Herzkristall von Enrico ================================================================================ Kapitel 1: ~Kristalinas~ ------------------------ Durch das Vergrößerungsglas, kann ich den Kristall hundert Mal größer sehen. Ich habe ihn in einen Schraubstock eingespannt, damit er nicht verrutschen kann. Noch ein letzter Schliff, dann ist es vollbracht. Ich konzentriere mich so stark, dass mein Blick sich trübt. Auf meiner Stirn bilden sich Schweißperlen. Jetzt darf ich keinen Fehler machen, sonst ist die Arbeit der letzten drei Wochen umsonst gewesen. Ich blinzle den trüben Schleier weg, mit der Zunge fahre ich mir angespannt über die Lippen. Nur noch ein kleines Stück, dann ist die Rille in der Oberfläche perfekt. Meine rechte Hand zittert, doch es muss mir gelingen eine gerade Linie zu ziehen. Ich wage nicht zu atmen. Nur noch ein kleines Stück. Geschafft! Ich lege den Dremel aus der Hand und nehme eine Pinzette. Mit ihr greife ich den dünnen Streifen, den ich zuvor aus einem anderen Kristall geschnitten habe und lege ihn in die Ausfräsung, vorsichtig drücke ich ihn an. Er passt haargenau. Endlich! Die Anspannung fällt von mir ab, ich lege alles bei Seiten und spanne ich das Werkstück aus. Stolz betrachte ich es. Der Kristall ist faustgroß und hat die Form eines Herzens, mit zwei Kammern. Langsam beginnt er in einem blasen Blau zu pulsieren, die Intensität nimmt zu, bis er in der Farbe des Meers leuchtet. Die Energie durchströmt jeden Winkel, der Stein erwärmt sich zunehmend. Aufgeregt springe ich vom Stuhl. Ich werde ihn Vater zeigen, der wird Augen machen, wenn ich damit meinen Kristalina wieder zum Leben erwecke. Ich puste in die Kristallkugel über meinem Schreibtisch, das Licht in ihr erlischt. Das Herz in meiner Hand reicht als Lichtquelle, um mich im finsteren Keller zurecht zu finden. Um mich herum tanzen die Schatten von Werkzeugen und Gerätschaften. Ich steige über einige Rohkristalle am Boden und taste mich bis zur Holztreppe. Als ich sie erreiche, muss ich über den Rücken eines unfertigen Kristalina steigen. Es sollte einmal ein Löwe werden. Ansehen kann man ihm das allerdings nicht mehr. Ihm fehlt der Kopf, mit der Mähne und alle vier Gliedmaßen. Ich habe seit vier Monaten nicht mehr an ihm gearbeitet. Er dient nur noch als Rohstoffquelle, für meinen derzeitigen Favoriten. Ich steige über ihn, dann eile ich die Treppe hinauf. Das Holz der Stufen knarrt unter meinen Schritten. Hoffentlich ist Vater nicht schon auf dem Weg zur Arbeit. Wenn ich mit einem neuen Projekt beschäftigt bin, vergesse ich schnell die Zeit. Auch jetzt habe ich keine Ahnung, wie lange ich schon hier unten bin. Laut krachend schlage ich die Kellertür auf und schaue mich im Wohnraum um. Der Tisch in der Mitte ist verlassen, nur noch eine leere Tasse und ein verwaister Teller, weißen darauf hin, dass mein Vater hier gesessen haben muss. Die Wohnungstür steht offen, eine dunkle Gestalt hebt sich vor dem hellen Hintergrund ab. Meine Augen haben sich noch nicht an das grelle Tageslicht gewöhnt, trotzdem bin ich mir sicher, dass der schemenhafte Schatten meinem Vater gehört. Die breiten Schultern und der dunkle Anzug, sind typisch für ihn. „Ich bin fertig!", platzt die Neuigkeit aus mir heraus. Vater ist stehen geblieben, er dreht sich nach mir um. Der Adler auf seiner Schulter legt den Kopf schief, sein Schnabel steht offen, seine Flügel liegen eng am Körper. Er ist von Kopf bis Fuß mit lebensechten Federn bedeckt, die sein kristallines Innere verbergen, nur aus seiner Brust dringt ein schwaches Licht, das verrät, dass er kein echtes Tier ist. Ich stürme auf die Beiden zu und bleibe neben einem hüfthohen Wolf stehen. Sein Kopf hängt schlaff herab, seine eisblauen Augen sind leer. Er ist nur eine Hülle, kein Wunder, immerhin halte ich sein Herzstück in Händen. Den pulsierenden Kristall strecke ich meinem Vater entgegen. Er schaut auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Ich habe keine Zeit, mein Junge!" Er braucht nicht mehr zu sagen, ich weiß auch so, dass er zur Arbeit muss und ich ihn mal wieder tagelang nicht sehen werde. Was ist es wohl dieses Mal? Eine Ratssitzung oder eine Geschäftsreise? Meine Laune kühlt sich bis zur Gleichgültigkeit ab. Ich lasse die Schulter fallen und nehme meine Arme zurück. „Und meine Erfindung?“, frage ich. „Darüber sprechen wir am Wochenende. Ich muss jetzt los.“ Er geht ohne einen Blick zurück. Ich seufze schwer und sehe auf den Kristalina in Wolfsgestalt herab. Anders, als seine Artgenossen, ist er komplett aus Kristall gefertigt. Selbst sein Fell besteht aus Kristallfäden, die seidig schimmern und sich weich anfühlen, wenn man sie berührt. Ich lege das pulsierende Herz in seinen Rücken. Es versinkt im Inneren des Wolfes. Der Kristalina leuchtet, sein Kopf erhebt sich, die Augen blitzen auf. Er beginnt sich zu strecken und testet seine Beweglichkeit. Gespannt warte ich darauf, ob das Update wie geplant funktioniert. Der Kopf des Wolfes dreht sich zu mir. Er legt die Ohren zurück und schaut mich fragend an. Ich sehe mit traurigem Blick zurück. Ob er meine Mimik lesen kann? „Was hast du Karak?" Meine Augen weiten sich vor Erstaunen. Er fragt mich tatsächlich, nach meinem Befinden, aber versteht er wirklich, dass es mir nicht gut geht? Ich beschließe ihn zu testen. „Mein Vater ist zur Arbeit und ich bin mal wieder allein." Der Wolf schaut mitleidig, er reibt seine Schnauze an meinem Bein, während er mich von unten herauf ansieht. „Du bist nicht allein. Ich bin doch hier!" Ich seufze gequält. Bin ich wirklich schon so vereinsamt, dass ich meinem Kristalina Gefühle einimpfe, um nicht allein zu sein? Die Antwort ist so bitter, dass ich noch einmal seufzen muss. Ich streichle dem Wolf über den Kopf. So ist das nun mal, als Sohn des Chefs der größten Kristalina Fabrik des Landes. „Komm, gehen wir zur Schule!", beschließe ich und verlasse mit Isegrim das Haus. Kapitel 2: ~Ein Schmetterling zum Schulanfang~ ---------------------------------------------- „Ivie kommst du?“, rufen ihre Eltern. Das kleine Mädchen, mit den langen blonden Haaren, die sie zu zwei Zöpfen zusammen gebunden hat, ist vor dem Schaufenster eines Geschäftes stehen geblieben. Es ist ihr erstes Mal, in der großen Stadt. Noch nie zuvor haben ihre himmelblauen Augen, so viele Menschen und Häuser gesehen. Die vielen unterschiedlichen Düfte überwältigten sie, ebenso, wie die bunten Angebote in den Schaufenstern. Ivie weiß nicht, wohin sie zuerst sehen soll. Heute Morgen ist sie besonders früh aufgestanden. Die Mutter hat sie vor Sonnenaufgang geweckt und ihr ihr schönstes Sommerkleid angezogen. Der weiße Stoff fühlt sich weich an, er riecht nach Himbeeren. Die daumenbreiten Träger sind blau gepunktet. Über ihre Taille zieht sich ein rotes Band. Nur zum Geburtstag oder anderen Festlichkeiten, darf sie es tragen. Ivie hat sofort gewusst, dass heute ein ganz besonderer Tag sein muss. Die Mutter hat ihnen Essen und Trinken eingepackt, dann haben sie den Vater bei den Ställen abgeholt. Er ist schon vor ihnen aufgestanden, hat die Kühe gemolken und gefüttert, damit sie so früh wie möglich los konnten. Beide haben Ivie an die Hand genommen. Sie ist zwischen ihnen gelaufen und hat immer wieder gefragt, wohin sie denn gehen. Mutter und Vater haben nur gelächelt, aber nichts gesagt. Gemeinsam haben sie den Hof verlassen und sind zur Bushaltestelle gelaufen. Es ist Ivies erstes Mal gewesen, dass sie in einen Bus gestiegen ist und mit ihm fahren durfte. Ihre Eltern sind sonst jeden Weg zu Fuß gegangen. Der Bus ist zu teuer, haben sie ihr oft erklärt. Voller Vorfreude hat sich Ivie auf einen der Sitze gesetzt und mit den Beinen gewippt, während sie aus dem Fenster schaute und der vorbeifliegenden Landschaft zusah. Nun ist sie hier und weiß noch immer nicht warum. Mutter und Vater sind vor der Eingangstür eines Geschäftes stehen geblieben, sie warten auf Ivie, aber das kleine Mädchen kann sich nicht vom Anblick des Schaufensters losreißen. Auf vier Absätzen, die mit weißen Samt ausgelegt sind, stehen kleine und große Tierfiguren. Ganz oben sitzen zwei Füchse. Ihre Schnauzen berühren sich, als wenn sie einander küssen wollen. Über ihnen ist ein Schild angebracht, auf denen Symbole und Zahlen zu sehen sind. Ivie weiß, dass es Buchstaben sind, aber sie kann nicht lesen. Sie möchte wissen, was dort geschrieben steht, aber auch ihre Eltern wissen mit diesen Zeichen nichts anzufangen. Es gibt niemanden der ihr den Text vorlesen kann, so wandern Ivies Augen weiter über die Tiere im Schaufenster. Auf der zweiten Ebene stehen Hunde und Katzen in verschiedenen Formen und Farben. Ivie hat das Gefühl, von ihren Augen angestarrt zu werden. Sie rechnet jeden Moment damit, dass sich die rote Katze, mit den dunklen Streifen, bewegt, aber sie tut es nicht. Ihr Fell ist samtig, in Ivie wächst das Verlangen, sie streicheln zu wollen. Sie legt ihre Finger auf die kühle Scheibe und drückt ihre Nase am Glas platt. Ein kreisrunder Wasserdampffleck bildet sich vor ihrem Mund. Wenn sie doch nur durch die Scheibe greifen könnte. Einen Absatz tiefer, sitzen bunte Vögel auf Stangen. Sie schillern in allen möglichen Farben des Regenbogens. Sofort verliebt sich Ivie in den Blauen, mit dem langen gelben Schnabel. Ihre kleinen Knopfaugen mustern das glänzende Gefieder. Hat der Vogel sich gerade bewegt? Sie blinzelt erschrocken und sieht noch einmal hin, doch sie muss sich getäuscht haben, der Vogel sitzt unbeweglich da, wie zuvor. Ihr Blick gleitet zur untersten Ebene der Stufen im Schaufenster. Schmetterlinge, in vielen verschiedenen Größen und Formen, liegen dort aus. Einige sehen aus, wie die Anhänger einer Kette, andere so lebensecht, wie die Schmetterlinge, denen Ivie auf der Weide zu Hause nachjagt. Ivie spürt warme Finger, die sich um ihre Hand legen und sie sanft aber bestimmt mit sich ziehen. Erst jetzt gelingt es ihr, sich vom Anblick des Schaufensters zu lösen. Sie sieht auf und in das lächelnde Gesicht ihrer Mutter. „Komm Schatz! Du darfst dir die Tiere gleich von Nahem ansehen.“ Das Strahlen in den Augen ihrer Mutter wird heller. Ihr Lächeln überträgt sich auf das Mädchen. Ivies Augen leuchten heute so hellblau, wie der Himmel über ihnen. Fröhlich läuft sie an der Hand ihrer Mutter weiter, bis sie den Vater erreichen, der für sie die Tür des Geschäftes aufhält. Mit stolzgeschwellter Brust sieht er Ivie dabei zu, wie sie die Stufe erklimmt und mit ihrer Mutter das Geschäft betritt. Dem blonden Mädchen bleibt der Mund offen stehen, ihre Augen weiten sich: Dicht an dicht drängen sich Menschen. Ivie sieht nur Beine und Hintern, niemand achtet auf sie. Eine dicke Frau, in einem braunen Kleid, dass ihr knapp über die Knie geht und ihre stoppeligen Beine enthüllt, geht einige Schritte rückwärts, ohne zu sehen, wo hin sie tritt. Sie kommt Ivie so nah, dass diese erschrocken zurück weicht, bis sie die Beine ihrer Mutter im Rücken spüren kann. Ängstlich greift sie nach ihrem Arm und zieht ihn eng an sich. Hier drin ist es ihr zu voll, sie wird keinen Schritt mehr allein gehen. Hilfesuchend blickt das Mädchen in das Gesicht der Mutter. Diese lächelt sie aufmunternd an. Als auch ihr Vater zu ihnen tritt, entspannt sich Ivie. Er legt ihr seine Hand auf die Schulter, seine Nähe gibt ihr das Gefühl von Geborgenheit. Sie findet ihr Lächeln wieder und wagt einen neuen Blick durch das Geschäft. Überall sind Tische aufgestellt, auf die ein weißer Samtstoff gezogen ist. Zwei davon stehen direkt vor ihr, drei an der rechten Wand. Durch das weite Schaufenster, fällt genügend Licht, um das Geschäft auszuleuchten. Links von ihr steht ein Regal, mit vielen Fächern in unterschiedlichen Größen. Niemand schenkt den Tieren dort Beachtung. Alle Menschen drängen sich um die fünf Tische. Ganz unten sitzt ein kleiner Welpe mit halbrunden Schlappohren, schwarzen Knopfaugen und einem Kopf, der viel zu groß für den kleinen Körper ist. Das braune Fell hat einen seidigen Glanz. Ivie verspürt den unbändigen Drang, diesen Hund streicheln zu müssen. Sie löst sich von der Mutter und läuft wie hypnotisiert los. Das Mädchen hebt den Hund aus dem Regal, er bewegt sich nicht und ist schwer wie ein Stein. Für Ivies kleine Arme, zu viel Gewischt, um es tragen zu können. Sie stöhnt und stellt den Hund auf dem Boden ab. Der Kopf des Tiers dreht sich zu ihr, er sieht ihr direkt in die Augen. Ivie stockt der Atem, sie erschrickt und fällt auf den Hintern. Verwirrt bleibt sie sitzen und blickt in die schwarzen Knopfaugen zurück. Sie hat auf einmal das Gefühl, dass ihre Gedanken nicht mehr ihr gehören. Es tauchen Bilder in ihrem Kopf auf, die unnatürlich bunt und strahlend hell sind: ...~*~... Ivie sitzt nicht mehr im Geschäft auf dem Boden, sondern auf einer grünen Wiese, unter einem mächtigen Apfelbaum. Der dicke Stamm ist von breiter Rinde überzogen, die tiefe Risse aufwirft. Er ist weit verästelt und seine Blätter rauschen beruhigend im Wind. Es duftet nach frisch gehauenem Gras und Honig. Der Himmel über ihr ist blau und wolkenlos. Die Sonne bricht in sanften Strahlen durch das Blätterdach und wärmt ihre Haut. Sie fühlt sich wohl und auf eine seltsame Weise zufrieden. Der Welpe von eben, liegt in ihrem Schoß, er ist lebendig geworden und rollt sich auf den Rücken. Alle vier Pfoten streckt er ihr entgegen und lässt seine lange, rosa Zunge weit aus dem Maul heraus hängen. Sein kurzer Pinselschwanz wedelt aufgeregt hin und her. „Sei meine Freundin!“, spricht er zu ihr, ohne wirklich etwas zu sagen. Es sind keine Worte die Ivie hört, mehr ein Gefühl in ihrem Herzen. Dabei Kitzelt es in ihrem Kopf, das fühlt sich lustig und seltsam zugleich an. „Ivie, Ivie! Was hast du denn? Komm doch zu dir!“ Ivie ist, als wenn dieser Ruf von weit her kommt. Er ist mehr ein Flüstern im Rauschen der Blätter, als die energische Stimme, die sie sonst von ihrer Mutter kennt. Der Welpe rollt in ihrem Schoß hin und her. Es gelingt Ivie nicht sich von seinem Anblick zu lösen. Wieder hört sie die Frage in ihrem Herzen: „Willst du meine Freundin sein?“ Sie will gerade Antworten, als sie zwei starke Hände unter den Armen packen und hoch heben. Der Zauber verschwindet und mit ihm die Blumenwiese. ...~*~... Ivie ist wieder in dem kleinen, muffigen Geschäft, durch das sich etliche Menschen zwängen. Verwirrt sieht sie sich um. Wo ist der Welpe und der Apfelbaum, wo der strahlend, blaue Himmel? Das Mädchen vermisst das warme Gefühl, dass ihr Herz eben noch ausgefüllt hat. Sie sieht ihren Vater ungläubig an, seine graublaue Augen mustern sie besorgt, sein Schnurrbart wackelt hin und her, wie er es immer tut, wenn er beunruhigt ist. Ivie legt fragend den Kopf schief. Ihr Vater sieht an ihr vorbei, sein Blick verfinstert sich, seine Augenbrauen ragen tief in die Mitte seines Gesichtes. „Was hat dieses Ding mit meiner Tochter gemacht?“, fragt er ernst. Ivie sieht über die Schulter zurück. Ihr Vater hat seine Worte an einen jungen Mann gerichtet. Er trägt eine braune Lederschürze, die am Bauch abgenutzt und Fleckig ist. Sein Kinnbart ist lustig zusammen gezwirbelt. Ivie muss schmunzeln. Beschwichtigend hebt der Mann die Hände und lächelt sanft, während er sich um eine Antwort bemüht: „Ihr Tochter hat nur einen Film gesehen. Der Welpe ist so programmiert, dass er jedem, der ihm in die Augen blickt, Bilder in den Kopf projiziert. Das können all unsere Kristalinas. Sie zeigen ihren neuen Besitzern, wie ein Leben mit ihnen aussehen könnte.“ „Sie meinen, sie machen Werbung im Kopf?“, fragt Ivies Mutter, mit einem Stirnrunzeln. Der Mann in der Lederschürze nickt. Ivie versteht kein Wort, sie will nur von ihrem Erlebnis erzählen. Aufgeregt beginnt sie zu berichten: „Da war eine große, grüne Wiese und ein Apfelbaum. Es hat so toll gerochen und war ganz warm. Der Hund war auch dort.“ Mit dem Zeigefinger deutet sie auf den Hund, der noch immer auf dem Boden sitzt. „Er wollte mein Freund sein. Darf ich den haben?“ Ratlos sehen ihre Eltern sich an. „Wie teuer ist der denn?“, fragt ihr Vater. Der Verkäufer geht auf den Hund am Boden zu, er bückt sich und hebt ihn auf. Er dreht dessen Halsband so, dass er den Zettel lesen kann, der daran befestigt ist. „5100 Rukien!“, erklärt er feierlich. Ivie sieht von ihm zu ihren Eltern. Das ist unverschämt viel Geld, das weiß sie. „Das ist zu viel“, wispert die Mutter dem Vater zu. „Wir haben uns etwas günstigeres vorgestellt“, richtet der Vater seine Worte entschuldigend an den Verkäufer. Ivie hat es gewusst. Traurig beobachtet sie den Mann dabei, wie er den Welpen ins Regal zurückstellt. „Wie viele Rukien sind sie denn bereit auszugeben?“, fragt der Verkäufer. Jetzt ist Ivie gespannt. Sie hat schon so viel von diesen Kristalinas gehört, aber bisher noch nie einen gesehen. Sie braucht einen, wenn sie zur Schule gehen will. Mit ihm muss sie ihre Hausaufgaben machen und neue Lektionen lernen, aber wie das funktionierte, hat ihr keiner erklären können. „50 Rukien!“, sagt ihre Mutter stolz und hebt einen kleinen Lederbeutel in die Höhe. Ivie sieht sie erschrocken an. Noch nie war das Säckchen ihrer Mutter so prall gefüllt gewesen. Der Verkäufer runzelt mit der Stirn und sieht nachdenklich vor sich hin. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich antwortet: „Für diesen Preis haben wir nur Schmetterlingsanhänger!“ „Reichen die, für einen Schulbesuch?“, fragt die Mutter. Ihre Finger verkrampfen um das Säckchen. Der Verkäufer antwortet nicht, er geht auf eine Vitrine zu, die Ivie bisher noch gar nicht aufgefallen ist. Sie steht neben dem Regal und ist mit kunstvoll verziertem Holz geschmückt. Durch das Glas hindurch, kann Ivie etliche Schmetterlinge erkennen. Sie wirken nicht so lebensecht, wie die anderen Tiere hier. Sie gleichen eher Schmuckstücken, die sich die Erwachsenen um den Hals hängen. Ivies Vater nimmt sie auf die Schulter und folgt dem Mann in der Lederschürze zur Vitrine. Wie bunte Edelsteine funkeln die Flügel der Schmetterlinge. So einer sieht bestimmt schick an ihrem weißen Kleid aus. Der Verkäufer geht um die Vitrine herum, hinter der gerade so viel Platz ist, dass er hindurch passt. Er bückt sich und öffnet die Glastüren, dann hebt er eine der langen Schubfächer heraus und legt sie oben auf die Vitrine. Die Schmetterlinge darin sind alle gleich. Ihre Flügel stehen weit auseinander. Sie sind mit goldenem Draht gebogen. In ihnen sind rote, gelbe und blaue Edelsteine eingefasst. Der Leib der Schmetterlinge glüht in regelmäßigen Abständen blau auf. „Das ist unser günstigstes Model. Es beinhaltet alle Standartfunktionen, wie das Speichern von Informationen und die Standortbestimmung seines Besitzers. Es gibt Daten über ein Hologramm wieder, ist aber nicht in der Lage, Bilder direkt in den Kopf seines Besitzers zu projizieren. Im letzten Jahr, waren sie noch für die Erstklässler zugelassen. Ab dem zehnten Lebensjahr wird ihre Tochter aber ein höher entwickeltes Model für den Unterricht benötigen“, erklärt der Verkäufer. Ratlos sehen sich die Eltern an. Der Vater nimmt Ivie von seinen Schultern, er stellt sie vor der Vitrine ab und nimmt die Mutter ein Stück bei Seite. Von ihrem Gespräch, kann Ivie nur Wortfetzen aufschnappen: „Jetzt haben wir so lange gespart …“ „… dann eben wenigstens die ersten 4 Jahre … das ist besser, als gar nicht in der Schule gewesen zu sein.“ „Vielleicht können wir in den ... Jahren … zusammen sparen.“ Mutter und Vater nicken sich zu, scheinbar sind sie sich einig geworden. Sie kommen zu Ivie zurück und lächeln sie aufmunternd an. „Wir nehmen den Schmetterling!“, sagt der Vater. Der Verkäufer nickt verstehend und nimmt das Schubfach in die Hand. Er geht mit ihm um die Vitrine herum und vor Ivie in die Knie. „Such dir einen aus!“, sagt er mit einem warmen Lächeln und hält ihr das Schubfach hin. Ivie ist sich nicht sicher, was sie nun tun soll. Alle Schmetterlinge sehen gleich aus. Eine wirkliche Wahl hat sie nicht. Hilfesuchend schaut sie zu ihren Eltern auf. Diese sind hinter ihr stehen geblieben. Die Mutter kniet sich zu ihr, sie sieht genauso ratlos auf die Schmetterlinge, während der Vater seine Hände auf Ivies Schultern legt. Sie werden ihr die Entscheidung überlassen. Ivie seufzt und lässt ihren Blick noch einmal über die Schmuckstücke schweifen, dann deutet sie auf den in der Mitte. Der Verkäufer nimmt den Schmetterling aus dem Schubfach und legt es zurück auf die Vitrine. Er berührt ihn am pulsierenden Leib, seine Flügel bewegen sich einmal auf und ab. „Ich brauche jetzt einen Finger von dir!“, sagt er. Wozu brauch er den wohl? Zögern reicht sie ihm ihren Zeigefingern. Der Verkäufer legt den Schmetterling auf ihre Fingerkuppe. „Das wird jetzt kurz piksen!“, erklärt er. Ivie sieht ihn ratlos an. Bevor sie seine Worte verstanden hat, spürt sie einen kurzen, stechenden Schmerz. Erschrocken zieht sie den Finger zurück. Fassungslos betrachtet sie einen winzigen Blutstropfen, der sich auf ihrer Haut bildet. Einen Moment beobachtet sie ihn, dann steckt sie den Finger in den Mund. Der Schmetterling bewegt erneut seine Flügel. Sie schwingen zwei Mal auf und ab, dann ist er so regungslos wie zuvor. Das Schmuckstück heftet der Verkäufer Ivie an den Träger ihres Kleides. Misstrauisch beobachtet sie ihn dabei. Wird er sie noch einmal stechen? Nichts passiert, kein weiterer Schmerz und auch keine weitere Bewegung des Schmetterlings. Nur das stete Leuchten des Leibes haucht ihm ein wenig Leben ein. Stolz betrachtet Ivie ihn. Er funkelt und glänzt so schön. Ihre Freundin Mae wird Augen machen, wenn Ivie ihr erzählt, dass sie von nun an zur Schule gehen wird. „Jetzt ist der Schmetterling auf ihre Tochter geprägt. Nur sie wird ihn benutzen können. Das macht dann 49 Rukien!“ Ivies Mutter übergibt das geforderte Geld und bekommt eine Münze zurück. „Dafür kaufen wir zur Feier des Tages noch ein Eis!“, sagt sie. Stolz wird Ivie von ihren Eltern betrachtet, während ihr Vater feierlich verkündet: „Von jetzt an, bist du ein großes Schulmädchen!“ Kapitel 3: ~Erster Schultag~ ---------------------------- Ich lasse mich gestresst auf den Stuhl vor meinem Tisch fallen. Der Schulhof und das Schulgebäude sind heute brechend voll. Ich habe ganz vergessen, dass wir Schulanfang haben und neue Erstklässler bekommen. Das heißt, der Unterricht wird sich lediglich um organisatorische Dinge drehen. Wie langweilig. Ich seufze und sehe Isegrim dabei zu, wie er den Klassenraum erkundet. Das tut er immer, wenn wir hier ankommen. Heute läuft er zuallererst zu Sue und ihrem Pinguin. Die beiden stehen am Fenster, Sue unterhält sich mit ihrer besten Freundin Kim. Sie trägt ein grünes Kleid mit weißen Punkten und dünnen Trägern. Es reich ihr bis zu den Knöcheln, so wie es die Schulordnung vorschreibt. Schade, finde ich, so kann man ihre schlanken Beine gar nicht sehen. Ihre glänzenden schwarzen Haare hat sie in den Sommerferien auf Schulterlänge abschneiden lassen. Eine Schande, lang haben sie mir besser gefallen. Sie bemerkt Isegrim nicht, genauso wenig wie mich. Er bleibt neben ihr stehen und setzt sich auf die Hinterpfoten. Die Aufmerksamkeit meines Kristalinas gilt ihrem Pinguin, dem sie den treffenden Namen Binoko gegeben hat, was so viel wie schwarze Perle bedeutet. Das Gefieder ihres Kristalinas funkelt tatsächlich, wie die Oberfläche einer Perle. Ich beobachte die Beiden aufmerksam und bin gespannt, ob sich etwas in ihrem Verhalten ändert, nun, da ich Isegrim am Morgen menschliche Gefühle aufgespielt habe. Die beiden Kristalinas sehen sich an. Sie legen die Nasen aneinander. Ein Funken springt über, dann steht Isegrim auf und geht weiter. Nur ein Datenaustausch? Ich bin enttäuscht, habe ich mir doch erhofft, dass mehr passiert. Andererseits dürfte Isegrim der einzige Kristalina im Raum sein, der Gefühle empfinden und deuten kann, es gibt also nichts, was er mit den anderen seiner Art, teilen könnte. Irgendwie geht es ihm da wie mir. Wenn ich von Programmierungen spreche, versteht auch keiner, was ich sagen will. Während Sue noch nicht einmal bemerkt hat, dass sich unsere Kristalinas berührt haben, ist Isegrim schon bei Kims Fuchs. Ich mag sie nicht sonderlich und das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. In Kims versteinerten Gesichtszügen habe ich noch nie ein Gefühl ablesen können. Ihre blasse, gläserne Haut, lässt sie stets krank erscheinen. Grimmig sieht sie auf Isegrim hinab, als dieser sich ihrem Kristalina nähert. „Kusch, kusch!“, faucht sie ihn an und wedelt mit ihrer Hand vor seiner Schnauze herum. Als er sich davon nicht vertreiben lässt, sieht sie zu mir. Ihr Blick ist streng und mahnend. „Ruf dein Ungetüm zurück. Ich will keines deiner blöden Up-Dates.“ „Zu spät!“, entgegne ich. Isegrim hat den unbeobachteten Moment genutzt, um mit seiner Nase, die des Fuchses zu berühren. Ungläubig schaut Kim auf die Beiden hinab. „Karak!“, kreischt sie, als ob ihr das noch etwas nützen würde. Der Funken ist längst übergesprungen. Ein zufriedenes Lächeln legt sich auf die Lefzen meines Kristalinas. Er erhebt sich und läuft weiter. Fröhlich pendelt sein Schweif von einer auf die andere Seite. Während Kim sich zu ihrem Fuchs hinabbeugt, ihn auf den Arm nimmt und versucht, ungeschehen zu machen, was Isegrim angerichtet hat, ist dieser schon auf dem Weg zum nächsten Kristalina. Seit ich Isegrim das erste Mal zum Leben erweckt habe, hat er sich schon so unabhängig von mir bewegt. Er hat seinen eigenen Kopf und das gefällt mir. Er ist nicht, wie die Kristalinas hier, die teilnahmslos neben ihren Besitzern stehen und auf deren Anweisungen warten. Ich sehe ihm gern dabei zu, wie er auf neue Ideen kommt, auch wenn mich das schon oft in Schwierigkeiten gebracht hat. Vor den Ferien hat er dem großen, weißen Löwen unserer Lehrerin ein Lied beigebracht, dass dieser die ganze Zeit abspielen musste. Der Unterricht ist daraufhin ausgefallen und von meinem Vater weiß ich, dass er und seine Ingenieur drei Tage gebraucht haben, um das Up-Date zu finden und unschädlich zu machen. Die erste Woche meiner Ferien habe ich deswegen mit Stubenarrest verbracht, was aber nicht weiter tragisch war, da ich sowieso mit den Gefühlen für Isegrim beschäftigt gewesen bin. „Kaaarakkk!“, kreischt Kim wieder, als sie feststellen muss, dass sich das Up-Date, nicht ohne weiteres löschen lässt. Ihre schrille Stimme erfüllt den Klassenraum und verstummt erst, als die Schulanfänger das Klassenzimmer betreten. Zwei Mädchen und ein Junge. Unsicher sehen sie sich um. Der Junge trägt eine teure Hose und ein Hemd mit einem Schlips. An seiner Seite läuft ein Welpe mit Schlappohren. Das neuste Modell der Hundekristalinas. Sie sehen besonders niedlich aus und sind extra für Schulanfänger gemacht. Sie verführen ihre zukünftigen Besitzer mit bestechend bunten Werbefilmen. Für meinen Geschmack sind sie zu kitschig, aber sie verkaufen sich gut und für kleine Kinder sind sie sicher ansprechend, aber besonders viel Technik steckt für den Preis von knapp 5.000 Rukien nicht in ihnen. Reine Abzocke, aber mit meinem Vater darüber zu sprechen, habe ich aufgegeben. Er hat seine eigene unumstößliche Meinung dazu. Neben dem Jungen mit Hundewelpen, bleibt eines der beiden Mädchen stehen. Sie scheint seine Schwester zu sein, denn ihr grün gestreiftes Kleid, ist aus derselben teuren Kollektion, wie das Hemd und die Hose des Jungen. Auch sie hat einen Hundewelpen, nur trägt ihrer eine rosafarbene Schleife um den Hals. Die Ausgabe für Mädchen, oder hat sie ihm selbst dieses Teil umgebunden? Isegrim hat die Runde durch das Klassenzimmer inzwischen beendet und entdeckt nun auch die beiden Hunde. Mit wehendem Schwanz läuft er auf sie zu. Die Besitzer der beiden Kristalinas schauen erschrocken. Wie versteinert starren sie ihn an, während ihre Welpen ebenso regungslos verharren. Isegrim stupst beide mit der Nase an. Ein Funken springt über, dann betrachtet er das zweite Mädchen. Verwirrt sieht er sich nach ihrem Kristalina um. Das blonde Mädchen, mit den seidigen Haaren, die ihr leicht über die Schultern fallen, sieht neugierig zurück. Sie trägt ein Kleid mit blauen Schmetterlingen. Ihre Füße stecken in zwei roten Schuhen, auf denen jeweils eine weiß gepunktete Schleife aufgestickt ist. Auch ich suche ihren Kristalina und kann ihn auf den ersten Blick nicht finden, bis mir schließlich eine Brosche in der Form eines Schmetterlings an dem Träger ihres Kleides auffällt. So eine veraltete Version habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich wage zu bezweifeln, dass Frau Zions Fuchs damit noch kompatibel ist. Isegrim umrundet das fremde Mädchen einige Male. Der Kopf und die Augen der Kleinen folgen ihm. Sie streckt ihre Hand nach seinem Fell aus und streichelt es. Kleine blaue Funken sprühen dort, wo sie es berührt. Erstaunt zieht sie ihre Hand zurück. Endlich entdeckt auch Isegrim ihren Anhänger. Er streckt die Schnauze danach aus und berührt ihn, einmal, zweimal, nichts passiert. Das war zu erwarten, er ist einfach zu alt. Verwirrt sieht Isegrim zu mir zurück. Seine Augen fragen mich, während ich seine Stimme in meinem Kopf höre: „Wieso kann ich nicht mit dem Schmetterling kommunizieren?“ „Der ist veraltet!“, antworte ich ihm und schwenke meinen Kopf zum Zeichen, dass er zu mir zurückkommen soll. Er versteht mich nicht sofort und sieht mich ratlos an. „Karak, ich habe dir doch verboten, Up-Dates in der Klasse zu verteilen!“, ertönt die strenge Stimme unserer Lehrerin. Isegrim setzt ein schelmisches Grinsen auf. Das hat er noch nie getan. Hat das Up-Date etwa seinen Charakter verändert? Lächerlich, er hat ja nie einen gehabt, oder? Ich beobachte ihn dabei, wie er sich setzt und versucht unschuldig auszusehen, als wenn er das nötig hat, immerhin bin ich für ihn und seine Taten verantwortlich. „Karak, ruf ihn zurück! Wir sprechen uns nach dem Unterricht.“ Frau Zion wirft Isegrim einen kurzen abschätzigen Blick zu, bevor sie an ihm vorbei geht. In einigem Abstand folgt ihr ein großer, weißer Fuchs, der ihr bis zu den Hüften reicht. Sein Fell glänzt seidig im Sonnenlicht, seine spitzen Ohren sondieren die Umgebung aufmerksam. Isegrim kommt zu mir zurück gelaufen. Mit angelegten Ohren und eingeklemmtem Schwanz, kriecht er unter meinen Tisch und verhält sich erstaunlich ruhig. Noch immer frage ich mich, welches Up-Date er den anderen Kristalinas verpasst hat, doch bevor ich dazu komme, ihn in meinen Gedanken danach zu fragen, hat Frau Zion ihr Lehrerpult erreicht. Die drei Neuen folgen ihr. Sie bleiben neben ihr in einer Reihe stehen, zuerst die beiden Zwillinge und schließlich die Kleine, mit dem altmodischen Schmetterlingsanhänger. Wie es Sitte ist, falten sie die Hände vor den Knien zusammen und machen dabei eine leichte Verbeugung. „Schoje!“, begrüßen sie uns höflich. Wir alle bringen ihnen die gleiche Höflichkeit entgegen, stehen auf und verbeugen uns, während in einem Chor: „Schoje!“, erklingt. Meine Stimme hebt sich dabei nicht von der breiten Masse ab, gedanklich unterhalte ich mich mit Isegrim. Die folgende Vorstellung ist sowieso nur Routine und interessiert mich nicht. Wir alle setzen uns wieder und warten auf den Beginn des Unterrichtes. „Was hast du mit ihnen gemacht!“, frage ich meinen Kristalina, während das Klassenzimmer ganz langsam um mich herum verschwimmt. Ich versinke in der Welt, die Isegrim in meinem Kopf erzeugt: ...~*~... Wir befinden uns nicht mehr in der Schule. Ich stehe jetzt in einer verlassen Seitenstraße. Rechts und Links erheben sich Hochhäuser. Ich kann ihr Ende nur erahnen, da sie sich nicht gegen den dunklen Nachthimmel abheben. Hier im Nichts des Netzwerkes der Kristalina, bin ich am liebsten, hier sind Isegrim und ich ungestört. Der Wolf sitzt neben mir und sagt: „Ich will nicht der Einzige sein, der etwas fühlen kann.“ Erschrocken sehe ich in die kristallklaren Augen des Wolfes. Er hat den anderen Kristalinas Gefühle gegeben, ist er verrückt geworden? Ich versuche vergeblich zu überschlagen, was das für Auswirkungen haben wird. Das ist etwas anderes, als den Kristalina meiner Lehrerin lahm zu legen, dass kann unsere ganze Welt verändern. Der Mund bleibt mir offen stehen. Ich weiß vor Entsetzen nicht, was ich sagen soll. „Keine Sorge, es hat nicht geklappt, den anderen fehlt ein wichtiges Bauteil“, knurrt Isegrim. Ich atme tief durch, noch einmal Glück gehabt. Meine aufkeimende Freude darüber, wird jedoch getrübt, als ich sehe, wie Isegrim die Schultern hängen lässt und seine Ohren sich anlegen. Traurig sieht er zu mir hoch, als er meint: „Jetzt weiß ich, wie du dich fühlen musst, wenn dein Vater die ganze Zeit auf Reisen ist. Ist das Einsamkeit, Karak?“ Augenblicklich bereue ich, was ich meinem Kristalina angetan habe. Ich habe keinen Moment daran gedacht, dass er mit menschlichen Emotionen, auch alle negativen Gefühle spüren wird. Ich will ihm antworten, doch unsere Verbindung bricht ab. ...~*~... Die Hochhäuser verschwinden, ebenso wie die dunkle Seitenstraße. Ich finde mich im Klassenzimmer wieder. Wie immer, wenn Frau Zion den Unterricht eröffnet, sendet ihr weißer Fuchs ein Signal, dass unser privates Surfen im Netz abschaltet. „Wie schön, dass ihr uns nun alle zuhören wollt!“, sagt sie mit einem ironischen Unterton. „Ich war gerade dabei unsere neuen Schüler vorzustellen. Das sind Kirem und Dirin Hanaga, ihr Vater arbeite für die Kristalina Kompanie." Wie immer ist es Lehrerin Zion wichtig zu betonen, aus welchen Familienverhältnissen ihre Schüler stammen. Kirem und Dirin sind also die Kinder von Hanaga. Der Name kommt mir bekannt vor. Er ist einer der Chefdesigner meines Vaters, ich habe schon oft mit ihm zusammen gearbeitet. Er hat mir bei den ersten Entwürfen für Isegrims Fell geholfen, aber davon, dass er Kinder hat, hat er nie etwas erzählt. Es gehört nicht zum guten Ton, am Arbeitsplatz etwas persönliches Preis zu geben, dafür ist es umso wichtiger, wo und für wen man angestellt ist. Das habe ich nie verstanden. Es ist noch nicht einmal wichtig, was man für einen Beruf ausübt. Wird man nach seiner Arbeit gefragt, ist es üblich dass man die Firma oder den Arbeitgeber nennt, nicht die eigene Tätigkeit. „Und das hier ist Ivie Baumann“, fährt Frau Zion fort, „Ihre Eltern besitzen einen Bauernhof am anderen Ende der Stadt.“ Ein Raunen geht durch die Reihen meiner Mitschüler, sie beginnen zu tuscheln und lachen hinter vorgehaltener Hand. Ein Mädchen vom Land, haben wir hier noch nie gehabt. „Sicher haben ihre Eltern ihre letzte Kuh verkauft.“ „Sieh nur das Kleid, das ist schon seit Jahren aus der Mode!“ „Ihre Schuhe sind ganz dreckig, sicher musste sie durch den Mist laufen, bevor sie herkommt!“, tuscheln meine Mitschüler. „Sie tut mir leid“, höre ich Isegrim durch meine Gedanken spuken. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehen kann, was er damit sagen will. Er kennt sie doch gar nicht. Das Mädchen schaut neugierig in die Runde und hüpft von einem auf das andere Bein. Sie beißt sich vor Nervosität auf der Unterlippe herum. Sie scheint gar nicht zu hören, was über sie gesprochen wird. „Nun sucht euch einen freien Sitzplatz, dann können wir beginnen!“ Das kann etwas werden. Wenn die Neuen das erste Mal ins Netz gehen, sind sie oft verstört und nicht zu beruhigen. Wir werden heute im Unterricht keinen Schritt weiter kommen, jetzt wäre ich lieber im Netz. Ich sollte versuchen das Passwort zu knacken, um den Zugang wieder freizuschalten. Ich fahre mit der Hand unter den Tisch und beginne Isegrim am Ohr zu kraulen, unser Zeichen dafür, dass er mich in sein System einlogen soll. „Chi, gebe Kirem, Dirin und Ivie unsere Unterrichtsdaten, damit wir anfangen können“, trägt Frau Zion ihrem Fuchs auf, der sich daraufhin in Bewegung setzt. Mit geschmeidigen Schritten nähert er sich erst Kirem und Dirins Hundewelpen. Er berührt ihre beiden Schnauzen und überträgt unser virtuelles Klassenzimmer auf sie. „Und ihr geht schon mal vor!“, sagt Frau Zion uns anderen. ...~*~... Die Welt vor mir verschwimmt. Ich spüre weiches Gras unter meinen nackten Füßen, der würzige Duft von Tannenadeln, dringt mir in die Nase. Direkt vor mir erscheint eine große Eiche. Ihr Stamm ist so dick, dass wir uns alle drumherum stellen müssten, um ihn gemeinsam umfassen zu können. Sein riesiges Blätterdach breitet sich über unseren Köpfen aus und spendet uns Schatten. Die Blätter rauchen in einer sachten Brise und vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit, dass uns alle erfüllt, ob wir wollen oder nicht. Gedacht ist es aber sicher nur für unsere neuen Mitschüler. Ich schaue mich suchend nach ihnen um. Die große Wiese wird von einem dichten Nadelwald umschlossen, der als Abgrenzung des Klassenraumes dienen soll. So ist der Unterricht nicht so einengend, pflegt Frau Zion häufig zu sagen und Tatsächlich ist es angenehmer hier zu sein, als in unserem stickigen Klassenzimmer. Nach und nach tauchen meine Mitschüler auf der Waldlichtung auf. Sie und ihre Kristalinas verteilen sich im Kreis um die alte Eiche und warten auf Frau Zion. In unserer Mitte erscheinen Kirem und Dirin, die sich erschrocken umsehen. Sie greifen nach der Hand des anderen. Erst ab dem ersten Schultag, dürfen Kinder diese Funktion der Kristalina benutzen, damit sie unter Anleitung lernen, was wichtig ist, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Die Augen der Geschwister weiten sich, während sie die große Eiche und die Wiese unter ihren Füßen betrachten. Ihre Münder stehen ihnen offen, sie bilden lautlose Worte damit. „Wie sind wir hier her gekommen?“, fragt Kirem seine Schwester, die ratlos mit den Schultern zuckt. Zwei meiner Mitschülerinnen nehmen sich der Beiden an, Sue ist eine von ihnen. Sie legt dem Mädchen beide Hände auf die Schultern und erklärt ihr in einem warmherzigen Ton: „Keine Angst, das ist nur unser Klassenzimmer. Wir und eure Hundewelpen werden euch alles erklären. Ab Morgen werdet ihr schon von ganz allein hier her kommen können.“ Es ist üblich, dass wir Älteren uns im Unterricht um die Jüngeren kümmern und sie beim Lernen unterstützen. Teamwork ist unseren Lehrern sehr wichtig und Sue beherrscht diese Disziplin perfekt. Manchmal erinnert sie mich an eine Mutterfigur. Die Kleinen laufen ihr stets als erstes hinterher, kein Wunder das sie Klassensprecherin geworden ist. Ich für meinen Teil arbeite lieber für mich allein und halte mich mit der Kinderbetreuung zurück. Ich will schließlich selbst etwas lernen, ein Grund mehr, warum mich diese Tage nerven, an denen wir nur blöd herum stehen und die neuen Kinder mit unseren Unterrichtsmethoden vertraut machen. Ich sehe mich nach Frau Zion um. Bisher ist sie noch nicht aufgetaucht. Immer wieder suche ich die Lichtung nach ihr ab, aber sie ist nirgends zu sehen und auch von der Kleinen, mit dem Schmetterlingsanhänger, fehlt jede Spur. ...~*~... „Sieh mal!“, höre ich Isegrim neben mir sagen. Die Lichtung und die große Eiche verschwinden. Ich sitze wieder im Klassenzimmer. Ich bin erstaunt. Seit wann kann Isegrim die Verbindung unserer Lehrerin unterbrechen? „Ich glaube nicht, dass sie an unserem Unterricht teilnehmen kann“, sagt er. Ich verstehe nicht sofort, was er meint, bis ich Frau Zion vor dem kleinen Mädchen mit dem Schmetterlingsanhänger knien sehe. Sie hält ihre Hände und versucht das Kind mit sanfter Stimme zu trösten: „Jetzt weine doch nicht. Ich kann dir ein Programm geben, wo du lesen und schreiben zu Hause lernen kannst!“ Dicken Krokodilstränen rollen von den Wangen der Kleinen. Sie sammeln sich an ihrem Kinn und tropfen auf ihr Kleid. In Höhe ihres Brustkorbes, hat sich schon ein großer Fleck gebildet, der stetig wächst. Ihr Kristalina ist zu alt, fällt mir wie Schuppen von den Augen. Nun bekomme ich doch ein bisschen Mitleid mit ihr. Frau Zion wird sie vom Unterricht ausschließen und ihren Eltern sagen müssen, dass sie die Schule nicht mehr besuchen darf. „Mama und Papa haben aber gesagt, ich darf in die Schule gehen. Ich habe doch einen Krisaina“, stammelt die Kleine und reibt sich ihre geröteten Augen. „Ich werde nach der Schule mit deinen Eltern sprechen, vielleicht finden wir ja zusammen eine Lösung, Okay? Aber jetzt weine nicht mehr. Du kannst ja so lange ein Bild malen“, schlägt Frau Zion ihr vor. Das kleine Mädchen schluchzt etliche Male und versucht ihre Tränen hinunter zu schlucken. „Okay!“, bringt sie mit Mühe heraus. Frau Zion erhebt sich und geht mit festen Schritten auf ihr Lehrerpult zu. Sie öffnet eine Schublade und hebt einen paar weiße Blätter heraus, sie pustet einmal über das Papier, worauf hin sich eine kleine Staubwolke erhebt. Es kommt selten vor, dass sie in diese Schublade greift. Meist nur, wenn sie uns nach dem Unterricht noch schnell eine Hausaufgabe mitgeben will, und ihr Kristalina mit anderen Dingen beschäftigt ist. Während sie in ihrer Schublade nach einem Stift sucht, fällt ihr Blick auf mich. Ihre grasgrünen Augen ziehen sich zu kleinen Schlitzen zusammen. „Karak? Was machst du hier? Du sollst doch auf der Lichtung auf mich warten“, mahnt sie. „Isegrim wollte mir das hier zeigen“, antworte ich wahrheitsgemäß. Augenblicklich werden ihre Falten im Gesicht tiefer, ihre Augenbrauen ziehen sich eng zusammen. Sie mustert meinen Wolf grimmig. „Ich werde auch mit deinem Vater sprechen müssen. Es kann nicht sein, dass dein Kristalina hier tut und lässt, was er will. Er soll dir einen anständigen für die Schule geben, wie jeder andere hier auch hat“, sagt sie. Ich kann über ihre Drohung nur müde schmunzeln. Zum einen, ist mein Vater mal wieder auf Geschäftsreise und wird keine Zeit für ein Gespräch haben, zum anderen ist es gegen das Gesetz, mehr als einen Kristalina auf sich prägen. Ich könnte zwar Isegrims Herz in einen anderen Kristalina einbauen, aber damit würde sich nur die äußere Hülle, nicht aber seine gespeicherten Daten verändern. „Sie können es ja versuchen!“, entgegne ich ihr und ziehe damit nur noch mehr ihren Zorn auf mich. Genervt atmet sie die angestaute Luft scharf aus und schenkt mir einen letzten finsteren Blick, bevor sie ihren Fuchs auf mich hetzt. „Chi, bring ihn zurück auf die Lichtung, ich komme gleich nach!“ Ihr Fuchs tut wie ihm aufgetragen und steuert Isegrim an. Ich sehe ein letztes Mal auf das kleine Mädchen. Sie hat sich auf ihrem Stuhl nieder gelassen und wartet auf die Rückkehr der Lehrerin. Ihre rotgeweinten Augen, sehen mich für einen Moment an. Stumm scheint sie mir eine Bitte auszusprechen. „Armes Ding!“, höre ich Isegrim sagen. Der weiße Fuchs hat uns inzwischen erreicht. Er versucht seine Schnauze, an die von Isegrim zu drücken, doch dieser wendet den Kopf immer wieder im letzten Moment ab. „Ich glaube nicht, dass sie morgen noch mal zum Unterricht kommen wird“, sagt er. Sicher hat er recht damit. Die Eltern dieses Mädchens haben wahrscheinlich ihr letztes Hemd, für den Schmetterling gegeben, woher sollen sie das Geld nehmen, ihr eine neuere Version zu kaufen? Frau Zion ist in der Zwischenzeit fündig geworden. Mit Stift und Papier geht sie zu Ivie zurück und legt ihr beides auf den Tisch, dann sieht sie noch einmal zu mir. „Karak!“, sagt sie streng, als sie erkennen muss, dass sich Isegrim gegen eine erfolgreiche Datenübertragung wehrt. „Lass uns gehen, bevor sie uns auch noch vom Unterricht ausschließt!“, sage ich. Isegrim seufzt und hält mit dem Kopf still. Bevor sich seine und die Schnauze des Fuchses berühren, schweift mein Blick noch einmal durch den Klassenraum. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin, während sich alle anderen mit ihren Kristalinas im virtuellen Klassenzimmer befinden. Ich weiß nur aus der Theorie, was mit unseren Körpern passiert, wenn wir dort sind, nun aber kann ich es sehen. Sie alle liegen auf ihren Stühlen, die automatisch in eine liegende Position ausfahren, sobald wir uns mit unseren Kristalinas verlinken. Keiner von ihnen hat die Augen geöffnet, nur ihre Augäpfel bewegen sich unter den Liedern. Es wirkt fast so, als wenn sie schlafen und träumen würden. Kein Wunder, dass wir uns nach dem Unterricht so erholt und ausgeglichen fühlen. Ich spüre, wie die Lehne meines Stuhls nach hinten fährt und sich meine Beine langsam heben, dann verschwindet alles um mich herum. ...~*~... Für den Bruchteil eines Momentes ist alles schwarz, dann kann ich die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut spüren, die durch das Blätterdach der Eiche fallen. Ein Gefühl von Geborgenheit durchströmt mich. Zwischen meinen nackten Zehen kitzeln mich die Grashalme. Ein sachter Wind umweht mich, aber aus irgendeinem Grund kann ich das nicht genießen. Ich habe mit diesem Mädchen nichts zu tun und doch sehe ich sie immer noch weinend vor mir. „Manchmal werde ich aus dir nicht schlau Karak“, sagt Isegrim. Fragend sehe ich zu ihm herab. „Du bringst mir Gefühle bei und kannst noch nicht mal deine eigenen benennen. Sie geht dir nicht aus dem Kopf, weil du Mitleid mit ihr hast!“ „Ach Quatsch! Ich kenne sie ja noch nicht einmal.“ Ich möchte nicht weiter darüber nachdenken, damit ändere ich ihre Situation auch nicht. Es geht mich ja auch nichts an. Sicher finden Frau Zion und die Eltern der Kleinen eine Lösung, versuche ich mir einzureden, auch wenn ich es besser weiß: Wir schaffen uns eine Traumwelt im Netz doch nur, weil die Realität so hart und beschissen ist. Kapitel 4: ~Zerstörte Zukunft~ ------------------------------ Jetzt sitzt sie hier, vor diesem weißen Papier und weiß nicht, was sie malen soll. Es gibt nur diesen einen schwarzen Stift, den ihr die Lehrerin gegeben hat, nicht einmal Buntstifte, wie zu Hause. Was soll sie denn damit schon schönes malen und was werden Vater und Mutter sagen, wenn das Bild, das Einzige sein wird, von dem sie berichten kann? Wieder sieht Ivie auf die Uhr an der Wand. Der große Zeiger ist schon einmal ganz herumgelaufen. Es ist so still hier, niemand redet, niemand bewegt sich. Alle Kinder liegen auf seltsamen Stühlen, sie ähneln denen, die Ivie vom Zahnarzt kennt, nur das an einer Armlehne ein kleiner verstellbarer Tisch befestigt ist. Ob sie schlafen? Ist das immer so in der Schule? Auch die Lehrerin liegt im Stuhl. Neben ihr sitzt ein wunderschöner Fuchs, seine Augen blinken starr, wie die der anderen Tiere hier. Es sieht unheimlich aus, alles hier ist so merkwürdig. Ihren ersten Schultag, hat sich Ivie ganz anders vorgestellt. Sie wollte neue Freunde finden und viele spannende Dinge lernen, aber hier ist gar nichts spannend. Die Wände sind kahl, der Boden blank poliert. Sie seufzt und legt den Stift bei Seite, bevor sie auch nur einen Strich gezeichnet hat. Stattdessen nimmt sie die Brosche von ihrem Kleid und fährt mit den Fingern über den Edelstein. Mutter und Vater sind so stolz gewesen, als sie heute Morgen das Haus verlassen haben. Sie haben sie bis zur Bushaltestelle gebracht und ihr immer wieder erklärt, dass sie an der siebenten Haltestelle aussteigen und dann den Berg hoch laufen muss. Sie ist so aufgeregt gewesen, als sie ganz allein in den Bus stieg. Trotzdem hat sie alles richtig gemacht. Sie ist an der siebenten Haltestelle ausgestiegen, hat den Berg erklommen und stand dann vor diesem großen Gebäude. Dort waren so viele Menschen, so viele fremde Kinder. Ivie hat nicht gewusst, wo sie hingehen muss, aber als sie diese nette alte Dame am Eingang angesprochen hat, hat diese sie zur Lehrerin gebracht. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien stand sie schließlich vor den vielen anderen Kindern. Und nun sitzt sie hier, in diesem kahlen Raum und alle schlafen. Die einzigen, die die Augen offen haben, sind all die vielen Tiere. Ivie erhebt sich. Die blinkenden Augen der Kristalltiere starr vor sich hin, noch immer. Nur ein Kristalina ist anders, seine blauen Augen ruhen auf ihr. Der Wolf sieht sie direkt an, sein Maul bewegt sich nicht, trotzdem hört sie seine Stimme: „Komm her!“ Ivie ist sich nicht sicher, sie knetet ihr Kleid am Bauch durch. Darf sie denn überhaupt hier herum laufen? Die Lehrerin hat ihr doch aufgetragen, ein Bild zu malen. „Komm her!“, sagt der Wolf wieder. Ivie sieht zum Lehrerpult. Die große Frau schläft friedlich, sicher wird sie gar nicht merken, wenn sich Ivie hier mal etwas umsieht und den weichen Wolf streichelt. Neugierig entfernt sie sich von ihrem Platz und läuft auf den Wolf zu. Er liegt unter dem Tisch und lässt sie nicht aus den Augen, sein Blick ist sanft und freundlich. Vor seinen Pfoten wirft sich das kleine Mädchen auf die Knie und streichelt ihm über den Kopf. Das Fell blitzt auf, es leuchtet blau, so wunderschön hellblau. Er legt den Kopf in ihre offene Hand und brummt freundlich. „Du bist hübsch!“, sagt sie. „Danke! Mein Name ist Isegrim“, sagt er, ohne dass sich sein Maul bewegt. Ivie kann seine Stimme im Kopf hören, es kitzelt und fühlt sich an, wie bei dem Welpen im Laden. Sie lächelt vergnügt. „Ich bin Ivie!“ Der Wolf nickt: „Ich weiß.“ Sie krault ihn hinter den Ohren. Das Mädchen sieht am Stuhl hinauf. Der Besitzer des Wolfes rührt sich nicht. „Warum schlafen denn alle?“ „Sie schlafen nicht, sie surfen.“ „Surfen?“ Ivie weiß nicht was das ist, den Begriff hat sie noch nie gehört. Isegrim legt den Kopf schief, er sagt: „Das ist wie träumen. Wir Kristalinas schenken ihnen eine eigne Welt, in der sie spielen und miteinander reden können.“ Ivie legt die Stirn in Falten. „Aber wozu? Wir können doch hier spielen und miteinander reden.“ Der Wolf schaut nachdenklich. „Ja, aber dort ist alles viel schöner!“ Viel schöner? Das kann Ivie nicht glauben. Sie erinnert sich an den Tag im Geschäft, als der Welpe sie mit auf die grüne Wiese genommen hat. Dort ist es wirklich schön gewesen, aber so einen Baum gibt es auch auf dem Hof ihrer Eltern und dort ist das Gras sogar noch höher. Da kann man in die Äste klettern und die Äpfel vom Baum pflücken. Sie sind so süß und saftig. Ivie kann sie beinah schmecken. Um das alles zu erleben, müssten die Kinder doch nur zu ihr nach Hause kommen, dann könnten sie die Kühe streicheln und ihre Milch trinken, wenn sie noch ganz warm ist. In Ivies Gedanken wirbeln all die schönen Dinge von zu Hause. „Das würde ich auch gern mal sehen!“, sagt der Wolf, als habe er ihre Gedanken lesen können. Eine Hand berührt Ivie an der Schulter, erschrocken fährt sie herum. Die Lehrerin ist aufgewacht und kniet hinter ihr. „Ivie?“, sagt sie in einem freundlichen Ton, „Ich habe deine Eltern rufen lassen, sie sind bald hier und holen dich ab.“ Frau Zion reicht ihr die Hand und hilft Ivie beim Aufstehen. Das kleine Mädchen streicht sich das Kleid glatt und sieht noch einmal zum Wolf zurück. „Mach‘s gut Isegrim!“ Der Kristalina nickt und sieht ihr nach, als sie an der Hand von Frau Zion den Raum verlässt. Stumm läuft Ivie mit Frau Zion durch den Flur. Immer wieder schaut sie hinter sich und hat das Gefühl, das Klassenzimmer und all die Kinder nie wieder zu sehen. Mutter und Vater werden sehr enttäuscht sein und Mae wird sie damit aufziehen, dass sie nur einen einzigen Tag in der Schule gewesen ist. Verlorenes Kind werden sie sie rufen, so wie sie alle Kinder nennen, die nicht am Unterricht teilnehmen dürfen. Tränen sammeln sich in ihren Augen, doch Ivie schluckt sie tapfer herunter. Mama und Papa sollen sie an ihrem ersten Schultag nicht weinen sehen, das hat sie sich ganz fest vorgenommen. Sie lassen das Schulgebäude hinter sich. „Ivie!“ „Ivie, hier sind wir!“, hört sie die Stimmen ihrer Eltern, doch sie wagt nicht aufzusehen. Sie folgt der Lehrerin und knetet mit der freien Hand den Träger ihres Kleides. Bald haben sie Mutter und Vater erreicht, in Ivie stauen sich immer mehr Tränen. Sie kullern über ihre Wangen. „Ivie, was ist denn passiert?", will ihre Mama wissen. Sie kniet sich zu ihr hinab und legt ihr die warmen Hände auf die Schultern. „Mein Kristalina ist zu alt!“, sagt sie. „Zu alt?“, wiederholt ihr Vater, „Wir haben ihn erst gestern gekauft!“ Frau Zion hebt abwehrend die Hände und sagt: „Unsere Kristalina können nicht mehr mit dem Anhänger ihrer Tochter kommunizieren. Wir arbeiten seit diesem Jahr ausschließlich im virtuellen Klassenzimmer. Aber ich kann ihnen ein Programm mitgeben, mit dem Ivie zu Hause lesen und schreiben lernen kann.“ „Ist das ihr ernst?“, sagt der Vater laut. Er hat die Hände zu Fäusten geballt, sein Gesicht ist verbissen und ernst. „Seit das Kind auf der Welt ist, haben wir Geld an die Seite gelegt, um ihr diese lächerliche Brosche kaufen zu können. Wir haben auf alles verzichtet, nur damit sie zur Schule gehen kann.“ „Es tut mir leid!“, sagt Frau Zion. „Was ist so falsch an Stift und Papier? Können sie ihr nicht damit etwas beibringen?“ „Das geht leider nicht! Während des Unterrichts befinden sich alle Kinder und auch ich selbst im Netz. Ich kann nicht gleichzeitig dort und hier sein, schon gar nicht, für nur eine Schülerin.“ Das Gesicht des Vaters läuft feuerrot an, seine Stimme ist so laut, das Ivie zusammen zuckt: „Es geht doch nicht nur um irgend eine Schülerin, sondern um die Zukunft dieses Kindes. Was soll aus ihr werden, wenn sie nicht in die Schule gehen kann?“ „Ein Bauer, wie sie!“, erwidert die Lehrerin trocken. Die Hand ihres Vaters greift nach Ivie, er reißt den Anhänger von ihrem Kleid und wirft ihn auf den Boden. Mit dem Fuß zertritt er ihn. Schockiert betrachtet Ivie die Splitter, die unter der Schuhsole zum Vorschein kommen. „Das ist immer noch besser, als wie ihr in einer Traumwelt zu leben. Sie weiß wenigstens noch woher das Essen auf ihrem Teller kommt und wie sich echtes Gras anfühlt. Komm Kind!“ Die Hand des Vaters fast die ihre, er zieht sie hinter sich her. Ivie sieht zurück. Frau Zion zuckt mit den Schultern und läuft zum Eingang des Gebäudes, sie hat keinen letzten Blick für sie und ihre Eltern übrig. Traurig betrachtet das Kind den zertretenen Schmetterling, der in der Ferne immer kleiner wird. Kapitel 5: ~Zerbrochen, aber nicht zerstört~ -------------------------------------------- „Karak!“, ruft mich Isegrim von der Lichtung zurück in die Wirklichkeit. Das warme Gefühl des Sonnenscheins verschwindet von meiner Haut, ich bin wieder im Klassenzimmer. Direkt vor mir stehen das blonde Mädchen und Frau Zion. Erschrocken sehe ich sie an, doch sie beachten mich nicht, Hand in Hand verlassen sie den Klassenraum. Mein Blick gleitet über Isegrim. Das Fell auf seinem Kopf steht unnatürlich nach oben ab. „Komm Karak, lass uns hinterher gehen!“, schlägt er vor und läuft bis zur Tür. Verstohlen lugt er um den Rahmen. Als ich nicht sofort aufstehe fordert er streng: „Jetzt beweg dich endlich, sonst sind sie weg!“ Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich die Stufe seines Mitgefühls eindeutig zurückschrauben müssen. Ich erhebe mich und schleiche ihm nach. Wir folgen Frau Zion durch die endlosen Flure des Schulgebäudes. Es ist so still, man könnte eine Stecknadel fallen hören. „Karak!“ Isegrim wartet am Haupteingang auf mich. Die Neue und Frau Zion sind hinter der Tür verschwunden. Mein Kristalina tänzelt aufgeregt hin und her, ich muss die Tür mit meinem Schüllerpass öffnen, damit er weiter gehen kann. Als wir ins Freie treten, stehen bei dem Mädchen und Frau Zion, zwei andere Erwachsene. Ein Mann und eine Frau, sie befinden sich in einem heftigen Streit miteinander. „Traurig, oder?“, fragt Isegrim und setzt sich auf seine Hinterpfoten. Ich zucke mit den Schultern. Das alles geht mich nichts an. „Lass uns wieder rein gehen! Ich muss noch meine Tasche holen.“ Wir haben von Frau Zion für heute frei bekommen, weil sie wegen Ivie noch viel zu klären hat. Es gibt für mich also keine Veranlassung länger hier zu bleiben, doch Isegrim bewegt sich nicht vom Fleck. Er beobachtet aufmerksam den Streit, schließlich läuft zu den Erwachsenen. Wenn Frau Zion uns hier sieht, wird sie ausflippen. „Isegrim, bleib stehen!“, befehle ich, doch wieder werde ich von meinem Kristalina ignoriert. Scheiße! Ich muss ihn echt generalüberholen sobald wir daheim sind. Eilig laufe ich ihm nach. Bevor wir die Erwachsenen erreichen, nehmen die Eltern das Mädchen an die Hand und verlassen gemeinsam das Grundstück. Frau Zion dreht sich um, sie kommt auf mich zu. Als sie mich sieht, zieht sie ihre Mundwinkel grimmig nach unten. „Die kommt nicht wieder, oder?“, frage ich meine Lehrerin gerade heraus. Frau Zion bleibt vor mir stehen. „Was machst du hier?“, fragt sie. „Wir haben doch für heute Schluss!“, sage ich. Ihr Blick bleibt mahnend. Es ist nicht üblich dass wir sofort nach dem Unterricht das Schulgebäude verlassen. Oft bleiben wir noch eine Weile im Klassenzimmer und nutzen die kostenlose Internetverbindung, für Schulaufgaben oder private Aktivitäten. „Ach ja, ich erinnere mich“, sagt sie, „Gut dann geh nach Haus. Aber mit deinem Vater spreche ich noch, verlasse dich darauf!“ Ich rolle mit den Augen. Dass sie diesen Gedanken, nach acht Jahren Schulzeit mit mir, nicht langsam mal aufgibt. Bisher hat sich mein Vater nur einmal Zeit für ein Gespräch genommen und dabei ging es lediglich um eine Schulbefreiung, damit ich seinen Ingenieuren bei der Umsetzen meiner Idee, in die Serienproduktion helfen konnte. „Von mir aus!“, sage ich. Frau Zion sieht mich noch einmal tadelnd an, dann geht sie zurück in die Schule. „Komm Isegrim, wir müssen noch meine Sachen holen!“ Wieder reagiert Isegrim nicht, er schnüffelt am Boden herum und nimmt etwas in die Schnauze. „Kannst du das reparieren?“, fragt er und legt es mir in die Hand. Es ist die Brosche der kleinen Ivie. Sie ist zerbrochen, das goldene Gehäuse verbogen. Ich schaue den Berg hinab. Von Ivie und ihren Eltern ist nichts mehr zu sehen, ihnen die Brosche nachzutragen hätte keinen Sinn und ich habe keine Ahnung, wo sie wohnen. „Wenn du ihn reparierst, kommen wir an Ivies Daten heran, dann können wir ihn ihr zurück bringen“, schlägt Isegrim vor. „Was soll das schon bringen? Damit kann sie trotzdem nicht zur Schule gehen.“ „Verpass dem Schmetterling ein Update, lass uns was Neues bauen, nur für sie. Etwas einzigartiges, wie mich“, sagt Isegrim aufgeregt und springt um mich herum. „Etwas mit Gefühlen, mit dem ich reden kann.“ „Ich weiß nicht. Das sieht nicht aus, als wenn man es noch gebrauchen kann.“ Ich wiege die verbogene Brosche in den Händen. Der Kristall leuchtet nicht mehr, das ist ein schlechtes Zeichen. „Ach komm schon, ich weiß dass dich die Herausforderung reizt.“ Immer noch springt Isegrim um mich herum. Ich lasse den Kristall in meiner Handfläche rollen. Er hat Recht, daraus einen brauchbaren Kristalina zu machen, wäre wirklich eine Herausforderung. Ich könnte auch ein paar neue Programme schreiben, mit denen nur Isegrim kommunizieren kann. Was wohl passiert, wenn zwei Kristalina mit einem echten Herzen miteinander interagieren? „Na gut! Versuchen wir es!“ „Ja!“ Freudig rennt Isegrim voraus und ich ihm nach. Kapitel 6: ~Lunas Geburt~ ------------------------- Nur noch die Klappe am Kopf befestigen und die hintere Schraube festziehen. Fertig! Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und setzte die Fee in die Kunststoffhalterung zurück. Das wäre geschafft, die Grundform steht. Einen letzten Blick werfe ich auf all die verstreuten Zeichnungen vor mir. Kopf, Augen, Haare, alles ist genauso geworden, wie auf den Bildern, nur die aufrechte Haltung fehlt noch. Ihre zierlichen Arme, baumeln schlaff über die beiden Träger, die Haut der Fee ist blass und durchsichtig. Die dünnen Flügel hängen weit über ihren Körper hinab. Der Kopf liegt ihr auf der Schulter, ihre Augen sind geschlossen. Silbernes Haar wallt sich über das knielange Kleid, das ich ihr genäht habe. Es ist aus demselben Material wie Isegrims Fell. Bei Berührung wird es leuchten, vorausgesetzt der Kristall im Inneren der Schmetterlingsbrosche ist noch zu retten. Ich habe ihn bereits aus der Fassung gelöst, doch unter dem Mikroskop betrachtet, ist sein Zustand einfach bemitleidenswert. Etliche Risse ziehen sich, von der Mitte ausgehend, über den Stein. Kein Leuchten dringt mehr aus seinem Inneren. Zu allem Überfluss, ist er auch noch viel zu klein, um all die Daten aufzunehmen, die die Fee benötigen wird. Ich kratze meinen Kopf und sehe mich im Keller um. Eigentlich müsste ich einen neuen Kristall benutzen, doch Ivies Daten und die DNA ihres Blutes, sind bereits im Kristall gespeichert. Technisch wäre es zwar möglich, die Daten auf einen anderen Stein zu übertragen, doch ist es verboten zwei Kristalina-Herzen auf sich zu prägen. Ratlos betrachte ich den Wolf, der sich neben mir eingerollt hat. Sein Haupt hebt sich, die blauen Augen mustern mich fragend. Wir betrachten uns stumm. Von Isegrim wandert meine Aufmerksamkeit weiter, bis zu einem Berg Rohkristalle. In einem von ihnen, ist eine kreisrunde Vertiefung eingearbeitet. Das bringt mich auf eine Idee. Ich könnte den kleinen, in einen größeren Kristall einfügen. Damit erhöhe ich den Speicher und ich umgehe das Gesetzt. Immerhin ist der ursprüngliche Kristall noch immer im Kristalina verbaut. Ich rolle mit meinem Stuhl zum Kristallberg und nehme mir den, mit der Vertiefung. Ich werde die Öffnung noch etwas vergrößern müssen, damit der Stein aus der Brosche hinein passt. Als ich den Kristall in meiner Hand wiege, beginnt er zu pulsieren. Er leuchtet heller als die Lampe auf meinem Arbeitstisch. Schummrige Schatten tanzen an den Wänden, während ich zurück zum Mikroskop rolle. Mit meinem Handbohrer vergrößere ich die Vertiefung und passe sie dem Stein der Brosche nach und nach an, bis er die genaue Passform hat. Nun kommt der Moment der Wahrheit. Wird sich die Energie des roten Kristalls mit dem blauen Stein verbinden? Ausprobiert habe ich es bisher nur mit Steinen, derselben Farbe, doch mein Vorrat an blauen Kristallen, ist für Isegrims Herz drauf gegangen. Zwei Farben zu kombinieren, auf die Idee ist bisher noch keiner gekommen. Vielleicht ja aus gutem Grund? Hoffentlich fliegt mir nicht gleich alles um die Ohren. Einen letzten fragenden Blick richte ich auf Isegrim. Seine Ohren zucken, in meinem Geist kann ich seine Stimme hören: „Meinen Berechnungen zu folge, wird gar nichts passieren”, sagt er und gähnt ausgiebig. Den Kopf legt er auf seine Vorderpfoten und schließt die Augen. Wenn er so ruhig bleibt, sind die Chancen auf Erfolg gering. Ich greife den Stein mit meiner Pinzette und setze ihn in die Aussparung des roten Kristalls. Er passt perfekt, ich brauche nur wenig Druck, um ihn darin zu versenken. Unter dem Mikroskop beobachte ich die Risse, die sich von außen nach innen, mit rotem Licht füllen. Sie ziehen ihre Bahn entlang bis in die Mitte, dann erlischt das pulsieren beider Steine. „Verdammt!”, sage ich und knalle den Stein auf die Tischplatte. Er knackt unter meinen Fingern. Na toll! Als ich die Hand vom Stein hebe, ist auch der rote Kristall gesplittert. Genervt werfe ich beide Steine in eine Ecke des Kellers und bette den Kopf in die Hände. Das ganze Unterfangen ist aussichtslos, Ivies Kristall ist zu stark beschädigt, der ist nicht mehr zu retten. Das habe ich von Anfang an gesehen und trotzdem meine Zeit verschwendet. Ich Dummkopf! Nicht mal in der Schule bin ich gewesen, ich weiß auch nicht welchen Tag wir haben und wofür das alles? Für ein Spielzeug, das ich einem Kind geben wollte, dass ich nicht mal kenne. Grimmig betrachte ich die Fee in ihrer Halterung. Allein das Material, aus dem sie gemacht ist, kostet mehrere Tausend Rukien. Mein Vater würde mich sicher vierteilen, wenn ich das einfach so verschenke. Wobei, den interessiert sowieso nicht, was ich hier mache. Seufzend lege ich den Kopf auf die Tischplatte. Obwohl ich die Schule seit Tagen schwänze, ist Vater nicht nach Hause gekommen. Was muss ich eigentlich noch anstellen, damit er mal seine Arbeit vergisst? „Karak!” Ich spüre Isegrims Blick auf mir. Sein weiches Fell streift mein Bein, doch ich will nicht reagieren. „Mhmh”, brumme ich und drehe mich weg. Isegrim stupst mich am Oberschenkel an. Ob Vater es merken würde, wenn ich einfach hier sitzen bleibe und warte, bis ich verhungert bin? Wahrscheinlich wird er erst an meinem Verwesungsgeruch erkennen, dass etwas nicht stimmt. Wenn überhaupt. Wieder überkommt mich ein seufzen. Isegrims Pfote taucht neben meinem Kopf auf, seine Schnauze beugt sich über den Tisch, er setzt etwas auf der Platte ab. Ein violettes Leuchten, geht von dem Kristall aus, der nun vor mir liegt. Etliche Risse ziehen sich durch den Stein, durch einige fließt rote, durch andere blaue Energie. Im Ganzen betrachtet, pulsiert er violett. So etwas habe ich noch nie zu Gesicht bekommen. Die beiden Kristalle beeinflussen sich gegenseitig. Das ist nicht einfach nur eine Speichererweiterung mehr. Fasziniert greife ich nach dem Stein und lege ihn unter das Mikroskop. Beide Energien gehen fließend ineinander über. Faszinierend! Ich lege das neue Kristalinaherz in meinen Programmierer, ein kleiner Kasten mit einer runden Öffnung oben, aus der blaue und rote Strahlen austreten. Als der Kristall darin versinkt, färben sich beide Lichtstrahlen violett. Auf der Anzeige eröffnet sich eine Speicherkapazität von 984 GB. Mir bleibt der Mund offen stehen. Das sind gut 400 GB mehr als Isegrims Speicher fasst. Ich stelle das Gerät auf Datenübertragung. Alle wichtigen Standardprogramme, werden nun von der Box auf den Kristall gezogen. Das wird eine ganze Weile dauern. Der Kopf meines Wolfes erscheint neben mir, seine Stimme dröhnt in meinem Kopf: „So einen will ich auch!”, sagt er. Ich schüttle den Kopf über ihn. Bescheidenheit ist ihm offensichtlich ein Fremdwort. Dabei besitzt er jetzt schon die doppelte Leistung seiner Artgenossen. Außerdem wäre mir das Risiko zu groß, nur für den Speicherplatz zu riskieren, dass sein Kristall beschädigt wird. „Sei nicht so gierig!”, sage ich. Isegrim wendet sich schmollend von mir ab. Ich muss schmunzeln. Mit Gefühlen ist er ein noch viel spannenderes Studienobjekt. „Du hast eine neue Nachricht von deinem Vater. Willst du sie dir ansehen?”, fragt er. „Wenn es sein muss.” Ich erhebe mich und strecke mich ausgiebig. Vom langen konzentrierten Sitzen, schmerzt jeder meiner Muskeln. Besonders meine Pobacken fühlen sich taub an. ...~*~... Das Gefühl der Erschöpfung und des Schmerzes lösen sich auf. Der Keller verschwindet um mich herum. Ein Büroraum öffnet sich. An einem nussbraunen Schreibtisch, mit einem großen Ledersessel dahinter, sitzt mir nun mein Vater gegenüber. Sein strenger Blick fixiert mich und jagt mir eine Gänsehaut den Rücken hinab. Auch wenn ich weiß, dass es nur eine Aufzeichnung ist, geht mir seine dunkle Stimme durch Mark und Bein: „Karak! Was treibst du schon wieder? Seit vier Tagen versuche ich dich vergeblich zu erreichen. Deine Lehrerin ruft beinah stündlich bei mir an. Melde dich gefälligst!” Vier Tage? Die Information erschreckt mich mehr, als die Wut meines Vaters. Sitze ich wirklich schon so lange hier? ...~*~... Das Büro verschwindet, ich finde mich im Keller wieder. Mein Blick landet direkt auf einem Stapel Kartons mit Pizzasymbol auf dem Deckel. Die habe ich mir von Isegrim bestellen und herbringen lassen. Insgesamt sind bereits schon acht Schachteln zusammen gekommen. Vier Tage kann also durchaus hinkommen. Kein Wunder das mein alter Herr bereits durchdreht. Bisher habe ich auf keine seiner Nachrichten geantwortet. Isegrim hat sie mir zwar zwischendurch abgespielt, aber ich war zu sehr in meine Arbeit vertieft, dass die Filme nur im hintersten Winkel meines Gedächtnisses liefen und ich sie gekonnt bei Seite drängen konnte. Nun sollte ich ihm aber langsam ein Lebenszeichen schicken. „Willst du ihm antworten?”, fragt Isegrim. Ich nicke und stelle mich neben die Anzeige des Programmiergerätes. Wenn Vater meinen Erfolg sieht, wird das seine Wut sicher dämpfen. Isegrims Augen beginnen zu leuchten, sie bestrahlen mich und mein Umfeld mit einem blauen Licht, das kegelförmig auf und ab tanzt. Ich setzte ein verlegenes Lächeln auf und kratze mich am Hinterkopf, als ich meinen Vater wissen lasse: „Sorry, ich war so in mein neues Projekt vertieft, dass ich mal wieder die Zeit vergessen habe. Wir haben eine neue Schülerin bekommen. Sie hatte ein veraltetes Kristalinamodel und wurde vom Unterricht ausgeschlossen. Das Mädchen hat mir leidgetan und ich wollte einen neuen Kristalina aus ihrem alten Stein bauen. Du glaubst nicht, was dabei heraus gekommen ist.” Mit der Hand deute ich auf die Anzeige. „Hast du jemals zuvor einen violetten Kristall gesehen? Der Speicher wird dich umhauen. Die sollten wir in Serie produzieren.” Ich lächle entschuldigend, dann schaue ich betrübt zu Boden. „Na ja, wir sehen uns, wenn du mal wieder zu Hause bist. Wann immer das sein mag.” Mit dem Schwenk meiner Hand, gebe ich Isegrim zu verstehen, dass er die Aufnahme beenden soll. Das Licht aus seinen Augen erlischt. „Verschickt!”, bestätigt er in einem abgehakten Tonfall. Da ist mir wohl noch eine Standarteinstellung entgangen, die ich bisher nicht angepasst habe. So eine Mitteilung von ihm zu hören, fühlt sich seltsam ungewohnt an. Für einen Moment blicken die Augen des Wolfes so teilnahmslos, wie die aller Kristalinas. Wie können die Menschen das nur aushalten, den ganzen Tag diese toten Wesen um sich zu haben? Ich bin erleichtert als das Leben in die blauen Augen meines Wolfes zurückkehrt. Er betrachtet mich eingehend. „Bist du traurig, Karak?”, fragt er. Ich schüttle mit dem Kopf, bis mich ein leises Piepen aufschreckt. Der Programmierer ist mit seiner Arbeit fertig. Das ging sehr viel schneller, als ich es gewohnt bin. Aber umso besser, dann kann ich den Kristall gleich testen. Ich nehme wieder auf meinem Stuhl Platz und rücke an den Tisch heran. „So kleine Fee, wollen wir doch mal sehen, ob wir dich zum Leben erwecken können”, sage ich und hebe den Kristalina von der Halterung. Isegrim kommt zu mir gelaufen und setzt sich neben mich. Gespannt beobachtet er mein Tun. Ich lege der Fee den Kristall auf die Brust. Der Stein dringt durch das Kleid und ins Innere des Kristalinas. Sein violettes Licht erfüllt die ganze Puppe und gibt ihrer Haut einen glänzenden Schimmer. Die Flügel beginnen zu zucken, Arme und Beine durchlaufen die übliche Testphase. Der Kopf der Fee erhebt sich, ganz langsam öffnet sie die Augen. Leere Smaragde betrachten mich, mustern mein Gesicht. Ihre Flügel beginnen zu flattern und bringen das Püppchen in eine aufrechte Haltung. Ihre kleinen Füße berühren meine Handfläche und setzten sie sicher ab. Dass der erste Flugversuch so problemlos klappt, erstaunt mich. Bei Vaters Adler, gab es wesentlich mehr Fehlschläge. Offensichtlich habe ich aus denen gelernt. Stolz betrachte ich meine Schöpfung. Kommentarlos wartet sie auf neue Anweisungen. Noch ist sie nicht viel mehr, als das nackte Betriebssystem und ein Speicher an Daten über, Bewegungsabläufe, unsere Sprache und Lebensweise. Behutsam setze ich sie auf meinem Tisch ab und gebe Isegrim die Anweisung, seinen ganzen Speicher zu kopieren und einen Download zu starten. Der Wolf streckt seine Schnauze aus, das kleine Wesen hebt die Hand. Die Fee schließt die Augen, ein Strom aus blauer Energie läuft von Isegrims Nase in ihre Finger und von dort den Arm entlang, bis in die Mitte ihres Körpers. Violett pulsiert das Licht in ihrem Inneren, ein Luftstrom umrundet ihren Körper und bewegt das dünne Kleid und die seidigen Haare. Die Prozedur dauert nicht mal eine Minute, dann hebt die Fee ihre Hand von Isegrims Nase. Das ging eindeutig zu schnell, um sämtliche Daten aus Isegrims Speicher zu übertragen. Irgendetwas stimmt nicht. Ob ich doch ein Bauteil falsch verbunden habe? Vielleicht liegt es auch an dem zerbrochenen Kristallen, in ihrem Inneren. „Freut mich euch kennen zu lernen, Isegrim und Karak! Mein Name ist Luna“, ertönt auf einmal eine sanfte Stimme klar und deutlich. Es ist kein Raunen in meinem Kopf, an das ich gewöhnt bin, sondern geht direkt von dem Püppchen aus. Ich kenne kein Programm, mit dem es den Kristalinas möglich ist, auf herkömmlichem Wege mit uns zu sprechen. Auch einen Namen habe ich ihr noch nicht gegeben, geschweige denn in Isegrims Speicher vorgesehen. „Luna?”, entfährt es mir. Sie reagiert auf den Namen, legt den Kopf schief und lächelt freundlich. „Ja?“ Wieder kann ich sie klar und deutlich hören. „Jetzt schau doch nicht so entsetzt. Sie ist nicht auf dich geprägt, wie wolltest du sonst mit ihr kommunizieren? Wir haben hier kein Übertragstransposer“, sagt Isegrim und schaut mich von unten herauf keck an. Auch seine Stimme halt von den Wänden wieder. Hat er gerade ebenfalls gesprochen? Mit weit offen stehendem Mund betrachte ich beide Kristalinas. Hat Isegrim das Programm dafür etwa selbst geschrieben? Ich wusste gar nicht, dass er so etwas kann. „Wie gefällt dir der Name? Ich habe ihn selbst gewählt!“, fügt er an. Ich bringe es nicht über mich, ihm zu antworten. So kreative Entscheidungen zu treffen, habe ich ihm nicht beigebracht. Dieser Wolf entwickelt sich erschreckend schnell von selbst weiter. Hoffentlich wird das nicht noch zum Problem. Bisher habe ich noch keine Gelegenheit gehabt, seine neuen Funktionen mit einem Programmierer aus Vaters Firma durch zu gehen und jetzt habe ich schon zwei Kristalinas von dieser Sorte geschaffen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Idee gewesen ist. „Ivie?“ Luna sieht sich um, sie flattert mit den Flügeln, langsam erhebt sie sich in die Luft und beginnt den Keller zu sondieren. Sie durchforstet jeden Winkel. Immer wieder tritt ein helles Licht aus ihrem Oberkörper aus und leuchtet in dunkle Ecken und Verstecke. Als sie nicht fündig wird, kehrt sie zu mir zurück. Mit schnellen Flügelschlägen hält sie sich vor mir in der Luft. „Ivie?“, fragt sie wieder. Ich halte meine Hände auf, um ihr eine Landefläche zu bieten und will ihr gerade antworten, als Isegrims Stimme in meinem Kopf dröhnt: „Karak! Eine Nachricht von deinem Vater!” ...~*~... Das Büro meine Vaters öffnet sich. Er steht neben seinem Schreibtisch und packt einen Koffer mit Unterlagen zusammen. Seine Gesichtszüge sind dieses Mal weich und voller Aufregung. „Karak, du bist echt Gold wert. Ich werde gleich heute noch nach Hause fliegen und mir deine Erfindung anschauen. Mit deiner Schule habe ich auch schon gesprochen und dich freistellen lassen. Diese neue Kristallform sticht endgültig unsere Konkurrenz aus. Du musst mir genau erklären, was du gemacht …” Ich befehle Isegrim die Nachricht abzubrechen. ...~*~... Von den Plänen meines Vaters, will ich nichts mehr hören. Wenn er nur dafür heim kommt, will ich ihn nicht sehen. Ich habe ihm nicht davon erzählt, damit er nur an seine Geschäfte denkt. Er sollte doch nach mir fragen, nach dem was in der Schule passiert ist und dass ich einem Kind helfen wollte. Hat er denn alles überhört, was ich dazu gesagt habe? Ich habe keine Lust darauf, die nächsten Wochen im Labor, am Mikroskop zu sitzen, bis wir herausgefunden haben, welche Eigenschaften die neuen Kristalle haben. Aber fragt er mich einmal danach? Das war das letzte Mal, dass ich ihm von einer meiner Erfindungen berichtet habe. Mal sehen wie er reagiert, wenn er heim kommt und ich nicht mehr da bin. „Ich bring dich zu deiner Besitzerin!“, sage ich, an Luna gewandt. Sobald ich die Fee abgeliefert habe, werde ich in irgendeinem Hotel absteigen. Ich bin jetzt schon gespannt, nach wem mein Vater suchen lässt: Nach mir oder Luna und Isegrim. Kapitel 7: ~Lunas neues zu Hause~ --------------------------------- Mit dem Bus bin ich schon ewig nicht mehr gefahren. Für gewöhnlich reisen Isegrim und ich in der Familienlimousine, doch das hier ist etwas ganz anderes. Menschen eng an eng, die sich angeregt unterhalten. Vom Busfahrer mal abgesehen, bin ich der Einzige, der einen Kristalina bei sich hat. Als sich Isegrim und ich durch den engen Gang zu einem leeren Sitzplatz vortasten, werden wir von allen Seiten schief angesehen. Ich weiche den Blicken aus und folge meinem Wolf, der bereits auf einen der Sitze gesprungen ist und aus dem Fenster sieht. Erwartungsvoll sondiert er die Außenwelt. Mit Luna auf meiner Schulter lass ich mich neben ihm nieder. „Bist du sicher, dass wir im richtigen Bus sitzen?“, will ich von ihm wissen. Vor meinem inneren Auge erscheint eine Karte unserer Stadt und der Busverbindungen. Isegrim hat den Zielort markiert und lässt einen virtuellen Bus über die Straßen fahren. Er hält außerhalb der Stadt, der restliche Weg führt durch Felder. Wir werden ihn wohl zu Fuß gehen müssen. Noch immer sind alle Blicke auf mich gerichtet. Zwei Frauen, eine Sitzreihe vor Isegrim und mir, tuscheln miteinander und kichern dabei. Lunas Füße lösen sich von meiner Schulter, sie schlägt mit den Flügeln und flattert aus der Sitzreihe in den Mittelgang. Das violetten Licht aus ihrem Inneren erfüllt den ganzen Bus. Sie faltet die Hände vor der Brust zusammen, deutet eine Verbeugung an und spricht glockenklar: „Schoje, ich bin Luna, freut mich eure Bekanntschaft zu machen!“ Die Augen aller Fahrgäste weiten sich, ihre Münder stehen weit offen, kein Ton ist mehr zu hören.. Ich schlucke schwer und sehe Luna ebenso erschrocken an. Ich habe ihr keinen Befehl gegeben, sich vorzustellen. Das ist gar nicht gut. Wenn hier auch nur einer etwas von Kristalinas versteht, wird er den Wert Lunas sofort erkennen. Es wäre nicht das erste Mal, dass man versucht mich zu bestehlen. Isegrim kann sich wenigstens wehren, ich habe ihn mit spitzen Reißzähnen und messerscharfen Klauen ausgestattet, aber Luna ist für ein Kind bestimmt. Sie besitzt keinerlei Abwehrmechanismen. „Luna, komm sofort zurück!“, rufe ich. Luna schaut sich neugierig um, sie reagiert nicht. Ich rutsche auf meinem Sitz nach vorn und packe sie an den dünnen Beinchen. Um sie aus der allgemeinen Aufmerksamkeit zu ziehen, setze ich sie zwischen mich und Isegrim. Tadelnd sehe ich sie an. „Bleib gefälligst bei mir!“ „Warum?“ Auf ihren Knien hockend, sieht die Fee zu mir auf und hat den Kopf schief gelegt. „Du bist sehr wertvoll. Es muss dich nicht jeder sehen“, flüstere ich ihr zu. Sie nickt lediglich und streicht ihr Kleid unter die Knie. Je länger ich sie betrachte, um so mehr Bedenken kommen mir. Ob es wirklich so eine gute Idee ist, sie einem Kind anzuvertrauen? „Ich passe schon auf sie auf!“, sagt Isegrim. Ich werfe ihm einen irritierten Blick zu. Ihn außerhalb meines Kopfes sprechen zu hören, ist ungewohnt für mich. Ich brauche einen Moment mich zu fangen und ihm zu antworten: „Du kannst nicht zeitgleich bei Ivie und bei mir sein. Luna gehört ja dann nicht mehr zu uns.“ „Dann holen wir die Kleine eben jeden Tag ab und bringen sie nach der Schule wieder heim.“ „Du hast wohl gelitten, was?“ „Warum nicht? Ich mag die Kleine und du kommst endlich mal unter Menschen.“ Ich betrachte Isegrim verblüfft. Noch bevor mir eine passende Antwort einfällt, fährt er fort: „Du verbringst viel zu viel Zeit in deinem Keller und auch in der Schule sprichst du fast nur mit mir. Hast du dir schon mal überlegt, das deine Einsamkeit vielleicht davon kommt? Wir holen Ivie jetzt jeden Tag ab und bringen sie heim, keine Widerrede!“ Ich bin so überrumpelt von Isegrims Worten, dass mir den Mund offen stehen bleibt. Die Haltung des Wolfes straft sich, aufrecht mit gespitzten Ohren und hoch gestelltem Schweif, betrachtet er mich herausfordernd. „Warten wir doch erst mal ab, was ihre Eltern dazu sagen werden“, entgegne ich und wende mich von ihm ab. Der Bus bringt uns in eine Gegend, in der ich bisher noch nie einen Fuß gesetzt habe. Als wir aussteigen, weht uns eine milde Priese entgegen, der Duft von gehauenem Gras liegt in der Luft und die Sonne scheint warm vom Himmel. Mir kommt es fast so vor, wie in der Werbung, die unsere Entwicklerteam für die Hundewelpen produziert hat. Ob diese Aufnahmen hier draußen entstanden sind? Alles sieht genau so aus. Die Felder im Hintergrund, die Wiesen mit dem weichen Gras. Selbst die Obstbäume gibt es hier draußen. „Wo müssen wir lang?“, will ich von Isegrim wissen. Der Wolf setzt sich in Bewegung. Zielsicher läuft er die Straße entlang, bis sie in einen Feldweg mündet. Ich setze Luna auf meiner Schulter und folge ihm. Zwei junge Mädchen, mit Körbe voller Früchte, kommen uns entgegen. Sie drehen sich nach mir und den beiden Kristalinas um, während sie hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln beginnen. Beide sind ganz allein unterwegs. Ich habe zwar von Gegenden gehört, die keinen Zugriff auf das Netzwerk der Kristalinas haben und wo die Bevölkerung zu arm ist, um sich einen Kristalina zu kaufen, aber ich habe mir das nie vorstellen können. Es ist so seltsam, die Menschen ohne ihre Begleiter zu sehen. Sie sprechen ungewöhnlich oft miteinander und keiner starrt leer vor sich hin. Alles wirkt so voller Leben. Ausgelassen tobt eine Schar Kinder auf einer großen Wiese herum. Sie treten eine große Kugel vor sich her und schießen damit auf zwei Wäschestangen. Die Kugel geht meilenweit daneben und landet irgendwo zwischen den beiden Stangen, trotzdem rufen die Kinder ausgelassen: „Tor!“ Was für ein seltsames Spiel. „Willst du mitspielen, Karak?“, höre ich Isegrims Worte in meinem Kopf. „Nein, wir sind hier um Luna abzuliefern“, erkläre ich kurz und bemühe mich meinen Weg schneller zu bewältigen, trotzdem muss ich den Kindern noch einen letzten Blick zuwerfen. Sie scheinen wirklich Spaß mit dieser Kugel zu haben. Der Weg wird immer unebener, überall liegen kleine Steine herum, Gras und Unkräuter wuchern am Wegesrand. Die vielen Blüten, dieser Gewächse, habe ich noch nie gesehen. In der Stadt gibt es keine so niederen Pflanzen. Allenfalls gepflegte Grünanlagen und akkurat geschnittene Bäume. Hier aber wächst alles wild durcheinander. Gib es denn keine Gärtner, die sich darum kümmern, dass alles seine Ordnung hat? Auf dem Weg vor uns, läuft ein Hund entlang, er trägt einen großen Stock im Maul. Den Kopf hoch erhoben, rennt er an uns vorbei und hinein in ein großes Grundstück. Ich muss zwei mal hinsehen, um zu erkennen, dass dieses Tier echt ist. Isegrims Blick folgt dem Hund, bis er in einer Scheune verschwindet. Ich sehe mich nach einem Besitzer um, doch dem Hund folgt kein Mensch. Scheinbar darf er hier frei herum laufen. Mein Wolf ist inzwischen stehen geblieben, sein Schweif pendelt angespannt hin und her, schließlich rennt er wie von Sinnen davon. Er wetzt über die Wiese davon und verschwindet im Unterholz eines großen Strauches. „Isegrim!“, brülle ich ihm nach. Panik steigt in mir auf. Ohne ihn finde ich nie zurück. Was soll das überhaupt? Bisher ist er noch nie einfach weggelaufen. Ich setzte ihm nach, doch bevor ich den Busch erreicht habe, schießt er aus dem Blätterwerk hervor. In der Schnauze hat er einen viel zu großen Stock, den er genau so stolz trägt, wie der Hund von eben. Ich bleibe abrupt stehen und sehe ihn ungläubig an. So was verrücktes hat er noch nie gemacht. Er ist doch kein gewöhnlicher Hund, er ist doch ein Kristalina. Er kommt zu mir und umrundet mich einige Mal, bevor er gemächlich zurück auf den Weg läuft und weiter voran geht. „Was machst du denn da? Wir brauchen keinen Stock“, frage ich und lauf ihm nach. „Du nicht, ich schon.“, schalt seine Antwort in meinem Kopf. „Wofür?“ „Verrat ich nicht.“ Ich schüttle über ihn den Kopf. Irgendwas stimmt mit seiner Programmierung nicht. Das muss ich unbedingt mit den Entwicklern im Labor besprechen. So schön es auch ist, das Isegrim selbständig denkt und eigenständig dazu lernt, aber so langsam macht mir sein Verhalten Angst. Ein Kristalina der eigenen Programme schreibt und sich dann wie ein gewöhnlicher Hund verhält, da stimmt doch was nicht. Wir laufen und laufen, die letzten Häuser liegen schon weit hinter uns. Wenn ich zurück schaue, sind nur noch ihre roten Dächer hinter dem Hügel zu erkennen. „Wie weit ist es denn noch?“ Isegrim deutet mit der Schnauze in Richtung eines Trampelpfades. Er führt einen weiteren Hügel hinauf, auf dem ein großer Apfelbaum steht. Er ist so hoch, dass er weit über das Dach der kleinen Holzhütte dahinter reicht. Sein grünes Blätterdach rauscht im Wind. Auf einer gasfreien Fläche, vor der Hütte, picken Hühner. Zwischen ihnen steht ein kleines blondes Mädchen, mit einem viel zu großen Eimer. Sie schleppt schwer an ihm und lässt ihn hart auf den Boden zwischen den Hühnern fallen. Immer wieder greifen ihre kleinen Hände hinein und verteilen den Inhalt zwischen den Tieren. Luna beginnt mit den Flügeln zu schlagen, sie löst sich von meiner Schulter. Ihre Augen sondieren das Kind. „Ivie!“, sagt sie und zischt davon. Ihre zierliche Gestalt jagt über die Wiese, direkt auf das Kind zu. Ich schaffe es nicht mehr sie aufzuhalten. „Luna!“, rufe ich ihr vergebens hinterher. Als sie direkt vor dem Kind auftaucht, erschrickt sich Ivie so sehr, das sie den Eimer umwirft und in den Dreck zu den Hühnern fällt. Na das war ja mal eine überwältigende Begrüßung. Ich seufze und folge dem Trampelpfad. Luna umkreist ihre Besitzerin mit aufgeregten Flügelschlägen. Das pulsierende Leuchten in ihrem Inneren ist selbst im hellen Tageslicht deutlich zu sehen. „Ivie, wie schön. Endlich sehen wir uns wieder“, ruft sie unentwegt und zieht immer neue Kreise um das Mädchen. Als wir Ivie erreichen, streckt sie gerade die Hand nach der Fee aus und fragt: „Was bist du?“ Ihre himmelblauen Augen wandert zu mir und Isegrim. Den Kopf legt sie schief, ihre Hand richtet sie, mit dem Zeigefinger voran, auf mich und Isegrim. „Euch kenne ich, ihr wart doch in der Schule. Du bist Isegrim, stimmt's?“ Aufgeregt gagernd verteilen sich die Hühner um uns, sie schlagen wild mit den Flügeln und machen ein solchen Lärm, dass ich einen Schritt vor ihnen zurück weiche. Einen großen Mann, mit einer Mistgabel in der Hand, kommt auf uns zu. „Ivie, was machst du wieder mit den Hühnern? Du sollst sie doch nur füttern“, fragt er schroff, als er mich sieht, hält er inne. Sein Blick wird fragend. Ivie kämpft sich auf die Beine und putzt sich den Dreck aus ihrem Kleid. Dann kommt sie zu uns. Sie kniet sich vor Isegrim und streichelt ihm über den Kopf. Während sie sich zu ihrem Vater dreht sagt sie: „Schau, Papa, schau! Das ist der Wolf, von dem ich erzählt habe. Er ist ganz weich.“ Sie vergräbt das Gesicht im Nackenfell meines Wolfes, es beginnt blau zu leuchten. Isegrim legt seinen Kopf auf ihre Schulter und scheint diese Berührung zu genießen. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, ihn so herzlich zu umarmen und sein Fell einfach so zu streicheln. Wenn Ivie das tut, sieht es wirklich weich und einladend aus. „Und du bist?“ Ivies Vater putzt sich die Hände an seiner Latzhose ab und kommt die letzten Schritte zu uns. „Mein Name ist Karak und ich habe ein Geschenk für Ivie“, entgegne ich rasch. Der Blick des großen Mannes wird misstrauisch, fast schon grimmig. Ivie steht wieder auf. „Der Wolf gehört dem Jungen, er war in meiner Klasse“, erklärt sie. Ihr Vater schaut einen Moment lang Isegrim an, dann wieder mich. „Wieso kommt ein Kind aus der Stadt, mit einem Geschenk zu uns?“, deutlicher Misstraue schwingt in seiner Stimme. Ich bin mir nicht sicher, wie ich ihm mein Vorhaben erklären soll. Während ich über die passenden Worte nachdenke, legt Isegrim den Stock auf dem Boden ab und spricht für mich: „Wir haben die kaputte Schmetterlingsbrosche gefunden und sie repariert.“ Der Blick des Mannes verfinstert sich. Er winkt mit der Hand ab, als er sagt: „Das hättet ihr euch sparen können. Das teure Teil ist nutzlos.“ Luna schwirrt direkt vor das Gesicht des Mannes. Sie stemmt die Hände in die Seiten und schaut ihn wütend an. Ihre Backen plustert sie auf und schimpft: „Ich bin nicht nutzlos!“ Ivies Vater greift sich entsetzt ans Herz. Er weicht einen Schritt zurück und betrachtet die Fee fassungslos. Ich nehme Luna von ihm und setze sie mir auf die Hand. „Ich habe den Kristall in der Brosche etwas modifiziert. Das ist Luna. Sie ist einzigartig und kann weit mehr, als nur ein virtuelles Klassenzimmer erzeugen“, berichte ich stolz. Ivies Augen folgen meiner Worte aufmerksam. Sie zieht an meinem Hosenbein und streckt sich nach der Fee auf meiner Hand. „Das ist mal mein Schmetterling gewesen? Zeig, zeig her!“, bittet sie. Ich lasse die Fee vor Ivie fliegen. Luna verbeugt sich und begrüßt sie lächelnd: „Schoje!“ Das Mädchen legt die Hände aneinander und breitet sie vor der Fee aus. Luna landet auf ihnen. Die Augen Ivies bekommen ein Funkeln, während sie alle Fassetten der Fee bewundert. Das erste mal kann ich mit eigenen Augen sehen, wie sich jemand über eine Erfindung von mir freut. Stolz sehe ich ihr dabei zu, wie ihre Finger über die Haare und das Kleid der Fee fahren, wie sie alles an ihr erforscht. „Sie ist so wunderschön!“, jauchzest sie. Luna blickt verlegen zur Seite weg, die Arme verschränkt sie hinter dem Körper. „Danke“, murmelt sie und dreht mit ihrem Fuß kleine Kreise auf Ivies Hand. Der dunkle Schatten des großen Mannes legt sich über uns. Er greift die Fee und drückt sie mir in die Hand, dann dreht er mich an der Schulter zum Trampelpfad und stößt mir in den Rücken. Ich stolpere einen Schritt nach vorn. „Nimm dein Spielzeug und geh! Wir sind arme Leute, hier gibt es nichts für dich zu holen.“ Ich schaue über die Schulter zurück. „Verlasse meinen Hof!“, fordert er mit Nachdruck. „Ich will kein Geld für Luna!“, sage ich. Sein Blick bleibt abweisend. „Ach nein? Was dann?“, noch immer ist seine Stimme schroff. „Nichts ...“, versichere ich ihm. Eine Frau tritt aus der Hütte. Sie überschaut die ganze Situation und fragt: „Was ist denn hier los, Erik?“ „Der Junge hat meine Brosche repariert und aus ihr eine Fee gemacht“, berichtet Ivie aufgeregt. Mit dem Finger wedelt sie herum und deutet auf mich. Die Gesichtszüge ihrer Mutter hellen sich auf. Sie faltet die Hände zusammen und kommt zu uns gelaufen. „Wirklich?“, fragt sie. Ich lasse die Fee fliegen und drehe mich zu ihr und ihrem Mann. Der Vater schaut noch immer skeptisch, während seine Frau Luna erstaunt betrachtet. „Das ist unmöglich“, flüstert sie und breitet die Hände aus. Luna landet auf ihnen. „Freut mich, Mutter von Ivie“, sagt Luna und verbeugt sich. Sie dreht sich zum Vater und begrüßt auch ihn auf diese Weise: „Freut mich, Vater von Ivie.“ „Der Knabe behauptet, nichts für dieses Ding haben zu wollen“, berichtet ihr Mann. „Das hast du gebaut?“, fragt sie. Ich nicke und weiche ihrem anerkennenden Blick verlegen aus. „Das ist erstaunlich. Ich habe noch nie so etwas schönes gesehen.“ Hitze steigt mir in den Kopf, ich kann spüren, wie sie mir in die Wangen schießt. Verlegen kratze ich mich am Hinterkopf. Luna ist meine bisher beste Arbeit, aber an so viel Lob, bin ich nicht gewöhnt. „Frau! Hörst du mir nicht zu? Er will dieses Ding unser Tochter schenken, das ist doch nicht normal“, sagt der Vater. Bei seiner rauen Stimmlage muss ich schwer schlucken. Es ist wohl doch keine so gute Idee gewesen, einfach so hier aufzukreuzen und ein so teures Geschenk mitzubringen. Der Blick der Mutter richtet sich von ihrem Mann zu mir. Sie strahlt über beide Ohren. Mit Luna in den Händen, beugt sie sich zu mir hinab. „Wirklich? Kann Ivie damit auch zur Schule gehen?“ „Sicher!“, entgegne ich achselzuckend. Ein lächerlicher Schulbesuch, dürfte mit Luna so ziemlich das kleinste Problem sein. „Das ist ja wundervoll! Hab vielen Dank! Los komm mit rein. Ich habe gerade Pudding zum Senken ans Fenster gestellt. Wenn du noch ein paar Minuten warten kannst, dann können wir davon probieren!“ Die Mutter legt mir ihren Arm über die Schulter, sie drängt mich zur Hütte zu gehen. Unsicher folge ich ihr. Hinter uns dröhnt die dunkle Stimme des Vaters: „Frau, du kannst das doch nicht einfach so annehmen. Da muss es doch einen Hacken geben.“ „Jetzt sei nicht so unhöflich, Erik. Der Junge ist den weiten Weg aus der Stadt bis zu uns gekommen. Wir sollten ihn zumindest herein bitten, und uns anhören, warum er unserer Ivie helfen will.“ Der Vater rollt mit den Augen. Er stemmt die Hände in die Seite und folgt uns mit einem tiefen Seufzer. „Na schön. Aber ich werde nichts kaufen!“ Kapitel 8: ~Familie~ -------------------- Die Familie führt mich ins Haus. Es hat nur ein Zimmer. In seiner Mitte steht ein großer Holztisch, an seiner Stirnseite ist eine große Ecke herausgebrochen, er hat überall Scharrten und Kanten. Die Stühle, die sich drum herum verteilen sind schmucklos und ohne Polsterung. Auf dem Tisch sind Blumen in einer weißen Vase hergerichtet. Mir direkt gegenüber steht ein großer Offen mit Herdplatten auf der Oberseite. Daneben sorgt ein einziges Fenster für Licht, vor ihm befindet sich eine Küchenzeile. Alles ist dort sauber und sortiert, Teller übereinander, Besteck in einem Holzkrug, aufrecht stehende Messer in einem Block. Der große Schrank daneben ist sicher der Kühlschrank. Viel mehr Einrichtungsgegenstände gibt es nicht, dafür fällt mir ein Laken auf, das quer durch den Raum gespannt ist. Ob sich dahinter der Schlafbereich der Familie befindet? Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter, mit sanftem Druck werde ich zum Eintreten bewegt und auf den Tisch zugeschoben. „Setze dich doch!“, sagt die Mutter, ich mache dir in der Zwischenzeit eine Limonade, die erfrischt dich sicher, nach deinem langen Weg." Ich setze mich auf einen der harten Holzstühle. Die Mutter holt aus dem Schrank eine Schussel in der frische Zitronen liegen. Unter der Spüle kramt sie eine Glaskaraffe hervor und füllt sie mit Wasser und Zucker. Während sie die Zitronen schneidet und auspresst, setzt sich der Vater an die Stirnseite des Tisches. Sein Blick ist noch immer bedrohlich und seine Gesichtsmuskulatur angespannt. Mir ist nicht wohl bei seinem Anblick. Ich sollte das hier schnell hinter mich bringen und mich dann rasch verabschieden. Isegrim sondiert seine Umgebung gründlich, langsam kommt er zu mir und setzt sich neben mich. „Ihr Haus ist wirklich sehr gemütlich!“, sagt er. Der Vater bekommt große Augen. „Dieses Ungetüm kann ja sprechen!“ „Ja, das hat er sich und Luna heute selbst beigebracht. Isegrim ist etwas ganz Besonderes“, erwidere ich und betrachtet meinen Kristalina mit Stolz. Der Vater räuspert sich. „Nun, ich kann diesen Dingern nicht viel abgewinnen. Sie sind unverschämt teuer und machen Menschen zu Sklaven.“ So habe ich das noch nie gesehen. Ich erinnere mich an meine Mitschüler, wie sie scheinbar schlafend in ihren Stühlen lagen und an die Menschen auf den Straßen, wenn sie wie versteinert da stehen und ins Leere schauen, während ihre Kristalinas ihnen etwas ins Gehirn projizieren. Aber sind wir deswegen wirklich ihre Sklaven? Isegrim ist für mich viel mehr ein Partner. „Aber ihrer Tochter haben sie doch auch einen gekauft“, sage ich mit Blick auf Luna. Die Fee schwirrt unentwegt um Ivie herum. Das Mädchen streckt die Hände nach ihr aus und versucht sie zu fangen. Beide scheinen schon jetzt viel Spaß miteinander zu haben. „Das war ein notwendiges Übel. Ohne dieses Dinger kann man heutzutage ja kein Kind mehr einschulen.“ „Wir leben schon in einer verrückten Welt“, sagt die Mutter. In ihrem Gesicht spiegelt sich Traurigkeit. Sie stellt die Karaffe auf den Tisch und holt noch vier Gläser aus dem Schrank. „Als ich noch Kind war, haben Stift und Papier ausgereicht. Der Lehrer stand vorn an der Tafel und hat direkt zu uns gesprochen. Heute ist das alles anders.“ Sie verteilt die Gläser auf dem Tisch und füllt sie mit Limonade. Ich versuche mir das vorzustellen, ich kennt nur die neuen Unterrichtsmethoden, bei denen es oft reicht eine Datei herunterzuladen und schon ist der gewünschte Lernerfolg im Gehirn abgespeichert. Alles ist sofort erlebbar. Wir können uns in ein Atom hinein fühlen, es anfassen, es riechen und schmecken. Das alles von einer einfachen Tafel abzulesen und sich vorzustellen zu müssen, erscheint mir unglaublich mühsam. Die Mutter setzt sich zu uns an den Tisch, sie findet ihre Lächeln wieder und sagt: „Nun warum bist du jetzt zu uns gekommen. Doch nicht wirklich, weil du Ivie ein so teures Geschenk machen wolltest, oder?“ „Nun, um ehrlich zu sein, es war Isegrims Idee.“ Ich schaue an mir hinab auf meinen Kristalina und streichle ihn hinter dem Ohr. „Sie müssen wissen, ich erfinde diese Kristalinas für mein Leben gern und es war eine echte Herausforderung für mich, aus der kaputten Brosche einen funktionierenden Kristalina zu machen. Das ist auch schon alles. Es ging mir wirklich nicht darum Geld mit Luna zu verdienen. Sie zu erschaffen war mein Lohn. Da nur Ivie sie benutzen kann, kann ich ohnehin nichts mit ihr anfangen. Sie kann sie wirklich haben.“ „Völlig umsonst?“, fragt der Vater misstrauisch. „Ja, ich brauche kein Geld, wir haben mehr als genug. Mein Vater ist der Besitzer der Krista-Kompanie. Dem fallen nicht mal auf, wenn die Materialien fehlen, die ich für Luna benutzt habe. Mein Hobbykeller ist so voll mit diesen Sachen, das ist wirklich kein Verlust.“ Luna kommt auf den Tisch geflattert. Mit geschmeidigen Flügelschlägen lässt sie sich auf die Füße sinken. Als sie sicheren Halt gefunden hat, klappt sie die Flügel ein. Sie verschränkt die Arme hinter dem Rücken und schaut freundlich in die Runde. „Es freut mich ab jetzt Teil dieser Familie zu sein“, sagt sie und verbeugt sich. Die Mutter beugt sich über den Tisch vor zu mir. „Darf Ivie mit dieser Fee auch wirklich am Unterricht teilnehmen?“ „Ja sicher, sie müssen sich vielleicht noch um die Formalitäten mit der Schule kümmern, aber rein technisch hat Luna alles was Ivie braucht, um an unserem virtuellen Unterricht teilzunehmen.“ Freudig schlägt die Mutter die Hände zusammen. „Das ist ja großartig!“, jubelt sie. Ihre Freude erfüllt mich selbst mit Glück. Es tut gut zu wissen, dass ich diesem Kind mit meiner Tat eine Zukunft geschenkt habe, die ihr ihre Eltern nicht hätten bieten können. „Mein Junge, ich kann es noch immer nicht ganz verstehen und noch weniger glauben, aber wenn das alles wirklich dein Ernst ist, dann weiß ich gar nicht, wie ich dir das jemals danken soll. Wir haben wirklich unser Möglichstes getan, um unsere kleine Ivie in die Schule schicken zu können.“ Ivie klettert dem Vater auf den Schoss, er hilft ihr in dem er ihr unter die Arme greift und sie hochhebt, dann schaut er sich im Wohnraum um. „Du siehst ja, wie ärmlich wir eingerichtet sind. Seit das Kind auf der Welt ist, haben wir jeden Rukien an die Seite gelegt und trotzdem hat es nicht gereicht. Dieser Kristalina kann für Ivie ihr ganzes Leben verändern. Jetzt muss sie nicht mehr das Leben eines verlorenen Kindes führen. Sie kann Studieren und mal alles werden, was sie sein möchte.“ Der Vater senkt den Kopf. „Vielen Dank dafür! Von heute an, bist du uns immer ein willkommener Gast.“ „Ja, komm ruhig vorbei, wann immer du magst. Wir haben zwar nicht viel, aber für einen selbst gebackenen Kuchen oder frische Milch von unseren Kühen lohnt sich der Weg aus der Stadt. So etwas gibt es immerhin nur hier.“ „Danke, sehr gern!“, sage ich und trinke einen Schluck der Limonade. Sie schmeckt ganz anders, als die aus der Flasche. Irgendwie mehr nach Zitrone und nicht so süß. „Karak!“ Isegrim reibt seinen Kopf an mir, auffordernd sieht er mich an. „Wir wollten doch noch etwas anbieten!“, fügt er an. „Noch etwas?“, ich brauche einen Moment, bis ich verstehe was er meint. „Ach ja!“ Ich richte mich an die Eltern von Ivie. „Luna wird sicher auf der Straße jedem, der sich mit Kristalinas auskennt, ins Auge stechen. Sie ist viel zu ausgefallen. Isegrim hat deswegen vorgeschlagen, dass es sicherer wäre, wenn wir sie abholen und jeden Tag zur Schule begleiten. Natürlich nur, falls ihnen das Recht ist. Wir sind in der selben Klasse, also hätten wir auch zur selben Zeit Unterricht, das wäre also kein Problem. “ Die Eltern sehen sich Ratsuchende an. Schließlich ist es die Mutter, die sagt: „Wäre es denn für sie mit Luna allein gefährlich?“ „Naja, sie ist noch so klein und ein Dieb hätte leichtes Spiel. Da Luna ja für ein Kind gedacht ist, habe ich sie nicht mit Abwehrmechanismen ausgestattet. Isegrim kann seine Zähne und Krallen wie Messer benutzen, aber Luna ist nur ein hübsches Püppchen.“ „Wir passen gut auf sie auf“, sagt Isegrim und lächelt. Der Vater beugt sich zur Mutter, er sagt leise: „Ich weiß nicht, das alles erscheint mir zu viel des Guten. Wer sagt uns denn, dass wir dem Jungen trauen können?" "Aber wenn wir es nicht tun, kann Ivie nie zur Schule gehen. Das wäre wirklich eine große Chance für sie?", sagt die Mutter. Schließlich richtet der Vater sich wieder auf und sieht mich streng an. "Wir nehmen das Angebot dankend an. Aber sollte mir zu Ohren kommen, dass mit Ivie etwas nicht stimmt, oder sie nicht in der Schule ankommt, dann finde ich dich, verlasse dich darauf!" Ich werde in meinem Stuhl immer kleiner. „Ich habe wirklich nichts schlimmes im Sinn“, sage ich kleinlaut und nehme noch einen Schluck Limonade. Die Mutter greift über den Tisch, sie legt ihre Hand über meine. „Bitte nimm es meinen Mann nicht übel. Wenn sonst Menschen aus der Stadt hier her kommen, dann wollen sie etwas verkaufen.“ „Die halten uns für leichtgläubige Dummköpfe, mit denen sich schnelles Geld verdienen lässt, dabei gibt es hier doch nun wirklich nichts zu holen.“ Da hat er Recht, alles was ich bei mir trage, dürfte mehr wert sein, als das Haus und alles was sich darin befindet. „Karak, eine Nachricht von deinem Vater!“, sagt Isegrim unter dem Tisch herauf. "Nicht jetzt!", erwidere ich und schubse seine Schnauze von meinem Bein. So lange er mir nicht in die Augen sehen kann, so lange muss ich mir diesen Mist nicht ansehen. "Eine Nachricht? Wie funktioniert das?", fragt die Mutter und sieht mich neugierig an. Wie soll ich ihr das erklären. Sie hat sicher noch nie einen Kristalina besessen. "Wenn ich Isegrim machen lassen würde, dann würde er mir jetzt eine Nachricht von meinem Vater direkt in den Kopf projizieren. Dann würde ich mir alles, was mein Vater sagt und die Umgebung wo er sich aufhält anschauen können, als wenn ich direkt bei ihm wäre." "Wow, und das könnte Ivies Fee auch?" "Ja sicher, nur müsstet ihr dann auch über einen Kristalina verfügen, um ihr überhaupt eine Nachricht schicken zu können." "Das ist schon eine erstaunliche Technologie", sagt er Vater. „Karak, noch mehr Nachrichten von deinem Vater“, sagt Isegrim. „Das scheint wichtig zu sein“, sagt der Vater. Ich schaue verlegen und kratze mich am Hinterkopf. „Scheint so! Es ist wohl besser, wenn ich langsam nach Hause gehe.“ „Ja, tu das. Und du kommst dann morgen früh wieder her, um unsere Ivie abzuholen?“, fragt die Mutter. Ich nicke und erhebe mich. Vor dem Tisch verbeuge ich mich noch einmal. „Vielen Dank, dass sie mich angehört haben.“ „Wir haben zu Danken!“, sagen Mutter und Vater fast zeitgleich. „Na dann Ivie bis morgen“, sage ich und winke dem Mädchen. Sie winkt zurück und auch Luna schüttelt ihre Hand. „Bis morgen!“, sagen sie. Ich verlasse das Haus und will die Tür nach mir schließen, als mir die Mutter nachgeeilt kommt. Sie nimmt meine Hände und legt mir einen roten Apfel hinein. „Hier nimm den als Wegzerrung mit, er ist von unseren Bäumen und schmeckt sehr süß.“ „Danke!“ Ich nicke ihr noch einmal zu, dann gehe ich den Weg zurück, denn ich gekommen bin. „Willst du jetzt die Nachrichten deines Vaters ansehen?“, fragt Isegrim. „Kannst du mir nicht eine kurze Zusammenfassung geben?“, frage ich und beiße in den Apfel. Er ist tatsächlich sehr süß und ganz saftig. Obwohl ich mir sonst nicht besonders viel aus Äpfel mache, schmeckt mir dieser erstaunlich gut. „Dein Vater ist zu Hause angekommen, er sucht dich und lässt fragen, wo der neue Kristall ist. Er will ihn umgehend ins Labor schaffen, ihn zerlegen und untersuchen lassen.“ Mir bleibt ein Stück des Apfels im Halse stecken, ich beginne zu husten. Nach Luft schnappend sehe ich Isegrim an. Das ist mehr als schlecht. Ich habe nicht daran gedacht, dass Vater den Kristall ja haben wollen wird. Nun ist er in Luna verbaut. Wenn ich der Fee ihr Herzstück nehmen muss, ist sie nutzlos und wenn Vater den Kristall im Labor untersuchen lässt, wird er sicher zerstört oder zumindest beschädigt werden. Jetzt habe ich Ivies Familie aber schon dieses teure Geschenk gemacht. Ich kann Luna unmöglich zurück fordern. Was mache ich denn jetzt? „Karak? Willst du ihm antworten?“ „Nein, wir tauchen unter. Komm, sehen wir, ob wir irgendwo ein Hotelzimmer bekommen.“ Ich laufe schneller. Isegrim folgt mir und sieht an mir hinauf. Sein Blick ist streng, als er sagt: „Du kannst deinem Vater aber nicht ewig davon laufen. Er wird dich morgen früh spätestens vor der Schule abfangen und wir müssen morgen zur Schule, weil wir Ivie ja hinbringen wollen.“ „Ach verdammt!“ Da habe ich mich ja mal wieder in eine beschissene Situation gebracht. Jetzt muss ich mir eine gute Ausrede einfallen lassen. „Na schön. Lass mich ihm eine Nachricht schicken!“ Ich bleibe stehen. Mein Kristalina umrundet mich und bleibt vor mir stehen. Er setzt sich auf die Hinterpfoten und beginnt damit mich und meine Umgebung zu scannen. Ein blaues Licht tritt aus seinen Augen aus, es tanzt auf und ab. „Hallo Vater! Ich bin noch unterwegs. Ich denke ich werde in einer Stunde zu Hause sein. Was den Kristall angeht, da habe ich gelogen. Ich wollte nur, dass du nach Hause kommst und nur für mich tust du das ja nicht. Also bis dann.“ Isegrims Augen verlieren ihr Leuchten, er sieht mich wieder normal an. „Verschickt!“, sagt er abgehackt. Ach ja, da war sie wieder diese Standarteinstellung, die ich noch ändern wollte. Mein Wolf braucht einen Moment bis er wieder so lebendig wirkt wie immer. Er schaut mich schief an. „Ist was?“, fragt er. „Ja, ändere diese 'Verschicken Meldung'. Das ist ja gruselig, wenn du wie ein normaler Kristalina redest.“ „Oh, okay wird gemacht.“ Isegrims Augen blinken kurz, dann sagt er abgehackt wie auf Werkseinstellung. „ERLEDIGT!“ Ich schaue ihn böse an. „Das hast du jetzt mit Absicht gemacht, oder?“ Auf den Lefzen des Wolfes legt sich ein schelmisches Grinsen, dann fängt er an zu lachen. Moment, hat er gerade einen Witz gemacht und dabei auch noch Sarkasmus benutzt? Dieses neue Programm entwickelt sich viel zu schnell von alleine weiter. Langsam bekommt er eine eigene Persönlichkeit. Ist das jetzt gut oder eher schlecht? Vielleicht ist es doch gut, wenn ich nach Hause gehe und das mit Vater und seinen Kollegen bespreche. Isegrims Lachen verstummt, sein Blick wird ernst, als er sagt: „Karak, die Nachricht solltest du besser sehen!“ „Ja, okay, warte!“ Ich schaue mich suchend um. Hier mitten auf dem Feldweg will ich nicht in Trance versinken. In der Ferne kann ich eine Bank ausmachen. „Lass uns da hingehen!“ Ich deute mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf sie und gehe zu ihr. Als wir sie erreichen setze ich mich. Noch einmal sehe ich mich nach allen Seiten um. Wir sind allein, sehr gut. Isegrim bleibt vor mir stehen, er schaut mir direkt in die Augen, dann wird alles für einen Moment schwarz. ...~*~... Ich finde mich in unserem Keller wieder. Vater sitzt an meiner Werkbank, sein Blick ist finster und vorwurfsvoll. In der Hand hält er das kleine Kästchen, mit dem ich die Daten auf Ivies Herzkristall gezogen habe. Seine Anzeige zeigt noch immer die unglaubliche Zahl von 400 GB an. „Warum belügst du mich Karak? Ich habe gerade die Daten aus dem Programmierer geladen. Ich weiß genau dass darin ein Herzkristall lag. Was soll das also?“ ...~*~... Die Aufnahme Endet, ich sitze wieder bei Isegrim auf der Bank. „Na ganz toll. Und jetzt?“, frage ich meinen Wolf. „Die Wahrheit?“, sagt er achselzuckend. „Die Wahrheit? Na ganz toll. Was glaubst du wird Vater dann machen?“ „Finden wir es heraus!“ Ich bin mir nicht sicher ob die Wahrheit wirklich eine gute Idee ist, aber ich weiß auch nicht, was ich Vater sonst glaubhaft erzählen könnte. „Na schön. Schicken wir ihm eben noch eine Nachricht.“ Isegrim beginnt erneut mich zu scannen. Ich atme noch einmal durch, dann sage ich: „Na schön, es war eine Lüge. Ich habe den Kristall nicht mehr. Er ist in einem Kristalina verbaut, denn ich gerade verschenkt habe. Ich habe dir doch von dem Mädchen erzählt, dessen Schmetterlingsbrosche zu alt war für den Unterricht und sie deswegen die Schule verlassen musste. Eigentlich war das mit dem lilanen Kristall nur ein versehen. Ihr Vater hat die Brosche aus Wut zerbrochen und ich wollte sie reparieren und einen anständigen Kristalina daraus für sie bauen. Ich habe ja genug Material rumliegen, dass sonst nur verstaubt. Ich hatte aber keine blauen Kristalle mehr, also habe ich mit einem roten Experimentiert. Beide waren aber nicht kompatibel und da habe ich sie zusammen weggeworfen. Als beide dabei zerbrochen sind, konnte die Energie frei fließen. Mehr habe ich nicht gemacht. Bitte können wir Ivie den Kristalina und den Herzkristall lassen? Sie kann sonst nicht zur Schule gehen. Ich bin mir sicher ich kann einen neuen Herzkristall herstellen der genau so viel GB hat.“ Ich winke ab. „Okay, alles aufgenommen und verschickt!“, sagt Isegrim dieses mal in seinem normalen Tonfall. Ich schaue nachdenklich vor mich hin. „Was meinst du? Wird er wegen Luna jetzt ruhe geben?“ Isegrim steigt auf die Bank, er legt sich neben mich und bettet seinen Kopf auf meinem Schoß. „Keine Ahnung! Aber wenn nicht müssen wir einen Weg finden, ihn zu überreden. Luna gehört zu Ivie und ohne ihren Herzkristall wird Luna sterben. Das dürfen wir nicht zulassen.“ „Sterben?“, fage ich leise. Bisher ist mir nicht in den Sinn gekommen so über die Herzen der Kristalina zu denken, aber Isegrim hat recht. Ohne ihr Herzstück sind sie nur leblose Hüllen. Ähnlich wie bei uns Menschen nach dem Tod. Selbst ihr mechanischer Körper wird führe oder später zerfallen, wenn sich niemand mehr darum kümmert. „Ich lasse mir was einfallen“, sage ich und streichel Isegrim über den Kopf. Sein Fell ist ganz weich, dort wo meine Hand ihn berührt sprühen kleine blaue Funken. Nicht auszudenken, wenn mir jemand seinen Herzkristall nehmen würde. „Karak, ein Anruf von deinem Vater“, sagt Isegrim und richtet sich wieder auf. „Okay?“ Sonst ruft Vater doch nie an. Eine Nachricht reicht ihm immer. „Na gut! Log mich ein!“ ...~*~... Wieder lande ich in unserem Keller. Mein Vater sitzt noch immer an der Werkbank, sein Blick ist noch finsterer, seine Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen. Dieses Mal hält er meine Skizzen in der Hand. „Ist das der Kristalina, den du verschenkt hast?“ „Ja?“, antworte ich zögernd. „Hat er funktioniert?“ „Ja?“, frage ich noch vorsichtiger. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst deine Prototypen ja meinetwegen verschenken, aber nicht bevor wir sie nicht eingehend überprüft haben.“ „Du meinst wohl eher, nicht bevor ihr alles was Gewinn abwerfen könnte, für euch Patentiert habt“, sage ich mit deutlicher Wut in der Stimme. Ich habe es so satt, dass mein Vater nur nach dem Gewinn strebt, den er mit meinen Ideen machen kann, nur dafür kommt er mal nach Hause und nur dafür scheint sich ein Gespräch mit mir zu lohnen. „Ja, aber das ist nicht der Punkt. Du magst ein guter Erfinder sein, aber auch deine Programme laufen nicht fehlerfrei. Mal von einer ganz neuen Konstruktion einer Fee zu schweigen. Was glaubst du passiert bei einer Fehlfunktion, mit dem Mädchen, dem du die Fee geschenkt hast?“ „Ich habe alle Daten noch mal von Isegrim überprüfen lassen!“ „Dein Kristalina läuft auch noch nicht fehlerfrei. Was ist eigentlich mit dem hier?“ Mein Vater blendet neben sich ein Programm ein. Ich brauche nur einen kurzen Blick auf die ersten Zeilen werfen, um zu wissen, dass es die Gefühle sind, die ich Isegrim aufgespielt habe. „Was soll damit sein?“ „Hast du das prüfen lassen?“ „Nein?“, frage ich wieder vorsichtig. „Läuft Isegrim schon damit?“ „Ja?“ Ich werde noch leiser. „Die Fee auch?“ Ich nicke nur noch scheu. Mein Vater springt aus dem Stuhl. „Man Karak. Wie kannst du nur so unverantwortlich sein? Mal von dem fremden Kind abgesehen, kann auch dir etwas passieren, wenn du dich mit Isegrim einlogst und bei dem neuen Programm etwas nicht stimmt.“ Ich atme scharf aus. Die Wut, die ich schon seit Wochen mit mir herumtrage platzt nun ungeschönt aus mir heraus. „Als wenn dich das wirklich kümmern würde, was mit mir ist! Wenn ich die Kellertreppe herunterfallen würde, wann würdest du das merken? Tu doch nicht so, als wenn es dich wirklich kümmern würde, wie es mir geht. Isegrim, beende das Gespräch! Sofort!“ Isegrim erscheint in einem Hologramm neben mir. „Nein, sprich dich mit ihm aus!“, sagt er. „Was? Mach gefälligst was ich dir sage!“, schimpfe ich aufgebracht. „Nein!“, sagt er wieder. „Verdammt noch mal! Was soll das?“ Mein Vater verschränkt die Arme vor der Brust, er grinst selbstgefällig. „Bist du das gewesen?“, frage ich ihn schroff. Auch wenn ich die Antwort schon kenne. Bisher hat noch keine die Sicherheitsbarrieren meines Kristalinas überwinden können, auch Vater nicht. Vater schüttelt den Kopf. „Ich sage dir doch, auch deine Programme haben Schwächen, wobei mir dieser Fehler gerade zu gefallen beginnt. Gut gemacht Isegrim.“ Isegrim beginnt zu lächeln, ein finsteres bedrohliches Lächel. Neben mir sehe ich ein Programm laufen, das nur für ihn und mich sichtbar ist. Hackt er sich gerade in Vaters Kristalina ein?Ich überfliege die Datensätze, zu mehr komme ich auch nicht, weil sie unglaublich schnell an mir vorbei ziehen. Er macht irgendwas mit dem Speicher. „Vater ich glaube wir müssen uns wirklich zusammensetzen. Hier läuft was ganz und gar nicht gut!“, sage ich. Vaters Stirn bekommt tiefe Sorgenfalten. „Was ist lose?“ „Isegrim hackt gerade deinen Speicher und er baut irgendwas zum Löschen ein.“ „Was?“ Mein Vater sieht starr vor sich, in die Richtung wo sein Kristalina stehen muss. „Fertig!“, sagt Isegrim auf einmal in dem abgehakten Ton, den ich ihn habe abstellen lassen. Er schaut meinen Vater direkt an und sagt: „Wenn sie den Herzkristall aus Luna entfernen, wird im selben Moment der Speicher ihres Raubvogels unwiederbringlich gelöscht. Sie ist der einzige Kristalina der wie ich ist. Ich lasse nicht zu, dass sie zerlegt wird. Sie brauchen es auch gar nicht leugnen oder mit Fürsorge begründen. Ich kann immerhin ihre Gedanken lesen und aller Sorge zum Trotz, steht doch noch immer der Gewinn an erster Stelle. Sie malen sich doch die ganze Zeit schon aus, wie teuer sie eine Fee wie Luna verkaufen könnten. Aber sie ist nicht zu verkaufen. Sie bleibt einzigartig, wie ich!“ ...~*~... Der Keller löst sich auf, ich kann wieder das warme Sonnenlicht auf meiner Haut fühlen. Den Trampelpfad und die weiten Felder sehen. Ich bekomme eine Gänsehaut, meinen Blick richte ich auf Isegrim. Der Wolf sitzt vor mir, er schaut noch immer grimmig. „Bist du verrückt geworden?“, schreie ich ihn an, „Jetzt wird er dich zerlegen lassen!“ Isegrim fletscht die Zähne und gräbt die Krallen in den Boden. „Das soll er ruhig versuchen. Du hast mir die hier nicht umsonst gegeben.“ Meine Augen weiten sich. Zum ersten Mal macht Isegrim mir Angst. Mit den Verteidigungsmechanismen, mit denen ich ihn für den Notfall ausgestattet habe, kann er einen Menschen tödlich verwunden. Was wenn er meinen Vater tatsächlich angreift? Was habe ich da nur geschaffen? „Isegrim, hör auf dich so zu benehmen!“ Mir steigen die Tränen in die Augen. Egal wie viel Angst er mir gerade macht, oder wie viele Fehlfunktionen sich gerade in ihm häufen, er ist mein bester Freund. Ich will nicht das er von Vater auseinander genommen wird. Dann bin ich wieder ganz allein. Der Wolf legt den Kopf schief, das finster Lächeln verschwindet, er schaut besorgt. „Aber warum? Du wolltest doch das Ivie Luna behalten kann.“ „Aber doch nicht, wenn wir dich dafür opfern müssen.“ Ich schlinge meine Arme um Isegrim und ziehe ihn fest an mich. Helle Funken sprühen auf. „Du darfst nicht sterben.“ „Keine Sorge. Ich beiße und kratze, wenn mir jemand zu nah kommt.“ „Du sollst auch niemanden verletzen!“, sage ich laut. „Aber die dürfen mich verletzen?“ Ich lasse den Wolf los und schaue ihn an. Warum habe ich Idiot ihm nur Gefühle geben? Er hat nicht mal eine Woche gebraucht, um eine eigen Persönlichkeit daraus zu entwickeln. Sie werden ihn auf jeden Fall zerlegen. Ich komme gegen die Tränen nicht mehr an. Sie laufen mir von den Wangen. Dort wo sie in Isegrims Fell fallen, leuchtet es hell auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)