichtbarkeit wäre gerade wunderbar gewesen.

Sie spähte um die Ecke, zielte. Dann schoss sie, so gut sie konnte, ohne ihre Deckung gänzlich zu verlassen.

Der Typ schrie auf, packte sich an den Hals. Sie hatte getroffen.

„Was ist los?“, fragte der mit der Waffe, der in der Mitte stand.

„Irgendetwas hat mich gebissen“, murmelte der Typ und tastete nach seinem Hals. Offenbar fand er den Pfeil, zog ihn heraus, betrachtete ihn. „Scheiße, man.“

„Das muss sie sein!“, rief der eine in der Mitte. Dann wandte er sich um, schien zu überlegen. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen.

Schließlich erhob er die Stimme: „Hey. Pakhet. Iron Bitch. Ich weiß, dass du da bist.“ Er rief das in Englisch, wenngleich mit einem seltsamen Dialekt.

Sie zögerte. Sie musste zu Heidenstein und Jack, bevor irgendetwas schief ging. Doch gleichzeitig war sie nicht scharf darauf, sich mit beiden noch stehenden anzulegen. Nun, allen drei. Wenigstens der, den sie getroffen hatte, würde nicht mehr lange stehen.

Was sollte sie tun? Sie hielt inne. Dann rannte sie zum Ende des mittleren Gebäudes, darauf hoffend, dass der getroffene sie noch sah.

Ihr Plan ging auf. „Da!“, rief der eine, mit dem Pfeil in der Hand.

Sie wartete, während er näher kam. Hatte die Dosis gereicht? Langsam sollte er umkippen.

Innerlich zählte sie, um ihre Gedanken zu konzentrieren, die Waffe im Anschlag. Dann, zwei Meter von der Ecke entfernt, kippte er um, Er zitterte, war noch bei Bewusstsein, schien nicht sicher, was geschah.

„Fuck, Leon, was ist los?“, fragte der vermeintliche Anführer wieder auf Niederländisch.

„Ich …“ Leon brachte keine klare Antwort zustande.

Pakhet ging um die Ecke. Am mittleren Gebäude entlang konnte sie vielleicht ungesehen zum Innenhof kommen. Da hinten war der zweite suchende. Er kam in ihre Richtung. Dann halt so.

Er sah sie, hob die Waffe, sie schoss. Zwei Mal. Ein Pfeil schien zu treffen. Sein Oberarm. Stoff war nicht gut darin, die Waffen abzuwehren.

Er schoss, kam näher. Jetzt war er vor dem Gebäude. So sollte der Anführer sie nicht sehen.

Also sprang sie zur Seite, konzentrierte ihre Energie. Sie musste schneller sein, als ihr Angreifer, um nicht getroffen zu werden. Eine Kugel verfehlte sie nur um wenige Millimeter. Dann hatte sie ihn erreicht.

Sie schlug die Waffe zur Seite, verdrehte seine Hand, zog ihn nach vorne. Ihr Knie landete in seinem Solarplexus, dann trat sie gegen seine Kniescheibe, brachte ihn zum Fall, nutzte die Bewegung, um ihn noch weiter nach vorne zu reißen.

Sie verdrehte seine Hand hinter seinen Rücken, hielt in fest.

„Bitch“, zischte er, klang jedoch beinahe eher erfürchtig.

„Zeig dich, Bitch“, stimmte nun auch der Anführer ein. „Zeig dich, oder ich töte einen der beiden. Was sagst du?“

Sie schloss die Augen. Oh, sie mochte den Typen jetzt schon nicht. Was konnte sie tun? Er war allein. Also … Was? Sie konnte versuchen ihn in einen Nahkampf zu verwickeln, ihn in falscher Sicherheit wiegen, indem sie die Waffen ablegte.

Besser als kein Plan.

Sie zog einen einzelnen Dart aus dem Magazin an ihrem Gürtel, machte ihn an der Innenseite ihrer Lederjacke fest.

Der Typ am Boden stand nicht mehr auf, schien langsam das Bewusstsein zu verlieren. Gut.

Die Hände erhoben kam sie um die Ecke. „Hier“, sagte sie laut. „Ich bin hier.“

Der Anführer schien überfordert. Er hatte zuvor Heidenstein mit der Waffe bedroht. Heidenstein war am Boden, hielt sein Bein. Er musste getroffen sein.

Nun schwenkte die Waffe des Anführers auf sie. „Waffe weg!“, wies er sie an.

Sie holte tief Luft. „Schon gut.“ Langsam, vorsichtig, die Hände in der Höhe, ging sie in die Hocke, legte die Pfeilpistole ab, dann ihre normale Sig Sauer . Dann richtete sie sich wieder auf.

Der Anführer schien dem Braten nicht ganz zu trauen. „Was zur Hölle hast du gemacht?“, fragte er und sah zu seinen Leuten.

Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. „Natürlich meine magischen Kräfte genutzt.“ Es war nur ein dummer Witz. Sie ging auf ihn zu, doch er war nicht dumm.

Langsam wich er vor ihr zurück. Entweder ahnte er, was sie vorhatte oder hatte einfach nur zu viel Angst. Wirklich zu begreifen schien er nicht. Die Waffe, die auf sie gerichtet war, zitterte. Dann wanderte sie auf einmal zur Seite, zeigte auf Jack, der gegen die Wand des Gebäudes lehnte. Er blutete. Stark. Doch er blutete noch.

Er blinzelte. Ein blauer Fleck zierte seine Wange. „Da bist du ja, Honigkuchen“, meinte er mit zitternder Stimme.

Fuck. Er brauchte ärztliche Behandlung. Jetzt.

„Was hast du mit meinen Leuten gemacht?“, wiederholte der Anführer. „Du. Er. Was ist mit ihnen?“

Sie verdrehte die Augen. „Entspann dich. Es ist nur ein Betäubungsgift. Denen geht es gleich wieder besser.“

Er sah sie zweifelnd an, sah dann zu dem Typen, den sie zuerst ausgeschlaltet hatte. „Er nicht.“

Tatsächlich konnte er Recht haben. Der Typ zuckte und zitterte noch immer. Irgendeine schlechte Reaktion auf das Gift, dessen war sie sich sicher.

Sie zögerte. Sie sollte das hier schnell zuende bringen, wenn sie Jack retten wollte. „Der wird schon wieder.“ Sie ging auf den Anführer zu, doch er spannte seinen Finger an.

„Komm mir nicht näher oder er stirbt.“ Die Waffe war nun recht sicher auf Jacks Kopf gerichtet.

„Alles okay“, erwiderte sie. Sie zögerte. „Wurdet ihr nicht angeheuert, mich zu töten?“

„Gibt einen Bonus, wenn du noch lebst“, zischte er.

Wertvolle Informationen. Sie nickte nur. „Ich sage dir was. Ich gebe deinem Kumpel dahinten das Gegenmittel, dann kannst du mich mitnehmen.“

Er zögerte. Natürlich traute er ihr nicht. Doch schien ihm tatsächlich etwas an seinem Teamkollegen zu liegen. Deswegen hielt er inne, holte tief Luft. „Okay.“

Sie nickte, ging zu Heidenstein hinüber.

„Was machst du da?“, fragte der Typ.

„Er hat das Gegengift“, antwortete sie und kniete sich neben Heidenstein. Er blutete aus dem Bein, rechter Oberschenkel. Da war noch eine weitere Wunde, in seiner Hüfte. Fuck.

Er war bei Bewusstsein, sah sie an. Mit den Lippen formte er die Worte: „Was machst du?“

„Improvisieren“, antwortete sie auf dieselbe Art. Dann sprach sie leise: „Wo ist das Gegenmittel?“

„Innentasche“, erwiderte er mit zitternder Stimme.

Sie nickte, öffnete den Mantel, den er trug, und tastete nach der Innentasche. Sie fand, was sie suchte. Eine kleine Schattulle mit verschiedenen Spritzen. Schon wollte sie sich aufrichten, doch er hielt sie fest, sah sie an.

Wieder formte er ein Wort mit den Lippen: „Heiltränke.“

Sie verstand, nickte. Vielleicht konnte es auch helfen, Jack zu stabilisieren.

Langsam ging sie zu dem anderen Typen hinüber, der zitterte, sich verkrampfte.

Er hatte auch uriniert. Offenbar irgendeine Art von Anfall. Beinahe tat er ihr leid, wären die Typen nicht hier, um sie auszuliefern. Nel oder Jaco wahrscheinlich.

„Wenn du irgendetwas dummes versuchst, ist dein Kumpel hier tot“, warnte der Anführer sie.

„Schon klar“, erwiderte sie. Sie nahm eine der Spritzen, die mit einer im dunklen schwer genauer zu erkennenden Flüssigkeit gefüllt waren, drehte den Typen auf den Rücken. Er zitterte zu sehr für die Armvenen, also nahm sie die an seinem Hals, ohne großartig vorsichtig zu sein.

Das wunderbare an Magie: Sie wirkte beinahe immer sofort. Sein Zittern wurde beinahe augenblicklich besser. Seine Augen wurden klarer, suchten nach etwas, das ihm sagte, was los war. Er sah sie, erkannte sie, nahm seine Waffe, hielt sie an ihren Kopf. „B-bitch“, stotterte er.

Sie lächelte steif. Fuck. Warum musste das ganze so gut wirken?

Jetzt hatte sie doch wieder zwei da. Zwei, während Heidenstein und Jack am Boden lagen. Beide kämen nicht so vom Platz und von der Blutlache um Jack herum ausgehend war es ein Wunder, dass er am Leben, geschweige denn bei Bewusstsein war.

Oh, fuck.

„Hey“, rief sie aus, während der gerade Geheilte mit ihr zusammen aufstand, ihr die Waffe an den Kopf hielt. „Ich komme mit euch mit, aber lass mich erst meinen Kumpel hier stabilisieren.“ Sie nickte in Jacks Richtung.

„Du bist nicht in der Position Ansprüche zu stellen, oder?“ Der Anführer grinste. Einer seiner Eckzähne fehlte, war durch ein Goldzahn ersetzt.

„Nein, bin ich nicht“, erwiderte sie. „Aber ich könnte einen Kampf anfangen und dann könntest du zum einen deinen Kumpel hier verlieren, zum anderen könnte ich dabei sterben, oder? Kein Bonus. Wäre schade.“ Sie schenkte ihm ein breites Lächeln.

Innerlich rasten ihre Gedanken. Fuck. Sie kam sie hier heraus? Sie musste Jack retten. Sie musste irgendwie selbst hier herauskommen. Heidenstein konnte sich im Notfall vielleicht selbst heilen oder zumindest stabilisieren. Doch wie kam sie hier heraus, ohne das Leben der beiden zu riskieren?

Auf einmal ein anderer Gedanke, dieser weit weniger rational, beinahe schon panisch: Was, wenn sie hier beide draufgingen? Sie und Heidenstein. Was wäre dann mit Murphy?

Es war albern. Immerhin konnte Crash sich um ihn kümmern. Warum dachte sie so etwas überhaupt?

Sie ging langsam auf den Anführer zu. Der andere Typ folgte ihr, die Waffe weiterhin auf ihren Kopf gerichtet. Ihr Blick jedoch war auf den Anführer gerichtet. „Komm schon. Sei kein Arsch. Ihr wollt mich, nicht Jack. Er wird sterben, wenn ich ihm nicht helfe.“

Der Anführer hielt inne, zögerte, nickte dann aber. „Okay. Ich gebe dir drei Minuten.“

Sehr zufälliger Zeitrahmen. Aber gut. Sie ging zu Jack hinüber, während der Anführer zu Heidenstein zurückwich, um ihn zu bedrohen. Sie nahm eine weitere Spritze aus der kleinen Ledertasche, machte sie bereit, kniete sich neben Jack, dessen Augen unfokussiert wirkten. Doch er atmete noch. Das war gut.

„Hey“, flüsterte sie leise. „Bleib bei mir, Jack.“

Er blinzelte sie an. „Sorry“, hauchte er.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, nahm dann seinen Arm und setzte die Spritze an.

Jack schloss die Augen, während sie ihm den Trank verabreichte. Ein Zittern ging durch seinen Körper, doch sein Atem wurde nach ein paar Sekunden entspannter. Er sah sie an, nickte. „Danke.“

„War das alles?“, fragte der Angreifer, während sie die Kappe wieder auf die Spritze setzte, um Zeit zu schinden.

Sie holte tief Luft, ging in die Hocke. Sie musste etwas versuchen.

Langsam drehte sie sich um, tastete dabei möglichst unauffällig nach dem Ende ihres Stiefels. Ihr Blick suchte den Heidensteins, sah zu ihm.

Er verstand, bemühte sich, sich etwas aufzustehen.

Okay. Es musste klappen. Sie fand den Heft ihres Kampfmessers, stand langsam auf, zog es dabei hervor. Dann beschleunigte sie ihre Bewegung, zielte mit dem Messer auf die Hand des Typen hinter ihr.

Er war zu langsam. Er schoss, traf ihre Schulter, doch da bohrte sich das Messer durch seinen Unterarm.

Er schrie auf, die Waffe fiel zu Boden.

Gleichzeitig rief auch der Anführer überrascht auf. „Fuck. Was zur …“

Heidenstein hatte seine Hand mit der Waffe gegriffen, ihn daran zu Boden gezerrt.

Pakhet hob die Waffe des anderen Typen vom Boden, zielte auf den Anführer, der versuchte seine Hand zu befreien.

Dann ein lauter, entfernter Knall.

Es ging zu schnell. Sie verstand nicht, was geschehen war. Schon traf sie etwas gegen die Brust, warf sie zu Boden.

„Pakhet!“, rief Heidenstein aus.

Dann ein weiterer Schuss. Er schrie.

Fuck.

Sie sah zum Nachthimmel hinauf. Ihr Bewusstsein verarbeitete langsam, dass ein Sniper sie getroffen hatte. Wo zur Hölle hatten sie in dieser Gegend einen Sniper positioniert?

Verdammt, er musste sie in die Brust getroffen haben. Ihre Rippen schmerzten. Aber nur ihre Rippen, wurde ihr dann klar. Sie spürte kein Blut. War es der Schock?

Doch ihre Gedanken waren seltsam klar. Sie lebte noch? Was zur Hölle ging hier vor?

„Verdammte Bitch“, hörte sie die Stimme des Anführers. Er kam auf sie zu.

Noch immer schrie der eine Typ. Noch immer stöhnte Heidenstein schmerzerfüllt. Seine Stimme war dennoch klar, ungläubig. „Pakhet?“ Wahrscheinlich dachte er, sie war tot.

Auch der Anführer musste das denken.

Noch immer hatte sie den Pfeil im Ärmel. Sie konnte ihn spüren.

Der Anführer hockte sich neben sie. „Verdammt“, knurrte er auf Niederländisch. Seine Hand tastete nach ihrem Puls.

Sie löste den Dart aus der Jacke. Offenbar war alles für ihn zu viel. Er musste bemerkt haben, dass da kein Blut war. Zumindest bemerkte sie kein Blut. Doch gleichzeitig war sie eindeutig getroffen.

„Was?“, murmelte er, als er ihren Puls fand. Er wollte aufstehen, doch dann hatte er den Pfeil in seiner Hand. Er schrie überrascht auf.

Sie zog ihn zu sich, brachte ihn aus dem Gleichgewicht, rollte sich zur Seite. In einer fließenden Bewegung war sie auf ihm, hielt seinen Arm hinter seinen Rücken.

Sie hatte Recht. Sie blutete nicht. Es ging ihr, von den schmerzenden Rippen abgesehen, gut. Wie auch immer das passiert war. Ihre Weste war normalerweise nutzlos gegen höhere Kaliber, doch darüber konnte sie später nachdenken.

Sie nahm das Paar Handschellen von ihrem Gürtel, fesselte ihn damit, während sein Atem unregelmäßig ging.

„Du verdammte Bitch“, zischte er.

Sie sagte nichts. Beinahe rechnete sie mit einem weiteren Schafschützenschuss, doch nichts dergleichen passierte. Stille. Nur unterbrochen vom Schreien des Angreifers mit dem Messer im Arm und Heidensteins ungläubiger Stimme.

„Pakhet?“

Atemlos kniete sie über dem Anführer und sah zu Heidenstein, dessen Hand Blutüberströmt an seinem Bauch lag.

Sie zwang sich zu einem matten Lächeln. „Mir geht es gut.“

[03.11.2011 – X26 – Munition]

„Bist du dir sicher, dass sie überleben?“, fragte Hazel mit leiser, zittriger Stimme.

Pakhet seufzte. „Ja. Es wird schon gehen, wenn wir sie zum Krankenhaus bekommen.“ Zugegebenermaßen redete sie sich das selbst ein. Sie wusste nicht, ob es ihnen, speziell Jack gut gehen würde. Aber zumindest aktuell war er noch bei Bewusstsein und die Blutungen hatten dank des Trankes nachgelassen.

Sie kniete vor der zweiten Rückbank, vor Jack, da sie sich um ihn am meisten sorgte. Sie hatte seine Jacke geöffnet, sein Hemd aufgeschnitten. Da waren drei Einschüsse in seiner Brust. Dass sein Herz nicht getroffen war, war ein Wunder.

Er war blass, sein Blick verschwamm immer wieder, doch solange war er noch bei Bewusstsein.

„Entspann dich, Sweetheart“, hauchte er. „Ich werd schon wieder.“

Sie sagte nichts. Was sollte sie groß sagen? Alles, was sie wusste, war, dass man ihn wegen ihr angegriffen hatte. Woher hatten die Angreifer überhaupt davon gewusst? Warum ausgerechnet ihn? Was hatte er überhaupt in Gugulethu gemacht?

„Gibt es jemanden, den ich im Krankenhaus rufen kann, Doc?“, fragte sie und stand auf, um zu Heidenstein zu sehen.

Er hatte die Augen geschlossen, öffnete sie aber langsam, als sie ihn ansprach. „Im Krankenhaus? Nein. Wir …“ Er hielt inne, schien zu überlegen, ehe ihm einfiel. „Es darf niemand mich so sehen, dass …“ Er suchte ihren Blick, sah sie an.

War es wirklich sein Ernst? „Es ist doch jetzt egal.“ Sie musste sich beherrschen um nicht wütend zu werden. Sie war die einzige, die mehr oder minder unverletzt war. Auch wenn sie noch immer nicht gänzlich verstand, wie dies überhaupt möglich war. Sie war sich sicher, dass die Waffe sie getroffen hatte.

„Pakhet“, erwiderte Heidenstein, „bitte. Magische Heilung.“ Er hustete. „Magische Heilung ist besser.“

Sie knurrte. Sollte sie jetzt noch einen magischen Heiler finden? „Idiot.“ Dann setzte sie sich auf den Boden, lehnte gegen das Sitzpolster der Rückbank und holte ihr Handy hervor. Smith? Vielleicht konnte Siobhan heilen. Das wäre einfacher.

Da war eine verpasste Nachricht, stellte sie fest. Robert. Er hatte vor knapp vierzig Minuten angerufen. Das übliche Stechen ihres Gewissen machte sich in ihrer Brust breit, als sie an Robert dachte, als ob sie nicht schon genug Gewissensbisse dank Heidenstein und Jack hatte. Doch im Moment hatte sie keine Zeit für ihn.

Sie wählte die Nummer Siobhans, während sie ihre Jacke öffnete. Gleich zwei Einschusslöcher im Leder. Großartig. Sie hätte ihre Einsatzjacke anziehen sollen. Dann fiel etwas herunter. Etwas metallenes, dass ein paar Zentimeter rollte und dann liegen blieb.

Sie hielt das Handy ans Ohr, während sie nach dem Etwas griff und es versuchte im Dämmerlicht, das hinten im Wagen herrschte, genauer anzusehen.

Eine Knistern, dann eine Stimme. „Ja? Pakhet?“

„Fuck“, flüsterte Pakhet, als sie erkannte, was sie in den Händen hielt. Sie tastete über ihre Brust, fand auch ein Loch in der Weste, jedoch weiterhin kein Blut.

„Pakhet?“, fragte Siobhan erneut.

Für einen Moment wusste Pakhet nicht, was sie sagen sollte. Sie sah auf das verformte Metall in ihrer Hand. Es war eine Fullmetal Jacket. Gewehrkaliber. Wie zur Hölle hatte das Ding sie nicht umgebracht, ihr nicht mal ein Loch in die Brust gerissen? Ihre Weste war zwar verzaubert, jedoch hatte ja sogar sie ein Loch, selbst wenn dieses nicht der kompletten Größe entsprach, offenbar nur knapp die Spitze der Kugel durchgelassen hatte. Aber der Zauber war normal nicht stark genug. Er war dazu gedacht Stiche und kleine Kaliber abzuhalten, nicht aber so etwas.

„Pakhet?“ Siobhans Stimme wirkte besorgt und gleichzeitig genervt.

„Sorry“, antwortete Pakhet und steckte die verformte Kugel in ihre Tasche. „Ich habe nur gerade …“ Sie schüttelte den Kopf, sammelte ihre Gedanken. „Ich brauche einen magischen Heiler, am Krankenhaus. Schnell.“

„Was ist passiert?“, fragte Siobhan sofort.

„Jack und Doc sind angeschossen. Beide schwer verletzt. Ich brauche jemanden, der etwas tun kann“, antwortete Pakhet.

Siobhan schwieg unschlüssig. „Ich bin keine gute Heilerin“, gab sie dann zu.

Pakhet fluchte.

„Aber ich kenne jemanden“, fuhr Siobhan fort. „Jemanden … Jemanden wie den Doc. Eine Heilerin. Du weißt doch, dass ich dir von meinen Kolleginnen erzählt habe, oder?“

„Ja“, erwiderte Pakhet. Sie stand auf, wandte sich an den Doc. „Ist es okay, wenn Siobhan jemand anderen zum Krankenhaus bringt?“ Warum fragte sie überhaupt? Selbst wenn er nein sagte, würde sie darum bitten. Sie wollte weder Jack, noch Heidenstein verlieren. Nicht so.

Heidenstein blinzelte sie an. Er nickte. „Ja.“

„Bring sie her.“ Pakhet sah auf das Handy. „Wie schnell könnt ihr da sein?“

„Zwanzig Minuten“, antwortete Siobhan.

Pakhet seufzte. Sie würden selbst nicht viel schneller sein, so sehr sie es auch hasste. „Okay. Beeilt euch.“

„Wir fliegen“, versprach die Druidin und legte auf. Es war sehr wahrscheinlich wörtlich gemeint.

[03.11.2011 – D49 – Hände]

Die ältere Magierin, was für eine Art von Magierin sie auch immer war, kümmerte sich um Jack. Verständlich, wenn man seine Verletzungen bedachte. Sie schien zu wissen, was sie tat, hatte ihn unter eine sanfte Narkose gelegt, hatte angefangen zu arbeiten, die Kugeln, von denen zwei offenbar noch in seinem Körper steckten, herauszuoperieren.

Siobhan half ihr. Und Pakhet? Pakhet war in einem anderen Zimmer, einem der anderen Behandlungsräume des Krankenhauses, stand neben Heidenstein, der seinerseits auf einer Liege lag, deutlich bemüht den Atem flach zu halten.

Sie verstand, warum sie hier war. Sie konnte nichts tun, um der Magierin, Athea, zu helfen. Sie war selbst ermüdet, war keine Ärztin und erst Recht keine Heilerin. Sie konnte im Notfall selbst Wunden nähen, oberflächlichen Dreck aus Wunden entfernen, aber Kugeln aus etwaig empfindlichen Organen fischen? Das überließ sie besser jemanden, der wusste, was er tat. Außerdem musste jemand bei Heidenstein bleiben, um sicher zu gehen, dass sich sein Zustand nicht verschlimmerte. Zur Hölle, hatte die Magierin überhaupt genug Energie, um gleich zwei so schwere Verletzungen zu heilen?

Pakhet hasste diese Untätigkeit. Sie lief im Zimmer auf und ab. Sie wollte etwas tun, wollte helfen.

„Pakhet“, riss Heidensteins müde Stimme sie aus diesem Gedankenkarrussel.

Sie wandte sich ihm zu. „Ja, Doc?“

„Ich weiß, dass es anstrengend für dich ist, aber …“ Er versuchte ein Lächeln, brachte es aber nicht ganz zustande. Schmerz zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Die Heilerin wird wissen, was sie tut. Jack wird schon okay sein.“

Sie verschränkte die Arme, ließ sie dann direkt wieder fallen. „Ja, ich weiß“, presste sie hervor. Wieder lief sie das Zimmer hinauf und wieder hinab.

„Pakhet“, versuchte es Heidenstein erneut. „Bitte. Rede mit mir.“

Sie wandte sich ihm zu, sah ihn an. Was sollte sie sagen? Mittlerweile hatten sie auch seine Kleidung ausgezogen, wenngleich sie nicht viel an den Wunden getan hatten. Sie hätte zu gerne etwas gemacht. Doch im Moment wirkte sein Heiltrank. Er verbesserte nichts, stillte aber vorerst zumindest die akute Blutung, verhinderte, dass es schlimmer wurde.

„Pakhet“, meinte er. Er streckte schwach die Hand aus, in einer eindeutigen Geste.

Sie seufzte, stöhnte was entnervt, nahm dann aber den Hocker und setzte sich neben ihn. „Fuck.“

Er schaute sie an. „Ja. Fuck.“

Sie verzog das Gesicht. Im Moment konnte sie ihn kaum ansehen. „Ihr seid beinahe …“ Sie brachte den Satz nicht zu Ende, konnte darüber nicht reden.

„Wir sind in Ordnung“, erwiderte er.

„In Ordnung?“ Wieder schnaubte sie. „Wenn du Pech hast, hat das Ding deine Niere getroffen.“ Die Einschusswunde des letzten Schusses war etwas seitlich seines Bauchnabels.

„Ich bin mir recht sicher, dass es nur der Darm ist.“

„Viel besser.“ Ihre Stimme war sarkastisch. „Fuck. Warum hast du direkt eingegriffen?“

Er antwortete nicht sofort, konzentrierte sich wieder für einige Sekunden auf seine Atmung. „Habe ich nicht. Ich wurde entdeckt.“

„Fuck“, flüsterte sie.

Er nickte nur matt, schloss die Augen. Für eine Weile herrschte Schweigen, ehe er erneut ansetzte. „Wie zur Hölle hast du das überlebt?“

Natürlich wusste sie, wovon er sprach, doch noch immer hatte sie keine Ahnung. Sie griff in ihre Tasche, sah sich die Kugel erneut an. Es ergab keinen Sinn. Sie war zwei Mal getroffen worden. Das erste Mal von dem Typen im Nahkampf. Er hatte ihre Schulter getroffen. Sie hatte die Kugel nicht gefunden, doch hatte sie es gespürt. Er hatte die Schulter getroffen. Dennoch war da nichts, außer ein Loch in ihrer Jacke. Und dieses Ding? Es war gut gezielt gewesen, hätte knapp unterhalb des Herzens getroffen, das Herz dank des Kalibers wahrscheinlich mit geschädigt. Und doch war sie unverletzt, von schmerzenden Rippen und einem wahrscheinlich sehenswerten Hämatom einmal abgesehen.

„Pakhet?“, frage Heidenstein, als sie schwieg.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leise. Sie zeigte ihm die Kugel. „Das Ding hat mich getroffen, aber … Es hat mich nicht verletzt.“ Müde schüttelte sie den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist.“

Mit zittriger Hand griff er nach der Patrone, musterte sie genauer. „Deine Weste?“

„Normal hält sie so etwas nicht“, erwiderte Pakhet. „Normal hält sie nur kleine Kaliber.“

Er sah zu ihr und dieses Mal erschien ein tatsächliches, ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht. „Ich verstehe es nicht“, hauchte er. „Aber ich bin froh.“ Er gab ihr die Kugel zurück.

Wieder steckte sie sie weg. Sie verstand es wirklich nicht. Sie verstand gar nichts mehr. Eigentlich wollte sie nur … Ja, was eigentlich?

„Ich hasse es, dass wir sie zurücklassen mussten“, murmelte sie. Jedenfalls hatte sie keine Alternative gesehen. Sie hatte die verletzten Angreifer, wer auch immer sie waren, dort zurückgelassen. Ohne sie zu befragen. Sie waren geflohen. Jacks Überleben und das Heidensteins waren wichtiger gewesen. Doch nun wünschte sie sich, sie könnte aus einem der Typen die Antworten, die sie suchte, herausprügeln.

Sie schloss die Augen, stützte die Ellenbogen auf der Liege ab und bedeckte das Gesicht mit dem Händen. Die Oberfläche ihrer Prothese lag kühl auf ihrer Haut.

Da griff Heidenstein nach ihrer Hand, hielt sie, brachte sie damit doch dazu, wieder zu ihm zu schauen.

Sie seufzte. „Du bist ein verfickter Idiot.“

Er sah sie stumm an, ehe er schließlich flüsterte: „Ich weiß.“ Ihre Blicke trafen sich wieder und sie hasste es, trotz seiner Verletzungen, trotz der Schmerzen, die er fraglos trotz Schmerzmittel hatte, wieder seine übliche Sanftheit dort zu sehen.

Warum musste er so sein?

Warum hatte sie das Gefühl, etwas sagen zu sollen?

Warum konnte er nicht wütend sein und fluchen, wie sie es fraglos tun würde, wenn sie so verletzt worden wäre? Warum war er so ein Idiot?

„Was ist?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen.

Dann öffnete sich die Tür und Siobhan kam herein. Sie sah zu ihnen, lächelte matt, wenngleich müde. „Wir sind soweit.“

„Wie geht es Jack?“, fragte Pakhet.

„Den Umständen entsprechend gut. Er schläft.“ Dann wandte sie sich Heidenstein zu. „Ich würde dich unter einen Schlafzauber legen, Doc.“

Heidenstein zögerte, sah kurz zu Pakhet, die sein Zögern verstand. Schlafzauber waren in der Regel eine Form von Geistesmagie und daher nicht immer ungefährlich. Doch nickte sie und er schloss die Augen. „Okay.“

Siobhan schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und trat an das Kopfende der Liege. Dann begann sie zu zaubern.

Nach wenigen Sekunden schon entspannte sich Heidensteins Körper, als die Tür erneut aufging und Athea hereintrat, eine vielleicht Mitte oder Ende vierzigjährige Frau. Sie trocknete sich noch immer die Hände ab, desinfizierte sie sich erneut als sie ins Zimmer kam. Sie sah furchtbar müde aus, doch musterte sie Heidenstein und seufzte. „Dann kümmern wir uns um ihn.“ Sie sah zu Pakhet. „Und bei Ihnen ist alles in Ordnung?“

Pakhet nickte matt. Warum hielt sie noch immer Heidensteins Hand?

[03.11.2011 – R05 – Ehrlichkeit]

Was tat sie hier überhaupt? Warum wartete sie hier? Sie sollte hochgehen. Sie sollte Robert anrufen und sagen, dass er nicht herkommen brauchte. Aber es war unsinnig. Er würde dennoch kommen. Er dachte wahrscheinlich, ihr wäre etwas passiert. Sie hatte ihm am Telefon gehört.

Sie war verrückt. Warum hatte sie ihn überhaupt angerufen? Warum hatte sie es überhaupt getan? Es war eine dumme Idee. Doch man hatte sie von Heidenstein weggeschickt. So sehr sie es auch hasste. Man hatte sie von Heidenstein weggeschickt, um in Ruhe zu operieren. Und dann hatte sie sich nicht unter Kontrolle gehabt. Sie hatte Robert angerufen. Eigentlich nur um nachzufragen, doch jetzt?

Sie ging auf dem Parkplatz auf und ab, genoss die frische Nachtluft und war gleichzeitig nervös. Zu nervös. Viel zu nervös.

Was sollte sie Robert denn sagen? Sie war eine beschissene Freundin ihm gegenüber gewesen, hatte vor ihm so viel geheim gehalten. Verdammt. Sie hatte ihn seit knapp zwei Monaten nicht mehr gesehen. Er musste so sauer auf sie sein. Und dann? Dann würde er auch noch erfahren, dass sie ihr altes Haus aufgegeben hatte. Klasse. Er würde sich betrogen fühlen.

Da. Ein Auto fuhr ein ganzes Stück zu schnell auf den Parkplatz, als der Fahrer sie sah und auf sie zuhielt. Robert musste sich zusammenreißen, erst auf einen der freien Parkplätze zu fahren, ehe er aus dem Wagen sprang und zu ihr lief. „Joanne?“

Sie verbesserte ihn nicht, merkte nur mit weiteren Gewissensbissen, wie besorgt er wirkte. „Alles okay“, erwiderte sie. „Mir geht es gut.“

Er musterte sie, sah dann zum Krankenhaus. „Warum wolltest du dann, dass ich hierher komme?“ Seine Stimme war zweifelnd, so als wüsste er nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte.

Sie seufzte nur. „Komm mit.“

Robert sah zu ihr, schloss dann seinen Wagen ab und folgte ihr durch den Hintereingang ins Krankenhaus hinein.

Sie wusste nicht, wie sie es ihm erklären sollte, deshalb hatte sie sich entschlossen, es ihm einfach zu zeigen. Es war die beste Möglichkeit, redete sie sich ein.

„Joanne?“, fragte er, als sie den Aufzug rief. „Wo bringst du mich hin.“

Pakhet schaute ihn an, schürzte die Lippen. „Ich habe dir …“ Wie sollte sie anfangen. „Du wirst es gleich sehen.“ Als sie den Blick auf seinem Gesicht bemerkte, fügte sie hinzu: „Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes.“

Sie hatte missmutig mittlerweile Jacke und Weste ausgezogen. Sie hätte sich mit sicherer gefühlt, vor allem, da sie wusste, dass diese Assassinen noch dadraußen waren. Doch es war albern und sie wusste es.

Der Aufzug kam an, die Türen öffneten sich, sie stiegen ein, fuhren in das oberste Stockwerk hinauf. Hier war der Flur leer, sah aus, wie auf einer Baustelle. Alles war leer, verlassen, dunkel. Einige der Deckenplatten hier hinten fehlten sogar – vorrangig, da sie neue Stromkabel verlegt hatten, was das Baustellengefühl jedoch definitiv verstärkte.

„Jo?“, fragte Robert erneut.

„Gleich.“ Sie lief den Gang hinunter. Normal nahmen sie den Aufzug an der Vorderseite des Krankenhaus, mit dem man am Ende direkt vor der Doppeltür der Station, die nun ihre vorläufige Wohnung war, endete.

Unter der Tür des Zimmers, dass sich Hazel als das ihre ausgesucht hatte, schimmerte Licht hervor. Es war ein einfaches Krankenzimmer, das wahrscheinlich, wenn sie die Position bedachte, entweder für Ärzte zum Übernachten oder für ambulante Patienten gedacht war.

Die Zimmer, die sie bezogen hatten, waren eigentlich als Untersuchungsräume und Aufenthaltsräume für Ärzte gedacht, zumindest hatte Heidenstein es ihr so erzählt.

Sie blieb vor der schweren Doppeltür stehen, gab den Code in das Zahlenfeld ein, während Roberts Blick fragend auf ihr ruhte. Dann öffnete sie die Tür, schaltete das Licht an und ließ ihn herein.

Überrascht und ungläubig kam Robert in das Wohnzimmer, sah sich um. „Was ist das hier?“, fragte er, während ihm wahrscheinlich klar wurde, dass das hier keine einfachen Krankenhausräumlichkeiten waren.

Sie seufzte, ging zum Sofa hinüber und lehnte sich dagegen. „Hier wohne ich mittlerweile.“

Sie sah ihn an, wartete auf eine Reaktion, doch für den Moment starrte er sie nur wortlos an.

Nach einigen Sekunden runzelte sich seine Stirn. „Was?“

„Ich wohne hier“, wiederholte sie.

„Was?“ Auch er wiederholte sich, schien es aber selbst zu bemerken. Dann sah er sie an. „Warum?“, fragte er. Dann: „Seit wann?“

Wieder seufzte sie, ehe sie in die Küche marschierte. Sie hatte beschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen. Warum? Sie konnte es nicht sagen. Weil er es verdiente, vielleicht, oder weil sie sich ihm gegenüber einfach nicht schlecht fühlte. Jedenfalls gab es jetzt kein zurück mehr.

Sie nahm zwei Whiskey-Gläser aus dem Hängeschrank, dann die Flasche Whiskey von über dem Kühlschrank. Damit kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

Robert musterte sie fragend. „Was soll das?“

„Macht es leichter zu reden“, erwiderte sie und stellte die Gläser vor ihn, ehe sie sich ebenfalls auf das Sofa niederließ.

Langsam, um Zeit zu schinden, füllte sie die Gläser auf. Sie nahm ihres, trank einen Schluck. „Ich wohne seit fast zwei Monaten hier“, antwortete sie dann.

„Aber wieso?“, fragte Robert. „Dein altes Haus war doch schön und das hier …“ Er sah sich um, und was er sagen wollte, war deutlich: Das hier war alles andere als luxoriös.

„Die Kurzfassung ist, dass es einen anderen Söldner gibt, mit dem ich mich angefreundet habe, dass ich mit ihm und jemand anderes einen Fall bearbeitet habe und dass wir dabei …“ Sie hielt inne, trank noch einen Schluck, begann den Satz noch einmal neu. „Wir haben Menschenhändler gefunden, die irgendwelchen magischen Kram auch machen.“ Mehr würde sie Robert nicht erklären. Das Konzept von realer Magier überforderte ihn noch immer meistens. „Jedenfalls … Es gibt ein paar Leute, die nun ein Problem mit mir haben und mich …“ Sie hielt inne. Robert würde es nicht mögen. „Ein paar Leute, wollen mich tot sehen.“

„Was?“ Robert starrte sie fassungslos an. „Aber du … Wie? Ich meine, schützt dein Arbeitgeber, dieser schmierige Typ, schützt der dich nicht?“

Sie schüttelte nur langsam den Kopf. Sie würde ihm die Situation mit Michael nicht weiter erklären.

Nun trank tatsächlich auch Robert von seinem Whiskey und starrte dann für eine Weile auf das Glas, die Stirn in Falten gelegt. „Aber was hat das hiermit zu tun?“

Ja, das war schon eine schwierigere Frage zu beantworten. „Wie gesagt, ich habe einen Freund unter den anderen Söldnern. Und er … Er ist ein guter Mann. Ein guter Arzt. Er arbeitet hier. Ihm gehört diese Wohnung. Und er hat mir angeboten, dass ich herziehen kann, dass ich zumindest Hilfe habe, sollte mich jemand angreifen.“ Nur um jetzt wegen ihr beinahe erschossen zu werden.

Robert zögerte. „Okay“, sagte er schließlich tonlos.

Sie sah auf ihren Whiskey. Ach, verdammt. Warum war es nur so schwer über diese Dinge zu reden? „Jedenfalls hat er mir auch … Er hat mir einen anderen Job gegeben, hier im Krankenhaus. Also, ich mache meinen alten Job weiter aber …“ Wieder zögerte sie. „Ich bin mir aktuell nicht sicher. Ich glaube, ich will raus.“

Nun starrte Robert sie unverhohlen an. Sein Mund stand offen. Er holte Luft. „Wow“, brachte er schließlich hervor.

Pakhet sah ihn an. Sie hatte es so vorher noch niemanden gesagt. Aber es fühlte sich richtig an, mit Robert darüber zu reden. Für eine Weile suchte sie seinen Blick, dann schloss sie die Augen, lehnte sich zurück. „Ja. Ich möchte raus.“

„Wow.“ Auch Robert lehnte sich zurück.

Wahrscheinlich wusste er nicht, was er sagen sollte. Verdammt, so lange hatte er auf sie eingeredet, hatte keinen Hehl aus seiner Ablehnung ihres Jobs gemacht. Wahrscheinlich kam es nun für ihn plötzlich, vor allem nach zwei Monaten fast ohne Kontakt. Schließlich lehnte er sich zu ihr rüber, legte einen Arm um sie.

„Ich bin, wenn ich ehrlich bin, erleichtert“, meinte er. Dann seufzte er. „Und sauer.“

„Es tut mir leid, dass ich so lange nicht mit dir darüber geredet habe“, erwiderte sie und lehnte sich an ihn. „Dass ich mich solange nicht mit dir getroffen habe. Die Sache war … Während der ganze Kram lief. Ach, ich wusste nicht, wie ich mit dir darüber reden sollte.“ Es war okay, sich so an ihn zu lehnen. Mit Robert war es okay. Er war ein Freund, ein Bruder, würde nie mehr sein.

Er holte tief Luft. „Das heißt, es ist vorbei?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber … Ich musste reden.“

„Warum?“

Sie antwortete nicht. Es war zu schwer es in Worte zu fassen. Es waren so viele Sachen. Heidenstein und Jack, die unten lagen. Murphy, der ein paar Zimmer weiterlag und schlief. Sie hatte nach ihm geschaut, bevor sie Robert angerufen hatte.

Die Tatsache, dass sie beinahe gestorben war. Dass sie gestorben wäre, wäre nicht … Nun, hätte nicht ein verdammtes Wunder ihr Leben gerettet.

„Wo ist dieser Typ eigentlich? Wer ist er überhaupt?“, fragte Robert schließlich.

„Doc“, antwortete sie und richtete sich auf. Sie schüttelte den Kopf. „Sein richtiger Name ist Joachim Anderson. Ihm gehört dieses Krankenhaus. Er ist Arzt, Heiler. Er ist … Wahrscheinlich einer der zuverlässigsten Menschen, die ich kenne.“ Sie lächelte matt.

Robert musterte sie misstrauisch. „Und er ist dein Freund?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nur ein Freund. Ein guter Freund.“

Wieder schwieg Robert, nippte seinerseits an seinem Glas. „Und wo ist er jetzt?“

„Er liegt unten in einem Zimmer“, erwiderte sie leise. „Er wurde angeschossen. Bei einem Anschlag, der eigentlich mir gegolten hat.“ Ihre Stimme wurde angespannter, versagte beinahe. Verdammt. Wieso hatte sie so wenig Kontrolle über sich?

Robert legte den Arm auf ihre Schulter, offenbar ohne zu wissen, was er sagen sollte. „Wow“, murmelte er nur wieder. „Das … Das tut mir leid. Ich …“ Er schüttelte den Kopf. „Verdammt, Joanne, ich habe keine Ahnung, wie ich darauf antworten soll. Das ist wirklich alles viel, weißt du das?“ Das war der Anfang. Er sah sie an und auf einmal schienen die Worte geradezu aus ihm hervor zu sprudeln. „Ich meine, du meldest dich nicht, seit zwei Monaten nicht mehr, du ignorierst meine Anrufe entweder und wimmelst mich ab und dann rufst du auf einmal an und sagst, ich soll zu einem Krankenhaus kommen. Und ich rase hierher und denke schon, dass du irgendwie krank wärst oder irgendetwas und dann sagst du mir das alles und dass da dieser Typ ist, den ich nicht kenne und …“ Er hielt inne, schüttelte den Kopf, ehe er die Stimme senkte. „Dem du scheinbar mehr vertraust als mir.“

Pakhet seufzte, legte nun ihrerseits ihre Hand auf seine Schulter. „Ich vertraue ihm nicht mehr als dir. Nur anders. Ich meine, verdammt, er hat mir häufiger das Leben gerettet, als sonst irgendwer. Er …“ Ja. Er. „Es tut mir leid, Robert. Ich bin eine beschissene Freundin“.

Robert lachte leise, humorlos. „Ja, manchmal bist du das.“ Dann holte er tief Luft, lehnte sich wieder zurück und seufzte. „Oh man.“

Pakhet lächelte. „Ich weiß.“

Wieder senkte sich Schweigen über sie, während Robert sein Glas schließlich leerte. Er setzte an etwas zu sagen, blieb dann aber still. Er musterte sie, schloss die Augen.

„Was?“, fragte sie nach einer Weile.

Er seufzte. „Und jetzt?“, fragte er. „Du hast es gerade schwer gemacht, über normale Dinge zu reden.“

Sie konnte nicht anders. Sie lachte. Sie lachte tatsächlich ungezwungen und ließ sich wieder zurücksinken. „Wir könnten einen Film schauen“, schlug sie dann vor und Robert sah sie fassungslos an.

Er schüttelte den Kopf, nun tatsächlich amüsiert. „Ja. Können wir.“

[03.11.2011 – X27 – Idiotie]

Robert hatte sich schlafen gelegt. In ihrem Bett. Nachdem er zwei Gläser Whiskey und zwei Bier gehabt hatte, war er nicht in der Verfassung, noch zurück zu fahren. Also schlief er in ihrem Bett, während sie ein letztes Mal naherübergegangen war, um nach Murphy zu schauen.

Der Junge lag schlafend im Bett, dass Heidenstein ihm am Nachmittag bereit gemacht hatte. Der Tropf war durchgelaufen. Sie hatte ihn bereits abgeschlossen.

Murphy sah besser aus. Zumindest von allem, was sie sagen konnte. Er hatte die Gestalt, die er zuvor getragen hatte, die Gestalt des europäisch wirkenden Teenagers mit den dunklen Haaren verloren. Nun, im Schlaf, hatte er die Gestalt eines hageren, sehr blassen schwarzen Jungen, mit kurzgeschorenem Haar. War das hier seine wahre Gestalt? Es machte nur Sinn, dass er im Schlaf seinen Zauber nicht aufrecht erhalten konnte. Oder war es nur einer seiner Tricks?

Sie ging vorsichtig zu ihm hinüber und legte eine Hand auf seine Stirn. Sie war noch immer warm, glühte jedoch nicht mehr so sehr wie vorher. Sein Fieber war offenbar heruntergegangen. Gut.

Müde sah sie in das schlafende Gesicht des Jungen. Sie wusste noch immer nicht, was er genau war. Ein Wechselbalg? War es nicht eigentlich egal? Was auch immer er war, es würde nichts daran ändern, dass sie sich für ihn verantwortlich fühlte.

Was wäre mit ihm passiert, wäre sie wirklich erschossen worden? Wahrscheinlich hätte er einfach bei Crash weitergelebt. Wie sehr hätte es ihn betroffen?

Warum dachte sie überhaupt so viel darüber nach?

Sie seufzte, wandte sich ab. Im Türrahmen hielt sie ein letztes Mal inne und sah sich zu ihm um. Es schien alles okay zu sein. Sie musste sich nicht so viele Sorgen um ihn machen.

Also verließ sie das Zimmer, schloss die Tür, hielt noch einmal inne. Es gab eine Sache, die sie Robert nicht erzählt hatte. Eine Sache, bei der sie nicht sicher war, wie sie darüber denken sollte. Doch wenn sie an den Jungen dachte, dachte sie von ihm, wie von einem Sohn.

Es war albern. Es war wirklich albern. Wie war es dazu gekommen?

Sie verdrängte den Gedanken, kehrte in die Wohnung zurück und blieb im Wohnzimmer stehen. Dann hielt sie mit einem Seufzen inne, öffnete noch einmal kurz die Tür zu ihrem Zimmer.

Robert schnarchte zufrieden vor sich hin.

Sie nahm Unterhose und Tanktop aus dem Schrank, ging damit ins Badezimmer, zog sich dort aus. Wie sie erwartet hatte, leuchtete ihre Brust dort, wo die Kugel sie getroffen und nicht getötet hatte, in einer bunten Mischung aus Rot-, Blau- und Violetttönen. Ein sicher handflächengroßes Hämatom breitete sich dort aus. Doch alles in allem war sie gut davon gekommen. Sie war sich recht sicher, dass ihre Rippen nicht gebrochen waren.

Kurz betastete sie ihre Rippen, um sicher zu gehen, ehe sie die Dusche anstellte.

Sie duschte sich nur kurz ab, hasste es aber nach solchen Einsätzen ungeduscht ins Bett zu gehen. Dann zog sie sich die frische Kleidung an, packte ihre Kleidung vom Tag in den Wäschekorb am Ende der Badewanne. Noch einmal betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah müde aus, also genau so, wie sie sich fühlte.

Mit einem Seufzen machte sie das Licht aus, ging durch das Wohnzimmer und zu Heidensteins Tür. Es war nur sinnvoll, dass sie in seinem Bett schlief, während sie Robert in ihrem Bett schlafen ließ. Warum fühlte sie sich dennoch nervös darüber?

Heidenstein war nicht hier. Er lag unten in der Straßenklinik. Schlief. Wahrscheinlich noch immer unter dem Zauber.

Sie öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und ließ sich auf das Bett fallen. Sie atmete tief durch, fluchte innerlich. Hier roch alles nach Heidenstein.

Natürlich.

Sie seufzte, drehte sich auf die Seite.

Was sie Robert gesagt hatte, war wahr. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht länger diesen Job machen. Sie wollte raus. Sie wollte ein normales Leben haben. Zumindest ein halbwegs normales Leben. Wie war sie hierhin gekommen?

Sie schloss die Augen, öffnete sie dann wieder und sah zur weißen Wand ihr gegenüber. „Verdammt“, flüsterte sie. Sie holte Luft. „Verdammt.“ Langsam drehte sie sich wieder auf den Rücken, löschte die Nachttischlampe. „Jetzt bist du der Idiot, Joanne.“

[04.11.2011 – J11 – Krankenhausfrühstück]

„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Jack und sah dabei beinahe lebendig aus.

Er lag im Bett, hatte dieses aber zum Teil aufgerichtet, blickte zu Pakhet hinüber, als diese mit einem Tablett durch die Tür kam.

Ihr Blick wanderte von ihm zu Heidenstein, der ebenfalls wach war und am Rand des Bettes saß. „Ich dachte eigentlich, ich tue euch den Gefallen und lasse euch nicht verhungern, nachdem ihr wegen mir beinahe gestorben seid.“ Sie ging zu ihnen hinüber, stellte das Tablet auf dem Nachtschrank zwischen den beiden Betten ab. Dann packte sie Heidenstein bei der Schulter. „Wenn ihr aber nicht brav liegen bleibt, dann könnte ich mir das noch einmal überlegen.“

„Mir geht es wieder halbwegs gut“, meinte Heidenstein. Er warf ihr einen Blick zu, versuchte unschuldig auszusehen, brachte sie jedoch nur dazu, die Augen zu verdrehen.

„Magische Heilung hin oder her. Ihr seid gestern beide schwer verletzt gewesen und ich sehe mich gezwungen, darauf zu bestehen, dass ihr euch zumindest heute und morgen schont.“

Heidenstein lachte, legte sich aber hin. „Wer hat dich zum Oberarzt ernannt?“

„Der nervige Arzt, der gerade angeschossen hier herumliegt und genau dasselbe sagen würde, wäre ich diejenige, die in den Bauch geschossen worden wäre.“

Er schmunzelte, hob aber die Hände in einer ergebenen Geste. „Ist ja schon gut. Ist gut.“

„Hoffe ich“, erwiderte sie. Sie ging zur Tür zurück, schloss diese und zog einen Hocker hier herüber, um sich so zwischen die beiden zu setzen. Die Wahrheit war, dass sie sich noch immer furchtbar mies wegen der ganzen Sache fühlte, doch natürlich würde sie das nicht sagen.

Beide nahmen sich ein Toast, sahen zu ihr.

„Hast du schon gefrühstückt, Sonnenschein?“, fragte Jack.

„Sei vorsichtig. Gestern habe ich dir die Spitznamen verziehen, aber solange es dir angeblich besser geht, werde ich nicht so milde gestimmt sein.“

Er hielt sich in einer übertriebenen Geste die Brust. „Die Schmerzen! Oh, die Schmerzen!“

Pakhet sah ihn mit entgeistertem Ausdruck an, schüttelte dann den Kopf und nahm sich den Kaffee, den sie für sich selbst mit heruntergebracht hatte. „Aber ja, Mon Chér, ich habe bereits gefrühstückt. Ein Freund hat hier übernachtet.“

Sie konnte förmlich spüren, wie Heidenstein sich anspannte.

„Wer?“, fragte er vorsichtig.

„Robert. Mein Jugendfreund“, antwortete sie. „Du erinnerst dich?“

Er leckte sich über die Lippen, holte tief Luft. „Ich erinnere mich.“ Er schloss die Augen. „Du hättest mich fragen können.“

„Du warst ein wenig damit beschäftigt, operiert zu werden“, erwiderte sie. „Außerdem dachte ich, wir sind gleichberechtigte Mitbewohner, oder?“

Wieder leckte er sich über die Lippen, räusperte sich. „Natürlich. Du hast Recht.“ Er sah kurz zu ihr, Schuldbewusstsein in seinem Blick, wandte sich dem Toast zu.

„Oh-oh“, kommentierte Jack.

Sie sah zu ihm, musterte ihm.

Er war noch immer ziemlich blass, was wohl kein Wunder war, wenn man bedachte, dass er gestern einiges an Blut verloren hatte. Doch zumindest schien es ihm alles in allem deutlich besser zugehen. Zum Glück. „Siobhan und die Heilerin sind gestern noch gegangen?“

„Soweit ich weiß“, antwortete Heidenstein. „Ich muss zugeben, dass ich nicht mehr viel weiß.“

„Ich weiß nur, dass ich sie nicht gefunden habe, als ich gestern Abend heruntergekommen bin.“ Sie seufzte. „Sie haben mich nach oben geschickt“, erklärte sie dann. Sie fühlte sich schlecht, die beiden überhaupt allein gelassen zu haben, nicht zuletzt, da sie diese Athea nicht kannte.

Heidenstein nickte.

Sie , trank ihren Kaffee. Alles in allem sah heute alles besser aus. Die beiden sahen aus, als lägen sie nicht länger im Sterben, und auch Murphy hatte heute morgen bereits wieder freche Erwiderungen hinbekommen. Als sie zu ihm gekommen war, hatte er wieder seine übliche Gestalt getragen.

„Wie geht es dir eigentlich?“, fragte Jack.

„Gut“, antwortete sie. „Ich bin von ein paar blauen Flecken abgesehen unverletzt.“

„Dann habe ich mir nur eingebildet, dass du zu Boden gegangen bist?“, fragte Jack. Er runzelte die Stirn, als sei er sich ernsthaft nicht sicher, ob seine Erinnerungen der Wahrheit entsprachen.

Pakhet schürzte die Lippen, sah zu Heidenstein, der sie ebenfalls ansah.

„Dann hast du mir das gestern gezeigt?“, fragte er.

„Die Kugel?“, erwiderte sie. „Ja.“

„Was?“, fragte Jack.

Pakhet holte Luft. Sie hatte so lang schon drüber nachgedacht und es machte noch immer keinen Sinn. Die verformte Kugel lag oben auf Heidensteins Nachttisch. „Ich wurde gestern getroffen. Von einem Gewehr. Wahrscheinlich ein Scharfschütze“, erwiderte sie. „Aber …“ Es war weiterhin die beste Erklärung, auch wenn sie dennoch wenig Sinn ergab. „Ich habe eine magische Rüstung unter meiner Jacke getragen. Offenbar hat sie es aufgehalten.“ Sie zog den oberen Rand ihres Tops herunter, um einen Teil des blauen Flecks zu zeigen, der an diesem Morgen in noch bunteren Farben, als am Vortag leuchtete.

Jack grinste. „Kannst du mir den Hersteller verraten?“

„Ich habe sie einmal einem Schamanen bei der Firma abgekauft“, erwiderte Pakhet. „Auch wenn das Ding eigentlich nur Nahkampfwaffen und eventuell noch kleine Kaliber aufhalten soll.“

„Dann hattest du das Glück, das mir meistens fehlt“, meinte Jack. Er zuckte mit den Schultern. „Darf ich neidisch werden, Cherie?“

„Mach was du willst.“

Heidenstein seufzte. „Nun, ich bin froh, dass dir nicht passiert ist“, meinte er.

„Zugegebenermaßen: Ich auch“, antwortete sie. Sie war sich relativ sicher, dass der Schuss sie unter jeder anderen Bedingung getötet hätte. Offenbar hatte der Scharfschütze, der wahrscheinlich als Backup irgendwo auf Lauer gelegen hatte, gedacht, sie hätte den Angreifer sonst getötet. Immerhin schienen die Truppe eigentlich darauf abgezielt zu haben, sie lebendig gefangen zu nehmen.

Heidenstein lächelte ihr zu, räusperte sich dann. „Wie es passiert ist, können wir später noch ergründen.“

Sie nickte, wich seinem Blick aber aus.

„Ach, komm schon, Sonnenschein“, meinte Jack. „Lass den Kopf nicht hängen.“

Sie schüttelte den Kopf, schürzte ihre Lippen. „Ich frage mich noch immer, warum sie ausgerechnet dich angegriffen haben.“ Es war die andere Sache, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Warum ausgerechnet Jack?

„Nun, es ist recht klar, dass ich der Köder sein sollte, um dich herzulocken, oder?“ Jack zuckte mit den Schultern.

Pakhet zögerte. Früher wäre sie davon ausgegangen, dass Jack sie verraten hatte. Doch hätte er sich wirklich beinahe umbringen lassen, um sie herzulocken? Mehr noch, sie wollte ihm vertrauen. Er schien so einsam, so verloren zu sein. Sie wollte ihm wirklich vertrauen.

„Es könnte sein, dass die Angreifer von Green Point die Information weitergegeben haben“, meinte Heidenstein. „Jack war jetzt bei mehreren der Einsätze dabei. Es klingt nicht so seltsam. Vielleicht gehörten die Angreifer von gestern sogar zur selben Gruppe.“

Letzteres glaubte sie nicht. Auch wenn sie nicht dazu gekommen war, die Angreifer zu verhören, war sie sich beinahe sicher, dass ihre Angreifer vom Vortag zu den Likedeelern gehörten, während der MO der Angreifer an Green Point eher für eine relativ unorganisierte Söldnertruppe sprach. „Ja, mag sein“, sagte sie dennoch. Immerhin war die erste Theorie nicht zu abwegig.

„Komm, mach dir darum erst einmal nicht so viele Gedanken“, meinte Heidenstein. „Das wichtige: Du lebst. Wir leben.“

„Eher anders herum“, murmelte sie und holte tief Luft. Sie sah zu ihm. „Ihr seid beide absolute Idioten.“

„Hey, ich möchte anmerken, ich hatte wirklich relativ wenig Agenda darin, angeschossen zu werden“, meinte Jack. „Die Typen haben mich gestern in einer Bar auf dich angesprochen und sind mir später gefolgt. Anders als der gute Doc, habe ich nicht auf mich schießen lassen. Es wurde einfach auf mich geschossen.“

Pakhet sah ihn an. „Wie immer, hmm?“

„Gesamtzahl ist damit auf 24.“ Er grinste.

„Siehst du: Du bist ein Idiot.“

Ein Glucksen folgte, dass schnell abbrach, als Jack sich schmerzerfüllt an die Brust griff. Natürlich. Athea konnte unmöglich sämtlichen Schaden beseitigt haben.

Pakhet sah ihn an. „Weißt du was, Honigkuchen? Ich schaue mir nachher eure Wunden an.“

„Oh, du willst meine Krankenschwester sein?“, fragte er.

Sie schenkte ihm einen entnervten Blick. „Die Art Krankenschwester, die dir einen Einlauf gibt, wenn du zu aufmüpfig wirst.“

Das ließ sein Grinsen nur noch weiter werden. „Kinky.“

Heidenstein räusperte sich und schenkte ihm einen strafenden Blick. „Komm, Jack, nerv sie nicht zu sehr.“

Jack verdrehte die Augen. „Okay.“ Damit ließ er sich weiter in seine Kissen zurücksinken und biss wieder in sein Toast. „Entschuldige, Pakhet.“

Sie runzelte nur die Stirn, schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Kaffee zu. Sie würde diese Provokation mit nicht mehr Aufmerksamkeit belohnen.

[07.11.2011 – F08 – Unschuldige]

Die Wunden von Heidenstein und Jack sahen etwa so aus, wie Pakhet es erwartet hatte. Oberflächlich waren sie noch immer offen, bluteten sogar noch, doch zumindest hatte Atheas Zauber den Schaden an den inneren Organen soweit wie möglich magisch behoben. Sie waren nicht mehr im kritischen Zustand. Es war wahrscheinlich das beste, was sie hatte tun können. Es war besser, als Pakhet gehofft hatte. Gute Heiler waren sehr selten und das hier war besser, als die meiste Arbeit, die sie gesehen hatte. Offenbar hatte Athea sich damit beholfen, die Wunden erst mundan, dann magisch zu verarzten. Wahrscheinlich hatte sie die Wunde in der Haut aufgelassen, damit sich kein Eiter oder Wundflüssigkeit darunter sammelte.

Pakhet konnte jedenfalls relativ wenig für die beiden machen. Sie würden einfach Zeit brauchen, um zu heilen. Während sie letzten Endes am Montag zurück zur Firma musste. Sie konnte sich nicht noch mehr Ärger mit Michael erlauben. Also ging sie.

Es war wieder einer der ereignislosen Tage. Sie verbrachte ihn größtenteils damit zu trainieren, aß zusammen mit Smith zu Mittag, jedoch ohne großartig über etwas zu reden. Es war seltsam, Smith wirklich als einen Freund zu sehen.

Der Tag neigte sich bereits den Ende zu, während sie sich über die verschwendete Zeit ärgerte. Sie war auf dem Weg vom Trainingsraum zu den Duschen, im Untergeschoss der Firma, als sie inne hielt.

Eine Stimme kam aus einem der anliegenden Räume. Hier unten waren neben den Trainingsräumen und Umkleiden vor allem Vorbereitungsräume für Einsätze. Das, und die Zimmer, die zu den Jobs gehörten, die es auch in dieser Firma gab: Putzleute und dergleichen.

Die Stimme jedoch kam aus einem Zimmer, das normal für Einsatzplanung gedacht war. Wenn man so wollte ein einfacher Seminarraum. Jedenfalls hätte man es in jeder anderen Firma so bezeichnet. Es war Michaels Stimme.

„Jetzt komm schon Mädchen, du kannst mir nicht erzählen, dass du da nichts weiter mitbekommen hast.“

Pakhet spannte sich an. Sie konnte nicht anders. Wieso hatte sie das Gefühl, dass hier mehr vor sich ging, als sie den Eindruck hatte.

„Ich weiß, dass du nicht stumm bist, egal wie sehr du so tust“, meinte Michael. „Also. Weißt du irgendetwas, was der gute Doktor verbirgt? Irgendetwas Interessantes?“

„N-nein“, erwiderte eine zittrige, leise Stimme. „Da ist nichts.“

Pakhet kannte die Stimme. Hazel. Sie seufzte. War die Kleine ein Spion von Michael?

„Du kannst mir nicht erzählen, dass er überhaupt keine Skelette im Schrank hat“, meinte Michael. „Komm schon. Irgendetwas. Wo ist er überhaupt?“

Stille. Dann leise: „Verletzt.“

„Ah. Bei dem Anschlag?“, fragte Michael. „Dann stimmt es also, was ich gehört habe?“ Wahrscheinlich hatte Hazel genickt.

Pakhet zögerte, dann aber öffnete sie die Tür und kam herein. „Gibt es vielleicht etwas, das du mich fragen willst, Michael?“

Er musterte sie, ohne auch nur eine Spur von Überraschung im Blick. Hatte er darauf gewartet, dass sie dazu kam? Hatte er es vielleicht so geplant? Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Jojo. Ich habe gehört, man hat auf dich geschossen.“

„Ja“, antwortete sie. „Und?“

„Dann rächt sich dein kleiner Superheldenstunt langsam wirklich“, meinte Michael. „Stimmt es, was man mir gesagt hat? Die Likedeeler haben ein paar Leute geschickt.“

Sie atmete tief durch, zauberte dann ein professionelles Lächeln auf ihr Gesicht. „Du kennst das Geschäft Michael, Informationen kosten.“

„Ah, da ist die Pakhet, die ich kenne.“ Er wirkte zufrieden. „Beinahe. Was ist mit dem guten Doktor?“

„Informationen kosten“, wiederholte sie und ging auf ihn zu. Wenn sie ihm auf die Pelle rückte, konnte er es nicht andersherum tun. „Was machst du mit Hazel?“

Er lächelte. „Du sagtest es gerade selbst: Informationen kosten.“ Er zwinkerte.

„Dann ist sie dein Spion?“, fragte Pakhet.

Michael zuckte mit den Schultern, rieb seine Finger in einer deutlichen Geste miteinander. „Vielleicht.“

Hazel atmete deutlich hörbar ein. „Nein“, flüsterte sie. „Ich bin nicht …“

„Sei ruhig“, sagte Michael leise. „Erwachsene reden.“

Hazel sah auf ihre Hände, die vor ihr auf der Tischplatte lagen. Ihre Haare fielen seitlich vor ihr Gesicht. Sie atmete zitternd aus. Ihr ganzer Körper war angespannt.

„Lass sie in Ruhe, Michael“, flüsterte Pakhet. „Sie hat wirklich nichts mit der Sache zu tun.“

„Irgendwie ja schon, oder?“, erwiderte Michael. Er trat an Hazel heran, strich mit falscher Sanftheit über ihr Haar. „Immerhin lebt sie bei euch, oder? Der gute Doktor konnte einfach nicht widerstehen.“

„Hast du sie angreifen lassen?“, fragte Pakhet. Es wirkte wie etwas, dass Michael tun würde. Hatte er darauf gebaut, dass das Mädchen zu schwach war, um sich gegen ihn zu wehren?

Vielleicht konnte sie es auch nicht. Auch jetzt zitterte sie förmlich vor Angst. Sie traute sich nicht den Kopf zu heben, wehrte sich nicht, als Michaels Hand ihren Nacken entlang strich – etwas, das er nur tat, um seine Macht zu demonstrieren. Er hatte an Hazel genau so wenig Interesse, wie an irgendjemanden sonst.

Er musterte Pakhet, während seine Finger unter Hazels Kinn strichen und sie zwangen, den Kopf zu heben. Er lächelte. „Vielleicht.“

„Michael, lass sie“, sagte Pakhet leise, machte wieder einen Schritt auf ihn zu.

Er hob die Augenbrauen. „Oder?“

Sie griff nach seiner Hand, zog sie von Hazel weg, sah ihm in die Augen. „Kannst du nicht einfach mal kein Arschloch sein?“

Er zuckte mit den Schultern, machte ein ratloses Gesicht. „Tja. Wer weiß?“ Damit entriss er ihr seine Hand, trat einen Schritt zurück.

Joanne sah ihn an, hielt inne, dann wandte sie sich Hazel zu, griff das Mädchen bei der Schulter. „Komm, Hazel. Wir fahren nach Hause.“ Duschen konnte sie auch im Krankenhaus.

„Bist du dir sicher, dass du sie weiter mit reinziehen willst?“, fragte Michael.

Hazel zitterte. Ihr Blick war wieder auf ihre Hände gerichtet. Dann aber stand sie auf und sah Pakhet kurz, für nur einen Moment an. „Okay“, hauchte sie. Sie stellte sich hinter sie.

Michael lächelte. „Wie du meinst, Jojo. Ganz wie du meinst.“

[07.11.2011 – H01 – Stille]

Hazel saß still auf dem Beifahrersitz, starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoss lagen. Sprach sie jemals?

Pakhet achtete auf die Straße. Sie wusste nicht wirklich, wie sie mit Hazel reden sollte. Das Mädchen war so anders als sie. Sie hatte einfach keine Ahnung, wie sie mit jemanden wie ihr, jemanden, der so ruhig, jemanden, der so zurückhaltend und schüchtern war umgehen sollte. Sie hatte immer das Gefühl, sich aufzudrängen.

Dennoch musste sie mit ihr sprechen. Sie hatte Fragen und verdammt noch mal: Sie brauchte Antworten.

Also räusperte sich und kam sich dabei so unbeholfen vor, wie Heidenstein manchmal war. „Wie bist du überhaupt hergekommen?“

Hazel zuckte förmlich zusammen, als sie angesprochen wurde. „Mit meinem Motorrad“, flüsterte sie. Sie lehnte sich gegen das Fenster, den Blick nach draußen gerichtet. Offenbar ein versucht soweit von ihr wegzukommen, wie nur irgendwie möglich.

„Warum hast du nichts gesagt? Steht es noch da?“ Pakhet bemühte sich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben.

Hazel nickte nur.

„Du hättest etwas sagen können“, meinte Pakhet.

Ein Schulterzucken oder zumindest eine Andeutung davon.

Pakhet schüttelte den Kopf und sah wieder auf die Straße. „Hat Michael etwas damit zu tun, dass du zu uns gezogen bist?“

Hazel zögerte. Sie sah aus dem Fenster, wo gerade eins der Weingüter am Rande der Stadt an ihnen vorbeiglitt. Sie zögerte sehr lange. Es fühlte sich an wie Minuten. „Ich weiß es nicht“, hauchte sie schließlich. „Ich … Ich weiß es nicht. Warum sollte er das tun?“

Mühselig schaute Pakhet zu ihr, um sie besser einschätzen zu können. Etwas, das bei jemanden, der ohnehin allein dadurch, mit jemanden zu sprechen, so nervös war, verdammt schwer war. Dennoch hielt sie das Mädchen nicht für eine gute Lügnerin, noch weniger für jemanden, der wirklich so etwas versucht hätte. Gleichzeitig war sie wahrscheinlich auch niemand, der Michael „Nein“ gesagt hätte, wenn er gefragt hätte.

Sie holte tief Luft, sah wieder zur Straße und fragte sich, was sie verdammt noch mal jetzt mit dem Mädchen machen sollte.

Sie würde mit Heidenstein sprechen müssen. Sie würde definitiv mit ihm reden müssen. Vielleicht wusste er ja, wie man mit Hazel umging. Er hatte was diese Dinge anging, definitiv mehr Fingerspitzengefühl, als sie.

Kurz schürzte sie die Lippen, holte noch einmal tief Luft. „Du musst vorsichtig um Michael herum sein, ja?“

Keine Antwort. Natürlich nicht.

„Michael ist ein sehr gefährlicher Mann. Er hat mit dir vielleicht keine Probleme, nicht persönlich, aber mit mir und dem Doc. Deswegen wird er dich jetzt aufs Korn nehmen, verstehst du? Weil er durch dich hofft an uns zu kommen.“

Noch immer schwieg Hazel. Es war, als würde man mit einem leeren Sitz reden.

Wie ging man mit so jemanden um? Wie zur Hölle?

Pakhet räusperte sich. „Hast du mich verstanden?“

Ein Nicken. Das war wohl die beste Antwort, die sie von dem Mädchen bekommen würde. Ein Nicken. Immerhin war es eine Reaktion.

[07.11.2011 – D50 – Patienten]

Als sie in der Klinik ankamen, fand sie nur Jack im Krankenzimmer unten in der Straßenklinik. Ja, weil sie das auch noch brauchte. Heidenstein war offenbar auf den Beinen.

„Wo ist der Doc?“; fragte Pakhet und schaute fragend zu Jack, der von irgendwoher eine dieser Hand-Spielekonsolen hatte und darauf spielte.

Er sah auf. „Da bist du ja, Schönheit.“ Sein Grinsen verschwand jedoch, als sie den Ausdruck auf ihrem Gesicht merkte. „Alles in Ordnung, Pakhet?“

Sie schüttelte den Kopf, drehte sich kurz zu Hazel um, die offenbar gerade versuchte, mit der Wand im Flur zu verschmelzen. „Wo ist der Doc?“

„Er sagte, er schaut nach Murphy“, antwortete Jack.

Pakhet schnaubte. „Natürlich hat er das.“

Jack sah sie ratlos an. „Ich habe ihm gesagt, dass du sauer wirst. Aber er wollte nicht hören. Nur damit du es weißt: Ich bin unschuldig.“

Zumindest das entlockte Pakhet ein kurzes Lächeln. „Schon gut“, meinte sie. „Ich schaue nach ihm und hoffe, ihn in einem Stück zu finden.“

„Mach das, Sweetheart.“

Sie verdrehte die Augen, wandte sich ab. Im Flur legte sie eine Hand auf Hazels Schulter, während das Mädchen aktuell das Muster des PVC-Bodens fixierte. „Komm.“

Hazel sagte nichts, setzte sich aber in Bewegung und begleitete sie zum Aufzug. Sie sah auf den Boden, hielt ihre Laptoptasche in den Händen vor sich, wie einen Schild. Sie schien so bedacht darauf, nicht nach oben zu schauen. Es war gruselig.

Mit dem mittlerweile so vertrauten „Pling“ kam der Aufzug im obersten Stockwerk an.

Hazel folgte Pakhet aus dem Aufzug, blieb nach einigen Schritten jedoch zögernd stehen.

Pakhet drehte sich zu ihr um. „Was ist?“

„Kann ich … Kann ich auf mein Zimmer gehen?“

Beinahe hätte Pakhet etwas der Art „Bin ich deine Mutter?“ erwidert, vielleicht auch ein „Wir sind wegen dir hier?“, doch dann besann sie sich eines besseren. Das Mädchen fühlte sich deutlich nicht wohl, also war es vielleicht wirklich besser, wenn jemand anderes, jemand, der wusste, wie man mit ihr umging, redete. Selbst wenn es hieß, dass Heidenstein sich um sie kümmerte, während er eigentlich ins verdammte Bett sollte.

Sie nickte. „Natürlich. Ich oder der Doc … Wir schauen dann nachher nach dir, ja?“

Hazel nickte nur, schlurfte zu ihrer Zimmertür hinüber, die ein normales Schloss hatte, und holte mit fahrigen Händen, den Schlüssel aus ihrer Jackentasche.

Pakhet seufzte. „Mach dir nicht zu viel aus Michael, ja, Hazel?“

Wenn Hazel sie überhaupt gehört hatte, so gab sie kein Zeichen davon. Sie öffnete die Tür und glitt durch einen Spalt.

Pakhet schüttelte den Kopf, eilte zu dem Zimmer, in dem der noch immer angeschlagene Murphy untergebracht war. Immerhin ging es ihm langsam etwas besser.

Sie öffnete die Tür ohne Klopfen. „Doc?“

Jack hatte Recht. Heidenstein war hier. Er saß auf einem Stuhl an Murphys Bett und schien damit beschäftigt, ein Spiel mit dem Jungen zu spielen, der seine normale Gestalt trug.

Murphy sah auf, Heidenstein drehte sich zu ihr um. „Pakhet.“

Musste er ihren Namen immer so seltsam sagen?

Sie schnaubte. „Du gehörst ins Bett, wie du als Arzt sehr wohl wissen solltest, Heidenstein.“

„Oh, gefährlich“, kommentierte Murphy mit einem Blick, als würde er gerade eine Seifenoper im Fernsehen verfolgen. „Normal nennt sie dich nicht so.“

Heidenstein leckte sich über die Lippen. „Ich habe mir als Arzt die Erlaubnis gegeben, aufzustehen, um mich um unseren anderen Patienten zu kümmern.“

„Dann entziehe ich dir damit diese Erlaubnis wieder“, murrte sie, ging zu ihnen hinüber und zog den zweiten Stuhl vom Rand des Zimmers an Murphys Bett.

Sie musterte Heidenstein. Offenbar hatte er auch neue Kleidung aus der Wohnung geholt, trug nun eine ausgeleierte Trainingshose zusammen mit einem Band-T-Shirt von Metalica. Aktuell sah er alles in allem gut aus, davon abgesehen, dass er blass war und sich definitiv mal wieder rasieren sollte. Sein normalerweise gut gepflegter Dreitagebart, wirkte aktuell etwas wild.

„Ach, komm schon, Mum“, meinte Murphy. Offenbar schien er darauf bedacht, diesen Namen beizubehalten. Ob es nur war, bis sie ihn aus dem Krankenhaus entließ, oder dauerhaft dabei bleiben würde, würde sie wohl sehen.

Sie kam dennoch nicht umher, beinahe automatisch die Lippen zu schürzen. Wie hatte sie sich in diese Situation gebracht?

„Er leistet mir nur etwas Gesellschaft“, erklärte der Junge weiter.

„Ja, ja“, murmelte Joanne. „Und dabei ignoriert er ganz, dass er aktuell selbst ein Patient ist.“ Sie musterte Heidenstein, zögerte einige Sekunden, beließ es aber dabei.

„Machst du dir wirklich solche Sorgen um mich?“, fragte Heidenstein.

Sie verdrehte die Augen. Das wurde in den letzten Wochen mehr und mehr zu ihrer Standardantwort auf alles. „Ja. Natürlich, du Idiot. Verdammt. Du hast dich wegen mir in den Bauch schießen lassen. Also ja, ich fühle mich mehr oder minder moralisch dazu verpflichtet, mich um dich zu sorgen.“

„Das ist ja beinahe schon niedlich“, kommentierte Murphy mit einem Grinsen.

Sie würdigte diesen Einwand nicht mit einer Antwort. Stattdessen seufzte sie, wandte sich Heidenstein zu. „Wie geht es dir?“

„Besser“, antwortete er. „Wirklich. Es tut noch weh, aber es wird besser.“ Er bemühte sich um ein warmes Lächeln. „Ich weiß es zu schätzen, dass du dich um mich sorgst.“

Sie nickte, schürzte die Lippen, seufzte.

Heidenstein musterte sie, nahm ihre Hand, nur um sie im nächsten Moment wieder loszulassen. „Was ist los?“

Eigentlich wollte sie das Thema nicht vor Murphy diskutieren. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er das letzte Mal auf das Thema Michael reagiert hatte. Verdammt. Wieder schürzte sie die Lippen. „Ich habe gerade Hazel nach Hause gefahren.“

„Warum?“ Die Frage war vorhersehbar gewesen.

„Michael hat sie auf der Arbeit belästigt“, erwiderte sie. „Hat sie bedrängt.“

Etwas veränderte sich in Murphys Körperhaltung. „Sexuell?“

Joanne schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Er hat sie angefasst, aber nur … Um seinen Punkt zu demonstrieren.“ Sie sah nur kurz zu Murphy. „Michael … Er hat es nicht wirklich mit Frauen oder irgendwem. Er wird nur davon geil, andere herumkommandieren zu können.“

Murphy verzog das Gesicht. „Er ist einfach ein richtiges Arschloch, oder?“

„Ja, ist er“, erwiderte Joanne und wandte sich Heidenstein zu. „Kannst du nachher mit Hazel sprechen? Ich kriege aus ihr kaum ein Wort heraus.“

„Wieso?“, fragte Heidenstein.

Joanne seufzte, zögerte. Sie wollte nicht, dass ihre Vermutung falsch herüberkam. „Ich glaube, Michael hat die Typen geschickt, die ihrem Kram geklaut und sie zusammengeschlagen haben. Ich glaube, er hat darauf gewettet, dass du sie hier aufnehmen willst.“

„Was?“ Heidenstein runzelte die Stirn. „Aber wieso?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke, er hat geglaubt, so an dich und dadurch an mich zu kommen.“ Sie seufzte. „Jedenfalls hat er sie zu der ganzen Sache mit unseren Angreifern befragt und …“ Sie schürzte die Lippen. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie mehr weiß.“

„Ich kann sie fragen“, bot Murphy sofort an.

Sie warf ihm einen Blick zu. „Nimm es mir nicht übel, Kid, aber ich glaube nicht, dass du die richtige Person dafür bist.“

Er sah beleidigt aus. „Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass du sehr aufdränglich sein kannst. Und dass ich glaube, dass du jemanden wie Hazel noch weiter verschüchtern könntest.“

„Ich kann auch einfühlsam sein.“

„Ja, sicher.“

„Wirklich. Was meinst du …“ Er schüttelte den Kopf. „Wirklich, Mum. Überlass das einfach mir.“ Er sprang aus dem Bett.

Sie griff nach dem Ärmel seines Pyjamas. „Solltest du nicht liegen?“

Er sah sie mit einer ungläubigen Grimasse an. „Bitte, Mum. Ich habe kein Fieber mehr. Eigentlich geht es mir wieder gut. Habe nur noch ein wenig Schnupfen.“ Er riss sich los. „Und hey, ein wenig Mitleidsfaktor. Ist doch super.“ Damit marschierte er zur Tür.

Joanne sah zu Heidenstein, der nur mit den Schultern zuckte.

„Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee“, meinte er. „Hazel … Ich denke, sie kann etwas Gesellschaft gebrauchen.“

Sie seufzte. „Wenn du sie fragst, würde sie einen deiner Armreife bevorzugen.“

Darauf antwortete Heidenstein nicht.

[08.11.2011 – M28 – Fuhrpark]

Ein anderer Tag in der Firma. Kein Treffen mit Michael. Zumindest das war etwas wert. Was sollte Pakhet nur wegen ihm machen? Fuck. Sie kam so nicht weiter. Sie kam nicht weiter. Vielleicht sollte sie mit Smith darüber sprechend, aber auf der anderen Seite wollte sie nicht noch mehr Probleme für ihn verursachen.

Als sie zum Krankenhaus zurückkam, fand sie die Garage, die normalerweise Krankenwagen beherbergt hätte, von denen es hier jedoch nur ein sehr veraltetes Modell gab, offen. Darin waren Heidenstein, Murphy und Alice.

Dieses Mal hatte Heidenstein es geschafft, sich gegenüber zum Vortag zu steigern.

Sie schnaubte. „Doc. Jetzt stehen wir schon wieder?“

Zugegebenermaßen hatte er eine Krücke als Stütze dabei. Kaum ein Wunder. Immerhin hatte eine der Kugeln seinen Oberschenkel durchbohrt und die Wunde war noch lange nicht verheilt.

Er sah zu ihr. Wieder breitete sich das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Wir haben Besuch, wie du siehst.“

„Und ich dachte, der Brite bietet Besuch ein wenig Tee und Gebäck an“, meinte Joanne mit einem Kopfschütteln. Dann ging sie zu den beiden Teenagern hinüber und wurde sich erst jetzt dessen bewusst, was Murphy genau machte.

Er stand neben einem Motorrad, bewunderte dieses. Erst war sie davon ausgegangen, dass es Alices war, doch nun wurde ihr klar, dass es das ihre war, das die letzten paar Monate lang Staub in der Krankenhausgarage angesammelt hatte.

„Was machst du da?“, fragte sie.

„Mich fragen, warum das Ding hier verstaubt“, erwiderte er. „Mal ehrlich, das Bike würde dir besser stehen, als das Kanarienmobil.“

Sie verdrehte die Augen. „Ich fahre im Moment nicht, weil man auf einem Motorrad eher ein Ziel für etwaige Angriffe bietet“, meinte sie. Und weil es einfacher war mit dem Wagen während der Fahrt zu telefonieren.

Generell hatte sie sich in ihrem Wagen sicherer gefühlt.

„Geez. Mum. Du bist echt paranoid“, meinte Murphy.

„In den letzten zwei Wochen haben zwei Mal Leute versucht mich umzubringen“, erwiderte sie. „Ich würde es eher als begründete Vorsicht bezeichnen.“

„Was mich zu dem Grund meines Besuches bringt“, warf Alice ein, die an der Garagenwand lehnte.

„Und ich dachte, du seist hier, um Murphy zu besuchen.“

„Als ob ich so viel Aufmerksamkeit bekommen würde“, meinte Murphy spitz.

Alice streckte ihm die Zunge raus, holte dann aber ihr Handy heraus. Sie rief irgendetwas auf, offenbar einen Text, scrollte darüber. „Ich habe ein paar Sachen nachgeforscht und ein wenig etwas über deine Angreifer herausgefunden.“

„Und diese Information hat einen Preis?“, vermutete Pakhet.

Alice lächelte milde. „Du kennst das Geschäft.“

Pakhet seufzte. Weil sie nicht schon genug Probleme hatte. Sie seufzte. „Wie viel?“

„Ein richtiges Schnäppchen. Zweitausend Rand.“ Auffordernd hielt das Mädchen die Hand auf.

Murphy grinste, ging zu Joanne hinüber. „Ich habe einen Vorschlag zu machen, Mum.“

Sie sah ihn an. „Aha?“

„Ja.“ Er legte einen Arm um sie, als würde er sich mit ihr verbrüdern wollen. Da er selbst mit Gestaltwandel deutlich kleiner war als sie, wirkte es etwas albern. „Du hast da ein hübsches Motorrad. Darf ich es mir für ein paar Tage leihen?“

„Du gehörst ins Bett, Kid“, meinte sie.

Heidenstein räusperte sich. „Nun, technisch gesehen geht es ihm schon wieder ziemlich gut. Er hatte gestern und heute kein Fieber.“

„Und wie du hören kannst, geht es dem Hals auch besser“, meinte Murphy.

Zugegebenermaßen stimmte das. Seine Stimme klang weder kratzig, noch seltsam nasal, was auch dafür sprach, dass es seinen Nebenhöhlen besser ging.

Pakhet murrte. Wahrscheinlich hatten sie Recht. Ja, sie übertrieb. Sie übertrieb sicher. „Schon gut, Kid. Dann ja, wegen mir aus.“ Sie seufzte, schüttelte den Kopf. „Aber wehe Crash muss dich in einer Woche wieder vorbei bringen.“

Murphy salutierte. „Rodger, rodger.“ Er zwinkerte Heidenstein zu und wandte sich dann Alice zu. „Also, meine Liebe, ich zahle dich.“

Sie runzelte die Stirn. „Mit Geld?“

Murphy zog einen Schmollmund. „Ich habe weitaus bessere Qualitäten.“

„Die auch für Arbeit, die ich für dich mache, als Zahlung angenommen werden. Aber nicht für sie.“ Sie zeigte auf Pakhet.

Murphy seufzte schwer. „Schon gut, Liebes. Dann halt mit Geld. Echtem Geld.“

Alice schmunzelte, zuckte denn mit den Schultern und gab etwas in ihr Handy ein. Einen Augenblick später brummte Pakhets Handy. „Du solltest die Daten haben. Kurzfassung: Die Angreifer von vor zwei Wochen waren eine Truppe aus Joburg. Haben sich auf Entführungen und Auftragsmorde spezialisiert. Die Angreifer von vor ein paar Tagen waren ein gewisser Marius Vaansol zusammen mit seiner Truppe.“

„Likedeeler?“, fragte Pakhet.

Alice nickte. „Mehr oder weniger. Sie arbeiten meistens auf Auftragsbasis für Likedeeler, kommen eigentlich auch aus Amsterdam.“

„Danke, Alice.“ Pakhet seufzte. Nun, zumindest nur eine Truppe, die für Likedeeler arbeitete. Das war besser, als gehofft. Dann wiederum waren die zehntausend zwar viel, aber auf dem Konto einer internationalen kriminellen Organisation wahrscheinlich wenig wert. Entsprechend machte so eine Gruppe mehr Sinn.

Murphy wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Wagen zu. „Wo hast du die Schlüssel?“

Joanne konnte nicht anders, als ihrerseits etwas zu schmunzeln. Sie ging zu dem Jungen hinüber, verwuschelte sein Haar. „Erst musst du mir zeigen, dass du fahren kannst.“

„Du hast mich schon fahren gesehen“, protestierte er.

„Ja, auf deinem kleinen Ding“, erwiderte sie. „Nicht auf meiner Maschine.“

Murphy seufzte schwer. „Na, dann mach dich darauf gefasst, beeindruckt zu werden.“

[10.11.2011 – J12 – Fernsehabend]

Zwei weitere Tage. Ein kurzer Einsatz. Keine große Herausforderung. Keine große Gefahr. Zumindest gab es keine weiteren Angriffe.

Heidenstein ließ es sich mittlerweile nicht nehmen, teilweise wieder zu arbeiten. Dabei hatte sie seine Wunden gesehen. Sie waren bisher nicht gänzlich verheilt, selbst wenn er offenbar weiter mit Magie nachgeholfen hatte. Dennoch: Die Haut war noch immer nicht zusammengewachsen und es war deutlich, dass langes Stehen ihm weiterhin starke Schmerzen verursachte.

Jack war da der bessere Patient. Er hatte sich überreden lassen, die ganze Woche im Krankenhaus zu bleiben. Hätte Joanne es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt, es war, weil er Angst hatte, allein zu sein. Wahrscheinlich war es auch deshalb.

Wieder einmal lag er auf dem Sofa oben im Krankenhaus. Er konnte zumindest langsam wieder aufstehen, selbst wenn seine Wunden – dank weniger magischer Eingriffe – noch schlimmer aussahen, als Heidensteins. Dennoch hatten sie ihm erlaubt, hochzukommen, und sei es nur, um mit ihnen zu essen und einen Film zu schauen.

Pakhet stand zusammen mit Heidenstein in der Küche, kümmerte sich um das Abendessen.

„Wirklich alles okay?“, fragte Heidenstein schon zum dritten Mal an diesem Abend.

Sie seufzte. „Wie gesagt. Michael hat kein Wort mehr verloren.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Abgesehen sollte ich das fragen. Du hast eine Wunde im Bein. Und eine um Bauch.“

Er lächelte. „Vergiss nicht die an der Hüfte.“

„Wie konnte ich nur?“ Sie schmunzelte, schüttelte den Kopf und nahm die Pfanne vom Herd. Heidenstein hatte den Großteil des Kochens übernommen, hatte ein Curry gekocht. Sie hatte vorrangig darauf aufgepasst, dass er dabei nicht umkippte, und ein wenig Salat als Beilage vorbereitet.

Sie nahm die Pfanne. „Fertig?“

Er lächelte, nickte. „Mehr oder minder.“

„Dann bringe ich sie herüber.“ Sie hob sie an, brachte sie ins Wohnzimmer, wo sie sie auf dem Tisch abstellte.

Jack lächelte, richtete sich vorsichtig auf. „Das riecht wunderbar, Sonnenschein.“

„Das kannst du dem Doc sagen“, meinte sie und kehrte in die Küche zurück, um den Salat zu holen.

Heidenstein kam mit Tellern und Besteck an ihr vorbei.

„Du bist ein Sonnenschein“, flötete Jack ihm zu.

„Oh, bitte fang das nicht auch noch bei mir an“, seufzte Heidenstein.

„Ich weiß nicht, was du hast, alter Brummbär“, erwiderte Jack und lachte.

Heidenstein entschloss sich offenbar, ähnlich wie Joanne es meistens tat, die Anmerkung zu ignorieren. „Haben wir alles?“, fragte er sie, als sie sich zu ihnen gesellte.

„Ich denke schon.“ Sie nahm Jack die Fernbedienung ab und schaltete auf einen Nachrichtenkanal.

Für eine Weile herrschte mehr oder minder Schweigen, während sie aßen und den Nachrichten lauschten. Wenig Neuigkeiten, die sie betrafen. Das übliche. Politische Beschlüsse, ein wenig internationale Nachrichten, ein großer Unfall bei Joburg und dann Sport und Wetter.

Manchmal hoffte sie im Fernsehen irgendetwas zu hören, was auf Nel oder sonst irgendjemand schließen ließ. Die 69er war öfter einmal in den Nachrichten, wenn sie in irgendwelche Straftaten verwickelt waren. Doch nichts. Natürlich nicht.

Kurz bevor die Sendung beim Sport ankam, klingelte Pakhets Handy.

Beinahe rechnete sie mit irgendeiner Hiobsbotschaft. Umso überraschter war sie, als sie sah, dass es Robert war, der sie anrief.

Sie hob ab. „Ja. Was gibt es, Rob?“

Kurzes Schweigen. „Ich wollte fragen, ob ich bei dir vorbeischauen kann.“

Natürlich wollte er so etwas fragen. Doch die Antwort war nicht so leicht. „Ähm, wann denn genau?“

Wieder schwieg Robert kurz. „Jetzt?“

„Was?“

„Ich stehe vor dem Krankenhaus.“

Natürlich tat er das. Sie hätte es kommen sehen sollen. Ach, wahrscheinlich verdiente sie es auch. Immerhin war Robert auch jetzt noch sauer auf sie. Und sie ging jede Wette ein, dass es auch eine Rolle spielte, dass er Heidenstein kennenlernen wollte.

Allerdings hatte sie nicht den Kopf dafür. Doch konnte sie Robert nach Hause schicken?

Sie seufzte. „Moment.“ Dann ließ sie das Handy sinken, suchte Heidensteins Blick. „Robert“, flüsterte sie. „Er ist unten.“

„Dein Kindheitsfreund?“, fragte er.

Sie nickte stumm. Oh Gott, sie war dafür wirklich nicht bereit. Heidenstein und Jack wussten nicht, wer sie war, während Robert es kaum hinbekam, sie Pakhet zu nennen. Verdammt. Was glaubte er nur, was er hier tat?

Beinahe hoffte sie, dass Heidenstein etwas sagte, doch wie sie seufzte er nur. „Lass ihn hochkommen. Wenn er dein Kindheitsfreund ist, will ich ihn auch einmal kennen lernen.“

Großartig.

Nein. Sie war dafür wirklich nicht bereit.

[10.11.2011 – R06 – Zwei Leben]

Joanne wusste auch, als sie auf den Parkplatz lief, nicht, was sie genau tun wollte. Sie sah sich um, fand Robert, der gegen sein Auto lehnte und sie mit hochgezogenen Augen ansah.

„Joanne?“ Seine Stimme klang irritiert. „Was ist?“

Was sollte sie ihm sagen? Was konnte sie ihm sagen. Ach, verdammt, warum musste er sie in diese Situation bringen? Sie konnte nicht anders, als sauer auf ihn zu sein, packte ihn bei der Schulter. „Robert. Du kannst nicht einfach hier auftauchen.“

Er sah sie an. Er wirkte bitter. „Warum nicht?“

Sie biss sich auf die Lippen, packte ihn bei den Schultern. „Hör zu, wir haben aktuell gerade einen anderen Freund da. Es ist gerade wirklich ein doofer Moment.“

Ein Seufzen. „Ich weiß. Doch was soll ich bitte sonst machen? Du … Verdammt, Joanne, ich will wissen, wer diese Leute sind, mit denen du abhängst.“

„Söldner“, erwiderte sie, selbst wenn es für Jack offenbar nicht ganz stimmte. „Wie ich.“

Robert zögerte für einen Moment, strich durch sein rötliches Haar. „Ja, ich weiß“, gab er dann zu. „Aber … Das ändert nichts daran, dass ich sie kennen lernen will. Deine neuen Freunde.“ Er hielt kurz inne. „Speziell deinen neuen Mitbewohner.“

„Warum?“

„Weil du eigentlich meine beste Freundin sein solltest und ich wissen will, mit wem du abhängst. Nicht zuletzt, um sicher zu gehen, dass es nicht …“

Sie hob die Augenbrauen. „Dass sie nicht was? Böse Menschen sind? Was Böses wollen?“ Sie betonte das Wort übertrieben. „Und wenn schon? Was machst du dann?“

Er seufzte. „Ich mache mir Sorgen um dich, Jo. Dafür sind Freunde da, oder?“

„Ich habe da oben schon einen riesigen Idioten, der sich beständig Sorgen um mich macht.“

„Dieser Doc?“, fragte Robert.

Sie zuckte mit den Schultern, zögerte, nickte dann. „Ja, diese dumme Doc.“

Stille. Er musterte sie. „Also, was ist jetzt?“

Wie sollte sie es ihm erklären? „Hör zu. Weder der Doc, noch Jack, der andere Freund, der da ist, wissen, wer ich wirklich bin, okay? Sie wissen weder von Joanne, noch von der Army, noch von irgendetwas sonst. Sie kennen nur Pakhet und ich will, dass es verdammt noch mal dabei bleibt. Und, Rob, ich weiß nicht, ob du es hinbekommst, mit ihnen zu sprechen, ohne mich ein einziges Mal Joanne zu nennen. Du schaffst es nach sieben Jahren noch immer nicht.“

„Warum wissen sie davon nichts?“

„Weil Joanne tot ist, Rob. Das weißt du.“ Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. Wie oft hatten sie dieses Gespräch schon gehabt?

Robert schürzte die Lippen, sah sie lange an. Sie konnte Wut in seinen Augen flimmern sehen. Nein, keine Wut. Enttäuschung? Schließlich aber seufzte er. „Okay. Pakhet. Du bist Pakhet. Ich kriege es hin. Wirklich.“

„Und wenn nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Dann darfst du mich erschießen?“

Sie schnaubte. „Du weißt, das ich …“

„Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich es hinbekomme, dich Pakhet zu nennen.“ Er zeigte das Pfadfinderehrenwort. „Und bevor du fragst: Ich werde natürlich nicht auf Fragen antworten.“

Pakhet seufzte. Sie sah das Krankenhaus hoch. Sie war wirklich nicht bereit dazu, doch konnte sie Robert nicht einfach nach Hause zurück schicken, oder? Verdammt. Was würde Heidenstein sagen, würde er wissen, wer sie wirklich war? Sie schloss die Augen, versuchte irgendeine andere Lösung zu finden, doch es gab nichts. „Von mir aus. Aber wirklich, wenn du ihnen etwas erzählst …“ Sie schüttelte den Kopf.

Robert lächelte milde. „Schon verstanden.“

Weil sie wirklich keine andere Wahl hatte, führte sie ihn zum Krankenhaus, führte ihn wieder zum Aufzug und dann zur Wohnung. Sie wollte es nichts. Verdammt. Sie wollte hier weg. Sie wollte wirklich hier weg. Warum konnte sie sich nicht teleportieren? Fuck. Warum musste Robert auch herkommen?

Sie öffnete die Tür, lugte herein. „Ich habe Robert dabei“, sagte sie. Ihre Stimme klang viel zu geschlagen.

Heidenstein, der auf dem Sessel saß, sah neugierig zu ihr. Jack lächelte.

Sie öffnete die Tür weiter, um Robert herein zu lassen, merkte, wie sich ihr Inneres noch weiter anspannte. „Das ist Robert“, stellte sie ihn vor. Es fühlte sich so falsch an. „Robert, das sind Doctor Heidenstein“ – sie zeigte auf Heidenstein – „und Jack.“ Damit zeigte sie auch auf Jack.

Robert zögerte. „Jack, eh? Zumindest ein normaler Name.“

Sofort breitete sich das Jack typische Grinsen auf dessen Gesicht aus. „Aber natürlich, Honey, es braucht nicht jeder einen übertrieben langen Namen, wie der gute Doc hier.“

Heidenstein sah prüfend zu Joanne.

Sie stand noch immer unschlüssig in der Tür. Am liebsten wäre sie fortgegangen, weggelaufen, doch das konnte sie kaum tun, oder? Sie biss sich auf die Lippen.

Nach kurzem Zögern wandte sich Heidenstein an Robert. „Du kannst mich Doc tun, das tun die meisten.“

„Zumindest die meisten, die dich nicht Idiot nennen“, murmelte Pakhet und schloss die Tür schließlich. Sie ging zum Sofa hinüber, setzte sich neben Jack und bedeutete Robert, sich zu ihr zu setzen, auch wenn das Sofa für drei Leute fraglos etwas eng war. Doch es hätte sich falsch angefühlt, Robert allein mit Jack auf dem Sofa zu lassen oder ihn auf einem Stuhl sitzen zu lassen.

Zumindest Jack schien ihre Nähe nicht zu stören. Er warf ihr einen übertrieben vielsagenden Blick zu.

Eine peinliche Stille senkte sich über sie, bis Heidenstein schließlich sprach: „Wir waren gerade beim Abendessen. Wenn du magst, kann ich dir noch etwas geben, Robert. Wir haben noch etwas Curry übrig.“

Robert sah ihn überrascht an, nickte aber. „Danke.“ Er zögerte. „Doc.“

Pakhet schürzte die Lippen und versuchte ihre Aufmerksamkeit dem Fernseher zuzuwenden. Irgendeine Quizshow war angelaufen, während Heidenstein und Jack auf sie gewartet hatten. Oh, verdammt. Wie sollte das nur gut gehen?

Jack stieß ihr leicht in sie Seite, schenkte ihr dann einen aufmunternden Blick. „Jetzt schau nicht, wie drei Tage Regenwetter, Sweetheart. Ist doch etwas schönes, neue Leute kennen zu lernen, oder etwa nicht?“

„Es ist nicht so, als würde ich jemand neues kennen lernen, mon chèr“, erwiderte sie säuerlich.

„Du nicht, aber ich kann direkt ein paar neue Sachen über dich lernen und über deinen hübschen Freund hier.“ Er lächelte breit. „Wie wär's, wenn ihr anfangt, zu erzählen. Woher kennt ihr euch?“

Robert sah sie fragend an, entlockte ihr nur ein Seufzen.

Großartig. Natürlich würden solche Fragen kommen. „Ich kenne Robert, seit ich ursprünglich nach Kapstadt gezogen bin. Wir waren im selben Karateverein.“ So viel Information war hoffentlich nicht zu viel.

„Oh, Karate?“, fragte Jack. „Das heißt, du hast auch Karate gemacht, Robert?“

Robert zuckte mit den Schultern. „Ich mache es heute noch ab und an. Aber ich komme seltener dazu, zum Training zu gehen.“ Er zögerte. „Ich habe die Werkstatt meines Vaters übernommen.“

„Na, dann kannst du dich zumindest selbst verteidigen“, meinte Jack. „Sehr wichtige Fähigkeiten.“

Robert lachte leise, sah zu Joanne hinüber.

Sie wusste, woran er dachte, schüttelte aber den Kopf. Sie wollte nicht, dass er darüber sprach.

„Ich sehe, es gibt einige Geheimnisse“, stellte Jack fest. Er schaute über die Rückenlehne des Sofas zu Heidenstein, der gerade durch die Tür kam. „Doc. Was meinst du. Wollen wir die beiden abfüllen?“

Ähnlich wie Robert suchte auch Heidenstein ihren Blick, bekam jedoch kein Kopfschütteln, sondern nur einen wütenden Blick zur Antwort. Er seufzte. „Ich denke, das lassen wir wieder.“ Damit gab er Robert eine Schüssel und Besteck, ehe er zu seinem Sessel zurückhumpelte.

„Danke.“ Zurückhaltend begann Robert seine Schüssel aufzufüllen.

Wieder schürzte Pakhet ihre Lippen. „Können wir uns einfach darauf einigen, keine Fragen zu meiner Vergangenheit zu stellen?“

„Warum?“ Jack musterte sie spitzbübisch.

„Weil ich darüber nicht reden möchte.“

Jack grinste. „Ich verstehe schon, Sweetheart. Ein Geheimnis macht eine Frau erst richtig interessant.“ Dann seufzte er. „Dabei hatte ich eigentlich über die verflossenen Jugendlieben fragen wollen.“ Er warf Robert einen vielsagenden Blick zu. „Wie vielen Herren hat sie das Herz gebrochen?“

Robert schnaute. „Du hast sie gehört. Wir reden nicht darüber.“ Er stach seine Gabel in ein Fleischstück in der Schüssel. „Nicht, dass es dahingehend viel zu erzählen gäbe.“

„Rob“, zischte sie.

Er zuckte nur mit den Schultern, wandte seine Aufmerksamkeit gänzlich dem Essen zu.

Heidensteins fragender, aber verständnisvoller Blick, machte es nicht besser. Wie sollte sie diesen Abend nur überleben?

Sie seufzte. „Wir wollten eigentlich einen Film schauen, oder?“, fragte sie, ihre Stimme gereizt. „Also … Welchen Film schauen wir?“

[12.11.2011 – D51 – Radiohead]

Endlich kam das Wochenende. Das Wochenende nach einer dankbarerweise sehr ereignislosen Woche.

Es war wärmer geworden, blieb aber bei erträglichen 22 bis 25 Grad. Die Nächte waren angenehm kühl und allgemein war es erträglich.

Pakhet war am Vortag mit Murphy auf dem Motorrad unterwegs gewesen. Dafür das er eigentlich nicht fahren durfte, fuhr er ziemlich gut. Seine gestaltwandlerische Begabung nutzte er auch dabei zu seinem Vorteil.

Noch immer war Jack im Krankenhaus. Noch immer verbrachten sie die Abende zu dritt im Wohnzimmer damit Filme zu schauen und gemeinsam zu Abend zu essen.

Warum fühlte es sich gut an? Warum konnte sie sich beinahe daran gewöhnen?

Es war Samstagvormittag und sie war nach unten gegangen, wo sie in einem der weiteren, vielen noch immer nicht genutzten Räume ihre Trainingsgeräte abgestellt hatte. Sie war in der letzten Woche gut zum Training zu kommen, hatte dennoch das Gefühl, es im Moment deutlich zu vernachlässigen.

Sie war seit knapp zwanzig Minuten auf dem Laufband, hatte Musik angemacht. Eigentlich trainierte sie selten zu Musik, doch aktuell fühlte es sich richtig an, bei ein wenig Musik und Sport, die Gedanken schweifen zu lassen. Sie hatte in Heidensteins Sammlung ein paar alte Radiohead und Nirvana Alben gefunden, etwas, das auch sie in ihrer Jugend gehört hatte.

Die Tür wurde geöffnet. Ob es geklopft hatte, konnte sie dank der Musik nicht sagen. Doch konnte sich Heidenstein, als er mit einer Plastikkanne hereinkam ein Grinsen nicht verkneifen.

Er drehte die alte kleine Stereoanlage herunter. „Ich dachte, ich bringe dir etwas zu trinken.“

Sie stellte die Geschwindigkeit langsam herunter, sah zu ihm hinüber. „Und da dachte ich, du hättest dich endlich einmal ausgeruht.“ Als das Laufband langsam genug war, sprang sie herunter.

„Du kennst mich.“

„Ja, ich kenne dich. Du bist nicht nur ein verfickter Idiot, sondern auch ein elendiger Workaholic“, erwiderte sie mit einem Seufzen. „Was hast du mir gebracht?“

„Limo. Wir hatten noch ein paar Zitronen“, erwiderte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Dir war langweilig, oder?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich würde nicht sagen, langweilig.“

Sie seufzte, ließ sich aber von ihm einen Becher reichen, um zu trinken. „Eigentlich ist es kein Kaffee.“

„Meine liebe Pakhet“, meinte er in scherzhaften Ton, „du hast ein deutliches Suchtproblem.“

„Ach was“, erwiderte sie.

„Du würdest mir das Gesicht zerkratzen, wenn ich dir deinen Kaffee nehme.“ Er schenkte sich selbst einen Becher ein.

Sie antwortete nichts. Natürlich würde sie darauf nur mit etwas einfachen reagieren: Sie würde sich neuen Kaffee kaufen. Für einen Moment musterte sie Heidenstein. „Setz dich zumindest hin. Du verdammter Arzt.“

„Verdammter Arzt?“

Sie zeigte auf den einen Stuhl im Zimmer. „Ärzte sind die schlimmsten Patienten, nicht?“

„Habe ich auch schon gehört“, antwortete er, kam ihrer Aufforderung aber nach. „Hey, ich habe das meiste mittlerweile geheilt. Mit genug Zeit geht das schon.“

„Was aber nicht heißt, dass du dich nicht dennoch schonen solltest, Doc.“

Er seufzte hilflos. „Ach, was.“

„Ja, doch.“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte aber schon wieder. Warum lächelte sie wieder?

Er setze an, um etwas zu erwidern, als ihr Handy klingelte.

Sie hob die Hand, um ihm zu signalisieren, kurz zu schweigen, schaltete den Player ganz aus und ging dann heran. „Ja?“ Sie hatte Chases Namen auf dem Bildschirm gesehen. Blieb nur die größte aller Fragen: Gute oder schlechte Nachrichten?

„Hallo, Pakhet“, meinte er sehr vorsichtig.

Sein Tonfall sagte alles. Schlechte Nachrichten.

„Was gibt es?“, fragte sie.

„Nun, zwei, nein, drei Sachen.“ Er holte deutlich hörbar Luft. „Erstens: Wir haben Zea nach Ägypten bringen können. Zumindest ihn sollten sie so leicht nicht wiederbekommen. Er hatte eigentlich ägyptische Staatsbürgerschaft, wie schon vermutet.“

Pakhet nickte. „Gut.“

„Zweitens: Wir haben Probleme wegen dem Einsatz bekommen, mussten die anderen wieder freilassen.“

Pakhet antwortete nicht.

„Drittens: Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, woher wir die Informationen haben. Miss Patricia Steyn hat mich angerufen, hat mich ausgefragt. Ich habe diese Woche noch ein Treffen mit ihr.“

„Patricia Steyn?“, fragte Pakhet.

„Die Sekretärin von Minister Nel“, antwortete Chase angespannt.

„Oh.“ Innerlich fluchte Pakhet.

„Es wurde auch konkret nach den Söldnern gefragt, die wir angeheuert haben“, fuhr Chase fort. „Wenn, was Sie herausgefunden haben, stimmt, ahnen sie wahrscheinlich, dass Sie damit zu tun hatten.“

„Ich verstehe.“ Pakhet seufzte.

Kurz schwieg Chase, ehe er schließlich wieder Worte fand. „Ich wollte dich nur darüber informieren.“

„Danke“, antwortete Pakhet.

„Ich sage Bescheid, wenn ich mehr weiß.“ Kurz pausierte er. „Bye.“

„Bye“, murmelte auch sie, doch er hatte schon aufgelegt.

Heidenstein sah sie an. Schon wieder war sein Gesichtsausdruck besorgt. „Was war das?“

Sie seufzte, stützte sich mit den Händen gegen die Wand ab, um kurz ihre Gedanken ordnen zu können. Sie schloss die Augen, atmete tief durch. Es musste noch nichts heißen, sagte sie sich schließlich. „Nel hat sich offenbar nach uns informiert. Bei Chase.“

„Oh“, war auch Heidensteins Reaktion.

Pakhet seufzte. „Wir können nicht viel mehr tun, als abzuwarten.“

[14.11.2011 – S10 – Ablenkung]

„Was gibt es?“, fragte Pakhet, als sie Smiths Bürotür hinter sich schloss.

Er sah von seinen Akten auf. Ja, er las gerade tatsächlich Papierakten, hatte sich auch ein paar Sachen darin angestrichen. „Ah, Pakhet.“ Er lächelte müde. Generell wirkte er übermüdet, so, als hätte er ein paar Nächte lang nicht besonders gut geschlafen.

Sie setzte sich ihm gegenüber und musterte ihn besorgt. „Alles okay?“

Er klappte die Akten zu, seufzte und rieb sich die Augen. „Ja. Ich arbeite nur noch an etwas anderem.“

„Etwas, womit ich dir helfen kann?“, fragte sie.

Smith schüttelte den Kopf. „Nein, Pakhet. Du hast so schon genug um die Ohren.“ Er lächelte müde. „Ich habe einen neuen Job für dich. Einen, der dich für zwei Wochen beschäftigen wird.“

„Und mir damit Michael vom Hals hält?“, schloss sie.

Er nickte, brachte sie damit zum Lächeln. „Genau. Standard. Einfach Bodyguarding ohne irgendwelche komplizierten Zusätze.“

„Für wen?“, fragte sie.

„Soziologie-Prof, der einen Kurs hier gibt und ein paar … Kontroverse Therien vertritt. Du sollst ihn einfach nur auf dem Weg zur Uni und zurück zum Hotel und an der Uni bewachen. Nichts dramatisches. Aber er gibt in den nächsten zwei Wochen insgesamt neun Seminare. Also …“

Sie nickte. „Ich verstehe schon.“ Sie nahm ihm das Tablet ab, als er ihr es reichte.

Wie immer hatte er ihr ein paar Daten zu ihrem Ziel zusammengestellt. Es war relativ klar, warum der Herr hier auf kontroverse Gegenstimmen stoßen würde. Offenbar war er einer der Leute, die die Theorie vertraten, dass Leute, die durch Armut zur Gewalt gezwungen wurden, eigentlich selbst ein gewalttätiges Gemüt hatten und deswegen den Weg der Armut gewählt hatten. Gerade in Städten wie dieser könnte es einige Leute, auch einige Studenten geben, die daran Anstoß nahmen. Inklusive von ihr. Doch sie war professionell genug, um darüber hinweg zu sehen. Sie mochte den Typen nicht mögen, sie musste nur dafür Sorgen, dass er am Ende nicht mit einer Kugel in Brust oder Kopf endete. Das konnte sie auch so.

Sie seufzte, nickte. „Ich nehme an, du hast mir die Daten schon zugeschickt?“

Smith lächelte. „Natürlich, Pakhet.“

„Also hole ich den Herrn morgen früh vom Flughafen ab?“

„Richtig“, erwiderte Smith.

Sie nickte wieder, stand auf, hielt dann aber inne. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann …“

„Es ist schon okay, Pakhet“, unterbrach er sie. „Es ist nichts, wobei du helfen kannst.“

Sie seufzte. „Okay. Aber sollte es etwas geben …“

„Dann weiß ich, wen ich fragen kann, ja.“ Sein Lächeln wurde etwas weiter. „Danke.“

„Ich habe zu danken.“ Sie nickte ihm zu und wandte sich dann zum Gehen. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als diese ohne ein Klopfen geöffnet wurde und Michael hereinkam.

Er sah zwischen ihnen hin und her und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Störe ich wobei?“

Pakhet suchte Smiths Blick. Stumm fragte sie ihn: „Hast du einen Termin?“

Er deutete ein Kopfschütteln an, fixierte jedoch Michael.

Michael musterte sie. „Na, hast du wieder einen Job bekommen, um meinen Jobs für dich zu entgehen?“

„Es ist ein Job der gut zahlt“, erwiderte sie. „Alles andere sollte egal sein, oder?“

Für einige Sekunden erwiderte er ihren Blick. Es wartete deutlich darauf, dass sie den Blick abwandte, lächelte aber auf seine kühle, schleimige Art, als sie es nicht tat. Er hob die Hand, tätschelte ihre Wange in einer herablassenden Geste. „Wie lange wollen wir dieses Spiel noch spielen, Jojo?“

Sie schnaubte leise. „Bis du aufgibst?“

„Eher bis dein guter Doktor tot ist“, erwiderte er. „Oder du.“

Sie verkniff sich eine Antwort, wandte sich ab. „Das werden wir sehen, Michael.“ Sie griff nach der Türklinke.

Er lächelte. „Werden wir.“

[16.11.2011 – X28 – Ertappt]

Der Job mit Professor McGunnery verlief nach Plan. Er war ein hochnäsiges, privilegiertes Arschloch, aber das schöne an ihm war, dass sie ihm gar nicht zuhören musste. Sie war sein Bodyguard, nicht sein Gesprächspartner. Und so verbrachte sie ihre Zeit damit, weiter über ihre Situation und Michael nachzudenken, während sie ihm im Wagen zwischen Uni und Hotel hin und her fuhr und er über Gott und die Welt schimpfte.

Die ersten drei Tage vergingen ohne Zwischenfall, so dass sie am Mittwochabend zwar genervt, aber alles in allem zufrieden ins Krankenhaus zurückkam.

Der Geruch von gebratenem Fleisch kam ihr entgegen, als sie die Wohnung betrat.

Hazel saß auf dem Sofa, hatte Kopfhörer in ihren Ohren stecken und arbeitete irgendetwas am Computer. Wahrscheinlich hatte Heidenstein sie überredet, herüber zu kommen.

Joanne ging in die Küche, wo wie erwartet Heidenstein am Herd stand, kochte. Sie sah ihm über die Schultern. „Was gibt es?“

„Burger“, erwiderte er. Offenbar briet er die Pattys in der Pfanne.

„Danke für's Kochen“, erwiderte sie und schlüpfte aus ihrer Jacke.

„Wie war dein Job?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Der Typ nervt, aber ich muss ihm ja nicht zuhören.“

Sie holte die Teller aus dem Schrank über der Küchenzeile und stellte sie auf dem Tisch ab.

„Setz dich“, meinte Heidenstein. „Komm erst einmal an.“

„Sicher?“

Er nickte, lächelte, brachte sie dazu, mit den Schultern zu zucken.

Es war eine der Sachen, an die sie sich noch immer nicht ganz gewöhnt hatte: Das jemand auf sie wartete, wenn sie zurückkam. Nun, nicht immer. Immerhin arbeitete Heidenstein ja auch im Krankenhaus und manchmal in der Firma. Doch generell … Es war nett, zu einem gekochten Abendessen heimzukehren.

Mit diesem Gedanken ließ sie sich auf das Sofa fallen, schaltete den Fernseher an.

Ja, wenn sie ehrlich war, fühlte sich das hier eher nach einem Zuhause an, als das kalte Haus, in dem sie vorher gelebt hatte. Dabei war es nicht einmal eine richtige Wohnung.

Sie seufzte, streckte ihre Beine aus. Zumindest ging es Heidenstein langsam wirklich besser. Regelmäßiges magisches Nachhelfen hatte die Wundheilung soweit beschleunigt, dass von seinen Wunden nur noch wenig zu sehen war.

Sie drehte sich um, sah in die Küche, während er weiter arbeitete. Ein mattes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Da riss das Vibrieren ihres Handys ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie holte es aus ihrer Hosentasche hervor und schaute auf den Bildschirm. Eine Nummer aus Johnannesburg. Chase, der von einem Festnetz anrief?

Sie runzelte die Stirn, hob ab. „Montgomery hier?“ Sie meldete sich vorsichtshalber mit ihrem Decknamen, dem Namen, unter dem sie offiziell lebte.

„Ich spreche mit der Söldnerin Pakhet?“, fragte eine professionell klingende Frauenstimme. Das aufgesetzte Lächeln war förmlich aus den Worten herauszuhören.

Sie mochte die Frage nicht. „Wer spricht da?“

„Mein Name ist Patricia Steyn“, antwortete die Frau. „Ich rufe im Auftrag von Carel Nel heraus.“

Pakhets Herz setzte für einen Augenblick aus. Nel? Warum rief Nels Sekretärin bei ihr an? Okay, sie wusste weshalb. Aber woher hatten sie ihre Nummer?

Ihr Mund wurde trocken. Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. „Was kann ich für Sie tun?“

„Mr Nel würde sich gerne persönlich mit ihnen treffen“, meinte Ms Steyn. „Er würde Sie gerne auf ein Abendessen einladen.“

Ja, sicher. Viel deutlicher konnte er ihr keine Falle stellen. „Sagen Sie ihm bitte, dass ich respektvoll ablehnen werde.“

„Er bat mich, darauf zu bestehen“, erwiderte die Frau, wahrscheinlich Nels Sekretärin. „Er sagte euch, dass Sie das Restaurant aussuchen dürfen.“

Als ob ihr das etwas bringen würde. Er kannte sich in Johannesburg besser aus, als sie. Er hatte Möglichkeiten, einen Hinterhalt vorzubereiten, egal welchen Ort sie aussuchte. Und wenn es am Ende die Polizei war, die sie verhaftete. Niemand würde das hinterfragen. „Das ändert nichts an meiner Absage.“

„Bitte, Ms Pakhet“ – noch immer klang die Frau übertrieben professionell – „denken Sie darüber nach. Es ist sicher in Ihrem eigenen Interessen, sich mit Mr Nel zu treffen.“

Ja, genau. Sie schürzte die Lippen. Sollte sie einfach auflegen? Was würde dann passieren?

„Ms Pakhet?“, fragte Ms Steyn.

Fuck. Was sollte sie tun?

Heidenstein kam ins Zimmer, setzte drei Teller auf dem Tisch ab. Er sah zu ihr, merkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas nicht stimmte. Er setzte sich neben sie, bewegte die Lippen stumm. „Was ist los?“

Sie senkte den Blick, schüttelte den Kopf. Sie konnte nichts darüber reden.

Was sollte sie sagen. „Sonntag“, sagte sie schließlich. „Ich werde ihm das Restaurant erst eine Stunde vorher mitteilen.“

„Uhrzeit?“, fragte die Sekretärin, ohne ihre Aussage zu hinterfragen.

Pakhet zögerte. „Sechzehn Uhr.“

„Ich werde das so an ihn weiterleiten“, erwiderte die Frau. „Sie können mich über die bei Ihnen angezeigte Nummer erreichen.“

„In Ordnung.“ Damit legte Pakhet ohne ein Wort des Abschieds auf. Sie ließ das Handy auf ihren Schoss sinken, atmete einige Male tief durch, schloss die Augen.

Heidenstein sah sie an. „Was ist los?“

Sie schürzte die Lippen. „Nel. Das war seine Sekretärin.“

„Fuck.“

Sie nickte. Da konnte sie ihm nur zustimmen. „Er will sich mit mir treffen.“

Heidenstein schüttelte den Kopf. „Das ist eine Falle.“

Pakhet seufzte. „Ich weiß.“

[16.11.2011 – D52 – Schwachpunkt]

Pakhet wusste nicht, was sie wegen Nel machen sollte. Er saß am längeren Hebel. Dass er ihre Nummer hatte, machte es wahrscheinlich, dass er auch andere Dinge wusste. Vielleicht wusste er, wo sie lebte. Ach, verdammt, wahrscheinlich war es nicht so schwer herauszufinden gewesen. Und dann? Was würde er dann machen? Er könnte das verdammte Krankenhaus unter irgendeinem Vorwand squatten lassen. Zur Hölle, wenn er einmal wusste, wer sie war, würde er es vielleicht sogar rechtfertigen können.

Sie wollte sich nicht mit ihm treffen. Doch sah sie im Moment nicht, was für eine Wahl sie hatte. Immerhin saß sie in der Falle. Wenn sie nicht erschien, würde er vielleicht schneller handeln.

Es gab nur zwei Möglichkeiten worum es bei dem Treffen ging: Entweder es war eine Falle und er wartete mit einem Einsatzkommando auf sie oder er würde sie überreden wollen, ihre Ermittlungen, ihre Aktionen gegen die Organisation einzustellen. Das würde sie nicht tun. Und dann? Dann wüsste er direkt wo sie war. Eventuell wartete dort ein weiteres Assassinenteam auf sie.

Verdammt. Es gab einfach keinen möglichen guten Ausgang dafür.

Natürlich, sie konnte ihm vorspielen, dass sie sich auf seine Angebote einließ. Vielleicht konnte sie noch Geld heraushandeln. Doch wollte sie dieses Geld, von dem sie genau wusste, woher es kam?

Sie hasste diese Gedanken. Sie hasste sie. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Natürlich, sie konnte ihr eigenes Einsatzkommando mitbringen, doch wollte sie die anderen nicht wirklich mit in diese Sache reinziehen. Nicht noch weiter. Wenn es wirklich eine Falle war und er mit einem Squadteam auf sie wartete, würden sie wenig machen können, selbst wenn Murphy, Siobhan, Jack, Doc und Crash sie begleiteten. Nein. Sie würde allein dorthingehen müssen. Vielleicht konnten die anderen sie im Notfall befreien.

Ein Klopfen an der Zimmertür ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.

Sie saß auf ihrem Bett, hatte die Beine angezogen und ihren einen Arm um diese gelegt, während sie überlegte. Ihre Prothese lag auf ihrem Nachttisch und lud auf.

„Pakhet?“, fragte Heidensteins Stimme unsicher, als es erneut klopfte. „Kann ich reinkommen?“

Sie hatte beinahe darauf gewartet. Er hatte mehrfach versucht Gespräche anzufangen, während und nach dem Abendessen. Sie hatte ihn abgeblockt, hatte sich früh auf ihr Zimmer zurückgezogen. Immerhin wusste sie nur zu genau, was er sagen würde. Sie kannte ihn. Sie kannte diesen Idioten nur zu gut.

Dennoch seufzte sie. Er würde nicht gehen, oder? „Komm rein“, meinte sie halblaut.

Die Tür öffnete sich und Heidenstein kam herein, schloss die Tür hinter sich. Er sah am Schrank, der am Ende des Bettes stand vorbei zu ihr. Natürlich war sein Blick besorgt.

Er atmete tief durch. „Können wir reden?“

Sie verdrehte die Augen, bemühte sich um ein genervtes Stöhnen. „Glaubst du, sonst hätte ich dich reingelassen? Ich kenne dich. Natürlich willst du reden.“

Er leckte sich über die Lippen, kam dann zu ihr, setzte sich auf den Rand des Bettes. Vorsichtig legte er eine Hand auf ihr Bein, nahe an ihrem Fußgelenk. „Also …“ Er zögerte, offenbar in der Hoffnung, dass sie etwas sagte, doch tat sie ihm den Gefallen nicht, zwang ihn dazu, weiterzusprechen. „Willst du dich wirklich mit Nel treffen?“

Sie zuckte mit den Schultern, wartete, was er sonst noch zu sagen hatte.

Er senkte den Blick, wandte den Kopf leicht nach vorne, während er nachzudenken schien. „Wenn er dich direkt kontaktiert heißt es doch, dass Alice richtig lag, oder? Er steckt in dieser Sache mit drin. Er ist wirklich …“

„Ja, das heißt es wohl.“ Zu demselben Ergebnis war sie bereits gekommen. Denn was sollte ein Minister für innere Sicherheit sonst für Gründe haben, sie zu kontaktieren, sich mit ihr treffen zu wollen?

Heidenstein seufzte. „Pakhet … Bist du dir sicher, dass du gehen willst? Wir wissen beide, dass es eine Falle ist.“

„Ja, wissen wir“, erwiderte sie. „Aber wenn er meine Nummer kennt, heißt es, dass er eventuell auch andere Dinge weiß, eventuell auch andere Dinge veranlassen kann.“

Heidenstein zögerte. „Wie zum Beispiel?“

Nun war ihr Stöhnen ernsthaft genervt. „Was wohl, Doc? Das Krankenhaus. Was ist, wenn er es squatten lässt?“

Wieder zögerte er, senkte seinen Blick. Er schloss die Augen. „Ja. Ich nehme an, das wäre möglich.“

Joanne sah ihn an, rückte etwas näher an ihn heran. „Deswegen werde ich gehen. Und sei es nur um herauszufinden, was er weiß.“

„Ja“, murmelte Heidenstein.

„Ich verlasse mich darauf, dass ihr mich da rausholt, wenn er irgendwelche krummen Dinge abzieht.“

„Was meinst du?“

„Sollte er mich gefangen nehmen lassen unter sonst was für Vorwänden“ – oder weil er ihre Vergangenheit kannte – „dann sorgt dafür, dass ich daraus komme, ja?“

Ein unsicheres Schmunzeln breitete sich auf Heidensteins Zügen aus. „Du meinst, wir sollen dich aus dem Gefängnis ausbrechen?“

„Ich bin mir sicher, das kriegt ihr hin“, erwiderte sie matt.

Er schüttelte den Kopf, holte tief Luft. „Ich denke, dann werden sie uns beide ausbrechen müssen.“

Sie hob fragend eine Augenbraue.

„Ich lasse dich da nicht allein reingehen“, flüsterte Heidenstein. Er suchte ihren Blick. „Ich komme mit dir zu diesem Treffen.“

„Sei nicht albern“, erwiderte sie. „Du willst das Krankenhaus wiederaufbauen, oder?“

„Ja, und es funktioniert bereits sehr gut ohne mich, wie die letzten zwei Wochen gezeigt haben, oder?“ Unsicher hob er seine Hand von ihrem Bein, legte sie auf ihre Schulter.

Sie schürzte die Lippen, senkte ihren Blick. „Das ist eine beschissene Idee, Doc.“

„Ich halte die Idee für sehr gut.“ Er sah sie an. Wieder lag diese seltsame Weichheit in seinem Blick. Verletzlichkeit. „Ich lasse dich da nicht allein reinlaufen. Du kannst das nicht allein machen.“

„Ich kann sehr vieles allein machen“, flüsterte sie. „Ich will nicht, dass du dein Leben, deine Identität mit aufs Spiel setzt für mich.“

„Das ist meine Entscheidung“, erwiderte er. „Bitte, Pakhet. Ich … Ich will dich nicht allein gehen lassen. Ich werde dich nicht allein gehen lassen. Ich will mich nur nicht deswegen mit die streiten.“

Joanne seufzte. Sie musterte ihn, verfluchte ihn innerlich nur wieder. Warum musste er so treuherzig sein? Warum war er so vertrauensselig? Warum wollte er so viel für sie aufgeben, aufs Spiel setzen? Warum war er so ein Idiot? „Was würdest du machen, wenn ich Nein sage?“

„Ich würde dir dennoch folgen. In der Nähe warten.“

„Das ist aber nicht respektvoll“, murmelte sie, „ein Nein nicht zu akzeptieren.“

„Es ist mein Leben, dass ich riskiere“, erwiderte er. „Bitte zwing mich nicht dazu, dein Nein zu ignorieren?“ Er sah sie weiterhin an, brachte sie dazu die Augen zu verdrehen.

„Du bist ein solcher Idiot“, flüsterte sie.

Er lächelte matt. „Ja, ich weiß.“ Seine Hand wanderte auf ihre Wange, verweilte dort, während er zögerte.

Natürlich wusste sie, worüber er nachdachte. Sie wusste, dass sie es eigentlich nicht beachten sollte, dass sie darauf besser nicht einging. Immerhin war das hier ihr Zimmer und sie wollte eigentlich nicht … Oder?

Warum lehnte sie sich dennoch vor?

Ihre Lippen berührten sich in einem sanften, zurückhaltenden Kuss.

Heidenstein sah sie an, lächelte matt.

Was für ein Idiot.

Sie rückte näher zu ihm, ließ ihre Hand unter sein T-Shirt wandern. Verdammt. Vielleicht brauchte sie das hier. Verdammt. Sie waren sich seitdem er angeschossen worden war nicht mehr so nahe gewesen. Nicht auf diese Art.

Wieder küsste sie ihn, legte für einen kurzen Moment ihre Stirn gegen die seine. Dann wanderten seine Hände unter ihr Top, schoben es nach oben.

Sie ließ es zu, erlaubte ihm, es ihr auszuziehen. Sie sah ihn kurz an, griff dann nach dem Kragen seines T-Shirts und zog ihn aufs Bett.

Verdammt. Sie wollte ihm nahe sein. Und sei es nur, um zu vergessen. Und sei es nur, um diesen ganzen Scheiß zu vergessen.

[17.11.2011 – P05 – Warnungen]

Am nächsten Morgen verfluchte sich Pakhet, als sie wieder an Heidensteins Seite aufwachte. Sie war ihm viel zu nahe. Wortwörtlich, da sie in ihrem Bett geschlafen hatten, das nicht so breit war, wie seines. Warum hatte sie sich nur wieder darauf eingelassen?

Sie seufzte, drehte sich zu ihm um. Er war wach, lächelte sie an.

Sie schüttelte den Kopf. „Idiot“, murmelte sie und richtete sich auf.

„Ich weiß, ich weiß“, murmelte er, wirkte dabei aber amüsiert.

Pakhet seufzte nur wieder, nahm sich frische Kleidung aus ihrem Schrank und ging ins Bad, um zu duschen. Schon hatte sie wieder das Gefühl Abstand zu brauchen.

Als sie angezogen aus dem Badezimmer kam, verriet ihr der Geruch nach Kaffee, dass Heidenstein offenbar angefangen hatte, Frühstück vorzubereiten. Für sie nur ihr flüssiges Frühstück. Kaffee.

Doch etwas sollte sie machen, bevor sie es sich erlaubte. Vielleicht auch später? Sie war noch nicht gänzlich wach.

Sie ging wieder in ihr Zimmer, nahm ihr Handy, kehrte damit in die Küche zurück, wo sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte. Mit diese kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wählte Chases Nummer, in der Hoffnung von ihm etwas mehr über die Sache erfahren zu können. Auch, um sicher zu gehen – so sicher, wie sie sein konnte, da sie ja doch auf sein Wort vertrauen musste – dass er nichts damit zu tun hatte, dass Nel nun ihre Nummer kannte.

Eigentlich wollte sie Chase am Wochenende nicht anrufen. Doch andererseits gab es kein festes Wochenende bei der Polizei. Im Gegenteil. Die Zeit, die für andere Leute Wochenende war, war oft die, wo es am meisten Vorfälle für die Polizei gab. Selbst wenn eher nicht für Interpol.

Sie hob das Handy an ihr Ohr, wartete das das Freizeichen verstummte. Da. Ein Knistern in der Leitung. Dann die raue Stimme des Briten. „Inspector Chase hier?“

„Hey“, erwiderte sie. „Pakhet hier. Ich muss mit Ihnen reden.“

Vielleicht hörte er die Besorgnis in ihrer Stimme. Jedenfalls klang er ernst, als er antwortete. „Was gibt es?“

Sie holte tief Luft. „Ich habe gestern einen Anruf bekommen. Von Nels Sekretärin.“

Stille. Ein leises, unterdrücktes und sehr britisches Fluchen. „Was hat sie gesagt?“

„Nel möchte sich mit mir treffen. Nächste Woche. Ich habe ihn auf nächsten Sonntag vertagt. Ich weiß nur nicht, was ich davon halten soll.“

„Klingt nach einer Falle.“

„Ach was.“ Sie konnte sich diese sarkastische Bemerkung nicht verkneifen. „Soviel haben wir uns auch schon gedacht.“ Sie hielt inne. „Woher hatte er meine Nummer?“

Natürlich verstand Chase die Frage. Er zögerte. „Ich kann Ihnen versprechen, dass er sie nicht von mir hat.“

Sie musste ihm vorerst glauben. Verdammt. Sie wollte ihm glauben. Nicht zuletzt, da sie eine andere, viel schlimmere Vermutung hatte. „Okay“, sagte sie daher nur.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Chase.

Sie seufzte. „Nein. Das können Sie mir nicht.“

„Sagen Sie Bescheid, wenn doch“, erwiderte er.

Sie schürzte die Lippen. „Werde ich. Danke.“ Damit legte sie auf.

Sie ließ das Handy senken, sah darauf, ehe sie es auf dem Tisch ablegte und gegen die Kaffeetasse austauschte. Sie hatte die Prothese noch nicht wieder angelegt.

Heidenstein kam zu ihr, legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Chase?“

Sie nickte nur.

Eine Vermutung blieb noch immer: Was, wenn Nel ihre Daten von Michael hatte? Sicher, sie hatte ihn bezahlt, doch Michael … Ja, Michael war nie ein Mann seines Wortes gewesen. Auch wenn sie es vorher nicht so gesehen hatte. Sie war so dumm gewesen. So dumm, zu glauben, ihn einschätzen zu können.

[20.11.2011 – D53 – Begleitung]

Joanne sah zu Heidenstein, der im Platz neben ihr saß, als der Flieger abhob. Sie mochte es noch immer nicht, dass er hier war, dass er mitkam. Was, wenn sie wirklich in eine Falle liefen? Was, wenn Nel sie wirklich festnehmen würde? Wie wollte Heidenstein zu seinem alten Leben zurückkehren können, wenn er einmal vorbestraft war? Wie wollte er seine Firma wieder aufbauen? Warum setzte er all das für sie aufs Spiel?

Das Flugzeug durchbrach die Wolkendecke, flog nun im Sonnenschein, der über den Wolken herrschte.

Heidenstein saß am Fenster, sah kurz heraus. Ein müdes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Dann aber schaute er zu ihr, sah ihr besorgtes Gesicht. Er zögerte, griff dann nach ihrer Hand, die auf der Armlehne zwischen ihnen lag. „Komm. Wir schaffen das irgendwie schon.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wir sollten zusehen, dass wir die nächste Nacht nicht im Gefängnis verbringen“, murmelte sie.

Er drückte ihre Hand. Eine Geste, die sie eigentlich nicht mochte, da sie viel zu vertraut war. Es war zu sehr, als wäre er nicht nur ein Freund. Dennoch ließ sie es geschehen.

„Warten wir erst einmal ab, was Nel zu sagen hat“, meinte Heidenstein. „Vielleicht …“

„Vielleicht was?“, erwiderte sie matt. „Vielleicht will er nur mit uns verhandeln? Und dann? Du weißt genau so gut wie ich, dass es nichts gibt, das er anbieten kann, was mich davon abhalten wird …“

„Du könntest lügen“, meinte er.

„Ich weiß.“

Heidenstein musterte sie für eine lange Weile, wandte den Blick dann aber wieder dem Fenster zu. Seine Hand ließ er jedoch weiterhin auf der ihren liegen.

Sie schürzte die Lippen, sah auf ihre Hände. Es war ihre richtige Hand auch noch. Er saß auf ihrer rechten Seite. Sie sollte ihre Hand fortziehen, tat es aber nicht. Stattdessen saß sie nur da, seufzte. Warum musste er so ein Idiot sein?

Sie lehnte sich zurück. Es waren zwei Stunden Flug. Zwei Stunden in denen sie darüber nachdenken konnte, wie sie mit etwaigen Situationen umgehen konnte. Zwei Stunden …

Sie schloss die Augen. Sie hatte ihre Restaurantauswahl mit Jacks Hilfe bereits auch drei beschränkt. Die finale Auswahl würde sie kurzfristig treffen, um Nel so wenig Zeit wie möglich zu geben, einen Hinterhalt zu legen. Doch sie machte sich nichts vor: Sie hatte anderen schon Hinterhälte in weniger als einer halben Stunde gelegt. Es gab für sie hier keine Sicherheit. Nicht wenn sie bedachte, mit wem sie sich anlegte.

Fuck.

Im Notfall würden sie fliehen, hatten sie keine andere Wahl, als zu fliehen. Auch darauf hatte sie bei der Auswahl der Restaurants geachtet: Mögliche Fluchtwege.

Wieder drückte Heidenstein ihre Hand.

Sie verzog das Gesicht, ohne die Augen zu öffnen. Dann drehte sie ihre Hand, griff die seine. Dabei wollte sie ihn nicht auch noch ermutigen. Dennoch saßen sie so dort. Seine Hand in der ihren. Ihre Hand in der seinen.

„Wir schaffen das schon irgendwie“, flüsterte er.

Sie sah zu ihm. „Hoffen wir darauf.“ Sie schürzte die Lippen. „Versprich mir nur eins: Riskier für mich nicht zu viel.“

Er lächelte. „Ich kann es versuchen. Aber versprechen werde ich nichts.“

Natürlich hatte sie gewusst, dass er so antworten würde. Sie schloss die Augen wieder, legte den Kopf wieder zurück. „Verfickter Idiot.“ Ihre Hand ließ sie jedoch weiter in der seinen liegen. Seine Wärme fühlte sich gut an.

[20.11.2011 – F10 – Verrat]

Pakhet hatte ein billiges Restaurant, ein Restaurant, in das normale Leute gingen ausgewählt. Zum einen, weil es hier für die normalen Besucher auffälliger sein würde, wenn etwas nicht stimmte, zum anderen, weil sie hier bewaffnet hinkonnte, weil es hier nicht auffiel, wenn sie ihre Weste und darüber die Lederjacke trug. Hier dachte niemand darüber nach, hinterfragte es niemand.

Sie wünschte sich nur, Heidenstein wäre ähnlich ausgerüstet. Sie wünschte sich, sie müsste sich weniger Sorgen um ihn machen. Warum musste dieser Idiot nur mitkommen?

Er ging nervös neben ihr, als sie vom Wagen, den sie zwei Blocks entfernt geparkt hatten, zu dem italienisch-afrikanischen Restaurant gingen. Ungewöhnliche Mischung, doch es war egal. Sie war nicht wegen dem Essen dort. Sie hatte andere Anforderungen gehabt.

Das Restaurant lag an einem Block, wo sich ein Imbiss an den nächsten, ein Restaurant an ein weiteres reihte. Eine übliche Fressmeile. Die meisten Städte hatten sie.

Sie hatte den Wagen entfernt geparkt, um es unwahrscheinlicher zu machen, dass jemand den Wagen zuparkte. Wenn sie fliehen mussten und ihre Angreifer wussten, in welchem Wagen sie gekommen waren, wäre es sonst ein einfaches, ihren Fluchtweg zu blockieren. Der Nachteil blieb: Sie mussten ein Stück laufen. In diesem Fall auf einer relativ breiten Straße, die für ein Feuergefecht Vor- und Nachteile haben würde. Immer wieder schaute sie zu den Dächern der größtenteils drei- bis vierstöckigen Gebäude. Um sicher zu gehen, dass hier niemand war. Doch wusste sie zu genau, dass nur weil sie niemanden sah, es nicht bedeuten musste, dass da niemand war.

Da war das Restaurant. Sie waren eine Viertelstunde zu früh. Es gab ihnen hoffentlich eine Möglichkeit die Situation besser zu beobachten.

Unter ihrer Jacke trug sie gleich zwei Waffen verdeckt: Die Dartpistole und ihre normale Pistole. Dazu jeweils ein zusätzliches Magazin und drei weitere Darts, die sie in einer vermeintlichen Handytasche am Gürtel verstaut hatte. Sie hatte angefangen die kleinen Spritzen auch als Nahkampfwaffe schätzen zu lernen.

Ebenfalls in ihrer Hose versteckt, war ein kurzes Kampfmesser. Ein weiteres war in ihrem Schuh versteckt.

Ja, sie war gut vorbereitet, doch sie war sich sicher, dass ihr Gegner das auch wäre.

Sie erreichten das kleine Restaurant, das an der Ecke des Blocks lag. Wie bei Restaurants üblich, besaß es eine größere Glasfassade, auf dem der Name breit abgedruckt war.

Sie holte tief Luft, betrat dann das Restaurant.

Kurz strich Heidenstein über ihre Schulter – offenbar in einer beruhigenden Geste. Ach, warum musste er das nur tun?

Sie sah zu ihm, sagte jedoch nichts. Ging stattdessen zu einem Tisch auf mittiger Höhe des Restaurant, das die Tische in zwei Ringen angeordnet hatte: Einen inneren und einen äußeren. Im inneren waren alle um eine Art Insel aufgestellt, mit halbrunden Sitzbänken an jedem Tisch. Sie nahm an einem dieser Platz, den Blick auf den Eingang des Restaurants gerichtet.

Fuck.

Sie mochte die Situation noch immer nicht. Was würde jetzt passieren?

„Beruhige dich“, flüsterte Heidenstein und griff nach ihrer Hand.

Sie biss sich auf die Lippen. Gerne hätte sie etwas gesagt, hätte ihn abgewiesen, doch sie tat es nicht, starrte stattdessen nur auf die Eingangstür.

Eine Kellnerin kam, nahm eine Bestellung entgegen. Pakhet achtete nicht einmal darauf, was sie genau bestellte. Sie wusste es später eh nicht mehr. Sie war nicht hier zum Essen. Im Gegenteil. Essen konnte gefährlich sein. Essen konnte vergiftet sein. Deswegen trank sie nur ein Wasser.

Sie beobachtete weiter die Tür, sah Leute kommen, Leute gehen. Viele von ihnen Familien. Fuck. Sie wollte nicht noch mehr Leute mit hereinziehen.

Zumindest wirkte es nicht so, als hätte Nel hier seine Leute bereits positioniert. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ganze Familien für so etwas anheuerte. Aber das hieß auch, das sie Unbeteiligte waren.

Verdammt.

Da. Draußen fuhr ein Polizeiwagen vorbei. Dann noch einer. Auffällig. Vielleicht nur eine Streife. Sie wäre jedoch jede Wette eingegangen, dass es etwas anderes war, spannte sich an.

Verdammt. Sie hasste es so blind in eine Situation reinzugehen.

Wieder ein auffälliger Wagen. Ein gesichertes Model. Ein BMW. Er fuhr langsam. Konnte er das sein?

Pakhet wusste es nicht. Sie hasste es, Dinge nicht zu wissen. Sie hasste es, sich wie in der Falle zu fühlen. Oh, verdammt. Was tat sie hier nur.

Wieder berührte Heidenstein sie, sah sie besorgt an. „Ruhig.“

„Ich bin ruhig“, flüsterte sie.

„Du bist angespannt“, erwiderte er.

„Natürlich bin ich angespannt.“

„Willst du ihm die Genugtuung geben?“

Sie holte tief Luft, versuchte sich zu entspannen. „Du hast Recht.“ Dennoch spürte sie die Nervosität. Wieder sah sie auf die Tür, gerade früh genug, um zu sehen, wie ein afrikanischer Mann, zusammen mit zwei kräftigen Männern und einer sehr vertrauten Gestalt durch die Tür kam.

Sie hatte Recht gehabt. Es war Michael gewesen.

„Fuck“, zischte sie, als Michael sich im Laden umsah, sie erkannte und übertrieben freudig winkte.

„Da bist du ja, Pakhet“, meinte er.

Wie Nel trug er ein einfaches Hemd. Wie bei Nel zeichnete sich darunter eine dünne Weste ab. Da Michael seinerseits nicht magisch war, wohl eher ein traditionelles Modell. Es hätte sie auch nicht überrascht, wäre Nels Hemd selbst schusssicher gewesen.

Michael wollte neben ihr auf die Bank rücken, doch sie machte ihm keinen Platz. Sie wollte am Rand bleiben, so dass sie im Notfall aufstehen und fliehen konnte.

Allerdings hatte der Tisch ohnehin keinen Platz für sechs Personen – etwas, das auch Nel zu erkennen schien. Er musterte sie für einige Sekunden aus dunklen Augen, setzte dann jedoch ein falsches Lächeln auf und winkte den beiden einfach bekleideten Typen, die ihn begleiteten und fraglos seine Bodyguards waren, zu. „Lasst uns doch an einen der anderen Tische setzen, wo wir nicht drängeln müssen.“

Pakhet fluchte. Sie wollte dieses Treffen bestimmen, sie wollte die Kontrolle haben. Doch natürlich hatte sie es nicht.

Schon saßen sie an einem etwas länglichen Tisch, direkt am Fenster.

Wieder sah sie hinaus. Draußen war nichts auffälliges, aber das musste nichts heißen. Verdammt.

Sie fixierte Nel über den Tisch hinweg. Der Mann war leicht untersetzt, jedoch nicht wirklich übergewichtig. Er wirkte für einen afrikanischen Mann relativ alt, hatte deutliche Flecken auf den Wangen. Seine Haut war relativ hell, heller als die von Smith und deutlich Heller als Crashs. Sein Haar hatte ein paar graue Flecken, war ansonsten jedoch schwarz. Seine Augen waren kühl, berechnend, gefühlslos, musterten sie genau so aufmerksam wie sie ihn.

Ein Lächeln, das mindestens so falsch und schmierig wie das Michaels war breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Es freut mich, dass wir endlich die Möglichkeit haben, uns persönlich zu treffen, Ms Pakhet. Ich habe schon so viel von ihnen gehört.“

Warum machte er sich überhaupt die Mühe, sie mit diesem Namen anzusprechen. Wenn er mit Michael gesprochen hatte, wusste er fraglos, wer sie wirklich war, oder?

Ihr Blick schnellte zu Michael hinüber, der an Nels Seite saß. Er sah aus, als wäre er äußerst zufrieden mit sich selbst. Sein Blick wurde spöttisch, als er den ihren bemerkte.

Wie sehr sie ihn doch hasste.

Sie sah wieder zu Nel, der auf eine Antwort zu warten schien. Also setzte auch sie ein falsches Lächeln auf. „Ja, die Freude ist ganz meinerseits.“ Konnte sie ihn erschießen? Was würde dann passieren? Wahrscheinlich würde sie hier nicht mehr herauskommen.

Ach, könnte sie nicht einfach ihn und Michael erschießen? Sie konnte es nicht riskieren. Heidenstein war bei ihr. Wäre sie allein hätte sie es vielleicht getan. Aber ja, es war wahrscheinlich eine dumme Idee. Michael hatte sicher einen Totmannschalter, Nel wahrscheinlich auch. Sie durfte nicht voreilig sein.

„Ist es nicht schön? Wir alle hier zusammen?“, fragte Michael. „Sogar der gute Doc ist mitgekommen.“

„Doctor Heidenstein, nehme ich an?“ Nel sah zu Heidenstein hinüber.

Er spannte sich neben ihr an, schaffte es jedoch sein professionelles Lächeln aufzusetzen. „Ja. Das nehmen Sie richtig an.“ Dennoch war seine Anspannung aus seiner Stimme zu hören.

Kurz noch musterte Nel ihn, wandte sich dann aber wieder Pakhet zu. „Wollen Sie nichts essen, Ms Pakhet?“

„Ich habe keinen Hunger“, erwiderte sie. „Wie wäre es, wenn wir stattdessen darüber sprechen, warum Sie mich hatten treffen wollen?“

Nel lächelte, wandte sich dann aber einem Kellner zu. Er sprach leise, schien jedoch einen Wein und vier Gläser zu bestellen. Erst dann wandte er ihnen wieder die Aufmerksamkeit zuzuwenden. „Ich habe den Eindruck, Sie haben den falschen Eindruck von mir.“

Pakhet sah ihn an. „Ich verstehe schon, es ist alles ein großes Missverständnis. Die Daten, die ich gesehen habe, sind allesamt falsch. Die Emails, die ich gelesen habe, alle gefälscht?“

Er antwortete nicht sofort, schien seine Worte bewusst zu wählen. „Sie wissen, dass das Hacken von staatlichen Daten mehr als nur ein geringfügiges Vergehen ist?“

„Sie wissen, dass Menschenhandel und Mord international geahndet werden?“, erwiderte sie spitz.

Noch immer lächelte er, auf dieselbe professionelle, falsche Art, auf die alle Politiker lächelten. Er wirkte jedoch etwas enttäuscht. „Sehen Sie. Da irren Sie. Ich habe in meinem Leben nie jemanden ermordet. Genau so wenig habe ich je einen Menschen 'gehandelt', wie Sie es sagen.“

Sie durfte sich keine Schwäche anmerken lassen, setzte ein breiteres Lächeln auf. „Ja, ich verstehe das schon. Sie sind, was? Sie lassen sich dafür bezahlen, dass die Polizei nicht eingreift, hmm? Wann auch immer ein Mädchen oder ein Junge verschwindet, wann auch immer überhaupt einmal etwas gemeldet wird, sorgen sie dafür, dass die Polizei die Fälle leider nicht lösen kann, die Ermittlungen schnell einstellt, richtig?“

Wieder schwieg er. Stattdessen war es Michael, der die Stimme erhob.

„Ach komm schon, Pakhet. Diese Jugendlichen“ – er verbesserte – „jungen Erwachsenen kommen aus Familien, die sie nicht vermissen.“

„Denée hatte Leute, die sich um sie gesorgt haben“, erwiderte sie kühl. „Und wenn ich nach den Berichten gehe nicht nur sie.“

„Und wie viele Teenager hast du schon erschossen?“, fragte Michael. „Es ist bei den Gangs doch so oft auseinander zu halten, wie alt die sind, oder?“

Sie sagte nichts, sammelte sich. Natürlich hatte er Recht. Sie hasste es, doch machte sie sich keine Illusionen: Sie hatte als Söldnerin oft mit Gangs zu tun gehabt. Diverse Gangmitglieder waren im selben Alter wie Dené gewesen, selbst wenn sie es nicht genau wusste. Sie hatte immer versucht nicht zu töten, doch hatte sie es nicht immer verhindern können.

„Pakhet“, fuhr Michael fort, „du musst zugeben, dass ich Recht habe. Und du weißt genau so gut wie ich, woher diese Leute kamen.“

„Deswegen verdienen sie es aber nicht, wie Vieh gehalten zu werden“, flüsterte Heidenstein. Er sah Michael mit einem kalten Blick an, den Pakhet so bei ihm noch nicht gesehen haben. „Deswegen verdienen sie es nicht, als Opfer an irgendwelche Dämonen verfüttert zu werden.“

„Ach, komm schon, Doctor“, meinte Michael. „Dein guter Freund, der Mafioso, er hat auch seine Kinder, die als Söldner agieren, oder? Und was ist mit den Prostituierten? Und generell sind die Vory doch relativ bekannt dafür, Mädchen umzusetzen, oder?“

Heidenstein zuckte beinahe zusammen bei diesen Worten.

Pakhet verstand: Wie auch sie hatte er Themen, über die nachzudenken er vermied. Für ihn war es Victor Dracovic.

„Beruhigen wir uns erst einmal.“ Nel erhob die Stimme leicht, offenbar um Michael ein deutliches Zeichen zu setzen. „Mein guter Herr, ich weiß ihr Engagement zu schätzen, aber eigentlich wollte ich mich mit der Dame unterhalten.“ Er warf Michael einen bestimmten Blick zu, wandte sich dann wieder an Pakhet. „Sehen Sie, ich habe gehört, Sie sind als Söldnerin tätig, gehören zu den besten.“

Darauf lief es also hinaus. Sie verstand, lächelte wieder. „Lassen Sie mich raten: Sie haben mir einen Job anzubieten?“

„Korrekt.“ Er schmunzelte.

Die Kellnerin kam mit einer Flasche Rotwein und einem Tablett mit vier Gläsern. Sie sah sich um. „Wer bekommt kein Glas?“

„Die beiden Herren“, meinte Nel und nickte in Richtung seiner Bodyguards. „Die beiden müssen heute noch arbeiten.“

Die Kellnerin nickte. Sie wirkte unsicher. Ob es wegen der angespannten Stimmung am Tisch war, weil sie etwas mitgehört hatte oder weil sie sehr wohl wusste, wer Nel war, vermochte Pakhet nicht zu sagen. Sie stellte die Gläser auf den Tisch, wollte Wein einschenken, wurde jedoch von Nel abgehalten. Er gab ihr ein deutliches Handzeichen, brachte sie damit dazu, zu gehen.

Stattdessen öffnete er seinerseits den Wein, goss ein, während seine Augen weiterhin auf Pakhet ruhten. „Ich hatte, um ehrlich zu sein, darüber nachgedacht, Sie fest anzustellen. Wie Sie wissen, bin ich ein wichtiger Mann. Ich könnte eine Bodyguard von ihrem Kaliber gebrauchen.“

Sie sah ihn mit übertriebenen Unglaube an. „Meinen Sie das wirklich ernst?“

„Sicher“, erwiderte er und schob eins der Gläser zu ihr, ein weiteres zu Heidenstein hinüber. Sein eigenes Glas nahm er, roch leicht daran. „Ich habe gehört, dass Sie einige Leute haben, an denen Sie hängen. Einen Jungen, der sicher eine Schulbildung gebrauchen kann, habe ich gehört. Und ich habe auch gehört, dass der gute Doktor neben ihnen, ein wenig Unterstützung gebrauchen könnte, sein Krankenhaus, eventuell auch weitere Krankenhäuser aufzubauen. Alles Dinge, die sich mit Geld und Einfluss leicht erreichen lassen.“

Bot er ihnen das alles gerade wirklich an? Natürlich war sie nicht dumm. Sie hörte auch die unterschwellige Drohung mitschwingen. Er wusste von Murphy, wusste von Heidensteins realer Identität. Er bot ihnen gerade den silbernen Schlüssel an, all ihre Probleme zu lösen. Natürlich. Hatte er so viel Angst vor dem, was sie erreichen konnte? Hatte sie ihnen schon soweit geschadet, dass er sie ernsthaft als eine Gefahr ansah?

Sie blickte kurz zu Heidenstein, der mit einer Mischung aus Unglaube und Panik zu ihr sah. Er verstand genau so gut wie sie, was Nel sagte. Als er ihren Blick bemerkte, deutete er ein Kopfschütteln an.

Um ihn zu beruhigen, legte sie unter dem Tisch kurz ihre Hand auf die seine. Dennoch musste sie es wissen. „Wie viel würden Sie mir anbieten, Mr Nel?“

„Eine halbe Millionen Dollar im Jahr“, erwiderte er ohne mit der Wimper zu zucken. „Mit Garantie für die ersten fünf Jahre.“

„Gegeben des Falls, dass Sie leben?“, fragte sie.

„Nun, sonst würde der Job als Leibgarde wenig Sinn machen, finden Sie nicht?“

„Ich muss sie wirklich beeindruckt haben“, meinte sie.

Ein leises Lachen. „Das kann man so sagen.“ Er hob das Glas in einer deutlichen Aufforderung.

Auch sie hob ihr Glas, hob es mit ihrer linken Hand, selbst wenn diese sich weit steifer bewegte. Sie hatte den Glamour aktiv, der den Arm normal erscheinen ließ. „Und was ist, wenn ich ablehne?“

Noch immer lächelte er. „Nun, Sie wissen, was ich weiß, oder? Sie können es zumindest ahnen.“

„Fraglos“, erwiderte sie. „Und was ist mit den Jugendlichen?“

Er hob die Augenbrauen. Eine milde Drohung lag in seinem Lächeln. „Welche Jugendlichen?“

Sie musterte ihn. Ihr Herz hämmerte wild in ihrem Brustkorb. Sie konnte Heidensteins Anspannung spüren, wagte es jedoch nicht, ihn anzusehen. Sie kannte seine Meinung. Es war dieselbe wie ihre. Sie hasste es. Sie hasste, dass sie nicht nur über ihr eigenes Leben entschied. Doch wusste sie auch, was die anderen gesagt hätten, hätte sie sich selbst für sie verkauft.

„Ich frage mich ja eine Sache“, meinte sie freundlich. Als er sie aufmerksam ansah, fuhr sie fort: „Wie viel Geld hat das schleimige Arschloch neben Ihnen für all diese Informationen verlangt?“

Unbewusst sah Nel Michael an, der nur mit den Schultern zuckte.

Pakhet ließ das Glas fallen. Es zerschellte auf der Tischplatte. Der Wein spritzte in alle Richtungen, landete auf den Hemden der vier Männer, während er an ihrer Lederjacke und der Jeansjacke Heidensteins abperlte. „Ups“, säuselte sie und stand auf. Sie nahm eine Servierte aus dem Halter, ging zu Nel hinüber, bemerkte sehr wohl, wie sich seine Bodyguards anspannten.

Sie beugte sich zu Nel herunter, nah genug, dass sie flüstern konnte. „Glauben Sie nicht, dass Sie mich kaufen können. Ich habe meine Entscheidung schon lange getroffen. Am Ende werde ich es sein, die Sie tötet. Sehen Sie es, als ein Zeichen meiner Professionalität, dass ich es nicht hier tue.“ Sie ließ das Messer in ihre Hand rutschen, stellte sicher, dass er es sah, ließ es dann wieder in ihrem Ärmeln verschwinden.

Laut sagte sie: „Ich fürchte, ich muss noch eine Weile über ihr Angebot nachdenken, Mr Nel. Entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe heute noch andere Termine.“

Heidenstein war bereits aufgestanden, kam zu ihr.

Noch einmal wandte sie sich Nel und Michael zu. Zu gerne hätte sie beide erschossen, doch konnte sie es nicht tun. Nicht hier. Nicht jetzt. Doch irgendwann würde sie es tun.

Sie wandte sich ab, tauschte einen Blick mit Heidenstein. Anspannung und gleichzeitig Erleichterung sprachen aus seinen Augen. Er war wirklich froh, dass sie nicht angenommen hatte. Selbst, wenn er hätte profitieren können.

Idiot.

Sie ging zum Eingang des Restaurants, damit rechnend, dass jemand auf sie schießen würde. Doch nichts dergleichen passierte. Sie erreichten die Tür, gingen heraus. Nichts passierte. Niemand belästigte sie.

[20.11.2011 – F11 – Druckmittel]

Pakhet konnte förmlich das Adrenalin in ihren Adern brennen spüren. Sie war so angespannt, rechnete noch immer in jedem Moment mit einem Angriff.

Sie konnte nicht glauben, dass sie das gerade wirklich getan hatte.

Heidenstein lief neben ihr, klopfte ihr auf die Schulter. Auch er zitterte vor Anspannung. Sichtbar. Spürbar. Er sah zu ihr, lächelte, brachte kein Wort heraus.

Sie atmete tief durch. „Jetzt wird er noch mehr hinter uns her sein“, hauchte sie. „Wenn wir Pech haben, stürzt heute Abend unser Flieger ab.“ Das meinte sie nicht einmal komplett scherzhaft. Dass einer der kleinen Hopper, die zwischen den Städten Südafrikas hin und her flogen aus „politischen Gründen“ abstürzte, wäre nicht das erste Mal.

Heidenstein sah sie an. „Vielleicht wollen wir den Zwei-Tage-Trip mit dem Auto machen?“ Seine Stimme klang beinahe manisch, dank der Anspannung. Er lachte.

„Du rechnest auch noch damit, dass gleich jemand auf uns schießt, nicht?“, meinte sie.

Wieder lachte er leise. „Ja, vielleicht.“ Er atmete durch, schloss die Augen kurz. „Michael hat dich verraten.“

„Was du nicht sagst.“ Ihre Stimme war wütend, klang beinahe schon nach einem Knurren. Sie wusste, dass das langsam das Ende sein musste. Sie konnte mit Michael so nicht weiter machen. Sie musste von ihm fort und das hieß auch, dass sie einen Weg finden musste, ihn zu töten, ohne, dass sein Totmannschalter sie oder schlimmer noch Heidenstein oder Murphy umbrachte.

Verdammt. Aber sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Sie hatte gewusst, dass Michael sie verraten würde. Er hatte es lang genug angedroht. Sie hatte nur gehofft, dass sie ihn für ein, zwei Monate noch würde hinhalten können. Doch sie hätte es besser wissen müssen: Er war ein manipulatives Arschloch. Er hatte die ganze Zeit die Fäden gezogen, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Spätestens jetzt hatte sie jeden Wert für ihn verloren.

Offenbar jedoch noch nicht genug, als dass er sie gänzlich in Ruhe lassen würde.

Schnelle Schritte brachten sie dazu, sich umzudrehen. Schon hatte sie ihre Hand an ihrer Waffe, hatte ihre Waffe gezogen, als sie erkannte, dass es Michael war, gefolgt von einem der Bodyguards, der hinter ihnen herlief.

„Hey, Pakhet“, schnarrte er.

„Was willst du noch, Michael?“, fragte sie. Sie hatte gut Lust weiterzulaufen. Sie hatte ihm nichts mehr zu sagen. Nicht länger. Er würde sie nur wieder belügen, würde sie nur weiter reizen, würde sie nur weiter auslachen, weil sie ihn am Ende doch nicht erschoss.

Noch immer zierten die Weinflecken sein Hemd, er schien sich daran jedoch nicht zu stören. Er hatte sie erreicht, sah sie an. Auch in seiner Hand war eine Waffe. Hatte er sie von einem der Bodyguards geliehen oder die ganze Zeit dabei gehabt. „Ich wollte dir raten, deine Entscheidung zu überdenken“, meinte er. „Weißt du überhaupt, womit du dich da anlegst?“

„Ich habe es die ganze Zeit gewusst, Michael, und es ist mir egal“, erwiderte sie. „Es ist mir egal, weil egal was es für mich bedeutet, ich werde diese Kinder da nicht verraten.“

„Warum nicht?“, fragte er. „Ich habe doch Recht. Du hast andere in ihrem Alter schon ermordet, oder?“

„Nicht weil ich es wollte, Michael, und das weißt du ganz genau. Verdammt, du weißt es besser, als irgendjemand anderes. Du weißt, wie ich Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen gegenüberstehe.“ Sie hielt noch immer die Waffe mit ihrer rechten Hand umgriffen. Sie gab ihr etwas Sicherheit.

Michael seufzte. „Ja, ich weiß. Albern. Emotional.“

„Gefühle zu haben, ist nicht albern“, warf Heidenstein ein.

„Ach, du halt die Klappe, Doc“, zischte Michael ihm zu. „Das hier ist größtenteils deine Schuld, du elendiger Gutmensch!“

„Was ist seine Schuld?“, fragte Pakhet. „Dass ich etwas mache, an dass ich wirklich glaube? Verdammt, Michael, ich sage dir was: Ich hätte Dené gerettet, auch wenn du mich vor drei Jahren auf diese Mission geschickt hättest.“

„Und die anderen?“, fragte Michael. Er kam auf sie zu, sah dabei auf ihre Waffe.

Sie sollte sie erheben, sollte ihn erschießen. Sie könnte ihn einfach töten. Sie könnte diese Sache ein für alle Male beenden. Und doch konnte sie nicht, ließ zu, dass er bis auf ein paar Zentimeter an sie herankam.

Wie schaffte er es, sie so nervös zu machen? Er war schwach. Es wäre so einfach, ihn umzubringen. Verdammt, er war sogar kleiner als sie. Er sollte keine Macht über sie haben und doch … Verdammt. Er hatte nichts mehr gegen sie. Er hatte alle Informationen schon an Nel verkauft – oder?

Er lächelte, tätschelte ihre Wange. „Ich wusste doch, dass du mir nichts tun würdest, meine Liebe.“

„Lass sie einfach in Ruhe“, flüsterte Heidenstein, doch Michael ignorierte ihn.

„Komm. Komm mit mir zurück. Wir können noch darüber sprechen. Nel ist ein sehr geduldiger Mann. Aber auch ein sehr einflussreicher Mann. Dir sollte klar sein, dass du dieses Spiel nicht gewinnen kannst.“

„Das werden wir sehen, Michael“, erwiderte sie leise. „Ich würde an deiner Stelle keine voreiligen Wetten eingehen.“

Noch immer schwebte Michaels Hand neben ihrer Wange, wanderte dann aber zu ihrer Kehle hinab. Er griff nicht wirklich zu, ließ seine Hand jedoch dort liegen. „Komm mit mir zurück.“

„Oder du bringst mich um?“

„Vielleicht.“

„Glaubst du wirklich, dass du schneller wärst, als ich?“, flüsterte sie.

„Ich glaube, dass ich ihn vorher umbringen könnte“, erwiderte er und hob seine Waffe, richtete sie auf Heidenstein, der seinerseits die Dartpistole in der Hand hatte.

Ein Lächeln erschien auf Michaels Gesicht. „Warum bleibst du die ganze Zeit bei ihm. Ich verstehe es nicht.“

„Es tut mir wirklich sehr leid, dass du Freundschaft nicht verstehst“, zischte Heidenstein.

Michael lachte. Er griff Pakhets Kehle fester, jedoch nicht fest genug, um ihr wirklich Luft oder Blut abzuschnüren. Es war nicht mehr, als ein weiteres Kontrollspiel. „Freundschaft?“, fragte er dann und sah zu Heidenstein hinüber. „Bitte, mein Liebe, sehen wir es doch, als das, was es ist: Sadismus.“

„Halt die Klappe“, zischte Pakhet.

Wieder wurde sein Griff etwas fester. „Ach komm, du weißt es selbst, oder, Pakhet?“ Er betonte ihren Namen übertrieben, nannte sie jedoch zumindest nicht Joanne. „Du weißt, dass du ihn folterst, oder? Sie ihn dir doch an.“ Seine Hand griff etwas höher, griff sie am Kinn, um ihren Kopf zu drehen.

Sie spannte ihre Muskeln an, schaffte es ihren Blick auf Michael gerichtet zu haben.

Michael fixierte sie. „Bitte. Du weißt es ganz genau. Er sieht in dir nicht dasselbe, wie du in ihm, oder? Du weißt es genau.“

„Misch dich nicht in Sachen rein, die dich nichts angehen“, flüsterte Heidenstein und machte einen Schritt auf Michael zu, der seine Waffe wieder hob.

„Ich habe doch Recht, oder, Doc?“ Er sah zu ihm. „Ich meine, ich verstehe es nicht. Aber gut, so etwas war nie mein Bier. Wenngleich ich wirklich sagen muss, Doc, du hast schon einen seltsamen Geschmack. Bei all den Frauen dieser Welt musste es ausgerechnet die Kampfbraut sein, die deine Gefühle nie erwidern wird. Und dafür tust du, was? Dafür bringst du sie dazu, all diesen Kram durchzuziehen, der dich, sie und den Jungen töten wird?“

Pakhet griff nach Michaels Hand, zwang sie von ihrem Hals weg. „Lass ihn in Ruhe.“

„Du weißt, dass ich Recht habe, Pakhet“, erwiderte er. „Oder? Oder erwiderst du seine Gefühle?“

Hass brannte in ihrer Brust. Doch sie antwortete nichts, griff Michaels Hand nur noch heftiger. „Lass uns einfach in Ruhe.“

„Und dann was? Ich meine, komm schon. Komm mit mir zurück. Du weißt, dass das hier nicht auf ewig anhalten kann. Was meinst du, wie er auf Dauer reagieren wird? Im Moment ist er an deiner Seite, sicher, aber irgendwann wird er das nicht mehr sein. Nicht so. Und dann?“ Wieder sah zu Heidenstein. „Ich meine, wirklich, Doc. Was wirst du dann tun? Was wirst du tun, wenn die Zeit vergeht – vorausgesetzt, dass ihr überhaupt so lange überlebt – und sie am Ende deine Gefühle nicht erwidert?“ Dann wandte er sich zurück zu Pakhet. „Komm. Geh dahin. Mach den Job mit Nel. Du kannst wieder zur selben Art zurückkehren, wie früher: Einfach ignorieren, dass was da draußen passiert.“

„Und genau da irrst du dich“, zischte sie, „das werde ich nie wieder tun. Heidenstein hat keinen Einfluss darauf.“

„Wirklich nicht?“, fragte Michael. „Und was ist, wenn er es irgendwann nicht mehr aushält? Wenn er irgendwann …“

„Lass uns gehen, Pakhet“, flüsterte Heidenstein. „Lass uns einfach gehen.“

Sie ließ Michael los, machte einen Schritt zurück. „Ja. Lass uns gehen.“ Sie sah zu ihm.

Dann aber hörte sie ein vertrautes Geräusch: Eine Waffe, die entsichert wurde. Dieses Mal zeigte sie auf ihren Kopf, anstelle von Heidenstein.

Ein Grinsen breitete sich erneut auf seinem Gesicht aus. „Ich sehe, wir befinden uns alle in einem dauerhaften Zustand der Verleugnung. Wie wäre es, wenn wir euch damit auf die Sprünge helfen. Doc. Wie wäre es, wenn du ihr sagst, wenn du ihr sagst, wie du über sie denkst. Einfach nur um zu schauen, wie sie reagiert.“

„Hör mit diesen Spielchen auf.“ Unwillkürlich hob Pakhet die Hände. Sie war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Ach, verdammt, Michael würde sie nicht selbst ermorden.

„Pakhet?“, fragte Heidenstein.

„Geh einfach“, erwiderte sie. „Geh, dann verliert er das Interesse.“

„Willst du das wirklich riskieren?“, fragte Michael.

„Verdammt, Michael, hör mit den Spielen auf. Können wir uns nicht einfach darauf einigen getrennter Wege zu gehen? Du hast doch sowieso schon alles verraten.“

Michael zuckte mit den Schultern. „Aber das ist doch auch eine Frage, oder? Was habe ich verraten. Und was weiß ich?“ Noch immer war seine Waffe auf sie gerichtet.

Sie machte einen weiteren Schritt zurück.

Sein Finger spannte sich an. „Das würde ich wirklich nicht machen, Pakhet.“

„Was willst du?“, fragte sie.

„Habe ich doch gesagt“, erwiderte Michael. „Ich will, dass der gute Doktor ehrlich mit dir ist.“ Er sah zu Heidenstein. „Nicht wahr, Doc?“

Heidenstein suchte ihren Blick. Er schien nicht wirklich zu wissen, wie er reagieren sollte. Noch immer hatte er seine eigene Waffe in der Hand, traute sich aber nicht zu schießen. Das Gift wirkte zu langsam. Michael konnte bis dahin mehrfach abdrücken.

„Doktor“, meinte Michael. „Komm schon. Es sind nur ein paar Worte.“

Fuck. Nein. Sie hatte von diesem Spiel genug. Es war nicht so, als wüsste sie es nicht. Sie hatte nur entschieden, es zu ignorieren. Sie konnte im Moment nicht noch weitere Kapazitäten dafür aufwenden, sich darum zu scheren.

Wenn Michael sie so nicht gehen ließ, musste sie es anders machen.

„Pakhet“, meinte Heidenstein leise. „Ich …“

„Spiel seine Spiele nicht mit“, unterbrach sie ihn. „Ich weiß es sowieso.“

„Ach komm schon, Pakhet“, höhnte Michael. „Jetzt gib ihm schon eine Chance.“

Sie sah ihn an, sammelte ihre Energie. „Hör einfach mit deinen Spielen auf.“

Er lächelte sie an. „Warum?“

„Weil du dann ausnahmsweise nicht wie ein totales Arschloch wirken würdest.“ Sie machte einen einzelnen Schritt auf ihn zu. „Komm, du wirst mich genau so wenig erschießen, wie ich dich. Du willst immerhin wissen, wie das Spiel ausgeht, oder?“

„Vielleicht will ich ihn auch nur weiter leiden sehen“, meinte Michael, die Waffe auf ihre Stirn gerichtet.

Sie machte noch einen Schritt. „Das funktioniert nur, wenn ich dir glaube, dass du es tun würdest.“ Sie war nur noch zwei Meter von ihm entfernt.

Er musterte sie, schien zu warten, lächelte, sah zu Heidenstein, der erneut ansetzte.

„Pakhet …“

Sie ließ ihn nicht weitersprechen. In einer fließenden Bewegung sprang sie auf Michael zu, griff unter seine Hand, schob diese nach oben, während ihre rechte Hand nach der Handytasche an ihrem Gürtel griff, einen der Giftpfeile herauszog und Michael in die Seite des Halses rammte.

Ein Schuss löste sich aus Michaels Waffe, als er sie ansah. Seine Augen waren kühl, hasserfüllt.

Also hasste er sie auch? Wie passend.

Noch immer lächelte er. „Du wirst es so sehr bereuen.“

Seine Muskeln wurden entspannter. Sie konnte ihm die Waffe entnehmen, sicherte sie, ließ das Magazin rausfallen und warf die Waffe dann unter das nächste stehende Auto.

„Dann ist es so“, meinte sie, als Michael zu Boden ging, während der Bodyguard nur sprachlos zusah.

Sie sah zu ihm.

Er erwiderte den Blick, tat aber nichts.

Dann sah sie zu Heidenstein, ging zu ihm hinüber griff ihn bei der Schulter. „Ich habe wirklich genug“, hauchte sie. „Lass uns zum Flughafen.“ Dabei hasste sie den Gedanken daran, darüber reden zu müssen.

Oh, wie sehr sie Michael hasste. Warum musste er ihr Leben nur so viel komplizierter machen?

[20.11.2011 – D54 – Ungesagt]

Zurück im Wagen, blieb Joanne für einige Sekunden nur stillsitzen. Sie lehnte sich gegen das Lenkrad, hielt es mit beiden Händen. Noch immer klopfte ihr Herz viel zu schnell – vor Wut und wenn sie ehrlich war auch vor Angst. Sie hatte für einen Moment wirklich Angst gehabt. Wovor wusste sie sich nicht sicher.

Heidenstein setzte sich links von ihr auf den Beifahrersitz, schloss die Tür.

Fuck. Das ganze war für ihn wahrscheinlich noch schlimmer. Er war an Michael nicht gewöhnt. Er war so nicht mit ihm konfrontiert gewesen. Sie sollte mit ihm reden, doch wusste sie nicht wie. Vor allem nicht, nach der Nummer, die Michael abgezogen hatte.

Sie sollten hier weg.

Heidenstein legte eine Hand auf ihre Schulter. „Pakhet?“ Seine Stimme klang angespannt, zittrig.

Für einen Moment schloss sie die Augen, zählte innerlich bis zehn, ehe sie ihn ansah. „Denk nicht zu viel darüber nach, ja?“

„Pakhet“, begann er, ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte.

Sie konnte es ihm ansehen. Innerlich betete sie, dass er nicht aufbrachte, was Michael gesagt hatte.

Er musterte sie. „Ich … Fuck. Pakhet. Das eben … Er hätte beinahe.“

Sie lehnte sich zurück. Noch immer hatte sie beide Hände am Lenkrad. Es gab ihr im Moment Halt, die Illusion von Kontrolle. „Denk nicht so viel darüber nach. Es ist nur Michael. So ist er immer.“ Sie schüttelte den Kopf, startete den Wagen. „Es ist Michael. Er ist ein falsches, schmieriges, manipulatives Arschloch.“ Sie legte den Gang rein, drückte auf das Gaspedal.

Noch immer sah Heidenstein sie an. „Ist bei dir alles in Ordnung?“

„Nein“, antwortete sie, während sie aus der Parklücke rausfuhr. „Aber ich komme schon damit klar.“

Er schwieg, musterte sie nur weiter. Sein Blick war unsicher. „Er hätte …“

„Er hätte mich nicht erschossen“, erwiderte sie. „Er hat nur gedroht. Es ist alles ein Kontrollspiel. Er will in deinen Kopf. Mehr nicht.“

„Pakhet, ich war da. Ich habe gesehen, dass er geschossen hat.“

„In die Luft.“

„Weil du seine Hand hochgerissen hast.“

Sie sah auf die Straße. „Der Schuss hat sich nur gelöst, weil ich seine Hand gegriffen habe. Glaub mir, er würde mich nicht erschießen. Dafür hat er viel zu viel Spaß damit mich …“ Sie schürzte die Lippen, wechselte ihren Ansatz. „Er will nur Kontrolle. Das ist seine Art sich einen runterzuholen.“

Heidenstein schwieg für einen Moment. „Fuck. Das ist krank.“

„Michael ist ein krankes Individuum“, murmelte sie. Sie schaltete den Gang hoch. Es war routiniert. Es gab ihr das Gefühl einer Vertrautheit. „Irgendwann werde ich ihn erschießen. Ihn. Und diesen Nel.“ Sie verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln bei dieser Vorstellung. „Und es wird sich gut anfühlen.“

Heidensteins Blick war ungläubig, zweifelnd. Natürlich war er das. Er versuchte doch die ganze Zeit diese Seite von ihr zu ignorieren. Ihre dunkle Seite. Wenn man ihn fragte, hatte sie diese wahrscheinlich nicht.

Sie schwieg, überlegte den schnellsten Weg zum Flughafen. Sie wollte nach Kapstadt zurück, wohl wissend, dass sie so einfach vor diesen Problemen nicht weglaufen konnte.

Dann warf sie Heidenstein einen kurzen Seitenblick zurück. „Du weißt, dass er Recht hat. Ich habe getötet. Mehr als einmal. Ich … Ich werde noch andere töten. Zumindest diese beiden.“

Er wich ihrem Blick aus, sah nun seinerseits auf die Straße. „Ich weiß.“

Schweigen. Bedrücktes Schweigen. Zumindest sprach er den Elefant im Raum nicht an. Zum Glück.

„Glaubst du“, begann er nach einer oder zwei Minuten schließlich, „dass es vorbei ist, wenn du sie tötest?“

Nein. Das glaubte sie nicht. Dennoch zuckte sie mit den Schultern. „Vielleicht.“ Sie atmete zwei Mal tief durch. „Lass uns einfach nach Kapstadt zurück. Wir können dann über den nächsten Schritt nachdenken.“

„Ja“, murmelte er. Er leckte sich über die Lippen. „Du hast Nel ziemlich wütend gemacht.“

„Das hoffe ich“, murmelte sie. Sie schüttelte den Kopf. „Was ein Arschloch. Glaubte er wirklich …“ Noch einmal schüttelte sie den Kopf. „Es tut mir leid. Ich habe die Entscheidung für dich mitgetroffen.“

„Es war deine Entscheidung“, erwiderte er. Wieder fand seine Hand ihre Schulter, drückte sie sanft. „Und nur für's Protokoll: Ich würde kein Geld von jemanden wie ihm wollen. Schon gar nicht, da ich weiß, woher es kommt.“

Sie nickte stumm. Schaltete. Lenkte. „Ich weiß“, flüsterte sie schließlich.

[20.11.2011 – C11 – Entführt]

Knapp vier Stunden später waren sie in Kapstadt.

Es machte Pakhet noch nervöser, daran zu denken, dass bisher nichts passiert war. Es hatte sie niemand auf dem Weg zum Flughafen angegriffen, noch hatte jemand sie im Flugzeug angegriffen und natürlich war auch das Flugzeug nicht abgestürzt. Sie waren in bester Ordnung und doch änderte es nichts an ihrer Furcht. Sie wusste, dass etwas passieren würde. Sie wusste, dass ein Sturm, ein metaphorischer Sturm praktisch darauf wartete loszubrechen.

Sie sollte Recht haben. Als sie ihr Handy am Flughafen wieder anstellte und sich auf dem Weg zu ihrem Wagen im Parkhaus machte, klingelte es gleich mehrfach. Verpasste Anrufe.

Sie holte es hervor, sah darauf.

„Was ist?“, fragte Heidenstein, sah über ihre Schulter.

Sie schüttelte den Kopf leicht. „Crash. Hat mehrfach versucht mich anzurufen.“

Sie wählte die Nummer, hob das Handy an ihr Ohr, während sie wartete, das jemand abhob.

Sie musste nicht lange warten. Schnell hob jemand ab. Sie hörte Crashs Stimme. Sie klang höher, als normal, angespannt.

„Pakhet.“

„Hey, Großer. Was ist los?“

„Warum bist du nicht drangegangen?“ Das waren mehr Worte, als man normal am Stück von ihm hörte.

„Ich war im Flugzeug.“ Sie konnte hören, dass etwas nicht stimmte. „Was ist los?“

„War Murphy bei dir?“

Sie runzelte die Stirn. Sie hatte Murphy mit Absicht nicht erzählt, dass sie sich mit Nel traf. Er hätte mitgewollt, genau so wie Heidenstein. Sie hatte sie nicht beide in die Situation bringen wollen. Das konnte sie nicht riskieren. „Nein.“

Schon rasten ihre Gedanken. Es brauchte kein Genie um herauszuhören, dass etwas mit Murphy nicht stimmte. Etwas war nicht in Ordnung. „Was ist los?“

„Er hat vor ein paar Stunden angerufen. Wir haben nichts gehört“, knurrte Crash. „Dann wurde der Anruf unterbrochen.“

Pakhet blieb stehen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Sie wusste genau, was das bedeutete. Jemand hatte Murphy unter Beobachtung gehabt, hatte auf Ausgang des Gespräches gewartet. Und dann … „Fuck.“ Sie lief wieder los, beschleunigte ihre Schritte noch. Verdammt. Was konnte sie tun? Was konnte sie tun? Vielleicht war es nur ein Missverständnis. Vielleicht hatte Murphy nur eins seiner besonderen Abenteuer. Doch eigentlich wusste sie, dass es nicht so war. Nel war dahinter. So musste es sein.

Heidenstein schloss mit ihr auf, packte sie bei der Schulter. „Was ist los?“, flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich komme zu euch“, sagte sie an Crash gewandt. „Habt ihr versucht sein Handy zu orten?“

Eine Stimme erklang aus dem Hintergrund: „Ich weiß, von wo aus er den Anruf gemacht hat.“ Das war Alice.

„Wo?“, fragte Pakhet. „Ich schaue nach.“

Alice nannte ihr Koordinaten. Wenn Pakhet nicht ganz irrte irgendwo in den Cape Flats.

„Pass auf, ja?“, meinte Crash.

„Werde ich.“ Sie legte auf, lief mit langen Schritten weiter.

„Was ist los?“, fragte Heidenstein.

Pakhet sah kurz zu ihm. „Sie haben Murphy.“

[20.11.2011 – X29 – Panik]

Die Parkanlage oder eher das, was sich in dieser Gegend als solche bezeichnete, lag im halbdunklen vor ihnen. Ein Teil der Straßenlaternen am Rand des Parks war kaputt, teilweise sogar zerschossen. Ein guter Teil des Lichts entstammte der residuellen Lichtverschmutzung des Gebiets. Eine Wolkendecke bedeckte den Himmel, ließ auch kein Licht von Mond oder Sternen hindurch.

Pakhet stand am Rand des Parks. Hier irgendwo hatte Alice zuletzt Murphys Handy geortet.

Sie sah sich um. In der Ferne erklangen Schüsse. Nicht ungewöhnlich für die Gegend. Das musste nichts für sie heißen. Wahrscheinlich waren es nur Gangs. Dennoch lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Heidenstein stand hinter ihr, sagte nichts. Wie sie hatte er seine Waffe gezogen. Anders als sie allerdings die Dartpistole. Sie hatte ihre P9 in der Hand, während sie auf die freie Fläche ging, die zwischen zwei betonierten, aber zerfallenen Straßen war.

Die Fläche war mit dünnen, trockenem Gras bedeckt. Ein paar knorrige, alte Bäume standen am Rand. Da hinten war ein Feuer. Obdachlose? Eine Feier?

Etwas stank. Der Geruch von brennendem Öl.

Ihr Herz hämmerte weiter gegen ihre Brust. Da war etwas.

Glassplitter bedeckten den Boden an einer Stelle. An einer anderen hatte etwas den Boden umgegraben. Sie ging hinüber, um es besser sehen zu können.

„Was ist es?“, fragte Heidenstein.

Sie hing in die Hocke, nahm die Waffe mit ihrer Prothese, streckte ihre Hand nach der Spur im Boden aus. „Das sind Motorradspuren.“

Damit stand sie auf, folgte den Spuren, die weiter auf die Fläche führten.

Hier war auch noch etwas anderes. Kleine Löcher im Boden. Wieder ging sie in die Hocke, bestätigte ihre Vermutung: Einschlagslöcher von einer Patronen. Und da. Blut. Es war relativ frisch. Vielleicht ein paar Stunden alt.

Sie schloss die Augen. Sie glaubte nicht an irgendwelche Götter, doch hätte sie es getan, hätte sie darum gefleht, dass es nicht bedeutete, was sie dachte.

Die Motorradspuren wurden leichter. Es hatte weniger Halt gehabt. Es war ins Schlingern geraten. Dann musste es umgekippt sein. Sie waren nahe am Feuer, konnten nun auch sehen, was es war, das brannte: Es war Benzin, das aus dem Tank eines Motorrads, das gegen einen Stein, der die Seite des „Parks“ begrenzte, zum Liegen gekommen war, auslief.

Hatte es jemand mit Absicht angezündet? War es beim Unfall passiert?

Doch dann kam sie näher, erkannte das Motorrad, erkannte das Modell. Sie hielt inne. „Bitte nicht …“ Sie sah auf das Nummernschild. „Fuck.“

Hier war noch mehr Blut am Boden. Eine kleine Pfütze, die halb in den trockenen Boden eingezogen war.

Heidenstein ging neben ihr in die Hocke. „Das ist …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende.

Sie schluckte, nickte. „Ja. Das ist mein Motorrad.“ Dann stand sie auf, sah sich um. Sie musste gegen die Panik ankämpfen, die stärker und stärker gegen ihr Bewusstsein ankämpfte, es zu übermannen drohte.

Das durfte nicht sein. Es durfte nicht heißen, was sie glaubte, was sie wusste.

„Murphy!“, rief sie. Ihre Stimme hallte Hohl in die Nacht. „Murphy! Kid!“

Keine Antwort. Stille. Schreie in der Ferne. Flüche. Entfernte Schüsse.

„Murphy!“ Sie wusste, dass es vergeblich war. Doch was sollte sie sonst tun? Sie sah sich um, rannte zum Rand des Parks. Es gab nur einen Grund, warum Murphy auf die Parkfläche gefahren wäre. Nur eine, die sie sich vorstellen konnte: Jemand hatte ihn mit einem Wagen verfolgt. Einem Wagen, der zu breit war, um zwischen den Bäumen her zu kommen. Man hatte erst später auf ihn geschossen. Und wenn sie die Einschusslöcher richtig las, so waren die Angreifer auf die Straße parallel zum Park gefahren.

Vielleicht fand sie etwas. Irgendetwas. Verdammt. Warum mussten ausgerechnet hier die Straßen betoniert sein? Warum konnten es nicht Schmutzstraßen sein, wie in anderen Teilen der Flats?

Ihr Blick glitt von Steinen zur Straße, zur Mauer auf der anderen Seite. Irgendetwas. Irgendetwas. Ein Hinweis. Irgendetwas. Hier musste etwas sein. Vielleicht lebte Murphy noch. Vielleicht gab es eine Chance. Irgendetwas. Irgendetwas.

Blut. Weitere Blutflecken. Sie wusste, dass es Murphys sein musste. Doch da endeten die Flecken. Und sonst? Da war nichts. Nicht einmal Reifenspuren.

Vielleicht hatte er sich verwandelt. Vielleicht … Doch die wusste, dass dann ein Teil seiner Sachen hier zurückgeblieben wäre. Es war Murphy. Murphy, der seine Kleidung nie an sich band. Murphy.

[20.11.2011 – A05 – Wahrheiten]

Ein einzelnes Tuten. Dann ging die Mailbox dran. Es war das dreiundzwanzigste Mal, dass Joanne versuchte, Murphy anzurufen. Natürlich ging es nicht. Wer auch immer ihn hatte, hatte das Handy ausgestellt. Natürlich. Ansonsten hätte man ihn leicht finden können. Man hätte das Handy aufspüren können. Aber so?

Sie starrte auf ihr Handy. „Fuck.“

Crash ließ sich neben sie auf das weite Sofa fallen, drückte ihr eine Tasse Kaffee in die Hand. Er brummte.

„Danke, Großer“, murmelte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie wusste nicht, was sie noch machen konnte.

„Wir müssen ihn irgendwie finden“, meinte Alice, die zwischen drei Laptops, die deutlich der Marke Eigenbau waren, auf dem Boden saß. Die Hälfte der Zeit war sie in eine Trance verfallen, doch nun sah sie auf.

Sie hatten das ganze schon fünfzehn Mal besprochen. Sie hatten keine Möglichkeiten. Murphy war irgendwo. Sie hatten keinen Anhaltspunkt wo. Verdammt. Warum eigentlich nicht? Halb rechnete sie damit, dass jemand sie anrufen würde. Immerhin ging es doch um sie, oder? Die Leute wollten ihr eins auswischen. Es waren wahrscheinlich Söldner. Söldner irgendeiner Form. Würden sie nicht eigentlich sie töten wollen? Würde man nicht irgendwann anrufen, einen Austausch vorschlagen? Sie gegen Murphy? Unabhängig davon, ob Murphy noch lebte.

Schließlich stand Heidenstein auf. „Ich gehe den Van holen“, meinte er.

Joanne verstand ihn zu gut. Er wollte irgendetwas tun, sich irgendwie nützlich machen. Dennoch spürte sie ein Stechen in ihrer Brust. „Du kannst nicht allein gehen. Es kann sein, dass jemand am Krankenhaus bereits wartet.“ Bisher waren sie noch nicht dahin zurückgekehrt.

Crash brummte, stand auf. „Ich komme mit.“

Joanne schwieg, nickte. Fuck. Was konnten sie schon groß tun?

Nichts. Nichts. Nur warten. Warten, dass irgendetwas geschah. Oder das zumindest Siobhan sich zurückmeldete. Siobhan war eine Magierin. Sie konnte vielleicht etwas tun. Einen Aufspürzauber vielleicht. Irgendetwas in der Art. Heidenstein konnte es nicht. Es war nicht seine Art der Magie. Vielleicht Siobhan. Vielleicht diese Athea. Irgendwer. Jemand musste ihn finden können. Irgendwie. Murphy. Er musste noch leben. Sie würde es nicht nie verzeihen können, wenn er wegen ihr starb. Das alles was ihr Fehler.

„Wir sind so schnell, wie wir können, wieder da“, meinte Heidenstein, legte ihr kurz die Hand auf die Schulter.

Sie schürzte nur die Lippen. Nickte wieder. Sie konnte nicht mehr tun. Gar nichts. Sie war so machtlos. So schwach. Sie hatte keine Möglichkeiten. Warum hatte sie keine Magie? Keine Magie dieser Art? Warum konnte sie nicht irgendetwas tun.

Crash und Heidenstein gingen. Verließen das Haus durch die Vordertür. Kurz darauf erklang ein Motor. Nicht Pakhets Wagen. Es musste Crashs Auto sein. Vielleicht machte es auch Sinn. Ja, es machte wahrscheinlich Sinn.

Joanne starrte auf den Kaffee in ihrer Hand. Er wurde langsam kalt.

Vorsichtig trank sie einen Schluck. Dabei musste sie sich zwingen zu Schlucken. Es war, als würde ein schwerer Stein in ihrer Brust liegen. Sie hasste es.

Ihre Schuld. Es war ihre Schuld.

Alice schaute zu ihr hinüber. „Du weißt, was ich gesagt habe“, murmelte sie, die Augenbrauen zusammengezogen.

Pakhet sah zu ihr, nickte. „Ja.“ Ihre Stimme klang hohl.

Sie konnte den Blick in Alices Augen nicht deuten. Er wirkte beinahe enttäuscht. Warum? Hatte Alice geglaubt, dass sie etwas tun könnte? Dass sie eine Lösung hervorzaubern konnte? Sie hatten Dené gefunden. Ja. Aber bei Dené hatten sie einen besseren Anhaltspunkt gehabt. Eine gute Lösung. Halbwegs. Irgendetwas.

Hier? Sie brauchten Magie. Sie brauchten jemand, der Aufspürzauber beherrschte.

Während Alice wieder in eine Trance sank, stellte Joanne ihren Kaffeebecher ab. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Verdammt. Sie hatte nicht einmal die richtige Prothese. Wenn sie Murphy fanden, musste sie kämpfen können. Sie hatte dafür die falsche Prothese.

Schon hob sie, selbst beinahe wie in Trance, das Handy, um Heidenstein eine Nachricht zu schreiben. Er müsste jetzt auf halben Weg zum Krankenhaus sein. War wirklich schon eine halbe Stunde um? Verdammt. Ihr Zeitgefühl war gänzlich kaputt. Jede Sekunde fühlte sich wie eine Ewigkeit an, jede Minute derweil nur wie ein Herzschlag.

Da leuchtete auf einmal der Bildschirm des Handys auf. Ein eingehender Anruf. Eine bekannte Nummer.

Endlich. Sie erkannte den Namen. Siobhan. Vielleicht hatte sie eine Möglichkeit. Sie musste eine Möglichkeit haben.

Pakhet hob ab.

[20.11.2011 – SI06 – Suchtrupp]

Die lange Stille und auf einmal passierte so vieles auf einmal. Zuerst kam Siobhan an. Sie landete deutlich Sichtbar als Möwe im Garten des Grundstücks, verwandelte sich in einen Menschen, ging zur Terrassentür und klopfte.

Trixie, die Möwe landete auf ihrer Schulter.

Schon sprang Joanne auf, ließ die beiden herein.

Siobhan verlor keine Zeit. „Was ist los?“

„Murphy ist verschwunden“, erklärte sie noch einmal. „Wir haben Grund zur Annahme, dass sie ihn entführt hatte.“ Sie führte nicht aus, wer „sie“ waren, doch Siobhan schien zu verstehen.

„Was kann ich tun?“

„Du kannst ihn mit Magie aufspüren, oder?“, meinte Joanne. Sie war sich nicht sicher, ob sie sie am Telefon nicht verstanden hatte.

„Ich kann“, erwiderte Trixie und breitete ihre Flügel aus. „Ich brauche nur etwas von ihm.“

Pakhet nickte. Ja, das wusste sie. Heidenstein hatte es gesagt. Auch wenn es mit Murphy etwas schwer war. „Wir haben etwas Blut von der Straße. Und etwas von seinen Haaren.“

Die Möwe flatterte auf den Tisch, besah sich, was sie dort vorbereitet hatten. Sie hatten noch einige von Murphys Sachen. Kurz zupfte sie sich Federn unter ihrem Flügel zurecht, dann nickte sie aber. „Ja, damit sollte es gehen.“ Sie sah zu Siobhan, als würde sie etwas von ihr erwarten.

„Sie wird brauchen.“

Wieder nickte Pakhet. Sie war oft genug dabei gewesen, als Aufspürzauber gezaubert worden waren. Ein, zwei Stunden waren übliche Zeiten. Sie versuchte nicht zu sehr darüber nachzudenken. Sie hasste es. Doch es musste sein. Es war ihre beste Chance.

„Komm“, meinte Siobhan und nahm ihre Hand in einer freundschaftlichen Geste. „Wir finden ihn schon. Wir holen ihn zurück.“ Sie lächelte aufmunternd.

Stumm nickte Pakhet nur. Ihr Mund war trocken. Egal, wie sehr sie es versuchte, sie konnte nicht anders. Sie fühlte sich so verloren. Sie wusste, dass sie etwas tun musste. Und doch … Die Panik hatte sie kalt gepackt.

„Vertrau Trixie einfach“, sagte Siobhan. „Und wenn ich irgendwie helfen kann …“

„Wir werden wahrscheinlich kämpfen müssen“, erwiderte Pakhet. „Dafür können wir deine Hilfe gebrauchen.“ Gesetzt dessen, dass sie ihn wirklich fanden.

Trixie besah sich noch immer die Gegenstände: Ein kleines Plastiktütchen mit dem Blut, das sie vorher gesammelt hatten. Ein paar seiner Shirts. Ein paar Haare. Dann schloss sie die Augen und plusterte sich auf. Ein seltsamer Brummton erklang aus ihrem Kropf.

Normal hätte Pakhet gefragt, was die Möwe dort tat, doch im Moment brachte sie es nicht fertig.

Die Eingangstür wurde geöffnet. Da noch immer die Terrassentür offen stand zog ein Durchzug durch das Wohnzimmer. Dann kam Heidenstein mit langen Schritten zu ihr. Er hatte ihre andere Prothese.

Schon sah er Siobhan fragend an. „Irgendetwas Neues?“

Siobhan zuckte mit den Schultern. Sie wirkte etwas verloren. „Trixie wird ihn aufspüren.“ Sie bemühte sich offenbar zuversichtlich zu klingen.

Joanne sah zu Heidenstein, als er sich auf ihre andere Seite setzte. „Hier.“ Wieder war seine Hand auf ihrer Schulter. Er strich sanft über die Schulter. „Wir finden ihn. Ganz sicher.“

Sie nickte nur, nahm ihm die Prothese ab. „Ich ziehe sie an“, meinte sie dann und stand auf. Zumindest würde es ihr für ein paar Minuten etwas zu tun geben.

Ohne ein weiteres Wort ging sie ins Bad, legte dort die normale Prothese ab. Mit einem Klacken machte sie die Verbindung des Metallstücks, das sie stabilisierte los, löste dann die Kontakte. Dann das ganze umgekehrt. Sie stellte sicher, dass die Kontakte mit ihrem Muskel funktionierten, machte die Prothese dann an dem Metall fest, ließ sie einrasten. Dann nahm sie das Stoffstück, um die Prothese zu befestigen, führte den Arm hindurch, machte dann die Schnüre über ihren Rippen und ihrer anderen Schulter fest. Dann zog sie wieder Tanktop und ihre Weste hinüber. Noch einmal kontrollierte sie ihre Waffen. Ein nervöser Tick.

Sie sah in den Spiegel. Sie war so furchtbar blass.

Dann auf einmal Schritte. Jemand klopfte an die Tür. „Pakhet?“ Das war Heidensteins Stimme.

„Ja?“ Noch einmal überprüfte sie mit einigen schnellen Handgriffen, ob alles saß. Dann ging sie zur Tür, öffnete sie. „Was ist?“

Heidenstein sah sie an. „Alice hat auf einmal wieder ein Signal von Murphys Handy.“

Ihr Herz machte einen Satz. Dann schien es für einige Meter zu fallen. Sie wusste was es bedeutete. „Eine Falle …“

Heidenstein leckte sich über die Lippen. „Wahrscheinlich.“ Schon wieder lag eine seiner Hände auf ihrer rechten Schulter. Er sah sie an.

Für einen Moment zögerte sie. Wenn auf einmal das Handy wieder an war – wonach es klang – konnte das nur zwei Gründe haben: Entweder Murphy war vorher verwandelt gewesen, hatte sich nun zurückverwandelt oder konnte aus anderen Gründen wieder herangehen, oder jemand hatte gewusst, dass sie ihn aufspüren konnten. Dann war es eine Falle.

Schon hatte sie wieder ihr eigenes Handy in der Hand, rief Murphys Nummer an. Freizeichen. Wieder das Freizeichen. Mehrfach. Es klingelte. Dann ging die Mailbox dran.

Egal was war: Sie mussten ihn finden. Selbst wenn es eine Falle war. Sie mussten ihn finden.

„Ich werde dahinfahren“, meinte sie.

Heidenstein nickte. Sein Blick sagte ihr, dass er diese Reaktion erwartet hatte. Er schürzte die Lippen. „Da ist noch etwas.“

„Ja?“ Sie sah ihn fragend an.

„Das Signal kam aus der Nähe des Casinos.“

Sie schloss die Augen. Also war es definitiv eine Falle.

[20.11.2011 – X30 – Der Köder]

Weit und breit war niemand zu sehen. Gar niemand. Nicht einmal normale Anwohner. Sicher, viele Flatbewohner verzogen sich über Nachts in ihre Häuser und Hütten, da die Gegend unsicher war. Man konnte nur hoffen, dass keine Gang auf dumme Gedanken kam. Dennoch kam es Pakhet als unnatürlich ruhig vor.

Zusammen mit Siobhan, Heidenstein und Crash stieg sie aus dem Van aus, sah sich um.

Die staubige Straße lag verlassen da. Sie waren gute dreihundert Meter vom Haus, dass diese Verbrecher als „Casino“ bezeichnet hatten, entfernt. Es lag verlassen da. Wirklich verlassen. Anders als bei ihrem letzten Besuch sahen sie niemanden. Keine Wache. Gar niemand.

Heidenstein legte seine Hand auf ihre Schulter. Schon wieder.

Sie sah sich zu ihm um.

„Es ist eine Falle“, flüsterte er.

„Ich weiß“, zischte sie.

Sie aktivierte den Armreif, den sie von ihm hatte. Sie rechnete damit, dass irgendwo ein Scharfschütze war. Irgendetwas, das sie angreifen konnte. Vielleicht waren sie auch im Gebäude. Vielleicht im Keller. Was wusste sie schon? Vielleicht waren auch weitere Dämonen da. Selbst wenn sie Zea nicht mehr hatten, bestand doch die Möglichkeit, dass es weitere Magier gab. Wahrscheinlich waren da andere. Zur Hölle, der Magier, den sie in dieser Taschendimension erschossen hatte, war auch nicht Zea gewesen. Da waren andere.

Da hinten war etwas. Auf dem Platz neben dem breiten, flachen Lagerhaus. Ein Transporter. Ein alter Transporter. Ein Van, wie der ihre, jedoch weiter heruntergekommen. Waren sie damit hergekommen? Wer auch immer sie waren.

Söldner? Assassinen? Mitglieder von Jacos Gang? Es war alles eine Möglichkeit.

„Pakhet“, hörte sie Heidensteins Stimme neben sich.

Er war noch immer sichtbar. Idiot. „Lasst mich kurz nachschauen“, flüsterte sie.

Sie wartete nicht auf eine Antwort, lief los. Ein einziger Gedanke erfüllte sie: Murphy. Sie musste Murphy retten. Wenn sie Murphy darin gefangen hielten, wenn er tot war oder wenn sie ihn … Nein, sie wollte darüber nicht nachdenken. Und doch kamen ihr die Gesichter jener anderen Kinder vor Augen. Diese Jugendliche, manche von ihnen in Murphys Alter. Der tote Junge, der da einfach zwischen ihnen lag. Angekettet wie ein Hund. Das Mädchen, die beiden Typen vergewaltigt hatten.

Sie konnte nicht. Sie konnte darüber nicht nachdenken.

Mit schnellen Schritten hatte sie das Casino fast erreicht. Da war der Zaun. Anders als beim letzten Mal kümmerte sie sich nicht darum. Heidenstein war zurück geblieben. Sie sammelte ihre Energie in den Beinen, sprang, setzte über den Zaun hinüber, ohne ihn zu berühren, landete auf der anderen Seite, sah sich um.

Wo waren sie?`Sie mussten irgendwo sein, oder? Wenn sie sie hierher gelockt hatten, musste jemand hier sein. Hier oder in der Umgebung.

Sie kniff ihr rechtes Auge zu, um mit dem magischen Auge die Umgebung zu begutachten. Sie sah hinaus in die Steppe auf der anderen Seite der M7. Da war nichts. Nur ein paar Tiere in der Ferne. Hier war sonst nichts. Keine Menschen.

Also im Gebäude?

Fuck.

Sie ging zur Eingangstür, zog vorsichtig daran. Sie war abgeschlossen. Natürlich.

Verdammt. Sie hatte dafür keine Zeit. Sie hatte keine Zeit. Sie musste Murphy herausholen!

Sie warf sich gegen die Tür. Mit all ihrer Energie rüttelte sie daran, sammelte ihre Kraft, stieß noch einmal dagegen.

Die Tür flog auf, traf scheppernd auf die Wand auf der anderen Seite. Das Geräusch klang wie ein Paukenschlag in der unnatürlichen Stille.

Verdammt. Sie musste Murphy retten. Was ist, wenn jemand ihn erschoss?

Sie ging den Flur hinab. Zimmer. Irgendwo mussten sie sein. Sie mussten hier sein. Ihre Angreifer. Mit Murphy. Ohne Murphy. So oder so, sie konnte ihn finden. Wenn sie einmal einen von ihnen hatte, konnte sie Murphy finden. Und wenn sie einen der Angreifer foltern müsste. Es war egal. Alles was zählte, war, Murphy zurück zu holen. Sie hatten ihn schon solange. Mindestens seit sieben Stunden. Verdammt.

Sie öffnete die Tür zur Lagerhalle, sah sich mit ihrem magischen Auge im Dunklen um. Niemand. Nichts. Sie hörte auch nichts.

Dann in einem anderen Raum? Die Toilette war leer und noch genauso verdreckt, wie das letzte Mal. Der nächste Raum war ebenso leer. Der daneben auch. Im nächsten fand sie nur die Reste einer Drogenküche. Verdammt. Sie mussten hier sein?

Was, wenn sie im Keller waren?

Joannes Magen verkrampfte sich. Sie wollte nicht an diesen Ort zurückkehren. Sie war das letzte Mal beinahe gestorben. Natürlich wäre diese Schlange, dieser Dämon nicht mehr dort. Natürlich nicht. Und doch … Die Vorstellung.

Egal. Murphy. Sie musste Murphy retten. Das war alles, was zählte. Sie musste Murphy daraus holen.

Sie lief zurück, lief in die Lagerhalle, lief zur Falttür. Sie öffnete sie. Das Blech knarzte. Das Untergeschoss lag dunkel vor ihr. In perfekter Schwärze öffnete sich die Treppe als ein Loch nach unten.

Verdammt.

Pakhet nahm eine kleine Taschenlampe von ihrem Gürtel. Sie würde damit auf sich aufmerksam machen, doch konnte selbst ihr magisches Auge in perfekter Dunkelheit nichts sehen. Und so ging sie herunter. Sah sich um. Irgendjemand musste hier sein. Irgendjemand. Murphy. Verdammt. Wo war Murphy?

Doch nein. Niemand.

Noch immer hingen die Ketten hier an den Wänden. Aber niemand war hier. Nicht einmal mehr die Leichen. Die Tür am Ende des Flurs war verschwunden. Natürlich. Es war der Eingang zu einer Taschendimension gewesen, die nicht mehr existierte.

Niemand war hier. Nicht einmal ein Dämon.

„Verdammt“, zischte sie.

Wo war Murphy? Wo hatten sie ihn nur hingebracht?

Doch Moment. Es gab noch eine Möglichkeit. Warum hatte sie vorher nicht daran gedacht? Warum waren ihre Gedanken nur so wirr?

Sie holte ihr Handy heraus. Sie konnte die Nummer nicht wählen, solange sie und damit auch das Handy unsichtbar waren. Verdammt. Egal. Es war ihre einzige Möglichkeit Murphy zu finden.

Sie deaktivierte den Armreif, sah auf ihr Handy, wählte die Nummer. Das leise Tuten des Freizeichens erklang von ihrem Handy. Dann lauschte sie. Hier unten war nichts. Doch sie hatte Empfang. Die Vermutung lag nahe, dass das auch für Murphy galt. Sonst wäre die Mailbox drangegangen, oder?

Zurück. Sie eilte die Treppe hinauf, wählte die Nummer erneut, als sie im Flur stand, lauschte wieder. Nichts.

Verdammt. Sie musste ihn finden.

Raus. Die Ortung war nicht zwangsweise das beste. Ja. Sie war nicht perfekt. Alice hatte es eh nicht genau sagen können. Koordinaten, GPS, es war nie genau.

Also draußen. In der Nähe. Wieder wählte sie die Nummer. Wieder lauschte sie. Und ja, da war was. Sehr leise. Doch irgendwo war etwas. Ein leises, melodisches Klingeln. Sie schloss die Augen. Es kam von weiter entfernt.

Die Mailbox ging dran. Sie legte auf. Wählte erneut. Schloss die Augen erneut, folgte blind dem Geräusch.

Es kam aus dem Wagen. Ja. Der Van. Das hieß, sie waren im Van? Sie mussten im Van sein.

Pakhet griff nach ihrer Waffe, zog sie. Sie steckte ihr Handy weg, nährte sich vorsichtig dem Van. Es schien niemand drin zu sein. Zumindest im Führerhaus war niemand. Doch vielleicht im Ladebereich?

Es war eine Falle. Da war sie sich sicher. Wahrscheinlich wollten die Angreifer sie überraschen. Verdammt. Sie sollte die anderen dazu rufen. Aber vielleicht, ja, nur vielleicht konnte sie sie so überraschen. Sie war stark genug. Sie konnte mit drei, vier Leuten allein fertig werden, vor allem, wenn sie sich nicht darum scherte, ob ihre Gegner lebten oder starben.

Sie hatte die Hintertür des Vans erreicht. Noch war niemand daraus hervorgesprungen und hatte das Feuer auf sie eröffnet. Gut?

Sie legte vorsichtig die Hand der Prothese auf die Tür, griff sie. Dann, mit einer einzigen Bewegung riss sie die Tür auf. Leere. Keine Person. Niemand. Nur zwei Gegenstände. Ein Handy. Nein. Zwei. Das zweite auf einer schwarzen, verkabelten Kiste.

Pakhet verstand. Sie war dumm.

Das Handy auf der Box leuchtete auf. Pakhet wandte sich ab. Sie lief, sprang. Dann fegte die Druckwelle der Explosion über sie hinweg.

Kurz wurde sie ohnmächtig. Es war Schmerz, der ihr Bewusstsein zurückholte. Ein scharfer Schmerz an ihrer Hüfte. Da war was. Was nur?

„Pakhet!“ Eine atemlose Stimme. „Pakhet!“ Jemand hob ihren Oberkörper hoch, packte sie bei den Schultern. „Pakhet.“

Heidenstein. Es war Heidenstein. Natürlich war es Heidenstein. Er war doch herübergekommen.

Da war noch etwas anderes. Schüsse. Schüsse. Nahe. Ein Donnern. Das Rattern eines Helikopters. Was ging hier vor?

Warum schmerzte alles so sehr?

Heidenstein drückte etwas gegen ihre Hüfte. „Pakhet? Hörst du mich?“

Auch wenn ihre Ohren klingelten, konnte sie ihn hören. Doch sie wusste noch immer nicht, was los war. Sie wusste nur, dass Murphy nicht hier war. Dass sie keinen Schritt näher waren, Murphy zu retten. Aber sie musste ihn retten. Sie musste.

Sie blinzelte in Heidensteins Gesicht. Besorgt sah er sie an.

„Pakhet?“

Sie schluckte, brauchte, bis sie ihre Stimme wiederfinden konnte. „Murphy. Er war nicht da.“

„Es war eine Falle“, sagte er nur wieder. Er wirkte verzweifelt. „Warum musstest du hereinlaufen?“

Sie antwortete nichts.

Blitze zuckten über den Himmel. Seltsame violette Blitze. Magie. Dann etwas anderes. Ein Schrei. Wie von weit entfernt.

Etwas veränderte sich. Die Schüsse verklangen.

Pakhet schloss die Augen. Sie konnte nicht mehr. Sie war so müde. Doch sie durfte nicht einschlafen. Sie durfte nicht aufgeben. Murphy brauchte sie.

[20.11.2011 – D55 – Adrenalin]

Vorsichtig legte Crash sie auf der hinteren Sitzbank des Wagens ab, ging dann außen um den Wagen herum, setzte sich ans Steuer. Er blickte sich um. „Wohin?“

„Krankenhaus“, erwiderte Heidenstein, während er sich neben ihr niederließ.

Er sah sie an. Die Sorgte stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wirkte verzweifelt, schien nicht ganz zu wissen, was er sagen sollte.

Joanne nahm es ihm ab. Sie sammelte ihre Energie, schaffte es ihre Arme unter sich zu bewegen. Sie bekam wenig Luft, ahnte, dass ihre Lunge bei der Explosion Schaden genommen hatte. Sie richtete sich auf. „Wir müssen Murphy retten.“

„Wir wissen nicht wo er ist.“ Heidenstein sprach leise mit besorgter Stimme. Sanft drückte er sie auf die Sitze zurück. „Pakhet, du bist in keiner Verfassung mehr weiter zu machen.“

Sie ließ sich zurückdrücken, schüttelte aber den Kopf. „Ich muss ihn retten. Ich muss.“

„Nein, das musst du nicht, Pakhet, dafür sind wir da“, erwiderte Siobhan und schaute über die Rückenlehne der vorderen Sitzreihe zu ihr.

Heidenstein sah zu ihr, reichte ihr eine Taschenlampe. „Halt.“ Dann öffnete er Pakhets Jacke schob sie soweit wie möglich von ihrer Brust, untersuchte sie, tastete sie ab.

Schließlich öffnete er ihre Hose, schob sie runter. Das war ihre größte Wunde. Irgendwie und irgendwann hatte eine Kugel sie hier getroffen. Von allem, was Pakhet sich zusammenreimen konnte, war es eine Kugel von diesem Helikopter gewesen.

Fuck. Arschlöcher. Die hatten einen Heli gehabt. Warum? Wo hatten sie ihn gehabt? Wie waren sie so schnell gestartet? Oder hatte sie es einfach nicht gehört, einfach ignoriert? Sie wusste es nicht. Ihre Erinnerungen waren schwammig.

Murphy.

Sie legte ihren Arm über ihr Gesicht.

Sie spürte sehr wohl, dass sie einige Wunden davon getragen hatte. Das meiste Blut verlor sie jedoch über die Wunde an ihrer Hüfte. Die Kugel, was auch immer es war, hatte sich tief in ihr Fleisch gebohrt, hatte vielleicht auch ihren Knochen beschädigt. Ihr Gefühl im Bein war schwach, aber noch vorhanden. Der Schmerz war jedoch die stärkere Empfindung.

Eine Spritze. Betäubung. Sie war sich sicher. Sie sah unter ihrem Arm hinweg. „Du schickst mich nicht schlafen, oder?“ Sie merkte, wie Angst aus ihrer Stimme klang.

Heidenstein musterte sie, schüttelte den Kopf. „Nein. Nur etwas gegen deine Schmerzen.“ Sein Blick war verzweifelt.

Sie schloss die Augen wieder, vertraute ihm. Er operierte. Wahrscheinlich zog er die Kugel heraus. Ja. So etwas. Sie merkte, wie er schnitt. Wahrscheinlich hatte sich die Kugel zu tief in sie gebohrt. Er hielt die Wunde auseinander, schob einen anderen Gegenstand hinein. Wahrscheinlich etwas, um die Kugel zu greifen. Ja. Etwas bewegte sich. Er zog es heraus.

Dann drückte er gegen die Wunde, drückte mit Mull dagegen, atmete tief durch. „Pakhet?“, fragte er noch einmal.

Sie sah ihn an.

„Ich werde dir einen der Tränke geben und dann versuchen das Gröbste zu heilen.“

Sie nickte matt. „Okay.“ Sie musste noch etwas weitermachen.

Warum fiel ihr das Atmen so schwer? Wie viel Schaden hatte sie genommen? Sie merkte auch etwas am Rücken. Blaue Flecken wahrscheinlich. Sie glaubte nicht, dass viel durch ihre Weste und die Lederjacke gedrungen war. Am Nacken und Hinterkopf hatte sie jedoch Verbrennungen, auch kleine Schnitte von etwaigen Fragmenten. Es war ein Wunder, dass es nur so wenig war, dass ihre Trommelfelle nicht geplatzt waren. Schon wieder etwas, das sie eigentlich hätte töten sollen. Wie weit war sie von der Explosion entfernt gewesen, als diese hochgegangen war? Allerhöchstens zehn Meter. Es hätte sie zerreißen sollen. Es hatte den Van zerrissen. Was war nur los, dass sie nicht starb?

Sie hätte wohl gewusst, wäre sie unsterblich und zumindest unverwundbar war sie nicht.

Heidensteins Trank. Er spritzte ihn in ihre Bauchdecke. Sie merkte, wie die Schmerzen noch weiter nachließen. Das Atmen wurde etwas leichter. Dennoch rasselte ihr Atem.

Wahrscheinlich hatte Heidenstein Recht, wahrscheinlich musste sie ins Krankenhaus. Wenn sie Pech hatte, war ein Teil ihrer Lunge gerissen, dann kollabierte sie gerade ihre Lunge nur weiter. Sie sollte operiert werden. Er sollte sie in Ruhe untersuchen. Doch sie konnte nicht. Sie konnte Murphy nicht einfach aufgeben.

Auf ihren Atem bedacht, blinzelte sie. Heidenstein hatte die Augen geschlossen, hatte die Hände auf ihre Wunde gelegt. Ihre Wunde an ihrer Hüfte.

Schweiß stand auf seiner Stirn. Wahrscheinlich war es führ ihn auch nicht das Einfachste, sie hier, ohne ein richtiges Ritual zu heilen. Zumindest war es so besser. Sie musste noch durchhalten. Noch ein paar Stunden. Noch ein paar Stunden, bis sie Murphy gefunden hatten. Dann wäre es okay. Dann konnte sie loslassen. Aber sie durfte nicht irgendwo im Krankenhaus liegen, während die anderen nach Murphy suchten. Noch weniger konnte sie zulassen, dass Heidenstein bei ihr blieb. Wenn Murphy verletzt war, würde er seine Hilfe brauchen.

Noch immer hielt Siobhan die Lampe wie eine improvisierte OP-Leuchte über ihr.

Rauschen. Zumindest verfolgte sie niemand. Zumindest waren sie erst einmal sicher, oder?

Sie schloss die Augen wieder. Sie fühlte sich so müde und doch wusste sie, dass sie der Müdigkeit nicht stattgeben durfte. Verdammt. Sie musste durchhalten.

Auf einmal schwankte das Licht etwas. Siobhan sah sich um. „Crash. Halt an.“

Crash kam ihrer Aufforderung nach. Siobhan stand auf, öffnete sie Seitentür des Wagens und etwas flatterte herein.

Konnte es sein?

„Ich habe den Rabenjungen gefunden“, krächzte der Geist. „Er ist an einem sehr stinkigen Ort.“

Pakhet richtete sich auf. „Wo?“

„Stinkiger Ort“, wiederholte Trixie. „Süden.“

Heidenstein öffnete seine Augen, sah zu Joanne. Noch immer stand Schweiß auf seiner Stirn. „Bitte, Pakhet. Du kannst nicht.“

Ihre Blicke trafen sich. Noch immer lag seine Hand über ihrer Wunde, die zumindest im Moment nicht mehr blutete.

Sie verstand ihn. Wären ihre Positionen vertauscht, würde sie ihn auch nicht gehen lassen wollen. Doch konnte sie nicht einfach im Krankenhaus liegen bleiben. Sie nahm seine Hand. „Bitte, Doc. Bitte.“ Sie sah ihm in die Augen.

Es war schwer zu glauben, dass sie noch am Nachmittag in einer so anderen Situation mit Michael gewesen waren. So anders und doch dasselbe.

Sein Blick war zweifelnd. Stumm flehte er sie an, nachzugeben, wusste genau so gut wie sie, dass sie nicht mehr besonders lange stehen würde. Dann aber öffnete er seinen Koffer, holte etwas anderes daraus hervor. Eine weitere Spritze, ein kleines Fläschchen. Er füllte die Spritze auf, gab sie ihr, sah sie an.

Sie wusste, was es war. Adrenalin. Damit würde sie noch ein wenig länger stehen. Nur noch ein wenig länger.

[20.11.2011 – X31 – Klärwerk]

Für den Moment reichte das Adrenalin. Joanne stand. Ihre Wunde blutete nicht. Ihr Kreislauf hatte nicht nachgegeben.

Sie hatte ihre Weste enger gebunden, trug sie nun wie eine Korsage unter der Jacke. Es sollte zumindest helfen, ihre Lunge zusammenzudrücken, sollte etwaige Wunden an ihren Lungen für den Moment zudrücken. Es war nicht das erste Mal. Sie hatte es vorher auch schon überlebt.

Irgendwie hatte sie es auch geschafft, ihre Hose wieder zuzubinden, obwohl die Kugel den Stoff am Bund ziemlich zerrissen hatte. Sie konnte stehen. Sie war noch angezogen. Es ging noch. Sie konnte noch. Wenn die Möwe Recht hatte, war Murphy hier. Wenn die Möwe Recht hatte, würden sie Murphy retten können.

Sie standen am Rand eines kleinen Grasgebietes am südlichen Ende der Flats. Hier hatte irgendwann einmal ein Park entstehen sollen, doch es war nie dazu gekommen. Wahrscheinlich wegen der stillgelegten Kläranlage, die hier an einer Bucht lag. Obwohl die Anlage seit Jahren nicht mehr im Betrieb war, hing der Gestank der Klärgruben weiterhin in der Luft.

„Erst ein Wasserwerk, jetzt eine Kläranlage“, murmelte Siobhan. „Du weißt nicht zufälligerweise ob es einen korrumpierten Wassergeist unter euren Gegnern gibt?“ Wahrscheinlich sollte es ein Scherz sein.

„Wassergeist oder einfach jemand, der mit der Infrastruktur arbeitet“, meinte Heidenstein.

Pakhet sagte nichts. Sie sprach so wenig wie möglich. In ihren Ohren rauschte das Blut, machte es schwerer für sie normal zu hören.

Wahrscheinlich gab es auch hier eine Falle. Sie glaubte nicht, dass Murphy unbewacht wäre. Es sei denn, er war … Doch daran wollte sie nicht denken.

Das Gebiet lag in kompletter Dunkelheit vor ihnen. Durch den noch immer wolkigen Himmel und den mittlerweile eingesetzten Nieselregen, war es schwer irgendetwas zu erkennen. Da hinten hoben sich dunkle Formen vom durch dem residualen Licht der Stadt rötlich schimmernden Wolkenhimmel ab. Runde Formen. Wahrscheinlich Silos.

Irgendwo leicht versetzt dazu – die Entfernung war schwer einzuordnen – eine Kastenform. Wahrscheinlich ein Verwaltungsgebäude.

Sie sah zu Trixie, die auf Siobhans Schulter saß und sich mit ihrem weißen Gefieder arg von der dunklen Umgebung abhob. „Wo ist er?“

„Im Klotz“, antwortete der Geist.

Pakhet nickte, hob ihre Waffe. Also im Verwaltungsgebäude. Zumindest ein Punkt dafür, dass er noch lebte. Wenn sie nur seine Leiche abgelegt hätten, hätten sie diese wohl eher in eins der Becken geworfen, oder?

Ihr Magen zog sich zusammen. Sie ging voran.

Irgendwie würde sie das ganze schaffen. Irgendwie würde sie ihn da herausholen.

Crash hatte sich tatsächlich bewaffnet. Wie damals in der Arena hatte er einen Köcher mit Speeren dabei. Es war wahrscheinlich seine beste Waffe, wie es für sie die Pistolen waren.

Langsam huschte sie auf den dunklen, kantigen Schatten des Gebäudes zu. Von allem, was sie sehen konnte, waren es drei Stockwerke, dafür aber ein länglicher Komplex. Im Dunklen war es schwer, Details zu erkennen.

Sie mochte es nicht. Das Gefühl beobachtet zu werden, war allgegenwärtig. Hier war jemand anderes. Ja, hier wartete noch jemand.

Woher sie es genau wusste, konnte sie nicht sagen. Es war eine Art siebter Sinn. Da, rechts von ihnen. Zwischen den Silos. Da war jemand.

„Weiter“, zischte sie. Hier auf dem, was wohl einmal ein Parkplatz war, nun aber ein überwuchertes Feld war, hatten sie keinerlei Deckung. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch nicht rechtzeitig.

Ein Schuss. Ein einzelner, lauter Schuss. Sie sah das Mündungsfeuer. Gewehr. Wenn sie nicht irrte ein Scharfschützengewehr.

Ihr Körper handelte, ohne, dass sie darüber nachdenken musste. Sie sprang nach vorne, noch während ihre Gedanken realisierten, was passierte. Sie spürte die Kugel, doch traf sie nicht. Sie, Joanne, war zu schnell.

„Pakhet!“ Das war Heidensteins Stimme.

Sie antwortete nicht, lief nur. Dann hatte sie das Gebäude erreicht, kauerte sich an die Wand.

Heidenstein war direkt hinter ihr, die anderen beiden jedoch nicht.

Noch bevor sie realisieren konnte, was passierte, durchzuckte ein weiterer Blitz die Luft, dicht gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. Dann ging eins der Silos in Flammen auf, gefolgt von einem Schrei.

Vor Joannes normalen Auge schimmerte der Blitz nach, doch ihr magisches Auge sah klar. Es war Siobhan gewesen. Natürlich war es Siobhan gewesen. Konnte sie wirklich so schnell zaubern? Die meisten Magier brauchten zumindest ein paar Sekunden, um sich zu sammeln.

Feuer. Dieses mal schnelles, automatisches Feuer. Es kam aus dem Schatten der verbleibenden zwei Silos, während das dritte weiterbrannte.

Dicke, schwarze Rauchschwaden stiegen von ihm hinauf. Wahrscheinlich war noch irgendetwas darin gewesen.

Crashs Gestalt veränderte sich. Er nahm wieder dieselbe minotaurenartige Gestalt an, die sie schon in Johannisburg gesehen hatten. Hörner wuchsen aus seinem Kopf. Hufe ersetzten seine Füße. Dann nahm er einen Speer aus seinem Köcher, sprintete los.

Die Möwe stieß sich von Siobhans Schulter ab, flog zu ihnen hinüber. „Wir retten den Rabenjungen“, sagte sie in einem Tonfall, als hätte sie es gerade beschlossen.

Noch immer war Joannes Blick auf Siobhan gerichtet, aber die Druidin nickte ihr zu, während sich ein Schimmern um ihre Hände bildete. Einige Kugeln trafen sie und schienen doch knapp vor ihr in der Luft hängen zu bleiben, wurden von einem Wind dann in die Höhe gerissen.

Heidenstein packte Pakhet bei der Schulter. „Komm.“

Sie wandte sich ihm zu, nickte, sah zur Möwe, die die Wand entlang watschelte.

Da. Eine Tür. Ein Hintereingang. Aber eine Tür.

Pakhet blickte zu Heidenstein, dann trat sie die Tür ein. Dankbarerweise geschah nichts.

Auch jetzt rauschte das Blut in ihren Ohren.

Trixie sprang in den Flur, watschelte voraus. „Er ist weiter oben“, erklärte sie.

Pakhet nickte nur. Immer wieder wanderte ihr Blick die Wände entlang. Halb rechnete sie damit, dass sich eine Tür öffnete, dass irgendetwas passierte. Doch soweit nichts. Gar nichts.

Sie holte eine Taschenlampe hervor. Sie würde sie verraten, aber was sollte sie tun? Heidenstein musste auch etwas sehen und auch sie bevorzugte es, auf beiden Augen etwas zu erkennen.

Immer wieder konnten sie von draußen immer wieder automatisches Feuer und auch langsamere Schüsse, wahrscheinlich von einer schweren Pistole hören. Dann ein weiteres Donnern.

Die Wände des Gebäudes waren dünn. Es war offenbar eine Art Plattenbau, wahrscheinlich nur Gipswände.

Dann, endlich. Linker Hand lag eine Treppe, die weiter nach oben führte.

Schon flatterte Trixie hinauf, während sie folgten.

Pakhets Atem war flach. Sie merkte, wie ihr immer mehr die Luft wegzubleiben schien. Aber es durfte nicht. Sie musste noch. Sie musste noch etwas. Sie waren fast da. Sie musste durchhalten, bis sie Murphy hatten. Nur noch etwas.

Trixie war auf dem Treppengeländer in der zweiten Etage stehen geblieben, wartete auf sie. „Noch weiter“, sagte sie dann, flatterte wieder los.

Erneut konnten sie nur folgen, kamen so in die oberste Etage des Gebäudes. Auch hier kein Licht. Natürlich nicht. Wahrscheinlich war das Gebäude seit Jahren nicht mehr an das Stromnetz angeschlossen. Es wäre nicht überraschend, hätten mittlerweile Diebe bereits alle alten Leitungen rausgerissen, um sie für den Kupferpreis zu verkaufen.

Ihr Atem pfiff schon wieder. Verdammt.

„Alles okay?“, fragte Heidenstein. Er hielt sie, als hätte er Angst, sie könnte umfallen.

Sie nickte nur, hatte nicht den Atem, um zu antworten.

Sie leuchtete den Gang hinauf und hinab.

„Nach da“, krächzte Trixie und tapste nach rechts, zur Hinterseite des Gebäudes. Da, von wo sie gekommen waren.

Dann geschah, womit sie gerechnet hatte. Eine der Türen wurde aufgerissen. Jemand kam heraus, eine Waffe in der Hand.

Sie dachte nicht nach, hob ihre Waffe.

Beinahe zeitgleich feuerten sie und der Angreifer, doch während ihr Schuss ihn in die Stirn traf, streifte sein Schuss nur den Rand ihres Ohres. Es brannte, war aber nicht gefährlich. Sie wusste es besser, als danach zu tasten.

„Pakhet?“ Natürlich wieder Heidenstein.

Noch immer tat sie sich schwer zu antworten. Sie brauchte ihren Atem.

Sie ging weiter. Die Tür, vor der nun eine Leiche lag, stand offen.

Pakhet löschte die Taschenlampe, bemühte sich leise aufzutreten. Geduckt schlich sie um die Tür, riss sie gänzlich auf.

Im nächsten Moment wurde sie von einer Lampe geblendet. Dann ein weiterer Schuss, noch einer, ein dritter.

Sie wurde getroffen. Sie konnte es spüren. Zwei der Schüsse trafen ihre Brust, der dritte die Wand neben ihr. Sie warfen sie um, doch irgendwie konnte sie sich im Sturz fangen, zur Seite, anstatt rücklings fallen.

Schmerz explodierte in ihrer Brust, doch er kam von ihren Rippen, von ihrer Lunge. Sie hob ihre Waffe, kniff ihr rechtes Auge zu. Sie konnte eine große Gestalt sehen. Dahinter eine weitere Gestalt auf dem Boden.

Sie schoss. Zwei Mal. Ein Schrei, dann fiel die Gestalt zu Boden.

Ein Aufprall. Ein Klirren. Die Taschenlampe des Angreifers ging zu Bruch. Pakhet sprintete vor, war auf ihn, setzte noch einmal ihre Waffe an. Schoss. Dann wich das Leben aus dem bulligen Typen.

Erst dann erlaubte sie es sich nach ihrer Brust zu tasten. Kein Blut. Konnte es sein? Ja. Wieder waren die Kugeln in ihrer Weste hängen geblieben.

Gut.

Sie atmete einige Male durch, wollte schon nach ihrer Taschenlampe greifen, doch Heidenstein nahm ihr das ab. Er leuchtete in den Raum, eilte zu ihr. „Pakhet!“

Sie nickte nur, sah dann auf die am Boden liegende Gestalt. Es war ein Junge. Derselbe Junge, den sie vor knapp zwei Wochen nachts im Bett im Krankenhaus schlafen gesehen hatte. Murphy.

Blaue Flecken zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Seine Wange war blutig. Auch unter seinem Haar schien eine Wunde zu sein. Blut hatte sein Haar verklebt. Schaum war vor seinen Lippen. Er war nicht bei Bewusstsein. Da war noch mehr Blut. An seiner Seite. Jemand hatte etwas dagegen geklebt, doch wirklich schien es nicht zu helfen. Blutete er überhaupt noch?

Joanne ließ ihre Waffe fallen, tastete nach Murphys Puls. Nichts. Gar nichts. „Nein. Oh nein. Bitte, Kid.“

Sanft, aber bestimmt schob Heidenstein sie zur Seite, er nahm seinen Rucksack ab, kramte darin. Dann begann er den Jungen zu untersuchen.

Joanne konnte nicht mehr tun, als ihm dabei zuzusehen. Dabei zuzusehen, wie er verschiedene Lebenszeichen überprüfte. Er prüfte Atem, Puls, Pupillenreflex. Dann holte er etwas aus seinem Rucksack. Einen Pen. Er setzte ihn an Murphys Brust an, spritzte, was auch immer es war. Dann zog er eine andere Spritze auf, verabreichte was auch immer es war, begann erneut ihn zu untersuchen.

Die Welt drehte sich. Sie bekam keine Luft mehr. Dennoch konnte sie einfach nicht loslassen. Sie musste wissen, was mit Murphy war.

Dann, auf einmal, ein Atemzug. Flach. Aber da.

„Was ist mit ihm?“, fragte sie, ihre Stimme gedrückt, flach.

„Die haben ihn irgendwomit ruhig gestellt“, antwortete Heidenstein. „Überdosis.“ Er arbeitete weiter. „Ich kriege ihn wieder hin.“

Sie wusste nicht, ob er es nur sagte, um sie zu beruhigen. Sie wusste es nicht. Sie rückte nur zurück, lehnte gegen eine Wand, beobachtete ihn. Beobachtete, wie Heidenstein arbeite. Er half Murphy atmen, beatmete ihm, bis der Atem des Jungen regelmäßiger wurde.

Atem.

Sie konnte selbst kaum noch atmen. Sie musste bei Bewusstsein bleiben, doch tanzten bereits die Sterne von ihren Augen, zumindest vor ihrem rechten Auge.

Atem. Sie bekam keine Luft.

[21.11.2011 – D56 – Mutter]

Nur langsam kehrte das Bewusstsein zu ihr zurück. Ein dumpfer Schmerz strahlte von ihrer Hüfte auf ihren Unterleib. Sie brauchte einige Energie, um ihre Augen zu öffnen.

Sie war in einem Zimmer, dessen Wände hellgrün gekachelt waren. Das regelmäßige Fiepsen eines Herzmonitors erklang von neben ihr. Da war auch ein Tropf, der an ihrem gesunden Arm befestigt war.

Sie musste im Krankenhaus sein. Warum?

Und dann die Erinnerung. Sie durchzuckte Joannes Bewusstsein wie ein Blitzschlag. „Murphy!“ Sie wollte sich aufrichten, doch ein Paar Hände griff nach ihren Schultern und drückte sie auf das Bett zurück.

Es war Heidenstein. Offenbar hatte er darauf gewartet, dass sie aufwachte. „Es ist alles in Ordnung. Bleib liegen.“

Der Schmerz wurde stärker. Selbst durch aus einen Schleier von Schmerzmitteln konnte sie ihn spüren. Sie starrte Heidenstein an. „Murphy?“

„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er ist bewusstlos, aber stabil.“ Heidenstein hielt sie noch immer fest. „Es ist okay, Pakhet. Blieb liegen. Bitte.“

Joanne sah ihm in die Augen. Er log nicht. Also entspannte sie sich langsam. „Warum bist du nicht bei ihm?“ Ihre Stimme klang rau und heiser.

„Crash ist bei ihm.“ Heidenstein lächelte sie müde an. Dunkle Ringe waren unter seinen Augen. Wie lange hatte er schon nicht geschlafen? „Und du hast mir weit mehr Sorgen gemacht.“

Sie erwiderte nichts. Ihr Hals war trocken. Wahrscheinlich hatte Heidenstein sie operiert und bei der Operation beatmet.

„Deine Lunge hatte angefangen zu kollabieren. Zwei deiner Rippen waren gebrochen, deine Hüfte hat einen Knacks und du wärst mir trotz allem fast verblutet.“

Nichts davon hatte sie nicht selbst schon geahnt. Die Explosion hatte einen Riss in ihrer Lunge hinterlassen. Das hatte sie bereits vermutet. „Kann ich etwas trinken?“

Heidenstein zögerte für einen Moment. Dann seufzte und nickte er. „Ja. Ein wenig.“ Damit stand er auf und ging.

Sie war kurz allein. Sie hatten dieselbe Routine mittlerweile zu oft wiederholt. Sie wachte hier auf, er war bei ihr, half ihr. Er war die ganze Zeit bei ihr gewesen. Ohne ihn wäre sie gestorben und Murphy auch. Verdammt. Murphy war beinahe tot gewesen.

Die Tür zu dem Raum, der ein Aufwachraum zu sein schien, wurde geöffnet. Heidenstein kam mit einem halbvollen Glas Wasser zurück. „Hier.“ Er half ihr, ihren Körper etwas anzuheben und stellte das Kopfende des Bettes höher, ehe er ihr das Glas reichte.

„Danke“, hauchte sie.

Er lächelte müde. Seine Augen waren auf sie geheftet, während sie trank. „Du wärst beinahe gestorben“, flüsterte er schließlich.

Joanne wich seinem Blick aus. „Ich weiß.“

„Du warst so unvorsichtig“, flüsterte er. „Warum?“

Sie sah auf das Glas in ihrer Hand. Noch immer war ein Schluck Wasser darin. Das Zittern ihrer Hand übertrug sich auf die Oberfläche. Selbst jetzt zögerte sie, es ihm zu sagen. „Ich hätte mir nicht verzeihen können.“

Heidenstein schwieg für einen Moment. „Ich weiß, dass du an dem Jungen hängst, aber du warst wirklich leichtsinnig.“

„Ich hätte mir nicht verzeihen können, wenn ihm etwas passiert wäre wegen mir“, hauchte sie. „Wenn ich ihn nicht hätte retten können.“

Heidenstein legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich weiß, aber …“

Sie seufzte und schaute ihn an. Es brauchte einige Selbstbeherrschung um den Blick zu behalten. „Es tut mir leid, Doc. Ich habe … Ich habe nicht klar denken können.“

Wie so oft räusperte er sich nervös. „Das habe ich gemerkt. Pakhet … Warum? Normal bist du nicht so …“ Er brach ab.

Sie lehnte sich in ihr Kissen. Der Schmerz an ihrer Hüfte musste von der Schusswunde kommen. Hoffentlich gab es eine Möglichkeit, sie magisch zu heilen. Sie konnte es sich jetzt nicht erlauben, längere Zeit zu liegen, sich auszukurieren. „Voreilig?“, bot sie Heidenstein schließlich an.

Er nickte.

Sie holte tief Luft. „Es ist nur … Murphy.“ Als Heidenstein nichts erwiderte, seufzte sie. „Doc. Murphy ist mittlerweile …“ Sie schüttelte den Kopf. Es war so viel schwerer, mit Heidenstein darüber zu reden. Warum?

Eine Regung zuckte über Heidensteins Gesicht. Wie so oft schien er zu verstehen, wollte es sich jedoch nicht eingestehen. „Was?“

„Er ist mir wichtig, Doc“, antwortete sie. „Sehr wichtig. Ich denke von ihm, wie von einem Sohn.“

Wieder holte Heidenstein tief Luft. Er atmete in einem schweren Seufzen aus. „Wow“, sagte er schließlich. „Wow.“

Sie musterte ihn. Was dachte er wohl? Was es auch war: Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Kurz wich er ihrem Blick aus, dann sah er sie wieder an.

„Wow“, wiederholte er zum dritten Mal. „Hast du … Hast du mit ihm darüber geredet?“

Sie schüttelte den Kopf. Er nahm das besser auf, als sie erwartet hatte. „Nein. Noch nicht. Er ist ein Straßenkind. Ich weiß nicht, wie er darauf reagieren würde.“

Heidenstein nickte langsam. Wahrscheinlich verstand er das nur zu gut. „Pakhet“, meinte er schließlich. „Ich … Ich denke es ist gut. Für dich. Für ihn. Ich … Bitte sei nicht noch einmal so unvorsichtig, ja? Auch für ihn.“

Sie schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Oder ich verlasse mich darauf, dass du da bist, um mich wieder zusammenzunähen.“

[21.11.2011 – X32 – Pläne]

Heidenstein wäre wahrscheinlich an ihrer Seite geblieben, wäre da nicht Crash gewesen, der irgendwann ins Zimmer kam, und ihn „sanft“ davon überzeugte, sich endlich auszuruhen.

Joanne wusste nicht, wie viel sie in dieser Nacht schlief. Die Nacht verging in einer Reihe von Schlaf- und Wachphasen. Noch immer war ihr Atem flach. Noch immer schmerzte es, tief einzuatmen. Doch es ging. Es funktionierte. Sie starb nicht.

Träume und Wachen mischten sich. Sie war sich am nächsten Tag nicht sicher, was real war, was nicht. Irgendwann – Licht kam durch ein Fenster – meinte sie, dass Heidenstein wieder an ihrer Seite war, doch sie war sich nicht sicher.

Er musste sie geheilt haben. Zumindest ihre Lunge. Er musste magisch nachgeholfen haben. Das glaubte sie jedenfalls.

Sie war dankbar für die Medikamente, die durch den Tropf in ihren Arm kamen. Da war auch etwas anderes. Eine weiterer, kleinerer Container, der ebenfalls am Tropf hing, durch ein kleines Gerät reguliert wurde. Schmerzmittel. Was auch immer es war, war gut. Es hielt ihre Schmerzen in einem erträglichen Rahmen. Zwar existierte der Schmerz in ihrer Hüfte, der Schmerz ihrer Lunge und Rippen noch, doch war es fern, erträglich.

Murphy lebte. Sie hatten es geschafft ihn zu retten.

Das war der eine Gedanke, der sie durch sämtliche Wachzeit trug. Er lebte doch, oder? Heidenstein hatte sie nicht angelogen, oder? Nein. Sie hatte seine Augen gesehen. Er hatte nicht gelogen. Er würde sie damit nicht anlügen. Das war nicht Heidensteins Art.

Es war auch nicht ihre Art, sich so in Gefahr zu bringen. Heidenstein hatte Recht. Es war offensichtlich gewesen. Die Falle war offensichtlich gewesen. Dennoch war sie gegangen. Der Zweifel war dort gewesen: Was, wenn es doch keine Falle war. Was, wenn Murphy da war. Sie hatte deswegen gehandelt.

Und dann war da noch die andere Sache: Michael. Nel. Es war wegen ihr gewesen. Sie hatten Murphy wegen ihr entführt. Es war ihre Schuld gewesen.

Sie wollte mit Murphy reden. Sie musste es ihm erklären. Würde er sie hassen?

Es war alles ihre Schuld. Wegen ihrer Handlung. Und doch … Hätte sie Nel dort getötet, wäre es anders gewesen. Ja, vielleicht hätte sie Nel dort erschießen sollen. Vielleicht wäre es das Bessere gewesen.

So oder so: Er würde sterben müssen. Jetzt würde er sterben müssen. Sie konnte ihn nicht länger leben lassen. Ihn. Michael.

Michael. Sie musste Michael töten. Endlich. Sie hatte so lange gezögert. Sie hatte sich von ihm kontrollieren lassen. Wieso hatte sie es vorher nicht bemerkt? Wieso hatte sie vorher nicht darüber nachgedacht? Sie war Söldnerin geworden, um frei zu sein, um den Leuten, die sie kontrollieren wollten, zu entkommen. Doch sie war ihnen nicht entkommen. Sie hatte nur eine Person gegen eine andere ausgetauscht. Sie war Michaels Puppe geworden, seine Waffe.

Sieben Jahre lang hatte sie gegen ihn rebelliert, aber bisher hatte er es bei jedem ernsthaften Versucht geschafft, sie in die Schranken zu weisen. Und sie hatte es akzeptiert. Sie waren aneinander geraten. Er hatte sie bestraft, hatte sie auf Suizidmissionen geschickt. Sie hatte gewusst, dass er gewissenlos war. Eine Schlange. Manipulativ. Aber nie hatte sie darüber wirklich nachgedacht.

Und jetzt … Es war ihre Schuld. Es war alles ihre Schuld. Sie war zu schwach gewesen. Weil sie geglaubt hatte stark zu sein. Weil sie geglaubt hatte, frei zu sein.

Und jetzt?

Sie würde ihn töten. Sie würde Michael töten. Und Nel. Und dann …?

[21.11.2011 – D57 – Magische Heilung]

Das erste Mal fühlte sich Joanne wirklich wach. Wie oft sie seit der Nacht aufgewacht war, konnte sie nicht sagen. Sie hatte klare Gedanken gehabt, aber wie viel davon auf welcher Ebene ihres Bewusstseins passiert war … Sie konnte es nicht sagen.

Es überraschte sie nicht, dass Heidenstein an der Seite ihres Bettes saß, als sie die Augen öffnete.

Gräuliches Licht flutete ins Zimmer. Es musste eins der normalen Krankenhauszimmer sein. Wahrscheinlich hatte man sie irgendwann im Verlaufe der Nacht oder des sicherlich schon verstrichenen Morgens hierher gebracht.

Sie sah zu Heidenstein. Er hielt ihre Hand. Natürlich tat er so etwas albernes.

Vorsichtig drückte sie seine Hand, wartete darauf, da er reagierte. Er schien in einer Art Wachschlaf zu sein. Nun schreckte er auf. „Pakhet.“ Er zögerte. „Du bist wach.“

Sie nickte stumm. „Trinken?“, brachte sie nach ein paar Sekunden hervor.

„Natürlich.“ Dieses Mal stand bereits ein Glas auf ihrem Nachttisch, zusammen mit einer kleinen gläsernen Kanne.

Vorsichtig richtete Joanne sich auf, dieses Mal ohne von Heidenstein aufgehalten zu werden. Ihre Hüfte schmerzte dabei, doch sie schaffte es irgendwie.

Heidenstein hatte ihre Prothese nicht abgeschlossen, hatte jedoch offenbar herausgefunden, wie man sie abschalten konnte. Sie hing nutzlos an Joannes Seite.

Vorsichtig tastete sie nach dem Schiebeschalter, der aus offensichtlichen Gründen versteckt lag. Erleichtert spürte sie das minimale Gefühl, das sie durch die Prothese hatte, in ihren Arm zurückkehren, griff dann damit nach dem Glas.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Heidenstein vorsichtig, nachdem sie getrunken hatte.

Sie schluckte sehr bewusst, genoss das Gefühl des Wassers im kratzigen Hals. „Beschissen“, hauchte sie. Ihre Stimme war noch immer heiser. „Du kümmerst dich schon noch um deine anderen Patienten?“

Heidenstein nickte. „Natürlich. Aber … Ich habe eine ruhige Minute. Und ich …“

Sie lächelte müde. „Du machst dir Sorgen.“

„Ja.“ Er half ihr das Kopfende des Bettes wieder hochzustellen. „Du solltest dich noch schonen.“

„Ich weiß.“ Sie lehnte sich zurück. Es fühlte sich gut an, sich zu entspannen.

Stille. Sie trank wieder. Es fühlte sich wirklich göttlich an. Sie schloss die Augen, erinnerte sich dann aber an etwas anderes: „Danke.“

Heidenstein sah sie an. „Was?“

„Dass du mich gestern hast noch mitkommen lassen“, meinte sie. „Danke. Auch dafür, dass du Murphy gerettet hast.“

Es war schwer, den Ausdruck auf Heidensteins Gesicht einzuordnen. Eine ungewohnte Verletzlichkeit lag in seinen Augen, als er ihre Hand wieder griff. „Ich sorge mich auch um den Jungen. Und um dich.“ Er verfiel wieder in Schweigen, leckte seine Lippen. „Weißt du noch, was du mir letzte Nacht erzählt hast?“

Sie nickte. Ihre Erinnerung an ihr Erwachen nach der OP war überraschend gut. „Ja.“ Sie schloss die Augen wieder. „Ich habe es so wirklich gemeint.“

„Ich weiß“, antwortete er leise.

Wieder senkte sich Stille über sie. Sie hielt an, bis Joanne etwas einfiel: „Ist Murphy mittlerweile wach?“

„Ja. Aber er ist noch … Nun, etwas verwirrt. Er hat eine Gehirnerschütterung. Das zusammen mit den Drogen, war eine beschissene Mischung.“

„Verstehe.“ Sie zwang sich die Augen zu öffnen, auch wenn ihre Lider sich aktuell tonnenschwer anfühlten. „Aber er wird wieder?“

„Ich werde mein Möglichstes daransetzen.“ Offenbar bemühte er sich, sein Lächeln aufmunternd wirken zu lassen. Dann seufzte er. Er wich ihrem Blick aus, als wäre ihm noch etwas anderes eingefallen.

„Was?“

Er schüttelte den Kopf. „Letzte Nacht war nur … Brutal.“

Sie verstand, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. „Ja.“ Sie hatte nicht mehr darüber nachgedacht, nicht zu töten. Wer auch immer es gewesen war, hatte in ihrer Sicht sein Leben verwirkt, als sie Murphy entführt hatten. Sie hätten ihn beinahe sterben lassen. Sie atmete tief ein. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Lungenkapazität nicht gänzlich nutzte. Ihre Brust fühlte sich zugeschnürt an. „Damit wird es nicht enden. Ich werde Michael töten. Und Nel.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich weiß“, hauchte Heidenstein. „Ich weiß.“ Er rieb sich die Augen. „Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du Michael bisher nicht getötet hast. Wenn er immer so … So …“

„Manipulativ“, bot sie an.

Ein Nicken. „Ja, wenn er immer so manipulativ war.“

„Ich habe es bisher nie so gesehen“, gab sie zu. „Ich habe ihn nicht für das gesehen, was er war. Oder besser … Ich habe es versucht zu ignorieren.“ Sie schürzte die Lippen. „Außerdem …“ Konnte sie es ihm sagen?

Ein fragender Blick. Er schien sich nicht zu trauen, sie zu fragen.

„Er hat Dinge gegen mich in der Hinterhand“, flüsterte sie. „Dinge … Einen Totmannschalter. Er wird so etwas haben. Ich … Ich muss einen Weg finden, ihn zu deaktivieren, bevor ich …“ Sie hasste es, so gezielt einen Mord zu planen. Doch was für eine Wahl hatte sie?

Heidenstein nickte. Wieder nahm er ihre Hand, drückte sie. „Darüber machen wir uns Gedanken, wenn du wieder stehen kannst, ja?“

„Ja.“ Was konnte sie sonst antworten. Sie hielt seine Hand. Es fühlte sich gut an. Dann musterte sie ihn. „Kannst du … Kannst du mich vielleicht weiter heilen?“

Wieder merkte sie sein Zögern. Schließlich seufzte er. „Ich kann schauen. Eventuell … Werde ich Athea dazu holen. Aber ja. Ja. Ausnahmsweise.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, zögerte wieder, lehnte sich vor, hielt inne, küsste sie dann aber doch auf die Wange. Nun schien er darauf zu warten, dass sie etwas sagte.

Sie wusste nicht was. Deswegen drückte sie nur wieder seine Hand, hob ihre Hand dann aus der seinen, um sie auf seine Wange zu heben. „Idiot.“

[22.11.2011 – M27 – Verbindung]

Heidenstein holte tatsächlich Athea zur Hilfe, um ihre Wunden zumindest etwas schneller heilen zu können. Magische Heilung hieß vor allem eins: Lange Zeit sehr ruhig liegen. Doch im Moment, noch immer groggy vom Vortag, fiel es Joanne nicht einmal mehr schwer. Sie schlief halb, genoss es, dass das Atmen leichter wurde.

Es war keine Wunderheilung. Ihre Wunden waren nicht alle fort. Laut Athea würde es auch einige weitere Sitzungen brauchen, um annähernd so etwas wie eine vollständige Heilung zu erreichen, doch war es so deutlich besser. Sie fühlte sich nicht mehr, als würde sie jeden Moment ersticken, schlief dadurch auch besser in der Nacht, auch wenn das Schlafmittel, das Heidenstein ihr gab, fraglos seinen Teil beitrug.

Am nächsten Tag ging es ihr deutlich besser. Sie fühlte sich lebendiger, energetischer, hätte fiel für einen Kaffee gegeben, den Heidenstein ihr allerdings verbot. Kein Koffein. Er redete etwas von Wechselwirkungen, doch glaubte sie ihm nicht ganz. Wahrscheinlich wollte er nur dafür sorgen, dass sie ruhiger blieb.

Von einer Sache konnte er sie jedoch nicht abhalten. Sie ging, nun, hinkte zu Murphy, der, wie sich herausstellte, wieder im oberen Stockwerk untergebracht war. Mit Absicht von ihrem Zimmer entfernt. Vorsorglich. Heidenstein fürchtete, dass jemand sie erneut angriff. Sie wäre selbst nicht darüber überrascht.

Mit einem Seufzen stand sie vor der Tür, klopfte dann aber.

„Ja“, antwortete eine tiefe Stimme. Crash. Natürlich war er wieder da. Es überraschte sie nicht einmal.

Was war nach dem Kampf in der Nacht eigentlich mit Siobhan und ihrer Möwe geworden? Sie musste fragen. Soweit fühlte sich noch alles sehr unwirklich an.

Sie trug im Moment keine Prothese. Beide mussten aufladen. Stattdessen trug sie einen Jogginganzug, hatte wie so oft den linken Ärmel zusammengeknotet.

Sie öffnete die Tür, hinkte in den Raum. Ganz horchte ihr Bein nicht auf sie. Es war seltsam lahm, doch auch das würde mit ein wenig magischer Heilung und Zeit besser werden. Sie war sich sicher.

Im Zimmer fand sie Murphy, Crash und Alice. Murphy noch immer in der Gestalt des hageren schwarzen Jungens. Er schien bei Bewusstsein, jedoch nicht ganz bei klarem Verstand zu sein, jedenfalls schielte er leicht.

Alices Blick traf den ihren, wurde härter. Die Worte des Mädchen klangen noch sehr wohl in Joannes Kopf. Sie konnte sie gut verstehen.

„Na. Lady?“ Crash lächelte breit, wenngleich auch er müde wirkte.

„Na. Großer?“ Ihre Stimme war noch immer heiser, doch war es besser, als am Vortag. Sie brachte jedoch selbst ein Lächeln zustande.

Murphy blinzelte in ihre Richtung. „Mum?“

Ihr Lächeln wurde breiter, auch wenn sie sich zu beherrschen versuchte. Sie ging zum Bett hinüber, wo Crash ihr ohne zu Zögern seinen Stuhl, schob ihn ihr zu. „Kid.“

„Man siehst du beschissen aus“, brachte Murphy hervor. Er versuchte ein Grinsen, das dank der Beule, die sein Gesicht seitlich seines linken Auges zierte seltsam aussah.

Die Kratzer in seinem Gesicht waren versorgt worden. Sein Haar geschoren, offenbar, um die Wunde auf seinem Schädel zu versorgen.

Sie lächelte. „Selber.“

Crash brummte. Er legte eine Hand auf Alices Schulter. „Komm.“

Irritiert sah das Mädchen auf. „Wieso?“

„Lass ihnen einen Moment“, brummte Crash nur bestimmt.

„Den können sie auch so haben“, erwiderte Alice. „Es ist immerhin ihre Schuld, das Murph …“

Crash unterbrach sie: „Wir haben darüber geredet. Komm. Sie hat ihr Möglichstes getan.“

Genervt stöhnte Alice auf, verdrehte die Augen, funkelte Crash an. „Okay. In Ordnung.“ Mit einem Schwung stand sie auf und folgte Crash aus dem Zimmer heraus, nicht ohne zu versuchen, die Tür zu knallen, was ihr dank der Schließmechanik jedoch nicht gelang.

Also waren sie allein. Eigentlich die beste Gelegenheit mit ihm zu sprechen und dennoch zögerte sie.

Am Ende brach Murphy das Schweigen. „Nein, im ernst. Du siehst scheiße aus, Pakhet.“

Sie konnte nicht anders als zu lächeln. Sie wusste, dass er nur Unsinn redete, um die Stimmung zu lockern. „Ich weiß.“ Sie musterte ihn. Was sollte sie sagen? Vielleicht das, was sie am meisten bedrückte. „Es tut mir leid, Murphy.“

Er runzelte die Stirn. Sein Blick wirkte weiterhin unfokussiert. Er schien sich konzentrieren zu müssen, um sie anzusehen. „Was?“

Sie hielt inne, schluckte. „Das hier. Das war meine Schuld.“

Murphy seufzte leise, wich ihrem Blick aus. „Warum sollte es deine Schuld sein, Pakhet?“

Sie pausierte schon wieder, sammelte sich, versuchte die richtigen Worte zu finden. „Weil ich … Ich habe mich gestern …“ Sie korrigierte sich: „Vorgestern. Ich habe mich vorgestern mit Carel Nel getroffen. Er hat meine Daten bekommen. Von Michael. Er hat mich eingeladen. Er hat mir einen Job angeboten und ich habe abgelehnt.“

Murphy verzog das Gesicht. „Warum hast du mir nichts gesagt?“

„Weil du verschwunden warst, als wir nach Kapstadt zurückgekommen sind.“

Er machte ein seltsames Geräusch. Es klang genervt. „Ich meine vorher. Als er dich kontaktiert hat. Ich hätte dich begleiten können.“

Sie hatte gewusst, dass diese Antwort kommen würde. Sie kannte den Jungen mittlerweile zu gut. „Ich weiß. Aber eigentlich wollte ich dich nicht in Gefahr bringen. Ich wusste nicht, dass er … Offenbar hatte er schon vorher Leute auf dich angesetzt. Und als ich abgelehnt habe …“

Murphy brummte, klang dabei beinahe wie Crash, nur bei weitem nicht so tief. „Siehst du, wäre ich bei dir gewesen, hättest du mich beschützen können.“

Sie brachte sich wieder zu einem Lächeln, doch es wirkte nicht aufrichtig. „Ich weiß. Es tut mir leid. Es tut mir so leid, dass du deswegen …“

„Du weißt für's nächste Mal, dass du mich mitnimmst, ja?“, meinte er. Dann seufzte er. „Und mach dir ja keine Vorwürfe dafür, ihn abgelehnt zu haben. Ich hätte dir nicht verziehen hättest du …“ Er verzog das Gesicht.

Sie nickte matt. „Ich weiß.“ So gern hätte sie etwas getan, damit er sich besser fühlte, doch lag dies außerhalb ihrer Macht. Sie selbst war keine Heilerin. Sie war nur froh, dass sie überhaupt vernünftig mit ihm reden konnte. Sie hatte vorher geglaubt, dass sein Zustand schlimmer war. Doch abgesehen davon, dass er matt und kraftlos war und Probleme mit den Augen zu haben schien, ging es ihm besser als angenommen. Sie schürzte die Lippen, konnte nicht anders, als es noch einmal zu sagen. „Es tut mir wirklich leid.“

„Jetzt hör damit auf“, murmelte Murphy. „Es ist okay. Ich lebe noch. Du lebst noch. Also … Ist doch alles okay, oder?“

„Bis auf die Tatsache, dass Nel offenbar alles weiß.“

Murphy zuckte mit den Schultern, verzog dann das Gesicht vor Schmerz. „Dann kümmern wir uns halt als nächstes darum.“

[23.11.2011 – P06 – Blumenstrauß]

Am nächsten Tag bekam sie selbst überraschenden Besuch. Sie lag wieder auf ihrem Zimmer und anders, als das letzte Mal, beschwerte sie sich nicht. Sie fühlte sich noch immer schwach, unwohl, auch wenn Athea sie erneutgeheilt hatte.

Im Moment war sie allein, las. Etwas, das sie eigentlich selten tat.

Es klopfte an der Tür, ließ sie aufsehen. „Ja?“

Die Tür öffnete sich und jemand, nein, zwei Leute kamen herein. Jack und zu ihrer Überraschung auch Chase.

Sie konnte nicht anders. Ihre Augenbrauen hoben sich in Überraschung. „Was machen Sie denn hier?“, fragte sie.

„Jack hat mir von der Sache erzählt. Ich dachte, ich schaue einmal vorbei“, erwiderte er. „Ich hatte sowieso in der Nähe zu tun.“

Sie überlegte kurz etwas zu erwidern. Es gab wenig in der Nähe, wo jemand von Interpol hinmusste, sofern es nicht gerade um Dinge bezüglich Wilderei ging. Sie sagte aber nichts, lächelte nur. „Ich fühle mich geehrt.“

Jack hatte einen Strauß Blumen dabei. Irgendwelche gelben Blumen. Sie kannte sich diesbezüglich nicht aus. Dennoch verdrehte sie die Augen. „Wirklich, Jack. Blumen?“

„Ich dachte es wäre als Gute Besserungswunsch angemessen, Sweetheart.“ Er kam zum Bett herüber, gab ihr den Strauß.

Sie lachte leise. „Ach, mon cher, was würde ich ohne dich machen?“ Es war tatsächlich lange her, dass jemand ihr Blumen geschenkt hatte. Kaum ein Wunder allerdings: Sie hielt sehr wenig von Blumen.

Jack nahm einen der Stühle, rückte ihn an das Bett heran. „Ich habe mit dem Doc telefoniert, aber so wirklich weiß ich noch immer nicht, was passiert ist.“

Joanne seufzte. „Sei so lieb und leg die Blumen erst einmal auf den Nachttisch.“

„Für dich doch immer.“ Er lächelte charmant, nahm ihr den Blumenstrauß ab, legte ihn auf dem Nachttisch ab. „Wir müssen später den Doc wohl um eine Vase bitten, hmm?“

„Aber sicher.“ Wieder wanderte ihr Blick zu Chase, der am Fußende des Bettes stehen geblieben war.

Er zögerte. „War das Nel?“

„Indirekt“, erwiderte Joanne. Sie war froh, dass sie heute wieder halbwegs Atem bekam. Es erlaubte ihr knapp gefasst die Ereignisse von vor drei Tagen wiederzugeben. Das Treffen mit Nel, Michaels Drohungen – selbst wenn sie hier nicht in die Details ging, der Anruf bei ihrer Rückkehr nach Kapstadt, die Suche nach Murphy, die Falle, die Explosion und wie sie Murphy dank des Möwengeistes gefunden hatten.

„Und Nel hat die Leute bezahlt?“, fragte Chase am Ende.

Joanne zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe niemanden gefragt. Aber sie hatten einiges Geld dabei. Es ist anzunehmen. Gerade da Murphy knappe zehn Minuten, nachdem der Doktor und ich losgefahren sind, angegriffen wurde.“ Zumindest hatten ihnen die Telefonzeiten so viel verraten.

Chase schürzte die Lippen. Sein Kiefer war angespannt, aber er nickte.

Es war offensichtlich, was in seinem Kopf vorging. Er hasste den Gedanken, dass Nel so etwas getan hatte, dass er nichts dagegen tun konnte. Er war wahrscheinlich aus gutem Grund Polizist geworden, wollte so etwas nicht einfach ansehen. Dennoch sah er nicht, was er dagegen tun konnte.

„Ich bin nur froh, dass es dich dabei nicht zerrissen hat, Honigkuchen“, meinte Jack mit seinem üblichen, leichtherzigen Ton.

„Oh, ich auch“, erwiderte sie. „Ich bin noch mehr froh, dass wir Murphy noch rechtzeitig gefunden haben.“ Er wäre gestorben, wären sie etwas später da gewesen.

Stille breitete sich aus. Auch zwischen ihnen.

Mit einem Knarzen zog Chase den zweiten Stuhl zum Fußende hinüber. Er sah sie lange an. „Was haben Sie jetzt vor?“

Sie verstand die Frage nur zu gut. Sie war sich nur nicht sicher, ob sie ehrlich antworten konnte. Immerhin war er noch immer Polizist. „Ich werde Nel aus dem Spiel nehmen.“ Sie hielt sich vage.

„Planen Sie ihn zu töten?“

Sie zuckte mit den Schultern. Natürlich war die ehrliche Antwort: Ja. Aber sie wich aus: „Ich werde dafür sorgen, dass er unschädlich gemacht wird. So wie ich das sehe, gibt es die Möglichkeit nicht auf legalem Wege, oder?“

Chase machte einen unzufriedenen Laut, sah zum Fenster. „Solange er die Kontrolle hat, ist es im Land schwer. Aber das heißt nicht, dass Mord …“

„Es redet niemand von Mord“, erwiderte sie.

„Sweetheart.“ Jacks Stimme klang leise, beschwichtigend. Er legte eine Hand auf ihren Arm, suchte ihren Blick.

Sie presste die Lippen aufeinander, schaute wieder zu Chase. „Ich weiß, das Nel nicht allein darin hängt, aber aktuell ist er mein größtes Problem. Er hat Leuten geschadet, die mir sehr am Herzen liegen. Ich kann nicht zulassen, dass er das noch einmal versucht. Nicht, wenn ich es verhindern kann.“

Dabei wusste sie sehr wohl, dass er bereits in diesem Moment mit irgendwelchen Leuten einen Angriff auf das Krankenhaus vorbereiten konnte. Was würden sie dann machen?

Chase nickte grimmig. „Ich weiß. Ich kann deswegen nur nicht …“ Er machte einen ratlosen, mürrischen Laut. „Ich kann keinen Mord gutheißen.“

„Alles, was ich will, ist ihn aus der Gleichung zu nehmen“, erwiderte Joanne. Sie log. Denn eigentlich wollte sie nichts mehr, als Nel zu töten. Sie wollte ihre Rache.

[25.11.2011 – F12 – Kündigung]

Zwei weitere Tage vergingen. Zwei Tage in der ihre Schmerzen nur langsam schwanden, während Athea sie ein weiteres Mal heilte. Zwei Tage, in denen Murphy viel schlief. Er begann Albträume zu haben, entwickelte ein Fieber. Offenbar von einer Infektion.

Viel zu oft saß Joanne an seiner Seite, unabhängig davon, ob er bei Bewusstsein war oder nicht.

So auch an diesem Nachmittag. Der Junge war wach, wenngleich etwas langsam. Er sah sie auf eine merkwürdige Art an.

Sie lächelte. „Was?“

Murphy seufzte. „Nichts.“

„Okay.“

Schweigen. Es war schon seltsam, ihn schweigen zu sehen. Er rückte sich das Kissen zurecht und schloss wieder die Augen, als die Zimmertür aufging.

„Hier, Kid“, meinte Jack und kam mit einer Flasche Cola zu ihm.

Murphy grummelte müde. „Nenn' mich nicht Kid.“

Jack lächelte matt. „Das ist eine seltsame Art Danke zu sagen.“

Demonstrativ verzog Murphy die Mundwinkel zu einem Schmollen, nahm dann aber die Cola und drückte sie sich dankbar gegen die Stirn. Die Flasche schien gekühlt zu sein. Kondenswasser sammelte sich an der Oberfläche des Plastiks.

Joanne sah zu Jack, der sich wieder den zweiten Stuhl herbeizog. „Danke.“

Jack schenkte ihr ein breites Grinsen. „Immer doch, Mon Dieu.“

„Irks.“ Wieder verzog Murphy den Mund. „Weißt du, wie albern es ist, wenn du sie so nennst?“ Er öffnete die Flasche und trank einen Schluck. „Überhaupt, was macht ihr beide hier?“

„Uns um dich kümmern“, erwiderte Joanne und strich ihm über die Stirn.

„Lass das, Mum.“ Er schlug ihre Hand weg und schmollte noch mehr, entlockte Jack damit aber ein Lachen.

Da er am Fußende des Bettes saß, klopfte er Murphy aufs Bein, anstatt auf die Schulter. „Es ist gut zu sehen, dass es dir wieder gut genug geht, als dass du beleidigt sein kannst.“

Murphy streckte die Zunge heraus.

Joanne lachte und lehnte sich zurück. Sie sollte sich bald wieder hinlegen. Der Schmerz an Hüfte und Rippen wurde schlimmer, je länger sie saß. Sie seufzte und sah auf ihr Handy. Es war kurz nach vier. Ja, vielleicht sollte sie wieder auf ihr Zimmer runter. Heidenstein bestand darauf, dass sie in einem Krankenbett blieb, bis ihre Wunden besser verheilt waren.

Später würden auch Crash und Alice kommen. Sie waren jeden Tag hier gewesen. Alice schien tatsächlich um Murphy besorgt zu sein.

Die Tür ging auf. Fraglos war es Heidenstein, der so oft vorbeischaute, wie es seine Zeit erlaubte.

Joanne drehte sich herum und erstarrte. Es war nicht Heidenstein. Es war Michael.

Ihr Magen zog sich zusammen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er war bisher nie hierher gekommen.

Dabei war er nicht allein. Jemand anderes stand hinter ihm. Eine andere Söldnerin. Pakhet kannte sie aus einer Mission. Eine Zulu-Frau, die sich damals Rain genannt hatte. Sie trug eine Waffe, hatte sie in der Hand.

Joanne stand auf, starrte ihn an. „Was machst du hier, Michael?“

„Ach, ich dachte nur, ich überzeuge mich davon, ob du überhaupt noch da bist, Jojo“, meinte er und grinste. „Mit der ganzen Verschleierung von Smithy ist es gar nicht mehr so leicht zu wissen, was du machst. Habe mich gefragt, ob du nach unserem letzten Treffen abgehauen bist.“ Sein Blick war berechnend.

Das gab keinen Sinn. Er hätte nicht wissen können, dass sie hier war. Heidenstein hätte es ihm nicht gesagt. Nicht ihm. Nein, er wäre nicht in dieses Zimmer gekommen, um nach ihr zu suchen. Er war wegen Murphy hier.

Er wollte beginnen, was er, was Nel angefangen hatte. Aus anderen Gründen als Nel, nicht das das viel bedeutete.

„Was macht das Arschloch hier?“, fragte Murphy.

Ganz automatisch schob sie sich vor ihn. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache.

Auch Jack war angespannt, schwieg aber. Sein Blick suchte den ihren in einer eindeutigen Frage: „Soll ich etwas machen?“

Sie deutete ein Kopfschütteln an, sah dann wieder zu Michael und seiner Begleitung. „Du siehst, ich bin hier. Wie du aber eventuell sehen kannst ein wenig angeschlagen.“ Ihr rechtes Bein zitterte noch immer, wenn sie stand. Heidenstein sagte, es würde ihr für eine Weile erhalten bleiben.

„Ja, das sehe ich.“ Michael grinste sie an. „Wie konnte das nur passieren?“ Er tat übertrieben betroffen, verzog das Gesicht. „Du siehst ja furchtbar aus. Sag mir nicht, dass jemand versucht hat, dich und das Balg umzubringen?“

„Tu nicht so“, meinte sie abfällig. „Du weißt genau, was passiert ist.“

Er zuckte mit den Schultern. „Na gut. Dann schauen wir mal.“ Er tat, als würde er überlegen. „Hast du noch einmal über das Angebot nachgedacht, Joanne?“

Sie verzog das Gesicht. Die ganze Zeit hatte sie ihren Namen geheim gehalten, aber natürlich musste er es ausplaudern. Er wollte ihr selbst die Gelegenheit nehmen, es ihren Freunden zu erzählen.

„Lass uns rausgehen, Michael.“ Sie bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, konnte aber nicht verhindern, dass sie zitterte. „Murphy braucht Ruhe.“

„Mum“, klang Murphys Stimme von hinter ihr.

„Mum“, äffte Michael ihn nach. „Das ist süß.“

„Lass uns rausgehen, Michael!“, wiederholte sie mit Nachdruck.

„Ich will aber lieber hier mit dir reden, Jojo“, erwiderte Michael. „Immerhin wollen wir dein Möchtegernsöhnchen nicht ausschließen, oder?“

„Michael!“, rief sie aus.

Michael kam auf sie zu, seine Hand lag auf der Waffe auf seinem Gürtel. „Eigentlich hatte ich gehofft, diese ganze Sache würde dich zur Vernunft bringen.“

„Der Anschlag?“, fragte sie und kannte die Antwort schon.

Er sah sie an, grinste, zuckte mit den Schultern und versuchte sie zur Seite zu schieben.

Sie schubste ihn zurück. „Ich werde dir nie verzeihen, dass du diese Sache angezettelt hast, Michael. Hörst du mich? Niemals. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben.“ Sie sollte ihn endlich erschießen. Ihre Waffe steckte im Bund ihrer Hose. Ohne fühlte sie sich einfach nicht sicher.

„Ich habe nichts angezettelt, Jojo“, meinte er. „Ich habe einfach nur ein paar Informationen verkauft. Nichts Ungewöhnliches für jemanden wie mich, oder?“

Sie atmete tief durch. Sie konnte nicht verhindern, dass auch ihre Hand zu ihrer Waffe wanderte. Nein, sie musste warten. Sie musste warten, bis sie eine Möglichkeit hatte, mehr über seinen Totmannschalter herauszufinden, diesen aus der Gleichung nehmen. Noch etwas Geduld. Noch ein, zwei Wochen mehr. Wenn sie zu voreilig war, würde sie Murphy nur noch weiter in Gefahr bringen. Von allem was sie wusste, konnte sein Totmannschalter auch ein Hit auf Murphy oder Heidenstein sein.

Sie schubste ihn wieder zurück. „Verschwinde von hier, Michael. Verschwinde.“ Kurz wanderte ihr Blick zu Rain, doch dann sah sie Michael in die Augen. „Verschwinde.“

„Oder was?“, fragte er amüsiert.

Sie zitterte. „Verschwinde.“

„Du kannst nichts tun, um mich zu zwingen. Ich gehe nicht ohne dich.“

„Was?“ Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. Ihr Gehirn brauchte etwas, um zu verstehen.

„Dieses verdammte Spiel geht schon viel zu lange so, Joanne“, sagte Michael. „Erst Heidenstein, dann der Junge, jetzt“ – er sah zu Jack – „was auch immer das hier geworden ist.“ Seine Waffe lag in seiner Hand. „Ich hätte wissen müssen, dass diese ganze Sache alles kaputt machen würde.“

Sie machte ein verächtliches Geräusch. Sie wusste, dass eine Waffe auf sie gerichtet war, dass Michaels Waffe gefährlich in Jacks Richtung zeigte. „Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Idee war. Du hast mich der Chaostruppe zugeteilt, aus Rache an mir. Du hast mich auf die Mission geschickt Dené zurückzuholen. All das hast du selbst gebaut.“

„Weil ich erwartet habe, dass du verflucht noch mal professionell bist, Joanne!“, rief Michael aus und kam ihr unangenehm nahe. „Du warst doch sonst immer professionell.“

„Nicht, wenn es bedeutet hätte, Kinder irgendwem auszuhändigen“, erwiderte sie.

„Es waren keine Kinder, verdammt!“ Er holte tief Luft. „Der Junge hinter dir ist genau so wenig ein Kind. Also hör endlich mit diesem verdammten Spiel auf. Du gehörst mir. Du bist meine Söldnerin. Du bist …“

Pakhet dachte nicht nach, ehe sie sprach. „Ich kündige.“

Michael hielt inne. „Was?“

„Ich kündige“, wiederholte sie. Als ob es überhaupt noch eine Frage gewesen war. Konnte er wirklich glauben, dass sie nach dieser Sache zurückkehrte?

Michael lachte. Natürlich lachte er. Es sollte sie nicht überraschen. Er war verrückt. Er war schon immer verrückt gewesen. Nein, nicht verrückt. Er hatte einfach nur kein Gewissen, hielt sich für unantastbar, glaubte jeden, der für ihn arbeitete kontrollieren zu können. Deswegen hatte er sie damals angeheuert. Deswegen hatte er sie die ganze Zeit kontrolliert. „Du kannst nicht kündigen!“

„Doch“, erwiderte sie.

„Die Army“, begann er, doch sie unterbrach ihn.

„Sucht schon lange nicht mehr nach mir.“ Sie sah ihn in die Augen. „Und selbst wenn wäre es mir egal. Aber Smith hat mir die Wahrheit gesagt. Es sucht schon lange niemand mehr nach mir. Es gibt nicht mal einen Haftbefehl.“

„Das kann ich ändern“, erwiderte Michael.

„Michael, bitte. Hör mit diesem Scheiß auf.“

„Komm mit mir mit. Lass uns so weitermachen wie …“

Wieder unterbrach sie ihn: „Warum interessiert es dich so, was ich mache?“

„Weil du gut bist. Gut in deinem Job. Und weil ich verdammt noch mal viel getan habe, um dich …“

„Um sie zu behalten?“, fragte Murphy hinter ihr. Er richtete sich auf. „Sie gehört dir nicht, du Arschloch. Sie ist nicht dein Eigentum.“

„Halt die Klappe, Pimpf“, knurrte Michael.

„Es reicht jetzt. Gehen Sie“, mischte sich nun auch Jack ein. Er machte einen Schritt auf Michael zu, der seinerseits zurückwich und seine Waffe hob.

„Du misch dich da nicht ein, Boytoy!“ Michaels Waffe war direkt auf Jacks Kopf gerichtet.

„Michael!“ Noch immer stand Pakhet vor Murphy, auch wenn der Junge versuchte sie zur Seite zu schieben. Sie würde Michael keine Möglichkeit geben ihn zu erschießen.

Verdammt. Wie war es soweit gekommen? Michael war schon immer ein Arschloch gewesen, doch normal hatte er sie nur mit der Drohung ihre Informationen zu leaken bedroht. Warum auf einmal die anderen? Warum wollte er sie so dringend besitzen?

Jack hatte die Hände erhoben. Es war ihm anzusehen, dass er darüber nachdachte, Michael anzugreifen. Er überlegte, ob er schnell genug sein konnte. Langsam machte er einen Schritt zur Seite.

Michaels Waffe folgte ihm.

Wieder öffnete sich die Tür zum Zimmer. „Was zur Hölle …“, erklang Heidensteins Stimme, die verstummte, als er sah, was vor sich ging.

Sofort riss Rain ihn am Arm an sich, hielt ihm die Waffe an den Kopf.

„Braves Mädchen“, lobte Michael sie, als würde er mit einem Hund sprechen.

Heidensteins Augen suchten die ihren. Er schien nicht zu verstehen. Kein Wunder. Ihr ging es nicht viel besser. „Pakhet?“

Sie konnte ihm nicht antworten, wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Michael zu. „Hör damit auf, Michael“, flüsterte sie. „Sie haben damit nichts zu tun.“

„Du hast ihn selbst mit herein gezogen, Joanne“, erwiderte Michael. „Vielleicht würde es dir eine Lehre sein. Ich sag dir was, magst du dich für einen der beiden entscheiden?“ Er grinste. „Was sagst du: Die Nutte oder der gute Doctor?“

„Pakhet“, flüsterte Jack.

Sie sah zu Michael. „Hör damit auf. Endlich. Es ist nicht mehr lustig.“

„Ich gebe dir fünf Sekunden, sonst mache ich die Entscheidung für dich.“ Er hob die freie Hand, zeigte fünf Finger. „Fünf.“ Er klappte einen Finger. „Vier.“

„Pakhet“, rief Heidenstein aus. Er versuchte sich aus Rain Armen zu befreien, während die Söldnerin all das regungslos beobachtete.

Ein weiterer Finger. „Drei.“

Fuck, was sollte sie tun? Ihr Bein zitterte noch immer. Ihre Hand war fest um ihre Waffe gelegt.

„Zwei.“ Noch ein Finger. „Eins.“

„Michael!“, rief sie aus.

Er grinste, während er den letzten Finger umklappte. Sein Finger am Abzug spannte sich an.

Peng. Der Schuss einer Waffe klang ohrenbetäubend durch den Raum.

Michaels Körper fiel leblos zu Boden. Ihr Schuss hatte ihn Mittig der Stirn getroffen. Das Blut hatte sich hinter ihm auf Boden und Wand verteilt.

Für einen Moment stand die Zeit still. Sie hatte nicht darüber nachgedacht. Sie hatte gesehen, wie Michaels Finger sich angespannt hatte und hatte abgedrückt. Es war ein Instinkt gewesen.

Niemand schien zu verstehen, was geschehen war.

Ihr Bewusstsein war das erste, was bereit war, zu reagieren.

Sie schoss noch einmal, entlockte Rain einen Schrei, als sich die Kugel in ihr Bein bohrte. Dann sprang sie auf die Söldnerin zu, brachte sie zu Fall und riss ihr seine Pistole aus der Hand. Sie warf sie Jack zu, während Heidenstein bei ihr war. Er half ihr Rain auf den Rücken zu drehen, hielt sie fest, während sie die eigenen Handschellen der Söldnerin nutzte, um sie zu fesseln.

Ihr Blick traf den Heidensteins. Noch immer sprach Schock und blanke Verwirrung aus seinem Blick.

Ihre Wunden schmerzten.

Sie ließ sich an der Wand hinabgleiten, nur langsam realisierend, was sie gerade getan hatte.

„Fuck“, flüsterte sie.

[25.11.2011 – X33 – Werkzeug]

Langsam rückte die Welt wieder zurecht. Joanne konnte nicht mehr. Sie konnte kaum klar denken. Sie hatte es wirklich getan. Sie hatte Michael umgebracht. Sie hatte es getan.

Sie sah auf die Leiche, die vor ihr auf dem Boden lag. Er war tot. Er war wirklich tot. Sie hatte ihn erschossen. Sie hatte ihn wirklich ermordet. Sie hatte es getan.

Ein Zittern lief durch ihren Körper. Sie konnte es nicht glauben. Was sollte sie jetzt tun? Er hatte einen Totmannschalter. Sie wusste es. Nicht nur für sie, auch für diverse andere. Andere, die ihr diese Aktion sehr übelnehmen würden. Deswegen hatte sie ihn nicht einfach so umbringen können. Es war dumm. Es war so dumm gewesen. Warum hatte sie es getan?

„Fuck“, flüsterte sie erneut. „Fuck. Fuck. Fuck. Fuck.“ Sie zog die Beine an den Körper, bedeckte ihr Gesicht. „Fuck.“

„Pakhet.“ Das war Heidenstein. Er kam zu ihr, setzte sich neben sie, rieb ihre Schulter.

Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht. „Fuck. Fuck.“

„Pakhet!“ Heidensteins Stimme war energischer. Er legte einen Arm um sie. „Pakhet. Es ist okay.“

Sie wusste, dass er es gut meinte. Sie wusste, dass er sie trösten wollte. Sie wusste auch, dass er nicht verstand. Ihr Atem wurde hastig. Sie bekam keine Luft mehr. Verdammt. Sie bekam keine Luft. Oh, verdammt. Verdammt. Sie sah zu ihm. „Ich …“ Sie brachte kein Wort heraus. Ihr Blick glitt zu Michaels Leiche.

Er war wirklich tot. Michael war tot.

„Es ist okay“, flüsterte Heidenstein. „Es ist okay.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, es ist nicht okay. Es ist …“ Sie schüttelte den Kopf wieder. „Nein.“

Sie musste etwas tun. Sie musste irgendetwas tun. Ja. Nur dann konnte sie verhindern, dass noch etwas passierte. Der Totmannschalter würde nicht sofort auslösen. Sie hatte noch etwas Zeit. Ein paar Minuten, vielleicht auch ein paar Stunden. Abhängig davon, in welcher Regelmäßigkeit Michael ihn bestätigte.

Sie rollte sich nach vorn, auf die Knie, krabbelte zur Leiche hinüber, begann diese abzutasten. Seine Sachen. Sein Handy. Sein Portemonei. Alles, was sie finden konnte.

„Pakhet. Was ist los?“ Heidensteins Stimme klang seltsam. Er schien nicht sicher zu sein, ob er energisch oder sanft sein sollte.

Ja, sie musste es ihm erklären.

Doch Jack nahm es ihr ab. „Er wird einen Totmannschalter gehabt haben, Doc.“

„Ja.“ Joanne sah zu Heidenstein. „Er hatte einen. Garantiert.“

Erkenntnis machte sich in Heidensteins Gesicht breit. Dann kam er zu ihr, half ihr die Taschen zu durchsuchen.

Gemeinsam zogen sie drei verschiedene Handys, einen Schlüsselbund und ein Portemonnaie zusammen mit ein paar Kleinigkeiten heraus. Dem üblichen Müll, den die meisten Leute in ihren Taschen mit sich herumtrugen. Ein paar Visitenkarten.

Doch natürlich brachte es ihr nichts. Sie konnte damit nichts anfangen.

Es war Heidenstein, der in dieser Situation seine Ruhe wiederfand. Er atmete einige Male tief durch, zog sich dann von Michaels Körper weg. „Ich sage dir was.“ Seine Stimme war überraschend ruhig. „Wir gehen hier raus. Dann holen wir Hazel dazu.“

„Und Alice“, merkte Murphy an, der noch immer mit schockiertem Gesicht auf dem Bett saß.

Heidenstein nickte. „Und Alice. Und dann schauen wir, dass wir seine Sachen hacken können.“

Joanne starrte ihn an. Sie konnte nicht klar denken. Sie fand keine Antwort. Ihre Gedanken rasten in purer Panik. „Ich weiß nicht, welche Frequenz die Schalter hatten.“

Heidenstein packte sie bei den Schultern. „Dann finden wir es heraus. Es bringt nichts, hier zu hocken, schockiert zu sein. Wir müssen etwas tun. Was wird er auf dem Schalter haben?“

Für einen Moment schwieg Joanne, bemüht irgendwie wieder ihre Gedanken zu sammeln. „Er … Er hat alle Leute mit Informationen erpresst. Er …“ Oh, wie sehr sie es hasste. „Er hat Sachen aus meiner Vergangenheit. Und er wird die Daten über euch haben. Schlimmstenfalls einen Auftrag für einen Hit.“ Irgendwie wusste sie, dass dieser wenn gegen Heidenstein und Murphy gerichtet war, nicht gegen sie. „Und dasselbe für ein paar andere. Die Leute, die … Die er wie mich angesehen hat.“ Als sein Eigentum. „Es gab ein paar. Auch Geschäftspartner. Michael hatte viele Leute, die nicht unbedingt seine Freunde waren. Leute die …“ Sie schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe schon.“ Heidenstein stand auf, zog sie mit sich hoch. „Was machen wir als Nächstes?“

Er versuchte sie abzulenken. Er war ein guter Kerl. Zu gut. Wie hatte sie ihn hier mit hereinziehen können?

Doch zumindest klärten sich langsam ihre Gedanken, auch wenn die Panik nicht schwand. Noch immer fühlten sich ihre Eingeweide an, als würde eine eisige Hand sie zusammenpressen. „Smith. Wir sollten Smith anrufen. Er wird vielleicht irgendetwas wissen. Er kannte Michael schon lange.“

Heidenstein nickte. „Gut. Dann rufst du Smith an. Ich kümmer mich um Hazel.“

„Und ich rufe Alice an“, meinte Murphy und stieg aus dem Bett. Mit gerümpfter Nase sah er auf die Leiche hinab.

„Und ich?“, fragte Jack.

Heidenstein sah zu ihm, dann zu Rain am Boden. Die Söldnerin blutete aus dem Bein, stöhnte leise, fluchte aber anders, als viele andere es getan hätten nicht. „Kannst du sie nach unten bringen und dann Siobhan anrufen? Wir brauchen ihre Heilerin. Du hast die Nummer?“

Jack nickte. „Mache ich, Doc.“

Wieder legte Heidenstein seine Hand auf Joannes Schulter. „Komm. Lass uns rübergehen. Wir kümmern uns um alles. Wir schaffen das.“

Dabei redete er sich dasselbe auch nur ein.

[25.11.2011 – S11 – Übernahme]

Alice und Crash waren mit fünfzehn Minuten später am schnellsten da. Offenbar waren sie ohnehin schon auf dem Weg gewesen, Murphy zu besuchen.

Alice machte sich an die Arbeit, während Crash stumm daneben saß.

Joanne hatte Smith angerufen. Sie hatte ihm nichts gesagt. Nur, dass sie ihn da brauchte. Er hatte verstanden, dass etwas nicht stimmte. Gott, wie sollte sie es ihm erklären? Er hatte keine gute Meinung von Michael gehabt, doch war er wie die meisten in der Firma von ihm abhängig gewesen. Wahrscheinlich hatte Michael auch etwas gegen ihn in der Hand gehabt. Irgendetwas. Etwas, womit er ihn erpresst hatte. Immerhin gehörte wahrscheinlich auch Smith zu den „Privatbesitzen“ Michaels. Dessen war sie beinahe sicher.

Als sie die Stille nicht länger ertrug, in der die beiden Hackerinnen arbeiteten, ging sie nach unten, auf den Parkplatz.

Joanne wusste nicht, was sie noch tun konnte. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Von allem, was sie wusste, konnte es in kürzester Zeit einen Angriff geben, irgendetwas. Etwas konnte passieren. Und dann? Was würde dann passieren?

Endlich. Der schwarze Mercedes von Smith fuhr vor. Er parkte direkt vor dem Hinterausgang, stieg aus, kam zu ihr.

„Pakhet?“, fragte er. Er runzelte die Stirn. „Was ist los?“

Sie sah ihn an, schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht sagen. Ich muss es zeigen.“

Smith musterte sie misstrauisch, schien sich dann aber zu entschließen, dass er ihr genug vertraute. „Du siehst aus, als wärst du dem Tod persönlich über den Weg gelaufen. Ist alles okay?“

Wieder schüttelte sie den Kopf, vielleicht etwas zu energisch. „Nein. Nichts ist in Ordnung. Nichts.“

„Was ist los?“

„Gleich.“ Sie schaffte es nicht, die Worte auszusprechen. Es war zu unreal. Michael war tot. Er war tot. Er war wirklich tot. Wirklich? War es nicht nur eine Falle, ein weiterer seiner dummen Tricks? Sie wusste es nicht. Sie hatte Angst. Warum hatte er ihr so viel Angst einjagen können?

Smith folgte ihr die Treppe hinauf. Eigentlich sollte sie sich noch schonen. Eigentlich sollte sie den Aufzug nehmen. Gerade jetzt, mit ihrer Verletzung. Doch sie musste sich bewegen. Sie konnte nicht anders.

Mit kurzem Atem kam sie oben an, im obersten Stockwerk, ging zu Murphys Zimmer. Sie sah Smith an, setzte an etwas zu sagen, wusste aber nicht was. Was konnte sie denn nur sagen, um das zu erklären?

„Was ist passiert?“, fragte Smith noch einmal.

Sie starrte ihn an, schüttelte den Kopf. Dann öffnete sie die Tür. „Das.“

Smith war stumm. Er sah auf Michaels Leiche, die bisher niemand auch nur bedeckt hatte, hinab. Er brauchte einige Sekunden, um zu verarbeiten, was er sah, atmete dann tief durch. „Was ist passiert?“ Er drehte sich zu Joanne um.

Sie holte tief Luft. „Er hat meine Daten an Nel weitergegeben, wollte mich bestechen lassen, für Nel zu arbeiten. Als ich abgelehnt habe, haben sie Murphy entführt, um mich in eine Falle zu locken. Jetzt ist Michael hergekommen. Wahrscheinlich um Murphy zu töten. Er hat wieder versucht …“ Sie schüttelte den Kopf, sah Smith dann in die Augen. „Ich habe ihn erschossen.“

Smith erwiderte ihren Blick für eine Weile, nickte dann. „Ich verstehe.“ Er holte sehr tief Luft. „Die Firma.“ Es war eine Feststellung. Die Feststellung, warum er hier war.

„Und die Schalter. Michael wird Totmannschalter gehabt haben. Mit Dingen gegen mich und gegen andere.“ Joanne zögerte. „Wahrscheinlich auch gegen dich.“

Smith nickte. „Ja. Wahrscheinlich.“ Noch ein tiefer Luftzug. „Okay, was machen wir?“

„Alice und Hazel sind drüben, versuchen seine Sachen zu hacken.“

„Der Doc?“, fragte Smith.

„Kümmert sich um Rain. Die Söldnerin. Sie war mit dabei. Michael hatte sie als Bodyguard dabei.“

Smith nickte. „Kann ich mit dir rüber?“

„Ja.“ Sie schloss die Tür mit einem letzten Blick auf Michaels Leiche, die mit leeren Augen gen Decke starrte. Niemand von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, seine Augen zu schließen.

So führte sie Smith zur Wohnung, wo Hazel auf dem Sessel, Alice auf dem Sofa saß. Zu ihrer Überraschung war auch Heidenstein schon wieder da. Dabei hatte sie eigentlich gedacht, dass er mit unten war. Doch nein, auch er und Siobhan waren hier, wie auch Jack und Crash.

„Smith“, begrüßte ihn Heidenstein.

Smith sah sich um. Ein sehr mattes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Er klopfte auf Joannes Schulter, schob sie vorsichtig in Richtung des Sofas, damit sie sich setzen konnte.

„Und, was ist der Plan?“, fragte Jack und schaute hoffnungsvoll zu Joanne. Dabei hatte er nicht einmal etwas damit zu tun.

Sie wusste es doch auch nicht. Sie wusste nicht, was sie tun konnte. Sie hätte normal jemanden beauftragt, Dinge über Michael zu finden, den Totmannschalter zu hacken. Dafür zu sorgen, dass etwaig Betroffene vorbereitet waren.

Hätte sie ihn normal überhaupt umbringen können? Immerhin war er die Firma. Er war die Firma. Und ohne ihn gab es eine Menge Söldner, die sauer auf sie wären, dass sie die Firma und damit ihren Schutz, ihre Rücksicherung verloren hatten. Das war immerhin der Grund, warum die ganze Zeit überhaupt funktioniert hatte.

Smith lehnte sich gegen die Wand, räusperte sich. „Folgender Vorschlag: Ich fahre zur Firma, versuche dort die Dinge zu regeln. Ich kenne einen Teil von Michaels Safehouses. Ihr fahrt dahin, schaut was ihr herausfinden könnt. Ich habe noch ein paar Leute, die helfen können.“

Zu Joannes Überraschung brachte niemand Einwände. Nur sie ließ man zurück.

[25.11.2011 – M28 – Hilflos]

Joanne hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Sie fühlte sich so unruhig und konnte doch nichts tun. Sie verstand sogar, warum die anderen sie nicht mitgenommen hatten. Sie verstand, dass sie wenig tun konnte, dass sie noch zu angeschlagen war. Stattdessen war sie hier mit Alice, Hazel und den natürlich ebenso angeschlagenen Murphy allein. Doch Alice und Hazel waren in ihre jeweilige Arbeit vertieft.

Zumindest hatte Murphy eine gute Idee gehabt: Im Wagen nach weiteren von Michaels Sachen zu suchen. Tatsächlich hatte er einen Laptop dabei gehabt, weitere Nahrung für die Recherche, an der die beiden Hackerinnen arbeiteten.

Doch Pakhet konnte nichts machen. Sie saß nur hier, lief im Wohnzimmer ihrer Wohnung auf und ab, bis ihre Beine sie nicht mehr trugen, bis ihr rechtes Bein so stark zitterte, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor.

„Pakhet“, meinte Murphy und stand auf. Dann versuchte er es anders: „Mum.“

Sie sah sich zu ihm um, wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

Er runzelte die Stirn. Natürlich war das ganze auch für ihn zu viel, doch er sammelte sich irgendwie. „Du siehst schon wieder furchtbar aus, weißt du das?“ Er verdrehte die Augen. „Setzt dich und bekomm mir hier keinen Nervenzusammenbruch.“

Sie brachte ein Lächeln zustande. „Ich habe keinen Nervenzusammenbruch.“ Ihre zitternde Stimme stellte ihre Worte stark in Zweifel.

Murphy stand auf, ging zu ihr hinüber, griff sie bei der Hand. „Setz dich.“ Seine Stimme klang beinahe herrisch.

Sie schüttelte den Kopf, kam aber seiner Aufforderung nach. Ihr Bein zuckte noch immer. Sie konnte es nicht ruhig halten.

„Ernsthaft.“ Er stemmte die Arme in die Seiten. „Würde ich mich so aufführen, wie du gerade, würdest du anfangen zu schimpfen. Ruh dich aus.“

Sie wusste, dass es gut gemeint war. „Danke, Kid. Aber ich …“ Sie rieb sich die Augen. Sie hatte noch immer Probleme, die Situation zu verstehen. „Ich kann nicht, Kid. Ich meine … Fuck. Fuck. Fuck. Ich habe …“

„Du hast getan, was ohnehin schon lange überfällig war“, meinte Murphy. „Du hast das Arschloch getötet. Geschieht ihm Recht. Das war lange überfällig, wenn du mich fragst.“

Sie starrte ihn an. Es klang kaltherzig aus seinem Mund. Der Junge war wie alt? In dieser Gestalt wirkte er nicht älter als fünfzehn. Vielleicht sogar noch jünger. Sie war nicht sicher, ob es nur an seiner kleinen Gestalt lag oder nicht. „Kid. Er hat …“

„Er hat gemeint Leute kontrollieren zu können und hat sich dabei verrechnet“, meinte Murphy. „Ich kenne solche Leute. Ich kenne solche Leute zu genügend. Mal ehrlich, es ist besser so. Irgendjemand hätte ihn irgendwann getötet. Mal ehrlich, glaubst du jemand trauert diesem Arsch hinterher?“

„Du bist kalt“, murmelte sie.

„Nein, ich bin realistisch“, erwiderte Murphy und sah sie an. „Mal ehrlich, Pakhet. Irgendwer hätte ihn gekillt, wenn er immer so drauf war. Und hey, andere müssten zustimmen, dass es so besser ist, oder? Also dass wir … dass du ihn gekillt hast. Ich meine, wir machen zumindest was zur Schadensbegrenzung, nicht?“

Er wollte sie nur beruhigen, wollte, dass sie nicht komplett verrückt wurde. Irgendwie schaffte er es sogar etwas. Sie wurde ruhiger. Ein wenig ruhiger. Schaffte es durchzuatmen.

„Was ist, wenn er einen Hit auf euch reingepackt hat?“, fragte sie.

Murphy zuckte mit den Schultern, verschränkte die Arme. „Dann ist das so. Wir kommen damit schon klar. Ich meine, ich verstecke mich einfach hinter dir. Du scheinst ja ziemlich Kugelsicher zu sein, oder?“

„Ich würde darauf nicht bauen“, murmelte sie.

„Ach, besser als die Alternativen.“ Murphy tätschelte den Oberarm ihrer Prothese. Dann stand er auf, ging in die Küche, kam mit einem Bier zurück. „Hier. Das beruhigt.“

Nun machte sich tatsächlich ein Lächeln auf ihren Lippen breit. „Willst du mich abfüllen?“

Er grinste. „Ja, vielleicht ist dass das Beste. Dann würde es dir wahrscheinlich besser gehen.“

„Oder ich mache etwas richtig dummes.“

Murphy lachte leise. „Oder das.“

Sie nickte, trank einen Schluck des gekühlten Bieres. Es tat wirklich gut. „Dir geht es für deine Gehirnerschütterung erstaunlich gut.“ Sie streckte ihre rechte Hand aus, um seine Stirn zu fühlen. Er war noch immer fiebrig. „Eigentlich solltest du liegen.“

Er lächelte sie an, zuckte mit den Schultern. „Na ja, wie würdest du sagen? Manchmal muss man halt funktionieren.“

Sie schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen. Tatsächlich fühlte sie sich ruhiger. Sie musste zugeben, dass sie so etwas schon mehr als einmal gesagt hatte. „Du bist unmöglich, Kid.“

„Natürlich bin ich das. Der unmögliche Rabenjunge. Das wäre doch einmal ein Name.“

„Garantiert“, murmelte sie. Sie atmete tief durch, trank noch einen weiteren Schluck Bier. „Aber weißt du was? Ich lege dich dennoch ins Bett. Sonst mache ich mir am Ende noch mehr Vorwürfe.“

Jetzt verdrehte er die Augen, schenkte ihr einen trotzigen Blick. „Dann geht es dir besser?“

„Deutlich“, meinte sie.

Ein sehr dramatisches Seufzen war seine Antwort. „Okay. Ausnahmsweise erlaube ich es. Aber ich warne dich: Meine Rache wird fürchterlich sein.“

„Damit muss ich dann leben.“

[26.11.2011 – D58 – Joanne Snyder]

„Pakhet?“ Heidensteins Stimme riss sie aus dem Schlaf.

Sie war tatsächlich eingeschlafen. Sie war trotz ihrer Panik, trotz ihrer rasenden Gedanken eingeschlafen. Vielleicht war es wegen dem Adrenalinsturz gewesen, als sie sich einmal beruhigt hatte, vielleicht war die Ursache auch in ihrer verbliebenen Müdigkeit nach den vergangenen Tagen oder den drei Flaschen Bier, die sie am Ende getrunken hatte, zu suchen.

Sie wusste nicht einmal, wie spät es war. Sie hatte sich irgendwann, weil ihr schwindelig geworden war, in Heidensteins Bett gelegt. Ihr eigenes Bett hatte sie an Murphy „vermietet“. Sie hatte nicht gewusst, wohin sie den Jungen sonst hätte bringen sollen. Immerhin hatte sie ihn in ihrer Nähe behalten wollten. Nur für den Fall.

Sie sah sich zu Heidenstein. „Hey.“ Sie blinzelte.

Schon saß er an ihrer Seite, hatte eine Hand auf ihr Bein gelegt. „Was machst du hier?“

„Murphy liegt drüben“, erklärte sie auch ihm. „In meinem Bett. Er hatte noch immer Fieber.“ Sie schüttelte den Kopf, suchte dann seinen Blick. „Was habt ihr gemacht?“

Heidenstein bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln. „Smith kümmert sich um die Firma. Wir haben die ganzen Locations von Michael abgefahren, haben ein paar Sachen für Smith gesammelt. Und einen Server ausgeschaltet.“ Er tätschelte ihre Schultern. „Es geht schon. Es wird alles in Ordnung sein. Alice sagt, sie glaubt, sie hat die wichtigsten Sachen gefunden.“ Seine Stimme klang ruhig, besänftigend.

Joanne drehte sich auf den Rücken, blickte zur Decke. Konnte es wirklich sein? Konnte es sein, dass sie Michael getötet hatte und nichts deshalb passiert war? Nein. Es konnte nicht so einfach sein. Es konnte nach all den Jahren nicht so einfach sein. Es war zu einfach. Wenn es sei einfach war, warum hatte sie nicht ... Warum hatte niemand Michael vorher getötet? Murphy hatte Recht: Es war lange überfällig gewesen. Es hätte schon lange jemand tun müssen. Es durfte nicht so leicht sein. Es fühlte sich falsch an. Wenn es so leicht war: Warum hatte sie dann so lange für ihn gearbeitet? Sie hatte immer gewusst, dass er ein Arsch war.

Ihre Stille schien Heidenstein zu besorgen. „Alles okay?“

Sie starrte weiter zur Decke. Genau so wie Michaels Leiche wahrscheinlich noch immer an die Decke starrte. Michaels Leiche. Genau. „Was ist mit der Leiche?“

„Victor hat ein paar Leute vorbei geschickt“, meinte Heidenstein ruhig. Er räusperte sich. Das Thema war ihm unangenehm. „Profis.“

Sie nickte. Was hätte sie nur ohne Heidenstein getan? Ohne ihre Freunde? „Fuck“, hauchte sie.

Noch immer lag Heidensteins Hand auf ihrem Knie. „Es ist alles okay. Wir haben es unter Kontrolle.“

„Und ich habe nichts getan“, flüsterte sie.

„Du hast mehr als genug getan“, erwiderte Heidenstein. „Du hast wirklich mehr als genug getan.“

Sie schwieg. Noch immer war sie dankbar, dass sie zumindest ihrerseits Murphy gerettet hatte. Sie würde sich wirklich nutzlos fühlen, hätte sie das nicht getan. „Es ist zu leicht.“

„Vielleicht wollte er dich auch nur glauben lassen, dass es so schwer ist. Er hat dich …“

„Manipuliert“, beendete sie den Satz. „Ich weiß.“ Sie schloss die Augen, legte ihre Hände darüber. „Ich weiß.“

Heidenstein schwieg, zögerte. Für eine ganze Weile schwiegen sie, doch am Ende hielt er es nicht mehr aus. „Was ist es, womit er dich erpresst hat? Ich meine …“ Er hielt inne. „Was …“

Nun endlich sah sie ihn wieder an. Sie wusste, was er eigentlich fragen wollte. Michael hatte vorhin einige Sachen angesprochen. Einige Sachen die fraglos weitere Fragen aufgeworfen hatten.

Heidenstein war nur zu nett. Er traute sich nicht wirklich zu fragen.

„Wer“, korrigierte sie schließlich. „Das ist die Frage, die du eigentlich fragen willst.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Was. Womit hat er dich erpresst? Ich meine, ich weiß, dass es Murphy und ich waren. Aber davor? Ich meine, was war es davor?“

Joanne lächelte müde. Wieder wanderte ihr Blick zur Decke hinauf. „Das ist dieselbe Frage.“ Sie schloss die Augen wieder. Konnte sie es ihm wirklich erzählen? Warum zögerte sie überhaupt so sehr? Sie vertraute ihm doch. Er konnte es wissen, oder? Er würde sie dafür nicht verurteilen, oder? Konnte sie es riskieren?

Sie holte tief Luft, leckte sich über die Lippen. Sie ließ es darauf ankommen. „Hast du gehört, wie er mich genannt hat?“

Heidenstein hielt inne, sah sie an. Er schluckte. „Joanne.“

Sie nickte.

Wieder herrschte Stille, bis Heidenstein fragte. „Dein richtiger Name?“

Erneut nickte sie, richtete sich ein Stück auf, um ihn anzusehen. „Mein richtiger Name ist Joanne Snyder.“

Schweigen. Sein Blick war weich. Als wäre es etwas Besonderes. Ihr Name. Wieder leckte er sich über die Lippen. „Joanne“, wiederholte er, als wolle er ausprobieren, wie es klang. „Joanne.“

Sie verzog das Gesicht. „Idiot.“

Leises Lachen kam über seine Lippen. Dann sah er sie an. Wartete.

Fuck. Also würde sie wirklich erzählen? Konnte sie es? „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Irgendwo?“, schlug Heidenstein vor. Dann schien er jedoch zu verstehen, dass sie es nicht konnte. „Womit hat dich Michael erpresst?“

„Damit das die US Army mich wahrscheinlich als Terroristin sucht“, antwortete sie. „Oder zumindest habe ich das lange gedacht. Smith hat nachgeschaut. Es stimmt nicht. Michael hat gelogen.“

Heidenstein wartete auf eine Erklärung, sah sich sich schließlich gezwungen zu fragen: „Und warum sollte dich die Army als Terroristin suchen?“

Sie seufzte. „Weil ich vor acht Jahren meinen Commandanten erschossen habe und Terroristen geholfen habe, amerikanische Waffen aus einem Camp im Irak zu stehlen.“

Wieder schwieg Heidenstein, brauchte, diese Information zu verarbeiten. „Okay.“ Nun war er es, der die Lippen schürzte. „Und wie ist es dazu gekommen?“

Sie schloss die Augen. Einige Erinnerungen waren viel zu frisch in ihrem Gehirn. Ekelhaft frisch. Zu viel war passiert. „Ich …“ Wo fing sie an. „Meine Eltern sind Amerikaner gewesen. Ich habe meine Kindheit zu großen Teilen in den USA verbracht.“ Ein weiteres Seufzen kam über ihre Lippen, als sie an ihre Eltern dachte – der Vater, an den sie sich kaum erinnerte, weil er nur so selten da gewesen war, die Mutter, die sie so oft mit strengem Blick angesehen hatte. „Ich … Ich hatte kein besonders gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Sie waren wenig da. Sie sind beide viel gereist wegen ihrer Arbeit. Sie waren Forscher. Ich habe die spätere Hälfte meiner Jugend hier verbracht. In Kapstadt. Daher kenne ich Robert.“ Eigentlich hatte es nichts mit ihrer eigentlichen Geschichte zu tun, doch sie wusste es nicht besser. Sie wusste nicht, wie sie sonst anfangen konnte. Wo fing man an, wenn nicht am Anfang?

Heidenstein sagte nichts. Heidenstein fragte auch nicht weiter. Er ließ sie einfach reden, ließ sie erzählen.

„Meine Eltern hatten immer erwartet, dass ich einen ehrenhaften Job annehme. Forscherin. So etwas. Ich wollte nicht. Ich wollte auch nicht heiraten, was laut meiner Mutter eine Alternative gewesen wäre.“ Ihre Stimme klang viel zu bitter, dafür, dass es verdammte fünfzehn Jahre her war. Beinahe ihr halbes Leben. „Ich … Ich wollte nicht. Ich wollte etwas anderes. Mein Dad ist damals sauer geworden, hat gemeint, dann soll ich was nützliches tun, zur Army gehen oder so. Und … Ich habe ihn beim Wort genommen. Ich dachte, wenn, dann könnte ich auch genau so gut … Zur Army.“ Wieder schürzte sie die Lippen.

Eigentlich war es ihr damals als logisch erschienen. Die Army schien wie perfekt für sie gewesen. Sie hatte schon immer ein Interesse an Kampfsport und an Waffen gehabt, hatte sich schon immer für Taktiken und diese Dinge interessiert, hatte als Kind oft darüber fantasiert, ein Polizist oder vergleichbares zu sein. Warum war sie eigentlich nie ein Polizist geworden? Wahrscheinlich, weil sie in Südafrika nicht konnte und in den USA nicht gewollt hatte. Doch genau erinnerte sie sich nicht mehr.

„Jedenfalls … Damals war es recht selten. Frauen bei der Army. Also es kam vor und alles, aber es war noch nicht so häufig. Das … Es war noch vor der Jahrtausendwende. Halt direkt nach meiner Highschool. Und es war am Anfang relativ gut.“ Sie zögerte. „Ich war eine Seltenheit, habe mir blöde Sprüche anhören dürfen und all das, aber eigentlich … Es war okay.“ Sie kurz inne. Sie erzählte viel zu viel. Warum? Warum erzählte sie ihm das alles? Warum dachte sie überhaupt darüber nach? „Ich habe meine Ausbildung gemacht, habe Auszeichnungen bekommen, sollte eigentlich in Tansania eingesetzt werden. Ich … Ich habe zur Marine gewollt. Hatte gehofft irgendwann Seal zu werden, auch wenn es damals eigentlich nicht möglich gewesen wäre, weil ich eine Frau war.“

Er sah sie fragend an.

„Es gab damals ein Verbot für Frauen in bestimmten Positionen und für bestimmte Einsätze.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber es gab innerhalb des Militärs Widerstand dagegen, insofern hatte ich Hoffnung. Ich wollte mich beweisen, wollte zeigen, dass ich …“ Sie verfiel in Schweigen.

„Und dann?“

Sie schürzte die Lippen.

Heidenstein zog seine Schuhe aus, rückte dann weiter auf das Bett herauf. Er fasste sie nicht mehr an, als zuvor, lehnte sich nur mit dem Rücken gegen die Wand.

Sie verstand ihn, legte ihre Beine auf seinen Schoss. Es war eine angenehmere Position für sie, für ihre Hüfte.

Wie sollte sie weitermachen? „Wie gesagt: Das war etwa zur Jahrtausendwende“, meinte sie. „Und dann … Dann kam 9/11.“

Heidenstein schwieg, sah sie an, als wollte er fragen, was damit zu tun hatte.

„Ich bin mit nach Irak. Ich war mehr oder minder vom Anfang an dabei. Erst nur passiv, später aktiv. Der Krieg …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es war eigentlich alles schnell vorbei, aber niemand war auf das Chaos, was folgte, vorbereitet. Auf den Widerstand. Auf die kommende Unterdrückung. Auf die Guerillataktiken. Auf den ganzen Scheiß.“ Es war so schwer zu erklären. Er war nie in einer solchen Situation gewesen. „Jedenfalls: Wegen 9/11 gab es diverse neue Soldaten. Junge Soldaten. Auch mehr Frauen, deswegen durfte ich überhaupt in den aktiven Einsatz. So viele, die einfach etwas für ihr Land tun wollten. Bush. Der Patriotismus. Der ganze Scheiß. Die hatten alle keine Ahnung, worauf sei sich einließen. Na ja, jedenfalls bin ich damals da geblieben, aber … Ich hatte keine Führungsposition. Ich war halt Soldatin.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir waren in der Nähe von Umm Qasr positioniert. Und … Na ja, wie gesagt. Es war Chaos. Und unserer Commandant …“ Sie konnte sich noch genau an den Typen erinnern. Ein schmieriger, über die Maßen muskulöser Typ. Die Art von Kerl, die in einem Film auch das korrupte Militärarsch gewesen wäre. „Ein gewisser Zachary Hale.“ Wieso wusste sie den Namen überhaupt noch? „Er war ein Arsch. Ein Sexist.“

„Was hat er getan?“, fragte Heidenstein.

Sie schüttelte den Kopf. „Du bist ein zu guter Zuhörer, weißt du das?“

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“

„Hale hat … Er hatte eine deutliche Meinung zu Frauen in der Army. Er hat mich die ganze Zeit davon geblockt im Rang zu steigen. Egal, was ich gemacht habe.“ Und sie hatte einiges versucht. Einige dumme Sachen. Einige Sachen, die wahrscheinlich ein objektiver Grund dagegen gewesen wäre, sie zu befördern. Nicht, dass es Hale je interessiert hatte. „Allerdings hat er einen Nutzen in Soldatinnen gesehen.“

Sofort spannte Heidenstein sich an. Er starrte sie an. „Hat er dich angefasst?“

„Nein. Mich nie. Aber … Andere. Er hatte immer recht gute Druckmittel. Es gab immer Einsätze, die gefährlicher waren. Und … Er hat die Gruppenzusammenstellung gemacht.“ Sie verzog das Gesicht. „Wie gesagt. Es war Chaos. Von allem, was ich gehört habe, gab es solche Ärsche damals überall. So viele neue Soldaten. Zu wenig Prüfung. Du hast sicher die Geschichten gehört.“

Heidenstein sah sie noch immer schockiert an, nickte dann aber.

„Jedenfalls. Ich war die Person, die lieber auf die Suizideinsätze gegangen ist. Aber ich habe es gehasst. Habe ihn gehasst. Ich wollte da weg.“ Sie schürzte die Lippen. „Das war das erste Mal, dass mich Michael kontaktiert hat.“

Heidenstein sah sie an. „Wie?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Michael ist ein Aasgeier. Das Chaos. Die Waffen. Die Informationen. Es war eine wunderbare Zeit für Söldner. Die Gegend da oben ist noch heute sehr lukrativ.“ Sie seufzte. „Er hat meine Frustration bemerkt, hat mir damals in einer Bar Geld für Informationen angeboten. Ich habe abgelehnt, habe ihn bedroht.“ Es war egal. Sie schüttelte wieder den Kopf. „Jedenfalls … Dann habe ich eine Chance bekommen. Mehr oder minder. Ich war verletzt worden bei einem Einsatz, bin aus dem aktiven Gebiet zurückgezogen worden. Und im Krankenhaus hat man mir etwas angeboten. Ich bin damals gut geheilt und … Na ja, du weißt wie es ist. Militärexperimente.“

„Experimente?“ Ein müdes, unsicheres Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Ist das jetzt die Origin-Story eines Superheldens?“

Sie lachte trocken. „Leider nicht. Aber wenn es nach den Ärzten gegangen wäre, hätte es das werden sollen. Das Militär … Na ja, Versuche für Supersoldaten gab es überall. Und sie hatten etwas … Eine Kur, die eigentlich gedacht war, Muskeln stärker und Knochen widerstandsfähiger zu machen. Frühe Gentherapie, wenn man so will.“

„Und du hast mitgemacht?“, fragte Heidenstein.

Sie schürzte wieder die Lippen, nickte. „Ja. Und es ist schief gegangen.“ Sie hob ihre linke Hand, die Prothese, die sie nicht abgemacht hatte, als sie sich vorher hingelegt hatte. „Es ist richtig schief gegangen. Mein Knochen hat eine Entzündung entwickelt und deswegen … Nun.“ Sie hielt ihm die Prothese entgegen.

Heidenstein schluckte, nahm die künstliche Hand in die seine. „Ich verstehe.“

„Ja“, murmelte sie. „Eigentlich sollte ich danach ehrenhaft entlassen werden. Aber ich wollte nicht. Ich konnte nicht …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht einfach wieder in die USA oder hierher zurück. Also hat man mich als Logistiker zurückgeschickt. Und dann war da wieder Hale. Jetzt in Basra.“ Es war einfach nur Pech gewesen. Sehr wahrscheinlich war es Pech. „Und er hat weitergemacht, wie bisher. Egal, was ich getan habe. Verdammt. Ich hatte damals lange nur einen Arm. Ich meine diese Prothese ist neu. Damals hatte ich nur … Eigentlich gar nichts wirklich. Und ich habe ihm dennoch einmal das Leben gerettet. Aber er … Er hat es am Ende noch umgeändert und …“

„Warum hat ihn nie jemand gemeldet?“, fragte Heidenstein.

„Weil die erste, die es versucht hatte, unehrenhaft entlassen wurde“, erwiderte Joanne und sah ihn an. „Es … Ist nicht so leicht.“

Heidenstein nickte.

„Jedenfalls. Dann war Michael wieder da. Er hat damals Waffen gehandelt. Hat sie von den einen geklaut und an die anderen verkauft. Die Widerstandsgruppen waren verdammt scharf auf die Waffen. Und … Er hat mir einen verflucht massiven Betrag angeboten, nur dafür im Lager für Ablenkung zu sorgen. Und … Ich habe eine Chance gesehen, Hale eins auszuwischen.“ Sie sah wieder zur Decke. „Ich weiß, dass es kleinkarriert war, aber ich war damals so wütend.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Ich hätte einfach nach Hause gehen sollen.“ Sie schloss die Augen. „Ich habe angenommen. Bin dahin gegangen. Dachte es würde leicht werden, aber es ist einfach alles schief gegangen. Und am Ende gab es eine Schießerei im Lager und Hale hat mich entdeckt und … Ich habe mich verleiten lassen. Ich habe ihn gejagt. Ich habe ihn erschossen.“ Wie jetzt Michael. Ja, es war eine schlechte Art der Problemlösung. „Aber ich war damals noch nicht so schnell. Wir haben gleichzeitig gefeuert und … Nun, ich habe dir einmal gesagt, wie ich mein Auge verloren habe.“ Unbewusst wanderte ihre Hand zu ihrer linken Schläfe.

„Du wurdest ins Auge getroffen“, erwiderte Heidenstein.

Sie nickte. „Genau. Das war Hale.“ Sie öffnete die Augen wieder, sah zur Decke. „Als ich aus dem Koma erwacht bin, lag ich in einem Dschungelkrankenhaus irgendwo im Kongo. Und Michael hat mir gesagt, dass man mich für den Angriff verantwortlich macht, dass man mich aber auch für tot erklärt hat. Er hat gesagt, dass er dafür gesorgt hat, dass er meinen Tod vorgetäuscht hat, damit ich entkommen kann. Und dann hat er mir ein Angebot gemacht.“ Sie holte tief Luft. „Ich wollte damals nur von allem weg. Und dann hat er mir gesagt, dass sie von Kapstadt aus arbeiten und …“ Kapstadt war der einzige Ort gewesen, wo sie in ihrer Jugend so etwas wie glücklich gewesen war. Hier hatte sie so etwas wie Freunde gehabt. „Und daher … Daher habe ich angenommen. Und habe Michael die ganze Zeit geglaubt …“

Stille senkte sich über sie.

Wie lange hatte sie jetzt geredet? Sie hatte so viel mehr erzählt, als sie eigentlich hatte erzählen wollen.

„Was ist mit deinen Eltern? Glauben die, dass du tot bist?“, fragte Heidenstein schließlich leise.

Sie machte einen verächtlichen Laut. Als ob es ihre Eltern wirklich interessiert hätte, hätten sie damals noch gelebt. „Meine Eltern sind zwei Jahre vorher gestorben“, erwiderte sie. „Bei einem Unfall.“

„Oh. Das …“

„Es ist egal“, erwiderte sie. „Meine Eltern …“ Ihre Stimme klang viel zu bitter. Verdammt. Es war so lange her. So lange. Sie seufzte nur.

Heidenstein atmete tief ein, sah sie an. „Ich verstehe, Pakhet.“ Er brachte sich zu einem Lächeln. Sah sie an. „Ich denke ich verstehe.“ Er zögerte. „Joanne.“

Sie schloss die Augen. Warum hatte sie ihm das erzählt? Warum war es ihr so wichtig? Was hatte sie erwartet, würde passieren? Hatte sie wirklich geglaubt, dass er dann fortlaufen würde? Nein. Nicht wirklich. Er nicht. Warum war er so ein Idiot?

„Was denkst du jetzt von mir?“, fragte sie.

Vielleicht war das der Grund gewesen, warum sie es ihm erzählt hatte. Sie wollte wissen, was er darüber dachte. Was er über Joanne dachte. Denn auch wenn sie es so lange verleugnet hatte: Sie war Joanne. irgendwo war sie noch immer Joanne.

Heidenstein musterte sie. „Ich denke, dass du verdammt viel Pech in deinem Leben hattest“, antwortete er. „Und dass es verdammt unfair war.“ Er lächelte matt. „Ich denke auch, dass du einige Sachen getan hast, die du jetzt bereust und dass es mir nicht zusteht, darüber zu urteilen.“ Dann hielt er inne, als würde er erst gerade ihre Frage verstehen. „Und falls es das ist, was du fragst: Ich halte dich deswegen nicht für einen schlechteren Menschen. Du bist mir noch immer sehr wichtig. Ich …“ Er schüttelte den Kopf, brach ab, lächelte. „Ich hoffe, das weißt du.“

Sie wusste es. Das und so viel mehr.

Ach, verdammt. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Sie richtete sich auf, ging in die Knie, lehnte sich zu ihm hinüber. Mit ihrer rechten Hand strich sie über seine Wange. „Ich weiß“, hauchte sie. „Natürlich weiß ich das, Idiot.“ Sie sah in seine Augen. Warum fühlte sie sich bei ihm so wohl? „Du verdammter Idiot.“ Dann lehnte sie sich zu ihm herüber, um ihn zu küssen.

Er erwiderte ihren Kuss, legte eine Hand auf ihre Wange.

Sie legte ihre Stirn gegen die seine, als sie sich voneinander lösten, schaute ihn an, küsste ihn noch einmal. Sie kam ihm noch näher, legte ihre Arme erst um ihn, ließ ihre Hände dann aber tiefer wandern, wollte sein T-Shirt ausziehen.

Doch Heidenstein hielt sie auf. Er hielt ihre Hand fest. „Nein, Joanne.“ Er suchte ihren Blick. „Nicht jetzt. Ich …“ Er leckte sich über die Lippen. „Joanne … Du bist nervlich am Ende, angetrunken und …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will die Situation nicht ausnutzen.“

Sie seufzte, stöhnte beinahe frustriert. Schließlich aber atmete sie durch, küsste ihn auf die Wange. „Idiot.“

Er lächelte entschuldigend, während sie sich auf das Bett zurückfallen ließ. Jetzt legte er sich vorsichtig neben sie, jedoch mit genug Abstand, als dass er sie nicht berührte. „Darf ich dennoch bei dir bleiben?“

Müde verdrehte sie die Augen, lächelte matt. „Es ist nicht so, als könnte ich dich aus deinem eigenen Zimmer vertreiben.“

Er lachte leise, rückte dann näher an sie heran.

Sie ließ es geschehen. Ausnahmsweise ließ sie es geschehen. Sie streckte sich, schaltete das Licht aus, atmete noch einmal tief durch. „Michael ist tot“, flüsterte sie leise.

Sie konnte es noch immer nicht glauben.

Heidenstein legte einen Arm um sie, griff nach ihrer Hand. „Ja. Das ist er.“

[26.11.2011 – X34 – Alt und neu]

Als Joanne am nächsten Morgen erwachte, lag sie in Heidensteins Armen.

Ein seltsames Gefühl erfüllte sie. Ruhe. Leere. Sie war verwirrt. Warum war sie angezogen, trug sogar ihren Jogginganzug?

Dann die Erkenntnis. Michael war tot. Er war wirklich tot. Sie war frei. Sie war wirklich frei.

Sie seufzte, rückte etwas von Heidenstein fort und musterte ihn. Und jetzt?

Müde legte sie ihre rechte Hand auf seine Wange, zog sie jedoch weg, als er die Augen öffnete.

Er lächelte sie an. „Guten Morgen.“

„Guten Morgen“, flüsterte sie.

Langsam kehrten die Erinnerungen an die vorherige Nacht, an das Gespräch, dass sie mit Heidenstein gehabt hatte, zurück. Ja, sie hatte ihm erzählt. Sie hatte ihm von ihrer Vergangenheit erzählt.

Er schien zu warten, dass sie noch etwas sagte, dass sie sonst irgendwie reagierte. Und sie musste. Sie sollte.

Noch immer spürte sie den Schmerz in ihrer Hüfte. Noch immer spürte sie einen Teil der anderen Wunden. Athea war am Vorabend auch nicht da gewesen.

Als sie nach einigen Minuten weiterhin schwieg, räusperte sich Heidenstein. „Joanne?“

Es fühlte sich so seltsam an, diesen Namen aus seinem Mund zu hören. Es fühlte sich so seltsam an, nach all den Jahren von irgendwem, der weder Robert, Michael, noch Smith war zu hören. Seltsam. Nicht falsch. Nur seltsam.

Sie seufzte. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Natürlich.“

„Kannst du mich vor den anderen weiterhin Pakhet nennen?“ Sie hielt inne. „Ich will mit den anderen darüber reden, aber … Bei richtiger Zeit.“

Heidenstein nickte, lächelte, legte eine Hand auf ihre Wange. „Natürlich.“

„Danke.“ Sie holte tief Luft, drehte sich dann um und richtete sich auf. Ihr rechtes Bein war im Vergleich zum Vortag seltsam taub. Wahrscheinlich hatte sie es am Vortag überanstrengt. Sie hatte zwar wenig getan, war aber stundenlang im Zimmer auf und ab gelaufen.

Ihre Prothese hatte den Akku verbraucht. Kein Wunder. Sie hatte sie über Nacht anbehalten, hatte sie auch nicht ausgeschaltet.

Sie schürzte die Lippen, löste die Prothese dann.

„Alles okay?“, fragte Heidenstein.

„Ja. Alles in allem …“ Sie konnte es immer noch nicht glauben. Sie konnte nicht glauben, dass sie wirklich Michael getötet hatte, dass wirklich nichts passiert war. Sie verstand, warum. Sie verstand, dass Alice und Hazel gut waren, dass sie schnell genug gehandelt hatten. Sie war dankbar. Dennoch … Sie hatte immer geglaubt, dass es nicht möglich wäre. Weil er es gewollt hatte. Er hatte gewollt, dass sie das glaubte. Und sie hatte es geglaubt.

Sie legte die Prothese auf den Nachttisch, rieb sich dann die Augen. „Es ist nur seltsam“, erklärte sie.

„Seltsam?“ Heidenstein richtete sich auf, rückte hinter sie.

„Zu denken, dass er wirklich tot ist.“ Zu denken, dass er sie solange kontrolliert hatte.

Sie schüttelte den Kopf.

Wie so oft legte er seine Hand beruhigend auf ihre Schulter. Es war mittlerweile ein so vertrautes Gefühl. „Es ist aber so. Es ist alles in Ordnung.“

Mühsam brachte sie sich zu einem Nicken, stand dann ganz auf, verlor aber beinahe das Gleichgewicht.

Schon stand Heidenstein bei ihr, hielt ihren Arm, um sie zu stabilisieren, erntete dafür jedoch einen missmutigen Blick.

„Es geht schon“, meinte sie. „Das Bein ist nur …“

„Wir können uns später darum kümmern“, meinte er.

Auch er war noch angezogen gewesen, hatte in seiner Hose und einem T-Shirt geschlafen.

Wieder nickte sie, ging dann zur Tür ins Wohnzimmer.

Hier lag Alice, hatte sich unter einer dünnen Stoffdecke aufs Sofa gelegt und schien seelenruhig zu schlafen, während auch Hazel hier eingeschlafen war. Sie lag wie eine Katze zusammengerollt auf dem Sessel, ebenfalls zugedeckt. Aus der Küche dran das Geräusch einer laufenden Kaffeemaschine.

Sie stolperte hinüber, fand Crash und Jack am Küchentisch, zwischen ihnen ein Spielbrett. Es musste aus Heidensteins nie genutzter Gesellschaftsspielsammlung kommen.

„Was macht ihr denn?“, fragte sie, bemüht leise zu sprechen, um Alice und Hazel nicht zu wecken.

„Uns die Zeit vertreiben“, erwiderte Jack. „Bis die beiden Süßen drüben aufwachen.“ Er zwinkerte.

Crash brummte warnend und auch Joanne hob eine Augenbraue.

„Meinst du nicht, dass die beiden etwas jung sind?“, murmelte Heidenstein, der ihr folgte, missmutig.

Jack hob die Hände. „Sorry. Nur ein blöder Spruch.“

„Sehr blöd“, erwiderten Crash und Joanne beinahe gleichzeitig.

„Sorry.“

Stille, dann holte Jack tief Luft, räusperte sich und wandte sich Joanne zu. „Wie geht es dir?“

Sie zuckte mit den Schultern, lächelte aber. „Überraschend gut, alles in allem. Danke.“ Sie sah zwischen ihnen hin und her, wollte sich eigentlich setzen.

Crash verstand, stand auf, bot ihr den Stuhl an.

„Danke.“ Beim Setzen streckte sie ihr Bein aus. Sie konnte wirklich nur hoffen, dass es besser wurde.

Crash nahm einen Becher aus dem Schrank, schenkte ihr Kaffee ein, stellte den Becher vor sie. Er brummte.

Sie sah ihn an, lächelte. „Danke, Großer.“

Ein Grinsen. Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Küchenzeile.

Sie trank. Es fühlte sich gut an.

„Du bist wirklich ein Junkie, oder?“, meinte Jack, als sie ein entspanntes Seufzen hören ließ.

Sie schüttelte den Kopf, lächelte aber. „Ja, ich bin ein Kaffeejunkie und ich gebe es zu.“ Sie sah zu Crash, der schmunzelte. Dann holte sie tief Luft. Eigentlich hatte sie warten wollen, doch dann wiederum … Jack war am Vortag dabei gewesen und Crash vertraute sie sowieso.

Sie sah zwischen den beiden und Heidenstein hin und her. „Ich“, begann sie, brach jedoch noch einmal ab. „Ich habe mich euch nie wirklich vorgestellt. Mein richtiger Name ist Joanne.“

[26.11.2011 – R07 – Versprechen]

Sie fuhren vor der Werkstatt vor.

Heidenstein seufzte. „Ich möchte noch einmal festhalten, dass ich es als Arzt ungünstig finde, dass du hier bist.“

Joanne sah zu ihm, zuckte mit den Schultern. „Ist notiert.“ Sie wusste selbst, dass sie eigentlich liegen sollte. Doch sie wollte mit Robert sprechen. Nach dem Chaos vom Vortag wollte sie mit Robert sprechen.

Sie war nicht sicher warum. Wahrscheinlich, weil sie das Gefühl hatte, dass es dadurch realer werden würde. Sie brauchte Robert einfach.

Es war gegen Mittag, Robert sollte bald Mittagspause machen. Und dann … Ach, sie wollte nur mit ihm reden.

Heidenstein zog die Handbremse an, stieg aus und kam um den Wagen herum. Natürlich. Er wollte ihr helfen. Aber so schlimm war es nicht. Sie weigerte sich einzugestehen, dass es so schlimm war. Sie kam schon irgendwie klar.

Sie hob ihre Beine aus dem Wagen heraus, stand dann vorsichtig auf.

Heidenstein hatte ihr sogar Krücken angeboten, doch sie hatte darauf verzichtet. So lange sie langsam und vorsichtig war, konnte sie immerhin laufen. Es ging. Sie konnte stehen. Sie konnte laufen. Sie musste nur langsam sein.

Als Heidenstein noch immer an ihrer Seite stehen blieb, warf sie ihm einen strafenden Blick zu. „Ich fühle mich nur noch eingeschränkter, wenn du dich so anstellst.“

„Ich bin ein verantwortungsvoller Arzt“, erwiderte er.

„Du bist ein guter Freund. Und als Freund würde ich dich bitten, mich nicht zu behandeln, als wäre ich irgendwie aus Glas. Ich kann stehen. Die Heilzauber haben schon geholfen.“

Er seufzte, versuchte sich aber zu entspannen. Dennoch ging er langsam, um neben ihr zu bleiben, während sie zur Tür, die zum Kundenempfang, hinter dem Roberts Büro war, hinüberhumpelte. Es funktionierte irgendwie. Im Moment zuckte auch ihr Bein nicht weiter.

Sie erreichten die Tür, öffneten sie. Einer der Azubis war im Empfang, sah auf.

„Kann ich was für Sie tun?“, fragte er. Dann erkannte er sie. „Ach, sie sind die eine Freundin von Mr (Roberts Nachname), nicht?“

Joanne nickte. „Ja, bin ich.“ Sie lächelte. „Kann ich ihn sehen?“

Misstrauisch musterte der junge Mann sie, nickte dann aber, stand auf. „Moment.“ Er stand auf und ging in den eigentlichen Werkstattsbereich.

Vorsichtig lehnte Joanne sich gegen die Theke, um ihre Beine ein wenig zu entlasten. Schon bewegte sich Heidenstein weiter zu ihr, doch sie warf ihm einen warnenden Blick zu.

Es dauerte ein paar Minuten, ehe die Tür sich öffnete und Robert hereinkam. Er trug einen Blaumann, wischte sich gerade mit einem Tuch Schmieröl von den Fingern. Überraschung zeichnete sich in seinem Blick ab, als er sie erkannte. „Jo …“, begann er, verbesserte sich: „Pakhet.“ Sein Blick wurde besorgt, als er die Reste der Wunden in ihrem Gesicht sah, die bei der Heilung soweit keinen Vorrang gehabt hatten.

Sie seufzte. „Joanne ist okay“, erwiderte sie leise. „Hast du Zeit?“

Robert sah von ihr zu Heidenstein und dann wieder zu ihr. „Eigentlich … Ja, klar. Was ist passiert?“

Nun zögerte Joanne. Sie waren hier allein, oder? Es kam ihr etwas seltsam vor. Sie war immer noch paranoid, was diese Dinge anging. Dennoch. Sie seufzte. „Michael ist tot.“

Verwirrung. Robert runzelte die Stirn, ehe er zu verstehen begann. Dann Schock. „Wollen wir uns in mein Büro setzen?“

Sie nickte.

Er öffnete die Schranke am Rand der Theke, ließ sie durch.

Natürlich bemerkte er ihr Hinken, suchte ihren Blick. „Ist alles okay?“

„Mehr oder minder“, erwiderte sie. „Ich wurde verletzt.“

„Wie?“

Sie schwieg, bis sie in Roberts chaotischen Büro waren, die Tür hinter ihnen geschlossen war und Robert begann, ein paar Akten von einem weiteren Stuhl zu räumen, um Platz für Heidenstein zu machen.

„Die Kurzfassung ist, dass Michael mich verraten hat. Und ich habe ihn getötet. Und …“ Sie sah ihn an. „Robert. Ich höre auch. Ich höre wirklich auf.“

Robert hielt inne, sah zu ihr. „Wie meinst du das?“

„Wie ich es sage“, erwiderte sie. „Ich höre auf.“ Ihr Blick wanderte zu Heidenstein. „Ich weiß noch nicht genau, was ich danach mache. Aber ich höre mit der Söldnerei auf. Und dann …“

Robert war still. „Okay.“ Mehr schien ihm dazu nicht einzufallen. „Okay.“ Er seufzte, hob die Hand, rieb sich die Stirn, verteilte dabei einen Teil des Schmieröls. „Und … Und deine aktuelle Aufgabe?“

„Das bringe ich zu Ende“, antwortete sie. „Nel hat Murphy entführen lassen. Und jetzt …“ Sie schüttelte den Kopf. Es war schwer diese Dinge Robert zu sagen.

Natürlich verstand er auch so, schluckte. Dann aber räumte er die letzte Akte vom Stuhl und kam zu ihr. „Sorry. Ich bin nur etwas … Wow. Du hast es echt raus, einen zu schocken.“ Er bückte sich, legte die Arme um sie. Für einen Augenblick umarmten sie sich, ehe er sich wieder von ihr lösteund sich zu Heidenstein umsah, zögerte, wandte sich aber wieder Joanne zu. „Und du bist hergekommen, um mir das zu sagen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich wollte einfach mit dir reden“, erwiderte sie. „Und außerdem gibt es jemanden, der mich sonst am liebsten am Bett festbinden würde.“ Sie sah zu Heidenstein.

Er räusperte sich unsicher, brachte sie zu einem Lächeln.

„Und das auf die ärztlich, überbesorgte Art“, fügte sie hinzu. „Nicht … Irgendwie anders.“


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Nächstes Kapitel: 10.12.2018 Komplett anzeigen
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Das nächste Kapitel kommt erst am Samstag, da dieses etwas länger war ;) Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt am Dienstag. :) Komplett anzeigen
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Das nächste Kapitel kommt Freitag. Komplett anzeigen
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Das nächste Kapitel kommt am Sonntag, den 30.12. Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt am 2.1.2019 Komplett anzeigen
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Das nächste Kapitel kommt am Samstag, den 5.1.

Ich freue mich wie immer sehr über Feedback! Komplett anzeigen
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Das nächste Kapitel kommt schon Montag! Komplett anzeigen
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Ich sage es direkt: Nein, das nächste Kapitel wird sich nicht mit dem Einsatz befassen, da dieser relativ klein und irrelevant für die eigentliche Story war. Sollte dennoch Interesse daran bestehen, wäre ich allerdings überlegt den Einsatz und ein paar der anderen die zwischen den Kapiteln passieren, in eine ausgelagerte Story zu packen.

Das nächste reguläre Kapitel kommt Donnerstag! Komplett anzeigen
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Ich weiß noch nicht, wann ich das nächste Kapitel posten werde. Entweder nächsten Samstag oder - sollte das nichts werden - eventuell erst Dienstag. Nur als Vorwarnung. (Dafür ist dieses Kapitel auch etwas länger!) Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel wird am Freitag kommen! Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt Dienstag. Komplett anzeigen
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Das nächste Kapitel kommt am Montag :3 Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt leider erst nächsten Montag. Habe diese Woche Abends wenig Zeit zum Posten. ;) Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel am nächsten Montag ;) Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt am Freitag.
Sorry, dass ich dieses gestern vergessen hatte :( Komplett anzeigen
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Ich bin gerade etwas gestresst (wie ihr vielleicht auch an ausbleibenden Antworten merkt). Daher weiß ich noch nicht sicher, wann das nächste Kapitel online gehen wird! Habt etwas Nachsicht mit mir, ja? Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt in einer Woche, da dieses recht lang ist! Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel Donneratag. Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt am Montag Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt bereits Mittwoch. Komplett anzeigen
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Sorry, dass ihr auf das Kapitel warten musstet. Ich bin nicht dazu gekommen, es zu posten.

Nächstes Kapitel kommt Freitag! Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt wohl erst nächste Woche Mittwoch, da ich am Montag verhindert bin. ^^" Komplett anzeigen
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Dies ist das letzte Kapitel der ersten Sequenz. Die zweite Sequenz, Menschen, startet in zwei Wochen am Montag! Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt erst Freitag Komplett anzeigen
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Und falls es sich jemand fragt: Ja. Ja, ich habe traurigerweise wirklich Informationen gefunden, wie viel Menschen auf dem Schwarzmarkt wert sind. <_____> Es ist so furchtbar. Komplett anzeigen
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Mehr zu Joanne könnt ihr aktuell übrigens in meinem WriteInkTober-Projekt Vergessen & Verloren Komplett anzeigen
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Nächstes Kapitel kommt erst in einer Woche, da dieses so lang ist ;) Komplett anzeigen
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Zu dem Kapitel gibt es noch einen kleinen Zusatz ;) Komplett anzeigen

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Von:  Sunae
2022-09-10T16:24:01+00:00 10.09.2022 18:24
Hm, ist jetzt ne Weile her deshalb habe ichs nicht mehr so im Kopf, aber was wurde nochmal aus der Söldnerin, die Michael bei sich hatte?

Oh und du brauchst noch nen Nachnahmen für Robert. Außer du willst ihn Robert (Roberts Nachnahme) nennen? Was ganz cool wäre, aber vermutlich nicht hilfreich.
Von:  Sunae
2022-09-10T15:59:08+00:00 10.09.2022 17:59
Sag mir nicht Michael ist eine Alegorie für Faschismus? Denn Faschismus basiert ja berüchtigterweise auf dem Erscheinungsbild und der Illusion von Macht und in dem Fall Kontrolle.
Hab ja schon n vorigen Antworten schon darüber geredet, aber erst jetzt lese ich die mögliche Parallele dazu. Nett.
Von:  Taroru
2022-08-20T23:39:29+00:00 21.08.2022 01:39
mhm... ich war mir ziemlich sicher, das ich hier schon einen kommi da gelassen hatte o.O
oder ist mein gedächnis doch noch nicht wieder hergestellt.... schwierig....
egal! irgendwann läuft das wieder besser *klopft auf holz*

Zitat: „Ach, sie sind die eine Freundin von Mr (Roberts Nachname), nicht?“
das hat mich echt zum lachen gebracht :-D
ich nehme an, das hier noch sein Name eingetragen werden soll? :-p
ich mag es auch sehr wie heidenstein um sie besorgt ist, das ist nicht nur der arzt in ihm XD
generell mag ich es, wie sie selbst versucht mit der situation klar zu kommen, langsam und dennoch irgendwie in eile, weil sie es noch nicht so richtig glauben kann. ich finde das wirkt sehr realistisch :-)

Von:  Taroru
2022-08-10T15:24:33+00:00 10.08.2022 17:24
ich finde es gut das sie leute gefunden hat, denen sie vertrauen kann :-)
gefällt mir echt gut (und ich mag den haufen immer noch XD immer ein stückchen mehr XD )
viel mehr kann ich dazu gar nicht sagen o.o
mag immer noch gerne weiter lesen :-)
Von:  Sunae
2022-07-02T18:43:16+00:00 02.07.2022 20:43
Das ist also die Backstory für ihre jetzige Version. Ich erkenne definitive wie alles zustande kam, aber auch Dinge die neu zu sein scheinen.
Nun bin ich gespannt wann diese eine Figur auftauchen mag.
Von:  Taroru
2022-06-21T20:38:12+00:00 21.06.2022 22:38
uff... okay das war viel input, man hat hier echt viel über sie erfahren.... und ich kann heidenstein nur recht geben, sie hatte verdammt viel pech ^^°
eigentlich kann jetzt alles nur noch besser werden, oder? ich hoffe es jedenfalls ^^°
Antwort von:  Alaiya
21.06.2022 22:48
Ja. Das hier ist das große Background-Kapitel. Und das Kapitel in dem aus Pakhet nun Vollends Joanne wird.
Antwort von:  Taroru
22.06.2022 06:37
das hat man gemerkt, alleine wie er ihren namen ausspricht XD
Antwort von:  Alaiya
22.06.2022 10:37
Er ist halt ein alter Romantiker! xD
Von:  Sunae
2022-06-16T07:21:29+00:00 16.06.2022 09:21
Ich frage mich ob das jetzt Murphys ursprünglicher Körper war?
Netter Boundingmoment.
Antwort von:  Alaiya
16.06.2022 11:10
Ja, war es. Und danke dir ^^
Von:  Taroru
2022-06-14T18:26:44+00:00 14.06.2022 20:26
ich mag die beiden :-D
sie tun sich gegenseitig gut, das gefällt mir (vor allem auch das hin und her zwischen ihnen, sie beruhigen sich gegenseitig)
ich mag weiter lesen :-D jetzt! XD
Antwort von:  Alaiya
14.06.2022 20:28
Am Freitag geht es weiter! (Und oh boy, das Freitagkapitel, das ist ein Kapitel!)
Antwort von:  Taroru
14.06.2022 20:31
ich kann es kaum erwarten :-D
freu mich drauf, vor allem bei so einer ankündigung :-D
Von:  Sunae
2022-06-13T16:21:39+00:00 13.06.2022 18:21
Ich würde ja so viele Freunde wie möglich an einen Ort versammeln, damit ich sie überwachen kann, falls ein Assasine zu ihnen kommt.
Wobei, der Weg dorthin könnte manchen zum Verhängnis werden, besser wäre es wohl wenn sie das Gebäude in dem sie sich befinden nicht verlassen, sich eventuell in Toilettenräumen verschanzen, oder unter vielen Leuten.

Ich mag die Anfangssequenz, denn sie zeigt dass Pakhet so unter seiner Macht war, dass sie ihn gatnicht mehr als einfachen Mann erkennt, sondern als diese Kraft, die immer über ihr schwebt. Vielleicht wird dieses Gefühl auch zu einem wiederkehrendem Thema, eine Art Verfolgungswahn der sie an Momenten der großen Anspannung verfolgt.
Außerdem hab ich ja deine, puh Schaddow, Night, Raider, was wars noch gleich... Google sagt Shaddowrun, danke Google<3
Version gelesen, auf die sie ja glaube ich basiert hat. Also hat sie quasi zu ihrem OG alter Ego aufgeholt, lovely.

Beim lesen dachte ich daran, wie meine besser geschriebenen Charaktere damit umgehen würden.
Der erste würde ihn einfach reanimieren und so tun als wäre er noch am Leben, die zweite würde ihn essen und sich Hilfe bei Freunden suchen und die letzte würde ziemlich offen darüber reden was geschehen ist, versuchen alles mit Gewalt zu lösen und sich vermutlich selbst den Strick ziehen. Glaub nicht dass meine Leute besonders clever vorgehen würden, aber es wäre hella entertaining.
Antwort von:  Sunae
13.06.2022 18:28
Ähm besser geschrieben in dem Sinn dass sie besser als die meisten meiner Charaktere sind, nicht deiner.
Beim abschicken hab ich gemerkt, dass das missverständlich klingen könnte 💦
Von:  Taroru
2022-06-03T22:32:52+00:00 04.06.2022 00:32
das klingt doch nach so was wie ein plan o.o
bin gespannt was in den safehäusern zu finden ist ^^°
und ob er wirklich totmannschalter hatte, und wenn ja sind die bestimmt nicht so einfach zu hacken ^^°
du machst es aber auch wieder spannend :-D
(mir wird smith jetzt sympatischer XD )


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