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Herzkristall

von

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~Erster Schultag~

Ich lasse mich gestresst auf den Stuhl vor meinem Tisch fallen.

Der Schulhof und das Schulgebäude sind heute brechend voll.

Ich habe ganz vergessen, dass wir Schulanfang haben und neue Erstklässler bekommen. Das heißt, der Unterricht wird sich lediglich um organisatorische Dinge drehen. Wie langweilig.

Ich seufze und sehe Isegrim dabei zu, wie er den Klassenraum erkundet. Das tut er immer, wenn wir hier ankommen. Heute läuft er zuallererst zu Sue und ihrem Pinguin.

Die beiden stehen am Fenster, Sue unterhält sich mit ihrer besten Freundin Kim. Sie trägt ein grünes Kleid mit weißen Punkten und dünnen Trägern. Es reich ihr bis zu den Knöcheln, so wie es die Schulordnung vorschreibt. Schade, finde ich, so kann man ihre schlanken Beine gar nicht sehen. Ihre glänzenden schwarzen Haare hat sie in den Sommerferien auf Schulterlänge abschneiden lassen. Eine Schande, lang haben sie mir besser gefallen.

Sie bemerkt Isegrim nicht, genauso wenig wie mich.

Er bleibt neben ihr stehen und setzt sich auf die Hinterpfoten. Die Aufmerksamkeit meines Kristalinas gilt ihrem Pinguin, dem sie den treffenden Namen Binoko gegeben hat, was so viel wie schwarze Perle bedeutet. Das Gefieder ihres Kristalinas funkelt tatsächlich, wie die Oberfläche einer Perle.

Ich beobachte die Beiden aufmerksam und bin gespannt, ob sich etwas in ihrem Verhalten ändert, nun, da ich Isegrim am Morgen menschliche Gefühle aufgespielt habe.

Die beiden Kristalinas sehen sich an. Sie legen die Nasen aneinander. Ein Funken springt über, dann steht Isegrim auf und geht weiter.

Nur ein Datenaustausch? Ich bin enttäuscht, habe ich mir doch erhofft, dass mehr passiert. Andererseits dürfte Isegrim der einzige Kristalina im Raum sein, der Gefühle empfinden und deuten kann, es gibt also nichts, was er mit den anderen seiner Art, teilen könnte.

Irgendwie geht es ihm da wie mir. Wenn ich von Programmierungen spreche, versteht auch keiner, was ich sagen will.

Während Sue noch nicht einmal bemerkt hat, dass sich unsere Kristalinas berührt haben, ist Isegrim schon bei Kims Fuchs. Ich mag sie nicht sonderlich und das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. In Kims versteinerten Gesichtszügen habe ich noch nie ein Gefühl ablesen können. Ihre blasse, gläserne Haut, lässt sie stets krank erscheinen. Grimmig sieht sie auf Isegrim hinab, als dieser sich ihrem Kristalina nähert. „Kusch, kusch!“, faucht sie ihn an und wedelt mit ihrer Hand vor seiner Schnauze herum. Als er sich davon nicht vertreiben lässt, sieht sie zu mir. Ihr Blick ist streng und mahnend. „Ruf dein Ungetüm zurück. Ich will keines deiner blöden Up-Dates.“

„Zu spät!“, entgegne ich.

Isegrim hat den unbeobachteten Moment genutzt, um mit seiner Nase, die des Fuchses zu berühren. Ungläubig schaut Kim auf die Beiden hinab. „Karak!“, kreischt sie, als ob ihr das noch etwas nützen würde. Der Funken ist längst übergesprungen.

Ein zufriedenes Lächeln legt sich auf die Lefzen meines Kristalinas. Er erhebt sich und läuft weiter. Fröhlich pendelt sein Schweif von einer auf die andere Seite. Während Kim sich zu ihrem Fuchs hinabbeugt, ihn auf den Arm nimmt und versucht, ungeschehen zu machen, was Isegrim angerichtet hat, ist dieser schon auf dem Weg zum nächsten Kristalina.

Seit ich Isegrim das erste Mal zum Leben erweckt habe, hat er sich schon so unabhängig von mir bewegt. Er hat seinen eigenen Kopf und das gefällt mir. Er ist nicht, wie die Kristalinas hier, die teilnahmslos neben ihren Besitzern stehen und auf deren Anweisungen warten. Ich sehe ihm gern dabei zu, wie er auf neue Ideen kommt, auch wenn mich das schon oft in Schwierigkeiten gebracht hat. Vor den Ferien hat er dem großen, weißen Löwen unserer Lehrerin ein Lied beigebracht, dass dieser die ganze Zeit abspielen musste. Der Unterricht ist daraufhin ausgefallen und von meinem Vater weiß ich, dass er und seine Ingenieur drei Tage gebraucht haben, um das Up-Date zu finden und unschädlich zu machen.

Die erste Woche meiner Ferien habe ich deswegen mit Stubenarrest verbracht, was aber nicht weiter tragisch war, da ich sowieso mit den Gefühlen für Isegrim beschäftigt gewesen bin.
 

„Kaaarakkk!“, kreischt Kim wieder, als sie feststellen muss, dass sich das Up-Date, nicht ohne weiteres löschen lässt. Ihre schrille Stimme erfüllt den Klassenraum und verstummt erst, als die Schulanfänger das Klassenzimmer betreten.

Zwei Mädchen und ein Junge. Unsicher sehen sie sich um.

Der Junge trägt eine teure Hose und ein Hemd mit einem Schlips. An seiner Seite läuft ein Welpe mit Schlappohren.

Das neuste Modell der Hundekristalinas. Sie sehen besonders niedlich aus und sind extra für Schulanfänger gemacht. Sie verführen ihre zukünftigen Besitzer mit bestechend bunten Werbefilmen. Für meinen Geschmack sind sie zu kitschig, aber sie verkaufen sich gut und für kleine Kinder sind sie sicher ansprechend, aber besonders viel Technik steckt für den Preis von knapp 5.000 Rukien nicht in ihnen. Reine Abzocke, aber mit meinem Vater darüber zu sprechen, habe ich aufgegeben. Er hat seine eigene unumstößliche Meinung dazu.

Neben dem Jungen mit Hundewelpen, bleibt eines der beiden Mädchen stehen. Sie scheint seine Schwester zu sein, denn ihr grün gestreiftes Kleid, ist aus derselben teuren Kollektion, wie das Hemd und die Hose des Jungen. Auch sie hat einen Hundewelpen, nur trägt ihrer eine rosafarbene Schleife um den Hals. Die Ausgabe für Mädchen, oder hat sie ihm selbst dieses Teil umgebunden?

Isegrim hat die Runde durch das Klassenzimmer inzwischen beendet und entdeckt nun auch die beiden Hunde. Mit wehendem Schwanz läuft er auf sie zu.

Die Besitzer der beiden Kristalinas schauen erschrocken. Wie versteinert starren sie ihn an, während ihre Welpen ebenso regungslos verharren.

Isegrim stupst beide mit der Nase an. Ein Funken springt über, dann betrachtet er das zweite Mädchen. Verwirrt sieht er sich nach ihrem Kristalina um.

Das blonde Mädchen, mit den seidigen Haaren, die ihr leicht über die Schultern fallen, sieht neugierig zurück. Sie trägt ein Kleid mit blauen Schmetterlingen. Ihre Füße stecken in zwei roten Schuhen, auf denen jeweils eine weiß gepunktete Schleife aufgestickt ist.

Auch ich suche ihren Kristalina und kann ihn auf den ersten Blick nicht finden, bis mir schließlich eine Brosche in der Form eines Schmetterlings an dem Träger ihres Kleides auffällt. So eine veraltete Version habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich wage zu bezweifeln, dass Frau Zions Fuchs damit noch kompatibel ist.

Isegrim umrundet das fremde Mädchen einige Male.

Der Kopf und die Augen der Kleinen folgen ihm. Sie streckt ihre Hand nach seinem Fell aus und streichelt es. Kleine blaue Funken sprühen dort, wo sie es berührt. Erstaunt zieht sie ihre Hand zurück.

Endlich entdeckt auch Isegrim ihren Anhänger. Er streckt die Schnauze danach aus und berührt ihn, einmal, zweimal, nichts passiert. Das war zu erwarten, er ist einfach zu alt. Verwirrt sieht Isegrim zu mir zurück. Seine Augen fragen mich, während ich seine Stimme in meinem Kopf höre: „Wieso kann ich nicht mit dem Schmetterling kommunizieren?“

„Der ist veraltet!“, antworte ich ihm und schwenke meinen Kopf zum Zeichen, dass er zu mir zurückkommen soll.

Er versteht mich nicht sofort und sieht mich ratlos an.

„Karak, ich habe dir doch verboten, Up-Dates in der Klasse zu verteilen!“, ertönt die strenge Stimme unserer Lehrerin.

Isegrim setzt ein schelmisches Grinsen auf. Das hat er noch nie getan. Hat das Up-Date etwa seinen Charakter verändert? Lächerlich, er hat ja nie einen gehabt, oder? Ich beobachte ihn dabei, wie er sich setzt und versucht unschuldig auszusehen, als wenn er das nötig hat, immerhin bin ich für ihn und seine Taten verantwortlich.

„Karak, ruf ihn zurück! Wir sprechen uns nach dem Unterricht.“ Frau Zion wirft Isegrim einen kurzen abschätzigen Blick zu, bevor sie an ihm vorbei geht.

In einigem Abstand folgt ihr ein großer, weißer Fuchs, der ihr bis zu den Hüften reicht. Sein Fell glänzt seidig im Sonnenlicht, seine spitzen Ohren sondieren die Umgebung aufmerksam.
 

Isegrim kommt zu mir zurück gelaufen. Mit angelegten Ohren und eingeklemmtem Schwanz, kriecht er unter meinen Tisch und verhält sich erstaunlich ruhig.

Noch immer frage ich mich, welches Up-Date er den anderen Kristalinas verpasst hat, doch bevor ich dazu komme, ihn in meinen Gedanken danach zu fragen, hat Frau Zion ihr Lehrerpult erreicht.

Die drei Neuen folgen ihr. Sie bleiben neben ihr in einer Reihe stehen, zuerst die beiden Zwillinge und schließlich die Kleine, mit dem altmodischen Schmetterlingsanhänger. Wie es Sitte ist, falten sie die Hände vor den Knien zusammen und machen dabei eine leichte Verbeugung. „Schoje!“, begrüßen sie uns höflich.

Wir alle bringen ihnen die gleiche Höflichkeit entgegen, stehen auf und verbeugen uns, während in einem Chor: „Schoje!“, erklingt.

Meine Stimme hebt sich dabei nicht von der breiten Masse ab, gedanklich unterhalte ich mich mit Isegrim. Die folgende Vorstellung ist sowieso nur Routine und interessiert mich nicht.

Wir alle setzen uns wieder und warten auf den Beginn des Unterrichtes.

„Was hast du mit ihnen gemacht!“, frage ich meinen Kristalina, während das Klassenzimmer ganz langsam um mich herum verschwimmt.

Ich versinke in der Welt, die Isegrim in meinem Kopf erzeugt:
 

...~*~...
 

Wir befinden uns nicht mehr in der Schule. Ich stehe jetzt in einer verlassen Seitenstraße. Rechts und Links erheben sich Hochhäuser. Ich kann ihr Ende nur erahnen, da sie sich nicht gegen den dunklen Nachthimmel abheben. Hier im Nichts des Netzwerkes der Kristalina, bin ich am liebsten, hier sind Isegrim und ich ungestört.

Der Wolf sitzt neben mir und sagt: „Ich will nicht der Einzige sein, der etwas fühlen kann.“

Erschrocken sehe ich in die kristallklaren Augen des Wolfes. Er hat den anderen Kristalinas Gefühle gegeben, ist er verrückt geworden? Ich versuche vergeblich zu überschlagen, was das für Auswirkungen haben wird. Das ist etwas anderes, als den Kristalina meiner Lehrerin lahm zu legen, dass kann unsere ganze Welt verändern. Der Mund bleibt mir offen stehen. Ich weiß vor Entsetzen nicht, was ich sagen soll.

„Keine Sorge, es hat nicht geklappt, den anderen fehlt ein wichtiges Bauteil“, knurrt Isegrim.

Ich atme tief durch, noch einmal Glück gehabt.

Meine aufkeimende Freude darüber, wird jedoch getrübt, als ich sehe, wie Isegrim die Schultern hängen lässt und seine Ohren sich anlegen. Traurig sieht er zu mir hoch, als er meint: „Jetzt weiß ich, wie du dich fühlen musst, wenn dein Vater die ganze Zeit auf Reisen ist. Ist das Einsamkeit, Karak?“

Augenblicklich bereue ich, was ich meinem Kristalina angetan habe. Ich habe keinen Moment daran gedacht, dass er mit menschlichen Emotionen, auch alle negativen Gefühle spüren wird. Ich will ihm antworten, doch unsere Verbindung bricht ab.
 

...~*~...
 

Die Hochhäuser verschwinden, ebenso wie die dunkle Seitenstraße. Ich finde mich im Klassenzimmer wieder. Wie immer, wenn Frau Zion den Unterricht eröffnet, sendet ihr weißer Fuchs ein Signal, dass unser privates Surfen im Netz abschaltet.

„Wie schön, dass ihr uns nun alle zuhören wollt!“, sagt sie mit einem ironischen Unterton. „Ich war gerade dabei unsere neuen Schüler vorzustellen. Das sind Kirem und Dirin Hanaga, ihr Vater arbeite für die Kristalina Kompanie." Wie immer ist es Lehrerin Zion wichtig zu betonen, aus welchen Familienverhältnissen ihre Schüler stammen.

Kirem und Dirin sind also die Kinder von Hanaga. Der Name kommt mir bekannt vor. Er ist einer der Chefdesigner meines Vaters, ich habe schon oft mit ihm zusammen gearbeitet. Er hat mir bei den ersten Entwürfen für Isegrims Fell geholfen, aber davon, dass er Kinder hat, hat er nie etwas erzählt. Es gehört nicht zum guten Ton, am Arbeitsplatz etwas persönliches Preis zu geben, dafür ist es umso wichtiger, wo und für wen man angestellt ist. Das habe ich nie verstanden. Es ist noch nicht einmal wichtig, was man für einen Beruf ausübt. Wird man nach seiner Arbeit gefragt, ist es üblich dass man die Firma oder den Arbeitgeber nennt, nicht die eigene Tätigkeit.

„Und das hier ist Ivie Baumann“, fährt Frau Zion fort, „Ihre Eltern besitzen einen Bauernhof am anderen Ende der Stadt.“

Ein Raunen geht durch die Reihen meiner Mitschüler, sie beginnen zu tuscheln und lachen hinter vorgehaltener Hand. Ein Mädchen vom Land, haben wir hier noch nie gehabt.

„Sicher haben ihre Eltern ihre letzte Kuh verkauft.“

„Sieh nur das Kleid, das ist schon seit Jahren aus der Mode!“

„Ihre Schuhe sind ganz dreckig, sicher musste sie durch den Mist laufen, bevor sie herkommt!“, tuscheln meine Mitschüler.

„Sie tut mir leid“, höre ich Isegrim durch meine Gedanken spuken.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehen kann, was er damit sagen will. Er kennt sie doch gar nicht.

Das Mädchen schaut neugierig in die Runde und hüpft von einem auf das andere Bein. Sie beißt sich vor Nervosität auf der Unterlippe herum. Sie scheint gar nicht zu hören, was über sie gesprochen wird.

„Nun sucht euch einen freien Sitzplatz, dann können wir beginnen!“

Das kann etwas werden. Wenn die Neuen das erste Mal ins Netz gehen, sind sie oft verstört und nicht zu beruhigen. Wir werden heute im Unterricht keinen Schritt weiter kommen, jetzt wäre ich lieber im Netz.

Ich sollte versuchen das Passwort zu knacken, um den Zugang wieder freizuschalten. Ich fahre mit der Hand unter den Tisch und beginne Isegrim am Ohr zu kraulen, unser Zeichen dafür, dass er mich in sein System einlogen soll.
 

„Chi, gebe Kirem, Dirin und Ivie unsere Unterrichtsdaten, damit wir anfangen können“, trägt Frau Zion ihrem Fuchs auf, der sich daraufhin in Bewegung setzt. Mit geschmeidigen Schritten nähert er sich erst Kirem und Dirins Hundewelpen. Er berührt ihre beiden Schnauzen und überträgt unser virtuelles Klassenzimmer auf sie.

„Und ihr geht schon mal vor!“, sagt Frau Zion uns anderen.
 

...~*~...
 

Die Welt vor mir verschwimmt. Ich spüre weiches Gras unter meinen nackten Füßen, der würzige Duft von Tannenadeln, dringt mir in die Nase. Direkt vor mir erscheint eine große Eiche. Ihr Stamm ist so dick, dass wir uns alle drumherum stellen müssten, um ihn gemeinsam umfassen zu können. Sein riesiges Blätterdach breitet sich über unseren Köpfen aus und spendet uns Schatten. Die Blätter rauchen in einer sachten Brise und vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit, dass uns alle erfüllt, ob wir wollen oder nicht. Gedacht ist es aber sicher nur für unsere neuen Mitschüler.

Ich schaue mich suchend nach ihnen um.

Die große Wiese wird von einem dichten Nadelwald umschlossen, der als Abgrenzung des Klassenraumes dienen soll. So ist der Unterricht nicht so einengend, pflegt Frau Zion häufig zu sagen und Tatsächlich ist es angenehmer hier zu sein, als in unserem stickigen Klassenzimmer.

Nach und nach tauchen meine Mitschüler auf der Waldlichtung auf. Sie und ihre Kristalinas verteilen sich im Kreis um die alte Eiche und warten auf Frau Zion.

In unserer Mitte erscheinen Kirem und Dirin, die sich erschrocken umsehen. Sie greifen nach der Hand des anderen.

Erst ab dem ersten Schultag, dürfen Kinder diese Funktion der Kristalina benutzen, damit sie unter Anleitung lernen, was wichtig ist, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Die Augen der Geschwister weiten sich, während sie die große Eiche und die Wiese unter ihren Füßen betrachten. Ihre Münder stehen ihnen offen, sie bilden lautlose Worte damit.

„Wie sind wir hier her gekommen?“, fragt Kirem seine Schwester, die ratlos mit den Schultern zuckt.

Zwei meiner Mitschülerinnen nehmen sich der Beiden an,

Sue ist eine von ihnen. Sie legt dem Mädchen beide Hände auf die Schultern und erklärt ihr in einem warmherzigen Ton: „Keine Angst, das ist nur unser Klassenzimmer. Wir und eure Hundewelpen werden euch alles erklären. Ab Morgen werdet ihr schon von ganz allein hier her kommen können.“

Es ist üblich, dass wir Älteren uns im Unterricht um die Jüngeren kümmern und sie beim Lernen unterstützen. Teamwork ist unseren Lehrern sehr wichtig und Sue beherrscht diese Disziplin perfekt. Manchmal erinnert sie mich an eine Mutterfigur. Die Kleinen laufen ihr stets als erstes hinterher, kein Wunder das sie Klassensprecherin geworden ist.

Ich für meinen Teil arbeite lieber für mich allein und halte mich mit der Kinderbetreuung zurück. Ich will schließlich selbst etwas lernen, ein Grund mehr, warum mich diese Tage nerven, an denen wir nur blöd herum stehen und die neuen Kinder mit unseren Unterrichtsmethoden vertraut machen.

Ich sehe mich nach Frau Zion um. Bisher ist sie noch nicht aufgetaucht. Immer wieder suche ich die Lichtung nach ihr ab, aber sie ist nirgends zu sehen und auch von der Kleinen, mit dem Schmetterlingsanhänger, fehlt jede Spur.
 

...~*~...
 

„Sieh mal!“, höre ich Isegrim neben mir sagen.

Die Lichtung und die große Eiche verschwinden. Ich sitze wieder im Klassenzimmer. Ich bin erstaunt. Seit wann kann Isegrim die Verbindung unserer Lehrerin unterbrechen?

„Ich glaube nicht, dass sie an unserem Unterricht teilnehmen kann“, sagt er.

Ich verstehe nicht sofort, was er meint, bis ich Frau Zion vor dem kleinen Mädchen mit dem Schmetterlingsanhänger knien sehe. Sie hält ihre Hände und versucht das Kind mit sanfter Stimme zu trösten: „Jetzt weine doch nicht. Ich kann dir ein Programm geben, wo du lesen und schreiben zu Hause lernen kannst!“

Dicken Krokodilstränen rollen von den Wangen der Kleinen. Sie sammeln sich an ihrem Kinn und tropfen auf ihr Kleid. In Höhe ihres Brustkorbes, hat sich schon ein großer Fleck gebildet, der stetig wächst.

Ihr Kristalina ist zu alt, fällt mir wie Schuppen von den Augen. Nun bekomme ich doch ein bisschen Mitleid mit ihr. Frau Zion wird sie vom Unterricht ausschließen und ihren Eltern sagen müssen, dass sie die Schule nicht mehr besuchen darf.

„Mama und Papa haben aber gesagt, ich darf in die Schule gehen. Ich habe doch einen Krisaina“, stammelt die Kleine und reibt sich ihre geröteten Augen.

„Ich werde nach der Schule mit deinen Eltern sprechen, vielleicht finden wir ja zusammen eine Lösung, Okay? Aber jetzt weine nicht mehr. Du kannst ja so lange ein Bild malen“, schlägt Frau Zion ihr vor.

Das kleine Mädchen schluchzt etliche Male und versucht ihre Tränen hinunter zu schlucken. „Okay!“, bringt sie mit Mühe heraus.

Frau Zion erhebt sich und geht mit festen Schritten auf ihr Lehrerpult zu. Sie öffnet eine Schublade und hebt einen paar weiße Blätter heraus, sie pustet einmal über das Papier, worauf hin sich eine kleine Staubwolke erhebt. Es kommt selten vor, dass sie in diese Schublade greift. Meist nur, wenn sie uns nach dem Unterricht noch schnell eine Hausaufgabe mitgeben will, und ihr Kristalina mit anderen Dingen beschäftigt ist. Während sie in ihrer Schublade nach einem Stift sucht, fällt ihr Blick auf mich. Ihre grasgrünen Augen ziehen sich zu kleinen Schlitzen zusammen.

„Karak? Was machst du hier? Du sollst doch auf der Lichtung auf mich warten“, mahnt sie.

„Isegrim wollte mir das hier zeigen“, antworte ich wahrheitsgemäß.

Augenblicklich werden ihre Falten im Gesicht tiefer, ihre Augenbrauen ziehen sich eng zusammen. Sie mustert meinen Wolf grimmig. „Ich werde auch mit deinem Vater sprechen müssen. Es kann nicht sein, dass dein Kristalina hier tut und lässt, was er will. Er soll dir einen anständigen für die Schule geben, wie jeder andere hier auch hat“, sagt sie.

Ich kann über ihre Drohung nur müde schmunzeln. Zum einen, ist mein Vater mal wieder auf Geschäftsreise und wird keine Zeit für ein Gespräch haben, zum anderen ist es gegen das Gesetz, mehr als einen Kristalina auf sich prägen. Ich könnte zwar Isegrims Herz in einen anderen Kristalina einbauen, aber damit würde sich nur die äußere Hülle, nicht aber seine gespeicherten Daten verändern.

„Sie können es ja versuchen!“, entgegne ich ihr und ziehe damit nur noch mehr ihren Zorn auf mich.

Genervt atmet sie die angestaute Luft scharf aus und schenkt mir einen letzten finsteren Blick, bevor sie ihren Fuchs auf mich hetzt. „Chi, bring ihn zurück auf die Lichtung, ich komme gleich nach!“

Ihr Fuchs tut wie ihm aufgetragen und steuert Isegrim an.

Ich sehe ein letztes Mal auf das kleine Mädchen.

Sie hat sich auf ihrem Stuhl nieder gelassen und wartet auf die Rückkehr der Lehrerin. Ihre rotgeweinten Augen, sehen mich für einen Moment an. Stumm scheint sie mir eine Bitte auszusprechen.

„Armes Ding!“, höre ich Isegrim sagen.

Der weiße Fuchs hat uns inzwischen erreicht. Er versucht seine Schnauze, an die von Isegrim zu drücken, doch dieser wendet den Kopf immer wieder im letzten Moment ab.

„Ich glaube nicht, dass sie morgen noch mal zum Unterricht kommen wird“, sagt er.

Sicher hat er recht damit. Die Eltern dieses Mädchens haben wahrscheinlich ihr letztes Hemd, für den Schmetterling gegeben, woher sollen sie das Geld nehmen, ihr eine neuere Version zu kaufen?

Frau Zion ist in der Zwischenzeit fündig geworden. Mit Stift und Papier geht sie zu Ivie zurück und legt ihr beides auf den Tisch, dann sieht sie noch einmal zu mir. „Karak!“, sagt sie streng, als sie erkennen muss, dass sich Isegrim gegen eine erfolgreiche Datenübertragung wehrt.

„Lass uns gehen, bevor sie uns auch noch vom Unterricht ausschließt!“, sage ich.

Isegrim seufzt und hält mit dem Kopf still.

Bevor sich seine und die Schnauze des Fuchses berühren, schweift mein Blick noch einmal durch den Klassenraum.

Es ist das erste Mal, dass ich hier bin, während sich alle anderen mit ihren Kristalinas im virtuellen Klassenzimmer befinden. Ich weiß nur aus der Theorie, was mit unseren Körpern passiert, wenn wir dort sind, nun aber kann ich es sehen. Sie alle liegen auf ihren Stühlen, die automatisch in eine liegende Position ausfahren, sobald wir uns mit unseren Kristalinas verlinken. Keiner von ihnen hat die Augen geöffnet, nur ihre Augäpfel bewegen sich unter den Liedern. Es wirkt fast so, als wenn sie schlafen und träumen würden. Kein Wunder, dass wir uns nach dem Unterricht so erholt und ausgeglichen fühlen.

Ich spüre, wie die Lehne meines Stuhls nach hinten fährt und sich meine Beine langsam heben, dann verschwindet alles um mich herum.
 

...~*~...
 

Für den Bruchteil eines Momentes ist alles schwarz, dann kann ich die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut spüren, die durch das Blätterdach der Eiche fallen. Ein Gefühl von Geborgenheit durchströmt mich. Zwischen meinen nackten Zehen kitzeln mich die Grashalme. Ein sachter Wind umweht mich, aber aus irgendeinem Grund kann ich das nicht genießen. Ich habe mit diesem Mädchen nichts zu tun und doch sehe ich sie immer noch weinend vor mir.

„Manchmal werde ich aus dir nicht schlau Karak“, sagt Isegrim.

Fragend sehe ich zu ihm herab.

„Du bringst mir Gefühle bei und kannst noch nicht mal deine eigenen benennen. Sie geht dir nicht aus dem Kopf, weil du Mitleid mit ihr hast!“

„Ach Quatsch! Ich kenne sie ja noch nicht einmal.“ Ich möchte nicht weiter darüber nachdenken, damit ändere ich ihre Situation auch nicht. Es geht mich ja auch nichts an. Sicher finden Frau Zion und die Eltern der Kleinen eine Lösung, versuche ich mir einzureden, auch wenn ich es besser weiß: Wir schaffen uns eine Traumwelt im Netz doch nur, weil die Realität so hart und beschissen ist.



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