Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 1: Ich bin sicher dass das Herz (neu) --------------------------------------------- Donnernd hasteten die Beine der Hirsche über den Waldboden, schienen den gefrorenen Blätterteppich nicht einmal zu berühren. Ein Meer bewegter Gliedmaßen, so dicht und tödlich wie der Wald selbst. Minoru preschte neben der Herde durch das Unterholz. Ein falscher Schritt und die Hirsche würden ihn niedertrampeln wie die Steine eines Mahlwerkes. Jeder Tritt dieser Hinterbeine konnte Knochen brechen, die Geweihe Haut und Muskeln binnen Sekunden in Fetzen reißen. Doch Hirsche waren keine Wildschweine. Sie verstanden sich nicht darauf, im Angesicht der Gefahr standhaft zu bleiben, die Größe der Herde zu nutzen. Wenn einer lief, rannten sie alle, bis das Chaos ein Leben einforderte. Ein großer Bulle geriet vor ihm auf dem frostharten Boden ins Straucheln. Die Angst trieb ihn stolpernd voran, ließ ihn mit starrem Blick aufbrüllen, wissend, dass ein solcher Fehltritt vielen seiner Brüder das Leben gekostet hatte. Doch der weiße Hund schoss an ihm vorbei, die Pfoten schwarz von dem aufgewühlten Schlamm der voranrennenden Herde. Für einen Angriff war es zu früh und der Bulle ein gefährlicher Gegner, selbst wenn Minoru nicht allein gewesen wäre. Wenn er in diesem Wahnsinn Beute schlagen wollte, ohne für die nächsten Tage seine Wunden zu lecken, waren Jungtiere oder eine schwache Kuh die einzige Möglichkeit. Mit einer abrupten Wendung gab er die Flanke frei und setzte sich hinter die Hirsche. Augenblicklich begann die Herde zu beiden Seiten auszufächern. Angetrieben vom eigenen Überlebenswillen stoben sie auseinander, liefen blindlings zwischen den engstehenden Bäumen umher und ließen sich vor dem Hund hertreiben wie eine Lawine, die der Berghang nicht hatte halten können. Eine halbwüchsige Kuh verlor die Nerven, als Minoru ihre Richtung einschlug. Sie versuchte nach außen zu entkommen und kollidierte mit zwei anderen Tieren, ehe sie zu seiner Rechten aus der Gruppe ausbrach – einen Hinterlauf entlastend. Minoru heftete sich an ihre Fersen, folgte ihr tiefer in den Wald und eine Anhöhe hinauf, an der die dicht stehenden Laubbäume ihre Wurzeln tief in den Hang trieben. Sie hatte den Weg zum Fluss eingeschlagen. Der war von dem Schmelzwasser des Winters derart überfüllt, dass sein Ufer den umliegenden Wald in einen Morast verwandelt hatte. Gewiss würde sie auf dem Untergrund stecken bleiben und leichter zu erlegen sein, doch wenn dieser Grasfresser nicht vorher fiel, würde Minoru bald bis zum Bauch im kalten Schlamm stehen und die nächsten zwei Tage am Rande des Erfrierens fristen. Wieder täuschte er seitliche Ausbrüche an, um ihren Kurs zu ändern, doch das panische Tier witterte den Tod und preschte ziellos nach vorn. Gerade als der trügerisch schimmernde Uferbereich in Sicht kam und Minoru das Tempo anzog, um die Jagd zu beenden, schoss eine Gestalt an ihm vorbei. Das rotbraune Fell des Wolfes verschmolz mit Waldboden und Baumrinde, als er zwischen den Stämmen hindurch preschte und die Hirschkuh aus vollem Lauf rammte. Sie strauchelte, fand keinen Halt auf dem unebenen Boden und ging schreiend nieder – ihre Beine ungerichteten Waffen gleich durch die Luft schlagend. Der Wolf wich knurrend zurück, als ein Vorderlauf knapp neben seinem Kopf vorbei wirbelte. Gereizt bleckte Minoru die Zähne, schlug einen Bogen und verlangsamte seine Schritte, wartete. Das Tier kämpfte verzweifelt mit seinem eigenen Gewicht, der Angst und dem Wald. Als es ihr gelang, ihr Gewicht auf die Vorderbeine zu stemmen und den Kopf zum Schwung zu heben, war sie verloren. Minorus Kiefer schlossen sich um ihre Kehle, Zähne durchfuhren Haut und Muskeln, zertrümmerten den Kehlkopf und schmeckten Blut. Sie warf den Kopf umher, ruderte mit den Beinen, doch er hielt gegen, presste die Zähne zusammen, bis sie sich fast berührten und riss. Der Wolf hatte indes die Nase des Tieres gepackt. Es dauerte einige Minuten, dann erstarb jegliche Gegenwehr. Zu wenig Blut. Zu wenig Luft. Um Atem kämpfend, sah Minoru von der Beute auf und betrachtete den Wolf, der gerade ein Triumphgeheul ausstoßen wollte. Er schlug Takeru die von Blut und Schlamm bedeckte Rute ins Gesicht, ehe er sie wieder über dem Rücken aufrollte. „Halt die Schnauze und friss.“ Dann riss er den Bauch auf, machte sich über die Leber her und schlang hastig herunter, was ihm zwischen die Zähne kam. Die spitzen Ohren bei jedem Geräusch zuckend, huschte sein Blick unruhig zu den Seiten. Schon nach wenigen Minuten drang das Bersten abgestorbenen Holzes durch den Wald. Minoru sah sich misstrauisch um, während der Wolf an seiner Seite murrte: „Fahr nicht gleich aus dem Fell. Sicher nur ein Hase.“ Als jedoch der Boden erzitterte, fuhr auch er zusammen. Sie stoben auseinander und setzten über ihre Beute hinweg – gerade rechtzeitig um dem Baumstamm auszuweichen, der sonst auf sie niedergeschlagen wäre und nun die tote Hirschkuh unter sich begrub. „Ganz schön fett dein Hase“, spottete Minoru trocken, während sich der dunkelviolette Oni grollend zwischen den Bäumen hervorzwängte. Takeru schnaubte und stellte sich breiter auf. „Den schaffen wir.“ „Für einen Haufen Gulasch?“, zweifelnd betrachtete Minoru den hünenhaften Dämon, seine dunklen, kleinen Augen, den starken Unterbiss. Die Natur hatte Oni nicht mit ausreichend Gehirn versehen, um eine Tür zu benutzen. Dafür sorgten ihre Muskeln für Durchgänge, wo auch immer sie sie brauchten. Dieses Exemplar schwang eine schweren Eichenstamm als handle es sich um einen Ästchen und er würde sie damit nicht minder zerquetschen wie die Hirschkuh, die nur noch in Ansätzen erkennbar war. „Vergiss es.“ Ehe Takeru widersprechen konnte, polterte der Riese auf sie los und schwang seinen Baumstamm wie ein Menschenweib, das Ratten mit dem Besen vertrieb. Sie stoben auseinander, der Oni unschlüssig, ob nun Hund oder Wolf zu verfolgen wäre. Ein zweiter Muskelberg, der sich brummend zu seinem Kollegen gesellte, nahm ihm die Entscheidung ab und ging auf Takeru los. Knurrend sprang der zur Seite und zog sich mit Minoru in den Wald zurück. Bereits nach kurzem Sprint drosselten sie das Tempo und trotteten durch das Dickicht der Anhöhe. Die Oni waren mit ihrer Beute ohnehin zu beschäftigt und zu träge, um sie zu verfolgen. Takeru brummte, als er Minorus wütenden Seitenblick bemerkte. „Sag nichts.“ „Etwa, dass ich Recht hatte? Dass es eine bescheuerte Idee ist, einen Hirsch zu jagen? Dass wir Kopf und Kragen für etwas riskiert haben, von dem wir keinen Vorteil hatten? Meinst du das?“, Minoru legte die Ohren an und fletschte die Zähne. „Das war das letzte Mal, dass ich auf dich gehört habe.“ „Wir haben einen vollen Magen, oder?“ „Nach über fünfzehn Kilometern Hetzjagd – das hätten wir mit Mäusen und Kaninchen mit weniger Aufwand haben können, ungefährlicher und unauffälliger.“ „Ich bin dein Kleinvieh leid! Ein Rudel gewöhnlicher Wölfe kann einen Hirsch erlegen. Dann sollten zwei Dämonen damit keine Probleme haben!“ Entnervt rollte Minoru mit den Augen und schwieg. Er hatte das Thema satt. Der Wolf war in dieser Hinsicht schwer belehrbar. Mit der Stärke seines Rudels aufgewachsen, schien er nun im Alleingang nicht begreifen zu wollen, welche Vorteile er mit dem Verlassen dieser Gemeinschaft verloren hatte und welche Probleme sich damit ergaben. Minoru hingegen hatte mehrere Jahre allein in den dichten Wäldern und Gebirgen Japans verbracht und gelernt, Kosten und Nutzen eng abzuwägen. Kleines Getier war zwar längst nicht so wohlschmeckend wie Wild, aber wer überleben wollte, musste pragmatisch sein und wenig Aufmerksamkeit erregen – Yōkai hin oder her. Andere Dämonen lauerten ohnehin überall und die meisten hatten längere Zähne, schärfere Klauen und vor allem mehr Erfahrung als sie beide zusammen. Takeru schickte sich gerade an, die Diskussion hitzig fortzuführen, als er abrupt innehielt. Auch Minoru spitzte die Ohren, sobald er das gleichmäßige Klacken von Hufen hörte. Stimmen kamen näher, ein kehliges Lachen. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt. Menschen - von der selbstsicheren Sorte. „Nein, ich vertraue dem Mann. Wenn er einen Wolf gesehen haben will, stimmt das auch. Und selbst wenn nicht, wird es unter den Bauern die Runde machen und diese Narren werden nicht eher Ruhe geben, bis der Fürst ihnen das Fell präsentiert – ebenso wie seine Frau.“ Ein anderer schnaubte: „Frauen. Hinter jedem Hügel tobt ein Kleinkrieg und hier verwendet man gute Samurai, um einen Staubfänger zu jagen.“ Drei Reiter kamen in Sicht. Männer mit leichter Rüstung und Langbögen. „Sie kann es nun einmal nicht ertragen, wenn ihre Schwester ihr etwas voraus hat. Dabei kann sich im Norden nun wirklich jeder Trottel einen Wolfspelz an die Wand nageln. Seitdem sich die Biester mit den Pantherdämonen die Köpfe einschlagen, muss man nur noch Manns genug sein, über die Schlachtfelder zu spazieren und – “ Geistesgegenwärtig ließ sich Minoru zu Boden fallen, doch es war zu spät. Rufe gellten durch den Wald und die Pferde verfielen in einen strammen Galopp. Die Langbögen surrten und spickten den Boden zu ihren Füßen mit Pfeilen, während Takeru die Zähne zum Angriff fletschte. Eine fast greifbare Aura breitete sich um ihn herum aus, erfüllte die Luft und ließ die Äste des umliegenden Dickichts erzittern wie Espenlaub. Die Pferde der Samurai scheuten und tänzelten durcheinander, die Augen weiß vor Angst als sie das Yōki des Dämons hunderte Meter entfernt spürten. Minoru sprang vor und zog am gesträubten Nackenfell seines Freundes. Der schüttelte ihn ab. „Geh mir vom Leib, feiger Köter! Ich reiße sie auch ohne dich in Stücke!“ „Deine Überheblichkeit kostet uns nochmal den Kopf! Mach' ein einziges Mal gleich, was ich dir sage!“ Takerus grüne Augen funkelten wild: „Du bist zu langsam, um ihnen zu entkommen!“ „Das will ich auch gar nicht!“ Die Reiter kamen näher, trieben ihre beunruhigten Pferde zum Gehorsam an. „Komm!“ Minoru sprang aus der Deckung, schlug einen Haken und preschte zurück in den Wald. Entgegen aller Erwartungen tat Takeru wie geheißen und hatte bereits aufgeschlossen, als erneut Pfeile durch die Luft surrten. Sobald sie die Sehne schnellen hörten, brachen die beiden zu den Seiten aus. Doch die Bäume standen zu eng, um den Samurai freies Schussfeld zu gewähren und der unebene Boden machte den Pferden zu schaffen. Dennoch jagten sie die Tiere unbarmherzig vorwärts, setzten Takeru nach, der mühelos das Tempo anzog und sich erneut an Minorus Fersen heftete. Einer der Reiter brach in triumphales Gelächter aus, als die beiden ausgerechnet auf das morastige Flussufer zuhielten, das den Langbögen ausreichend freies Gelände bot, um ihr Verhängnis zu werden. Sekunden später starrten zwei wenig amüsierte Oni den pelzigen Vierbeinern nach, die sich soeben erdreistet hatten, über ihr Hirschkuhgulasch zu springen. Träge erhob sich der violette Unterbiss, zog mit seinen Zähnen einen Fetzen Fleisch von der ausgerissenen Keule des Hirsches und baute sich vor Minoru und Takeru auf, die mit einigem Abstand stehengeblieben waren. „Euer letzter Fehler“, schnaubte der Oni herablassend und griff nach seinem Lieblingsbaumstamm, um ihnen endgültig den Garaus zu machen – als sich ein verirrter Pfeil tief in sein Hinterteil bohrte. Der Riese fuhr zusammen, machte jedoch keinen Laut, während er das Projektil einem Splitter gleich aus seinem Gesäß zog und sich missmutig umwandte. Die Pferde der Samurai hinterließen meterlange Bremsspuren im morastigen Boden, als ihre Reiter begriffen, dass sie ihrem Untergang entgegen eilten. Die Arroganz der Menschen zerschellte an zwei Oni wie Schiefer auf Granit. Selbstzufrieden schüttelte Minoru den groben Dreck aus dem Fell, rollte die noch struppige Rute wieder über dem Rücken auf und zog sich mit Takeru erneut in den Wald zurück – etwas besorgt, ob der wohl an seinem eigenen Gelächter auch ersticken konnte. Der Dachsbau, den sie für die Nacht gewählt hatten, war verlassen und trocken. Entgegen der zuvor gelösten Stimmung, hatte Takeru den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und starrte seit Sonnenuntergang in den Regen hinaus. Wortlos. Er hatte sich Minoru im vergangenen Herbst angeschlossen. Ein unerwartetes Zusammentreffen und eine noch viel seltsamere Gemeinschaft, die sie beide durch den harten Winter gebracht hatte. In dieser Zeit, besonders anfangs, waren Auseinandersetzungen wegen der Jagd oder anderer Vorgehensweisen häufig gewesen, wenngleich auch nie von Dauer. Takeru war nicht nachtragend, demnach war es unwahrscheinlich, dass seine Stimmung immer noch von ihrem neuerlichen Streit gedämpft wurde. „Ist es wegen dem, was die Menschen gesagt haben? Der toten Wölfe?“ Aus den Augenwinkeln sah der Wolf zu ihm hinüber, studierte ihn eine Weile und seufzte schließlich so tief, dass sich die mageren Rippen deutlich unter seinem Fell abzeichneten. „Kennst du das, wenn jeder Schritt der falsche ist?“ „Erleuchte mich.“ „Ich kenne jeden Wolf von Morioka bis ans Ochotskische Meer. Meine Eltern führen die Rudel im Norden. Sie haben von Zuhause gesprochen. Von meiner Familie." „Welche du verlassen hast.“ Minoru legte die Pfoten übereinander und betrachtete ihn nachdenklich. „Bereust du deine Entscheidung etwa?“ „Bereust du sie nicht?“ „Niemals.“ Takerus grüne Augen huschten über seinen Freund, suchten den kleinsten Funken eines Zweifels, die Lücke in der Endgültigkeit. Doch da war nichts. Verdrießlich schnaubte er und wandte den Blick ab. Minoru wusste, dass sich der Wolf mit dieser Situation schwer tat. Zu oft sprach er von seiner Familie, dem Leben, das er zurückgelassen hatte, der Zeit zuvor. Ihm selbst wäre das nicht im Traum eingefallen. Ein Unterschied, der vermutlich nicht gerade zur Offenheit anregte. „Vielleicht hast du Gründe zu zweifeln – und ich nicht.“ „Ja... vielleicht.“ „Willst du zurück?“ Takeru schwieg lange, doch die Unschlüssigkeit war ihm an der Nasenspitze anzusehen. „Es geht nicht darum, ob ich zurück will“, murmelte er schließlich. „Hier zu sein, ihnen nicht beistehen zu können – das fühlt sich falsch an. Aber ich kann nach fast einem Jahr nicht einfach Zuhause auftauchen, als wenn nie etwas gewesen wäre.“ „Das kannst du am besten beurteilen. Wenn sie dich bei Ankunft ausweiden, bist du hier eindeutig besser aufgehoben.“ Entschieden schüttelte Takeru den Kopf: „Nein, das machen sie nicht. Aber sie werden wütend sein. Mich vielleicht verstoßen.“ „Würde das dein Dilemma nicht beenden?“ „Versuchst du gerade mich zu überreden, nach Hause zu gehen?“ Der Wolf legte die Ohren an und sträubte das Nackenfell. Minoru bedachte seine Drohgebärden mit einem vielsagenden Blick und gähnte. „Da du dich längst entschieden hast, kann man kaum von 'Überreden' sprechen. Du hast sicher deine Gründe für deine Abwesenheit, aber sie reichen offenbar nicht aus, um mit deiner Familie abzuschließen. Du musst mit deinem Gewissen leben. Nicht ich.“ Allmählich legte Takeru das Fell wieder an und senkte den Blick betreten zu Boden. „Es ist ja nicht nur das.“ „Sondern?“ „Was machst du dann?“ Minoru zuckte zurück und musterte ihn verdutzt. „Ich? Was soll ich schon tun? Ich komme zurecht.“ „Ich weiß. Aber dich zurückzulassen fühlt sich ebenso falsch an, wie meiner Familie nicht gegen die Panther beizustehen.“ Minoru betrachtete ihn eine Weile, als habe er gerade behauptet, der Mond sei auf das Firmament gemalt, dann rollte er sich wieder zusammen. „Wenn es nur darum geht...“, brummte er leise. „Dann schlaf jetzt. Müde bist du selbst auf kurzen Strecken schwer zu ertragen.“ Die grünen Augen des Wolfes wurden vor Unglauben groß wie Walnüsse. „Du kommst mit?“ „Ich habe gerade nichts besseres vor“, spottete Minoru, dem es zumeist recht gleichgültig war, wo er seine Tage zubrachte. „Du weißt schon, dass ein Hund unter Wölfen auffallen wird?“ „Nicht so sehr wie ihr entlaufener Erbe, schätze ich.“ Kapitel 2: das ich einst zurückließ (neu) ----------------------------------------- Sie hatten den Winter im Hochland des Nantai verbracht. Dichte, abgelegene Wälder voller Sikawild und Makaken, die sich an den heißen Quellen tummelten, welche in großer Zahl an die Oberfläche traten. Im Westen des Gipfels lag weitläufiger Weidegrund für die Herden, die im Frühjahr aus den Hochlagen hinabstiegen, um auf den satten Lichtungen zu grasen und ihre Kräfte zu messen. Südlich schloss sich eine große Wasserfläche an. Zu- und Ablauf waren jeweils Wasserfälle, die sich aus halsbrecherischer Höhe in den See ergossen, den man mit ausreichend Mut und einem Hang zum Unnötigen an den schmalen Stellen sicher hätte durchschwimmen können. Aber derlei überließ Minoru lieber anderen, egal wie oft Takeru ihm auch in den vergangenen Monaten mit dem Vorhaben in den Ohren gelegen haben mochte. Durch den Erkundungsdrang des Wolfes wussten sie nun immerhin, dass man den Grund des Sees nur in unmittelbarer Ufernähe erreichen konnte – nicht dass Minoru diese Information in seinem bisherigen Leben vermisst hätte. Das bewaldete Hochland grenzte im Norden an den Vulkan und bestand aus einer Vielzahl einzelner Berggipfel mit Hängen, Schluchten und Tälern voller Geröll. Wenn der Schnee hoch lag, wagte sich kein Mensch auf die abschüssigen Pfade oder auch nur in das gefrorene Unterholz. Es gab schlechtere Orte, um die kargen Jahreszeiten zu verbringen und Minoru hatte ein oder zwei erleben müssen, ehe er im vorletzten Frühjahr dem weithin sichtbaren Gipfel des Vulkans in die Berge gefolgt war. Seither war es ihm verhältnismäßig gut ergangen und abgesehen von einigen unerfreulichen Gedankenspielen hatte er sich nicht vorstellen können, dieses Gebiet jemals wieder zu verlassen – zumindest nicht freiwillig. Da hatte er aber auch nicht damit gerechnet, je mit einem Wolf über den Sinn und Unsinn von Großwildjagd debattieren zu müssen. Das Leben war eben nicht einmal im Groben so planbar, wie er es gern gehabt hätte, und so hatten sie sein Refugium schon vor Tagen zurückgelassen. In den Hochlagen, in denen Nässe und Frost an den Hängen ein gefährliches Wechselspiel vollführten, hatte sich ausgezahlt, dass Takeru seine Kindheit in den unwegsamen Bergen des Nordens verbracht hatte. Der Wolf hatte ein Gespür für trittsichere Pfade und war für seine Verhältnisse wenig waghalsig gewesen, was Umwege anbelangte. Trotzdem waren sie gut vorangekommen; waren aus dem Hochland unentwegt hinabgestiegen in besiedelte Landschaften mit vereinzelten Bauernhöfen und Feldern. Hier jedoch bereitete Takerus Anblick absehbare Probleme. Ein Wolf war unter Menschen nicht gern gesehen. Erst recht kein Ōkami. Glücklicherweise waren die meisten unfähig, das eine vom anderen zu unterscheiden, sonst hätte man ihnen binnen Stunden einen Priester oder Mönch auf den Hals gehetzt, die sich dummerweise zu einer echten Bedrohung entwickeln konnten. Doch die Menschen waren blind für die deutliche Aura, die ihn umgab und sahen lediglich den Wolf, der Erinnerungen an Übergriffe auf Reisende oder ganze Dörfer wach rief. Die waren zwar mittlerweile selten geworden, aber allein das Andenken würde sicher noch einige Jahrhunderte für Abscheu sorgen, auch wenn die Menschen dann längst nicht mehr wussten, dass es auch hier Dämonen gewesen waren, die die Rudel in ihre Mitte geführt hatten. Einen gewöhnlichen, weißen Hund hingegen verdächtigte kaum ein Bauer eines bösen Gedankens. Die hegte Minoru im Grunde auch nicht, doch wenn Takeru ihn noch weiter dazu anstiftete nahe der Dörfer und Felder zu laufen, um die Gespräche der Bewohner zu belauschen, konnte er nicht garantieren, dass der Wolf am Ende dieser Reise mit zwei Ohren im Norden ankam. Es gab kaum etwas, das Minoru mehr verabscheute, als auf Kniehöhe in der Nähe von Menschen herumzulaufen. Ihr Geruch war eine beißende Mischung aus Erde und Schweiß, überlagert von dem Vieh, das sie hielten, und dem Räucherwerk ihrer Schreine. Wenn jedoch schon weiter südlich die Männer von einem Krieg zwischen den Dämonenstämmen sprachen, konnten sie nicht wählerisch sein. Takeru mochte es um Neuigkeiten über seine Familie gehen, aber Minoru hatte in erster Linie keine Lust, blindlings zwischen die Fronten zu stolpern. Sie mussten also an Informationen abgreifen, was sich darbot. Wo bauten sich Fronten auf? Waren Wege blockiert? Hatte ein Feudalherrscher angekündigt, Soldaten einzuziehen und sich in die Auseinandersetzung zwischen Panthern und Wölfen einzumischen? Das menschliche Interesse an den Grenzen der Yōkai war unnennenswert gering. Es ging um dasselbe Land, dieselben Flüsse und Berge, aber die Kriege der Fraktionen Mensch und Dämon liefen in zwei Welten pausenlos aneinander vorbei. Die jeweiligen Grenzverläufe so auf eine einzelne Karte zu zeichnen war für den praktischen Gebrauch beider Seiten nutzlos und hätte vermutlich auch den Möglichkeitsrahmen eines gewöhnlichen Kartographen gesprengt. Dennoch wussten die Menschen, neugierig und schnatternd wie sie nun einmal waren, oft genug, was auf der anderen Seite der Karte geschah – und obwohl sie auch nicht im Detail verstanden, warum sich die Yōkai wieder die Köpfe einschlugen, so merkten sie doch, dass einige Gebiete schlecht passierbar waren oder bibberten, wenn ihr arroganter Daimyō seine Männer hinaus sandte, um aus einem der Kriege, die ihn nichts angingen, doch Profit zu schlagen – und sei es nur der Kopf eines Dämons, der als Trophäe gut in seine Burg passte. Nach allem, was er bislang aufgeschnappt hatte, hatten die Großkatzen erst kürzlich einen heiß umkämpften Ausläufer des Ōu-Gebirges, den Kamuro, eingenommen und die Wölfe damit tiefer ins Gebirge gedrängt. Angaben, mit denen Takeru hoffentlich etwas anzufangen wusste. Darüber hinaus hatte ein Daimyō sich einen Namen machen wollen und eine Splittergruppe der siegreichen Panther nahe des Gebirgszuges angegriffen, als er sie nach der Schlacht verletzlich wähnte – mit zu erwartendem Ausgang. Unter Menschen mochte man sogar noch mit der Enthauptung eines bereits niedergestreckten Dämons prahlen können. Allerdings war es ratsam, vorher zu prüfen, ob der auch wirklich tot war. Sich einem gerüsteten Trupp zu nähern war da gelinde gesagt grenzdebil und bereits jetzt stritt man sich, wie der Name des armen Irren gelautet haben mochte, den man Tage später in Einzelteilen flussabwärts gefunden hatte. Minoru machte sich nichts vor: Die Informationsbeschaffung in der Nähe der Menschen war lästig, aber vergleichsweise sicher. Natürlich waren vernunftbegabte, hochgestellte Yōkai über die politische Lage im Norden besser im Bilde als die Bauern auf ihren Feldern, aber Minoru wäre dennoch nie eingefallen sich einem von ihnen auch nur zu nähern. Im Gegensatz zu den Menschen, vor denen er ohne weiteres als Hund durchging, würde er einen erwachsenen Dämon weder täuschen können noch hätte er ihm ernsthaft etwas entgegenzusetzen. Seit Jahren ging er jeder Begegnung mit ihnen aus dem Weg, zog sich zurück, sobald er das Yōki, die Aura eines anderer Dämonen, wahrnahm und hoffte, dass er nicht bemerkt worden war. Bei Takeru war das anders. Der Ōkami war zwar nicht viel älter als er, aber im Gegensatz zu Minoru hatte er in seinem kurzen Leben bereits eine Ausbildung genossen, die ihn zwar zu keinem gefährlichen, aber einem durchaus wehrhaften Gegner machte. Für Minorus Geschmack war der Wolf aber oft zu hitzköpfig und ohne größeres Hadern am Feind, während er selbst noch abwägte, ob ein geordneter Rückzug nicht vielleicht die gesündere Alternative war. Hatte er früher Auseinandersetzungen gemieden, blieb ihm heute oft keine andere Wahl als seinem Begleiter zu folgen und ebenfalls zum Angriff überzugehen. Dämliche, heißblütige Wölfe. Als sich am westlichen Himmel die sinkende Sonne hin und wieder durch die Wolkendecke erahnen ließ, beendeten die Bauern ihre Feldarbeit und auch Minoru kehrte zu Takeru zurück, der ihm im Schutz des naheliegenden Waldes gefolgt war. Ungewöhnlich wortlos lauschte er dem Bericht, während sich sein Pelz sträubte, als habe man ihn in einen Herbststurm gestellt. „Sie verlieren“, sagte er schließlich ernst. „Die Panther drängen sie zurück.“ „Was bedeutet zurück?“ „Zurück hinter unsere Grenzen. Tiefer in die Berge.“ Minoru dachte nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Es sind eure Berge. Der Winter im Norden ist härter und länger. Wenn das Gelände auch nur halb so unwegsam ist wie in den letzten Tagen, ist es klug, tiefer in die Berge zu gehen und sie auf bekanntem Gebiet zu erwarten.“ Auch wenn das beruhend auf seinen zugegeben begrenzten Erfahrungen nicht nach der Taktik eines Wolfes klang. „Für uns ist es jetzt wichtiger, wie wir zu ihnen kommen, ohne durch ein Heer aus Großkatzen marschieren zu müssen.“ „Wo du von Strategie sprichst... es wundert mich, dass sie gerade den Kamuro eingenommen haben“, sinnierte Takeru. „Zu ihren Ländereien ist er kaum zugänglich. Selbst wenn es nur die Ausläufer sind, kann man ihn mit einer Armee kaum begehen ohne schon vorher in unseren Bergen herumzuirren. Von Westen ist es viel direkter, aber den Weg werden sie nicht genommen haben. Der Inu no Taishō hat die Gebiete südwestlich des Ausläufers vor einigen Jahren übernommen und niemand will dem auf die Füße treten.“ „Von euch übernommen?“, fragte Minoru nachdenklich, dem nicht gefallen wollte, dass die Chance bestand, einer weiteren Armee zu begegnen, die sich am Krieg der anderen Parteien bereichern wollte – sicher deutlich erfolgreicher als ein einsamer, närrischer Daimyō. „Nein, Echigo und Uzen gehörten mal zum Westen, sind nach dem Tod des letzten Fürsten an irgendwelche marodierenden Kleinvölker gefallen und wurden nun wieder eingegliedert. Natürlich haben meine Eltern an der Grenze aufmarschieren lassen, aber er hat sich nicht für uns interessiert. Nicht mal genug, um die Drohung wahrzunehmen. Mein Vater hat tagelang vor Wut gekocht.“ „Wenn die Berge von Osten aus so schwer passierbar sind, wie du sagst, sollten wir dennoch in Erwägung ziehen, dass die Panther über den Westen gekommen sind“, gab Minoru zu bedenken. Und wenn das zutraf, fielen sie nicht mehr über ihren Boden ein. Die westlichen Länder standen unter der Herrschaft des Inu no Taishōs, dem Fürsten der Hundedämonen. Neutralen Boden zu überqueren, um in ein anderes Land einzufallen, galt auch unter Yōkai nicht gerade als höfliche Art Krieg zu führen. Minoru fehlte allerdings der Patriotismus, der in jedem anderen Inu vermutlich den Hass hätte hochkochen lassen. Er stammte nicht aus dem Westen und hatte vor dieser Reise auch nicht geplant, je wieder einen Fuß auf deren Ländereien zu setzen. Schlimm genug, dass er sie einmal hatte durchqueren müssen, um in die neutrale Zone zu gelangen, die um den Nantai und die gesamten Ebenen bis zum Meer lag - ein Gebiet, das aufgrund des fruchtbaren, flachen Bodens vorwiegend von Menschen besiedelt worden war. Es war ein Wagnis gewesen; dass die Inu ihn nicht erwischt hatten reine Glückssache, aber es hatte geholfen, möglichst viel Wegstrecke zwischen ihn und den Süden zu bringen. Jenseits der Ebenen gab es jedoch laut Takeru keinen neutralen Boden mehr, der sie hätte schützen können. Alles bis zum Territorium seiner Eltern gehörte entweder Panthern oder Inu, also blieb ihnen nichts anderes übrig als durch den Westen zu wandern, wenn sie die Heere der Katzen meiden wollten. Dennoch waren die Neuigkeiten der Bauern nicht völlig schlecht. Zwar hatten die Wölfe einen Teil ihres Gebietes einbüßen müssen, aber wenn die Panther bestehende Grenzen mit Füßen traten, rückte die Gefahr einer Koalition zwischen ihnen und den Hunden zumindest in weite Ferne. Das letzte, das sie brauchen konnten, waren zwei Heere, die ihnen den Weg nach Norden versperrten. Takeru schien einen ähnlichen Gedanken verfolgt zu haben, war jedoch offenbar zu einem anderen Schluss gekommen. Die Art, wie er ihm den ein oder anderen Seitenblick zuwarf und die Ohren drehte, missfiel Minoru zusehends. „Was ist?“ „Wie kann ein Inu nicht wissen, bis wohin seine Grenzen gehen? Dein Volk ist der militanteste Haufen unter der Sonne. Ich dachte, ihr lernt sowas in Kinderreimen.“ Minorus Pfoten versanken tiefer in dem Schlamm, als er schweigend weiterging und sich mühte, das Fell nicht aufzustellen. Takeru legte die Ohren an und trabte angesäuert näher: „Komm schon. Du weißt alles wichtige über mich!“ „Dann redest du offenbar zu viel“, gab der Hund knapp zurück, bauschte die Rute über dem Rücken auf und verlängerte seine Schritte. Bis der Schlamm aus den Pfützen an seinem weißen Fell empor spritzte und es fleckig wurde, wie das Gefieder einer jungen Drossel. Das war typisch Takeru. Er stellte fest, dass über ein bestimmtes Thema nicht gesprochen wurde, fragte aber dennoch nach, statt einfach davon auszugehen, dass man darüber kein Wort verlieren wollte. Die nächsten Stunden verbrachten sie schweigend. Nördlich der Bauernhöfe begann die Landschaft erneut steil anzusteigen und nach Sonnenuntergang waren sie noch weit davon entfernt, den Kamm zu erreichen. Takeru hatte trotz fortgeschrittener Stunde und schwierigem Untergrunds das Tempo angezogen. Die Nachrichten über die Geschehnisse an der Grenze beschäftigten ihn und so ungern es Minoru auch zugab, wurde es schwierig, mit dem Wolf mitzuhalten. Er war durchaus ein ausdauernder Läufer und körperliche Anstrengung gewohnt, aber Takeru legte auch in der Steigung eine Geschwindigkeit an den Tag, die Minoru allmählich zu schaffen machte. Als er noch mit der Überlegung beschäftigt war, ob sie nun lagern oder doch bis spät in die Nacht den Berg erklimmen sollten, um es am nächsten Morgen einfacher zu haben, ließ Takeru sich zu ihm zurückfallen. „Weißt du...“, begann er nach einer Weile. „Wenn wir an der Grenze sind, kannst du gern mit mir kommen. Wenn sie mich wieder aufnehmen, dann nehmen sie auch dich auf und wenn sie mich fortjagen, können wir zusammen weiterziehen.“ Minoru warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu, sagte aber nichts. Takeru fuhr fort: „Du bist jünger als ich und dazu noch länger allein unterwegs. Nicht, dass du allein-“ „Meine Eltern sind nicht tot, wenn du das denkst“, unterbrach Minoru seinen Mitleidston. „Dann bist du weggelaufen? Warum hältst du mir dann Vorträge über Pflichtgefühl?“ „Ich habe dir keine Vorträge gehalten, ich habe eine Frage beantwortet.“ Ein Regentropfen fiel auf seine Nase, dann noch einer und Sekunden später ergoss sich ein Landregen über ihnen, der das Geröll zu ihren Pfoten den Hang hinab schwemmte. Beide seufzten fast gleichzeitig darüber auf, ehe sie unter einem Felsvorsprung Zuflucht suchten. Dichtes Unterholz gab es hier nicht und auf die Schnelle würden sie auch keinen Dachsbau für die Nacht finden. Missmutig starrte Minoru in die Nacht hinaus, die Nase nur wenige Zentimeter von dem Wasserfall entfernt, der über die Kante ihres Unterschlupfes strömte. Takeru hatte sich neben ihm möglichst platzsparend eingerollt und sah aus, als plane er einen Mord am Wetter selbst. „Meine Mutter ist eine Inuyōkai aus dem Westen“, begann Minoru schließlich. „Sie hat ihre Heimat für einen Fuchs verlassen und ist zu ihm in den Süden gegangen. Den Westen hat sie seither nie wieder betreten und ich werde es auch nicht tun. Nicht mehr als nötig jedenfalls.“ „Dein Vater ist ein Kitsune?“, Takeru stellte die Ohren auf und sah ihn ungläubig an. „Du siehst nicht einmal im Dunkeln nach Fuchs aus.“ „Mischlinge schlagen nach der Mutter“, zitierte Minoru widerwillig. „Hat irgendwas mit Übertragung dämonischer Energien zu tun oder so ein Blödsinn. Ich habe nicht viel von ihm.“ Kitsune waren Gestaltwandler, ebenso wie Katzendämonen aller Art, aber von der Mentalität ein anderer, gerissener Schlag, der derbe Späße auf Kosten anderer oder Hinterlist zu seinem Vorteil nutze. Minoru war weder hinterlistig noch spaßig – zumindest seiner Ansicht nach. Als der Wolf amüsiert schnaubte, sah er verdutzt auf. „Und ich hab' mich schon gefragt, wie du auf die Sache mit den Oni gekommen bist! Das war viel zu amüsant für deine Verhältnisse.“ Dann wurde er ernster. „Dann kannst du nicht Gestaltwandeln?“ „Wie ein Kitsune? Nein.“ Takeru beäugte ihn eindringlich, wägte seine Antwort ab und hakte doch nicht weiter nach. Minoru verstand sehr wohl, ließ sich aber auch nicht dazu bewegen, die Unklarheit zu beseitigen. Es wäre durchaus möglich gewesen, dass sein einziges Erscheinungsbild jenes war, das Takeru bislang kennengelernt hatte: Ein mittelgroßer, spitzähnlicher Hund mit drahtig-weißem Fell, spitzen Ohren und einer sichelförmigen Rute an deren längeren Haaren sich ständig irgendwelcher Dreck verfing. Unabhängig von der Wahrheit oder der Formulierung des Wolfes wäre die Frage eine Beleidigung gewesen – entweder ein Hinweis auf seine Unzulänglichkeit oder aber ein Zweifel an seinen Fähigkeiten. „Na ja“, meinte er schließlich, „vermutlich ist das einfach so. Ich schlage eher nach meinem Vater und du eben nach deiner Mutter.“ Minoru machte irgendein zustimmendes Geräusch, das auch nicht gerade zufrieden klang und legte den Kopf auf den schlammigen Pfoten ab. Für eine Weile kehrte wieder Ruhe ein, dann, ohne ihn anzusehen, ergriff Takeru erneut das Wort. „Meine Eltern haben mich einem Mädchen aus einem anderen Stamm versprochen. Um Konflikte unter den Wölfen zu vermeiden und Allianzen zu knüpfen. Außerdem schütze es das Rudel, wenn ich jetzt schon eine Verlobte hätte und die Fronten für alle damit geklärt seien. Ich habe versucht mit ihnen zu reden, als ich davon erfahren habe, aber die Angelegenheit war geklärt und offensichtlich unumkehrbar. Es werden Jahrhunderte vergehen, bevor ich sie heiraten muss, aber allein zu wissen, dass ich nie die Wahl haben werde, macht mich wütend.“ Minoru hob den Blick. Der Wolf versuchte sonst oft genug ihn zu necken, zu einer offeneren Grundhaltung zu motivieren, aber ernst war er selten. „Das Mädchen werde ich immer noch heiraten müssen, wenn ich jetzt zurückkomme. Mit dem Unterschied, dass man ihr gesagt haben wird, dass ich ihretwegen fortgelaufen bin. Das will auch niemand hören. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich sie mögen werde oder nicht. Vielleicht habe ich ja gar nichts gegen sie.“ „Ich verstehe.“ Hatte er nicht eben noch behauptet, Minoru wisse alles nötige über ihn? „Manchmal möchte ich einfach nur ein nichts bedeutender Irgendwer sein. Die haben auch ihren Kummer, aber ihre Entscheidungen betreffen nicht sofort das ganze Rudel. Meine Eltern haben ja auch nicht Unrecht. Jeder weiß, dass ein lediger Erbe für allerhand Aufruhr sorgt. Man muss sich nur den Inu no Taishō ansehen. Dennoch hätten sie wenigstens warten können, bis ich in der Lage bin, meine Meinung zu äußern.“ „Vielleicht übertreiben deine Eltern auch. Der Krieg scheint gerade ohne einen ersichtlichen Grund zu entbrennen – zumal mit Katzen und nicht mit einem anderen Stamm der Wölfe. Während es im Westen trotz des ledigen Erben des Inu no Taishōs ruhig ist.“ „Hm, was?“, Takeru sah ihn verwirrt an. „Der Taishō ist der ledige Erbe. Er weigert sich vehement eine Partnerin zu wählen, dabei ist er schon an die tausend Jahre alt. Du kannst bei ihm nicht mal davon sprechen, dass er hässlich wäre. Ärger wird es geben, wenn er das Zeitliche segnet und bis dahin werden ihn genügend Damen umschwirren – mit übermotivierten Vätern. So eine Position ist begehrt und natürlich entstehen dadurch unnötig Reibereien. Würde er sich endlich mal pflichtbewusst dazu herablassen, wäre seinem ganzen Volk geholfen und auch diesem überdimensionalen Reich, das er aufbauen will. Du hast wirklich erschreckend wenig Ahnung.“ „Meine Mutter hat nie ein gutes Wort über den Westen verloren“, erklärte Minoru. „Sie hat lediglich immer wieder beteuert, wie gut es war, diesen Ort zu verlassen.“ „Wundert mich nicht. Als Frau will man da auch nicht leben. Gerade wenn sie hübsch ist oder einen höheren Rang innehatte. Solche Frauen schlafen unsicher. Die gehen sich im Westen doch gegenseitig an die Kehlen. Völliger Unsinn, wenn du mich fragst. Sesshōmaru scheint ohnehin keine von ihnen zu wollen. Meine Eltern wollen genau das verhindern. Wie gesagt, wenn ich distanziert draufsehe, verstehe ich das. Vielleicht nehmen sie damit auch vorweg, dass ich in einigen Jahren von werbenden Frauen umgarnt werde, die nicht an mir, sondern nur an der Stellung interessiert sind... na ja, wir werden sehen, ob sie mich überhaupt noch einen Fuß in die Höhle setzen lassen.“ „Du scheinst deinen Eltern wichtig zu sein – egal aus welchem Grund. Wenn das und die Angst, zu versagen, deine einzigen Gründe sind, aus denen du gegangen bist, kann sich das möglicherweise wieder einrenken.“ „Dann bist du nicht aus Sorge vor irgendetwas gegangen“, folgerte Takeru. „Ob ich mit meiner Mutter im Süden sitze oder allein im Schnee erfriere kommt auf dasselbe hinaus.“ „Du stehst wohl nicht besonders gut zu ihr.“ „Nein“, erwiderte er kühl und der Wolf senkte den Blick. Begriff offensichtlich, dass es auch an dieser Stelle sinnlos war, weiter nachzufragen. Es war keine besondere Leistung, zu erkennen, dass es mit seinen Eltern anders stand. Selbst in einer Situation, die ihn von Zuhause fort getrieben hatte, hinterfragte er noch ihre guten Absichten. Darüber hinaus sprach er ständig von ihnen. Von seinem Vater, der das Rudel mit seinem schwierigen Temperament durch gefährliche Zeiten geführt hatte und seiner Mutter, die ihren Mann dennoch in die Schranken weisen konnte. Wenn er ihnen nun nicht beistehen konnte, so geringfügig sein Beitrag auch sein mochte, würde er sich das vermutlich nicht verzeihen können. „Du solltest ohne mich weiterziehen.“ Takeru riss den Kopf herum und starrte ihn aus grünen Augen an. „Du bist schneller als ich und hältst dich meinetwegen zurück. Lauf vor. Ich folge dir.“ „Wenn das ein Versuch sein sollte, dich abzusetzen-“ „Nein. Du hast mein Wort. Vielleicht kommen wir getrennt ohnehin besser durch ihre Linien und du bist früher bei deiner Familie.“ Takeru öffnete das Maul, aber Minoru unterband seine Bedenken: „Ich bin schon vor dir allein unterwegs gewesen. Ich komme zurecht.“ Dass es dabei nie darum gegangen war, möglichst schnell von einem Ort zum anderen zu kommen, verschwieg er lieber. Es war eine Sache, durch die Lande zu streichen, und eine ganz andere, dabei die Fährte eines Wolfes nicht zu verlieren. Der knurrte leise. „Fein. Aber glaub' ja nicht, dass du mir so davon kommst, wenn du dein Wort brichst.“ Minoru konnte sich ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen: „Was denn? Bis du mich aufgespürt hast, bin ich an Altersschwäche krepiert.“ „Sieh an, wer spricht!“, Takerus Fell sträubte sich im Nacken. „Sollen wir mal sehen, wie du dich beim nächsten ungebetenen Besuch schlägst, der sich dir in den Weg stellt – allein?“ „Ich sagte, du kannst nicht jagen“, entgegnete Minoru ungerührt. „Nicht, dass du gänzlich unnütz bist.“ Der Wolf schnellte vor, zwickte ihm ins Ohr, kassierte einen Pfotenhieb auf die Nase, der nur halbherzig traf und lachte. Minoru streckte sich neben ihm, soweit es der enge Raum zuließ und rollte die Rute über die Nase. Dass Takeru heil ankommen würde, darüber machte er sich weniger Sorgen. Er war gut ausgebildet und schnell. Über sich selbst wollte er da lieber nicht nachdenken. Kapitel 3: verborgen liegt (neu) -------------------------------- Der Schlamm hatte eine dunkle, schwere Masse gebildet, die ihm bis an die Ellen reichte und das Fell über die Hälfte seines Rumpfes bedeckte. Allein der fortwährende Regen sorgte dafür, dass man unter all dem Dreck einen einstmals weißen Hund erkennen konnte – mit etwas Mühe jedenfalls. Minoru warf einen Blick auf die lückenlose Decke dunkelgrauer Wolken über ihm und versuchte zum wiederholten Mal zu ergründen, ob er das Wetter nun verdammen oder lobpreisen sollte. Die ersten Monate unter freiem Himmel hatten ihn gelehrt, dass Weiß keine Farbe war, die die Natur den Überlebenden zugedacht hatte. Weiß war für Behütete, für hübsche kleine Vögel in Metallkäfigen und für jene, die es sich leisten konnten, gesehen zu werden. Kein Dickicht war tief und keine Neumondnacht finster genug, um blendendes Weiß zu schlucken. Abgesehen vom Schneefall im Winter konnte er den Rest des Jahres über jedwede Tarnung – ob nun für Jagd oder Flucht – geflissentlich in den Wind schlagen. Schlamm und Regen verwischten die Farben, stumpften die Konturen und Gerüche. Wenn ihn seine Gegner auch sahen, konnten sie ihn zumindest nicht gut wittern und seine Spuren verschwanden so wie er sie gesetzt hatte. Wäre alles ganz wunderbar gewesen, wenn er nicht gerade selbst versucht hätte, einer Spur zu folgen. Takeru und er hatten sich vor zwei Tagen bei Sonnenaufgang getrennt. Seither hatte es nicht eine Minute aufgehört zu regnen und der Wind, der durch die Wälder peitschte und Gerüche von überall herantrug und wieder mitriss, als seien sie vorbeistreichende Gedanken, machte es umso schwerer auf dem Weg zu bleiben. Zum Glück war Takeru so geistesgegenwärtig gewesen, einige Sträucher zu touchieren und seine Witterung an den abgeknickten Ästen zu hinterlassen – zumindest hatte Minoru beschlossen, es als Absicht abzutun ehe er sich zum wiederholten Mal über die Sorglosigkeit des Wolfs ärgerte. Denn ungefährlich war diese Unternehmung mitnichten. Allein der Vortag war ein einziges Desaster gewesen. Er hatte Stunden damit verbracht, einen schwer bewaffneten Yōkai loszuwerden, der abstoßenderweise an einen riesigen Hundertfüßer erinnert hatte. Dreimal so groß wie er, klackende Mundwerkzeuge lang wie Katana, und an jedem seiner Dutzend Beine scharfe Klauen. Er hatte nichts gegen Insekten, aber es gab Grenzen. Erst am Nachmittag, nachdem er unter den eng stehenden Bäumen und Sträuchern umhergerannt war wie ein tollwütiger Hase, hatte er ihn an einem Bachlauf abschütteln können; war stromabwärts gelaufen und hatte sich in eine tiefe Schlammpfütze geworfen. Der Dämon war mit klirrender Rüstung an ihm vorübergezogen. Es war ein Blindflug gewesen, der durchaus nach hinten hätte losgehen können. Minoru hatte keinen blassen Schimmer, wie gut die Nase eines Hundertfüßers arbeiten mochte, aber offensichtlich nicht gut genug, um ihn allein anhand seiner schwachen Aura ausfindig zu machen. Als er nach dieser Begegnung Takerus Fährte endlich wiedergefunden hatte, war es Abend gewesen. Unnötig verschwendete Stunden, die ihn am Folgetag nun einholten. Es dämmerte bereits, als ihn die Spur des Wolfes an das Ufer des Mogami führte. Der Fluss, der ohnehin schon als einer der reißendsten des Landes galt, war zu einem sprudelnden, dunkelbraunen Monstrum angeschwollen, das sich wütend durch die Landschaft zog und ganze Bäume aus der aufgeweichten Uferzone riss. Er stand auf der überschwemmten Wiese, spürte den Sog an den Pfoten, das Gras, das sich stromabwärts neigte und sah zu wie der Fluss in seiner Mitte die mit sanften Grün behaftete Krone einer Buche rauschend verschluckte. Es hätte nicht höhnischer sein können, wenn diese Brühe ihm anschließend einen abgebrochenen Ast vor die Füße geworfen hätte. Minoru stellte schaudernd das Fell auf. Dass die Buche einige Meter flussabwärts wieder an die Oberfläche kam, beruhigte ihn nur wenig. Durch diesen Albtraum von einem Fluss war Takeru doch nicht ernsthaft geschwommen? Natürlich, der Wolf war manchmal ein wenig irrational und unvorsichtig, aber das? Andererseits hatte er kaum andere Optionen. Flüsse mündeten bekanntlich ins Meer und dieser hier floss unmittelbar nach Westen. Den Westen zweimal zu durchqueren, um an der Küste einen hoffentlich breiten und flachen Mündungsbereich vorzufinden, war eine zu geringe Chance bei unverhältnismäßig hohem Risiko. Unweigerlich würden die Inu ihn dabei aufgreifen und auf eine Brücke der Menschen zu spekulieren, wenn das Wasser so weit übergetreten war, erschien auch nicht aussichtsreicher. Minoru spielte mit der Zunge in seinem Maul herum, fuhr die scharfen Zahnreihen ab und studierte das gegenüberliegende Ufer. Vor ein paar Jahren hatte er mitangesehen, wie ein im Eis eingebrochener Makake elendig ersoffen war. Nun waren das Tiere und die gemeinhin empfindlicher, was Verletzungen und ähnliches anbelangte, aber er bezweifelte, dass eine Lunge voller Wasser mit dem Leben vereinbar war – Dämon hin oder her. Ungeachtet der Überflutungszone war der eigentliche Fluss vielleicht hundert Meter breit. Hundert Meter, die er versuchen müsste über Wasser zu bleiben, während die Strömung in westwärts riss. Mehr, wenn er davon absah, unmittelbar auf das Ufer zuzuhalten, sondern mit dem Strom arbeitete. Er sog die Luft tief in die Lungen bis sein Brustkorb sich merklich dehnte und spuckte sie förmlich wieder aus. Nun gut. Nur nicht die Nerven verlieren. Größtmögliche Besonnenheit im Angesicht absoluten Wahnsinns. Er watete flussabwärts durch die überfluteten Wiesen – den Blick unentwegt auf die vorbeitreibenden Äste gerichtet. Wo sie verschwanden, wieder auftauchten, langsamer wurden. Nahe einer leichten Biegung zog das Wasser sie nach außen, von seinem Ufer weg und an das gegenüberliegende heran, wie die unumgängliche Schräglage nach abrupt geschlagenen Haken. Minoru schüttelte den Regen aus dem Fell und begab sich stoischen Schrittes in die Fluten. Als ihm das Wasser über die Fesselgelenke stieg und an ihm zu reißen begann, ließ er sich von der Strömung tragen. In einer eisigen Umarmung umfasste sie seinen Körper, zog ihn mit. Das Wasser biss sich durch sein Fell. Es brauchte nicht einmal ein Drittel des Weges, bis die Unterwolle vollends durchnässt war und die Brühe unmittelbar über seine Haut fuhr – einem verheerenden Versprechen gleich. Er unterdrückte den Gedanken, dass das nicht nur das dümmste, sondern vermutlich auch letzte Wagnis in seinem Leben gewesen war und konzentrierte sich auf das Atmen und Schwimmen. Atmen und Schwimmen. Wie ein verdammtes Mantra. Stoisch schlugen seine Pfoten gegen das Wasser an, doch das durchweichte Fell machte es zusehends schwerer, den Kopf an der Oberfläche zu halten. Widerwillig besann er sich eines besseren und ließ die hinderliche Gestalt von sich abfallen. Ein Schaudern konnte er jedoch nicht unterdrücken. Das Gefühl dieses Körpers hatte etwas fremdes, entrückendes. Ohne Fell war das Wasser noch eisiger als zuvor, riss ihn seitlich und spülte über ihn hinweg. Prustend kam er wieder hoch, paddelte unbeholfen auf einen vorbeischwimmenden Baumstamm zu, bis er sich daran erinnerte, dass seine Arme auch Bewegungen nach außen vollbringen konnten. Sobald er an die Rinde heranreichte, rammte er die Klauen hinein und zog sich in die schwimmende Krone. Es war Jahre her, dass er zuletzt Finger besessen hatte! Fluchend wischte er sich das weiße Haar aus dem Gesicht und sortierte seine Gliedmaßen zwischen all den Ästen. Der Wind war beißend kalt und kühlte ihn bis auf die Knochen aus, während er sich nach dem Ufer umsah. Er hatte nicht bedacht, dass das Wasser die Form eines Hundes anders angreifen würde als eine menschliche, aber es hätte schlechter kommen können. Wenn der Stamm ihn gerammt hätte etwa. Falls er ausreichend Halt auf diesem verkappten Floß fand, konnte er in einem günstigen Moment vielleicht sogar fast bis zum Ufer springen oder sich sammeln und nach einer Pause - Er stockte, als er in den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, bemerkte, wie sich die Wasseroberfläche neben ihm in einer langen Linie heller färbte und deutlich kräuselte. Geistesgegenwärtig zog er noch die Beine aus dem Fluss und hielt sich im Geäst fest, bevor ein gewaltiger Körper aus dem Wasser emporstieß und sich über den Baumstamm warf. Minoru riss einen Arm schützend vor das Gesicht. Holz splitterte und etwas rammte ihn frontal, schleuderte ihn durch die Baumkrone. Rücken, Arme und Seite krachten gegen die Äste, an einem schlug er sich die Stirn an und noch ehe das Wasser ihn tosend begrub, witterte er sein eigenes Blut. Kaum unter der Oberfläche umfing ihn eine kalte Masse und zog sich eng um seine Brust. Blindlings versuchte Minoru dem Todesgriff zu entkommen, schlug nach dem Wesen und rutschte mit seinen Klauen über geschmeidige Schuppenhaut. Schlange! Zum Dank für diese Erkenntnis spannte die erneut ihre Muskeln. Minoru spürte wie seine Rippen bedenklich nach innen gequetscht wurden, den stechenden Schmerz, der daraufhin durch seinen Brustkorb schoss und biss die Zähne zusammen, um nicht auszuatmen. Verzweifelt kratzte er immer wieder vergebens über die makellose Haut des Reptils – bis er die Hände fest auflegte, die Klauen unter die Schuppen trieb und riss. Die Muskeln der Schlange zuckten, ihr Yōki flammte auf und schlug ihm wütend und heiß ins Gesicht. Dann zog sie sich erneut um ihn zusammen und quetschte ihm die Luft aus den Lungen. Das Letzte, was er verschwommen sah, war der Schemen eins dreiäugigen Schlangenschädels, der auf ihn zuschnellte – und eine dunkle Silhouette an ihrer Seite. Die Grenze war schwächer bewacht als Takeru erwartet hatte. Er presste den Bauch flach an den Boden und legte selbst die Ohren an, um mit dem dunklen Geröll zu verschmelzen. Dann ließ er seinen Blick über die Landschaft wandern. Schwächer, aber weitläufiger. Überall zwischen den Hügeln wanderten Pantherdämonen – aufrecht gehende Katzen, bekleidet mit Pelzen und bewaffnet bis an die Zähne. Es waren die typischen Angehörigen ihres Volkes. Die Begleitung gewöhnlicher Tiere, wie die Wölfe sie pflegten, war unter anderen Yōkai nicht üblich und die wenigen Pantherdämonen, die in der Lage waren, eine wirklich menschliche Erscheinungsform anzunehmen, konnte man an einer Hand abzählen. Damit war die wahre Macht dieses Stammes auf verschwindend wenige Personen begrenzt. Als sie vor kaum mehr als tausend Jahren vom Festland übergesiedelt waren, um die brach liegenden Ländereien der Drachen zu beanspruchen, waren sie von vier hochrangigen Dämonengeschwistern und nur einem einzigen Daiyōkai angeführt worden – Tadahisa, einem dunkelbraunen, gehörnten Kater, hoch wie ein Wachturm, der sich selbst „Pantherkönig“ genannt hatte. Seine Herrschaft war jedoch nicht von Dauer gewesen. Die Ältesten waren in ihren Erzählungen uneins, ob sich niemand die Mühe gemacht hatte, Tadahisa mitzuteilen, dass die Drachen mitnichten von allein ausgestorben waren oder ob der die Warnungen schlicht in den Wind geschlagen hatte. Für das Ergebnis war es auch unerheblich: Der damalige Inu no Taishō hatte kurzen Prozess mit dem selbsternannten König gemacht, noch ehe der sich auf Honshū hätte heimisch fühlen können und die übrigen Invasoren in die östlichen Berge zurückgedrängt – darunter auch den Generalstab der Panther, bestehend aus den vier Geschwistern, die den Osten bis heute führten. Dass keiner der vier hier zu sehen war, gab Takeru ein wenig Hoffnung. Angestrengt lauschte er in die Ferne, hoffte ein Heulen zu hören, um seine Familie auszumachen und wurde enttäuscht. Nichts. Auf allen Vieren schob er sich rückwärts, zurück in den Schutz der Felsen. Ein Kampf war bei so vielen kleinen Einzelpatrouillen sinnlos, das sah sogar er ein. Er würde jedoch problemlos durch ihre Linien stürmen können. Allerdings erschienen die Panther zu entspannt, als dass dies die vorderste Front darstellen konnten. Ihre Nachlässigkeit würde ein Vorteil sein, aber selbst wenn er diese Linie durchbrach, würde dahinter mindestens eine weitere auf ihn warten – egal. Die Flussdurchquerung hatte an Nerven und Kraftreserven gezehrt. Aber er konnte sich keine langen Pausen leisten. Sie würden ihn wittern, sobald der Wind drehte und darauf konnte er unmöglich warten. Takeru knurrte leise, für sich selbst, dann machte er Kehrt und lief einen Bogen um die Grenzwachen, die ihm am nächsten waren. Suchte den steilsten, unsichersten Weg, den er entdecken konnte und preschte gen Gipfel den Hang hinauf. Der lose Untergrund rutschte unter seinem Gewicht, doch das kümmerte ihn nicht. Er war schnell genug, um über den Schotter zu rennen, spürte den Wind um seine Pfoten wirbeln, der ihn vorantrieb. Die überraschten Panther sahen ihm mit großen Augen nach als habe er den Verstand verloren, erst dann setzten sie sich in Bewegung, griffen zu ihren Bögen. Takeru ließ sein Yōki über das Geröll schlagen. Der aufkommende Windstoß fegte den Hang entlang und brachte seine Verfolger im Schotter zu Fall. Die eher spärliche Menge an Pfeilen, die auf ihn niederhagelte, gab ihm recht: Das hier war niemals die eigentliche Front. Vermutlich nur eine Wachposten, um die übrigen Kräfte nach Westen abzusichern. Für ihn war es ein Leichtes das Tempo noch einmal zu anzuziehen, sodass auch die Pfeile nichts als den Boden spickten. Auf einem Bergkamm einige Kilometer nördlich hielt er inne. Hinter ihm nichts als die hereinbrechende Nacht. Die kalte, klare Luft des Nordens zog um seine Nase und brachte einen Hauch von Heimat mit sich. Takeru atmete tief durch und heftete seinen Blick auf die entfernten Gebirgsketten. Heimat. Wo er jeden Bachlauf kannte, jede Schlucht. Die Streifzüge mit seinen Eltern, Nächte voller Geschichten, reichlich Essen und warmen Feuern. Er schluckte schwer. So nah. Seine zitternden Finger krallten sich tief in den steinigen Schlamm, während sich sein Innerstes zum wiederholten Mal nach außen kehrte. Schwallartig würgte er den halben Mogami hervor, hustete und erbrach noch mehr dunkelbraunes Flusswasser. Seine Kehle brannte. Der Kopf schwirrte und das Gefühl in seiner Brust war nicht mit Worten zu beschreiben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ sich Minoru ins Gras fallen und presste nach Luft schnappend eine Hand auf seine Rippen. Stimmen brandeten über ihn hinweg wie die Strömung. „Unmöglich! Inakzeptabel! Ganz ausgeschlossen!“ Mit jedem Wort wurde der Ton schriller und es brauchte lange, bis Minoru begriff, dass Worte nur von Personen erzeugt werden konnten. Dass er nicht allein war. „Spatzenhirne! Wir können nicht wegen eines toten Bauernwelpen umkehren! Was denkt ihr, was mein Herr tun wird? Alles Spatzenhirne! Vorwärts jetzt!“ „Aber Jaken-sama, der Junge-“ „RUHE!“ „- der atmet.“ Stille. Dann watschelnde Schritte auf feuchtem Grund. Wie eine fette Ente im Uferschlamm. Etwas stocherte unsanft an seinen schmerzenden Körper herum. Minoru zwang sich die Augen zu öffnen und nahm den Zwerg schemenhaft wahr, der über ihm lehnte und wiederholt einen Stab zwischen seine Rippen stieß. Mit Mühe brachte Minoru ein warnendes Knurren hervor, das er sogleich bereute, auch wenn das Männlein augenblicklich vor ihm zurückwich – nur um im nächsten Moment vor Wut zu schäumen: „Tölpel! Undankbarer Bengel! Wie kannst du es wagen das mächtige Heer des Westens mit deiner Nichtigkeit aufzuhalten? Schande über dich! Schande über dich und deine ganze Familie!“ Seine Stimme war eine Kakophonie quietschender Empörung, die in Minorus Kopf randalierte und ihm ein leises Stöhnen abrang, das sein Gegenüber als weiteren Anlass nahm, aus der Haut zu fahren. Hatte er Westen gesagt? Schleichend langsam kämpfte sich Minoru auf die Knie, krümmte sich zusammen, ehe er den Blick hob. Es dauerte einen Moment, bis er die Schar grüner, froschähnlicher Dämonen sah, die sich um ihn versammelt hatte. Das war das mächtige Heer des Westens? Ein Haufen Krötendämonen mit Lanzen und Messern? Wirklich? Beinahe wäre ihm ein Lachen entrutscht. Die gesamte Situation war so grotesk, so erbärmlich! Eine Armee von Kappas! Sein Vater hätte sich vor Lachen verschluckt. Das war genau sein Humor. Hoffentlich erwartete niemand deren Hilfe! Da traf die Erkenntnis Minoru wie ein Schlag. Der Krieg. Er wandte den Kopf um, der ihn augenblicklich mit Schwindel strafte. Neben den Sternen am Firmament tanzten dutzende weitere über den Nachthimmel, der um ihn zu rotieren schien. Wie weit war er abgeschwemmt worden – und wohin? War er nördlich oder südlich des Flusses? „...wo?“, fragte er den Kappa neben sich – verwirrt, wie fremdartig seine eigene Stimme klang. Er hatte einen Satz bilden wollen, aber aus irgendeinem Grund, gehorchte seine Zunge nicht. Nichts an diesem Körper war, wie es sein sollte, aber er konnte nicht den Finger darauf legen, was es war. Das fortwährende Gezeter des Kappas drang nur in Bruchstücken zu ihm durch, während Minoru sich allmählich auf die Beine hievte und gleich ins Straucheln geriet. Er machte einen Schritt nach vorn, offensichtlich in die falsche Richtung, denn kaum hatte er sich bewegt, fuhr der Stab auf seinen Kopf herab und streckte ihn auf dem morastigen Boden nieder. „Da ist Westen!“, keifte der Kappa und fuchtelte mit der Waffe vor seiner Nase herum, während er sich darüber ausließ, dass Minoru ihm nicht zugehört hatte. „Geh nach Hause, Kleiner! Ein Krieg ist nichts für Kinder und schon gar nichts für dich! Götter bewahret, dass dich jemand vermisst, aber ich habe keine Verwendung für dich!“ Sie wollten also doch zur Grenze. Der Inu no Taishō schickte eine Horde kleiner Kappa nach Norden um seine Grenze zu verteidigen. Vielleicht hatte seine Mutter recht gehabt und dieser Abschnitt des Landes war verfallen und zu nichts mehr zu gebrauchen. „Jaken-sama“, hob eine andere quakige Stimme an und erneut näherten sich watschelnde Schritte. „Haltet Ihr es für weise gegenüber einem Fremden davon zu sprechen?“ Der Kappa mit dem Stab erstarrte augenblicklich, als erinnerte er sich da an eine Kleinigkeit, die sogar ihm die Sprache verschlug. „Sesshōmaru-sama hat gesagt-“ „Ich weiß, was er gesagt hat“, zischte Jaken wütend, dann schwieg er einen Moment, tappte mit den Füßchen im Wasser umher, ehe er Minoru mit Wucht in die Seite trat. „Hoch mit dir, Bursche!“ Er wedelte mit dem Stab nordwärts. „Du wirst dich für deine Unverfrorenheit verantworten!“ Kapitel 4: inmitten des tosenden Sturms. (neu) ---------------------------------------------- Im Hochgebirge war Takeru die animalische Erscheinung endgültig leid. Vergebens versuchte er sein wirres, schwarzes Haar zu bändigen und strich es beharrlich hinter die Spitzohren. Früher wäre es ihm niemals in den Sinn gekommen, so viel Zeit auf allen Vieren zu verbringen. Diese Verwandlungen waren ein hübsches Kunststück – aber das waren Radschlagen und Handstand auch. Und genauso wie die Erwachsenen sich selten an kindischem Gebalge beteiligten, vermieden sie auch den rückschrittigen Übergang in Pelz und Pfoten. Bis hierher hatte die Erscheinung Takeru jedoch gute Dienste geleistet. Mit seinem braunen Fell sah er auch wie viele Wölfe im Norden, und kein Gegner kam lange genug nah an ihn heran, um die unnatürlich grünen Augen zu bemerken. Dieses Manöver hätte zwar eher aus Minorus Feder stammen können, aber der Plan war aufgegangen: Der Spähtrupp der Panther, auf den er kürzlich gestoßen war, hatte ihn auf einen Umweg gezwungen, war aber bereits nach wenigen Kilometern umgekehrt. Dass sie dabei nicht einmal einen einzigen Pfeil auf ihn geschossen hatten, kratzte dennoch an seinem Stolz. Wie nachlässig von ihnen, nicht einmal in Erwägung zu ziehen, dass es sich bei einem einzelnen Wolf um einen Späher oder Boten handeln könnte. Aber warum um feindliche Taktikprobleme sorgen, wenn er dadurch wenigstens besser voran kam? Der Weg bis hierher war lang gewesen und die ganzen feindlichen Patrouillen hatten ihn in den letzten Stunden immer wieder zu neuen Wendungen gezwungen. Seine Fährte würde nicht einfach zu verfolgen sein, doch um Minoru brauchte er sich deswegen nicht zu sorgen. So zögerlich der auch auf Gegner reagierte, bei der Jagd war er beängstigend präzise und tödlich. Ein Grund, warum Takeru ihm diese Aufgabe überlassen hatte. Im Gegensatz zu einem ausgewachsenen Yōkai, der seine Energie alleinig aus der dämonischen Aura beziehen konnte, waren sie noch auf so lästige, weltliche Dinge wie Nahrung oder Schlaf angewiesen – ein erheblicher Nachteil, wenn man, wie nun, schnell von einem Ort zum anderen wollte. Er hatte diese Behinderung unterschätzt, als er sein Rudel verlassen hatte und schalt sich dafür auch noch Monate später. Zuhause hatten die Patrouillen dafür gesorgt, dass weder die Kinder noch die gewöhnlichen Wölfe, die das Rudel begleiteten, verhungerten. Frisches Fleisch war eine Selbstverständlichkeit gewesen, für die er in seinen jungen Jahren nie hatte arbeiten müssen, Hunger ein Wort ohne Inhalt. Dementsprechend kläglich und erfolglos waren seine ersten Jagdversuche ausgefallen, auf denen er trotz seiner Schnelligkeit summa summarum zwei, maximal drei Kaninchen erlegt hatte. Das reichte nicht einmal um den Magen für eine Woche zu füllen, geschweige denn für Monate. Dass Minoru ihn nicht schallend ausgelacht hatte, als sie zum ersten Mal zusammen auf die Pirsch gegangen waren, hatte Takeru vermutlich nur der Tatsache zu verdanken, dass sein Begleiter sich zu derartigen Ausbrüchen nicht herabließ. Da war er trotz Kitsuneanteil ganz Inuyōkai und die waren bekannt für ihren beinahe arroganten Stolz und die große Distanz, die sie zu anderen wahrten – und auch wenn Minoru angab, mit seinem Volk nichts zu tun zu haben, trafen diese bei den Ōkami verschrieenen Wesenszüge bei ihm erschreckend zu. Als sie sich zum ersten Mal aufeinandergetroffen waren, hatte Takeru lernen müssen, was es hieß einem Hund auf den Schwanz zu treten – und das war verflucht einfach. Nun hätte er in seiner maßlosen Güte, mit der er den Weißen angeboten hatte, ihm von dem viel zu großen und schweren Reh ein Stück abzunehmen, vielleicht bereits nach den ersten zwei Minuten der beklemmenden Stille bemerken sollen, dass sein Gegenüber ihn zwar klar und deutlich gehört hatte, jedoch einfach nicht teilen wollte – statt sich hitzig nach dem Zustand seines Gehörs zu erkundigen. Takeru hatte feststellen müssen, dass es einem niedrig geborenen Hundemischling ohne Manieren ziemlich egal war, ob er der Erbe des Nordens war oder nicht. Zuhause hatte er sich höchstens aus Spaß mit einigen anderen Kindern gerauft, aber keiner von denen hätte ihn je beleidigt oder gar ernsthaft angegriffen – auch nicht in einem chaotischen Stamm wie seinem. Minoru hingegen hatte diesen Fakt auch auf ausdrücklichen Hinweis ignoriert, so wie er alles zu ignorieren schien, das ihn auch nur im Geringsten störte. Manchmal wünschte sich Takeru, dass alle Dämonen, die ihnen mit feindlicher Gesinnung begegneten, den Hund darauf hinwiesen, für wie klein und mickrig sie ihn hielten. Damit bekam man mehr Feuer in seinen Blick als mit einer direkten Drohung, bei der er immer noch zu überlegen schien, ob eine wehrhafte Haltung nun lohnte oder nicht. Nachdem die beiden sich damals gegenseitig ordentlich Fell ausgerissen und den halben Wald zusammengeschrien hatten, hatte Minoru doch mit ihm geteilt. Takeru wusste bis heute nicht warum. Zwar hatte er sich bei ihm für seine unfreundliche Art entschuldigt, aber das allein hätte Minoru sicherlich nicht dazu bewegt, ihn an seiner Beute zu dulden. Aber was wusste er schon, was in diesem Kopf vorging. Takeru rieb die Hände aneinander. Durch Fell hatte er der Winterkälte gut trotzen können, doch nun sehnten sich seine Hände nach einem warmen Lagerfeuer und sein Magen nach totem Tier. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Wind fegte unbarmherzig zwischen den Felswänden entlang und kühlte den Stahl seines Brustpanzers mit Nachtfrost. Vergeblich bließ Takeru seinen Atem in die hohlen Handflächen und gähnte anschließend lang. Dann hielt abrupt inne. Vor ihm schoben sich ein gutes Dutzend Wölfe aus dem Schutz der Felsen und bauten sich mit gefletschten Zähnen zu voller Größe auf. Jedes Haar einzeln aufgestellt und mit zum Zerreißen gespannten Muskeln funkelten sie ihn aus wilden Augen an. Takeru wurde schlagartig übel. Er war seit Beginn der Reise so versessen darauf gewesen, die vertraute Höhle hinter dem Wasserfall zu erreichen, dass er verdrängt hatte, was passieren würde, wenn niemand erfreut war, ihn zu sehen. Dass aber ausgerechnet die Wölfe ihn so empfingen, versetzte ihm einen besonderen Stich. Die Tiere kümmerten sich nicht um politische Allianzen, sondern nur um persönlichen Verrat – und das wog schwerer. Hatten seine Eltern ihn verstoßen, wie er befürchtet hatte und kamen nun nicht einmal selbst, um den verfluchten Sohn ins Exil zu jagen? „Beruhigt euch“, sagte Takeru und hob beschwichtigend die Hände. „Wenn ich nicht willkommen bin, werde ich wieder gehen.“ Der Rüde unmittelbar vor ihm geiferte und sprang auf ihn zu ohne auch nur eine Antwort zu erwägen. Takeru wich zur Seite aus. Er konnte unmöglich das Rudel angreifen! Wieder entging er schnappenden Kiefern nur knapp und zog die Hand gerade noch schnell genug an den Körper, bevor einer der Wölfe sie erfasste. Die gesamte Meute stürzte sich wie auf einen stummen Befehl auf ihn. Er hob abwehrend die Hände, aber sie brachten ihn augenblicklich zu Boden, pressten die schweren Körper auf seine Brust und verbissen sich in seiner Schulter, als sei er erlegte Beute. „Lass das! Runter von mir!“ Takeru packte einen von ihnen im Nackenfell, drückte die Kiefer auseinander, die die Zähne in seine Schulter trieben und warf ihn weit von sich. Das Tier machte noch in der Luft eine Wendung und stürmte beim geringsten Bodenkontakt erneut auf ihn zu. Der Schwerste von ihnen lag auf ihm und riss ihm den Brustpanzer herunter als sei er aus Pappe. Das war Wahnsinn! Sie wussten, dass sie ihr Leben riskierten! Viel zu spät traf ihn die Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte. Dass ihr Geruch seltsam fremd war. Wie hatte er das nur übersehen können? Ein anderes Rudel sicherlich, aber auch die hätten ihn erkennen müssen, hätten zumindest mit ihm sprechen – nein. Sie sprachen nicht! Warum sprachen sie nicht?! Gerade als er sich mit Gewalt von ihnen freimachen wollte, legte sich kalter Stahl an seine Kehle. Sein Vater ragte ausdruckslos über ihm aus, bewegte die Klinge bis zu seinem Kinn empor. Takeru fuhr zusammen und starrte ihn an. Bis er begriff, dass auch das hier von Grund auf falsch war. Dass er Kōgas vertrauten Geruch längst wahrgenommen hätte, wenn er so dicht bei ihm gewesen wäre. Die Witterung, seine Aura, die schweigenden Wölfe. Nichts stimmte. Seine Lider wurden schwer und ohne dass er etwas daran ändern konnte, fühlte er sich mit einem Mal ausgelaugt und müde. Unendlich müde. „Dummer kleiner Wolf“, sagte eine glockenhelle Stimme über ihm, während die Gestalt seines Vaters zu der einer rothaarigen Frau mit grünen Katzenaugen verschwamm. „Hast du wirklich geglaubt, so leicht mit eingezogenem Schwanz zu deinen Eltern zurückkriechen zu können? Wie einfältig von dir.“ Der Untergrund wurde weicher, wurde zu Gras und Takeru kam eine letzte Erkenntnis bevor der Schlaf ihn übermannte: Das alles war Illusion. Er war nicht im Gebirge, vermutlich war er dort nie angekommen. Kappa hatten eine bedauernswert kurze Schrittlänge. Selbst die Größten von ihnen reichten Minoru kaum bis zur Hüfte und so bildeten die Speeren dieser gut zweihundert Kopf starken Armee ein Meer aus stahlbesetzten Spießen, das er problemlos hatte überblicken können – wenn er den menschlichen Körper nicht wieder aufgegeben hätte. Der aufrechte Gang mit gebrochenen Rippen und schmerzendem Körper war unerträglich gewesen. Auf allen Vieren fiel das Atmen leichter, obwohl er weiterhin bei jedem tiefen Atemzug zusammenzuckte. Mit Ruhe konnte er das auskurieren, aber Jaken hatte es eilig. Auch wenn bei seiner Bergung von einer Schlange keine Spur gewesen war, hatten sie in den Augen des Heerführers zu viel Zeit verschwendet und neben den Konsequenzen für sein loses Mundwerk fürchtete er offensichtlich auch für eine Verspätung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wobei Minoru die leise Ahnung beschlich, dass Jaken die Schuld nicht auf sich nehmen würde. Warum der Kappa dennoch Wert darauf legte, ihn stundenlang zu belehren, wenn er ihn ohnehin ans Messer liefern wollte, erschloss sich ihm nicht. Vielleicht wollte er ihn reizen – oder einfach foltern. Von einer handvoll Diener geschleppt und den mit zwei geschnitzten Köpfen geschmückten Stab im Schoß ruhend, saß der kleine Heerführer auf einem Holzpodest – einer Bühne für seine elendig lange Predigt über Betragen und Ehrgefühl. Nicht zu vergessen sein heruntergekommenes Auftreten und die Ungehörigkeit, dem allerhöchsten Vertreter des Fürsten mit Missachtung zu begegnen. Natürlich sprach er von sich selbst und wieder wähnte Minoru sich in einer grotesken Version der Realität, die seinem Vater vor Lachen Tränen in die Augen getrieben hätte. Die einzige Erleichterung war, dass Jaken diese Lektionen in einem nie endenden Monolog hielt. Niemand erwartete Antworten von einem Hund – die Erscheinung allerdings ein weiterer Punkt, der dem Kappa missfiel. Das Gefasel hing ihm allmählich zum Hals heraus, dennoch gemahnte sich Minoru zur Vorsicht. So surreal die Situation auch sein mochte, war möglich, dass ein Funken Wahrheit in alledem steckte und dann konnte das hier übel enden. Die Kappa waren, wenn überhaupt, eine zusätzliche Streitkraft des Westens, die in gewässernähe effektiv sein mochte. Wenn Jaken also drohte, dass er sich für sein Verhalten verantworten müsse, dann sicher vor einem höher gestellten Kommandanten.Wofür genau hier Absolution nötig wurde, hatte Minoru jedoch immer noch nicht begriffen. Hatte er eine geltene Ausgangssperre gebrochen? Verbotenes Gelände betreten oder war es schlicht verboten, zu ersaufen? Wenn er dem Kappa zuhörte, war sein Auftreten allein schon strafbar. Und so unwahrscheinlich war keine der Annahmen. Was er über den Westen wusste, hatte seine Mutter ihm beigebracht und dabei nicht ein gutes Wort übrig gehabt. Ihrem Land den Rücken zu kehren, mit einem Mann zu leben, den sie selbst gewählt hatte, hatte sie zu einer Aussätzigen gemacht. Einer Verräterin obendrein, da sie nicht einmal den Anstand besessen hatte, mit einem Inu durchzubrennen. Die Rückkehr in den Westen wäre ihr sicherer Tod gewesen. Im Volk ihres Mannes war sie jedoch ebenso wenig geduldet. Also verbrachte sie ihr Dasein in einer entlegenen Hütte im Süden, zu der sich nur sein Vater hin und wieder verirrte. Aus Pflichtgefühl heraus, denn von der früheren Liebschaft war nichts weiter geblieben als ein gemeinsames Kind. Das Zeugnis einer Verbindung, die es nie hätte geben dürfen. Vermutlich war die Konstellation auch nicht die beste, um eine funktionierende Familie aufrechtzuerhalten. Vielleicht lag es aber auch daran, dass seine Mutter ein abgrundtief böses Miststück war, bei dem Minoru sich bis heute fragte, was sein Vater jemals an ihr gefunden haben mochte. Sie war so hassenswert wie sie schön war – und auf ihre Schönheit berief sie sich nur allzu gern. Um ihm ein Leben in irgendeiner Gesellschaft zu ermöglichen, hatte sie ihn daher auf eine Stellung am südlichen Hof vorbereiten wollen, wo sein Vater in der Armee diente. Dort verfuhr man weniger engstirnig mit dem Bastard eines Soldaten und hätte ihn vielleicht als Dienstburschen akzeptiert. Im militaristischen Westen war es undenkbar, einem Mischling mit zweifelhafter Loyalität eine Anstellung bei Hofe oder gar in der Armee zu erlauben. Hier konnte er froh sein, wenn er als Sohn einer Blutverräterin den Kopf behalten durfte. Minoru stapfte durch eine Pfütze und schnaubte den Regen von seiner Nase. Was für eine selten dämliche Idee es gewesen war, sich von Takeru zu trennen. Wenn er das nächste Mal so genial selbstlose Einfälle hatte, schüttelte hoffentlich jemand sein Spatzenhirn an die richtige Stelle und rückte seine Prioritäten zurecht. Er hatte gewusst, dass der Westen gefährlich war! Dass es unklug war, große Landstriche mit Zeitdruck zu passieren. Nun hatte er Takerus Fährte verloren, keinen blassen Schimmer wie weit der Mogami ihn westwärts getrieben hatte und wusste nicht einmal, ob der Wolf noch lebte oder am Grund des Flusses von den Aalen gefressen wurde! Dennoch war Aufgeben keine Option. Er hatte sein Wort gegeben. Er mochte am Leib nichts als Fetzen tragen, eine dumme Entscheidung getroffen haben und aus Pfützen saufen, aber niemand würde ihn des Wortbruches bezichtigen. Schon gar nicht gegenüber einem Freund. Gegen Mitternacht war er so erschöpft, dass er seit geraumer Zeit Jaken beneidete, der auf seiner Trage eingeschlafen war. Minorus Pfoten tappten mechanisch über den weichen Boden und der Regen war zu einem einlullenden Hintergrundrauschen geworden. Als ein Lagerfeuer in Sichtweite kam, wurde Jaken geweckt. Der Kappa ließ die Truppen bis ans Feuer marschieren, dann hüpfte er auf den Boden und entließ seine Diener mit einer großspurigen Geste. Der Tross setzte sich wieder in Bewegung und watschelte zu einem nahegelegenen Bach. Nur eine Hand voll Wächter blieb zurück und Jaken, der in der Nähe des Feuers auf- und abging, als wäre er es, den man nun warten ließ. Minoru blickte auf die Flammen, die das regennasse Holz knacken ließen und Funken spuckten. Es war lange her, dass er sich an einem Feuer gewärmt hatte. Er genoss die Hitze, die ihn umfing wie ein zweites Fell und seine dunkle Nase trocknete, die vielleicht eine Spur zu nahe an den Flammen hing. Aber die Wärme machte ihn auch träge. Müder, als er ohnehin schon war und da sich sonst nichts rührte, beschloss er, sich einen Moment vor dem Feuer hinzulegen. Nur kurz. Die Berührung einer Hand riss ihn aus dem Tiefschlaf. Der Geruch von Fisch und Mensch übermannte ihn und als die junge Frau vor ihm in die Knie ging und erneut die Hand zwischen seine Ohren legen wollte, setzte etwas in ihm ein, das sie um ein Haar die Finger gekostet hätte. Doch da fuhr bereits der Kopfstab auf Minoru herab. Dieses Mal war er schneller, warf sich herum und trieb die Kiefer in das Holz bis Splitter flogen. Sein geschundener Körper protestierte, aber das war es wert. Der Kappa riss am Stab, schrie Feuer und Mordio, als habe Minoru die Zähne stattdessen in seinen kahlen, grünen Schädel geschlagen. Der wandte den Kopf und warf den Stab mitsamt daran hängenden Yōkai über die Wiese. Unbeholfen überschlug sich der Wicht und bremste mit der Nase voran im Gras. Ein kurzer Triumph, denn kaum hatte Minoru das Maul wieder geschlossen, griffen die Wachen ein. Ein Schwert hieb auf ihn zu, etwas traf schmetternd seine Wirbelsäule und die Lanze, die in seine Seite fuhr, brachte ihn zu Boden. Nasses Gras schlug ihm ins Gesicht. Er riss das Maul auf, japste nach Luft, nach der sein Körper verlangte, während seine malträtierten Rippen ihn dafür hassten. Die Kappa umstellen ihn, wichen jedoch abrupt auseinander, als die Frau ihnen entgegentrat. „Lasst ihn! Was fällt euch ein?“, sie riss einem der Dämonen die Lanze aus der Hand und drosch ihm die stumpfe Seite auf den Kopf. Dann rammte sie die Waffe mit der Spitze voran in den Boden und ließ sich neben Minoru ins Gras fallen. „Ganz ruhig. Wir schaffen das schon. Nur die Ruhe, mein Kleiner.“ Er verwandelte sich und packte ihr Handgelenk, stieß sie von sich weg. Ihre braunen Augen waren schreckgeweitet, als das, was sie für einen Hund gehalten hatte, keiner war. Fluchend presste er die Hand auf die Wunde an seiner Seite, die die Verwandlung nur weiter aufgerissen hatte, kämpfte sich auf die Knie und zog das, was von seinem Hemd übrig geblieben war über den Kopf. Mit den Fangzähnen zerriss er den Stoff, wickelte ihn um sich und zog keuchend einen festen Knoten. „Jaken.“ Die Stimme ließ jeden Kopf im Umkreis von hundert Metern herumschnellen. „Erst diese Idee, deinesgleichen hieran zu beteiligen, und nun lässt du mich warten?“ Der Kappa gefror zur Salzsäule und warf sich umgehend selbst wieder in den Schlamm, während sich über ihm eine hochgewachsene Gestalt in voller Rüstung aufbaute. Der Blick des Yōkais lag gleichgültig auf dem zitternden Kappa zu seinen Füßen und auch Minoru schauderte, als der Mann sich ihm zuwandte. Das Haar so weiß wie die Kleidung, die Dämonenmale an Wangen, Lidern und Handrücken in tiefem Magenta und bernsteinfarbene Augen, die einem das Fleisch von den Knochen schälten – Minoru musste nicht erst Witterung oder Aura nachspüren, um zu wissen, dass das da ein Inu war. Nein, mehr als das. Der gewaltige Pelz, der sich um seine rechte Schulter und seinen Rücken herabwandt, war so dick wie die Schlange im Mogami. Das feine, weiße Fell wogte federleicht unter der Aura des Dämons, als reagiere es auf jeden Atemzug. Das da war kein Tierpelz – es war ein Teil von ihm. Minorus Gedanken überschlugen sich. Während der Großteil der Dämonen nicht einmal in der Lage war, eine menschenähnliche Form anzunehmen, war diese für Daiyōkai nichts als Blendwerk. Eine kompakte Möglichkeit, das Biest hinter hübscher Kleidung und Zierrat zu verbergen. Umgehend wandte er den Blick zu Boden und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Das war unmöglich. Niemand hatte so viel Pech an einem Tag! Er konnte nicht einfach irgendeinem Hundedämonen begegnen, nachdem er beinahe ertrunken war, nein. Er erwischte gleich den Daiyōkai! Und wenn er nur einen Moment bedachte, wie selten diese Wesen waren und was es brauchte, damit man einen Teil seiner wahren Gestalt auch noch in seiner jetzigen Erscheinung wahrnahm, dann war das der Fürst des Westens persönlich. Der Kappa war eigentümlich blass geworden und stammelte vor den Füßen seines Meisters etwas von Flüssen und Ertrinkenden. „Die Kappa haben ihn mitgebracht, Sesshōmaru-sama“, mischte sich die Frau ungefragt ein, als Jaken keinen verständlichen Satz zustandebrachte. „Ich war aufdringlich und es gab ein Missverständnis. Nichts weiter.“ Jaken vergaß für einen Moment, dass er Luft sein wollte und fuhr wütend herum: „Er wollte dich umbringen, du dumme Gans!“ Dann verschmolz er wieder der Länge nach mit dem Gras. „Natürlich habe ich Rin umgehend vor jedem Schaden bewahrt, mein Fürst, und e-er hat uns belauscht und von Euren hohen Plänen gehört-“ Minoru wurde eiskalt als die beiden nicht nur seine größte Sorge bestätigten, sondern der Kappa ihn obendrein mit wenigen Worten ans Messer lieferte. Belauscht! Als hätte er eine Wahl gehabt! Er hätte panisch werden sollen, das Ende fürchten, das ihm kurz bevor stand, doch stattdessen brandete eine Welle heißer Wut durch seinen Körper und zog seine Kehle zusammen. Wenn er lebend hier herauskam, würde er diesem Abklatsch von einem Dämon den hässlichen Schädel vom Rumpf reißen! Mal sehen, ob ihm das dann 'angemessen' genug für dieses Volk war! Bevor der Kappa die Behauptung jedoch weiterspinnen konnte, fuhr eine ungleich heißere Aura über sie alle hinweg. „Zwei der Soldaten haben ihn aus dem Mogami gefischt“, jammerte Jaken ob des Gemütsausbruchs seines Herrn und gestikulierte wild. „Ich wollte sofort zu Euch, Meister. Ich schwöre es. Aber ich konnte auch nicht geringsten Eurer treuen Untertanen dem sicheren Tod überlassen. Auch wenn er genau das ist – der geringste, gewöhnlichste, abstoßendste Hund, der mir je untergekommen ist!“ „Jaken-sama! So etwas solltest du nicht sagen!“ Quietschend vor Entrüstung sah der sich zu Rin um: „Hast du Augen im Kopf? Sieh dir das Elend doch an! Er trinkt aus Pfützen! Und er hat in meinen Stab gebissen! In meinen wunderbaren Jintōjō, den Sesshōmaru-sama mir persönlich gegeben hat! Dieses undankbare, unselige Balg!“ Wenn es den Inu no Taishō kümmerte, dass diese beiden Kuriositäten vor ihm stritten, ließ er es sich nicht anmerken. Er hatte offenbar gehört, was er wollte und wandte seine Aufmerksamkeit Minoru zu, der seinen Blick auf sich spürte wie ein Brandeisen. „Warum bist du hier?“ Er hätte versuchen sollen abzuhauen, als er noch die Möglichkeit gehabt hatte. Zweihundert Kappa und eine handvoll gebrochener Rippen. Das wäre sicherlich nach hinten losgegangen, aber nun war jedwede Flucht vollkommen sinnlos. „Nun?“ „Wenn Ihr erlaubt, behellige ich Euch nicht weiter und gehe“, antwortete Minoru. Es war demütig geplant gewesen, eher eine Betonung seiner Nichtigkeit, aber er bereute den Wortlaut umgehend. Doch sein Gegenüber blieb ruhig. „Das habe ich nicht gefragt.“ Minoru sah zu dem Fürsten auf. Die Gelassenheit, die er an den Tag legte, verwirrte ihn. Natürlich hatte jemand wie er es nicht nötig, laut zu werden, aber auf diese Anmaßung hätte in der Regel eine umgehende Strafe folgen müssen, die absonderlicherweise ausblieb. Wenn er es gewagt hätte, diesen Ton gegenüber seiner Mutter anzuschlagen, hätte sie ihn die Klauen durchs Gesicht gezogen noch bevor er den Satz beendet hatte. Und hier stand der Fürst des Westens, mit einer Art, die absolutes Desinteresse verkündete und gleichsam Antworten verlangte. Minoru schluckte. Er hätte vom Fluss berichten können, davon, dass Jaken sich verplappert und ihm mitgezwungen hatte, aber das war nicht der Kern. Er war nicht im Westen, weil ihn das Heer aus dem Fluss gezogen hatte und dieser Mann wünschte offensichtlich keine überschwänglichen Erläuterungen. „Ich will nach Norden.“ „Du bleibst über Nacht. Morgen früh wirst du zu deinen Eltern gebracht.“ Minoru stellten sich selbst in menschlicher Form die Nackenhaare auf. Die Rationalität hätte ihm gesagt, dass der Taishō nicht ahnen konnte, wer oder wo seine Eltern waren. Dass er ihm eher den Kopf abschlagen als eine Eskorte zur Seite stellen würde und es hier nur darum ging, einen Jungen loszuwerden, der seinen Feldzug behinderte. Dass es eine Möglichkeit wäre, zu entkommen. Stattdessen setzte eine so umfassende Leere ein, dass ihm übel wurde. „Nein.“ Der Fürst, der sich bereits halb abgewandt hatte, drehte sich wieder zu ihm und zum ersten Mal lag so etwas wie eine Regung in seinen Zügen. „'Nein'?“ Jaken sog scharf die Luft ein, bevor er erneut wild gestikulierend auf Minoru zusprang: „Wie kannst du es wagen zu widersprechen? Weißt du nicht, wer vor dir steht? Sei still, du dummer Junge, sonst verlierst du noch den Kopf!“ „Das reicht jetzt!“, zischte die junge Frau dem Kappa zu, der gleichermaßen zurückzischte. Dann wandte sie sich Minoru zu. „Hör mal. Wenn du nicht weißt wohin, werden wir jemanden finden, der sich um dich kümmert.“ Er erwiderte den mitleidigen Ausdruck in ihren braunen Augen, als hätte sie ihm mit sanfter Stimme ins Gesicht gespuckt. Jaken, der neben Minoru verstummt war, verstand nur allzu gut, was sie da gerade angedeutet hatte und starrte sie fassungslos an, ehe er resigniert seufzte. „Ich weiß wohin“, knurrte Minoru dunkel und richtete sich trotz der schmerzenden Stichwunde auf. Die Muskeln an seinem Hals spannten sich an und als er die Hände bewegte, knackten die Gelenke hörbar. „Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert.“ Sie wollte etwas erwidern, das keinesfalls gut ausgegangen wäre, hielt sich jedoch zurück, als Jaken lautstark hüstelte und mahnend den Kopf schüttelte. „Du solltest nicht nach Norden“, sagte sie stattdessen. „Ich weiß nicht, was du dort suchst, aber es wäre besser, zumindest zu warten. Dort ist es gefährlich.“ „Ich weiß, was dort ist.“ „Du bleibst die Nacht“, wiederholte der Inu no Taishō, als habe die geladene Konversation vor seinen Augen nie stattgefunden. „Bis ich anders entscheide. Jaken. Er unterliegt deiner Verantwortung.“ Der Kappa öffnete den spitzen Mund zu Widerspruch, dann jedoch äugte er über die Schulter hinauf zu Minoru, die Pupillen seiner gelben Katzenaugen zu Schlitzen verengt. Kapitel 5: Mit jedem Moment (neu) --------------------------------- Minoru tauchte zum wiederholten Mal sein zerschlissenes Hemd ins Wasser. Er rieb den Stoff aneinander, um das Blut herauszuwaschen und zählte stumm bis zehn, um den warmen Atem des Kappas in seinem Nacken auszublenden. Neben ihm im Gras lag eine Forelle, die nach dem Regen die Wasseroberfläche unaufmerksam nach Insekten abgesucht und damit ihr Ende besiegelt hatte. Doch war nicht einmal die Aussicht auf eine Mahlzeit genug, um seine Stimmung zu heben. Als hätte das Erlebnis im Mogami und die unbarmherzig pochende Stichwunde an seiner Seite nicht ausgereicht, um ihm diesen Tag auf lange Sicht zu verleiden, hatte Jaken auch noch darauf bestanden, dass er sich für die erhellende Präsenz des Fürsten angemessen herrichtete – so angemessen, wie es ein nächtlicher Bachlauf bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt nun einmal hergab. Da sie sich in Sichtweite des Fürsten befanden, nahm der Kappa seine neu zugewiesene Aufgabe besonders ernst und Minoru fragte sich schon seit geraumer Zeit, warum die Kröte nicht gleich auf seinem Schoß Platz nahm, wenn er ohnehin an ihm klebte wie eine ausgehungerte Zecke. Bislang begnügte sich Jaken jedoch damit, die neu gewonnene Macht auszuspielen und stupste ihn mit dem Stab an. „Mach schon, Junge. Es ist kalt.“ Zerknirscht raffte sich Minoru vom Schneidersitz auf die Knie hoch und wusch erst Hände und Gesicht, bevor er das Haar kopfüber in den Bach tauchte. Die dunklen Schlieren, die daraufhin von der Strömung davongetragen wurden, ließen erahnen, dass der Dreck der Reise hier ebenso haftete wie an seinem Hemd. Nachdem er von Zuhause ausgerissen war, hatte er zunächst darauf geachtet, die Frisur kurz zu halten. Jedoch nur bis deutlich geworden war, dass die Haarlänge der einen Gestalt keinerlei Einfluss auf das Fell der anderen hatte. Das lag nun Jahre zurück, sodass er sich mit einer Mähne verklebter Strähnen konfrontiert sah, die sich nur mühsam mit den Fingern entwirren ließen. Die Säuberung ziepte und zerrte an seiner von Stabschlägen ohnehin malträtierten Kopfhaut und Minoru war versucht, diese Mähne wieder auf ein Minimum zu kürzen, als Jaken ihn erneut ungeduldig antrieb. Abrupt richtete sich Minoru auf, schwang die Haare über die Schultern zurück und dem Kappa mitten ins Gesicht. „Jähzorniger Rotzbengel – !“ „Bleib' mir vom Leib!“, zischte Minoru, bevor sein Gegenüber in eine erneute Litanei verfallen konnte. Stattdessen traten die Adern unter der grünen Haut der Kröte deutlicher hervor, während er hilfesuchend zu seinem Fürsten sah. Dieser begegnete dem Ersuchen seines Untergebenen mit einem Blick, der Vernichtung verkündete, wenn in diesem Lager nicht augenblicklich Ruhe einkehrte und erstickte damit jeden weiteren Streit im Ansatz. Zurück bei den anderen starrte Minoru wortlos in die Flammen und wagte nicht, aufzusehen. Jaken hatte sein Verhalten abgestraft und ihn gegenüber dem Fürsten am Feuer platziert, wo er in dessen unmittelbaren Blickfeld wünschte, sich zeitnah in Luft aufzulösen. Zu seiner Erleichterung ließ der weder Tadel noch Fragen verlauten und hüllte sich in Desinteresse – ganz im Gegensatz zu Rin. Die Menschenfrau versuchte mehrfach, Minoru ein Gespräch aufzuzwingen, ehe sie die Gesellschaft in Monologen ertränkte, zu deren Aufnahme Minoru ohnehin nicht mehr fähig war. Über seinen Knien ausgebreitet trocknete das Hemd, während er zum wiederholten Mal versuchte, die Beweglichkeit einzelner Finger zu einem geflochtenen Zopf zu koordinieren. Die Gelenke waren nach Jahren der Tatlosigkeit steif geworden; die erneute Nutzung ebenso befremdlich wie das Gefühl von Wärme, von Wind oder Wasser auf bloßer Haut. Vom aufrechten Gang ganz zu schweigen. Es bedurfte zwei weiterer Anläufe, bis die Strähnen gebändigt waren und mit einem Stoffstreifen gesichert auf seinen Rücken fielen. Sein gequetschter Brustkorb, der mittlerweile an diversen Stellen blau-gelb verfärbt war, dankte ihm die Unternehmung nicht eben. Als er schließlich nach der Forelle griff und Anstalten machte, in das rohe Fleisch zu beißen, bemerkte er, wie das fortwährende Plappern neben ihm verstummte und einem Gesichtsausdruck wich, der bedenklich viel mit dem Fisch gemeinsam hatte. Rins Rehaugen nahmen an Umfang zu, ehe Minoru die Forelle wortlos sinken ließ. „Du fängst deine eigenen Fische. In Ordnung. Mit dem Maß an Stolz habe ich gerechnet. Aber das Feuer kannst du ja wohl benutzen. Du wärmst dich schließlich auch daran.“ Minoru schluckte eine Erwiderung hinunter. Das Eis war zu dünn, um darauf hinzuweisen, dass das Feuer der einzige Aspekt dieser Scharade war, der nicht unangenehm ausfiel und er dennoch einen anderen Ruheplatz gewählt hätte – vorzugsweise meilenweit entfernt. Sie mochte nur ein Mensch sein, mit der er eine Auseinandersetzung höchstens aufgrund ihrer Nichtigkeit hätte meiden sollen, doch er war nicht so dumm, den Daiyōkai zu vergessen, der ihre Anwesenheit duldete. Der verfolgte die Szene schweigend, während Minoru missmutig den Fisch auf einem Stock pfählte und ihn zu seinen Artgenossen an die Flammen stellte. Er hatte den Fisch dennoch halb roh verspeist, ehe er sich neben dem Feuer niedergelegt hatte. In dieser Gesellschaft zu schlafen, auch nur zu ruhen, widersprach jedweder Vernunft, doch die zurückliegenden Stunden forderten ihren Tribut. Es war mehr als nur die Müdigkeit, mehr als das befremdliche Körpergefühl. Die Quetschungen an seinem Brustkorb schmerzten bei jeder Bewegung und die Stichwunde der Kappa brannte ungewohnt scharf und brach immer wieder auf, egal wie oft er den Verband neu anlegte. Dass niemand in der Hoffnung auf leichte Beute seinem Blutgeruch ins Lager folgte, war einzig und allein der Anwesenheit des Fürsten geschuldet. Kein gewöhnlicher Dämon war so dumm, für nichts als eine Mahlzeit die Auseinandersetzung mit einem ausgewachsenen Daiyōkai zu riskieren. Das Ausmaß dämonischer Energien war zwar stets einer gewissen Veranlagung unterworfen, doch ein Großteil ihrer gefürchteten Macht entsprang einer Mentalität, die mit 'konfrontativ' sehr wohlwollend umschrieben war. Über die Generationen hatte sich die Vormachtstellung der Daiyōkai gefestigt, was, Minorus Vater zufolge, Fluch und Segen gleichermaßen sein mochte: Zwar war kaum jemand wahnsinnig genug, sich mit ihnen zu messen, doch ihr gesellschaftliches Ansehen hatte dazu geführt, dass selbst das Töten ihrer Kinder für einen gewöhnlichen Dämon ausreichend Prestige einbrachte, um den ein oder anderen Kriegstross hinter sich zu sammeln. Jedenfalls solange bis die Eltern auf den Plan traten – was jedoch nicht allzu häufig der Fall war, weil Nachwuchs, der sich von einem dahergelaufenen Yōkai niederstrecken ließ, nicht einmal den bisherigen Aufwand an Zeit und Ressourcen wert gewesen war, geschweige denn jeden darüber hinausgehenden. Er mochte jede Wette eingehen, dass diese Menschenfrau, die in aller Seelenruhe unter einem in den Boden gerammten Wagasa-Schirm an der Seite des Fürsten schlief, von genau diesem Umstand gleichermaßen profitierte wie sie verlor. In seiner Nähe mochte sie sicher sein, darüber hinaus aber stand ihr die Zielscheibe praktisch auf die Stirn geschrieben. Ihre Unverfrorenheit in seinem Beisein war Aussage genug über die Narrenfreiheit, die sie genoss. Dafür hätte es nicht des Anblicks bedurft, den sie darbot, wenn sie sich wie selbstverständlich an den dichten, weißen Pelz kuschelte, der von seiner Schulter herabfiel. Es war einfach zu skurril, um näher darüber nachzudenken. Und dennoch drängten sich derlei Gedanken auf, kreisten gebetsmühlenartig in die eine oder andere Richtung. Minoru hatte sich auf den Rücken gelegt und lauschte dem erneut niedergehenden Regen, der auf ihrem Bambusschirm trommelte und ihm ins Gesicht fiel. Das Prasseln war angenehm, rhythmisch, fast meditativ und wusch zumindest für einige Minuten den Geist frei. Die Tropfen allein hätten heilsam sein können, doch der Boden schien kälter als er es im Winter gewesen war. Die Kälte zog ihm bis in die Knochen und zum wiederholten Mal biss er die Zähne über einem Schaudern zusammen, das ihn unwillkürlich packte und die Unebenheiten des Bodens wie Nadeln in seinen Körper trieb. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich je so elendig gefühlt hatte. So müde, ohne wirklich schlafen zu können. Als die Müdigkeit schlussendlich doch die Oberhand gewann, war der Mond längst wieder im Sinken begriffen. Die Ruhe währte jedoch nicht lange. Geruch und Aura ließen ihn hochfahren. Kreislauf und Muskeln protestierten unter der abrupten Bewegung und er zog zischend die Luft ein, als sich die Wunde an seiner Seite erneut öffnete und Blut seinen Verband durchtränkte. Das Feuer war heruntergebrannt, doch die Glut reichte aus, um den Schemen zu beleuchten, der sich auf allen Vieren durch die Dunkelheit näher schob. Minorus Muskeln verspannten, als gleich zwei Augenpaare das Restlicht reflektierten und die Schuppen des Untiers zum Vorschein kamen. Er war halb in der Wandlung, begann umgehend zu kalkulieren, ob seine Zähne im Ernstfall durch die Haut am Hals des Dämons drangen und was währenddessen mit dem zweiten Kopf zu tun war, als das Wesen nach kurzem Schnuppern entschied, dass Minoru nicht spannend genug war und hinter den Fürsten trottete. Ungläubig beobachtete Minoru die Echse, die neben der schlafenden Menschenfrau im Gras niedersank wie eine übergroße Katze und ihre zwei Köpfe auf den beschuppten Vorderbeinen bettete. Dann bemerkte er den Fürsten, der das Drachenwesen schlichtweg ignorierte und zu Minorus Entsetzen stattdessen ihn betrachtete. Wie gelähmt hielt er inne. „Aufmerksam“, stellte der Inu no Taishō fest, nachdem Minoru ihm ungebührlich lange in die Augen gestarrt und sich gefragt hatte, ob nun Wegschauen unhöflicher sein mochte als diesem Blick bernsteinfarbener Kälte zu begegnen. „Was macht jemand wie du im Mogami?“ Das Blut rauschte durch seine Adern und für einen Moment überkam Minoru das Gefühl von Taubheit. Er schauderte, während sich seine vor Kälte steifen Finger in alter Gewohnheit zu dem Armband an seinem Handgelenk tasteten und an den roten Steinen herumnestelten. Es war kindische Hoffnung gewesen, dass er ohne jedwede Erklärung davonkam. Kindisch und dumm. Ging es hier lediglich darum, wie er in den Fluss geraten war oder war seine fremdländische Herkunft offensichtlich und erforderte eine Rechtfertigung? „Ich fürchte, ich kann Euch nicht folgen...“ „Wie lange lebst du allein?“ Wen kümmerte es? Warum überhaupt nach Stunden des Schweigens das Wort an ihn wenden? Minoru hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Er hätte den Mund halten sollen! Hoffen, dass er eine halbwegs glaubhafte Lüge spinnen und während der Reise zu seiner vermeintlichen Familie entkommen konnte. Sesshōmaru hatte ihn doch noch während der ersten Unterhaltung beinahe vom Haken gelassen und hätte ihn kaum persönlich eskortiert – ganz gleich wohin. Mit ein paar Kappa als Reisebegleitung wäre er vermutlich noch zurechtgekommen. In jedem Fall wäre die Lage weniger riskant gewesen als jede Antwort, die er nun gab – oder schuldig blieb, denn je länger er schwieg, umso mehr schien sich die Luft zu verdichten. Minoru wusste nur zu gut wie es sich anfühlte, wenn Ungeduld und Wut Form annahmen und den Ausbruch würde er bei diesem Mann vermutlich nicht überleben. „Ein paar Jahre“, erwiderte er schließlich, zupfte an den Steinen und drehte sie um das Lederband, während seine Zähne fortwährend über die Innenseite seiner Wange schabten. Angespannt versuchte er etwas an seinem Gegenüber abzulesen, sich auf die zuschnappende Falle vorzubereiten, doch es gelang ihm nicht. Weder Haltung noch Ton des Fürsten änderten sich ob der Informationen. Selbst seine Aura blieb so regungslos wie die Seide, die über seinen weiterhin entspannten Muskeln lag. Ein Fels hätte kaum weniger preisgeben können. „Jahre“, wiederholte der Inu trocken. „Dennoch scheiterst du an einem Fluss und einem Haufen Kappa. Versteh' mich nicht falsch. Es kümmert mich nicht, wenn Narren ihrer Selbstüberschätzung erliegen. Aber närrische Kinder überleben keine Woche allein. Geschweige denn Jahre.“ „Eine Verkettung unglücklicher Umstände.“ „Beruhend auf einer Fehleinschätzung.“ „Nun... schon. Vermutlich. Auch.“ Schweigsam betrachtete ihn der Daiyōkai, wartete. „Den Mogami unter Zeitdruck überqueren zu wollen war ein Fehler. Alternativlos, aber ein Fehler“, räumte Minoru ein. „Die Strömung wäre machbar gewesen, aber die Schlange hätte ich vorhersehen müssen und die Kappa waren... nicht kalkulierbar.“ „Ebenso wie der Krieg im Norden, von dem du sehr wohl weißt.“ „Ich habe einem Freund versprochen, ihm dorthin zu folgen.“ „Das war dumm.“ „Vielleicht. Aber auch ein dummes Versprechen ist ein Versprechen.“ „Es überhaupt zu geben.“ Minoru biss die Zähne zusammen. Mit dem Druck schoss Gelenkschmerz durch seinen Unterkiefer und abermals fuhr ein unkontrollierbares Schütteln über seinen Körper, das die Kälte bis hinter seine Stirn trieb. „Werdet Ihr mich dennoch gehen lassen? Wie Ihr schon sagtet, kümmert Euch der Tod eines Narren nicht.“ „Das kommt ganz darauf an“, erwiderte der Fürst, der das offenkundige Unwohlsein des Jungen mit einem Stirnrunzeln bedachte. „Worauf?“ „Ob man mir diesen Tod zur Last legen kann.“ Am nächsten Morgen waren die gelegentlichen Schauer, die Minorus Körper durchfuhren, zu einem ständig wiederkehrenden Grauen geworden. Die Kälte hatte sich bis in jedes Gelenk hineingefressen und vernebelte seine Gedanken zu Bruchstücken. Die Frau, die über ihm beugte, war in seiner Wahrnehmung nichts als verlaufende Farbschlieren vor grauem Himmel. „Seine Augen sind ganz glasig.“ Rin zog die Hand von seiner Wange zurück, die er ohne Gegenwehr oder Murren geduldet hatte. Ein schlechtes Zeichen für einen so widerspenstigen Jungen. „Ich denke, er hat Fieber.“ Jaken schnaubte wütend. „Einfältiger Mensch! Dämonen bekommen keine eurer schwachen Krankheiten.“ „Die Beurteilung überlässt du mir.“ Die junge Frau erhob sich und strich halbherzig das Haar hinter ihre Ohren. Auch wenn viele ihr die Erkenntnis absprachen, war sich Rin der Überlegenheit der Dämonen um sie herum durchaus bewusst. Sie fürchtete sie lediglich nicht. Zum einen, weil sie während ihres kurzen Erdendaseins oft genug erlebt hatte, dass Menschen die schlimmeren Monster waren und zum anderen, weil sie wusste, dass keiner der Anwesenden je Hand an sie gelegt hätte. Auch Jakens Zuneigung war sie sich sicher, selbst wenn diese hinter Zurechtweisungen und Gezeter verborgen war. Das war schon immer sein Umgang mit ihr gewesen und Rin nahm gern hin, dass er sie auch heute noch behandelte wie das kleine Mädchen, das sie einst aufgesammelt hatten. Nicht jedoch, wenn es um ihre Arbeit ging. „Ich habe dutzende Junge und Alte mit Fieber behandelt. Sangos Zwillinge über fast zwei Wochen. Du kannst dir gern den Kopf über die Gründe zerbrechen. Aber Fieber hat er.“ Der Kappa schürzte beleidigt die Lippen und ersann zweifelsohne eine Antwort, mit der er sie in die Schranken weisen konnte, doch sie beachtete ihn nicht weiter. „Sess-“ „Rin!“, unterbrach Jaken seine Bemühungen. „Der hohe Herr empfängt gerade sein altes Schwert von dem Schmied! Wirst du ihn wohl nicht dabei stören, du-!“ Er verstummte und zog augenblicklich den Kopf ein, als sich die Luft in Anwesenheit des Fürsten um ihn herum verdichtete und Rin zum Taishō aufsah, der wortlos über ihm aufragte. „Ich kann es nicht erklären, aber der Junge ist krank. Er kocht förmlich und reagiert kaum noch.“ „Das kann alles sein!“, dementierte nun der Kappa. „Eine Vergiftung!“ Der Fürst betrachtete den Jungen ausdruckslos. „Dann wäre er längst tot.“ „Eine Blutvergiftung wäre denkbar“, wandte Rin ein und störte sich nicht an der empörten Schnappatmung des Kappas, weil sie es gewagt hatte, dem Fürsten offen zu widersprechen „Zumindest wenn wir kurz vergessen, was er ist. Offene Wunden, ein Bad in einem überquellenden Fluss – für einen Menschen wäre das fatal. Da hätte ich darauf bestanden, dass man die Wunden säubert, vermutlich sogar ausbrennt. Aber bei ihm?“ „Wenn ich meine bescheidene Meinung dazu äußern darf“, hob eine ältere Stimme an, „dann ist es so sehr jungen Yōkai durchaus möglich, krank zu werden. Unter sehr engen Voraussetzungen, aber möglich.“ Scheinbar uninteressiert saß ein alter Mann auf dem Rücken seiner Kuh, deren drei Augen ebenso übergroß waren wie seine beiden. Die wenigen, altersgrauen Haare des Schmieds waren an seinem Hinterkopf zu einem lichten Zopf zusammengefasst und auch sein Ziegenbart schimmerte bereits in diesem stumpfen Grau. „Tōtōsai“, wandte sich der Fürst unterkühlt an den Greis, der gerade Flusen von seinem abgenutzten Yukata sammelte. „Du nimmst ihn mit.“ „I-ich?“ Die Haut des Alten hatte sich auf der Stelle der Farbe seiner Haare angeglichen, ehe er sich fing. „Oh nein, Sesshōmaru! Das hättest du wohl gern! Was habe ich mit diesem Haufen Elend zu schaffen? Der stirbt mir doch unter den Händen weg und dann ist es meine Schuld, was? Vergiss es!“ Der Fürst hörte ihn nicht. „Rin, du begleitest ihn.“ „Ich werde sehen, was ich machen kann“, erklärte sie mit einem Blick auf Minoru, der sich während des ganzen Trubels kaum gerührt hatte. Sein Atem ging viel zu rasch und über seinen Puls wollte sie lieber nicht nachdenken. „Nein! Nein, auf gar keinen Fall“, protestierte Tōtōsai. „Das ist ja noch schlimmer! Ich werde nicht noch deinen Menschen hüten. Warum glaubt diese Familie ständig, mich mit der Aufsicht über derlei zerbrechliches Gezücht strafen zu müssen? Wenn er stirbt, schlimm genug, wenn sie -“ „Macht Euch keine Gedanken, verehrter Schmied“, unterbrach Rin den Alten, ehe er sich noch an der Andeutung versuchte, ihr Wohlbefinden liege im besonderen Interesse des Fürsten. Das hatten schon ganz andere gewagt und gut ausgegangen war es selten. „Der Junge soll nicht Eure Sorge sein und ich werde Euch keinen Ärger bereiten. Was ich benötige, ist ein sicherer Ort und freie Hand.“ Da jedwede Widerrede des Schmieds ohnehin verschwendeter Atem war, wandte sie sich an den Fürsten. „Ich wünschte, ich könnte mit Euch gehen. Aber diese Lösung ist wohl in vielerlei Hinsicht die bessere. Bitte kehrt bald und unversehrt zurück.“ Der Fürst blieb wortlos, während Jaken sich allmählich an ihre Seite stahl. „D-dann beeil dich, Rin. Wir sollten sofort zu Tōtōsai-sama aufbrechen!“ Der Versuch des Kappas, der Nordfront zu entgehen, war so plump wie vorhersehbar und endete mit einer unsanften Landung im schlammigen Boden, nachdem Sesshōmaru ihn am Kragen in Richtung Bachufer geworfen hatte. „Wir gehen, Jaken. Ruf deine Leute zusammen.“ Tōtōsai verfolgte das Schauspiel mit zusammengezogenen Augenbrauen und betrachtete schließlich Rin mit einem gehörigen Maß an Unglauben. Sie hingegen lächelte freundlich in das faltige Gesicht voller Widerwillen und deutete ein Achselzucken an, das seine Augen nur noch größer werden ließ. Kapitel 6: vergeht der einstige Glanz (neu). -------------------------------------------- Rin gewöhnte sich nur langsam an die Hitze ihrer neuen Umgebung. Der alte Dämonenschmied hatte eine Vorliebe für hohe Temperaturen und sein Lager auf einem vulkanischen Berg inmitten des Ōu-Gebirges errichtet. Ein mit Fellen überzogenes Skelett eines vieräugigen Dämons diente ihm seit Jahrtausenden als Behausung. Zumindest sofern man Jakens Erzählungen Glauben schenken konnte, denn der Alte hatte sich geweigert, einen Menschen zu tief in die Vulkanlandschaft zu führen, wo sie sich verbrennen oder gar einen Hitzschlag erleiden mochte, der ihm wiederum nur Scherereien brachte. Stattdessen lagerten sie auf halbem Weg zum Gipfel, wo die Luft bereits heiß in die Lungen fuhr und die Umarmung des Bodens in wenigen Zentimetern Tiefe ein Ei gekocht hätte. Rin wischte sich den Schweiß von der Stirn und beobachtete A-Un, der mit seinem zwei Köpfen zwischen den Felsspalten die wenigen Halme suchte, die sich in die unwirtliche Landschaft verirrt hatten. An seiner Seite kaute Mo-Mo, der Ochse des Schmieds, genüsslich sein Frühstück wieder, während sein Herr bereits seit Stunden eine Waffe ausbesserte, die aussah, als sei sie bereits vor seiner Geburt alt gewesen. „Vielleicht kannst du mir verraten, warum ich diesem unausstehlichen Hund eine Waffe repariert habe, die nicht mal meiner Arbeit entstammt, nur um dann mit dir und diesem Kind gestraft zu werden? Man sollte meinen, er habe auch ohne Tōkijin ausreichend Waffen für vorhandene Hände.“ Rin bedachte den Schmied mit einem milden Lächeln und überging die Anspielung auf den Arm, den der Fürst einst zeitweilig im Kampf gegen seinen Halbbruder eingebüßt hatte: „Tut mir leid, nein. Es ist nicht so, dass er derlei mit mir bespricht. Er wird seine Gründe haben, warum er Tōkijin reparieren ließ. Die hat er immer.“ „Natürlich“, schnarrte der Alte. „Und Mord fällt sicher unter die ersten drei.“ „Ihr wisst, dass er dafür nicht zwangsläufig eine Waffe braucht.“ „Das hat ihn aber schon als Kind nicht davon abgehalten, lauthals nach ihnen zu verlangen.“ Ein Schmunzeln konnte sie sich nicht verkneifen. Während die Phantasie der meisten wohl an einer kindlichen Version des Inu no Taishōs gescheitert wäre, empfand Rin die Vorstellung als durchaus amüsant. Warum sollten nicht auch Landesfürsten mal nachts durch das Haus geschlichen sein, um die wohl gehüteten Schätze ihrer Eltern zu begutachten? Gerade Waffen boten sich da an, denn immerhin widmeten die Erwachsenen ihnen Stunden ungeteilter Aufmerksamkeit. Sangos Zwillingsmädchen waren gleichermaßen begeistert gewesen, wenn sie sich an der Pflege des Knochenbumerangs ihrer Mutter beteiligen durften, mit dem diese täglich trainierte. Und Rin erinnerte sich lebhaft an Inuyashas gepfefferten Wutausbruch, als er seinen Sohn mit Tessaiga hinter dem Haus erwischt hatte. „Was meine Anwesenheit anbelangt: Ich hoffe, wir sind Euch keine allzu große Last. Wenn ich Euch zur Hand gehen kann, um Euch die Gastfreundschaft zu vergelten, lasst es mich nur wissen. Ich kann kochen! Habt ihr vielleicht Hunger? Ich würde mich gern nützlich machen. Sagt einfach, was ich tun soll.“ Tōtōsai war nun eindeutig anzusehen, dass er bereute, überhaupt das Wort an sie gewendet zu haben. Wenngleich er sichtlich Schwierigkeiten hatte, zu begreifen, wie ausgerechnet Sesshōmaru es in der Nähe dieser gesprächigen, freudigen Seele aushielt. Nicht, dass sich der Schmied nicht bereits selbst von diesem sonnigen Gemüt abgestoßen fühlte – aber der frostige Herr des Westens? Ein bizarrer Gedanke. „Der Junge braucht dich dringender“, wimmelte er sie und damit auch jedwede Arbeit ab, die ihm dieser Welpe hätte verursachen können. Rin warf einen erneuten Blick auf Minoru. Als Hund war sein Fell zwar schmutzig gewesen, durchnässt und filzig, aber er hatte insgesamt weniger verkommen gewirkt als der Junge, den sie auf dem heißen Boden gelagert und zusätzlich mit einer Decke aus A-Uns Satteltaschen überworfen hatte. Er war höchstens fünfzehn, das Haar so weiß wie sein Fell zuvor, glanzlos und stumpf, auch wenn er es am Abend in einem halbwegs akzeptablen Flechtzopf gebändigt hatte. Seine Kleidung hatte die Bezeichnung längst nicht mehr verdient. Schlicht wäre in Ordnung gewesen, doch von seinem Hemd waren nur noch Fetzen übrig, sodass Rin sich nicht zu Unrecht wunderte, warum es ihm nicht vom Leib fiel. Die Hose schien deutlich weniger gelitten zu haben oder war lediglich irgendwann ersetzt worden. Aber auch sie war von Schlamm-, Blut- und Grasflecken durchsetzt und an diversen Stellen gerissen. Unabhängig von dem was ihn plagte, legte sich der Anblick schwer auf ihr Gemüt. Sie hatte verarmte Familien mit zu vielen Kindern gesehen, deren Sprösslinge weniger hager gewesen waren als er. Was seine Behandlung anbelangte, gingen ihr die Mittel aus. Die Rippenquetschungen hatte sie mit einer Kräuterpaste gegen Schmerzen und Einblutungen behandelt, seinen Puls in regelmäßigen Abständen kontrolliert und ihm Wasser mit Weidenrinde eingeflößt. Der Lanzenstich an seiner Seite war penibel ausgewaschen, vernäht und mit Honig bestrichen worden. Ja, sie hatte sogar Tōtōsai dazu gebracht, saubere Kleidung und Stoffe für Verbandsmaterial aus seiner Hütte herzuschaffen. Doch eine deutliche Besserung war bislang ausgeblieben, obwohl Rin alle Register gezogen hatte, die ihre breite Ausbildung in der Heilkunst bot. Gemeinsam mit der alten Priesterin Kaede hatte sie vielen Kindern auf die Welt geholfen und die Neugeborenen wie auch ihre Mütter lange darüber hinaus betreut. Auch die Alten hatten sie gepflegt und ihre Beschwerden gelindert. Doch die Lehren, die Kaede ihr über Dämonen hatte vermitteln können, lagen vorwiegend in deren Bekämpfung und weniger in der Heilung etwaiger Krankheiten. Daher hatte Rin zusätzlich mehrere Wochen im Jahr bei Jinenji verbracht. Der scheue Halbdämon besaß nicht nur einen Garten voller Heilpflanzen, sondern wusste auch um deren Wirkung auf Yōkai. Dennoch hatte auch der sanftmütige Riese ihr keine Standartbehandlung für fieberhafte Erkrankungen bei Dämonen an die Hand gegeben. Es sollte sie schlicht nicht geben. Daher hatte Rin erfinderisch werden müssen. Einen Menschen mit hohem Fieber hätte sie gekühlt statt ihn an einem Vulkanhang extra warm zu betten, doch Hitze half Dämonen gemeinhin bei der Regeneration, während Kälte ihn womöglich nur noch mehr ausgezehrt hätte. Dass er mittlerweile von Fieber in eine Unterkühlung gerutscht war, bestätigte diese Vermutung nur. Die Kräutermixturen hingegen waren in erster Linie für Menschen zusammengestellt worden und auch der Honig war eine antiseptische Maßnahme, die sie bei Yōkai noch nie angewandt hatte. Sie seufzte lang. „Wenn ich nur wüsste, was ihm fehlt. Sagtet Ihr nicht, Ihr wüsstet, was diese Krankheiten auslösen kann? Vielleicht kann ich ihm besser helfen.“ „Kaum. Es wird an seinem Yōki liegen. Dämonische Auren zu beeinflussen liegt außerhalb der menschlichen Fähigkeiten“, begann der Alte, während er Rost von der alten Klinge kratzte und mit kritischem Blick zwischen seinen Fingern verrieb. „Bei geschicktem Umgang können die Energien Wunden heilen, die Form wandeln oder für Angriffe genutzt werden. Etwa wenn man sie in geeigneten Waffen kanalisiert. Das Ausmaß verfügbaren Yōkis ist nicht zuletzt das, was etwa deinen Daiyōkai von niederen Dämonen unterscheidet. Aber von diesen Spielereien der Obrigkeit abgesehen ist sie schlicht unerlässlich. Zerstöre die Aura, zerstöre den Dämon. Glücklicherweise ist das nicht so einfach wie es klingt.“ „Denkt Ihr, dass ist es, was mit ihm passiert? Dass sein Yōki 'zerstört' wird?“ „Seines?“, Tōtōsai schnaubte. „Nein, Mädchen. Ich bezweifle, dass er überhaupt je eine ausreichende Aura hatte und das kostet ihm gerade den Hals. Das Ausmaß, mit dem diese Energien später genutzt werden können, mag erblich sein – insbesondere von Seiten der Mutter aus – aber die Kinder kommen mit kaum nennenswerten, basalen Yōki zur Welt und sind auf ihre Nähe angewiesen. Sollte die Mutter sterben oder das Kind verstoßen, wird es zu schwach sein, sich gegen Umstände wie Krankheiten zur Wehr zu setzen.“ Rin runzelte die Stirne: „Aber ist es nicht unsinnig, schwache und ungeschützte Kinder zur Welt zu bringen?“ Nach all den Jahren bei Sesshōmaru hatte sie gelernt, dass Macht in der Welt der Dämonen schlichtweg das Überleben sichern konnte. Als ihrem Herrn Tōkijin, sein altes und damals einzig kampffähiges Schwert, zerbrochen war, waren ihnen in den Wochen danach unzählige Dämonen begegnet, die von diesem Zwischenfall erfahren hatten und den Inuyōkai töten wollten. Eine Tat, die ihnen immer noch genug Ruhm eingebracht hätte, auch wenn der Fürst unbewaffnet gewesen war. Keiner von ihnen hatte eine Chance gehabt, aber das verdeutlichte nur zu sehr, was geschah, wenn vermeintliche Schwäche nach außen getragen wurde: Es gab immer einen Yōkai, der von dem Tod des anderen profitierte – auch wenn dieser Profit nur darin bestand, die Leiche des anderen zu fressen und damit einen winzigen Teil seiner Energie zu erlangen. Warum also ausgerechnet schwache Kinder zur Welt bringen? „Weißt du, wonach Rehkitze riechen?“, erkundigte sich der Alte und sah sie nun doch endlich an. Sie schüttelte den Kopf. „Nach Wild, vermute ich?“ „Nach gar nichts. Sie haben keinen Eigengeruch. Die Anwesenheit der Mutter überdeckt das Kind. Das verhindert unnötige Zwischenfälle.“ „Denkt Ihr, seine Mutter ist tot?“ Der Schmied kratzte an seinem spitzen Kinnbart und zuckte schließlich mit den Achseln. „Die Frage war, wie Dämonen krank werden können – nicht, was diesem erbärmlichen Exemplar fehlt. Er ist kein Kleinkind. Was weiß ich? Sein Yōki ist jedenfalls kaum nennenswert. Mich wundert, dass er überhaupt so menschlich erscheinen kann.“ Langsam legte Rin den Kopf schief und runzelte die Stirn - sehr wenig damenhaft, aber eine Dame war sie nie gewesen und Sesshōmaru wie Kaede hatten nicht viel Wert darauf gelegt, sie zu einer zu erziehen. „Er ist uns als Hund begegnet. Vielleicht kostet ihm die menschliche Erscheinung zu viel Kraft?“ „Er ist was?“, ungläubig wanderten Tōtōsais riesige Augen ein Stück höher. „Unmöglich. Jeder Formwechsel erfordert Yōki eines Ausmaßes, das er nicht besitzt. Selbst das stärkste Halbblut kann ohne fremde Hilfe keine weitere Form annehmen – und der hier steht weit hinter manchem Han'yō zurück.“ „Aber es war so. Ich habe mich beinahe zu Tode erschrocken, als da dieser Junge saß, wo ich eben einen Hund streicheln wollte.“ „Einen Haushund.“ „Mit spitzen Ohren und Ringelrute. Wie man sie überall auf den Höfen und am Palast sieht. Etwas mehr als kniehoch und schlimm eingeschnappt.“ Es war zu sehen, dass der Alte mehr Vertrauen in seine Einschätzung setzte als in den Bericht einer jungen Menschenfrau. Als jedoch just in dem Moment ein dunkler Fleck auf seiner Schulter landete, wandelte sich seine Miene von Unglauben zu einer gewissen Resignation. „Myōga.“ „Myōga!“ Rins Augen wurden groß, als sie den winzigen Dämon betrachtete, der auf der Schulter des Schmieds Platz genommen hatte. Kaum größer als ein Daumennagel war der Mann. Mit zwei Paar Armen, einem niedlich kleinen Hut auf dem kahlen Kopf und in Wanderkleidung gehüllt, bebte der kleine Saugrüssel mitten in seinem Gesicht immer noch aufgeregt, als er sprach. „Ich ahne, was du denkst, Tōtōsai. Aber Rin ist nicht die Sorte Mensch, die im Angesicht eines Dämons ihr Urteilsvermögen verliert. Wenn sie sagt, er war ein Hund, dann entspricht das der Wahrheit. Aber als wahrer Kenner in Sachen Inu sage ich euch: Hier ist etwas faul. Sein Blut schmeckt so fad wie das eines Menschen. Und es ist bedenklich kalt.“ „Was meine Annahme zu seiner Aura nur bestätigt“, gnarzte der Schmied, der nicht im Mindesten überrascht schien, seinen alten Freund so plötzlich an seiner Seite zu wissen. Rin hingegen hatte den Flohgeist in Musashi erwartet, wo sie ihn zuletzt bei ihrer Abreise gesehen hatte. Seit dem Kampf gegen Naraku vor gut zwanzig Jahren beteuerte Myōga stets, die Zeiten in Politik und Wanderschaft endgültig begraben zu haben und seine verbleibende Zeit in der Ruhe des Dorfes genießen zu wollen; wenngleich er gewisse Anmerkungen zum Zeitgeschehen niemals unterließ. Als Sesshōmaru etwa Echigo und Uzen wieder in den Westen eingegliedert hatte, hatte sich der ehemalige Berater seines Vaters mehr als skeptisch über das politische Signal des Feldzuges geäußert. Dem derzeitigen Fürsten seine Bedenken mitzuteilen, wagte er jedoch nicht. Ohnehin war der Flohgeist dafür bekannt, bei heraufziehender Gefahr im Allgemeinen – und der Anwesenheit des Fürsten im Besonderen – unauffindbar zu verschwinden. Was die Frage aufwarf, warum er ausgerechnet im Angesicht eines drohenden Krieges ins westliche Hochland kam. Tōtōsai nahm ihr die Aufgabe ab. „Ist der Rotzbengel auch hier oder wagst du dich allein her?“ Der Floh zischte empört: „Wenn du damit Inuyasha, den Sohn unseres hochgeschätzten Herrn meinst – nein, der ist nicht hier.“ „Den, seinen Sohn – such dir aus, wen von der ganzen Brut ich meine“, konterte der Schmied ungerührt und friemelte mit dem krummen Fingernagel unbeeindruckt in seiner Ohrmuschel herum. „Was machst du dann hier?“ „Mir mit eigenen Augen ansehen, was hier vor sich geht. Was die Panther treiben. Nachdem Tōga sie vernichtend geschlagen und Sesshōmaru die verpfuschte Auferstehung ihres Generals unterbunden hat, sollte man doch annehmen, sie hätten ihre Lektion gelernt. Sesshōmaru hat ihnen mehr als deutlich mitgeteilt, dass er keine weiteren Fehltritte dulden wird – und mir will nicht gefallen, dass es jemanden gibt, der eine solche Drohung auf die Probe stellt. Entweder sie sind unglaublich dumm oder sie haben etwas in der Hinterhand.“ „Wirst du nicht zu alt für diesen Mist?“ Myōga schielte auf das rostige Schwert, das vor den gekreuzten Beinen des Schmieds in der Vulkanasche lag und hob vielsagend die Brauen. „Das ist nicht für diesen unausstehlichen Köter. Es ist nicht mal für den Westen!“ „Ah, natürlich. Und dass ich dich in Anwesenheit von Rin und diesem Jungen antreffe, hat natürlich ebenfalls rein gar nichts mit dem Westen zu tun. Also, welche Klinge hast du ihm diesmal geflickt? Bakusaiga? Tōkijin?“ Als die Miene des Schmieds sich kaum merklich veränderte, wurde auch Myōga blass. „Es war nicht wirklich Tōkijin, oder? Warum um Himmels Willen denn das? In den falschen Händen wäre dieses besessene Stück Metall – oh, sagt mir nicht, der Junge hat damit herumgespielt!“ „Oh nein“, erwiderte Rin schnell. „Sesshōmaru-sama würde niemals zulassen, dass jemand anderes Hand an diese Waffe legt und sich von ihr unterwerfen lässt. Der Junge hat Tōkijin nie angerührt.“ „Das kann ich nur bestätigen“, knurrte Tōtōsai. „Ich habe ihm da Schwert heute morgen gebracht und er hat mir gleich diesen erbarmungswürdigen Wurm aufgehalst. Auch wenn ich zugeben muss, dass das eine plausible Erklärung für sein ausgebranntes Yōki gewesen wäre. Tōkijin ist sicher nicht rücksichtsvoll, wenn es die Energie eines ungeübten Kindes zur Verfügung gestellt bekommt.“ Myōga runzelte nachdenklich die Stirn: „Wer ist er? Es sieht dem Fürsten nicht ähnlich mit Kindern herumzuziehen.“ Für einen Moment wurde es still. Rin betrachtete den winzigen Dämon mit schief gelegtem Kopf und auch Tōtōsai schien einige Situationen Revue passieren zu lassen, in denen er den Fürsten des Westens mit dem ein oder anderen Menschenkind an seiner Seite gesehen hatte. Der Flohgeist räusperte sich. „Im Großen und Ganzen jedenfalls...“ „Die Kappa haben ihn aus dem Mogami gefischt und zu uns gebracht. Er war schon vorher angeschlagen, aber sein Zustand hat sich über Nacht deutlich verschlechtert. Sonst redet er nicht besonders viel. Im Palast, einschließlich der Wehrkreise, habe ich ihn jedenfalls noch nie gesehen und auch Jaken meint, dass er unmöglich zum engeren Gefolge der Ratsherren gehören kann. Er glaubt, dass sich er zum niederen Fußvolk gehört und für etwas Ansehen Kopf und Kragen riskiert.“ „Hm“, Myōga klang wenig überzeugt. „So etwas kann auch nur von einem Kappa kommen. Deren Brut besteht immer gleich aus einer ganzen Hand voll Kaulquappen, von denen kaum die Hälfte durchkommt. Bei den Inu hingegen kann man sich den gesamten jährlichen Nachwuchs an einer Hand abzählen und hat immer noch Finger übrig. Nein, wenn er aus dem Westen käme, wüsste jemand von ihm. Gerade bei einem Jungen. Die Ratsmitglieder sind schon früher nie müde geworden, meinem Herrn über die zukünftigen Krieger für seine Armeen zu berichten – auch wenn die entsprechende Familie noch so unbedeutend und mein Herr noch so desinteressiert an Aufrüstung gewesen ist. Man kann sich ausmalen, wie diese Berichte in Anbetracht von Sesshōmarus Expansionswillen ausfallen dürften. Es gibt Hundedämonen auf Sado. Aber die Inu der Insel sehen gänzlich anders aus.“ Rin wusste, wovon er sprach. Der Generalleutnant der westlichen Armee, der dem Fürsten im Rang unmittelbar nachfolgte, war Sadoaner. Sein Haar war rabenschwarz und die Haut nach wenigen Sommertagen braun gebrannt. Hingegen die weißen Haare des Jungen, die feinen Zeichnungen, die dunkelrot auf Augenlidern und Wangen prangten wie Blut im Schnee – er stammte mit Sicherheit nicht von der Insel. „Wen kümmert eigentlich, wo er herkommt?“ Rin warf Tōtōsai einen entrüsteten Blick zu: „Wie sonst sollen wir ihn nach Hause bringen?“ Der Alte hob eine Braue, schwieg jedoch. Dass er den Bedarf an einem solchen Vorhaben infrage stellte, war auch ohne Worte für jedermann sichtbar. „Sesshōmaru wird wissen, was zu tun ist. Aber was auch immer es sein mag: Auf keinen Fall gehört der Junge allein in irgendeinen Wald. “ Rin erhob sich und ging erneut zu Minoru hinüber, um ihn mit Wasser zu versorgen und seinen Puls zu prüfen, während zwei greise Dämonen ihr nachdenkliche hinterher sahen. „Ob wir ihr sagen sollten, dass ihre Fürsorge bei allen Parteien auf Granit beißen wird?“ „Bist du senil?“, zischte Tōtōsai. „Menschen, Fürsten, Hundewelpen – das endet nie gut. Wenn du von deinem Ruhestand noch was haben willst, hältst du diesmal den Mund!“ In der Nacht hatte sich Stille über das Lager am Berghang gelegt. Rin schlief zusammengekauert an der Seite des beschuppten Dämons, der beide Köpfe schützend an sie gelegt hatte. Wenige Meter entfernt schnarchte ein Greis im gedämpften Licht der Kohlen. Minoru betrachtete sie eine Weile, dann rollte er wieder auf den Rücken und starrte in den verhangenen Himmel. Der Geruch von heißer, trockener Erde lag über allem und die kühlen Winde trugen einen Hauch von Schwefel aus den Bergen herab. Er konnte sich nicht daran erinnern, fortgebracht worden zu sein. Nach dem Gespräch mit dem Fürsten waren die Erinnerungen bruchstückhaft und vernebelt. Dass er nun wieder klare Gedanken fassen konnte, sprach für eine Besserung, auch wenn seine Gelenke weiterhin schmerzten und er weit davon entfernt war, sich belastbar zu fühlen. Erst beim Aufsetzen bemerkte er, wie viele Knochen er eigentlich besaß und legte die Stirn für einen Augenblick besinnend in die Handflächen. Es war bittere Lektion in Sachen Vorsicht, die er in den vergangenen Tagen allzu oft vernachlässigt hatte. Bis zu diesem unseligen Fluss war es gut gelaufen, aber mittlerweile war er sicher, dass er den Mogami mit weniger Aufwand und sicherer hätte umgehen können als ihn zu durchqueren. Der Wasserschlange wünschte er jedenfalls jedes erdenkliche Unglück an den Hals. Vielleicht tat sie ihm ja den Gefallen und erstickte an einem selten großkotzigen Kappa. Das Bild würde ihn für einige Jahre erheitern. Aber Minoru wusste es besser, als seine eigene Dummheit auf eine Verkettung von Umständen zurückzuführen, ganz gleich wie erniedrigend es sein mochte, dass er damit der Einschätzung des Inu no Taishōs beipflichten musste. Er hätte kein Versprechen geben dürfen, das ihm den Hals kosten konnte. Nicht in dieser Form jedenfalls. Doch so dumm es auch gewesen sein mochte: Es hatte Bestand und wenn er Glück hatte, könnte er sich diese Lektion für sein restliches Leben merken. Aus dieser Sache kam er jedoch nicht einfach so heraus. Er warf die Decke zurück, raffte sich auf und streckte sich, auch wenn die Bewegung unangenehm an jedem Muskel zerrte und ihn zusammenzucken ließ, sobald sich die Wunde an seiner Seite meldete. Murrend legte er eine Hand auf den nach Honig riechenden Verband, doch dieses Mal stand die Blutung. Jemand hatte ihm einen schlichten, dunkelgrünen Yukata übergelegt und halbherzig zugebunden. Er zog den Obi nach und tauschte Schleife gegen doppelten Knoten, als eine Stimme unmittelbar an seinem Ohr zeterte: „Junger Mann! Leg dich gefälligst wieder hin!“ Erschrocken fuhr Minoru herum, sah jedoch niemanden, bis er den winzigen Punkt auf seiner Schulter bemerkte. „Es ist unklug, schon wieder aufzustehen! Du solltest ein umsichtiger Junge sein und -“ Der winzige Mann hätte mit Sicherheit jeden im Umkreis von mehreren hundert Metern geweckt, hätte Minoru ihn nicht von seiner Schulter geschnippt. Dumpf klatschte er an einen Fels und segelte zu Boden. Es war ein Mann. Ein alter Mann mit zwei Paar Armen und Saugrüssel, der sich mit einem energischen Satz aufrappelte und wütend auf dem felsigen Grund umherhüpfte. „Frechheit! Ungezogener Welpe! Einen armen Flohgeist-“ Mehr hörte Minoru nicht wirklich. Floh. Er hatte Flöhe? Vielleicht sollte er ein wenig mehr Reinlichkeit in Betracht ziehen, wenn es so weit gekommen war. Dabei war er nun so sauber wie seit langem nicht mehr. Sauber und trocken. Zum ersten Mal seit Wochen kein Regen, sondern nur eine stille, für die Jahreszeit untypisch warme Nacht irgendwo in der Nähe eines Vulkans. Vom Fürsten keine Spur. Das war einerseits eine Erleichterung, doch dank der Schwärze in seinem Gedächtnis, hatte er jedweden Orientierungssinn verloren. Vulkane gab es reichlich in diesem Land und die Sterne über ihm lagen unter einer dichten Wolkendecke verborgen. Als sich etwas hinter ihm regte, wandte er sich um. Vom Flohgeist war zunächst nichts zu sehen, doch dann entdeckte er ihn auf Rins Schulter, die zu ihm hinüberkam. Rasch wandte Minoru den Blick ab, ehe sie noch auf die Idee kam, er könne Interesse an einem Gespräch haben. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, eines zu eröffnen. „Wie fühlst du dich?“ Ihr langes, dunkles Haar lag ein wenig wirr um ihren Kopf und als sie neben ihm hielt, gähnte sie verschlafen. Seine Mutter hätte über dieses Verhalten missbilligend den Fächer aufgeschlagen und ihn mit Freuden durch ihr Gesicht gezogen. Derartiges Auftreten hätte sie nicht einmal bei einem Kind geduldet und das war Rin mit Sicherheit nicht mehr. Bei Menschen war das lächerlich einfach einzuschätzen. Sie war zwar kaum größer als er, aber in den Augenwinkeln hatten sich bereits feinste Fältchen gebildet, die das menschliche Auge jedoch kaum wahrnahm. Er hätte ihr eine Antwort gern verweigert, doch die Erinnerungslücke war zu groß und dem Geruch an seiner neuen Kleidung nach war sie es gewesen, die ihn umsorgt hatte. Schuld nahm er durchaus ernst und auch wenn er solche Hilfe unter allen Umständen abgelehnt hätte, war sie vermutlich dringend nötig gewesen. „Könnte besser sein. Aber es wird.“ Die Fältchen um ihre Rehaugen vertieften sich, als sie lächelte. Ob nun aus Freude über seine Gesundheit oder über die Antwort selbst, wollte er lieber nicht wissen. Zufrieden legte sie die Hände hinter dem Rücken zusammen. „Sehr schön. Ich weiß deinen Namen übrigens gar nicht. Ich bin Rin.“ „Ich weiß“, gab er kühl zurück und unterdrückte das entnervte Stöhnen, das sich da gerade seinen Hals hinaufschleichen wollte. Hoffentlich würde sie das Thema damit begraben. Wen interessierten schon Namen? Er hatte nicht vor, länger als nötig in dieser Gesellschaft zu verweilen. Stattdessen graute ihm davor, zu erfahren, wo dieser trockene Berg lag. Das Wetter war hier so grundlegend anders, dass auch sein Ziel in weite Ferne gerückt sein mochte. Vielleicht waren sie sogar wieder jenseits des Mogami. Er gestand es sich zwar ungern ein, aber ihm fehlte die Kraft, nochmals einen so langen Weg zurückzulegen. Dieses Mal würde er den Fluss tatsächlich umrunden müssen und wenn er Pech hatte – was zurzeit offenbar eher einen Zustand als eine Fügung bezeichnete – betrat er dabei bereits die östlichen Ländereien der Panther. So genau hatte er die Karte nicht im Kopf und die sich verschiebenden Fronten machten es nicht leichter. Blieb nur zu hoffen, dass Takeru einen leichteren Weg gefunden hatte und von seiner Familie aufgenommen worden war. Wenn sie ihn verstoßen hatten und er sich auf dem Rückweg befand, standen die Chancen schlecht, ihn allzu bald wiederzufinden. Die Trennung war nötig gewesen, um ihn rechtzeitig zu seiner Familie zu schaffen, aber alles andere hatte es deutlich erschwert. Mit einigen Hindernissen hatte Minoru gerechnet, aber die Situation war mittlerweile nahezu wahnwitzig. Ein leises Räuspern bannte seine Aufmerksamkeit aus den Augenwinkeln zu Rin, die ihn weiterhin fragend und freundlich ansah, als habe er sie nicht gerade mehrere Minuten angeschwiegen. „Warum hast du Angst, mir deinen Namen zu sagen? Ich werde dich schon nicht verfluchen oder solche Dinge.“ Angst? Sollte das ein Versuch sein, ihn zu einer Antwort zu provozieren. Wie plump von ihr. „Du scheint keinen Wert auf Unterhaltungen zu legen. Vielleicht ist es dir deswegen egal, ob wir deinen Namen kennen oder nicht. Mich würde es jedenfalls stören, wenn mich niemand wirklich ansprechen könnte. Wie traurig, namenlos im Gedächtnis zu bleiben und ständig umschrieben werden zu müssen. Findest du nicht?“ „Wenn ich dir antworte, hältst du dann irgendwann endlich die Klappe?“ Sie blinzelte verdutzt, dann lachte sie leise und verschränkte mit einem schiefen Lächeln die Arme vor der Brust. „Das kommt darauf an, wie nett du dabei bist.“ Hexe! Nun konnte er das Stöhnen wahrlich nicht mehr unterdrücken. Wie konnte man nur so grenzenlos penetrant sein? Einen jungen Dämon erst in die Schuld zu treiben und die Situation dann unverfrorenen Lächelns auszunutzen. Er konnte sie nicht einmal grob zurückweisen, wenn er noch ein paar Jahre leben wollte. Der Inu no Taishō mochte nicht in der Nähe sein, würde ihn aber ohne Zweifel schnell genug aufspüren, um etwaige Fehltritte zu vergelten. Die Schuldlage hätte sie also nicht unbedingt gebraucht. Auch er wusste, dass es Leute gab, denen man besser nicht negativ auffiel – oder am besten gar nicht erst in ihrem Sichtfeld erschien. Aber die Option hatte er ganz offensichtlich bereits verspielt. „Minoru.“ Es kam so leise, dass er kurz die Hoffnung hegte, sie habe ihn nicht gehört. Aber offenbar war sie alles andere als taub. „Wie hübsch. Bist du im Herbst geboren oder ist es ein anderes Schriftzeichen?“ „Das hat doch ohnehin keine Bedeutung“, entgegnete er tonlos. Es war schwer vorstellbar, dass seine Mutter sich mehr Mühe mit seinem Namen gegeben hatte als unbedingt notwendig. Vermutlich war gerade tatsächlich einfach Herbst gewesen. „Wer weiß schon, ob es am Ende Bedeutung hat. Aber es ist doch hübsch, sich vorzustellen, es wäre so, findest du nicht? Es ist in jedenfalls ein hübscher Name. Er passt zu dir.“ Sie nahm die Hände hinter dem Rücken hervor und reckte sich ausgiebig, was ihn zumindest von dem Gedanken abbrachte, wie sie sich erdreisten konnte, ein Urteil über ihn zu fällen. „Ich werde mich jetzt wieder hinlegen. Das solltest du auch tun. Bis Sonnenaufgang sind es noch ein paar Stunden und du kannst die Ruhe brauchen.“ Damit ließ sie ihn stehen. Der dunkle Fleck, der bislang auf ihrer Schulter verweilt hatte, setzte erneut zu Minoru über, verweilte jedoch abwartend im Aufschlag seines Ärmels. Der betrachtete den Flohgeist nachdenklich, wandte jedoch schließlich den Blick ab. „Wenn Namen irgendeine Bedeutung haben sollen, haben ihre Eltern jedenfalls völlig versagt.“ Überrascht ob des unerwarteten Kommentars, hob der Flohgeist die Brauen und überbrückte die letzte Strecke auf seine Schulter, wo er seinen winzigen Strohhut abnahm und etwas Asche heraus schüttelte. „Sie mag weder 'kalt' noch 'ernst' sein. Aber es gibt Lesarten, die ihr durchaus gerecht werden. 'Konfrontativ' beispielsweise.“ Minoru schnaubte leise. „In jedweder Hinsicht.“ Kapitel 7: Erstickt in Falschheit. (neu) ---------------------------------------- Mit den ersten Sonnenstrahlen war Minoru aufgestanden und hatte sich auf einem kurzen Streifzug erneut eingestehen müssen, dass er für eine weite Reise noch nicht bereit war. Wenige Kilometer den Berg hinab hatten ihn ausreichend gefordert, um ihm den restlichen Tag zu verleiden. Seine Muskeln waren es nicht mehr gewohnt, einen aufrechten Gang zu stützen und so beschwerten sich Rücken und Waden schon nach kaum mehr als zwei Kilometern. Da half es auch nicht, dass er längst wieder auf vier Pfoten unterwegs war und auf dem Rückweg bewusst Pausen einlegte. Mit dem Stand der Sonne, die zwischen der dichten Wolkendecke hindurch schimmerte, konnte er zumindest bestimmen, wo Norden lag. Wenngleich es ihm bei der Einordnung seines Standpunktes nicht viel half. Die dichten Wälder begannen bereits unweit des Lagerplatzes und versperrten die Sicht auf etwaige Flüsse und andere Landmarken, an denen er sich hätte orientieren können und der Schwefelgeruch des entfernten Vulkans war ausreichend, um jede Witterung zu übertünchen. Auch wenn die Gesellschaft von Menschen und Greisen kaum Schutz versprach, blieb ihm in Anbetracht der Situation wenig anderes übrig, als zum Lager zurückzukehren und auf Besserung zu hoffen. Das seltsame, dreiäugige Rind, das mit dem aufgezäumten Dämon des Fürsten zusammenstand, machte einen großen Bogen um ihn, als er auf sie zulief. Vermutlich hatte es Sorge, als Frühstück zu enden. Derweil kommentierte die Echse seine Anwesenheit mit einem Schnauben, nur um unbeeindruckt beide Köpfe zwischen die Felsen zu stecken und nach Gräsern zu suchen. Gräser! Flohgeister und grasfressende Dämonen – Tag der Kuriositäten. „Guten Morgen“, flötete Rin und rührte einmal mehr durch den gußeisernen Topf, den sie auf dem Feuer platziert hatte. „Es scheint dir schon deutlich besser zu gehen.“ Musste sie immer so fröhlich vor sich hinlächeln? Das konnte unmöglich gesund sein. Neben ihr am Feuer saß ein alter Mann; ein greiser Dämon, dessen Haar sich auf einen lichten Zopf an seinem Hinterkopf und einen Kinnbart beschränkte. Der Yukata, den Minoru nun trug, war vermutlich von ihm, denn er wies dasselbe dunkle Grün auf. Seine Augen waren riesige, weiße Kugeln, passend zu den dreien des Rindes, und hatten sich auf Minoru geheftet, als gehöre auch er zu dem illustren Kreis exklusiver Erscheinungen an diesem Morgen. Auf seiner Schulter saß der Flohgeist von letzter Nacht und musterte Minoru, bis der in Anbetracht so ungeteilter Aufmerksamkeit allmählich die Ohren anlegte. „Nun, alter Freund, ich würde sagen: Du hast verloren.“ „Pah! Na und? Kann er es eben doch!“ Angesäuert griff der Schmied zu einem verrosteten Schwert und warf Minoru einen abschätzigen Blick zu, als dieser augenblicklich einen Satz zurück machte und knurrend das Fell sträubte. „Dafür fährt er schneller aus dem Pelz, als man blinzeln kann. Ich gebe ihm noch einen Tag, dann ist er über alle Berge.“ „Du ziehst eine Waffe! Was soll er denn denken?“, fauchte der Flohgeist. „Dass man damit nicht mal Brot schneiden könnte?“ „Was unser werter Gastgeber meint“, hob Rin an und schnitt den streitenden Greisen damit so scharf das Wort ab, dass die Freundlichkeit in ihrer Stimme von einem mahnenden Unterton getrübt wurde, „ist, dass er niemandem drohen wollte, sondern lediglich seine Arbeit verrichten will. Tōtōsai ist Schmied. Myōga hast du bereits letzte Nacht kennengelernt. Dass die beiden es offensichtlich für nötig gehalten haben, über deine Rückkehr und sonst weiß was Wetten abzuschließen, kommentiere ich mal nicht.“ Und als wäre das nicht für alle Anwesenden unangenehm genug gewesen, wandte sie den Blick zu Minoru. „Tōtōsai war es übrigens auch, der dir die neue Kleidung zur Verfügung gestellt hat.“ Minoru starrte sie ebenso an wie die beiden Yōkai, die sich sicherlich zurecht fragten, ob ihr gealtertes Gehör sie getäuscht oder ob sich die Menschenfrau gerade tatsächlich erdreistet hatte, sie zurechtzuweisen wie ungezogene Kinder. Stille legte sich über die Anwesenden, unterstrichen von Rins aufforderndem Blick, dem Minoru schließlich nachgab, indem er das Fell zunächst wieder an- und dann ablegte. Mit schmerzendem Rücken fuhr er sich durch den Nacken, um die letzten Haare zu glätten. Dann fügte er sich Rins unausgesprochener Aufforderung und wandte sich an Tōtōsai. „Danke.“ Dessen Augenbrauen sprangen ein Stück in die Höhe, ehe sich seine Miene wieder fing. „Kannst du behalten“, gnarzte er und wandte den Blick wieder der rostigen Waffe zu. Mit sich selbst zufrieden, weil sie die Situation auf ihre Weise gelöst hatte, füllte Rin eine Schale mit Reissuppe und hielt sie Minoru hin. „Keine Widerrede. Du bist mir hierfür nichts schuldig. Dass du dich erholst, ist mir Lohn genug.“ Als er nicht reagierte, vertiefte sich eine winzige Falte auf ihrer Stirn. „Ich habe mir nicht die ganze Arbeit mit dir gemacht, um an deinem Stolz zu scheitern, Minoru.“ Mit knirschenden Zähnen ließ er sich am Feuer nieder und sah sich prompt mit der Schale konfrontiert, die sie ihm unvermittelt in die Hand drückte. Hätte er diesem Plappermaul doch nie seinen Namen anvertraut. Sie warf damit öffentlich um sich und benutzte ihn auch noch schamlos, um ihn abzustrafen, wann immer es ihr passte. Bei ihrer ersten Begegnung hätte er ihr für ein solches Verhalten die Finger abgebissen, doch die Lage hatte sich seither drastisch geändert. Je länger er sie und die Reaktion anderer Yōkai beobachtete, desto deutlicher wurde der Schatten, den der Taishō über sie warf. Sie nahm sich zu viel heraus. Für eine Frau und für einen Menschen erst recht, doch auch die beiden Alten wagten nicht, ihre Unverfrorenheit entsprechend zu vergelten. Nein, wer hier an Fingern knabberte, verlor vermutlich viel elementarere Körperteile. Sicher hätte er versuchen können, sie zurechtzuweisen und auf Abstand zu halten, aber das hätte Diskussionen eines Ausmaßes erfordert, das er nicht aufzuwenden bereit war. Sie würde ihn vermutlich ohnehin an die Wand reden. Zumal Stolz in der Tat ein Luxus war, den er sich gerade nicht leisten konnte. Wenn er voran kommen wollte, musste er wohl oder übel die Zähne zusammenbeißen und das hier über sich ergehen lassen. „Da du heute nochmal zurückgekommen bist“, hob Rin nach einigen Minuten an, in denen sie ihre Reissuppe getrunken hatte, „sollten wir darüber sprechen, warum du morgen vermutlich verschwinden wirst, wenn wir dich lassen. Was willst du so dringend im Norden?“ „Norden?“ Der Flohgeist wurde hellhörig. „Das ist eine ganz schlechte Idee. Der Angriffskrieg der Panther gegen die ōkami kam gänzlich unvermittelt. Im Grunde sollte auch Sesshōmaru zweimal darüber nachdenken, bevor er sich auf die Provokationen des Ostens einlässt. Aber wenn der Rat ihn nicht davon abbringen konnte, wird er marschieren.“ „'Unvermittelt' – aber du hast sicherlich eine ausgegorene Meinung zu etwaigen Gründen“, spottete der Schmied ohne von der Waffe aufzusehen. „Selbstverständlich!“ „Es ist unerheblich. Warum ich dorthin will, ist allein meine Sache. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“ Myōga schüttelte den Kopf. „Wenn ich die Situation zur Gänze durchschaue, ist das nicht korrekt. Du stehst unter der Aufsicht des Inu no Taishōs. Wenn dir etwas zustößt, wird es sein Versäumnis sein, nicht besser auf dich geachtet zu haben. Du willst ihn nicht wütend machen, indem du dich in Gefahr begibst, glaub mir. Das will niemand.“ „Ich sehe ihn nur nirgendwo. Ihr etwa, Myōga?“ „Du bist hoffentlich nicht so naiv anzunehmen, dass das einen Unterschied machen könnte. Außerdem hat er dich der Obhut von Tōtōsai und Rin anvertraut.“ „Dann geht es offensichtlich nur darum, dass er euch das Fell über die Ohren ziehen würde. Ich versichere euch: Sollte mir etwas zustoßen, wird es niemanden geben, der deswegen Anklage erhebt.“ Der Flohgeist seufzte gedehnt, aber es war der Schmied, der das Wort ergriff: „Sei nicht so dämlich. Dein Tod stört niemanden. Es geht lediglich darum, ob Einfluss und Wort des Fürsten Gewicht haben.“ Bevor Minoru etwas erwidern konnte, hatte Rin ihre Schale eine Spur zu laut auf den Boden gedonnert. „Genug jetzt. Warum müssen alle Yōkai immer auf Krieg aus sein? Du bist wie alt? Vielleicht dreizehn? Vierzehn? Du hast noch ausreichend Zeit, dich in Schlachten zu werfen und andere zu zerstückeln, wenn du älter bist.“ Machte er wirklich einen so dämlichen Eindruck, dass alle davon ausgingen, er sei scharf darauf, sich in die Auseinandersetzung zwischen Landesherren zu stürzen? Es würde sich nur schwer vermeiden lassen, mit den kämpfenden Fronten in Kontakt zu kommen, auch wenn er natürlich versuchen würde, sie zu umgehen. Aber um des Ansehens Willen? In blinder Anmaßung lag kein Ruhm. „Sehe ich so aus, als hielte ich mich für einen großen Krieger? Unbewaffnet, ohne Rüstung oder Ausbildung? Ich hänge an meinem Leben.“ Er pfefferte seine leere Schale in ihre. „Ich verstehe auch, dass es auf den Fürsten zurückfallen mag, wenn jemand in seiner Obhut zu Schaden kommt. Nur erinnere ich mich nicht, unter seinen Schutz gestellt worden zu sein oder darum gebeten zu haben. Außerdem -“ „Er hat-“ „Außerdem“, wiederholte Minoru nachdrücklich, ehe Rin ihren Einwand fortführen konnte, „weigere ich mich, hinzunehmen, dass sein Wort mehr Wert haben soll als meines, nur weil er ein Landesfürst ist und ich nichts dergleichen. Er mag mehr Einfluss haben, mehr Gewicht, mehr Verantwortung – gut. Aber wenn es darum geht, ob jemand zu seinem Wort steht, gibt es keine Grauzonen. Da ist jede Person gleich. Und ganz egal, wie dumm das war: Ich habe einem Freund zugesichert, ihm nach Norden zu folgen. Der Schutz des Fürsten enthebt mich nicht meiner Verpflichtungen.“ Myōga, der Tōtōsais Schulter mittlerweile verlassen hatte, räusperte sich geräuschvoll an Minorus Ohr: „Technisch gesehen schon. Er kann dir diesen Wahnsinn verbieten und nur Narren würden dir dann noch vorhalten, dich über den Befehl des Taishōs hinweggesetzt zu haben. Allerdings hast du nicht ganz Unrecht: Sein Befehl mag dich von der Pflichterfüllung entbinden, aber der Eindruck deiner Zuverlässigkeit wird dennoch leiden. Die Frage ist nur, warum dich diese politischen Feinheiten interessieren.“ „Darauf wollte ich hinaus: Das hat mit Politik oder Stellung rein gar nichts zu tun. Mir stehen Ehr- und Pflichtgefühl ebenso zu wie dumme Entscheidungen. Das ist nicht das Privileg der Obrigkeit.“ Die schmalen Lippen des Schmieds entblößte eine karge Anzahl gelblicher, scharfer Zähne: „Hört, hört. Wir haben einen Rebellen unter uns.“ Dann verblasste das Lächeln so schnell es gekommen war. „Lasst den Jungen laufen. So weit und so schnell wie er kann. Diese Sorte bringt nur Ärger.“ „Ist dein Freund ein Panther?“, fragte Rin schließlich, ohne auf die vorangegangene Diskussion einzugehen. „Das tut doch nichts zur Sache.“ Eine Falte in Tōtōsais Stirn vertiefte sich. Er musterte Minoru mit seinen großen Augen und gab schließlich ein Brummen von sich: „Ich wiederhole: Weit weg. Und zwar zügig. Es fehlt ihm offenbar an Loyalität.“ „Zum Westen? Die habe ich nicht“, erwiderte Minoru barsch. „Aber wenn ihr aus allem ein Politikum machen müsst, fein: Er gehört zum Norden. Ich habe nicht vor, mich in den Krieg zu stürzen und nein, ich werde den Panthern sicher nicht meine unentbehrliche Hilfe anbieten. Reicht das jetzt?“ „Minoru, ich bin erstaunt“, sagte Rin mit großen Augen, bevor sie ein schelmisches Lächeln aufsetzte. „Du kannst ja richtig gesprächig und offen sein, wenn du willst.“ Bevor er etwas bissiges Antworten konnte, hob sie beschwichtigend die Hände. „Ich wollte mich nicht darüber lustig machen, wirklich nicht. Entschuldige, dass wir dir so starrsinnig unterstellt haben, auf Ruhm aus zu sein. Du hättest von Anfang an sagen können, worum es geht. Dann hätten wir schon eine Lösung gefunden.“ „Ihr lasst mich also gehen.“ „Aber nein“, entgegnete sie überrascht, als habe er etwas völlig Unsinniges gesagt. „Allein kannst du nicht gehen. A-Un und ich werden dich begleiten.“ Nun war er sich sicher: Irgendetwas war bei ihr kaputt. Auch die anderen beiden starrten sie an, als sei der Verlust ihres Verstandes eben erst deutlich geworden. Sie sah ihn die entsetzten Gesichter der Yōkai und zuckte nur lächelnd mit den Schultern: „Er würde uns ohnehin weglaufen und das macht es nur schwieriger. Außerdem stimme ich ihm zu – zumindest in einigen Dingen.“ Der Flohgeist auf Minorus Schulter wurde blass. „Aber Rin! Das ist viel zu gefährlich für dich. Sesshōmaru hat dich bewusst zurückgelassen!“ „Er wird meine Entscheidung respektieren, so wie er es immer tut. Er hat mich geschickt, um den Jungen auf die Beine zu bringen. Mehr nicht.“ „Ich kann auf die Obhut eines Menschen und ihrer Echse durchaus verzichten“, knurrte Minoru dazwischen. „Kannst du auch darauf verzichten, binnen einer Tagesreise an der Grenze zu sein?“, fragte sie ungerührt. Er hielt inne. „Nun, A-Un würde uns in einigen Stunden dort absetzen können. Aber ohne dass ich ihn darum bitte, wird er das nicht tun. Du hast die Wahl: Du bleibst hier oder wir gehen zusammen.“ „Und dann frisst mich dein Fürst, weil du wegen mir in Gefahr geraten bist?“, hakte Minoru mit gereiztem Unterton nach. „Ich sagte, ich hänge an meinem Leben, nicht, dass ich es in seinen Rachen werfen will.“ Sie lächelte ein wenig, als sie aufstand, um die Schalen zurück in die Satteltaschen der Echse zu räumen: „Was denkst du, was er sagt, wenn er dich dort allein sieht?“ „Ah, und du kannst ihm das natürlich erklären, ohne dass er an die Decke geht“, spottete Minoru. Als sie nur milde lächelnd nickte, wurde ihm schlecht. Seine Manieren waren ja schon katastrophal, aber mit so einer Selbstverständlichkeit zu behaupten, Einfluss auf einen Daiyōkai zu haben, hätte er sich niemals erlaubt! Dabei war sie nur ein nichtiger Mensch! Eine Frau, die er ohne Probleme binnen Sekunden in Stücke hätte reißen können. Für was hielt sie sich bloß Aber zum einen war es verlockend in kurzer Zeit endlich an die Grenze zu kommen und zum anderen hätte er wenigstens noch etwas Genugtuung in seinem Leben zu verzeichnen, wenn der Hundefürst entgegen ihrer Vorhersage kein Verständnis für ihr Erscheinen aufbringen konnte – zumindest in den wenigen Minuten, die ihm dann noch verblieben. „Gut“, erwiderte er frostig. Myōga an seinem Ohr schluckte schwer. „Oh nein, nein. Das ist keine gute Idee.“ Kapitel 8: Geborsten von Lüge. (neu) ------------------------------------ Er hätte es besser wissen müssen. Eine Front ohne Gefallene, ohne stärkeren Geruch von Blut und zu einfach zu durchqueren. Jeder Idiot hätte bemerkt, dass da etwas ganz gewaltig faul war. Takeru zog die Arme enger um die Knie und verbarg den Kopf, so gut er konnte. Es war finsterste Nacht geworden, seitdem er erwacht war, und einige Male Tag. Er saß allein in einer Ecke ihres Feldlagers. Niemand sprach ihn an, niemand beantwortete seine Fragen. Die spöttischen Blicke konnten sie allerdings nicht zurückhalten. Jeder Versuch, sich auch nur richtig hinzustellen, war an der Barriere gescheitert, die ihn gefangen hielt. Sehr nobel so eine Barriere. Unscheinbar, größenvariabel und effizient. Selbst der Formwechsel in den braunen Wolf, der den Arrest in diesem engen Gefängnis deutlich erleichtert hätte, blieb ihm verwehrt. Erstaunlich, dass sie ihn nun tatsächlich an die Grenzen gebracht hatten. Dieses ganze Verhalten ergab absolut keinen Sinn. Seitdem er von den Auseinandersetzungen hier gehört hatte, zerbrach er sich den Kopf darüber, was die Panther-Dämonen vom Norden wollten. Es gab für sie dort nichts Interessantes zu holen. Kein Dämon, der halbwegs bei Verstand war, riskierte irgendetwas, um die Gebiete des nördlichen Wolfstammes einzunehmen: unwirtschaftliche Berge und Täler, kalte, harte Winter und heiße Sommer. Für die Ōkami war es perfekt, aber die meisten anderen Yōkai hatten für solche Dinge keine Verwendung. Andererseits... Minoru hatte es gut herausgestellt: Wer sich auf diesem Boden auskannte, hatte einen klaren Vorteil in jeder Schlacht. Ein Heer wie das der Panther mit einem Hauptlager in diesen Bergen? Ein Albtraum für jeden Feldherrn. Das war das Einzige, das zumindest auf den ersten Blick Sinn ergab. Das Volk der Panther-Dämonen teilte sich in zwei Klassen auf. Den Großteil bildeten bekleidete und bewaffnete Raubkatzen, die wahlweise auf zwei oder vier Beinen liefen. Nur zwei von ihnen schienen, wie Takeru selbst, in der Lage zu sein, eine deutlich menschlichere Form anzunehmen. Die beiden Frauen führten den Befehl und Takeru hatte mittlerweile erkannt, dass die Elegantere von beiden, Shunran, diejenige war, die ihn auf den falschen Weg geführt hatte. Beinahe jedes katzen- oder fuchsartige Volk war in der Lage, Illusionen zu erzeugen. Sie allerdings schien diese Fähigkeit perfektioniert zu haben und hatte binnen der letzten Tage nicht nur einmal das ganze Lager vor den Augen der Außenwelt verborgen. Immer wenn sie an Takeru vorbeispazierte, lächelte sie belustigt und warf ihr kastanienbraunes Haar provokant zurück über die Schultern. Die andere war ihre Schwester und im Gegensatz zu der mädchenhaft gekleideten Shunran wild und vorlaut. Ihr Name war Karan und diese rothaarige Pantherdämonin war auch die Erste, die ihn nicht nur amüsiert ansah, sondern auch das Wort an ihn wandte. „Deine bedauernswerten Eltern. Wollten dich schon freihandeln als wir dich noch gar nicht hatten. Sehr aufmerksam von dir, uns so entgegen zu kommen.“ Ihr orange-roter Katzenschwanz kringelte sich vor Vergnügen. „Wir sollten dir wohl dankbar sein.“ Er wandte den Blick von ihr ab und starrte die Felswand neben sich an, als würde diese davon einige Zentimeter weichen. „Was ist schon diese kleine Fehde gegen den ersten Sohn. Herzzerreißend, deine Mutter. Wie sie sich bemüht - und das für einen so erbärmlichen und undankbaren Fellhaufen wie dich. All diese Sorgen nur wegen einer kleinen Verlobung.“ Sie ließ ihn wieder stehen und stolzierte lachend davon. Ja, all das nur wegen einer kleinen Verlobung. Er bereute zutiefst, aus purem Protest davon gelaufen zu sein; würde nichts lieber tun, als die Zeit zurückdrehen. Nun hatte er dem Feind auch noch ein reales Druckmittel zugespielt, mit dem dieser zuvor schon gearbeitet hatte. Nachts jaulten die Wölfe beinahe schauerlich in der Ferne. Seine Eltern konnte er allerdings nicht heraushören. Sie stimmten so gut wie nie in die Gesänge der Tiere mit ein, die sich unter die dämonischen Rudelmitglieder gemischt hatten. Dennoch, die bekannten Töne wirkten beruhigend. Sie sangen von Kampf und Widerstand, Einheit und der Heimat. Darunter waren Stimmen, die Takeru noch nie vernommen hatte. Waren die anderen Rudel aus den südlicheren Regionen zur Hilfe gekommen? Wenn ja, hätte er ihnen dann nicht begegnen müssen? Nein, vermutlich waren sie dann schon deutlich länger hier. Auch den Panthern entgingen diese etwas anderen Tonlagen nicht. Karan stand mit verschränkten Armen und gespitzten Ohren zwischen einigen ihrer Krieger und lauschte. „Sind das Hunde? Klingt seltsam." „Hunde heulen selten und der Inu no Taishō würde nie mit so vielen kommen – wenn er sich überhaupt noch hierher bequemt.“ Shunran saß neben ihr auf einen gefällten Baumstamm. Ihr kurzer mintgrün-rosafarbener Kimono war so sauber, als habe sie nie direkt im Kampf gestanden und vermutlich konnte sie es durch ihre Fähigkeiten auch gut vermeiden. „Ich habe das Warten langsam satt“, fauchte Karan und strubbelte sich durch ihre roten, kurzen Haare. „Wir können nicht ewig hier herumsitzen und zum Nichtstun verurteilt sein!“ Takeru fuhr bei den Worten ein kalter Schauer über den Rücken. Rechneten sie etwa mit dem Erscheinen des Hundefürsten? Dann wäre der Grenzübertritt in den Westen kein Versehen gewesen, sondern eher eine gezielte Provokation. Diese nachträglich zu beweisen wäre aber vermutlich selbst für den Inu no Taishō unmöglich gewesen und er wäre sicherlich nicht so leichtsinnig, hierbei Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Sobald der Inuyōkai sich nun in den Krieg einmischte, hätten die Panther etwas gegen ihn in der Hand, solange er ihnen keinen vorhergehenden Friedensbruch nachweisen konnte. Takeru schluckte. Minoru durfte auf keinen Fall den Norden betreten! Mischling hin oder her: Er sah zu sehr nach Hund aus, als dass die Panther dies nicht gegen den Westen ausnutzen würden. A-Un glitt mit Leichtigkeit über Wälder und Gebirge hinweg. Jeder seiner beiden Köpfe trug ein eigenes schwarz-silbernes Zaumzeug, passend zum opulenten Brustschutz aus Leder. Auf seinem Rücken lag ein Sattel, der seit einigen Stunden unter Minorus Klauen litt. Der Erdboden raste in einem Gewirr aus Gebirgszügen und spärlich grünen Wäldern dahin, bis die Farben in der Tiefe zu einem Übelkeit erregenden Strudel verwischten. Minoru schloss die Augen und zog die Schultern zusammen. Er hasste fliegen. Die Höhe, die Abhängigkeit, das Nichts um ihn herum. Und diese gottverdammte Kälte! Die Frühlingssonne hatte bereits im Zenit kaum Wärme gebracht, doch nun, wo sie sich dem Horizont neigte, wurde die Kälte beißend und der Wind fuhr einer Klinge gleich durch den Stoff. Er hätte viel für ein wärmendes Fell gegeben, wenn er dafür nur den Sattel nicht hätte loslassen müssen. Dass er freiwillig feinmotorische Hände den Pfoten vorzog, war das offenste Zugeständnis an Unsicherheit, das er hätte machen können. Zum Glück kannte Rin ihn zu wenig, um es zu begreifen. Weshalb die allerdings nicht längst erfroren war, war ihm schleierhaft und er verweigerte sich dem Gedanken, dass seine Wetterfühligkeit mit der vergangenen Schwäche zusammenhing. Er war immer noch unpässlich und seinem Umfeld ausgelieferter, als ihm lieb war. Andererseits: Was machte er sich eigentlich vor? In dieser Höhe alles Vertrauen in einen überdimensionalen Salamander setzen zu müssen, hatte denkbar wenig mit Unabhängigkeit zu tun. Von alledem abgesehen musste er jedoch zugeben, dass die zurückgelegte Wegstrecke beinahe die Unannehmlichkeiten wert war – die Gesellschaft einer schwatzenden Menschenfrau eingeschlossen. Denn Rin war bemüht, auszunutzen, dass seine einzige Fluchtmöglichkeit vor ihrem Mundwerk aus einem Sprung in die Tiefe bestand. „Dein Freund ist ōkami? Die Panther setzen ihnen seit einiger Zeit sehr zu. Wir wollten uns da eigentlich gar nicht einmischen. Was andere Völker treiben, geht uns nichts an“, begann sie schließlich wieder, nachdem ihre vorangegangene Unterhaltung über Menschendörfer und Kräuterwiesen in einem Monolog verebbt war. „Aber die Panther sind über westlichen Boden marschiert. Eine Anmaßung, die den Fürsten zum Handeln zwingt. Nicht, dass er einer Schlacht abgeneigt wäre, aber er entscheidet gern selbst über – nun, alles. Deswegen patrouillieren er und die Kappa nun entlang der Grenzen. Wenn sie in Bewegung sind, wird es schwierig, zu ihnen zu stoßen. Meinst du, du kannst sie aufspüren? Wenn es nicht zu viel verlangt ist, meine ich. Wir wollen deine Genesung deswegen ja nicht aufs Spiel setzen.“ Bei gutem Wind hatte er reelle Chancen selbst kleine Gruppen ausfindig zu machen, auch wenn die Witterung der Kappa in Wassernähe schwer auszumachen war und sich im Regen verlor. Den Fürsten zu finden, wäre aus diversen Gründen einfacher. Doch wollte er das? Einmal in der Nähe dieses Mannes, würde es nicht einfacher, wieder fortzukommen. Zumal diese Auseinandersetzung ein Krieg dreier Reiche zu werden versprach. Zumindest in dieser Hinsicht waren ihre Einschätzungen zutreffend gewesen. Die Panther hatten sich erdreistet, westlichen Boden für ihre Angriffe zu nutzen und damit ein Bündnis mit den Inu in weite Ferne gerückt. Bei allem, was in den vergangenen Tagen schief gelaufen war, konnten sie vermutlich froh sein, dass er den Kappa in die Hände gefallen war und nicht Takeru. Wie der Fürst auf einen Grenzübertritt der Wölfe reagiert hätte, nachdem bereits der Osten tat, was ihm beliebte, wollte sich Minoru lieber nicht ausmalen. Er sah Dank seiner Mutter wenigstens hinreichend nach Inu aus, um mit seiner Anwesenheit im Westen kein Politikum auszulösen. Als eine Antwort ausblieb, wandte sich Rin um und betrachtete ihn, ehe sie ein Lächeln aufsetzte, das nichts Gutes verheißen konnte. „Weißt du, ohne Schlamm im Haar wärst du wirklich hübsch, wenn du nicht ständig so ernst dreinschauen würdest. Aber das scheint so eine Dämonensache zu sein. Beides, meine ich. Hübsch und ernst. Für einen schönen Yōkai ist es deutlich einfacher, nah an die Menschen heranzukommen, um sie zu fressen. Zumindest meint das Jaken – der gute Jaken. Immer darauf bedacht, mir ein wenig Angst zu machen. In Wahrheit habe ich noch nie einen Inuyōkai gesehen, der einen Menschen auch nur anknabbern würde und wie du einen Menschen zerreißt... nein, das kann ich mir schwer vorstellen. Aber ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass es deswegen unmöglich ist. Bis vor einigen Tagen hätte ich mir auch nie träumen lassen, einen Inu als Hund anzutreffen.“ Minorus Klauen gruben sich noch tiefer in das Sattelleder. War sie wahnsinnig? Ob sein Fell voller Kletten, das Haar schlammüberzogen oder seine gesamte Erscheinung eine verdammte Katastrophe war, war als allerletztes die Angelegenheit einer geschwätzigen Menschenfrau! Zumal die Realität bei ihr offenbar keinen bleibenden Eindruck hinterließ. Hatte er nicht kürzlich versucht, ihre Hand abzubeißen? Minoru weigerte sich, aus ihrem erneuten Monolog eine Unterhaltung werden zu lassen und warf einen Blick zur Sonne. Die ohnehin spärlichen Strahlen drohten hinter dem Grau aufgetürmter Wolkenberge zu ersticken. Der Reityōkai hätte sie auf Rins Geheiß überall hintragen können, doch dem Sonnenstand nach hielten sie sich nordwärts. Darüber hinaus war jede Orientierung unmöglich. Alles roch nach Schlamm oder nassem Fels und auch den Mogami hatten sie nicht überquert. Er würde jedoch nicht noch einmal den Fehler machen und Eile vor Vorsicht setzen. „Wie weit noch?“ Rin wandte sich um und musterte ihn erstaunt, als habe sie nicht mehr damit gerechnet, überhaupt etwas von ihm zu hören. „Bis Sonnenuntergang schaffen wir es nicht. Aber vor Mitternacht bestimmt.“ „Das dauert zu lange. Der Wind treibt uns die Gewitterfront in die Seite.“ „Gewitterfront? Euer Geruchssinn muss wirklich erstaunlich sein, wenn du einen Wetterumschwung riechen kannst.“ „Stell dir vor, ich kann ihn sogar sehen“, gab er kühl zurück. „Wie mächtig ich sein muss.“ Sie blinzelte ob des unerwarteten Bisses in seinem Tonfall, ehe sie die dunklen Wolken in der Ferne bemerkte und puterrot anlief. Sie tätschelte beide Hälse des Yōkais und säuselte ihm etwas zu. A-Un schwenkte, verlor an Höhe und zog das Tempo an. Sie legten eine ansehnliche Wegstrecke zurück, während die Baumkronen wenige Meter unter ihnen dahinrasten wie knorrige Finger; das Gewitter bald ein nahendes Grollen im Hintergrund. Noch bevor der erste Regen einsetzte, landeten sie in einem Gebirgswald unweit eines kleinen Sees. Augenblicklich ließ sich Minoru aus dem Sattel rutschen. Gesegnete, feste Erde! „Das wurde Zeit“, bemerkte Rin, als zwischen den Bäumen ein Blitz über den Himmel zuckte. Das Donnern folgte wenig später. „Wir sollten etwas Trockenes für die Nacht suchen.“ Minoru blickte missbilligend an den Kiefern und Fichten empor. Nach all den Wäldern, die sie seit geraumer Zeit passiert hatten, landeten sie ausgerechnet in einem dichten Nadelwald, wo der Wind bereits jetzt am Immergrün riss. Seine Begeisterung war derart dürftig, dass es dieses Mal nicht einmal Rin entging. „Wälder sind bei einem Unwetter eine dumme Idee, das weiß ich. Aber wir haben kaum eine Wahl. Wir sind dem Gewitter nach Osten ausgewichen, so weit ich es gewagt habe. Aber die Grenze zu den Pantherdämonen ist jetzt zu nah, als dass wir auf offenem Feld lagern könnten. Es ist bergig. Vielleicht finden wir eine Höhle.“ So anstrengend sie auch sein mochte – wenigstens dachte sie hin und wieder nach. Natürlich war es Abwägungssache, doch hatten sie im Wald bei der Suche nach einem sicheren Lagerplatz mehr Chancen, als wenn sie sich einer Armee der Panther gegenüber sahen. Bis sie einen dürftig geeigneten Platz gefunden hatten, tobte der Sturm. Eine Höhle war es nicht, aber ein Felsvorsprung, der ausreichend Schutz vor Witterung und fallenden Bäumen bot. Ansonsten war es wenig behaglich. Der Wind zog durch jeden Winkel und wo er den Regen nicht hineintrieb, bahnte sich das Wasser seinen eigenen Weg. A-Un stapfte durch den Morast und ließ sich in der hintersten Ecke niedersinken, während Rin beiden Köpfen die Tropfen aus den Gesichtern strich. „Es tut mir leid. Bei Tōtōsai gab es schon wenig zu Fressen. Dann noch die Reise und nun... du Ärmster. Du musst schrecklich hungrig sein. Aber es ist zu gefährlich da draußen. Das verstehst du, oder?“ Die sonderbare Mischung aus Echse und Pferd brummte leise und drückte einen Kopf an sie, während der andere Minoru beobachtete. Der hatte den Rücken an die Felswand gelehnt und sah hinaus in den Sturm. Zwischen Dunkelheit und Regen war nur das Ächzen der windgepeitschten Bäume wahrzunehmen und dennoch wurde Minoru das Gefühl nicht los, dass sie trotz sicheren Bodens und des Unterstands nicht von Glück sprechen konnten. Wenig später hatte sich Rin auf A-Un lang gemacht wie auf einem schuppigen Teppich und schlief. Der Dämon jedoch beobachtete Minoru mit einem seiner Köpfe, während der andere schnarchend auf seinen Vorderpranken lag. So unnötig das auch war, hatte Rin dem Wesen mit Sicherheit eingeschärft, zwei von vier Augen auf ihn zu haben. Minoru neigte nicht zur Selbstüberschätzung. Dennoch war er sicher, dass der Longma in dem Unwetter keine Möglichkeit gehabt hätte, ihn an einer Flucht zu hindern. Genesung hin oder her. Aber es war ein unnützes Risiko bei diesem Sturm blindlings durch einen Wald zu laufen, bei dem seine geringste Sorge das Wetter gewesen wäre - und das wusste A-Un sicher ebenso. Umso sonderbarer, dass er sich dennoch mühte, den Forderungen dieser Frau nachzukommen. Kapitel 9: Einsam und verloren (neu) ------------------------------------ Stunden später hatte Minoru die Hände in die Ärmel geschoben und döste an den Fels gelehnt, als ein Geruch ihn aus dem Dämmerzustand aufschrecken ließ. Rin regte sich nicht, doch A-Uns wacher Kopf reckte den Hals und stellte die Ohren auf. Minoru lief ein Schauer über den Rücken. Er musste sich das eingebildet haben. Außerhalb des Unterstandes regnete es Bindfäden und der Wind blies derart scharf, dass er auch die Reste jeder Witterung in Fetzen riss. Außerdem war es unmöglich, dass er hier war. So weit nördlich und am Rande eines Kriegsgebietes. Unsinn! Der Halbschlaf hatte ihm einen Streich gespielt. Minoru bemerkte, dass seine Finger von allein ihren Weg zum dem Armband gefunden hatten und in alter Gewohnheit an den roten Perlen herumnestelten. Zähneknirschend zog er die Hand zurück und zwang sich einen langen, tiefen Atemzug zu tun - an dem er sich beinahe verschluckte. Das war keine Einbildung! Sein Vater war hier! Das durfte nicht wahr sein! Nicht nach all den Jahren! Er wollte sich abwenden, die anderen wecken, als bereits eine allzu bekannte Aura über seine Haut tanzte und ihn mit dem Rücken an die Felswand weichen ließ. Grüne Augen trafen goldene und ließen Minoru das Blut in den Adern gefrieren. Der Kitsune, der aus dem Regen getreten war, hatte wenig mit dem einfachen Mann gemeinsam, an den er sich erinnerte. Er trug Armschienen und Schulterschutz über einem smaragdgrünen Kimono, an dem das Wasser in Perlen herabrann, ohne das Gewebe zu durchsetzen. Selbst der blendend weiße Unterstoff, der am Kragen hervorstach, war edler als alles, das er früher je besessen hatte. Und dennoch war es unverkennbar. Die Aura, der Geruch-! „Mino…“ Nach all den Jahren seine Stimme zu hören, versetzte Minoru einen ungeahnten Stich. Ebenso, dass er die Frechheit besaß, ihn nach allem so vertraulich und mit dieser unsäglichen Sorge anzusehen! „Ich war mir sicher, dass ich mich geirrt haben muss… aber du bist hier. Du lebst. Es tut gut, dich zu sehen. Wirklich. Du siehst… erwachsener aus.“ Der Blick des Fuchses huschte über wirres Haar, Tōtōsais geliehen Kleidung und das bisschen Gewicht, das ihn über den Winter gebracht hatte. Minoru wusste, welchen Eindruck er mit dieser zerlumpten Erscheinung vermittelte. Doch ja, er lebte - und das war mehr als er hätte vorbringen können, wenn er seine Hoffnung nur in diesen Mann gesetzt hätte. Als er nichts erwiderte, kam sein Vater auf ihn zu - und hielt abrupt inne, als sich Minoru derart heftig an den Felsen presste, dass eine Schieferkante seinen Arm aufschnitt. „Sachte, Junge! Ich will dir nichts schlechtes.“ „Geht!“ „Mino, ich bitte dich, sieh’ dich doch nur an. Du-“ „Spart Euch die Heuchelei und verschwindet! Es geht mir gut! Besser, als wenn ich darauf gewartet hätte, dass Ihr mir helft!“ Sein Vater zog kurz die Brauen empor, dann atmete er durch und strich sich das rote Haar zurück, das vom Regen dunkel geworden war. „Deswegen also kein Wort zu mir? Wegen dem, was ich nicht getan habe?“ „Das wisst Ihr sehr genau!“ „Sie ist deine Mutter, Minoru. Sie ist für dich verantwortlich. Mir sind die Hände gebunden, was ihr Temperament angeht.“ „’Temperament’“, Minoru spuckte das Wort aus. „Wenn die Verantwortung nur bei ihr liegt, weiß ich nicht, was Ihr dann von mir wollt!“ „Nun aber langsam! Seit drei Jahren bist du wie vom Erdboden verschluckt. Kein Brief, kein Hinweis, nichts. Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht, nach dir gesucht. Ich dachte, du seist tot!“ Er kam erneut auf Minoru zu, überging die gebleckten Zähne, das Zurückweichen und Knurren, das unmissverständlich hätte sein sollen, und legte eine Hand an seine Wange. Die andere fand seinen Arm. „Nur weil ich gegen deine Mutter keine Handhabe besitze, bist du mir doch nicht gleichgültig.“ Die Haut war warm und rau wie früher, doch was einmal angenehm gewesen war, trieb Minoru nun die Galle hoch. Wütend riss er den Kopf zur Seite und stieß seinen Vater mit aller Kraft von sich. Schmerz flammte auf, wo die schwarzen Krallen des Fuchses im Gerangel die Haut seiner Wange aufgerissen hatten. Doch das war ein kleines Problem im Vergleich zu der Angst, die die neuste Erkenntnis mit sich brachte. Sein Vater trug weitere Rüstung unter dem Kimono! Minoru presste die Hand auf seine Wange und starrte auf das Schwert, das im Obi des Kitsunes steckte. Unmöglich! Der Mann konnte unmöglich ein Krieger sein! „Verflucht, Junge! Was sollte das? Das sieht schlimm aus. Lass mich-“ „Er möchte, dass Ihr geht. Also geht.“ Sein Vater fuhr herum und sah sich sichtlich irritiert einer jungen Menschenfrau gegenüber, deren Hand am Hals eines schnaubenden Longmas lag. Minoru wurde papierweiß. Es war ausgeschlossen, dass sein Vater die anderen noch nicht bemerkt hatte. Er hatte sie lediglich als zu nichtig empfunden, um ihnen Beachtung zu schenken. Wenn es etwas gab, das sein Vater nicht ausstehen konnte, dann waren es Menschen. Darin hatte sogar seine Mutter übereingestimmt und die hatte für ihren ehemaligen Liebhaber nie mehr als Spott übrig gehabt. Schon früher hätte er nicht daran gezweifelt, dass dieser Fuchs das Ende jedes einsamen Bergwanderers gewesen wäre - und heute schien alles Harmlose an ihm wie vom Regen abgewaschen. Als er sich Rin zuwandte, war da kein gelöstes Lächeln, kein Schalk. Man konnte ihr eine gewisse Kühnheit nicht absprechen, als sie im Angesicht dieses ausgewachsenen Raubtiers nicht zurückwich und die Art, wie er sie mit seinen Blicken maß, mit gerecktem Kinn vergalt. „Und das hier ist-?“ „Ich bin Rin und er will, dass Ihr geht!“ „Menschen, Minoru? Wirklich?“ Die Stimme klang zu kalt aus seinem Mund. „Ließ sich nicht vermeiden.“ „Ah.“ Ein Lächeln schlich sich in die Mundwinkel des Fuchses. Gefährlich. Morbide. „Sag diesem plappernden Fleischsack, es soll sich benehmen. Dann darf es weiter meine Luft atmen. Dir zuliebe.“ „Rin-“ „Ihr seid ein Kitsune aus dem Süden, nicht? Das hier ist westlicher Boden. Ihr solltet nicht einmal hier sein. Das Letzte, das Ihr nun wollt, ist mein Blut an Euren Händen. Seines reicht bereits.“ Sie legte eine Hand an A-Uns Hals, als der Longma neben ihr die Klauen in den Morast grub und sich zischend aufbaute. „Minoru steht unter dem Schutz meines Herrn, des Inu no Taishōs. Er nimmt derlei sehr ernst. Ihr solltet wirklich gehen.“ Der Ausdruck in den Augen seines Vater war neu. Er starrte Rin an, als habe die ihm soeben glaubhaft eröffnet, dass am Morgen sein Kopf von allein von den Schultern rutschen würde - was die Situation vermutlich passend umschrieb. Er wandte den Kopf und betrachtete Minoru mit einem Anflug von - ja, Panik. Wirkliche und wahrhaftige Angst. „Der Schutz des Westens? Du hast Sesshōmaru getroffen?“ Minoru nickte langsam und hoffe inständig, dass ihn das nicht irgendwann einholen würde. Sein Vater setzte an, etwas zu sagen, letztlich biss er jedoch nur die Zähne zusammen und spannte die Hände an, bis es knackte. Nur einen Augenblick später löste er sich in einer grünen Flamme auf, die in Form einer Kugel in den Sturm hinausschoss und verschwand. Minoru starrte leer auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, und wusste mit der Welt nichts anzufangen. Erst als A-Un ihn sanft anstieß und den Kopf an ihm rieb, löste er seinen Blick und legte dem Longma eine Hand in die Mähne. Der Dämon schnaubte und schob auch den zweiten Kopf näher. Sie hatten darauf verzichtet, einen neuen Unterschlupf zu suchen. Der Sturm wütete nach wie vor und zu Fuß wären sie bei Wind und Regen, die Geruchsinn und Gehör täuschten, ein gefundenes Fressen. Außerdem konnte Minoru auf den Gedanken verzichten, seinen Vater ein weiteres Mal unvermittelt vor sich zu haben. Ihn nach all den Jahren wiederzusehen, war befremdlich gewesen. Mehr noch, da er in diesen geschniegelten Stoffen, gerüstet und bewaffnet gradliniger gewirkt hatte als üblich. Natürlich hatte Minoru gewusst, dass sein Vater in der südlichen Armee diente. Die meisten Kitsune taten das. Doch er hatte eine Anstellung als einfacher Soldat in den Stallungen, nicht mehr. Nichts, dass diese Extravaganz hätte finanzieren können, die wenig mit dem Mann gemeinsam hatte, der sich stets lächelnd seiner Gefährtin unterordnete. Minoru erinnerte sich dunkel, dass sein Vater, bevor die Stimmung Zuhause katastrophale Züge angenommen hatte, einmal direkt vom Dienst nach Hause gekommen war. War es wirklich nur einmal gewesen? In den frühen Kindheitstagen wirkte alles wie ein Einzelerlebnis und Minoru hätte Mühe, sich die Details ins Gedächtnis zu rufen. Er war Grund für einen Streit zwischen seinen Eltern gewesen – etwas, das erstaunlich selten vorgekommen war, wenn man bedachte, dass er in den Augen seiner Mutter eine wandelnde Enttäuschung darstellte. Er hatte mit einem Freund im angrenzenden Hügelland kleine Unterstände aus Holz gebaut, die zugegebener Maßen nicht einmal gegen den ersten Windhauch gefeit gewesen wären. Satoshi hatte seinen am Hang errichtet, Minoru weiter im Tal. Diese erbärmlichen Hütten hatten kaum Platz zum Hineinkriechen geboten, aber es waren ihre Burgen gewesen und sie kaum älter als drei. Mit Zähnen und Stöcken hatten sie gegeneinander gekämpft, aber nie wirklich ernst, und Satoshi war so verdammt stolz auf seine ‘taktisch günstige’ Hanglage gewesen, dass Minoru bis heute die Augen rollen wollte. Taktisch günstig - als seine Mutter aus heiterem Himmel aufgetaucht war, hatte sie das Spiel schneller beendet, als der Wind die Hütten hätte zerschlagen können. Ihre übermäßigen Schichten an Kimonos waren unter ihrer Wut aufgebauscht. Mit kaum mehr als einem Blick hatte sie Satoshi nach Hause gejagt, Minoru den Stock aus der Hand gerissen und ihm damit eine schallende Ohrfeige verpasst, ehe sie ihn wortlos nach Hause gezerrt hatte. War er damals noch versucht gewesen, sich zu wehren? Er konnte sich nicht daran erinnern. „Krieg ist kein Spiel!“, hatte sie ihn schließlich angefaucht. „Niemals! Du wirst nicht kämpfen. Nicht heute und auch in Zukunft nicht. Das ist barbarisch! Sieh dich nur an! Gras und Erde und voller blauer Flecke! Du bist beschämend!“ Er hatte in diesem Falle nicht den meisten Ärger bekommen. Als sein Vater einige Tage später nach Hause gekommen war, hatte es so gekracht, dass Minoru sich in einer Ecke verkrochen und nicht gewagt hatte, auch nur ein Geräusch von sich zu geben. Sie hatte seinem Vater verboten, je wieder mit Rüstung und Waffe zu erscheinen und seinen Sohn damit auf dumme Gedanken zu bringen – so in etwa der Konsens. Was sie ihm alles an den Kopf geworfen hatte, wusste Minoru nicht mehr, aber seither kannte er seinen Vater nur in Yukata und Strohsandalen. Er tastete nach den Wunden auf seiner Wange, die immer noch wie Feuer brannten. „Machst du dir Sorgen, dass er zurückkommt?“ Rin war in der Dunkelheit näher herangekommen. Er schüttelte den Kopf, auch wenn er sich damit nicht sicher war. Das abrupte Entschwinden seines Vaters hinterließ eine miese Grundlage für Spekulationen. „Du bist von Zuhause weggelaufen, nicht wahr?“ Was half es zu leugnen, was längst auf der Hand lag? „Vor ein paar Jahren.“ „Deswegen bist du so vehement dagegen, dass der Fürst dich nach Hause bringen lässt… das solltest du ihm sagen.“ „Ja, das wird ihn ganz bestimmt interessieren.“ „Er hat meine Entscheidungen respektiert, als ich halb so alt war wie du. Vielleicht wird er einen Grund hören wollen, vermutlich aber nicht. Er wird dich nicht zwingen. So ist er nicht.“ Sie lehnte sich neben ihm an die Wand. „Dieser Kitsune -“ „Vergessen wir das.“ „Was für ein Unsinn, Junge!“ Minoru zuckte heftig zusammen, als die Männerstimme unmittelbar neben seinem Ohr losfauchte. Er wandte den Kopf und starrte den Flohgeist an, ehe er nach ihm schnappte. „Bissig wie ein Tier!“, schimpfte der kleine Mann und hüpfte von ihm weg. „Aber du bist weit davon entfernt, mir zu imponieren! Ich habe Dämonenfürsten gedient, lange bevor du diese Welt betreten hast - und die waren schneller!“ „Man sollte meinen, du hättest dann gelernt, dass man sich nicht an andere heranschleicht, Floh.“ Minoru knurrte. „Wo kommst du jetzt her?“ „Ich war natürlich die ganze Zeit über bei euch!“ Er nahm seinen kleinen Hut vom Kopf, schüttelte ihn, bis ein einzelner Tropfen zwischen den winzigen Strohfasern hervorquoll und legte ihn in seinen Schoß. „Einer muss ja auf euch unvernünftige Kinder aufpassen! Ich meine – ach, was rede ich, völlig egal! Ihr könnt ihn nicht einfach vergessen. Ein Kitsune auf westlichem Boden und das zu Kriegszeiten! Der Fürst wird Fragen stellen und die Antworten sollten besser so ausfallen, dass er nicht postwendend an den Generalleutnant schreibt und die Armee gen Süden marschieren lässt!“ „Für einen unbedeutenden Soldaten?“ Minoru hob eine Braue. „Das wäre doch sehr überzogen.“ Der Floh rutschte unbehaglich auf seiner Schulter umher. Dann setzte er eine gefasste Miene auf: „Man sollte Risiken gut abwägen, wenn man mit dem Taishō verkehrt. Was also hast du mit diesem Kitsune zu schaffen?“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ „Es wird uns alle etwas angehen, wenn der Fürst diesen Grenzübertritt als Angriff auf seinen Schutzbefohlenen wertet, Junge.“ „Ich habe nicht um seinen Schutz gebeten.“ Dem Alten stieg die Zornesröte ins Gesicht. „So ein stures Kind ist mir wahrlich selten untergekommen. Gut möglich, dass du so noch einige Jahre überleben kannst, aber irgendwann wirst du deine Entscheidungen noch bereuen! Wie oft bist du in den letzten Wochen fast umgekommen? Dieser Umstand wird sich in den nächsten paar hundert Jahren nicht ändern, Kleiner. Es sind immer Kinder wie du, die daran umkommen, dass jemand schnellen Hunger oder Wut stillen will. Du kannst nicht alleine bleiben, wenn du überleben willst. Es ist nicht ausreichend, den gefährlichen Personen aus dem Weg zu gehen - und allen, die dir helfen könnten. Rin kennt den Fürsten und meine bescheidene Wenigkeit ist mit der politischen Lage vertraut. Also nochmal: Woher kennst du den Mann?“ Das war Wahnsinn. Auf keinen Fall konnte er ihnen sagen, in welcher Verbindung sie zueinander standen. Wenn sie dem Fürsten berichteten, dass er der Sohn einer gemischten Verbindung aus Inu und Kitsune - „Er ist dein Vater, oder?“ Er presste die Kiefer aufeinander und weigerte sich, Rin anzusehen, die neben ihm von den Fersen auf die Ballen und zurück wippte. „Er wirkte so entsetzt, dich zu sehen. Besorgt.“ „Er ist ein Kitsune. Täuschen fällt ihm nicht schwerer als atmen.“ Rin schüttelte den Kopf. „Es war mehr als das. Euer Gespräch - er ist keine schlichte Bekanntschaft.“ Als Minoru erneut nichts sagte, räusperte sich Myōga. „Damit könnte es als Privatangelegenheit durchgehen. Seinen ausgerissenen Sohn zur Rede zu stellen, wird ihm niemand vorhalten. Zumal er sich unmittelbar zurückgezogen hat, als er von den Ansprüchen des Fürsten erfahren hat. Er war ganz offensichtlich nicht an einem politischen Eklat interessiert.“ Der Floh seufzte schwer. „Und spätestens diese Vorsicht wird den Generalleutnant auf ihn ansetzen. Ein hochrangiger, südlicher Soldat nahe der östlichen Grenze, während die Panther aufbegehren. Wenn es da keine Verhandlungen gegeben hat, soll mir zwei Arme abfallen.“ Der Wind fuhr mit einem Mal noch eisiger über Minorus Haut. Hochrangig - als ob. Aber egal wie die beiden die Ereignisse darstellen würden, er musste so viele Wegstunden wie möglich zwischen sich und den Fürsten bringen, ehe Rins Plappermaul diese Verbindung hinausposaunte. Wenn jetzt noch die Vermutung hinzukam, sein Vater habe mit den Panthern konspiriert, würde man ihm Beteiligung unterstellen - oder Schlimmeres! „Und dein Freund ist wirklich aus dem Norden, ja? Kein Panther, der an der Grenze auf deine Ankunft wartet? Es war nur Zufall, dass du und dein Vater durch den Westen wandern?“ Minoru schloss für einen Moment die Augen und seufzte. Die Anschuldigungen hatten ja nicht lange auf sich warten lassen. „Er ist Ōkami. Ich habe außerdem schon gesagt, dass ich keine Loyalität zum Westen habe. Wenn ich euch hätte hinters Licht führen wollen, wäre das wohl die dümmste Aussage gewesen.“ „Oder eine clevere Täuschung, wie man sie von einem Kitsune erwarten würde.“ Ehe Minoru etwas erwidern konnte, schnalzte Rin abfällig: „Das ist doch Unsinn. Minoru hat so viel von einem verschlagenen Kitsune wie ich. Sein Vater könnte ein Drache sein und es würde keinen Unterschied machen.“ Myōga zuckte zusammen. „Das bezweifle ich stark.“ „Na gut, Drache ist ein schlechtes Beispiel. Aber ihr wisst, was ich meine?“ „Nein“, erwiderte Minoru kühl. „Absolut nicht.“ „Bei allem nötigen Respekt“, fuhr der kleine Floh auf und wedelte mit seinen vier Armen, als könnte er damit den Spuk vor seiner Nase beenden. „Warum sollte es dem Herrn des Westens gleichgültig sein?“ Rin begann wie auf Geheiß unschuldig zu lächeln, bevor ihre Stimme einen leisen, fast provokanten Ton anschlug: „Möchtest du damit andeuten, Sesshōmaru-sama interessiere sich dafür, ob ein Kitsune sich mit einer Hundedämonin eingelassen hat, die nicht mit ihm verwandt ist?“ „Natürlich nicht!“, fuhr der Alte auf und sprang wütend umher. „Die verwandtschaftliche Beziehung zu einem neutralen Fürstentum wird ihn nicht kümmern - es sei denn, die verhandeln hinterrücks mit dem Feind!“ Minoru ließ sich an der Wand herabsinken und versuchte die aufgebrachten Gestikulationen des Flohs auf seiner Schulter nicht als Hintergrundtanz zu seinem Untergang zu werten. Die entbrennende Diskussion schwappte über ihn hinweg. Wie einfach war doch die Welt vor wenigen Augenblicken gewesen, als er noch befürchtet hatte, für die Mischung seines Blutes angeklagt zu werden. Das hier - „Minoru… du bist leichenblass…“ Rin war neben ihm in die Hocke gegangen und auch Myōga sah ihn nun mit dem Anflug eines schlechten Gewissens an. „Das ist nichts persönliches, Junge.“ Rin legte ihm eine Hand auf den Arm, den er sofort zurückzog. Sie seufzte. „Glaubst du, der Westen bestehe nur aus Inu? Sieh dir die Kappa an. Die haben dich aus dem Fluss gezogen, der Fürst hat sich deiner angenommen und dich meiner Obhut anvertraut. Du müsstest ihm schon mehr Anlass geben, das alles zurückzunehmen und damit sein Urteilsvermögen in Frage zu stellen. Myōga übertreibt.“ Minoru wechselte einen knappen Blick mit dem winzigen, alten Dämon, der sichtlich bestrebt war, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen, die Bände sprach. Kapitel 10: erlischt der Funke ------------------------------ Während sie in unfreiwilliger Einheit den letzten, kurzen Weg zur Grenze antraten, wurde Rin mit jedem Wolfgeheul, das gedehnt an ihre Ohren drang, ruhiger. Mit dem grummelnden Gewitter über ihnen waren die Rudel selbst für Minoru nicht hörbar gewesen. Mit dem Wetterumschwung und der Nähe zur Grenze hatte sich das eindeutig geändert. Rin schien davon wenig begeistert, hielt sich in A-Uns Nähe und schwieg sogar manchmal Minutenlang eisern, bevor sie sich wieder mit Myōga unterhielt, über dessen plötzliche Anwesenheit sie lange nicht so überrascht gewesen war, wie Minoru es erwartet hatte. Der missbrauchte sein hündisches Dasein, um jeder forcierten Antwort zu entfliehen. Mit einem Hund konnte man sprechen, aber niemand erwartete eine Antwort – nicht einmal Rin. Den lästigen Passagier hatte er damit allerdings nicht aus dem Pelz vertreiben können. Myōga saß auf seinem Rücken und schnatterte mit Rin über Wetter und Weltgeschichte. Da hatten sich ja die Richtigen gefunden. „Es ist doch nicht normal, das in letzter Zeit so viele seltsame Dinge passieren. Plötzlicher Krieg im Norden, die ständigen Regenfälle, ein... wie sagt man das, wenn jemand zwei Völkern angehört? Hundefuchs?“ Minoru, der nur mit halben Ohr hinhörte, sträubte sich das Fell. Das tat ja fast schon weh. „Ein Mischling, denke ich“, antwortete Myōga. „Ganz schlicht.“ „Ein Mischling, den noch nie jemand gesehen hat, kriegerische Grenzübertritte und ein aggressiver Kitsune, der wie aus dem Nichts auftaucht. Wie wahrscheinlich ist das alles?“ „Die Sterne stehen im Moment sehr schlecht“, sagte der Flohgeist mit einer Absolutheit, die an Absurdität grenzte. Die Sterne? Welcher senile Alte hatte sich diesen Unsinn schon wieder einfallen lassen? Vermutlich hatte niemand die Sterne in den letzten Wochen gesehen. Bei den Regenwolken war sogar der letzte Vollmond so wenig hell gewesen wie der Neumond zuvor. Wer wollte da noch Sterne deuten und einen sinnvollen Schluss ziehen? „Dann hoffen wir, dass die Sterne sich bald etwas besser platzieren!“ Sie sah ein wenig erbost in die Berge, als wartete sie auf das nächste Unheil, das sich zwischen den felsigen Hängen heraus auf sie stürzte. „Es wirkt beinahe, als sei Naraku auferstanden und habe überall seine dreckigen Finger hineingesteckt.“ „Sprich nicht davon, Rin“, mahnte Myōga. „Ausgesprochene Dinge werden nur allzu schnell wahr. Wir werden das schon in geordnete Bahnen bringen. Wie immer in den letzten tausenden Jahren.“ Minoru gähnte gedehnt und schüttelte das morgenfeuchte Fell auf. In der Nähe rauschte ein Gebirgsbach sprudelnd und schnell im ansteigenden Gelände. Während die beiden in tiefste Gespräche verwickelt schienen, prüfte er immer wieder die Luft. Irgendetwas passte ihm nicht ganz in das Gesamtbild, er war sich nur noch nicht sicher, was das war. Eine wirkliche Bedrohung lag nicht in der Luft, aber was bei Nachsicht passierte, hatte er ja am Vorabend bemerkt. Der Fuchsgeruch ohne auffindbaren Fuchsbau hätte ihn mehr als aufmerksam machen sollen. „Sesshōmaru-sama!!“ Der junge Yōkai zuckte zusammen, als Rin die Hand hob und zwischen die Felsen winkte, die er so nah am Boden, schlecht einsehen konnte. Dennoch stand er dort, wie aus dem Nichts. Die linke Schulter geschützt durch eine eiserne Spange, die rechte umwickelt mit einem langen, weißen Pelz, der ihm mit seinen weißen Haaren perfekt über den Rücken fiel. Minoru blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen, aber jede erwartete Reaktion blieb aus. Der Fürst wandte sich lediglich von den Ankömmlingen ab und ging einen ansteigenden Pfad hinauf ins Gebirge. Rin überholte Minoru beinahe, bevor der seine Beine wieder zur Arbeit überreden konnte. Wie peinlich war es, dass das Menschlein den Fürsten vor ihm bemerkt hatte? Stand der Wind tatsächlich so mies? Eigentlich nicht. Er legte für einen Moment die Ohren an, bevor er neben Rin trabte. „Also wirklich, du musst doch keine Angst vor ihm haben“, schalt sie ihn. Minoru achtete nicht auf sie, folgte aber beinahe brav dem Inu no Taishō, der ganz offensichtlich kein Interesse daran hatte, auf sie zu warten und in diesem unwegsamen Gelände ein Tempo vorlegte, bei dem selbst Minoru ein gelassenes Folgen unmöglich gewesen wäre – selbst wenn er darauf verzichtet hätte, direkt neben Rin zu laufen, die zumindest über dieses Verhalten verwundert zu sein schien. „Er hat es ganz schön eilig“, warf Myōga auf Minorus Rücken sitzend schließlich ein. Der Einzige, der mehr als vier Gliedmaßen besaß und nicht einmal eine krumm machte, um vom Fleck zu kommen, klagte. So hatte man das doch gern. Minoru sollte dieser zügige Marsch eigentlich recht sein, immerhin ging er nach Norden. Seine Ignoranz gegenüber Rins zerfetzten Kimono und A-Uns schweren Verletzungen verblüffte jedoch selbst ihn. Er hatte nicht mit viel Reaktion gerechnet, aber das erschien ihm doch ein wenig sehr kalt. Außerdem schien er auf ihre direkte Gesellschaft zu verzichten. Die ausbleibende Rüge und völliges Desinteresse an einer Unterhaltung schienen auch Rin ein wenig zu verwirren. Der Taishō führte sie tiefer ins Gebirge. Es gab keine besonderen Einrichtungen, die eine Grenzlinie markierten. Man wählte meist prägnante, natürliche Grenzen wie einen Fluss oder eine Gebirgskette. Hier ging es aber so fließend von Wald in Hochgebirge über, dass eine genaue Trennung von Nord und West unmöglich auszumachen war. Hatten sie die Grenze bereits überquert? Minoru witterte eine Weile, aber die Gerüche schienen dumpf und verweht. Vermutlich hätte er einfach zufrieden sein sollen, endlich im Norden oder zumindest in der Nähe angekommen zu sein, aber die letzten Tage hatten ihn noch einmal gelehrt, dass man dem Frieden nicht trauen durfte, wenn man kein Freund von ungünstigen Überraschungen war. Nun konnte das Schicksal ihm ja einmal gütig gegenüberstehen, aber welches Schicksal kümmerte sich in den letzten Wochen schon darum, was er wollte? Es kam selten vor, dass ihm Stille bedrückend oder gar bedrohlich vorkam, aber er musste sich eingestehen, dass diese verstörende Szene kaum anders bezeichnet werden konnte. Wie angewurzelt blieb er einen Moment stehen und sah zu Rin empor. Sie wirkte niedergeschlagen. Nicht allzu sehr, vermutlich konnte sie das gar nicht, aber auch ihr war nicht entgangen, dass sie nicht wirklich willkommen schienen, womit sie aber auf eine Art sicher gerechnet haben sollte. Er stupste sie mit der Nase an und preschte ohne Vorwarnung an ihr vorbei. Reflexartig machte sie einen Satz zur Seite und keuchte kurz erschrocken auf, bevor sie sich umwandte, um zu prüfen, ob sie vielleicht angegriffen wurden oder es einen anderen sinnvollen Grund dafür gab, dass er ohne jegliches Vorzeichen vom Fleck weg derart davonsprintete. Es war aber nichts zu sehen. Sie wandte sich erneut nach vorn und starrte Minoru ungläubig an. Er war wie ausgewechselt, tobte über die abschüssige Wiese und benahm sich, wie ein durchgedrehter Welpe. Stob am Fürsten vorbei, der ihm ebenso irritiert nachsah, bremste und kam in großen Sprüngen laut bellend zu Rin zurück. Der weiße Fellball umrundete sie mit massivem Schwanzwedeln seiner aufgerollten Rute, während er sie immer wieder mit der kalten, schwarzen Nase anstieß. Sie musste sogar gänzlich stehen bleiben, um nicht über ihn zu fallen. „Minoru-“, setzte sie an, doch statt sich ihr zuzuwenden, wandte er sich auf der Stelle wieder um und sprintete zu Sesshōmaru zurück, der mit der Situation tatsächlich überfordert schien, schließlich nur prüfend die Augen verengte und sich auch dann nicht bewegte, als der Hund spielerisch springend auf ihn zukam. Der lange, weiße Pelz des Fürsten berührte sacht den Boden. Minoru verzichtete darauf, hineinzubeißen, nur um ihn stattdessen laut bellend zum Spielen aufzufordern. Der Krach, den er dabei veranstaltete war sicher noch in einiger Entfernung gut hörbar, wenn man nicht gerade taub war. Immer wieder sprang er mit den verschlammten Pfoten an der weißen Kleidung des Fürsten empor und Rin konnte das Lachen nicht mehr zurückhalten. Das sah so skurril aus! Er hatte völlig den Verstand verloren! Als Minoru sich mit allen Vieren kräftig vom Boden abstieß und seine gefletschten Zähne im Gesicht seines Gegenübers vergrub, blieb ihr das Lachen allerdings im Hals stecken und wich purem Entsetzen. Er hatte alle Kraft in den Sprung gelegt, biss sich auf der Stelle fest und brachte den Mann tatsächlich zu Fall, presste die Vorderpfoten auf den Hals des Gegners und riss den Kopf hin und her, schmeckte Blut, biss knurrend nach und riss am Fleisch herum, bis die Zähne über Knochen schrappten und sich lange Krallen in ihn gruben. Mit aller Gewalt wurde davongeschleudert und schlug unsanft auf dem harten Boden auf. Blut bedeckte weißen Pelz und weißes Fell. Das Gesicht des Mannes war auf der rechten Seite völlig zerfetzt. Selbst das Auge und Teile der Nase bedeckten die letzten Teile heiler Haut unter Blutströmen. Das Bild flackerte und endlich machte auch Rin lieber zwei Schritte zurück und drückte den Rücken an A-Un. Mit einem Fuchs aufzuwachsen hatte auch seine Vorteile: Man erwartete Gestaltwandel in jeder Ecke und bei jedem Frühstück. Gestaltwandlungen und Illusionen zu erkennen waren Grundvoraussetzung für ein Leben frei von unangenehmen Überraschungen gewesen. Er hatte gelernt seiner Nase zu vertrauen, nicht seinen Augen – und so gut diese Illusionen auch war, sie war für Augen gedacht. Pech für diesen Hochstapler, hinter dem nun die Luft zu schwirren begann. Das also auch eine Täuschung, sieh an. Das Gebiet um sie herum wurde mit einem Schlag ein wenig felsiger, die Luft roch schwach nach Blut, Verwesung und Yōkai. Minoru war sich nun sicher, dass sie den Norden längst betreten hatten. Der sich nun langsam als zierliche, kleine Frau entpuppende Gegner, hätte durchaus hübsch sein können, hätte ihr nicht jemand das Gesicht verstümmelt. Ihr grün-rosafarbener Kimono war blutbesudelt, ihre Mimik drückte nichts weiter aus als blankes Entsetzen und die einst sicher zarte, rosafarbene Blume in ihrem Haar war in einzelnen Blüten auf ihr verteilt. Sie war kaum dazu in der Lage, sich wirklich aufzuregen. „Shunran!“, stellte Myōga auf seiner Schulter erstaunt fest, während ihre Illusion vollständig in sich zusammenbrach und damit einige versteckte Krieger des Panther-Clans zwischen den Felsen enttarnte, die sich fauchend erhoben. In der Nähe antworteten mittlerweile ganze Rudel von Wölfen auf den deutlich hörbaren Zwischenfall. „Dafür bezahlst du, Welpe!“, keifte Shunran, als sie sich annähernd gesammelt hatte. Minoru hatte sich zumindest wieder auf die Beine gehievt und drohend das Fell abgestellt, während sich Rin geistesgegenwärtig auf A-Uns Rücken geschwungen hatte. „Tötet den Köter! Bringt mir das Mädchen!“ Rin hätte mit A-Un fliehen sollen, stattdessen warf sie einen besorgten Blick zu Minoru hinüber. Der schlug einen Haken um zwei Soldaten, die auf ihn zustürmten und zischte zwischen ihren Beinen hindurch. „Dämlicher Mensch! Verschwinde schon!“, fuhr er sie an, aber heraus kam lediglich ein wütendes Bellen, das sie vermutlich niemals verstehen würde. Er zog den Kopf unter dem Katana eines grauen Katers weg, machte einen Satz nach vorn und verbiss sich so tief in dessen Arm, bis der endlich die Waffe fallen ließ. Außer Stande, die Hand willkürlich zu bewegen, schlug er mit der anderen fauchend nach dem Hund, der sein Schwert zwischen den Zähnen hielt. Minoru machte einen Satz zurück, nahm wieder menschlichere Züge an und zog die Waffe zwischen den Kiefern hervor. Um ihn herum hatte sich eine Ansammlung von Soldaten zusammengescharrt wie Krähen um einen Kadaver. Diese Shunran war allerdings nirgends zu sehen, aber er konnte sie wittern. Nicht weit von ihm entfernt lag ihr Blutgeruch schwer in der Luft. Die Waffe drohend erhoben konnte er sich die Soldaten zumindest ein wenig vom Hals halten. Sie zögerten, waren offensichtlich verwirrt, nun plötzlich nicht mehr als einen Jugendlichen vor sich zu haben, wo eben noch ein Hund gestanden hatte, und wagten nicht, einfach durch die Verteidigung zu schlagen. Blieb nur zu hoffen, dass er irgendwie vertuschen konnte, wie wenig er vom Gebrauch dieses übergroßen Messers verstand. Sie drängten ihn mit Lanzen zurück, bis er mit dem Rücken an einen großen Felsen stieß. Wie sehr er eine zum Pazifismus neigende Mutter in diesem Moment gern laut verflucht hätte. Rin trat dem ersten Soldaten, der ihr zu nahe kam, mit voller Wucht ins Gesicht. Sie wollten sie lebend? Das Spiel kannte sie zur Genüge und sie war es leid, mitzuspielen. Flucht kam nicht in Frage. Sie konnte den Jungen unmöglich allein zurücklassen, nachdem sie ihm die Reise überhaupt ermöglicht hatte. Er mochte vielleicht ein kalter, stummer Fisch und nicht gerade der sympathischste Zeitgenosse sein, aber auch kalte Fische waren ihr lebendig lieber. Außerdem stand für sie außer Frage, das Hilfe längst auf dem Weg war. A-Un schlug mit dem Schwanz um sich, gab drohende, ja wütende Geräusche von sich und rammte einen Angreifer mit seinem verletzten Kopf weg. Als Shunran blutüberströmt auf sie zuhielt, ließ Rin sich auf A-Uns anderer Seite ins Gras fallen, steckte eine Hand tief in die Ärmel ihres Kimonos und fischte ein Messer heraus. Sie war lange genug unbewaffnet gewesen und hatte daraus einiges gelernt. Solche kleinen Hilfsmittel waren zwar völlig ohne Nutzen, wenn es um einen Dämon wie Minorus Vater ging, aber in einem heillosen Durcheinander wie diesem leisteten sie gute Dienste, solange man nur wusste wie – und Sango war ihr in solchen Angelegenheiten eine durchaus gute Lehrerin gewesen. Shunran war von A-Un abgewehrt worden, startete aber sofort einen erneuten Angriff und setzte einfach über den Reityōkai hinweg. Ihre Klauen fuhren auf Rin zu, die, durchaus erschrocken schauend, das in der Hand verdrehte Messer auf die Pantherdämonin zufahren ließ, um es ihr über den Handrücken zu ziehen. Die Katze fauchte laut auf, riss verdutzt die Hand zurück und schlug der jungen Frau mit der anderen Hand flach ins Gesicht. Rin wankte, aber Shunran hatte sie schlecht getroffen. Die Dämonin war mit nur einem Auge offensichtlich nicht dazu in der Lage, den Raum wirklich einzuschätzen und eine miserable Kämpferin. Nur zu verständlich, wenn sie sich stets auf ihre Illusionen verließ – und nicht mit Gegenwehr rechnete. „Sieh an, auch ein menschlicher Hund scheint Zähne zu haben“, höhnte sie, aber sie klang längst nicht so erhaben, wie sie es vermutlich beabsichtigt hatte. „Hat er – aber von Zähnen weißt du mehr als ich“, gab Rin erstaunlich niederträchtig zurück. In Shunrans Augen flammte Hass auf, aber ihre gesamte Erscheinung war eher mitleiderregend. Minoru hatte sie schlimm zugerichtet und Rin war sich sicher, dass Shunrans Gesicht sehr wahrscheinlich ebenso gut verheilen würde wie A-Uns fehlendes Ohr – nämlich so ziemlich gar nicht. „Einfältiges Ding! Denkst du wirklich, du könntest dich wehren?“, Shunran packte sie mit einem Griff an der Kehle und stemmte sie ein Stück in die Höhe. „Wenn dein Herr dich heute retten will, ist er verloren! Sobald er nur einen Fuß über die Grenze setzt, wird jeder Yōkai im Land erfahren, dass der Inu no Taishō sich in Kriege einmischt, die ihn nichts angehen und dass er sich mit der bisherigen Erweiterung des Westens nicht zufriedengeben wird!“ Sie grinste, beinahe dreckig, selbstgefällig. „Nicht einmal er kann allein gegen die vereinte Kraft aufgebrachter Daiyōkai bestehen. Und keiner wird Erklärungen hören wollen, keiner wird dir glauben, dass er nur wegen dir gekommen ist. Aber weißt du, was das Beste ist? Im Grunde könnte ich dich gehen lassen. Er braucht gar nicht mehr zu kommen. Du hast uns bereits jemanden mitgebracht, der die Aufdringlichkeit des Westens nur zu gut belegen wird – und für den Dienst braucht er nicht einmal meine Luft zu atmen!“ Sie lachte hell auf. Rin röchelte heftig, als Shunran den Griff um ihre Kehle verstärkte, trat nach ihr, aber damit amüsierte sie die Dämonin nur. A-Un war von weiteren Soldaten umzingelt und stapfte eher verzweifelt mit vollem Gewicht auf der Stelle, um sie von sich fern zu halten. Zu Rin kam er so jedenfalls nicht durch. Takeru war des tatenlosen Herumsitzens überdrüssig. Shunran hatte mitten in der Nacht erneut eine Illusion um das Lager herum hochgezogen, bevor sie mit ihren Truppen aufgebrochen war. Dieser Schutz war eine imposante Mauer ohne Dach. Die Umgebung blieb dieselbe, aber Takeru hatte schnell bemerkt, dass es unmöglich war, durch die Illusionswand hinaus zu sehen. Tag und Nacht wechselten zwar und auch die Wolken zogen direkt über ihnen hinweg, sobald er aber Wolken in der Ferne betrachtete, bewegten sie sich nicht im Geringsten. Vermutlich hätte jeder, der außen am Lager vorbeigegangen wäre, nur die natürliche Umgebung gesehen, die sich an Stelle des Lagers für gewöhnlich befand. Währenddessen war Karan mit einigen wenigen Leuten zurückgeblieben und schien jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Takeri war sich nun sicher, dass sein Rudel nicht allein war. Shunran und Karan verstanden kein Wort von den Gesängen, die die Wölfe jeden Abend in den Himmel entließen. Andernfalls hätte zumindest die hitzköpfige Karan irgendwann einmal Anstoß an den vielen Beleidigungen genommen, die darin mitschwangen. Dass sie die „Miezen" zu den Verrätern ins Ochotskische Meer treiben wollten, konnte nur eine Drohung der Dosanko sein, wie sich die Wölfe von Hokkaidō nannten. Kein anderer Stamm lebte nördlich genug, um seine Abtrünnigen in jenem oftmals zugefrorenen Meer ertränken zu können, außerdem erklärte das nur zu gut, warum er auf seiner Reise keinen ihrer Truppen begegnet war: Sie waren aus dem Norden gekommen und hatten sehr wahrscheinlich die Tsugaru-Straße, eine Meerenge zwischen Honshū und Hokkaidō, durchschwommen, die das Japanische Meer mit dem Pazifischen Ozean verband. Dass sein Vater um diese Unterstützung gebeten hatte, hielt Takeru jedoch für unwahrscheinlich; ebenso wenig seine Mutter. Sie mussten also aus eigenem Antrieb den beschwerlichen Weg auf sich genommen haben – und das sicher nicht für ein herzliches Dankeschön. Takeru hätte auf ihr Rufen gern geantwortet, aber durch seine Barriere drang kein Ton nach außen, obwohl sie selbst für das nervtötende Schnarchen der Panther durchlässig war. Zumindest hatten sie daran gedacht, ihm die Mitteilungsmöglichkeiten zu nehmen, wenn sie schon nicht dazu in der Lage gewesen waren, sich die Kommunikationswege der Wölfe zu Nutzen zu machen. Warum gaben sie sich nicht einmal die Mühe, die Botschaften zu entschlüsseln, die letztlich auch Informationen über Truppenbewegungen beider Seiten enthielten? Einer der Soldaten, bewaffnet mit einem langen Yari und in eine eher schlichte Rüstung gekleidet, kam ins Lager und rief irgendetwas schwer Verständliches. Bevor er die Chance hatte, Karan zu erreichen, hatte sie ihn bereits zu Boden befördert und ein Knie in seinen Rücken gerammt. „Still! Was gibt es Eilendes?“ „Einer der Außenposten meldet Bewegungen an den westlichen Grenzen!“ Karan gab den Kater frei und ließ ihn wieder auf die Beine kommen. Sie sah nicht unzufrieden aus. Takeru zog die Knie noch enger an sich heran und fluchte. Das durfte nicht Minoru sein! Es wäre ein leichtes für sie, ihn zu töten und seine Leiche als Beweis zu präsentieren, dass der Westen sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Dass der Hundefürst ihn vermutlich nicht einmal kannte, konnten sie sogar als Verleugnung auslegen. Takeru schüttelte sich heftig und knirschte mit den Zähnen. Wenn es dazu kommen sollte, war das alles letztlich auf dem ein oder anderen Wege seine Schuld! Als der Boden mit einem Mal heftig erzitterte, wurde er in der eher kugelförmigen Barriere herumgeschleudert. Krached stieß er überall an die unsichtbaren Wände, die ihn nur wieder verbrennend von sich warfen und versuchte verzweifelt, sich am Boden zu halten. Erdbeben waren hier keine Seltenheit, aber gänzlich ohne leichte Vorbeben ging das selten vonstatten. Der Boden des Lagers riss auf, gab einige Blätter frei, die einen Moment in der Luft standen und im nächsten rasiermesserscharf zwischen die Soldaten stoben. Die Erde beruhigte sich langsam. Als Takeru sich mühsam wieder gesammelt hatte, waren das ganze Lager in Aufruhr. Das Fauchen der Soldaten war ein durchdringendes, widerliches Geräusch und auch Karan hatte nun ihre Waffe gezogen und sah sich suchend um. Bevor sie jedoch ein Ziel für ihren Unmut ausmachen konnte, wich sie einem Wirbel ebenso scharfkantiger Blätter aus, die sich erneut todbringend im Lager verteilten. Takeru war zum ersten Mal dankbar, dass er von dieser sonst so verhassten Barriere umgeben war. Karan hatte sich auf die Seite geworfen und war in seiner Nähe gelandet. Schnaubend sah sie aus glühenden, orangefarbenen Augen zu ihm auf, als könne er irgendetwas dafür, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Als er ihre Laune mit einem lächelnden Schulterzucken beantwortete, schien sie beinahe vor Wut Feuer zu fangen. Sobald jedoch die Illusion um sie herum zu wanken begann, wich ihr Zorn purem Entsetzen. Die Wolken in der Ferne machten einen Satz und nahmen ihr natürliches Bewegungsmuster wieder auf. Sie waren dunkel, fast schwarz. Gewitterwolken. Der Wind frischte hart auf und trug den vorher verdeckten Geruch von Wolf durch das Lager. Ein Wirbelsturm fegte zwischen den Soldaten umher und Karan sprang wieder auf die Beine. Sie löste die Barriere um Takeru, packte ihn an der Kehle und riss ihn vor sich zu Boden. „Keinen Schritt weiter!“, keifte sie und richtete ihr Schwert auf seinen Hals. Der Wirbel verflog mit einem Mal, während ein zweiter in einiger Entfernung es ihm gleichtat. Kōga verschränkte die Arme vor der gepanzerten Brust und sah Karan herausfordernd an. Ayame und einige Wölfe hielten eine Handvoll unversehrter Pantherdämonen drohend auf Abstand. „Ihr Fellball spuckenden Kätzchen haltet euch wohl für besonders schlau, nicht wahr?“, spottete sein Vater und Takeru hoffte, dass er einen guten Plan in der Hinterhand hatte, als der kalte Stahl sich enger an seinen Kehlkopf schmiegte. „Eine falsche Bewegung und dein Welpe ist tot! Wo ist meine Schwester?“ „Was interessiert mich, wo sich deine verfluchte Schwester herumtreibt? Töte ihn doch! Was stört es mich?“ Takeru weitete geschockt die Augen und starrte ihn an. Auch Ayame warf nichts Gegenteiliges ein. Er hatte gewusst, dass es durchaus hätte hart werden können, wenn er nach Hause zurückkehrte, aber das war mehr als er ertragen konnte. Er schluckte. „Wenn ich vielleicht auch etwas dazu sagen dürfte-“ „Halt's Maul!“ Die Klinge in Karans Händen zitterte und tanzte über seine Haut. Das Blut rann ihm den Hals hinab, sickerte in feinen Fäden in die Erde. Er biss die Zähne zusammen und zischte wütend. „He, pass auf! Das Ding ist scharf!" Kōgas Arroganz geriet bei dem Anblick allmählich ins Stocken. Er sah von der Pantherdämonin zu Takeru und wurde mit jedem Moment ein wenig blasser. "Takeru... ." „Nein, wie herzzerreißend!“ Karan bleckte die Zähne. „Hast du es endlich begriffen? Das hier ist kein Trick, Kōga! Der Junge war so dumm, uns in die Arme zu laufen. Wollte sich wohl bei Mama und Papa verstecken! Kann er meinetwegen, aber erst gibst du mir meine Schwester unversehrt zurück!" Das silberne Glänzen der Klinge über seiner Kehle entwickelte sich langsam aber sicher zu Takerus ganz persönlichen Albtraum. Die Art, wie sein Vater das Gewicht verlagerte, während seine Kieferknochen wie Mühlsteine aufeinandermahlten, ließ erahnen, dass zumindest der Teil mit 'unversehrt' ein gewisses Problem aufwarf - und das spürte auch Karan, die mit jeder Minute nervöser wurde. Das Verschwinden der Illusion hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Natürlich bedeutete dies, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen sein musste, aber wer verlor deswegen derart die Fassung, dass es an Unzurechnungsfähigkeit grenzte? Als sie Takerus in die Haare griff und ihre Klauen über seine Kopfhaut kratzten, wurde sein Vater von einen Moment auf den anderen ruhig: „Hakkaku, hol Shunran her und bring sie unbeschadet zu ihrer Schwester zurück." Der Ōkami an der Seite des Rudelführers strich sich betreten durch den Nacken: „Aber Kōga, wir haben sie – “ „Er meinte jetzt sofort“, unterbrach ihn Ayame und deutete hinter sich. Hakkaku sah sie einen Moment überfragt an, dann folgte er ihrem Fingerzeig und verließ das Lager eilends. Sie hatten Shunran nicht. Dafür musste Takeru kein Hellseher sein, aber Karan schien sich ganz offensichtlich so sehr an die Hoffnung zu klammern, ihre Schwester könne als Geisel sicher im Austausch gegen ihn zurückerlangt werden, dass sie die klaren Zeichen – und Aussagen – vollkommen ignorierte. Ein Krieg unter so labiler Führung war doch von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Er fing den besorgten Ausdruck seiner Mutter auf. Ihre sonst so strahlenden, grünen Augen waren von Kummer getrübt, als sie sich eng an ihrem Mann hielt. Warum war er bloß so herzlos gewesen und weggelaufen, statt sich mit ihnen auszusprechen? Weil sein Vater so kompromisslos auf sein Recht beharrt hatte? Weil seine Mutter ihm keinen überzeugenden Grund für diese Verlobung wider Willen hatte vorlegen können? Die letzten Monate mussten für sie unerträglich gewesen sein; nicht sicher sein, dass es ihm gut ging, nicht wissen, ob er je zurückkehren würde. Was hatte er ihnen bloß angetan? Minoru hatte letztlich Recht behalten: Er bedeutete seinen Eltern viel. Genug, um seine Mutter beinahe zum Weinen zu bringen. Seine Angst, nach Hause zu gehen, war völlig unbegründet gewesen! Was war er doch für ein vollkommen egozentrischer Idiot! Karans Reaktion auf Shunrans Verbleib schien bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr so abwegig. Er wollte nicht garantieren, dass er nicht auch die Fassung völlig verlor, wenn seinen Eltern etwas zustieß. Sie musste ihrer Schwester näher stehen, als viele andere es in ihren Familien hielten. Er schrie gedehnt auf, als sie ihm die Waffe durch die Schulter trieb und tief in den Boden rammte. „Wo ist sie?!“, keifte Karan die Ōkami an und richtete sich dabei nicht einmal an jemand bestimmten. „Ich schneide euren wertvollen Kleinen in Streifen!“ Als einer ihrer Soldaten sich gegen einen Wolf wenden wollte, der ihn schon eine ganze Weile leise knurrend bedrohte, ließ sie ihren eigenen Mann in Flammen aufgehen. Das Geschrei und der Gestank von verbrennendem Fell waren entsetzlich. Sie drehte an ihrer Waffe herum, bis Takeru nicht mehr wusste, ob die Schulter noch Teil seines Körpers war. Er wand sich gegen seinen Willen und presste den Hinterkopf mit aller Gewalt an den Boden, um sich irgendwie zu sammeln. Karan giftete weiterhin Kōga an und ging nun auch dazu über, Ayame anzuschreien, um sie mit den abwegigsten Schilderungen von Mordgelüsten an ihrem Sohn davon zu überzeugen, wie ernst es ihr mit den Drohungen war. Sie redete sich in Rage, drehte weiter an der Waffe und bemerkte kaum, dass sich hinter ihr etwas drohend aufbaute. Takeru weitete die Augen, als er den Schatten über ihr aufragen sah. Geifer rann aus dem Maul des riesigen Tieres und klatschte Karan auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, blickte erschrocken nach oben und dem gewaltigen Fang entgegen, der über ihr die Zähne bleckte. Das Zusammenschlagen der Kiefer, als sie sich um Karan schlossen, ließ eine Art Schockwelle durch das Lager fegen, die die Verunsicherung des Panther-Clans in pures Entsetzen umwandelte. Sie ergriffen ungeordnet und überstürzt die Flucht, verließen das Lager zu allen Seiten, rannten dabei Zeltschnüre um und fielen über tote Kameraden wie über Stolpersteine. Karans aufgeregtes Geschrei war binnen Sekundenbruchteilen verstummt. Ihr Blut ergoss sich über Takeru, bis der riesige Wolf den leblosen, schlaffen Körper unachtsam zur Seite fallen ließ und zurücktrat. Hakkaku traf etwas abgehetzt an seiner Seite ein und rang um Luft. Ayame ließ sich neben ihrem Sohn fallen und riss die Klinge mit einer Mischung aus Vorsicht und Überstürzung aus seiner Schulter, warf sie weit von sich weg und zog ihn in ihre Arme. Wieder und wieder bedeckte sie sein schwarzes Haar mit Küssen, presste ihm beinahe die Luft aus den Lungen und schien völlig aufgelöst. „Du lebst! Ein Glück, du lebst!“, sie drückte ihre Nase an seine Wange und seufzte tief. „Ich bin so froh... wir sind so froh. Du hast keine Ahnung, wie sehr wir uns gesorgt haben, du...“ Sie nahm ein wenig Abstand zu ihm und sah ihn aus Tränen durchtränkten Augen scharf an. „Wenn du noch einmal einen Fuß aus der Höhle setzt, ohne Bescheid zu geben, dann kannst du was erleben! Hast du mich verstanden?!“ „J... ja“, gab er verdutzt zurück und mit einem Mal kehrte ihr Lächeln wieder. Sie küsste ihn abermals, auf die Stirn, strich ihm durch die Haare und ließ ihn langsam lockerer. „Sie haben gesagt, sie hätten dich gefunden“, meinte sein Vater. Er stand hinter seiner Partnerin, hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und wirkte müde. „Dass sie dich in ihrer Gewalt hätten. Wir haben mit ihnen verhandelt, wollten einige Gebiete an sie abtreten, aber daran schienen sie nur halb interessiert zu sein. Sie hatten dich auch zur Verhandlung mitgebracht, aber es sind und bleiben Katzen. Gestaltwandlern ist nicht zu trauen. Ich dachte nicht, dass du es wirklich warst...“ „Ich war es nicht“, gab Takeru kleinlaut zu und richtete sich langsam wankend auf, als seine Mutter es zuließ. „Ich bin erst seit ein paar Tagen hier. Ich wollte nach Hause. Ich dachte – “ „Was ich sagen wollte“, fuhr sein Vater unbeirrt fort. „Ich dachte, du seist nicht du.“ Takeru sah ihn einen Moment irritiert an, bevor er verstand. Niemand hier wollte ihn wieder fortschicken oder war übermäßig wütend. Bei dem Gedanken, wie wenig er das vermutlich verdient hatte, wurde ihm ganz schlecht und er musste das ungewohnte Stehen nach all den langen Tagen des Kauerns mit einigen Gleichgewichtsproblemen aufrecht halten. Kōga fasste seinen Sohn mit einem harten Griff an der unverletzten Schulter, um ihm ein wenig Halt zu geben, dann legte er doch einen Arm um ihn, zog ihn an sich heran und ließ eine Hand in die dunklen Haaren gleiten, die seinen eigenen so ähnlich waren. „Ich hätte das eben niemals gesagt, wenn ich auch nur einen Moment gedacht hätte, dass du es bist“, erklärte er. „Nie. Wir sind froh, dass du Zuhause bist. Sehr froh. Lass dir so einen Schwachsinn nicht noch einmal einfallen, Zwerg. Beim nächsten Mal komme ich dich holen – und das willst du nicht erleben.“ Takeru ließ sich dankbar an ihn sinken und atmete den wohl bekannten Geruch ein, der ihn endlich wieder umgab. „Ihr habt mir so sehr gefehlt“, gab er kaum hörbar zu. „Ich wollte, ich hätte das nicht getan... es tut mir so unendlich leid...“ „Wir reden später darüber“, meinte Ayame beruhigend. „Nicht hier. Nicht jetzt.“ Kōga nickte und gab Takeru wieder frei. „Nutzen wir die Schwäche der Illusionen aus und treiben sie zurück auf ihr Land“, schlug Takerus Mutter vor und richtete sich wieder auf. „Frieden werden wir mit dem Panther-Clan vermutlich nicht mehr schließen, aber sie haben kein Druckmittel mehr gegen uns in der Hand. Zeigen wir ihnen, was es heißt, in den Bergen ausgeliefert zu sein.“ „Eine gute Idee“, stimmte Kōga zu. „Aber du wirst nicht mitkommen.“ Sie brauste empört auf. „Was?! Warum -?“ „Du bringst Takeru nach Hause“, gab ihr Mann versöhnlich zurück. Ayame beruhigte sich auf der Stelle und sah Kōga eine Weile an. Das Familienleben hatte ihn in einigen Momenten erstaunlich zahm gemacht und sein sonst so hitziges Gemüt gekühlt. Spätestens seitdem Naraku tot und Takeru auf der Welt war, hatte sein einst egozentrisches Wesen begonnen, einen Blick für die Gefühle anderer zu entwickeln. Ayame musste insgeheim murrend zugeben, dass sie das zu einem Großteil auch Kagome zu verdanken hatten. Zwar war Kōga sich als Rudelführer immer seiner Verantwortung gegenüber anderen bewusst gewesen, aber während er versucht hatte, dieser Menschenfrau zu imponieren, hatte sich ein gewisser Altruismus in sein Verhalten geschlichen – wenn auch nur ein kleiner Funken. Sie wusste, dass er sie und den Jungen schützen wollte, wenn er es eben konnte und wollte ihm nach all den grausamen Wochen der Sorge nicht noch mehr davon aufbürden. Also nahm sie sich zusammen. „Pass auf dich auf“, meinte sie lächelnd und wandte sich dann an den übergroßen Wolf. „Nobu-sama, ich danke Euch von Herzen. Kommt bitte auch Ihr unversehrt zurück.“ Der Wolf erhob sich, nahm die Leiche der Pantherdämonin ins Maul und gesellte sich zu Kōga. Neben ihm wirkte Takerus Vater winzig. Das Fell des Wolfes hatte die seltsame Farbe eines dunkleren, in Nebel versinkenden Strandes; sandbraun mit fadem Schleier. Er musterte Takeru aus einem eisig blauen Auge. Das andere war ebenfalls von grauem Nebel durchzogen und glänzte silbrig. Der Junge schauderte und senkte den Blick. Der Mann, Nobu, der sich hinter dieser Daiyōkai-Form verbarg, war der Anführer der Dosanko, des Rudels von Hokkaidō – und noch deutlich mehr als das. Wenn Takeru seinen Eltern nicht Rede und Antwort stehen musste, dann auf jedem Fall ihm. Als der gewaltige Wolf den Kopf herumriss und in die Ferne blickte, fuhr Takeru zusammen. Auch seine Mutter hob den Kopf und horchte. „Was ist los?“, verlangte Takeru zu wissen. Die Erwachsenen hatten offenbar doch ein deutlich feineres Gehör. „Der Hund von vorhin schreit“, sagte seine Mutter ein wenig zerknirscht. Kōga brummte: „Vor einer Weile hat er wie verrückt angeschlagen. Ginta ist mit einigen anderen los, um ihn zu vertreiben. Wir brauchen keine Hilfe von irgendwelchen stinkenden Kötern. Soll er seine Lektion lernen und zurück in den Westen kriechen, wo er hingehört.“ Takeru sackte das Herz um einige Zentimeter ab und er wurde aschfahl. „Ihr dürft ihm nichts tun!“, platzte es auf ihm heraus. Sein Vater sah ihn verständnislos an. „Er ist kein Hund! Na ja, doch. Zum Teil Inu, aber vor allem mein Freund! Er hat mir geraten, nach Hause zu gehen und kommt nur wegen mir her!“ Während Kōga noch einen Moment überlegte, wie er darauf wohl angemessen reagieren sollte, lief Nobu neben ihm bereits los und verließ das Lager mit wenigen Sätzen. Dann nickte Kōga seinem Sohn zu und verschwand, umgeben von einem persönlichen Wirbelsturm. Takeru sah ihm besorgt nach. Es konnte nur Minoru sein. Kein anderer würde sich die Blöße geben, zu bellen und es nicht einmal als solche empfinden. Er hatte die Grenze überschritten – und das konnte mehr Folgen haben, als Takeru sich ausmalen wollte. Kapitel 11: wie eine Flamme im Wind. ------------------------------------ Minoru sah aus den Augenwinkeln, in welche Richtung diese Auseinandersetzung verlief, als Shunran Rin in die Höhe stemmte. Er war verloren, so oder so. Selbst wenn er hier lebend herauskam würde ihm spätestens jetzt der echte Fürst den Garaus machen. Er presste den Rücken an den kalten Stein und knurrte drohend. Davon ließen sich die Panther aber längst nicht mehr beeindrucken. Sie waren zu siebt, einfache Soldaten, die langsam bemerkten, dass neben Rin auch die beiden Yōkai keine ernst zu nehmenden Gegner waren, zumal sie den Jungen durch sein schwaches Yōki erst für einen gewöhnlichen Hund gehalten hatten und es nun schien, als vermeide er eigene Angriffe um jeden Preis. Inuyōkai waren bekannt für offensive und tödliche Techniken – ihm gingen diese Vorzüge ganz offensichtlich ab. Minoru presste die Linke ununterbrochen an seine Seite, die Shunran ihm mit den Krallen perforiert hatte. Das Blut sickerte mittlerweile durch seine Finger und verklebte den Stoff von Tōtōsais dunkelgrünem Yukata. Wie auf ein stummes Kommando beendeten die drei Panther vor ihm ihr ruhiges, aber gehässiges Warten und griffen gemeinsam an. Minoru konnte in der Enge nur dürftig ausweichen, riss das Katana empor und parierte damit zumindest den Schwertangriff über seinem Kopf. Dann ließ er die Klinge des Gegners an seiner Waffe abgleiten und löste in höchstmöglicher Geschwindigkeit die humane Form auf, presste sich an den Boden, um den beiden Lanzen zu entgehen, die auf ihn zufuhren. Die eine verfehlte ihr Ziel, traf klirrend auf den Felsen hinter ihm, während die zweite sich unheilvoll tief in seine Schulter bohrte und den Knochen streifte. Er fiepte kurz auf, schnappte reflexartig nach dem Schaft der Lanze, als er die andere auf sich zustoßen sah. Er ließ sich zur Seite fallen, die Lanze in seiner Schulter riss in seinem Fleisch herum, bevor er sich herauswinden konnte und unbeholfen zwischen die Beine des Schwertkämpfers fiel, der, mittlerweile eher genervt, aus einer anderen Richtung ausholte, um das Schauspiel endlich zu beenden. Minoru versteifte sich vollends und schickte ein Stoßgebet ins Nichts, als in seinen Augenwinkeln dunkle Schatten auftauchten und sich auf die Krieger der Panther stürzten. Schwertkämpfer und Lanzenträger wollten sich gerade überrascht umdrehen, als ein Rudel Wölfe sie unter sich begrub. Minoru wurde von einem im Nacken gepackt und kräftig geschüttelt. Die Haut, die über seinem Schulterblatt spannte, schickte brennenden Wellen durch das gesamte Vorderbein und so sehr er sich auch bemühte, den Wolf abzuschütteln, war er außer Stande mit der verletzten Schulter den nötigen Halt zu gewinnen. Er versuchte den Kopf zu wenden, um ihn am Fell zu erhaschen, aber auch das missglückte kläglich. Zwei der Soldaten versuchten zu fliehen, der Dritte war unter einem Pulk aus Wölfen verschwunden. Großteils waren es gewöhnliche Tiere, nicht einmal Yōkai, aber als agierende Einheit waren sie dennoch brandgefährlich. Der Wolf presste Minoru mit aller Kraft an den Boden und nagelte ihn dort fest. „Ich bin kein Feind!“, gab Minoru zischend zu verstehen. „Lass mich los!“ Rin schrie in der Nähe auf, aber Minoru konnte den Kopf nicht wenden, um nach ihr zu sehen. A-Un hatte einen Soldaten am Arm gepackt und schüttelte die Gliedmaße kräftig, bis diese nachgab. Dann wandte er sich dem Nächsten zu und verschwand aus Minorus Blickfeld. Während die Wölfe sich fletschend zwischen die Soldaten warfen, erschien eine große Anzahl Panther auf der Kuppe. Sie blieben einen Moment stehen, dann stürzten auch sie sich in die Schlacht. Der braune Wolf über ihm knurrte tief, als er die Verstärkung des Gegners bemerkte. „Ich will nur zu Takeru, er –!“ Der Braune versenkte seine Zähne in Minorus angeschlagener Schulter, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er schrie auf, trat nach dem Wolf, aber der biss nur fester zu. Als er dabei den Kopf auch noch seltsam drehte, setzte bei Minoru das klare Denken aus. Sein Yōki reagierte eigenständig auf die bedrohliche Situation und die Schmerzen, versuchte aufzuwallen, riss ihn unfreiwillig in die humane Form, was auch den Wolf zurückzucken ließ. Es wollte weiter hinaus, aber schlug drohend zu ihm zurück, als sei es unglücklich abgeprallt. Er krampfte, rollte Luft schnappend über den Boden und versuchte das Gefühl des Berstens herunterzukämpfen – ohne Erfolg. Der braune Wolf wich vor ihm zurück, wie er es auch vor einem siechenden Tier getan hätte und stürzte nach kurzem Zögern lieber an die Seite seiner Kameraden – sollte sich doch jemand anderes um dieses Ding kümmern. Rin wusste nicht, was ihr lieber war: Die Katzen, die sie zumindest lebend haben wollten oder die Wölfe, die Shunran zugesetzt hatten, bis sie ihre menschliche Gefangene hatte zu Boden fallen lassen. Während sie sich nun vehement gegen die stoischen Tiere zur Wehr setzte, saß Rin auf dem Boden, hörte, die Hand an das Messer geklammert, die leidenden Schreie des Jungen und starrte einem sie umrundenden, besonders struppigen, grauen Exemplar von Wolf in die großen, gelben Augen. Warum unbedingt Wölfe? Konnten es nicht irgendetwas anderes sein – völlig egal was! Der Wolf legte die Ohren an und knurrte, bis ein anderer ihm die Schnauze in die Seite stieß und ihn von ihr wegdrängte. Sie blickte ihnen einen Moment ungläubig nach, dann besann sie sich und versuchte sich zu orientieren. Die eben noch ruhige Senke hatte sich in ein wahres Schlachtfeld verwandelt. Shunran schlug mit bloßen Krallen auf die Wölfe ein, versuchte immer wieder einen Illusionswall aufzubauen, aber er wirkte stets schief und fiel bald in sich zusammen wie ein schlecht angeordnetes Kartenhaus. Rin nutzte die unbewachte Minute, sprang auf und bahnte sich einen Weg zwischen den Felsen hindurch. Minoru klang unerträglich, mittlerweile beinahe nur noch heiser, aber in seiner Nähe war niemand. Shunrans Blut war auf seinem Gesicht bereits getrocknet, aber an seiner Seite sickerte ein hellroter Strom in den Boden. Auch seine Schulter sah böse aus, dennoch war er weit von jeder lebensgefährlichen Verletzung entfernt. Sie ließ sich neben ihm zu Boden fallen, fasste nach seiner unverletzten Schulter, um ihn ruhig zu halten, zog aber sofort die Hand zurück, als er auf die Berührung mit entsetzlichen Fauchen reagierte. Seine Augen glühten in einem vollkommenen Rot, wie sie es schon bei einigen Yōkai gesehen hatte – aber im Gegensatz zu ihnen, schien er darunter zu leiden. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, sah sich zu A-Un um, der sich seinen Weg durch die Soldaten etwas großflächiger bahnen musste, als sie es getan hatte und stand auf, als auf der Kuppe weitere Panther auftauchten. Zu einigen Dutzend standen sie dort, sahen sie einen Moment zögernd auf das Geschehen und wandten sich um, als fühlten sie sich verfolgt. Plötzlich begannen sie schreiend zu rennen und Rin begriff schnell, was sie so verängstigte. Hinter ihnen tauchte ein Luftwirbel auf, der ihr durchaus bekannt war und die Panther vor sich hertrieb. Direkte hinter diesem folgte Rins persönlicher Albtraum – ein Anblick, der ihr den Schrei im Halse gefrieren ließ. Selbst Sesshōmaru-sama wäre diesem Wolf nicht bis an die Schulter gereicht. Es war ein riesiges, sandfarbenes Ungetüm mit zwei Schwänzen. Seelenruhig und still lief er hinter Kōga. Sein Gewicht warf trommelnde Wellen an Rins Zwerchfell, jedes Mal, wenn er einen größeren Satz über Felsen machen musste. In seinem Maul baumelte eine leblose Gestalt zwischen den Zähnen und die Soldaten, die bereits vor ihnen flüchteten, verfielen in Panik, die um sich griff wie ein Lauffeuer. Während Minoru nur noch leise japste und auch das Glühen in seinen Augen verschwand, hoffe Rin, dass sie ihn irgendwie auf A-Uns Rücken schaffen konnte, wenn dieser bei ihnen angelangt war. Doch nicht allen Soldaten stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Ein Paar hatten Rin am Rand bemerkt und sich ihr zugewandt, weiterhin bereit, Shunrans Befehl zu folgen. Rin umklammerte das Messer nur härter und blieb stehen. Wenn es eins gab, das aussichtslos war, dann war es weglaufen und ihnen auch noch den Rücken zuwenden. Die zwei Panther bremsten einige Meter vor ihr scharf ab und weiteten die Augen, bevor ein grüner Lichtblitz sie über der Wiese verteilte. Rin wandte sich erleichtert um und sah in das wenig entzückte Gesicht des Inu no Taishōs, der am restlichen Kampf ganz offensichtlich kein Interesse zeigte und lediglich die junge Frau vor sich mit einem ernsten Blick bedachte. Sie ließ sich von seiner strengen Miene und dem kaum merklichen Vorwurf darin nicht beeindrucken, lief auf ihn zu und umarmte ihn strahlend, wenn auch nur für die Dauer eines Wimpernschlages. Dann gab sie ihn sofort wieder frei, erleichtert, dass er sich nicht anders verhielt also sonst – also gar keine Reaktion zeigte. „Dass wir hier sind ist meine Schuld!“, beteuerte sie als Erstes. „Später“, gab er lediglich zurück, warf dem Jungen zu seinen Füßen einen undefinierbaren Blick zu und machte A-Un mit einer einzelnen Handbewegung den Weg frei. Der Reityōkai kam in angemessenem Tempo auf sie zu und schnaubte angestrengt, während der Fürst mit verengten Augen zusah, wie der Wolf einen leblosen Körper vor Shunran zu Boden warf und sie mit bedrohlichem Knurren darauf hinwies, dass dies nicht ihr Land sei. Die einst schöne und nun seltsame entstellte Pantherdämonin fiel vor dem Leichnam ihrer Schwester auf die Knie und begriff allmählich, dass der Plan von Beginn an vielversprechend, aber von einem viel zu hohen Risiko umsponnen gewesen war. Nicht einmal die nun endlich doch erfolgte Ankunft Sesshōmarus konnte darüber hinwegtäuschen. Selbst wenn die anderen Fürsten den Daiyōkai nun als die Bedrohung wahrnehmen würden, die er tatsächlich darstellte, und ihn aus dem Weg räumten würde dieser Triumph Karan nicht zu ihnen zurückbringen. Niemals wieder. Die Schlacht endete ebenso plötzlich wie sie begonnen hatte und währte nicht einmal eine halbe Stunde. Kōga und seine Wölfe trieben die verbliebenen Panther gen Osten und auch Shunran ergriff die letzte Chance die ihr blieb und floh, ihre Schwester in den Armen, ohne dass eine der vielen Empfindungen wirklich an ihr rührte. Als die Wölfe ringsum ein triumphales Siegesgeheul anstimmten, schepperten die Töne in Minorus Ohren wie ein schlecht geöltes Wagenrad. Wenn das die Unterwelt war, war sie genauso grausam, wie er sie sich vorgestellt hatte: Laut und furchtbar überfüllt. Rin ging erneut neben ihm in die Knie, als langsam wieder Bewegung in ihn kam, hielt sich aber sicherheitshalber etwas auf Abstand. „Bleib noch etwas liegen“, sagte sie sanft. „Keine Eile. Es ist vorbei.“ Die Unterwelt war noch viel grausamer als er geahnt hatte! „Sesshōmaru-sama“, erhob sich eine verzerrt knurrende Stimme und Minoru begann langsam daran zu zweifeln, dass er wirklich tot war. Die Chance, dass auch der Fürst in der Unterwelt herumspazierte war nicht sonderlich hoch. Rin wich zurück und versuchte ihre Angst zu unterdrücken, als dieser Albtraum von einem Wolf sich ihnen näherte und auch noch sprach! Selbst wenn er gemächlich ging, wirkte diese Bestie noch beängstigend bedrohlich. Auch als er im Gehen in einer fließenden Bewegung diese Form aufgab und selbstbewusst auf den Inu no Taishō zusteuerte, löste sich ihre Schockstarre nur unwesentlich. Selbst in seiner menschlichen Form war dieser Yōkai ein Koloss. Mindestens zwei Meter groß und mit erschreckend breiten Schultern ausgestattet, wirkte er eher wie ein Bär als ein Wolf. Er maß die Versammlung vor ihm mit seinem gesunden Auge ruhig, als er aus Höflichkeit mit einigem Abstand Halt machte. Das andere schien milchig trüb und Rin nahm stark an, dass er auf diesem Auge blind war. Sie hatte alte Menschen getroffen, die auf diese Weise ihr Augenlicht einbüßen mussten, aber nie gedacht, dass es auch bei einem Yōkai möglich war. Offensichtlich musste sie ihre Annahmen genauer überdenken. Wenn sie Fieber bekommen konnten, warum dann nicht auch solche Dinge und ganz anderes? Der Mann fuhr sich mit einer Hand durch das kurze, sandfarbene Haar, das, im Gegensatz zu seiner vorherigen Gestalt, jeglichen Graus entbehrte. Nachdem er einige Sekunden die Szene betrachtet und auch Minoru einen schnellen Blick zugeworfen hatte, nickte er Sesshōmaru grüßend zu. „Taishō, es scheint mir, Ihr befindet Euch nicht innerhalb Eurer Grenzen oder habe ich etwas missverstanden?“ „Nobu-sama. Seid Ihr nun Herr im Norden? Reicht Euch diese kalte Insel nicht?“, gab der Fürst kühl, aber ebenso scharf zurück. „Ich habe durchaus ein Interesse daran, dass dieses Land in seiner Gesamtheit bestehen bleibt – und wie Ihr hoffentlich erkennt, ist Kōga gerade anderweitig beschäftigt. Das tut im Grunde aber nichts zur Sache. Ihr solltet nicht hier sein. Wir benötigen Eure Hilfe nicht.“ Rin machte den Mund auf, um ihre Schuld an der Sache darzulegen – dass Sesshōmaru-sama die Grenze sicher nicht überschritten hätte, wenn sie nicht gewesen wäre. Aber als er sie ansah, erschrak sie und schwieg. Er lächelte lediglich gelassen. „Schon gut, Kind. Wir werden keinen unnötigen Streit vom Zaun brechen wegen solcher Kleinigkeiten.“ Dann wandte er sich wieder an Sesshōmaru persönlich. „Ich habe Gerede gehört, aber glauben wollte ich es nicht. Ihr solltet besser auf sie aufpassen, wenn sie Euch am Herzen liegt.“ Ohne eine Reaktion des Fürsten abzuwarten, fiel sein Blick auf Minoru, der sich langsam aufsetzte und begriffen hatte, dass das hier alles zwar auch schrecklich laut und überfüllt, aber noch lange nicht die Unterwelt war. Er hatte überlebt. Wie auch immer er das geschafft hatte. Vermutlich hatte ihn das Glück nicht vollständig verlassen, wobei er nun nicht darüber nachdenken wollte, ob sein Ende nur verschoben worden war. Der Fürst war hier und er sah alles andere als zufrieden aus. Rin lebte, immerhin das, aber was war mit den Panthern? Er sah sich ein wenig irritiert um, aber dort waren nur einige Wölfe, die zwischen den Toten umherstreiften. Der Kampf musste vorbei sein. Er lehnte den Rücken an einen Felsen und atmete einen Moment durch, bevor er den Blick des Mannes bemerkte, der ihn interessiert betrachtete. „Minoru“, sagte er mit einer fürchterlich rauen Stimme. „Ist das dein Name?“ Wer hatte da wieder geplaudert? Wusste denn niemand hier, dass man seinen Namen nicht in alle Welt hinausschrie, damit auch ja jeder beliebige Idiot mit Flüchen nur so um sich werfen konnte? Er brummte leise, dann raffte er sich auf und lehnte abermals den Rücken an den Felsen. Frei stehen wäre nun wirklich noch ein wenig viel verlangt. „Ja“, antwortete er schließlich und versuchte den Fürsten zu ignorieren, der ihm einen scharfen Seitenblick zuwarf. Offensichtlich war eine lebende Rin noch keine Absolution. „Bemerkenswert“, gab der Fremde ein wenig erstaunt zurück. „Ich dachte, du würdest größer, wenn du stehst, aber du bist tatsächlich klein. Wie alt bist du, Junge? Sechzehn?“ Er schwieg eisern und biss die Zähne hart aufeinander, aber der Mann ließ nicht locker, sah ihn abwartend an. „Fünfzehn, schätze ich“, gab er beiläufig zurück, aber er konnte den leicht zerknirschten Unterton nicht unterdrücken. Was sollte dieser Unsinn? Er hatte noch jemandem mit einer so seltsamen Haarfarbe gesehen. Wie reifer Weizen. Sein Brustpanzer war aus eng anliegendem, schwarzen Leder gefertigt und die Schulterplatten aus einem so hellsilbernen Material geschmiedet worden, dass Minoru sich darin hätte spiegeln können, hätte man es nicht mit vielen, verschnörkelten Wirbeln verziert. Über seiner rechten Schulter lag ein dicker, hellbrauner Pelz, der sowohl über seinen Rücken als auch über seine Brust zu verlaufen schien, bevor er sich an seiner linken Seite – von einer großen, runden Brosche gehalten – wieder vereinigte und sich schließlich fächerförmig, das gesamte linke Bein verhüllend, zum Boden erstreckte. Er trug eine weite Hose aus schwarzem Stoff, deren Enden in den seltsamsten Schuhen steckten, die Minoru je gesehen hatte: Stiefel, halbhoch, mit vielen Bändern festgezurrt und offensichtlich aus sehr hartem Leder. All diese Dinge hatte er auch in den Städten der Menschen noch nie auf den Märkten gesehen. Auch die Waffe an seiner Seite, ein Schwert, so breit wie eine aufgefächerte Kinderhand, war ihm gänzlich unbekannt. Es sah nicht einmal wirklich scharf aus, wie ein Katana es stets tat. Nobu grinste beinahe. „Fünfzehn“, wiederholte er belustigt. „Ein Fünfzehnjähriger, der mit bloßen Zähnen das hübsche Gesicht einer Pantherillusionistin in eine Ruine verwandelt und all ihr schönes Blendwerk verpuffen lässt, als habe das Nichts sich dessen bemächtigt. Wir sind dir zu Dank verpflichtet, Minoru. Vor allem dein einfältiger Freund. Es stünde nicht allzu gut um ihn, wenn die Dinge anders verlaufen wären.“ „Wo ist er?“, fragte Minoru ernst. Das Lob in allen Ehren, aber er war nicht gekommen, um etwas Nennenswertes zu tun, sondern alleinig, um Takeru zu folgen, wie er es versprochen hatte. Dass er jemanden dafür angreifen musste, war nicht geplant gewesen und auch alles, was danach gekommen war, war wenig ruhmreich verlaufen. Wären die Wölfe nicht eingeschritten, wäre er mit Sicherheit gestorben. Worin lag dann noch die Begründung für Lob? Es war ihm schlicht nichts anderes übrig geblieben als dieser törichte Angriff, wenn er vermeiden wollte, dass sie in einen Hinterhalt gerieten – und nicht einmal das hatte er wirklich abwenden können. „Zuhause, nehme ich an. Wir haben ihn befreien können und zur Höhle zurückgeschickt. Eigentlich wollten wir diesem forschen Hund eine Lektion erteilen, aber er war sich erstaunlich sicher, dass du es warst, der diesen Lärm veranstaltet hat – und dass du eine Berechtigung hast, hier zu sein.“ Er war also wieder Zuhause. Minoru atmete vor Erleichterung einen Moment auf. Takeru hatte in den stillen Minuten stets unglücklich gewirkt, vor allem, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hatte. Er war nie zufrieden damit gewesen, allein oder mit ihm durch die Weltgeschichte zu ziehen, ganz im Gegensatz zu Minoru. Wenn er nun wieder nach Hause konnte, war das noch tausend Mal besser, als wenn er nur die Unklarheit bereinigt hatte – auch wenn es hieß, dass Minoru bald wieder allein durch die Wälder streifen würde. „Du scheinst erleichtert zu sein“, sagte der Mann nicht unfreundlich, wenn auch mit einem leisen Schnauben. „Wenn er mein Sohn wäre, hätte ich es ihm nicht so leicht gemacht. Aber die Umstände haben seine Eltern weich werden lassen. Hoffen wir, dass er letztlich aus dieser Torheit zumindest eine Lehre ziehen kann.“ „Woher wollt Ihr das alles wissen?“, fragte Minoru plötzlich scharf und ignorierte seine Anmerkung. „Als Shunrans Täuschungen fielen seid Ihr nicht in der Nähe gewesen.“ „Du bist ein ganz schön misstrauischer Bengel, nicht wahr?“, gab sein Gegenüber mit einem ebenso scharfen Ton zurück, aber das Lächeln, das dabei seine schmalen Lippen umspielte, verwirrte Minoru erheblich. „Nun, vielleicht ist das gerade gut. Ein gesundes Misstrauen ist zumindest keine schlechte Eigenschaft. Du bist voll von ihrem Blut und einige Nachrichten sprechen sich bei uns schneller herum, als mir selbst lieb ist. Ich bin kein Panther, wenn du das denkst und ich beabsichtige nicht, dich in irgendeiner Weise zu täuschen. Ich bin nur neugierig.“ „Neugierig?“ Minoru klang unbeeindruckt, aber im Grunde wollte er nichts lieber als fort, ein wenig Ruhe und irgendetwas, um diese widerlichen Schmerzen zu ersticken, die er mit viel Mühe herunter kämpfte. Sein Kopf war immer noch ein wenig benebelt. Dieser plötzliche, fehlgeschlagene Ausbruch seines Yōkis war in mehrfacher Weise überfordernd gewesen und diese Unterhaltung beanspruchte ihn nur noch mehr. Nobu betrachtete ihn einen Moment still, dann nickte er lediglich, was die Frage nicht im Mindesten beantwortete, und wandte sich wieder an den Fürsten, der das Gespräch kommentarlos, aber durchaus aufmerksam verfolgt hatte. „Darf ich Euch bitten, mir zu folgen? Da Ihr uns mit Eurer seltenen Anwesenheit ehrt, wäre es klug, die Gelegenheit zu nutzen und eine gewisse Rücksprache bezüglich der vergangenen Wochen und zukünftiger Absichten zu halten.“ Sesshōmaru musterte den Wolf streng. Dafür, dass Nobu mit seinen Männern lediglich zur Unterstützung der nördlichen Wölfe gekommen war, nahm er die Zügel hart in die Hand. Das war allerdings beim besten Willen nicht das Problem des Westens, sondern einzig und allein Kōgas. Wobei er bezweifeln wollte, dass es jemand wagte, dem letzten Daiyōkai der Ōkami solcherlei Machtspiele zu unterbinden. Rin sah erstaunt auf, als Sesshōmaru nur stumm nickte. Wieso ging er darauf ein? Es war völlig untypisch für ihn, einer solchen Aufforderung nachzukommen, die, auch wenn so bezeichnet, unerhört wenig mit einer Bitte zu tun hatte. „Kommst du zurecht?“, fragte Nobu nun an Minoru gewandt. Der brummte leise und stieß sich mit kalkulierter Vorsicht vom Felsen ab. Dieser Mann hatte vielleicht Nerven. Er würde zwar kaum auf vier Pfoten laufen können, aber seine Beine würden doch hoffentlich ihren Dienst nicht versagen. Musste dieser Fremde so überfürsorglich daherreden? Nobu lächelte matt, während er Minorus wenig erfreute Miene studierte. War er doch ursprünglich davon ausgegangen, an diesem Tag die einmalige Begegnung eines Hundes ohne eine solche Ader machen zu können, musste er diese Vermutung nun revidieren. Ganz offensichtlich schlossen sich atypisches Bellen und Stolz in keinem Moment aus – dieser Junge schien lediglich zu wissen, wann es nötig war, diesen sonst oft so fatalen Stolz für einen Sekundenbruchteil herunterzuschlucken. Durchaus interessant. Vielleicht hatte sich die kleine Reise gen Süden doch mehr gelohnt, als Nobu zunächst angenommen hatte. Kapitel 12: Was in der Kälte zurückbleibt ----------------------------------------- Der Marsch in die Tiefen des Gebirges nahm den ganzen Mittag in Anspruch und erst während die Sonne langsam an einer Bergkuppe entlang strich und das Land mit einem schwachen, orangefarbenen Teppich überzog, stieß auch Kōga wieder zu ihnen. Minoru, der während des gesamten Weges kein Wort verloren hatte, sah einen Moment lang auf. Sein Geruch war dem seines Sohnes erstaunlich ähnlich, aber im Gegensatz zu diesem schien er keinerlei Interesse an einer animalischen Form zu haben. Wobei, wenn er sich das genau überlegte, war Takeru damit zu Anfang auch sehr unbeholfen gewesen. Vermutlich hatte er sie nur angenommen, um mit dem Hund besser ins Gespräch zu kommen und war dann dabei geblieben. Das hätte er doch mal als Entschuldigung für seine lausigen Jagdversuche anbringen können, statt es auf Eis und Schnee zu schieben. Die konnten auch nichts dafür, dass sie kalt waren. „Sind sie fort?“, wollte Nobu wissen. Der schwarzhaarige Anführer des nördlichen Stammes nickte ernst. „Mit eingeklemmten Schwanz geflohen. Wir haben sie über die Grenzen getrieben und es schien nicht, als seien sie daran interessiert, in der nächsten Zeit zurückzukommen. Begraben ist die Angelegenheit damit aber sicher nicht. Nicht nachdem wir – nachdem Ihr diese Furie ins Jenseits geschickt habt.“ „Ich nahm an, das Leben deines Sohnes sei dir dieses unbedeutende Risiko wert. Hast du nicht Hakkaku gesandt, damit ich mich ihrer annehme, Kōga?“ Nobu klang gereizt, aber Kōga verschränkte lediglich die Arme vor der Brust und brummte einen Moment leise. Takerus Vater war ein großgewachsener Mann mit schwarzem Haar und blauen Augen. Seine Rüstung bestand nur aus einem unverzierten Dō, ansonsten trug er lediglich braune Felle, die der Farbe seines Schwanzes entsprachen. Minoru war froh, dass er sich mit einem solchen Pelz nicht herumschlagen musste. Diese Überbleibsel anderer dämonischer Formen waren, wenn er sich so umsah, weit verbreitet und auch sein Vater konnte seine Fuchsform durch die drei Schwänze nie ganz verbergen. Vermutlich sah er darin auch keinen Gewinn. Einer der wenigen Wölfe, ohne ein solch animalisches Anhängsel – wenn man von seinem Pelzgewand absah – war Nobu. Minoru wollte sich den Kopf nicht darüber zerbrechen, aber der Wolf schien sich im Allgemeinen von den anderen abzuheben. Auch sein Gefolge war deutlich größer als Kōgas Wölfe und von keiner einheitlichen Farbe, wie es sonst üblich war. Von schwarz, dunkelgrau über weiß und mit verschiedenen Abzeichen war alles darunter. Auch Kōga schien kein größeres Interesse daran zu haben, mit diesem Mann zu streiten. „Sie ist unabänderlich tot und ich sehe Nichts, das wir uns vorwerfen müssten. Sie sind ohne vorhergehende Provokation oder folgende Begründung eingefallen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Das sollten auch die Panther wissen.“ Nobu gab nur ein Knurren von sich, das allerdings nach einer Zustimmung klang. „Wir unterhalten uns später darüber“, sagte er eine Weile später ruhig und Minoru wurde klar, dass es da ganz offensichtlich mehr zu besprechen gab, als sie offenlegen wollten. Das Gelände wurde unwegsamer, die Wege, die sich zwischen den Berghängen empor schlängelten, schmaler. A-Un hatte bereits Schwierigkeiten, die Schritte so zu setzen, dass er weder in die Schlucht hinabfiel, in der ein reißender Gebirgsfluss rauschte, noch mit der anderen Seite an der steinernen Wand entlang schrappte. Rin, die schon seit Stunden kein Wort mehr verloren hatte, krallte sich an den Sattel, als hielte er ihre Welt zusammen. Beide ihrer Beine baumelten frei über der Schlucht, aber das schien ihr deutlich weniger auszumachen, als der wolfbelastete Gruppenanteil. Sesshōmaru ging vor seinem Reityōkai, während Minoru, der sich während der ganzen Wanderung zwischen den beiden Gruppen gehalten hatte, nichts anderes übrig geblieben war, als wiederum vor dem Fürsten zu laufen. Als ob das Gehen ohne dieses dumpfe Gefühl von Bedrohung nicht schon anstrengend genug gewesen wäre! Seine Schulter war dabei gar nicht das Problem. Die brannte zwar höllisch und pochte zeitgleich dumpf vor sich hin, aber solange Minoru sie einigermaßen ruhig hielt, war es aushaltbar. Viel schlimmer war diese getrübte Wahrnehmung und der unsichere Stand. Der Reis bei Tōtōsai schien Wochen her, dabei war es erst am Vortag gewesen. Das mochte aber auch daran liegen, dass er die letzte, anständige Mahlzeit noch mit Takeru gemeinsam eingenommen hatte und das lag nun wirklich eine ganze Weile zurück. In solchen Momenten bemerkte selbst er, dass er etwas mehr auf sich achten sollte, gerade weil er bei seiner Nahrungsaufnahme noch einen gewissen Einfluss hatte, der sich ihm in vielen anderen Situationen in nahezu lächerlichem Ausmaß entzog. Je länger sie liefen, desto mehr Wölfe schlossen sich ihnen an und fügten sich in die lange Prozession ein. Ihre Stimmen hallten von den Steilwänden in einem einzigen, lauten Echo wider. Minoru bemühte sich, das möglichst auszublenden, um sich auf den unwegsamen Boden zu konzentrieren, den er barfuß bestritt. Langsam war er jedoch wirklich am Ende und atmete innerlich auf, als der Weg endlich wieder breiter wurde und er zumindest nicht mehr fürchten musste, einen einzigen Wimpernschlag später in den kalten Fluten unterhalb zu schwimmen. Als er von hinten an der Hüfte gepackt wurde und den Boden unter den Füßen verlor, wollte er sich augenblicklich zur Wehr setzen, bevor er erschrocken erstarrte. „Ruhe“, verlangte der Taishō ernst, als er ihn neben Rin auf A-Uns Rücken platzierte. Minoru starrte ihm perplex in die Augen, was, wie er durchaus wusste, fernab jeder Höflichkeit war. Aber das ging so gegen alles, was er erwartet hatte, dass er zu keiner anderen Reaktion fähig war. Der Fürst setzte seinen Weg fort, als sei nichts gewesen. „Danke, Minoru“, meinte Rin neben ihm leise und er wandte sich ihr zu ihrer eigenen Überraschung zu, nachdem er einige Sekunden wie gebannt ins Leere gestarrt hatte. „Ich bin so froh gewesen, dass wir angekommen waren.. es war mein Fehler... ich hätte vermutlich nie vorschlagen sollen, dass wir hier her gehen. Ist es sehr schlimm? Deine Schulter?“ Er atmete durch und schüttelte ein wenig den Kopf. Eigentlich war es schlimm genug, aber er lebte und das würde verheilen. Wie alles. Körper verheilten meist gut, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen. „Du warst eben... ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll – “, setzte sie an. „Ich auch nicht“, gab er schlicht zurück und wandte sich wieder ab. Das war mehr Aussage, als sie sich erhofft und mehr ehrliche Aufmerksamkeit als er ihr in den letzten Tagen geschenkt hatte und sie musste sich wohl damit zufrieden geben. Minoru hingegen starrte vor sich hin und gab sich endgültig geschlagen. Er hatte keine Kraft mehr sich dieser Umwelt zu verwehren und auch keine Nerven dafür übrig, um sich damit zu befassen, wie er aus dieser Lage heil wieder heraus kam. War es so schwer, Herr über sein Leben zu sein? Wurde man letztlich doch nur durch das Einwirken Anderer herumgeworfen, als befinde man sich auf einem einsamen Boot, fernab der Küste, dem nichts anderes übrig blieb, als sich dem stürmischen Wellengang ein ums andere Mal zu beugen? Nicht alle hatten die Freude über seine Wiederkunft so offenherzig gezeigt wie seine Eltern. Als Takeru mit seiner Mutter Zuhause angekommen war, hatten einige verbliebene Rudelmitglieder ihm vernichtende Blicke zugeworfen. Diese waren verhältnismäßig schnell wieder verschwunden, als seine Mutter ihm versöhnlich einen Arm um die Schultern gelegt und ihn ohne weitere Erläuterungen an ihnen vorbei in die Tiefen des Berges geführt hatte. Bis er jedoch das Ansehen zurückerlangte, das er vor seinen Eskapaden allein aufgrund seiner Geburt innegehalten hatte, würde lange Zeit vergehen – und es würde mit Sicherheit einiges an Geduld kosten. Yōkai neigten nicht dazu, schnell zu vergessen oder gar zu vergeben und das Rudel stellte dabei keine Ausnahme dar. Die Einzigen, die sich ohne Zurückhaltung um ihn herum gebalgt und sich vor Freude beinahe überschlagen hatten, als begrüßten sie einen lang verschollenen Bruder, waren die gewöhnlichen Wölfe gewesen. Takeru war beruhigt, dass zumindest sie ihm nichts nachtrugen, auch wenn er wusste, dass er dies durchaus verdient hatte. Umso geschockter war er gewesen, als er die Gesichter der Dosanko gesehen hatte, die sich in den tieferen Höhlenabschnitte lagerten. Nobu hatte nicht nur seine Krieger, sondern auch einen nicht unbeachtlichen Teil seines Hofstaates über die Meerenge gebracht. Vorwiegend Frauen und Junge, deren hasserfüllte Blicke ihn auch dann noch fixierten, als seine Mutter es mit einem leisen Knurren zu unterbinden gesucht hatte. „Sie würden es vorziehen, mich in Stücken zu sehen“, meinte er schließlich halblaut, als sie auf dem Nachtlager angekommen waren, dass er mit seiner Familie teilte. Die Felle waren weich und einladend wie immer, aber er wagte beinahe nicht, sich auf ihnen niederzulassen, bis Ayame ihn neben sich zog und leise seufzte. „Du hast sie beleidigt, als du gegangen bist“, erklärte sie ruhig. „Du musst versuchen, ihr Vertrauen zurückzugewinnen, zumal dir Nobu-sama zu allem Überfluss nun auch noch dein Leben gerettet hat. Es wird nicht einfach werden, aber je mehr du dich jetzt einschüchtern lässt, desto aussichtsloser wird die Situation. Die Dosanko sind ein nahezu bedauernswert stolzes Rudel, aber im Allgemeinen sind sie gerecht. Die Sache zu bereinigen ist nicht unmöglich. Nobu-sama hat diese Allianz noch nicht aufgegeben, sonst wäre er uns nicht so schnell zu Hilfe gekommen.“ Takeru seufzte lang und ließ die Schultern hängen. Sein schwarzes, rückenlanges Haar war über die Monate ein wenig verfilzt und auch seine kastanienbraunen Felle hatten unter der Witterung gelitten. Es tat so gut endlich Zuhause zu sein, auch wenn die Aussicht auf jahrelange Wiedergutmachung einen äußerst bitteren Beigeschmack hatte. Nobu mochte gerecht sein, aber welcher Vater nahm die offene Ablehnung gegenüber seiner einzigen Tochter gleichgültig hin? „Sie ist hier, oder?“, fragte er kleinlaut und seine Mutter verzog das Gesicht, dann nickte sie. „Hasst sie mich auch?“ „Weißt du, wenn jemand wegliefe, weil er mir versprochen wurde, wäre ich sehr verletzt“, meinte Ayame ernst und ihr Sohn ließ den Kopf beschämt sinken. Er hatte insgeheim gehofft, sie beziehe sein Handeln nicht auf ihre Person, aber welche Frau tat das schon? „Ihr seid jung. Selbst wenn sie dich nun hasst, wird sich das bestimmt geben. Ich war auch nicht glücklich, als dein Vater mich hat abblitzen lassen.“ Takeru riss ungläubig den Kopf hoch. „Er hat was?!“ „Er hat mir versprochen, dass er mich heiraten würde. Damals war ich noch sehr jung. Als ich dies dann später eingefordert habe, hatte er es schlicht vergessen und als er sich erinnern konnte, hat er auch nicht gerade vor Freude gejauchzt.“ Er fühlte sich wie aus allen Wolken gerissen. Gerade seine Eltern, die sich noch so neckisch angehen konnten und stets wieder vertrugen, sollten ein Problem bei der Eheschließung gehabt haben? Davon ab, dass er sich die beiden kaum unverheiratet vorstellen konnte, passte das gar nicht in das Bild, dass er von ihnen hatte. Er starrte seine Mutter vor Verwunderung an, die ein wenig beschämt heruntersah und mit Zeigefinger einige stets verstreichende Kreise in das Fell vor sich malte. „Wir hätten offener zur dir sein und dir solche Dinge gleich erzählen sollen. Keiner von uns hatte damit gerechnet, dass du nach diesem Streit einfach so verschwindest.“ Sie biss sich ein wenig auf die Unterlippe und schluckte. „Vielleicht war das auch alles ein einziger, großer Fehler. Wir waren davon überzeugt, es sei sicherer für dich... sicherer für uns alle. Aber letztlich hat dich das beinahe umgebracht. Hättest du sie erst kennen gelernt... hättest du die Wahl gehabt... .“ „Kaa-san...“ Sie sah erstaunt auf. Er klang niedergeschlagen, längst nicht mehr so wütend über dieses Thema wie er es noch vor einigen Monaten gewesen war, als sich Ginta verquatscht und die Verlobung ungewollt publik gemacht hatte. Aber so gern sie Ginta damals auch dafür im Fluss ertränkt hätte, so genau wusste sie mittlerweile, dass nur Kōga und sie dafür die Verantwortung trugen. Sie hätten Nobus Anfrage damals höflich auf die lange Bank schieben und sich sicher darauf einigen können, Takeru eine Weile zu ihm zu schicken. Eine Zeit der Ausbildung bei den Dosanko war erstrebenswert und vielleicht hätte sich die ganze Situation in Wohlgefallen aufgelöst, wenn er die Chance gehabt hätte, Yumiko von sich aus kennen zu lernen. Alles wäre besser gewesen als das hier. Dennoch schien seine Wut in den letzten Monaten schier verpufft zu sein. Ja, sie erkannte ihn kaum wieder, so sorgenvoll wie er sie ansah. Ayame lächelte ein wenig gequält und blickte so aufmunternd, wie es ihr in dem Moment möglich war. „Es wird alles wieder gut“, versprach sie ihm. „Versprich nur nicht, was du nicht halten kannst.“ Er stockte. „Aber ich muss doch – .“ Sie unterbrach seine Äußerung mit einem strengen, vielsagenden Blick und sah dann wieder weg, als sei das Thema für sie beendet. Takeru zuckte einen Moment zurück. Wollte sie andeuten, dass er noch die Wahl hatte? Zur Zeit gingen ohnehin alle davon aus, dass er Yumiko nicht heiraten wollte, seine Eltern aber für ihr Wort einstanden. Würde er damit nicht die Glaubwürdigkeit seiner Eltern in den Dreck ziehen oder legte seine Mutter es gerade darauf an? Er verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber er traute sich auch nicht, genauer nachzufragen. Stattdessen atmete er einen kurzen Moment lang durch und griff etwas auf, das beinahe genauso sehr an ihm nagte: „Aber er hat dich noch freiwillig geheiratet?“ „Erst als Naraku endlich aus der Welt gebannt und sein Rudel gerächt war, hat er eingewilligt“, erklärte sie leise. „Heute sagt er selbst, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist. Er ist glücklich mit den Dingen, wie sie sind. Mit dem Rudel, mit mir und vor allem mit dir. So ganz wohl hat er sich damals bei der Hochzeit noch nicht gefühlt, aber er ist kein Mann, der sein Wort bricht – solange es in seiner Macht steht.“ Sie lächelte wieder, als sie an ihren Mann dachte, der, neben der Tatsache, dass er zunächst diese Menschenfrau hatte heiraten wollen, vermutlich gefürchtet hatte, unter femininer Kontrolle zu stehen. Aber sie war in der Lage, ihn subtil dahin zu bewegen, wo sie ihn haben wollte, ohne ihn groß spüren zu lassen, dass er oftmals eher tat, was sie wollte, als das, was er beabsichtigt hatte. Seine Ängste waren also nicht ganz unbegründet gewesen, aber das neue Familienleben stand dem Rudelführer nicht schlecht zu Gesicht und hatte ihn durchaus ein wenig auf den Boden geholt. Wenn sie so darüber nachdachte, hätte das einigen anderen auch gut getan. Aber wo sie gerade bei Beeinflussung war... „Du sagtest, ein Hund hat dich veranlasst nach Hause zu kommen?“, fragte sie neugierig und Takeru sah auf. Sie kannte ihren Sohn gut genug um zu wissen, dass er nicht viel weniger Sturheit besaß als ihr Ehemann und sich selten einen Rat wirklich zu Herzen nahm. Umso erstaunlicher, dass er es freiwillig zugab, wenn auch in einer, zugegeben, prekären Situation. „Wir haben den Winter zusammen verbracht“, begann Takeru. Die Einzelheiten und wie er von diesem sonst so kampfesscheuen Hund Prügel bezogen hatte, wollte er seiner Mutter lieber nicht darlegen. „Ich wollte schon viel eher nach Hause, aber als dann die Kämpfe ausbrachen und wir davon hörten.. ich kam mir vor wie der letzte Verräter. Hunderte Kilometer weit entfernt in Sicherheit, während alle die ich kenne, in diesen Bergen an Boden verlieren... . Er wusste, dass ich unbedingt hierher wollte, aber befürchtete, ihr könntet mich abweisen. Ich glaube, deswegen ist er mitgekommen.“ „Weil du Angst hattest?“, erkundigte sie sich sanft. „Damit ich nicht allein bin, wenn ihr mich wirklich fort jagt“, meinte Takeru zögerlich. „Es ist schwer, ihn einzuschätzen. Vielleicht hat er es auch nicht für mich getan, sondern weil er selbst einfach nur nicht allein sein will. Ich weiß es nicht genau. Wir haben uns einige Tagesmärsche entfernt getrennt, damit ich schneller voran komme, aber ich schätze, dass das eine ziemlich miese Idee gewesen ist. Er hat mir versprochen, nachzukommen und das hat er offensichtlich getan.“ Ayame lehnte sich zu ihm hinüber und griff fest nach seinen Händen. „Versprich mir, dass du nie wieder Angst haben wirst, nach Hause zu kommen. Dafür wird es keinen Grund geben.. . Du solltest dich jetzt eine Weile ausruhen. Ich bin sicher, dass die anderen bald zurück sein werden.“ „Ihr kämpft doch schon seit Wochen...“, warf ihr Sohn ein. „Wie kannst du dir so sicher sein?“ „Weil du wieder Zuhause bist und wir uns nun nicht mehr zurück halten müssen“, erklärte sie leichthin. „Außerdem weiß jeder, wie nahe sich die Panther-Devas stehen. Dass Karan tot ist, wird sie eine Weile außer Gefecht setzen.“ Oder sie Rot sehen lassen, dachte Takeru ernst. Karan war nur eine von vier Geschwistern gewesen und die Panther-Devas, wie sie ihn ihrer Gesamtheit hießen, galten seit dem Tod ihres Generals Tadahisa als die stärksten Krieger ihres Clan. Neben ihr und Shunran hatte er aber niemanden sonst gesehen, der sich von den üblichen Soldaten abhob. Ayame ließ sie ihn für eine Weile allein, auch wenn sie sich bewusst nicht weit von ihm entfernte. Er fiel nach einer Weile in einen leichten Schlaf und erwachte sofort, als die Rufe des heimkehrenden Rudels an den Wänden der Höhle gebrochen wurden. Als sie schließlich im Halbdunkeln vor dem großen, rund ausgeschlagenen Höhleneingang ankamen, begrüßten sich die Ōkami überschwänglich untereinander. Minoru ließ sich von A-Un gleiten, der auch daraufhin weiter unbeirrt Sesshōmaru nachlief, und hatte kaum den Boden berührt, als ein bekannter Geruch abermals seine Aufmerksamkeit erregte. Er hob den Blick, als ein schwarzhaariger Junge, der mindestens einen Kopf größer war als er selbst, ihn aufmerksam betrachtete. Über seiner Brust trug er zwei überkreuzte Lederriemen, die über seine Schultern verliefen und mittig von einem beträchtlich großen Zahn zusammen gehalten wurden. Ein brauner Pelz, der am oben liegenden Riemen befestigt war, verlief mit diesem über seine rechte Schulter, seinen Rücken hinab und endete kurz bevor er auf seiner Brust wieder sichtbar geworden wäre. Auch der Pelz an der Hüfte wurde mit einem solchen Band gehalten, an dem ein Katana mit dunkelrotem Griff und nebelgrauer Scheide hing. Ein Lächeln huschte über Takerus Lippen und Minoru erstarrte zur Salzsäule, als er geradewegs auf ihn zukam und ihn ohne zu Zögern in die Arme schloss. Er biss die Zähne zusammen und verkrampfte ein wenig. „Ich bin so erleichtert! Du bist gekommen.“ „Und du zerstörst meine Schulter, du Esel“, gab Minoru zurück und schob ihn mit der Linken ein wenig von sich. Er erschauderte am ganzen Körper, kam aber nicht umhin, innerlich ein wenig aufzuatmen. Takeru schien den Weg ohne größere Verletzungen überstanden zu haben – ganz im Gegensatz zu ihm. Der junge Wolf nahm etwas Abstand und sah besorgt auf ihn herab. „Siehst du schlimm aus...“, sagte er ernst und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Du bist so kahl sicher auch keine Schönheit“, gab Minoru kühl zurück, aber ein dreckiges Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. Er hatte Takeru bisher noch nie in dieser Form gesehen und nicht erwartet, dass dieser beinahe einen Kopf größer war. Sicher, er war ein paar kaum nennenswerte Jahre älter, aber machte das tatsächlich so viel aus? Takeru blinzelte einen Moment und begriff erst dann, was Minoru meinte. „Ich wollte gar nicht sagen, dass du allgemein schlecht aussiehst!“, protestierte er. „Du bist ganz hager und blass! Sonst verwunderst du mich ein wenig... ich hatte einen plumperen.. na ja, Bauern erwartet.“ Minoru zog eine Braue hoch und hatte ihm im nächsten Moment die Faust über den Kopf gezogen. „Ahh! Bist du bescheuert?!“ „Wenn ich schon Kopf und Kragen für dich riskiere, könntest du zumindest so tun, als wolltest du mir Honig ums Maul schmieren, Wolf!“, Minoru rieb sich die Hand und sah ihn brummend an. „Manchmal denke ich, du bist noch unverschämter als ich es je sein könnte.“ „Unverschämter?? Du schlägst mich vor allem Leuten!“ „Denk ja nicht, ich fasse dich jetzt mit Samthandschuhen an, nur weil alle hier ihren kleinen Prinzen preisen.“ Minoru meinte das zwar nicht halb so ernst, wie er es sagte und das wusste Takeru nur zu gut, aber einige Wölfe hatten ihnen dennoch aufmerksam den Kopf zugewandt und die Ohren aufgestellt. Takeru wedelte ein wenig mit der Hand und sie zogen augenblicklich von dannen. Aus den Augenwinkeln beobachtete der Ōkami den Reityōkai, der sich mit dem Fürsten und Rin an die Seite des regen Treibens verzogen hatte. Sein Blick streifte ebenso den Taishō wie seine menschliche Begleitung. Als er sich wieder an Minoru wandte, standen ihm die Fragen ins Gesicht geschrieben: „Ich will nicht wissen, warum er hier ist, oder?“ „Sie wollen sich beraten. Mehr weiß ich auch nicht“, antwortete Minoru und bemerkte, dass Rin ihn unverhohlen anstarrte. „Du hast die Grenze überquert..“ „Natürlich habe ich die Grenze überquert. Habe ich etwa schon zu stark zugeschlagen? Um in den Norden zu kommen, muss man ein, zwei Grenzen überqueren.“ „Du verstehst mich nicht.. das könnte mehr Ärger geben, als du ahnst, ich – .“ „Takeru, stell uns doch deinen Freund vor.“ Er wurde eine Sekunde lang steif, bevor er sich zu seiner Mutter umwandte und sich sichtlich entspannte. „Natürlich. Minoru, das ist meine Mutter Ayame.“ Die Ōkami war zierlich und hatte die grünen Augen ihres Sohnes. Ihr zu zwei Zöpfen hochgebundenes Haar war von einem erstaunlich leuchtenden Rotbraun und der Pelzüberwurf, den sie mit einer Kette aus grünen, zahnförmigen Perlen vor dem Hals verschlossen hielt, fiel ihr weiß-grau über den Rücken herab. Wie die Männer trug sie Dō und Katana. Eine Frau mit Waffe? Seine Mutter hätte den entsetzten Gesichtsausdruck tagelang nicht aus der Mimik verbannen können. „Ayame-sama“, sagte er begrüßend und machte eine leichte, aber sehr anständige Verbeugung, die in etwa den Ausdruck in Takerus Gesicht zauberte, den er gerade noch seiner Mutter zugeschrieben hatte. „Es freut mich sehr, Minoru. Aber, bitte, 'Ayame' reicht völlig aus. Ich bin dir sehr dankbar, dass du meinen Sohn ermutigt hast, nach Hause zu kommen – und wenn ich das bisher richtig verstanden habe, warst du auch sonst nicht untätig. Fühl dich bitte wie Zuhause und scheu dich nicht, zu fragen, wenn dir etwas fehlt.“ „Vielen Dank“, gab er ruhig zurück und während sie noch lächelte, wandte sie sich an Takeru. „Dein Vater will sich noch mit Nobu-sama und dem Inu no Taishō zusammensetzen. Ich bin mir sicher, dass er danach zu dir kommt. Bis dahin kannst du Minoru alles zeigen, wenn du möchtest. Aber bleibt in Rufweite!“ Die letzte Anweisung kam so bissig, dass Minoru sich sicher war, dass diese sonst so freundlich scheinende Frau auch ganz andere Saiten aufziehen konnte. Sie warf ihm noch einen heiteren Blick zu, dann war sie auch schon wieder fort, um sich um andere Dinge zu kümmern. Bei so vielen Mitgliedern in diesem Rudel war das sicher keine leichte Aufgabe. „Möchtest du wirklich noch etwas sehen?“, fragte Takeru vorsichtig. „Eine Sache höchstens“, gab Minoru erschöpft zurück und Takeru lächelte. „Das dachte ich mir“, meinte er und ging voran, um ihm zum Lager seiner Familie zu führen. Dort war es immerhin verhältnismäßig leise, auch wenn Takeru schon ahnte, dass dieses bunte Treiben des Rudels Minoru nur allzu bald gegen den Strich gehen würde. Insgeheim war er froh, dass diese ominöse Besprechung noch im Raum stand. Er konnte sich zwar nichts Schöneres vorstellen, als sich nun endlich auch mit seinem Vater auszusprechen und wieder neben seinen Eltern auf den Fellen zu schlafen – ohne Sorgen, was der Morgen bringt –, aber er war sehr dankbar dafür, dass er nun zumindest Nobu nicht über den Weg laufen konnte, denn der war, ebenso wie Sesshōmaru, schon mit Kōga von der Bildfläche verschwunden. Kapitel 13: ist nichts als die ziellose Suche --------------------------------------------- Minoru hatte sich erschöpft auf den Fellen zusammen gerollt und war binnen weniger Minuten tief eingeschlafen, nachdem er eine Behandlung durch einen Heiler des Stammes verweigert hatte. Takeru hätte ihn gern über die Problematik des Grenzübertrittes aufgeklärt, aber das hatte sicherlich auch bis zum nächsten Morgen Zeit. Das weiße Fell des Hundes hob sich gleichmäßig neben ihm und manchmal zuckte er im Schlaf heftig zusammen, bevor er wieder in seinen ruhigen Rhythmus verfiel. Takeru seufzte leise. Minoru hatte die ganzen Monate gewirkt, als habe er für alles einen zweiten und dritten Plan in der Hinterhand, als könne ihn nichts überraschen und die Welt wäre ein langweiliges, vorhersehbares Gespiel aus Wetter und Eindrücken. Nicht einmal die Nachricht vom Krieg und dorthin zu ziehen hatte ihn äußerlich beunruhigt. Takeru konnte nicht glauben, dass das alles nichts weiter als Fassade gewesen war, aber ihn zu sehen, in seiner menschlichen Form, hatte ihn durchaus beunruhigt und auch ein wenig mit der Realität konfrontiert. Er hatte die ganzen Monate über einen nicht geringen Respekt gegenüber einem Jungen entwickelt, der ihm gerade einmal über die Schulter reichte. Auch Takeru war nicht entgangen, dass das Yōki des Weißen kaum ausgeprägt gewesen war, aber solange es nur darum ging, draußen allein zu überleben, hatte er das gut kompensieren können. Wäre Minoru ein Wolf gewesen und mit ihm zusammen hier aufgewachsen, hätte Takeru ihn vermutlich für seinen Hochmut bei so begrenzten Voraussetzungen belächelt. Doch in hündischer Gestalt war das gar nicht so immens aufgefallen wie eben vor dem Eingang. Erschreckend hager und abgekämpft hatte er in dem viel zu weiten Yukata ausgesehen; kreidebleich, wobei seine weißen Haare den Gesamteindruck nur unterstrichen. Wo er nicht blutleer aussah, hatte er tiefe Wunden. Im Kampf musste ihm jemand die Krallen durch das Gesicht gezogen haben, so tief, dass es nun noch im Fell sichtbar war. Er lag auf seiner unverletzten Schulter. Die andere sah aus, als habe sie ihm jemand vom Leib reißen wollen: Das Fell über dem Schulterblatt war nur noch in Fetzen vorhanden, Haut und Muskel darunter mit tiefen Wunden übersät. Immerhin blutete nichts mehr. Takeru ließ sich neben ihm auf die Felle sinken und starrte abwesend auf seine im Schlaf zuckenden, weißen Ohren. Wenn er Minoru nicht getroffen hätte, sähe er nun sicher nicht viel besser aus und auch für ihn schien es nicht die beste Lösung, irgendwann wieder allein loszuziehen. War es denkbar, dass er hier bei ihm bleiben konnte? Sicher, er war kein Ōkami, aber hatte seine Mutter nicht bereits gesagt, er solle sich wie Zuhause fühlen? Die Schwierigkeit würde sicher nicht, seine Eltern dazu zu überreden, sondern viel eher, diesen Köter davon zu überzeugen, dass er hier viel sicherer war – und wenn Takeru ehrlich war, wollte er auch gar nicht mehr, dass er ging. Auch wenn er ein respektloser Haufen kalten, weißen Fells war, so wollte er ihn doch nicht mehr missen. Als Minoru aufwachte, war er zunächst verwirrt. Für gewöhnlich sah er die ersten Sonnenstrahlen, wenn er die Augen aufschlug, aber hier war es schlicht stockfinster. Hinter ihm atmete jemand kaum hörbar, aber der bekannte Geruch beruhigte ihn. Wenn es nicht die Sonne war, die ihn geweckt hatte, was dann? Er witterte noch einen Moment, bis er die Ohren anlegte und in der Dunkelheit etwas zu erkennen versuchte. „Friede, Inu“, flüsterte eine Frauenstimme beruhigend. „Mein Vater wünscht dich zu sehen.“ Minoru hob den Kopf und streckte die Glieder einen Moment von sich, wobei er den rechten Arm ausließ und erhob sich auf zwei Beine. „Wer?“, fragte er, aber sie lief offenbar schon davon. Minoru knurrte leise, ließ die humane Hülle wieder von sich abfallen, wie einen alten Umhang und legte den Kopf zurück in das Fell am Boden. Er würde sicher keiner ominösen Frau durch eine dunkle Höhle folgen, die er nicht kannte, um einen Mann zu treffen, der nach ihm verlangte, aber offenbar nicht in der Lage war, dabei seinen Namen zu übermitteln. Er wusste, dass er sich damit nicht unbedingt Freunde machte, aber er hatte auch keine Lust auf Hinterhältigkeiten irgendeiner anderen Art – also döste er wieder ein. Als er zum zweiten Mal erwachte, war Takeru bereits auf den Beinen und sah auf ihn hinunter. „Konntest du dich etwas ausruhen?“, erkundigte er sich und Minoru nickte langsam, bevor er gedehnt gähnte. „Hand vor den Mund“, mahnte Takeru ihn scherzhaft und Minoru wischte ihm mit der weißen Rute durch das grinsende Gesicht, als er sich erhob. So ein Witzbold – und das am frühen Morgen. „Ich könnte dir nun alles zeigen, wenn du möchtest.“ Minoru musterte ihn einen Augenblick, dann schüttelte er das Fell, gab die Form auf, da Takeru ganz offensichtlich nicht gewillt war, ihm entgegenzukommen und damit jegliche Kommunikation erheblich erschwert worden wäre. „Ich muss mich noch bei jemandem bedanken – und entschuldigen“, meinte er ruhig, während er sich den Zopf neu in die weißen Haare band. „Wenn du weißt, wo der Taishō ist –.“ „Der Inu no Taishō?!“, Takeru weitete die Augen. „Haben wir noch einen hier, den ich übersehen haben könnte?“, kam es giftig zurück. „Er ist also doch wegen dir hier! Oh, Minoru, du musst mir unbedingt zuhören, bevor du hingehst!“ Minoru nickte. „Dann sprich dich auf dem Weg aus.“ Takeru wusste zumindest, wo der Fürst nicht sein würde, also führte er Minoru aus der Höhle heraus. „Die Panther haben mich gefangen genommen und in ihrem Lager in eine Barriere eingepfercht“, begann Takeru und ignorierte Minorus scharfen Seitenblick. „Ihre ganze Planung war eigentümlich. Ich dachte erst, sie seien darauf aus, eine sichere Basis wie die Berge einzunehmen, aber sie schienen eher Zeit schinden zu wollen, als dass sie daran interessiert waren, Boden zu erobern. Als sie ungeduldig wurden, begriff ich das erst nicht, bis Karan wütend wurde, weil Sesshōmaru-sama immer noch nicht aufgetaucht sei. Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke Folgendes: Sie haben den Westen nicht aus Versehen betreten. Es war viel eher eine Provokation, damit er herkommt und sich einmischt.“ „Warum sollten sie eine zweite Front bewusst provozieren?“, fragte Minoru ungläubig. „Na ja, er hat in den letzten Jahren große Teile des Westens unter seine Herrschaft gestellt und dabei keinerlei Widerstand geduldet. Nun hat der Westen langsam wieder die Ausmaße, die er noch vor gut zweihundert Jahren hatte, als sein Vater Taishō war und damit die Gebiete zurückgeholt, die sich nun irgendwie als eigenständig sahen. Seit einigen Jahren ist jetzt Frieden und er verhält sich ruhig. Wenn er nun aber bewusst in einen Krieg zweier anderer Clans eingegriffen hätte –.“ „Hätte man ihm vorgeworfen, sich in eine Position zu begeben, die er nicht besitzt und ihm weitere expansive Absichten unterstellt, ja?“ „Eben. Und da du auch ein Hund bist, oder zumindest nach einem aussiehst, hätte dein Grenzübertritt dafür schon ausgereicht, um es auf ihn zurückfallen zu lassen.“ „Wenn er davon auch nur den Hauch einer Ahnung hat, kannst du mich gleich hier erwürgen“, murmelte Minoru kaum hörbar. „Das ist sicher angenehmer.“ „Ich glaube, du wärst schon tot, wenn er das wollte. Er mag nicht für Gnade bekannt sein, aber eben auch nicht dafür, dass er mit Exekutionen lange herumalbert. Das ist zwar sonst nicht gerade die angenehmste Eigenschaft, aber ich glaube, für dich ist das ein gutes Zeichen.“ Minoru runzelte die Stirn und drehte erneut an seinem Armband herum, als helfe das, irgendeine Antwort auf die Fragen zu finden, die sich ergaben. Es schien tatsächlich unlogisch. Hatte der Taishō ihm nicht gestern noch geholfen? Nun, er würde es nicht heraus bekommen, wenn er sich der Angelegenheit nicht stellte. „Minoru.“ Er fuhr zusammen, als er von einer tiefen Stimme aus den Gedanken gerissen wurde. Nobu kam in langen Schritten auf ihn zu und lächelte beängstigend herzlich. Von Takeru nahm er allerdings keinerlei Notiz. „Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass du meiner Bitte letzte Nacht nicht nachgekommen bist. Ich wollte nach der Besprechung gerne mit dir reden, aber du scheinst kein Interesse daran zu haben.“ „Mir wurde nicht gesagt, wer nach mir schickt“, sagte Minoru ernst und ohne jeglichen Anflug einer Entschuldigung in der Stimme. Wenn er nun noch wankend wirkte, wäre das mit Sicherheit nicht hilfreich. Der breitschultrige Ōkami schnalzte abfällig mit der Zunge. „Ah, vermutlich ist meine Tochter davon ausgegangen, dass jeder weiß, für wen sie Botengänge verrichtet“, meinte er leichthin und machte eine verwerfende Handbewegung. „Aber wie solltest gerade du das wissen? Sei's drum, Minoru. Hast du es eilig?“ „Ich muss mit dem Taishō sprechen“, entgegnete Minoru. Nobu lächelte nicht unzufrieden, während er näher an ihn herantrat. „Der Taishō hat uns bereits vor Sonnenaufgang wieder verlassen. Seine menschliche Begleitung schien sich in unserer Mitte nicht sehr wohl zu fühlen. Mach dir keine Gedanken um ihn. Wenn er etwas von dir gewollt hätte, hätte er es längst eingefordert.“ Minoru sah ein wenig erstaunt zu Nobu auf, während Takeru ein wenig zurückgewichen war. Der Blick des Mannes wurde mit einem Mal deutlich weicher. „Hör zu, Junge – und hör mir gut zu. Ich weiß, dass du deine letzten Jahre allein verbracht hast. Es wäre pure Verschwendung, dich damit fortfahren zu lassen. Jemanden wie dich auszubilden könnte mir sogar noch auf meine alten Tage ein wenig Spaß bereiten. Meine einzige Tochter ist eine sehr kluge und bezaubernde Ōkami, aber sie wird niemals durch meine Hand zu einer Kriegerin werden. Wenn du es wünschst, bin ich gerne bereit, dich aufzunehmen. Es muss dir keine Sorgen bereiten. Ich werde bis auf Fleiß nichts von dir verlangen – und natürlich die Dinge, die du jedem Erwachsenen entgegen bringen solltest. Es wäre eine Schande, wenn du niemanden hättest, der sich um deine Ausbildung kümmert, wie es offensichtlich bisher der Fall gewesen ist.“ Bevor Minoru überhaupt wusste, wie ihm geschah, hatte Nobu ihm die ausgestreckte Hand mit außergewöhnlich langen Krallen hingehalten. Er sah sie perplex an. „Deine Hand darauf, dass du es dir überlegst“, erklärte der Wolf. „Mehr will ich für's Erste gar nicht.“ Auf den ersten Blick fiel Minoru kein Grund ein, der gegen die Überlegung allein sprechen sollte und ein wenig benommen willigte er ein. Als Nobu zudrückte, hatte er das Gefühl, er wolle ihm sämtliche Knochen der Hand zu Staub zermahlen. Im nächsten Moment zog Nobu ihn näher an sich heran. Mit einem prüfenden Blick musterte er den Jungen von Nahem, dem sich sämtliche Nackenhaare aufstellten. Dann ließ er los und strubbelte ihm für einen kurzen Moment lächelnd durch das weiße Haar. „Nun ruh' dich noch etwas aus – und iss etwas. Sonst wird es sicher nicht besser.“ Er warf Takeru einen nahezu vernichtenden Blick zu und ging ohne ein weiteres Wort davon. Minoru sah ihm ein wenig dümmlich nach und legte den Kopf einen kurzen Augenblick schief, bevor er sich zusammenriss und Takeru fragend musterte. Warum war dieser Kerl so nachsichtig und freundlich ihm gegenüber? Takeru starrte lediglich zurück, als sehe er einen Geist und versuchte irgendeine Gefühlsregung herunterzukämpfen. Dann schüttelte er sich abrupt und sah Minoru ernst an. „Du musst nicht mit ihm gehen! Du kannst auch bei mir bleiben.“ „Warum kann er dich so wenig leiden und unterbreitet mir solche Vorschläge?“ „Na ja...“, Takeru seufzte lang. „Ich habe ihn … vielleicht ein bisschen beleidigt.“ „Du hast seine Tochter abblitzen lassen“, stellte Minoru fest, erwartete aber nicht ernsthaft, dass das zutraf. Als Takeru jedoch zur Seite sah und nichts mehr sagte, stockte Minoru einen Moment, bevor er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Was?!“, giftete Takeru gereizt, als er den schadenfrohen Gesichtsausdruck bemerkte. „Du bist der größte Depp, der mir je begegnet ist“, Minoru lachte leise. „Hättest du dir nicht noch einen kolossaleren Vater aussuchen können, dessen Tochter du verschmähen kannst?“ „Ich hatte keine Ahnung - !“, protestierte Takeru. „Kommt seine Tochter etwa nach ihm?“, spottete Minoru und langsam kam er sich beinahe gemein vor – aber wirklich nur beinahe. „Ich glaube nicht..“, gestand Takeru kleinlaut. „Nun hör schon endlich auf zu Grinsen!!“ „Du solltest um eine Unterhaltung bitten und dich bei ihm entschuldigen“, schlug Minoru nun wieder ernst vor. „Ich weiß“, Takeru sah betreten in die Richtung, in die der Daiyōkai verschwunden war. „Kann ich dich für ein paar Minuten allein lassen? Ich sollte vielleicht unter vier Augen mit ihm sprechen... .“ „Aber sicher. Ich werde mir derweil etwas zum Essen suchen“, entgegnete er leichthin. „Am Höhleneingang bringen sie die Jagdbeute zusammen“, erklärte Takeru. „Nimm dir einfach etwas. Niemand wird dich schief ansehen, wenn du dabei nicht zögerst.“ „Danke. Versuch' bei deiner Unterhaltung nicht zu sterben.“ Takeru warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der genauso ernst gemeint war, wie Minorus Sticheleien, dann lief er Nobu nach. Minoru sah sich einen Moment um, dann machte er sich auf den Weg zum Eingang, um zu sehen, wie sehr er nun wirklich unter Wölfen auffiel. 狐 Kōhei kniete tief und demütig, wie man es von einem guten Soldaten erwarten durfte. Die Handflächen eng an den Boden gepresst, den Kopf gesenkt und gebeugt sah er stumpf auf den polierten Marmorboden unter ihm. Der Bericht, den er abgeliefert hatte, hatte eingeschlagen, wie es zu erwarten gewesen war. Sein Herr war wütend. Nicht unbedingt nur auf ihn, aber das war in solchen Momenten irrelevant. Diese neuen Erkenntnisse gefährdeten alles, dazu brauchte er nicht einmal zu hören, was sein Fürst davon hielt. „So weit hätte es nie kommen dürfen. Es wäre Eure Aufgabe gewesen, einen Weg zu finden, der sich zwischen den Extremen bewegt. Ich hätte mehr Gewandtheit von Euch erwartet, Kōhei, so wie Ihr sie sonst stets bewiesen habt. Ihr wisst, warum ich es gerade Euch aufgetragen habe?“ „Weil Ihr mir vertraut“, gab er wie immer ruhig und freundlich zurück. Das war die halbe Wahrheit, das wusste er, aber es war, was er hören wollte. Im Grunde ging es darum, dass der Fürst sich aus diversen Gründen seiner Loyalität in dieser Sache sicher sein konnte – aber den wohl Wichtigsten hatte er bisher nie verstanden und das war auch gut so. „Weil ich Euch vertraue“, bestätigte sein Gegenüber und ließ tippend die langen Krallen über den schweren Tisch vor sich gleiten. „Es ist zutiefst ärgerlich“, fuhr er schnaubend fort. „Es war perfekt. Unsere einzige Chance, diese elende Dynastie ohne größere Komplikationen zu brechen – sagt mir noch einmal, warum ich meinen Beratern nicht den Kopf abschlagen lasse für ihr sinnloses Geplapper? Wir hätten ihn an den Haaren zurückzerren sollen, gleich nachdem er Reißaus genommen hat. Darauf zu hoffen, dass er von allein zurückkehrt, pah, was für ein Unsinn!“ „Eure Berater hielten es für unklug, ihn zu zwingen. Er ist nachtragend und es hätte uns sein Wohlwollen für lange Zeit verspielt“, antwortete der Fuchs wie gewünscht, auch wenn er ahnte, dass sein Fürst nicht wirklich eine Antwort erwartet hatte. „Ihr hattet wirklich keinerlei Chance, ihn gefangen zu nehmen?“ „Bedauerlicherweise nein“, entgegnete er. Er war kein Mann, der seinen Fürsten gern oder gar oft belog, Lügen im Allgemeinen lag ihm eigentlich nicht, aber wenn er es tat, dann mit Perfektion. „Nun hat sich Euer kleiner Schützling aber nicht gerade als sehr kooperativ erwiesen! Fortgelaufen und ausgerechnet in seine Arme. Es ist unmöglich, dieses Desaster noch abzuwenden. Zumindest auf dem üblichen Wege. Ich erwarte, dass Ihr diese Sache zu Ende führt, General.“ „Was wünscht Ihr, mein Herr?“ Der Fürst tippte mit einer Kralle zweimal hintereinander auf die Tischplatte und Kōhei erhob sich langsam, den Blick immer noch gesenkt. „Eine möglichst unauffällige Beseitigung. Er ist für unsere Sache nicht weiter relevant. Tötet ihn, bevor er uns womöglich noch im Weg steht.“ „Herr, wenn ich einen bescheidenen Vorschlag unterbreiten dürfte?“ „Sprecht.“ „Nach meinen bisherigen Erkenntnissen ist zur Zeit nichts vorgefallen, dass für uns eine direkte Bedrohung darstellen könnte. Wenn wir nur seine Mutter – .“ „Keine Option. Ihr Betragen war bedauerlicherweise katastrophal, eine Kooperation in absehbarer Zukunft ausgeschlossen. Ich habe sie bereits vor einigen Monaten entfernen lassen. Äußerst bedauerlich, aber so wie die Dinge verlaufen, wäre sie ohnehin nicht mehr von Nutzen gewesen. Sonst noch etwas?“ Kōhei verneigte sich erneut ein wenig und lächelte, wie er es stets zu tun pflegte, während unter seine Maske eine ganze Welt schmerzvoll zersplitterte. „Nein, Herr.“ „Dann erwarte ich Eure Berichte im Monatstakt. Guten Tag, General.“ Er verließ den Raum rückwärts und wandte sich erst um, als er die schwere Tür zum Saal geschlossen hatte. Der Weg hinaus schien länger als je zuvor. Dutzende Soldaten grüßten ihn ehrfürchtig und er nickte jedem von ihnen freundlich zu. Sie waren gute Männer, ergeben und stets aufrichtig. Er zweifelte keine Minute daran, dass sie ihr Leben ließen, wenn man es ihnen befahl und es dem Feind dabei so schwer machen würden, wie möglich. Ihre Loyalität galt ihrem Fürsten und sonst niemandem, so wie die seine... Kōhei verließ den Hof ruhigen Schrittes und erst nachdem er einige, sichere Kilometer zwischen sich und seine Leute gebracht hatte, begann er zu wanken. Er streifte einen Baum im Vorbeigehen, stolperte und hielt sich schließlich angestrengt atmend an einem alten Ahorn aufrecht. Seine Kehle brannte, gleich einem beißenden Gefühl, dass er nicht fassen konnte und seine Maske fiel mit einem Mal. Er sank an die Wurzeln des Baumes und presste die Stirn an die harte Rinde, während sich die Tränen seiner schüttelnd bemächtigten. Kein Lächeln mehr, keine Freundlichkeit, nur noch blanke Realität. Sie war tot. Unweigerlich und unumkehrbar. Er hatte versagt. All die Jahre hatte er versucht, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sie aus der Ferne zu schützen, aber letztlich hatte er nur bitter versagt. Was hatte es noch für einen Sinn, wieder aufzustehen, wenn bereits alles verloren, alles fort, das ihm je lieb und teuer schien? Er hätte mit ihr fliehen sollen, als die ersten Gerüchte aufkamen, hätte alsbald einen Weg finden müssen, sie aus dem Land zu bringen, solange noch Zeit dazu gewesen war. Aber seine Loyalität und der Glaube daran, dass es nichts gab, dass sie wirklich trennen konnte, hatten ihn geblendet. Schlechte Zeiten fanden stets ein Ende – und sie hatte so sehr ehrlich darauf bestanden, dass sie ihrer Pflicht nachkommen musste, wie es nur ihr möglich gewesen war. Doch Tod war stets unausweichlich, war stets herzlos und grausam. Reika... wenn sie ahnen würde, was ihm nun zu tun aufgetragen worden war... Kapitel 14: nach längst vergangener Wärme. ------------------------------------------ Seine Eltern mochten vielleicht die Anführer dieses Rudels sein, aber Nobu war gemeinhin dafür bekannt, dass er keinerlei Zweifel an seiner Autorität zuließ – weder auf Hokkaidō noch auf irgendeiner anderen der vielen japanischen Inseln. Wie es seiner Art in solchen Momenten entsprach, war der Dosanko zwar durchaus respektvoll, aber es war nur allzu deutlich, dass er die hiesigen Anführer nicht als ebenbürtig ansah – und so hatte Takeru in seinen eigenen vier Wänden um eine Audienz bitten müssen. Allein dass er diese erhalten hatte, war schon erstaunlich genug. Im Grunde war er fest davon ausgegangen, dass Nobu ihn gar nicht erst empfangen wollen würde. Der blonde Ōkami saß mit dem Rücken an eine Höhlenwand gelehnt und betrachtete Takeru emotionslos, als eine seiner Dienerinnen ihn herein führte. Er trug einen tief schwarzen Kimono mit feinen, silbernen Stickarbeiten, die wie Nebelschlieren wirkten und stark an seine Fellzeichnungen als Daiyōkai erinnerten. Er war umgeben von einigen Kerzen und hatte gerade Karten studiert, als Takeru um ein Gespräch gebeten hatte. Die Karten lagen nun sorgsam zusammengerollt neben ihm auf den Fellen, die ihm auch als Nachtlager dienten. Takeru glitt auf die Knie und verbeugte sich lange vor dem Mann, den er so tief beleidigt hatte, dass er nicht einmal wusste, ob er diesen Fehltritt wieder richten konnte. „Es tut mir unendlich leid, dass ich so töricht war und durch die Wut gegen meine Eltern auch Euch und Eure Tochter beleidigt habe“, entschuldige er sich aufrichtig. „Nichts, was ich tat, geschah in der Absicht, Euch zu schaden oder Eure Tochter abzuweisen.“ Nobu sagte nichts und musterte ihn lediglich, also fuhr Takeru fort: „Mein Gebaren war hitzköpfig, undurchdacht und egozentrisch. Ich hoffe, Ihr könnt mir eines Tages vergeben.“ „Eure Höhlengänge sind recht dunkel, findest du nicht? Sie haben gewiss ihren Charme, aber ich vermisse das Sonnenlicht. Der Winter war lang genug.“ Takeru starrte vor sich zu Boden und war nicht in der Lage, noch ein Wort herauszubringen. Nobu hatte ihn eiskalt abblitzen lassen – er hätte nun genau so gut über das Wetter reden können! Takeru ließ die Schultern sacken und wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Aber wie, ohne ihn damit nun ein weiteres Mal vor den Kopf zu stoßen? Also erwiderte er nichts und verkrampfte lediglich mit jedem Moment ein wenig mehr, der an ihm nagte wie hunderte Ratten an einem frischen Kadaver. Als es plötzlich knallte, zuckte er heftig zusammen und riss den Kopf hoch. Sein Blick traf Nobus. Der Daiyōkai sah ihn ernst an und hatte die Hände zusammengeschlagen, die er sich nun ein wenig rieb. „Ich bin es nicht, bei dem du dich entschuldigen solltest“, seine Stimme war hart, aber auf eine seltsame Art nicht so wütend, wie Takeru es erwartet hatte. „Wenn Ihr es erlaubt, werde ich gern mit Eurer Tochter sprechen. Ich will nicht, dass sie denkt, ich sei ihretwegen gegangen. Das war in keinem Moment so. Die Vorstellung von Heirat allein...“ „Niemand hat gesagt, dass ihr morgen heiraten sollt“, sagte Nobu scharf und Takeru lag eine spitze Erwiderung auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter. Wenn er den Dosanko nicht weiter verärgern wollte, sollte er sich besser zusammennehmen. „Bitte, sprich dich aus“, knurrte dieser jedoch bereits. „Ich habe gehört, du seist ein junger Mann mit einem gewissen Kampfgeist. Bisher sehe ich davon weniger als nichts.“ „Ich dachte, ich hätte in meinem Leben die Wahl.“ Nobu lachte kurz auf. „Zu lieben, zu heiraten, wen du willst? Die Welt um uns herum bewegt sich in einem Fluss, der zu reißend fließt, als dass du die Chance haben wirst, dich je an dein Ufer zu adaptieren. Du lernst am besten schnell, was es heißt, in diesem Strom zu schwimmen. Eine Wahl? Du bist ein Dummkopf, wenn du denkst, dass du vor deinem Leben davonlaufen kannst und das zu allem Überfluss auch noch eine Wahl nennst. Wir sind weit von einem Leben entfernt, in dem wir Hand an unser Schicksal legen können. Wir werden dorthin getrieben, wo es uns hinreißt und das Einzige, das wir tun können, ist es, uns diesen Tümpel zu eigen zu machen, bevor es uns weiter treibt oder alles anderen zu überlassen. Das ist die einzige Wahl die wir haben.“ Takeru sah ihn lange an und wusste nicht, was er dann falsch gemacht haben sollte. Immerhin hatte er nicht darauf gewartet, dass andere für ihn handelten. Aber das war es offensichtlich nicht, was Nobu meinte. Dieser bemerkte seinen skeptischen Blick und schüttelte den Kopf. „Wir suchen uns unsere Bürde nicht aus. Du wurdest in diese Familie geboren, also mach das Beste daraus. Das Beste für alle, über die du deine Hand zu halten vermagst. Das gilt für dich wie für jeden Yōkai, menschlichen Bauern, Kaiser oder Viehhändler. Eines Tages wirst du die Verantwortung für Viele tragen. Bis dahin tätest du wohl daran, dich nicht weiter als Zentrum der Welt zu sehen.“ Takeru hatte Zorn, Empörung und vielleicht sogar Hass erwartet, aber mit Sicherheit nicht eine so ruhige Belehrung. An einem bestimmten, tiefen Punkt seiner selbst wusste er, dass Nobu wohl recht haben musste, aber wirklich begreifen konnte er es noch nicht. Er bemerkte kaum, dass er Nobu unverhohlen anstarrte. Der schien sich daran aber nicht sonderlich zu stören, fixierte den jungen Wolf weiterhin mit festem Blick und schwieg. Endlich schaffte es Takeru sich aus der Starre zu reißen und senkte den Blick wieder zu Boden. „Ich kann nicht behaupten, das alles verstanden zu haben, aber ich werde mich daran erinnern und versuchen, es mir zu eigen zu machen. Ich will nicht, dass jemand durch mich zu Schaden kommt.“ Nobu verzog keine Miene und machte auch sonst keine Anstalten, darauf etwas zu erwidern, bis Takeru hinter sich Schritte hörte, die Nobu aufsehen ließen. „Chichiue-sama, wenn Ihr erlaubt, würde ich auch gern mit ihm sprechen.“ Über Nobus Lippen huschte ein Lächeln und er lehnte sich langsam zurück. Yumiko ging gezielten Schrittes an Takeru vorbei und ließ sich elegant neben ihrem Vater auf den Fellen nieder. Sie lächelte erstaunlich freundlich und legte die rauhen Hände gefaltet in den Schoß. „Ich weiß, was Ihr sagen wollt, Takeru und da wir uns noch nie begegnet waren, habe ich nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass Ihr wegen mir fortgelaufen sein könntet“, sagte sie ruhig. „Es freut mich sehr, dass Ihr unversehrt wieder zurückgekehrt seid.“ Sie sah bittend zu ihrem Vater auf, der mit einem schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht aufstand und wortlos den Raum verließ. Takeru schaute ihm verwirrt nach und wandte sich wieder Yumiko zu, die ihn nun ganz offen betrachtete. Sie war wirklich Nobus Tochter – in ganz unverschämter Weise. Im Gegensatz zu ihm war sie so zierlich, dass sie in ihrem einfachen, hellgrünen Yukata beinahe zerbrechlich wirkte, doch ihr Haar war das ihres Vaters. Wie heller Honig floss es ihr in einem lockeren Zopf nach vorn über die Schulter. Die schmalen, dunkelbraunen Seidenbänder, die sie zwischen die Strähnen geflochten hatte, trafen beinahe den Farbton ihrer Augen. Ohne ein Wort betrachteten sich beide abschätzend, bis Takeru sicher war, dass Nobu nicht mehr in der Nähe umher wandelte. „Entschuldigt bitte meine harsche Art, aber haben sie Euch gefragt?“ Er war es nicht gewohnt, so distanziert mit jemandem zu reden, der so jung war, aber da sie damit begonnen hatte, wollte er sich nicht anmaßen sie auf Augenhöhe anzusprechen, wie er es sonst vorgezogen hätte. Mochte er auch als ihr zukünftiger Anführer geboren worden sein, die Wölfe seines Stammes sahen davon ab ihm irgendwelche Titel zu geben oder ihn anders zu behandeln als ihresgleichen. Auf Hokkaidō gingen die Dinge allerdings einen anderen Gang und das wusste er zum Glück. Yumiko legte den Kopf für einen Moment schief. „Mich? Ich fürchte, so einfach ist das nicht“, meinte sie nachdenklich und sah einen kurzen Moment in eine Kerze, als überlege sie, wie sie eine schlimme Nachricht am besten verpacken sollte. „Ich war zwar nicht wütend, aber ich muss zugeben, dass das eine neue Erfahrung für mich gewesen ist, von Euch so indirekt abgewiesen zu werden. Mein Bruder ist vor einigen Jahren umgekommen, wie Ihr vielleicht wisst, und meine Mutter starb kurz darauf“, sagte sie und ihre Stimme klang auf einmal bitter. „Seitdem sind Chichi-ue und ich allein – nun, so allein wie man in einem Rudel sein kann. Mein Vater wird keine neue Frau an seine Seite nehmen, um einen männlichen Erben sicherzustellen. Seitdem das öffentlich bekannt wurde, habe ich, um ehrlich zu sein, manchmal auch weglaufen wollen. Aber ich kann Chichi-ue nicht auch noch im Stich lassen und ich kenne meinen Platz. Ihr wusstet, dass mein Bruder tot ist?“ „Ich habe davon gehört, jetzt wo Ihr davon sprecht“, räumte Takeru ein. „Aber das ist schon lange her... es tut mir sehr leid. Auch, dass ich Euch neben diesen Verlusten nur noch mehr Kummer bereitet habe. Ich schwöre, dass meine Handlungen allein aus meiner Sturheit resultierten. Ich wollte Euch nie persönlich kränken. Um ehrlich zu sein habe ich gar nicht an Euch gedacht, was das Ganze vermutlich nur noch schändlicher macht. Ich hätte den Auswirkungen meines Handelns mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen.“ Er neigte auch vor ihr den Kopf und starrte auf den Boden. Offenbar war sie der Idee ihres Vaters nicht so abgeneigt gewesen, wie er gehofft hatte. Aber es war das, was seine Mutter bereits einmal erwähnt hatte: Ein unverheirateter Erbe sorgte für Furore, solange die Gesellschaft um diesen buhlte – und da war sie als junge Frau sicher noch benachteiligter als er, wenn man bedachte, dass ihr zukünftiger Mann die Dosanko führen würde, so wie Kōga nun das Rudel seiner Mutter übernommen hatte. „Ich bin Euch so dankbar, Takeru“, sagte sie leise. Er sah sie verwirrt an, aber sie lächelte nur herzlich. „Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es ist, wenn alle nur freundlich zu Euch sind, weil sie Euch benutzen wollen? Als mein Vater vorschlug, dass ich zur Beruhigung Aller ein Verlöbnis mit einem jungen Ōkami jenseits der Tsugaru-Straße schließen sollte, dachte ich, dass auch diese Verbindung letztlich nur auf dem Interesse an Gelegenheiten beruhen würde, welche eine Ehe mit mir in Aussicht stellt. Ich finde das sehr unhöflich. Mein Vater mag schon einige Jahrtausende alt sein, aber über seinen Tod zu spekulieren ist mehr als unangebracht. Ihr hingegen habt, wie Ihr selbst sagtet, dabei nur an Euch gedacht und keinen Gedanken daran verschwendet, mich aus materiellen Gründen zu heiraten. Dafür danke ich Euch von Herzen, Takeru. Ich hätte noch ein Anliegen, aber ich bin mir fast sicher, dass es sehr anmaßend ist.“ Takeru blinzelte einen Moment, bevor er seine Stimme wiederfand. „Bitte, wie könntet Ihr noch etwas Anmaßenderes erbitten, als ich bereits getan habe?“ „Es wäre eine ungeheure Erleichterung für mich, wenn die Verlobung weiterhin offiziell Bestand hätte. Könntest Ihr Euch vorstellen... nun...“ „Sie nicht zu widerrufen?“, Takeru war ein wenig verblüfft. Sie schien eine sehr wohlerzogene Person zu sein. War sie so in Not, dass sie darüber hinweg sah und eine derartige Forderung stellte, die tatsächlich mehr als anmaßend schien? „Ich weiß, das ist ungemein viel verlangt und nach allem, was Ihr daran gesetzt habt, frei zu sein von diesem Bund-“ „Ich werde nicht widerrufen“, begann er ruhig, als er sich sicher war und unterbrach sie, bevor sie sich in Erklärungen verstricken konnte. „Aber ich werde auch kein öffentliches Zugeständnis machen.“ Er hatte erwartet, dass sie darauf enttäuscht reagieren würde, stattdessen lächelte sie zufrieden und erhob sich ebenso elegant, wie sie sich zuvor niedergelassen hatte. Er tat es ihr gleich und sah sie ein wenig perplex an, als sie direkt vor ihm hielt und seine Hand in ihre nahm. Sie waren erstaunlicherweise ebenso rauh wie zierlich. Sie drückte seine Rechte sanft und zog ihn ganz zaghaft hinter sich her, bis er ihr mit dem ersten Schritt folgte. Das Lager des Rudels schien ideal. Wasser floss aus den höheren Schneeregionen herab und sammelte sich über einige, kleinere Bäche in einem wenig großen, aber sehr klaren See mit eiskalten Temperaturen, der etwas unterhalb des Höhleneingangs zwischen einigen Ahornbäumen und Fichten versteckt lag. Minoru hatte sich lediglich ein Kaninchen von kaum beachtenswerter Größe von der ausliegenden Beute genommen und an diesen ruhigen Ort zurückgezogen. Takeru war sehr wahrscheinlich in der Lage ihn hier zu finden, wenn er von seinem Gespräch mit Nobu zurückkehrte und die Stille, die hier herrschte, war alles, was er gerade ertragen konnte. In der Höhle ging es hektisch zu, roch nach Beute und Wolf und teilweise noch nach dem Blut der verletzten Krieger. Hier war die Luft klar, das Wasser plätscherte leise im Nieselregen vor sich hin und auch die dicken Wolken am Himmel konnten Minoru diese Szenerie nicht vermiesen. Er hatte sich am Seeufer niedergelassen, die Hose weit über die Knie hochgekrempelt und die Beine ins eiskalte Wasser gehangen, während er eine Muskelpartie von der Keule des Kaninchens mit den Zähnen abriss. Es war roh, aber weder hatte er die Nerven gehabt, es in geselliger Umgebung zu garen bevor er es mitnahm, noch störte ihn diese Tatsache großartig. „Das verstehst du also unter 'Vorsicht'“, sagte jemand vorwurfsvoll und verdächtig nahe an seinem Ohr. Minoru kaute zu Ende, schluckte den Bissen herunter und sah Myōga auf seiner Schulter an, der tadelnd zwei seiner vier Arme in seine Hüften gestemmt und die anderen vor der Brust verschränkt hatte. „Willkommen zurück“, meinte Minoru nur leicht schnippisch und funkelte ihn durchaus erbost an. Der Flohgeist zuckte einen Moment lang zurück, bevor er wieder einen ernsten Gesichtsausdruck annahm. „Das war durchweg suizidal.“ „Einzig suizidal ist es, hier nach deiner letzten Ansprache so großkotzig wieder aufzukreuzen“, stelle Minoru fest und legte das Kaninchen zur Seite, um im nächsten Moment den Floh zwischen zwei Fingern zu packen und sich vor das Gesicht zu halten. „Alter Mann“, begann er mit einem beinahe freundlichen Ton, der gar nicht zu seiner angespannten Kieferpartie passen wollte. „Hilf mir auf die Sprünge: Warst du es nicht, der mir noch kürzlich in Bezug auf meine Dankbarkeit belehren wollte? Also, wo ist der Herr, bei dem ich mich bedanken darf?“ Myōga wurde mit einem Schlag kreidebleich und seine vorher noch so erzieherisch klingende Stimme begann zu zittern: „Nun... also...“ „Wenn du glaubst, du könntest mich über den Tisch ziehen... “, er drückte drohend die Finger enger zusammen, bis der Flohgeist das Gesicht deutlich verzog und abwehrend mit den Händen wedelte. Nicht, dass er solche Zwischenfälle nicht gewöhnt wäre, aber diesen Yōkai konnte er zu allem Überfluss auch noch schlecht einschätzen. „So einfach ist das nicht! Aber du solltest in einer Gruppe bleiben, ja! Stell dir doch nur vor, was sonst hätte passieren können. Es ist doch noch einmal gut gegangen!“ Minoru schnaubte leise und setzte ihn neben sich auf einem Stein ab. Myōga zog für einen Moment den Kopf ein und rechnete mit einem erneuten Angriff auf sein Wohlbefinden, der jedoch erstaunlicherweise ausblieb. Ungläubig sah er zu Minoru auf, aber der hatte den Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, den vermutlich nur er sehen konnte und seufzte leise. Offensichtlich hatte er sich sehr schnell wieder beruhigt, aber auch dafür schien er zu entrückt. „Es ist doch auf eine Art ein gutes Zeichen, dass er gegangen ist ohne dich zu bestrafen“, meinte Myōga ein wenig aufmunternd und ließ sich auf dem feuchten Stein nieder. „Außerdem war es schon verwunderlich genug, dass er sich mit den beiden Anführern unterhalten hat. Es war absehbar, dass Sesshōmaru-sama nicht lange hier verweilen würde. Ich war allerdings davon ausgegangen, dass er nach allem was passiert ist zumindest noch einmal mit dir sprechen wollen würde. Aber die Kappa an den Grenzen allein zu lassen, ist sicher auch nicht die beste Idee.“ „Nichts ist in jedem Fall besser als das, was ich erwartet hatte“, gab Minoru zurück. „Im Grunde bin ich erleichtert.“ Myōga musterte ihn ein wenig besorgt. Er sollte zufrieden sein, nun wo er endlich an seinem Ziel angekommen war. Stattdessen schien er mit den Gedanken ganz woanders. „Du wirkst gar nicht glücklich“, merkte Myōga schließlich an. „Es ist nicht allein dein Verschulden, dass ihr nicht bei Tōtōsai geblieben seid. Zerbrich dir doch nicht so den Kopf darüber.“ Minoru warf dem Floh einen vernichtenden Blick zu. „Denkst du die Entscheidung eines Menschen hätte beeinflussen können, ob ich verweile oder nicht, wenn nicht einmal meine Eltern dazu in der Lage gewesen sind, mich Zuhause zu halten? Mach dich doch nicht lächerlich.“ Er knurrte. „Ich hätte ihren Vorschlag ablehnen sollen. Bis hierher hätte ich länger gebraucht, aber dann wäre ich nie in die Lage gekommen, sie verteidigen zu müssen.“ „Du kannst aber nicht mehr ändern, was schon passiert ist. Wärst du ohne sie auf diesen Fuchs getroffen, wäre auch dies sehr wahrscheinlich anders verlaufen. Aber das ist alles reine Spekulation. Sie hätte gehorchen müssen, allein schon um ihrer eigenen Sicherheit Willen und dafür wird auch sie sich rechtfertigen müssen, wohingegen du offensichtlich ungeschoren davonkommst.“ „So, dann nimmt er einen Menschen also ernster als seinesgleichen?“, fragte Minoru scharf. „Woher hat er dieses Menschending überhaupt?“ Myōga schaute ein wenig ungläubig drein und hielt einen Moment inne. Er hatte schon den richtigen Jungen aufgesucht, aber wo um alles in der Welt hatte der auf einmal seine Kommunikationsgrundlagen gefunden? Er fragte tatsächlich nach! „Rin begleitet ihn bereits seitdem sie sehr klein war“, antwortete der Alte bereitwillig. „Sie war ein Waisenmädchen, das von den Wölfen – Kōgas Wölfen – getötet wurde, als diese noch marodierend durch die Lande zogen. Sesshōmaru-sama hat sie mit Tenseiga, seinem Schwert, das er einst von seinem Vater ererbt hat, dem Tod entrissen. Seither folgt sie ihm und ist sein Mündel.“ Minoru hatte Mühe, einen irritierten Ausdruck zu unterbinden. Ein Schwert, das die Toten wieder ins Leben rufen konnte machte seinen Besitzer zum wahrscheinlich mächtigsten Mann der Welt. Verlorene Truppen wiederbeleben und seine Reihen erneut aufstocken, niemals den Tod fürchten! War er deswegen so kommentarlos gegangen? Weil er Rin ohnehin hätte retten können und er selbst nie in Gefahr war? Wenn ja, hätte Rin das ruhig einmal während ihres fortwährend sinnlosen Geplappers erwähnen können. Dann hätte er sich die Mühen, sie heil abzuliefern, getrost ersparen können. „Praktisch“, gab er schließlich zu und ließ von seiner Verwirrung nichts nach außen dringen. So faszinierend die Vorstellung der Existenz einer solchen Waffe war, klang das doch sehr abgehoben und unwahrscheinlich. Doch was wusste er schon? Eindeutig zu wenig, wie es schien. Im Gegensatz zu ihm wusste dieser Myōga für seine erstaunlich winzige Größe aber eine ganze Menge und schien dieses Wissen auch offenherzig teilen zu wollen, solange er nur das Gefühl hatte, dass ihm jemand wirklich zuhörte. Wenn er dieses Mädchen ins Leben zurückgeholt hatte war es nur folgerichtig, dass er sich auch um sie kümmern musste. Ob sie nun ein Mensch war oder nicht, war dabei Minorus Meinung zur Folge einerlei. Allerdings hielt sich nicht jeder an diesen Grundgedanken, dass man die Verantwortung für jemanden trug, sobald man ihm das Leben oder Überleben auf dieser Welt ermöglicht hatte – das beste Beispiel für den Verstoß dieses Gedankens waren seine Eltern. Warum er sich von diesem Menschenkind allerdings beeinflussen ließ, war Minoru schleierhaft und er wollte auch Myōga sicherlich nicht nach einer Erklärung fragen. „Ich hatte erwartet, dass du dich zurückziehst. Allerdings nicht, dass du es nicht einmal einen Tag lang aushältst.“ Minoru hob mit stumpfem Blick den Kopf und betrachtete Nobu, der mit langen, gezielten Schritten auf ihn zusteuerte. „Geht es dir besser als gestern?“ „Es geht mir gut, danke“, erklärte Minoru leichthin und stand langsam auf. Von Myōga fehlte nun erneut jede Spur, aber er ahnte, dass dieser Floh sich nicht weit von ihm entfernt hatte. Nobu hielt auf der Stelle an, als er den misstrauischen Blick des Jungen bemerkte. Minoru verkrampfte ein wenig. Was sollte er davon halten, dass dieser seltsame Wolf Takeru nicht mitgebracht hatte, wo er doch schon vor einigen Stunden losgezogen war, um mit Nobu zu sprechen? Er brummte kaum hörbar und Nobu zog fragend eine Braue hoch. „Du sorgst dich um deinen Freund? Weißt du eigentlich, dass du damit so einige Grundregeln in deinem Volk brichst?“, fragte er offen. Minoru biss für einen Moment die Zähne zusammen und kämpfte das Misstrauen herunter. Er würde Takeru in dessen eigenen vier Wänden wohl kaum wirklich schaden, wenn er ihn zuvor noch gerettet hatte. „Wenn man sie so einfach brechen kann, sind es vermutlich doch nur Vorurteile.“ Er wollte Nobu nicht sein halbes Leben zu Füßen legen und ihm sagen, dass er mehr war als ein Inuyōkai – oder genau genommen weniger als das. Der Daiyōkai lachte laut auf. „Sehr wahrscheinlich hast du recht. Du solltest allerdings auf deine Zunge achten. Andere, die nicht so angetan von dir sind, könnten dich als frech empfinden und sehr schnell beseitigen, mein Junge.“ Minoru entgegnete nichts, aber sein frostiger Gesichtsausdruck sprach Bände. „Ah, schon verstanden. Du bist nicht 'mein Junge' “, Nobu musste grinsen. „Vielleicht sind es doch nicht alles Vorurteile.“ „Wo ist Takeru?“, fragte Minoru nun doch ernst. „Deinem hitzköpfigen Freund geht es gut. Er unterhält sich mit meiner Tochter und ich empfand es als aussichtsreicher, stattdessen dich aufzusuchen. Halte ich dich von etwas ab, wenn wir von deiner kostbaren Einsamkeit einmal absehen?“ Er schüttelte den Kopf. Was sollte das werden? Der Mann war ihm deutlich zu schnell was Interpretationen seines Verhaltens anging, während er selbst nicht einmal den Grund erfassen konnte, warum dieser Kerl Atem an ihn verschwendete. Da war doch irgendetwas faul. „Außenposten zu kontrollieren ist dutzende Male sinnvoller, als Herumsitzen. Ich weiß überhaupt nicht, was ihr jungen Leute daran findet. Wir sind uns zwar einig, dass die Panther nicht über Nacht erneut angreifen werden, aber die Männer sollten trotzdem wissen, dass wir ihre Dienste benötigen und sie ernst nehmen.“ Nobu ging schon seit gut einer Stunde voran. Mit seinen massigen Pfoten bahnte sich der sandfarbene Wolf federnd und trotz des gewaltigen Gewichts erstaunlich elegant einen Weg über den steinigen Hang. Für einen gewöhnlichen Wolf hatte er ein beachtlich breites Kreuz und seine abnorme Größe ließ Minoru neben ihm wie den schmächtigen Halbwüchsigen aussehen, der er letztlich auch war. Er hatte Minoru bezüglich dieses Ausflugs keine Wahl gelassen. Vermutlich hätte er Nobu sagen sollen, dass er nicht wisse, wie er seine verletzte Schulter überhaupt bewegen solle, statt ihm zu antworten, er fühle sich gut. Vielleicht hätte er ihn dann in Ruhe gelassen. Dämlicher Hochmut. Entgegen seiner Aussage pochte seine Schulter immer noch schmerzhaft, aber er versuchte sich davon nichts anmerken zu lassen. Nobu sah zwar, dass er immer wieder einen Moment ausruhen musste, das Gesicht verzog oder das rechte Vorderbein entlastete, aber er sprach ihn weder darauf an, noch ließ er sich dazu herab, deswegen ein langsameres Tempo anzuschlagen. Minoru war allerdings nicht blind: Dass Nobu sich ihm gegenüber als sehr nachsichtig und freundlich zeigte, war vermutlich Indiz genug, dass dieser Mann ihn nicht abschrecken, sondern eher einladen wollte. Die Frage blieb nur seine Intention – und ob er auf Dauer ein solches Betragen an den Tag legen würde oder sich um 180° wenden könnte, wenn Minoru ihm erst einmal zugesagt hatte. Es lag nahe, dass er diesen Ausflug nutzte, um Minoru eine Chance zu geben, ihn näher kennen zu lernen. Immerhin schien er sehr daran interessiert, ihn mitzunehmen und bisher hatte er die Wahl zwischen Einsamkeit, einem Freund und einem dubiosen Fremden – wer da als erster ausgeschlossen werden würde, war doch sehr deutlich. Der Dosanko hielt bei den Wachposten, die sowohl aus Kōgas als auch aus seinen eigenen Männern zusammengesetzt waren und unterhielt sich mit ihnen, ohne die Form zu wechseln. Das war mehr als interessant. Minoru hatte schon sehr früh festgestellt, dass er einen anderen Hund nur dann verstehen konnte, wenn er seine humane Form aufgab – sehr zum Entsetzen seiner Mutter, die diese Art von Verwandlung für unwürdig hielt. Die Ōkami waren offensichtlich durchaus in der Lage, diese Grenze zu überschreiten, auch wenn die Soldaten sich dafür einer Kommunikation aus Knurren und Grummeln bedienen mussten, die für Minoru nur schwer als Sprache zu entziffern war, während er Nobu hingegen ganz klar verstand. Er legte die Ohren ein wenig an. Vielleicht lag es einfach daran, dass es für die Wölfe völlig normal war, mit den gewöhnlichen Tieren zusammenzuleben, während die anderen Völker an solcher Gesellschaft kein Interesse zeigten. Weder am westlichen Hof noch bei den Kitsune war ein solches Zusammenleben die Regel. Als Nobu weitertrabte, ging Minoru davon aus, dass die Unterhaltung vermutlich zu einem Ende gekommen war und folgte ihm schweigend einen angenehmen zu begehenden Pass hinab, der in ein Waldstück des Hochlandes führte. „Hätten sie ihre verfluchte Illusionistin nicht gehabt, wäre dieser unangenehme Zwischenfall deutlich schneller beseitigt gewesen. Es ist linkisch, auf diese Art einen Krieg zu führen. Feige. Sie haben Takerus Eltern mit einer Illusion von ihm getäuscht und ihnen vorgegaukelt, sie hätten ihn als Geisel genommen. Bis ich Kōga davon überzeugen konnte, dass das reine Scharade war, hat es mehrere Wochen gedauert. Er wollte seinen Sohn nicht gefährden und das kann ich durchaus nachvollziehen. Sobald aber Shunran unter den Gegnern ist, muss man mit allem rechnen. Und kaum, dass wir uns entschlossen hatten, ihre sichtbaren Reihen auszuheben, haben sie Takeru tatsächlich als Geisel genommen. Er kann von Glück sprechen, dass seine Eltern ihn erkannt haben. Kōga war darauf aus, den nächsten Panther, der sich als sein Sohn ausgibt, sein eigenes Fell fressen zu lassen.“ Er wandte sich um und sah Minoru durchdringend aus seinem gesunden Auge heraus an. „So führt man keine Kriege, wenn du verstehst. Wenn man nicht in der Lage ist, auf ehrliche Weise zu gewinnen, sollte man zuhause bleiben, sich in eine Ecke verkriechen und schämen, überhaupt auf solche Gedanken zu kommen.“ Minoru ließ sich diese Dinge eine ganze Weile durch den Kopf gehen. Es war durchaus feige, sich auf dieses Niveau herabzulassen und mit so billigen Tricks zu arbeiten. Der Panther-Clan war in seinem bisherigen Auftreten nicht besonders stark gewesen, wenn sogar er einer von ihnen gefährlich werden konnte – oder sie waren allgemein zu sehr von ihrem eigenen Blendwerk überzeugt. Seine Art an die Sache heranzugehen und sich wie ein verspielter Welpe zu benehmen war mit Sicherheit auch nicht der feinste Zug gewesen. Ihm war jedoch ohnehin völlig unverständlich, warum man überhaupt so mit sich spielen ließ. Waren Kōga und Ayame nicht in erster Linie ihrem Rudel verpflichtet und dann ihrem Sohn? Wenn sie ihn so sehr liebten, dass sie dazu bereit waren, ihre Ländereien abzutreten und sich zu einem Spielball gegen den Westen machen zu lassen, war das dann eine vertretbare Handlung? „Ich verstehe, was Ihr meint“, gab Minoru nach Minuten des Schweigens zurück. „Aber ich kann nicht behaupten, ehrenhafter gehandelt zu haben, als ich Shunran angegriffen habe – und ich denke nicht, dass das entschuldbar ist, weil sie sich dieser Dinge auch bedient hat.“ „Ich hatte damit nicht beabsichtigt, dir einen Vorwurf zu machen“, meinte Nobu überrascht. „Aber du hast natürlich recht. Es war hinterlistig von dir, dein Yōki so weit herunterzufahren, dass sie dich nur für einen einfachen Hund halten konnte.“ Minoru blieb einen Moment stehen und starrte Nobu an. Er hatte sein Yōki noch nie heruntergeregelt, er hätte nicht einmal gewusst, wie er das auch nur im Ansatz bewerkstelligen konnte. Statt ihm vorzuwerfen, ein schwaches Yōki zu besitzen, hätte er ihn auch gleich für lebensunfähig erklären können. Das kam auf dasselbe heraus und war vermutlich weniger beleidigend. Nobu sah ihn verblüfft an: „Was ist?“ „Ich habe nichts an meinem Yōki gemacht“, gab Minoru leise, aber verbissen zurück. Nun hielt auch Nobu an und wandte sich zu ihm um. „Bist du dir sicher?“ Er nickte knapp und sein Gegenüber schlug einmal aufgebracht mit der Rute, bevor er sich setzte. „Du wechselst aber mehr zwischen deinen Formen umher, als jeder andere, den ich kenne – und das ohne jegliche Zwischenfälle“, er lächelte mild. „Hat dich noch niemand darauf angesprochen?“ Minoru ließ sich ebenfalls auf den Hinterbeinen nieder und sah ihn einen Moment an, bevor er den Kopf schüttelte. „Dann erklärt das zumindest, warum deine Schulter nicht schneller wieder verheilt. Ich war davon ausgegangen, du stellst dich schwächer als du bist... davon sind wir alle ausgegangen.“ Er schloss für einen Moment die Augen und schien nachzudenken, bevor er wieder aufstand und seinen Weg fortsetzte. Minoru folgte ihm und hoffte insgeheim, dass endlich einmal jemand ein gewisses Maß an Wissen mit ihm teilen würde. Stattdessen begann der Wolf mit einem ganz anderen Thema. „Es gibt zwei umfassende Blickwinkel, die unser Leben bestimmen. Das eine sind die primären Dinge, die uns in die Wiege gelegt werden und an denen wir nur schwer etwas zu ändern vermögen. Das andere ist das, was wir daraus machen. Unser Aussehen, die Familie, in die wir geboren werden, oder ob wir als Mann oder Frau auf die Welt kommen, liegt nicht in unseren Händen. Was wir jedoch sehr wohl entscheiden können, ist alles, das über diese primären Grundlagen hinausgeht. Willst du deinen Idealen treu bleiben oder setzt du dich über sie hinweg? Zu welchem Preis würdest du deine Ideale verwerfen – für dich selbst, für andere oder weil es sonst auch alle tun? Allein dazu gibt es sicher so viele Meinungen, wie du Situationen und Köpfe zählen kannst. Es ist deine Verantwortung, egal wie du dich entscheidest. Du bist noch überaus jung und trotzdem ich dich für einen sehr gescheiten Jungen halte, wird es noch eine lange Zeit dauern, bis du den vollen Umfang dieser Tatsache begriffen hast. Wir können unserem Leben nicht entfliehen – nicht diesen primären Grundlagen und auch nicht dem Einfluss durch andere. Wir können den Widrigkeiten aber mit einem wachen Kopf begegnen.“ Er machte einen Satz auf einen Felsen und witterte kurz, bevor er sich Minoru zuwandte. „Was nimmst du wahr?“ Der weiße Hund schloss für einen Moment die Augen. „In der Nähe eine Gruppe... Ziegen?“ „Es sind Steinböcke.“ „Eine Gruppe Steinböcke. Mindestens vier. Südöstlich gelegen. Ein gerissener Hirschkadaver. Schon einige Tage alt.“ Nobu nickte nur stumm und ging weiter. Minoru sah ihm einen Moment missmutig nach. Er hasste es, solche Aufgaben gestellt zu bekommen. „Ich wurde auf einem Hof geboren, der kaum größer war als manch menschlicher Bauernhof – und nicht nur in seiner Größe hat das Anwesen meines Vaters an einen solchen Ort erinnert. Meine Familie mütterlicherseits wanderte vor Jahrtausenden mit sehr wenigen Mitgliedern über das Festland von Europa nach Hokkaidō. Meine Mutter wurde von ihrem Vater mit einem dortigen Daimyō verheiratet. Ein unwichtiger, schwacher Mann mit wenig Ambitionen, wenn man von seinem eigenen Wohlbefinden absah – aber für solche Dinge hatte mein Großvater keinen Blick. Die Allianz zwischen ihnen kam zustande, aber die Familie meiner Mutter war nicht in der Lage, ihre Stellung damit auf Dauer zu etablieren. Das lag sehr wahrscheinlich daran, dass sie mit den hiesigen Gepflogenheiten nicht zurechtgekommen sind. Europäer haben ein durchaus anderes Empfinden, was Anstand und Politik betrifft. Es ist nicht möglich, auf diesem Fleckchen Erde Fuß zu fassen, wenn man mit aller Gewalt dessen Wesen verneint. Ich wuchs am Hof meines Vaters auf, gemeinsam mit meiner Mutter, die sich dort nie wirklich wohl gefühlt hat. Aber im Gegensatz zu meinem Vater wollte ich mehr. Er hatte sich das gemütliche, herrschaftliche Leben bei den Daimyō jenseits der Meerenge abgeschaut und herrschte nun über den mickrigen Haufen Erde, den er Heimat nannte, hielt sich aus den Streitigkeiten zwischen den Rudeln heraus und tat so, als ginge ihn die Welt nichts an. Man hätte ihm seinen Hof unter dem Hintern wegstehlen können und er hätte es kaum bemerkt, schätze ich. Ich entwickelte zu seinem Entsetzen einen Drang, mich zu beweisen, diesen verfluchten Hof zu schützen und begann, Verhandlungen mit anderen Rudeln zu führen oder mich in ihre Kämpfe einzumischen. Ich bin ein passabler Schwertkämpfer und war mir meiner Größe immer bewusst. Mit vierzehn habe ich auf meinen Vater herabsehen können und für einige reicht Größe allein, um sie einzuschüchtern. Es brauchte über ein Jahrtausend bis die meisten Rudel Hokkaidōs unter meinem Kommando standen. Allianzen kann man auf verschiedene Weisen schmieden – mit Wort, Schwert und Heirat. Ich selbst ziehe es genau in dieser Reihenfolge vor.“ „Ihr habt geheiratet, um Hokkaidō ganz zu bekommen“, riet Minoru offen und Nobu lächelte ein wenig. „Habe ich. Ihr Vater war ein ziemliches Hindernis. Alt und mächtig, aber was mir im Weg stand war eher den Schatten, den er noch aus seiner Jugend über das Land warf. Er lehnte mir gegenüber jedwedes Gespräch ab, sah mich als Emporkömmling einer unbedeutenden Familie ohne Einfluss und selbst unter meinen eigenen Leuten rief sein Name Ehrfurcht hervor - und die brichst du nicht so schnell. Sie hatten keinen Grund ihn zu hassen, also war auch ein Kampf gegen ihn ausgeschlossen. Ich habe ihn lange Zeit vollkommen ignoriert - so wie er mich - und bin mit meinen Leuten nach Honshū gegangen und habe mich an damaligen Kämpfen hier beteiligt. Dieses Land ist nie ruhig und wenn auch noch andere Clans vom Festland einwandern, kannst du Gift darauf nehmen, dass es zu Streitigkeiten kommt – dafür bin ich allein das beste Beispiel. Die Motten-Dämonen, die damals von China übersetzten, waren allerdings eine Bedrohung für uns alle. Der damalige Inu no Taishō, Sesshōmaru-samas Vater, hatte ihnen den Krieg erklärt, als er begriff, dass sie Japan lediglich ausschlachten wollten, wie unsereins einen fetten Hirsch ausweidet. Der Taishō hat seine Angelegenheiten noch nie breitgetreten und es hat mich mehrere Wochen gekostet, ihn davon zu überzeugen, dass es auch für uns Dosanko wichtig ist, was hier auf Honshū geschieht. Als wir schließlich siegreich nach Hause zurückkehrten, bin ich an den Hof seiner verschrobenen Ehrwürdigkeit gegangen und habe ihm mitgeteilt, dass ich seine Tochter heiraten werde.“ Minoru zuckte kurz belustigt mit dem Schwanz. Vielleicht störte sich Nobu wenig an seiner frechen Art, weil er selbst eigentlich gar nicht so viel Anstand besaß, wie er seiner Umwelt weiß machen wollte. „Er hat eingewilligt. Allerdings nicht, weil er mich nun plötzlich so überaus liebgewonnen hatte, sondern weil ihm während meiner Abwesenheit auf Hokkaidō aufgegangen war, dass plötzlich alle Ōkami, die seiner Tochter zumindest annähernd in Rang und Namen entsprachen, mit mir in den Krieg gezogen waren – und ich keinem meiner Männer erlauben würde, eine Frau zu heiraten, die mir den Weg zu dieser gottverdammt kalten Insel eröffnete. Wenn er seine Tochter also folglich nicht als alte Jungfer sterben lassen oder unter Stand verheiraten wollte, blieb ihm nur der störende Emporkömmling.“ Er grinste ein wenig belustigt vor sich hin und sah Minoru an, der nicht ganz verstand, auf was Nobu hinaus wollte. Als er jedoch jedwedes Lächeln verlor und leise seufzte, fröstelte der Hund unwillkürlich. „Ich habe sie geliebt... Gott weiß, ich habe sie geliebt. Mehr als du dir vorstellen kannst. Das war nicht geplant. Ich hatte nie ein Auge für Frauen. Nur für Ambitionen, Krieg und Machtkämpfe. Ich wollte sie als Mittel zum Zweck und um einen Sohn zu zeugen, der mein Erbe fortführen könnte, wenn ich einmal nicht mehr wäre. Das geschieht schneller als man denkt. Ich hatte Brief und Siegel darauf geben wollen, dass ich vor dem Inu no Taishō mein Grab in der Zwischenwelt aufsuche, aber manchmal passieren Dinge, die man nicht berechnet hat. Ich wollte mich nicht in sie verlieben. Ich wusste gar nicht, dass das so einfach möglich ist. Als wir unseren Sohn bekommen haben, war ich wie gelähmt. Jahrelang. Er ist schneller erwachsen geworden, als mir lieb war und bedauerlicherweise schlug er auch deutlich zu sehr nach mir. Wo ich Tatendrang zuvor noch so hochgehalten hatte, wollte ich ihm diesen nun lieber ausreden, wünschte, er sei ein wenig ruhiger, ein wenig mehr wie seine Schwester, aber davon war er weit entfernt. Ich hätte nie gedacht, ihn noch so spät zu verlieren. Er ist vor einigen Jahren im Kampf gefallen. Einem Kampf, den ich in meiner maßlosen Dummheit auch noch als sicher erachtet hatte, und meine Frau starb kurz darauf. Ich weiß bis heute nicht woran. Sie lag einfach da und hat sich nicht mehr gerührt. Yumiko ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist – und ich würde ganz Hokkaidō eintauschen, um sie alle wieder bei mir zu wissen.“ Seine Stimme war die ganze Zeit über fest und hart geblieben, stets mit dem tiefen Knurren, das er immer in seinen Worten trug. Minoru hatte Menschen in den Städten und Dörfern bei solchen Worten weinen sehen, aber an Nobu schienen diese Gefühle abzuprallen. „Weißt du, warum ich dir das alles erzähle, Junge?“, fragte er schließlich. „Ich schätze, damit Ihr kein Fremder mehr für mich seid“, meinte Minoru aufrichtig und schüttelte ein wenig die linke Pfote aus, die er deutlich mehr belastete als die rechte. „Ja, zum einen das, aber es ist mir viel wichtiger, dass du eine andere Sache verstehst: Wir sind mächtig, wir haben einen freien Willen und wenn wir wirklich wollen, können wir die Geschichte nach unseren Vorstellungen formen. Aber es wird nie möglich sein, alles Schlechte von uns abzuwenden, alles einzukalkulieren und jeden Schritt im Leben sicher und korrekt zu setzen, ganz egal wie mächtig wir auch sein mögen. Ich möchte, dass du daran denkst, bevor du dir eine Meinung bildest oder über jemanden urteilst – auch wenn dieser jemand du selbst bist.“ Er nickte langsam und versuchte noch immer herauszufinden, warum es dafür nötig gewesen war, dass er ihm sein ganzes Leben so offen darlegte. Aber vielleicht sollte er auch einfach nur den Versuch aufgeben, irgendetwas verstehen zu wollen und stattdessen froh darüber sein, dass Nobu im Gegenzug nicht Selbiges von ihm verlangte. Die zwei anderen Außenposten, die sie an diesem Nachmittag anliefen, waren spärlich besetzt, aber die Wachen, die sich dort befanden, waren doch erstaunlich zufrieden und schienen den Besuch tatsächlich zu genießen. Auf dem Rückweg berichtete Nobu von Hokkaidō, einer Insel, die deutlich spärlicher mit Menschen besiedelt war als Honshū. Der Boden gab für den für sie so wichtigen Ackerbau wenig her und auch sonst schien dieser Ort ein eher karger, kühler Fels im Meer zu sein. Als sie schließlich bei Einbruch der Dunkelheit zurück zum Rudel gelangten, schlief Minoru beinahe im Stehen ein. Nicht, dass solche langen Märsche ihm etwas ausmachten, aber er verdammte diese Schulter zutiefst. Der Dosanko schüttelte neben ihm das sandfarbene Fell auf und streckte sich, bevor er sich fließend wieder auf zwei Beine erhob und seinen schwarzen Kimono glattstrich. Minoru gab das wärmende Fell der Höflichkeit wegen ebenfalls auf. „Ich danke Euch für Eure Offenheit“, sagte er schließlich. Das war das Mindeste, das er ihm für diese freien Erzählungen und Ratschläge entgegenbringen sollte, ganz gleich, was er davon hielt. „Ich habe deine Begleitung heute sehr genossen und ich hoffe, du wirst irgendwann einmal Nutzen aus dem ziehen können, was ich dir heute erzählt habe“, antwortete Nobu ruhig und musterte ihn eindringlich. „Darf ein wohlgesonnener Wolf dem Hund noch einen guten Rat mit auf den Weg geben?“ Minoru nickte knapp. Als Nobu jedoch die Hand nach seiner Rechten ausstreckte, zog er sie hinter seinen Rücken. Nobu schmunzelte etwas schief und nahm seine Hand zurück, bevor er wieder ernst wurde. „Du solltest dringend dieses Armband loswerden.“ Kapitel 15: Nach einer vagen Erinnerung --------------------------------------- „Nach rechts! Takeru, rechts!“ Minoru hechtete mit langen Sprüngen zwischen den Felsen hindurch und hatte das Gefühl als müsse er neben den Steinböcken auch noch den Wolf in die richtige Richtung treiben. War es so schwer, die Sackgasse für sie auf der rechten Seite zu sehen? Diese verdammten, übergroßen Ziegen waren auch ohne Takerus Eigenwillen schwer genug zu erwischen. Sie setzten über die unmöglichsten Abhänge hinweg und stiegen mühelos nahezu rechtwinkelige Hänge empor, an denen Minoru nicht einmal einen Vorsprung ausmachen konnte. Seit zwei Stunden hatten sie sie beobachtet und wie in den ganzen letzten Tagen versuchte Takeru wieder einmal einen dämlichen Alleingang, schwenkte links und versuchte sie an einer Wand zu stellen, die breit genug war, dass die ganze Gruppe auf einmal hinaufspringen konnten, statt die rechts liegende Sackgasse zu nutzen, die zumindest für den direkten Aufstieg aller Tiere zu eng gewesen wäre. Die Zeit hätte man nutzen können, aber nun suchten die Böcke in wenigen Sätzen lediglich das Weite und stoben teils meckernd davon. Minoru sah ihn wutschnaubend an. „Warum muss ich mit deiner engstirnigen Inkompetenz leben? Sag mir, warum ich mir das seit über eine Woche antue, ohne dir die Ohren abzureißen!“ „Meine Güte, bist du herrisch!“, fauchte Takeru zurück. „Wir hatten sie fast!“ „Es ist Mittag. Träumst du etwa noch? Wir bekommen diese Viecher nie, wenn wir uns nicht auf eine Strategie einigen.“ „Aber warum einigen wir uns immer auf deine?!“ „Weil deine Strategien schwachsinnige Argumente voran schicken und du immer mit meinen Vorschlägen zufrieden bist – bis in deinem Hirn irgendeine deiner Schnapsideen herum spukt!“ Takeru knurrte wütend und Minoru stellte das Fell drohend ab. Ein lautes Klatschen, das mit dem Geräusch brechender Knochen einherging, ließ sie beide verwirrt herumfahren. „Ihr solltet euch mal selbst hören. Wie die kleinen Kinder. Es ist unglaublich amüsant. Mit der Ausnahme, dass alle Steinböcke im Umkreis von zehn Kilometern euer ach so männliches Herumgezicke deutlich hören können.“ Yumiko sprang über einige Felsen zu ihnen hinunter und blieb neben dem Steinbock stehen, den sie offensichtlich nach seinem Aufstieg überrascht hatte. „Yumiko!“, Takerus Laune verbesserte sich schlagartig und Minoru verdrehte genervt die Augen. Dass er überhaupt je weggelaufen war, um einer Heirat zu entgehen, war so sinnlos gewesen wie der Versuch, etwas Verständnis für Jagdtaktiken in sein Gehirn zu prügeln. Seine Eltern hatten die Sache einfach falsch angepackt: Im Grunde hätten sie ihn nur eine Woche mit ihr zusammenstecken müssen und er wäre vermutlich von selbst auf die grandiose Idee gekommen, um ihre Hand anzuhalten. Aber nein, erst einmal gegen an und dann dem exotischen Mädchen verfallen, als habe ihn irgendetwas ganz schwer am Kopf getroffen. Minoru hoffte inständig, dass er sich nie verlieben würde. Das war eindeutig schlimmer als Fieber. Direkt hinter ihr folgte Seijaku, ihr Leibwächter. Der entfernte Verwandte war von Nobu zum Schutz seiner Tochter abkommandiert worden und erfüllte diese Aufgabe schon seit Jahrzehnten mit Bravur. Minoru sagte dieser stille Wächter durchaus zu. Er verlor so gut wie nie auch nur ein Wort und mischte sich nicht in die Gespräche ein, solange Yumiko ihn nicht nach seiner Meinung fragte. Er schien ihr durchaus zugetan, wenn auch auf eine ganz andere Art als es Takeru war. Yumiko reckte freudig die Rute in die Luft und strahlte, als Takeru sie zu ihrer Jagd beglückwünschte. Sie sah auch Minoru erwartungsvoll an, während er sich setzte und tief seufzend den Kopf abwandte. Von einem Mädchen bei der Jagd übertölpelt. Konnte der Tag noch ätzender werden? „Gut gemacht“, sagte er schließlich doch und erhob sich wieder. Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu und schüttelte ihr weiches, braungraues Fell auf, bevor sie den Steinbock im Nacken packte und hinter sich herschleifte. Takeru richtete sich auf zwei Beine auf und schulterte das Tier. Yumiko sah ihn ein wenig betroffen an, aber er lächelte lediglich. „Ich kann es tragen, wenn du es schon erlegt hast. Wie sähe das denn aus, wenn ich dich so ein Tier schleppen ließe?“ Sie machten sich gemeinsam auf dem Rückweg und Minoru ließ sich bewusst zurückfallen, um die Beiden nicht zu stören und ein wenig den Himmel im Auge zu behalten. Die Gokurakuchō, „Paradiesvögel“, die in den höheren Lagen lebten, hatten vor einigen Tagen eine Gruppe von Wölfen angegriffen, die in den Bergen auf Beutezug gewesen war. Minoru hatte sie bisher nur von Weitem gesehen: Abschreckend große Vögel deren Kopf beinahe nahtlos in ihren kugeligen Körper überging; mit großen, leider sehr scharfen Augen und einem Maul voller spitzer Zähne, das sich in voller Breite über ihr gesamtes Gesicht erstreckte. Aus der Stirn dieser Vögel ragte - von der Hüfte aufwärts - jeweils ein humanoides Geschöpf empor. Diese Männer und Frauen, die Teil des Körpers dieser seltsamen Geier zu sein schienen, hatten Greifvogelklauen anstelle ihrer Hände und eine seltsam ungesund anmutende, blaue Hautfarbe. Alles in allem hielt Minoru sie für erstaunlich hässlich und er hätte viel darum gegeben, herauszufinden mit welchem ihrer Köpfe diese Yōkai nun dachten. So dringend, dass er ihnen nun aber begegnen musste, wollte er diese Frage jedoch nicht klären. Wie er von den anderen erfahren hatte, waren die Gokurakuchō schon seit langer Zeit ein Problem, verhielten sich aber verhältnismäßig ruhig seitdem Kōga einst ihren Anführer hatte töten können. Nobu plädierte seit dem Vorfall allerdings dafür, sie gänzlich auszurotten und hatte sich bereits mehrfach angeboten. Auch wenn er ganz offen davon gesprochen hatte, wie sehr ihn seine Familie einst in ihren Bann gezogen und von seinen sonst so imperialistischen Ideen abgebracht hatte, war Minoru sich nicht sonderlich sicher, dass von diesem Einfluss noch viel übrig war. Der Dosanko war nur eine Klauenbewegung davon entfernt, diesen Vögeln einen Besuch abzustatten und lediglich die bittere Erkenntnis, dass dies nicht sein Land war, hielt ihn davon ab. Vermutlich brauchte jemand wie er, der sein Leben lang Kriege geführt hatte, ein wenig Nervenkitzel und Auslastung und allmählich war Minoru sich gar nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war, ihn von diesem Feldzug gegen die Gokurakuchō abzuhalten. Immerhin war er es, der zurzeit darunter zu leiden hatte, dass Nobu vor Langeweile kaum wusste, wie er den Tag zum Abend bekommen sollte – hätte er da nicht einen gewissen Jungen gefunden, den er rund um die Uhr aufs Trainingsfeld scheuchen konnte. Seine Schulter war drei Tage nach dem Kampf gerade zumindest wieder schmerzfrei bewegbar gewesen, als Nobu ihm ein Katana in die Hand gedrückt und ihn nach draußen gedrängt hatte. Er war der reinste Sklaventreiber und langsam glaube Minoru, sogar seine Mutter sei in Sachen Schlaf erbarmungswürdiger gewesen als Nobu es je sein könnte – aber das war lediglich ein leises Summen in seinem Hinterkopf, das er schnell zur Seite schob. Er hatte Nobus Angebot bisher noch nicht einmal angenommen, aber das schien diesen so gut wie gar nicht zu stören und Minoru sollte es eigentlich nur recht sein. Was sollte er bei Takeru und Yumiko im Weg herumstehen oder den ganzen Tag am See vertrödeln, wenn er auch etwas Sinnvolles tun konnte? Dass Nobu ein ausgezeichneter Lehrer war und sehr viel Geduld aufbringen konnte, stand auf jeden Fall außer Frage, auch wenn die Begeisterung, mit der er jeden Tag an diese Arbeit herantrat, Minoru von Tag zu Tag mehr verunsicherte. Er war es nicht gewohnt, dass jemand sich um ihn kümmerte und langsam gingen ihm die Ideen aus, welchen Nutzen sich Nobu davon erhoffte. „He, hörst du überhaupt zu?“ Aus den Gedanken gerissen sah er verwundert zu Takeru auf, der die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog, das seltsam schief anmutete. „Manchmal möchte ich ja wissen, was in deinem Kopf Spannendes vorgeht, dass du so wegtrittst. Hast du vor der Feier noch einen Termin mit Nobu-sama oder nicht?“ Minoru zuckte ein wenig mit den Schultern und schloss zu ihnen auf. Wann Nobu Zeit für ihn hatte, entschied dieser ganz allein, aber es lag nahe, dass er keine große Motivation haben würde, Feierlichkeiten eines anderen Rudels vorzubereiten. Am Abend würde es ein großes, gemeinsames Essen geben, um eine Geburt und die Allianz zwischen den beiden Familien zu feiern, die auch ohne eine offizielle Bestätigung der Verlobung Bestand haben würde. Das musste er Takeru lassen: Es wirkte zwar zwischenzeitlich so, als sei er der Dosanko völlig verfallen, aber er hatte mit keinem Wort behauptet, dass er einer Heirat nun doch zugeneigt war. Dass nun dennoch alle fest damit rechneten, empfand Minoru als durchaus lästig und unsinnig, wusste doch jeder, dass kein Yōkai in diesem Alter so eine Bindung eingehen würde. Solche Spekulationen und junge Hochzeiten sollte man doch lieber den Menschen überlassen. Aber diese Fronten, die sich binnen der letzten Woche gebildet hatten, missfielen ihm ohnehin. Takerus Rudel schien sich immer mehr in zwei Lager zu spalten und gerade die Jüngeren waren es, die ihnen seit einigen Tagen immer wieder in die Quere kamen. Derweil waren die Dosanko deutlich zu diszipliniert und höflich, um ihn öffentlich zu brüskieren – zumal sie Yumiko offenbar hoch schätzten und kein schlechtes Wort über den Jungen an ihrer Seite verlieren wollten. Andererseits mischten sie sich auch nicht in die Auseinandersetzungen ein und Minoru hatte es langsam satt, sich diese Beleidigungen andauernd schweigend anzuhören, die immer öfter auch gegen ihn selbst gerichtet waren. Er wusste also genau, warum er keine große Lust hatte zum Lager zurückzukehren und den Abend vorzubereiten. Mit dem Steinbock sollten sie hoffentlich genug dazu beigetragen haben, um sich den Rest des Tages entfernen zu dürfen und den lästigen Rangkämpfen aus dem Weg zu gehen. Takeru schien es mit diesem Gedanken nicht anders zu gehen, denn als sie am See vorbeikamen, legte er den Steinbock ans Ufer und streckte sich ausgiebig. Als Minoru ihn fragend ansah, grinste er nur. „Eine kleine Pause für die Arbeit am Morgen. Wir könnten schwimmen gehen.“ „Danke, ich verzichte“, gab Minoru kühl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „In diesem Tümpel hat so eine große Schlange gar keinen Platz“, neckte der junge Wolf und schreckte im nächsten Moment vor einem vernichtenden Blick spaßeshalber zurück. „Eigentlich bist du nur wasserscheu.“ Als er mit schnellen Schritten auf Minoru zukam, machte der reflexartig ein Satz zurück, der ihn lediglich näher ans Ufer brachte. Takeru war jedoch wie immer schneller, legte die Hände auf seine Schultern und lächelte ihm frech ins Gesicht. „Du kannst deiner Angst nicht ewig aus dem Weg gehen, kleiner Hund. Ich kann dir auch gerne das Schwimmen beibringen, wenn das bisher noch keiner gemacht hat.“ Minoru schob sich seine Hand von der linken Schulter, als wische er etwas Störendes weg. „Lass den Schwachsinn, Takeru.“ Im nächsten Moment hatte der junge Wolf ihn mit wenigen gezielten Bewegungen zu Fall gebracht, aufgefangen und im hohen Bogen in den See geworfen. Das eiskalte Wasser schlug Minoru klirrend über dem Kopf zusammen und auch wenn er mit Abstand besser gegen solche Temperaturschwankungen gefeit war als die meisten anderen Lebewesen, krampfte sich seine Lunge für einen Moment schmerzhaft zusammen. Er hatte sich kaum orientieren können, als Takeru sich bereits ohne zu Zögern ins Wasser warf und ihn an den Schultern wieder an die Oberfläche zog. Sein Lächeln war so widerlich selbstgefällig, dass Minoru ihn nur zu gern an eine gewisse Panther-Dame erinnert hätte. Er biss die Zähne zusammen, bis es beinahe wehtat und versuchte sich vergebens aus dem Griff zu lösen. „Lass los!“ „Ist dir kalt?“, fragte Takeru ernsthaft überrascht, als er ihn musterte. „Du zitterst ja richtig...“ „Natürlich ist mir kalt!“, fauchte er zurück. „Es ist verdammt nochmal kein Hochsommer, du Spatzenhirn!“ „Weißt du was, Minoru-chan?“ „Was?!“ „Du riechst gar nicht nach nassem Hund.“ Yumiko stand ein wenig betreten am Ufer, während Minoru sich aus Takerus Fängen befreite und ihn unter Wasser drückte. Sie hoffte inständig, dass zwischen den beiden keine wirklichen Auseinandersetzungen erwuchsen. Die Lage war für Takeru ernst genug und wenn er nun noch den einzigen Freund verlor, mit dem er zu albern wagte, war es um seine doch erfrischende Heiterkeit schlecht bestellt. Heute sah es jedenfalls nicht danach aus. Takeru hatte einige Meter zwischen sich und Minoru gebracht und spritzte ihm das Wasser ins Gesicht, um ihn auf Abstand zu halten, während dieser offensichtlich eher darauf aus war, den Ōkami wieder unterzutauchen, als sich ans Ufer zu retten. Für Yumiko unterstrichen sie nur, was sie ohnehin schon von Männern allen Alters annahm: Hinter ihrer Fassade waren sie alle ein wenig durchgeknallt. Ganz sicher galt dies – insbesondere – für ihren Vater, bei dem sie Brief und Siegel darauf gegeben hätte, dass er, wäre er nur etwas freier gewesen, bei diesem kindischen Gehabe mitgemischt hätte. Allerdings war das unvorstellbar, denn wie alle anderen war er eben dies nicht – frei zu tun, was er wollte. Minoru hielt inne, als er Nobu nach ihm rufen hörte und fing Takerus Hand in der Luft ab, die ihn gerade wieder umstoßen wollte. Der verdrehte die Augen und stöhnte entnervt. „Das ist Talent von Erwachsenen: Immer stören, wenn man gerade mal etwas Lustiges tut. Wenn man blöd herumsitzt, wollen die nie was. Warum schickt er eigentlich nie Boten? Er hat doch genug davon.“ „Keine Ahnung“, gab Minoru ruhig zurück und stieg klatschnass aus dem Wasser. Nobu verzichtete erstaunlich oft auf Bequemlichkeiten wie Boten und erledigte solche Dinge lieber selbst. Besonders elegant war das zwar nicht, aber was das anging, war Nobu ihm vermutlich doch ähnlicher als er zunächst geahnt hatte – Eleganz und Herrschaftlichkeit waren dem Dosanko ziemlich einerlei. Takeru zog sich hinter ihm wieder ans Ufer und nahm auch den Steinbock wieder auf. „Ich schätze mal, du wirst länger weg sein, wenn er etwas von dir will.“ „Vermutlich. Ich finde euch nachher schon.“ Damit lief er voraus. So freundlich Nobu auch war, so wenig hielt er doch von Trödelei und Unpünktlichkeit. Minoru war nach diesem unfreiwilligen Bad immer noch eiskalt und der frische Wind machte das nicht gerade besser. Aber was half das? Er konnte nur hoffen, dass Takeru mindestens genauso schlottern musste, aber der schien dagegen eine gewisse Resistenz zu besitzen. Irgendwo nahe seinem Ohr nieste Myōga erbarmungswürdig und bibberte. Geschah ihm recht. Das hatte er nun davon, sich ständig heimlich an ihn zu heften. Als er bei Nobu ankam, der wie immer etwas abseits des Höhleneingangs auf ihn wartete, hatte der Dosanko ihm den breiten Rücken zugewandt und unterhielt sich mit jemandem. „Ihr habt nach mir gerufen.“ „Da bist du ja. Wir haben gerade über dich gesprochen.“ Minoru fiel beinahe sämtliche Mimik aus dem Gesicht, als er den Inu no Taishō hinter Nobu entdeckte – beinahe. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, den Anflug von Panik in irgendeiner Weise kund zu tun, der ihn überkam. Was wollte der noch hier? Sollte er nicht längst wieder in seinem weniger stürmischen Westen sein – ganz weit weg von ihm und der Erinnerung an diese ziemlich unerfreulichen Tage. Wenn Rin ihm nun alles erzählt hatte, insbesondere was seine Eltern anging, konnte der Tag doch noch ätzender werden; wenn er sich nicht sogar massiv verkürzte. Nobu war der einzige in der Runde, der eine gewisse Regung nicht ganz verbergen konnte oder wollte. Er starrte Minoru mit einem leichten Anflug von Unverständnis an und schien sein nicht ganz trockenes Auftreten offensichtlich deutlich schockierender zu finden als es sonst der Fall gewesen wäre. „Verdammt, Junge, was hast du angestellt? Du triefst ja! Sag mir nicht, du bist in diesen See gefallen! Frierst du etwa?“ „Es geht mir gut“, gab er so gelassen wie möglich zurück. „Wirklich“, fügte er noch hinzu, als Nobu die Augen verengte. „Völlig inakzeptabel“, fauchte eine ihm durchaus bekannte Stimme aufgebracht. „So ein Benehmen! So hier zu erscheinen -!“ „Jaken.“ Der Kappa fror augenblicklich in der Bewegung ein, als der Fürst ihn beim Namen nannte und kippte beinahe um, bevor er schwieg und Minoru aus Gift sprühenden, gelben Augen anfunkelte. „Nobu-sama erwähnte eine Jagd. Es wäre mir neu, dass Steinböcke Wasser vorziehen.“ Minoru war sich nicht sicher, ob das ein Scherz oder eine Anklage sein sollte. Letzteres passte auf jeden Fall eher, aber Nobu fand das offensichtlich durchaus amüsant und lächelte zumindest. „Nun, Wasser ist in jeder Hinsicht besser als im Gebirge abzustürzen“, gab er schließlich zu bedenken. „Wenn Ihr beliebt, kann ich Euch meine Räumlichkeiten anbieten.“ „Ich ziehe es vor, diese Höhle nicht zu betreten“, erwiderte der Fürst knapp, bevor er sich Minoru zuwandte. „Wir müssen reden.“ Damit ging er einfach davon. Minoru starrte ihm verdutzt und mit einem schlechten Gefühl im Magen nach. Am liebsten wäre er rückwärts gelaufen und hätte sich irgendwo verkrochen. Als Nobu ihm jedoch eine Hand auf die Schulter legte, fuhr er zusammen. „Geh mit. Er wird dir nichts tun. Zumindest würde ich ihm davon abraten.“ Er schob ihn ein Stück vor und erst da bemerkte Minoru, wie sehr er sich eigentlich dagegenstellte, auch nur einen Schritt zu tun. Er brauchte einige Sekunden, um sich gut zuzureden und dem Fürsten zu folgen. Es war sinnvoll, Respekt vor ihm zu haben und ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er daran dachte, dass er sich ihm widersetzt hatte und von Geburt aus schon eine gewisse Prädisposition besaß, dessen Ärger zu wecken. Es stand immer noch offen, ob er ihn als existent dulden würde, wenn ihm schon die Verbindung seiner Eltern verhasst gewesen war. Allerdings wollte die Reaktion seines Vaters nicht so recht in dieses Schema passen. Der hätte doch ebenfalls davon ausgehen müssen, dass der Inu no Taishō Minoru als Produkt dieser Zweisamkeit ablehnen musste – warum also dieser plötzliche Hass und die Angst, die ihn überkommen hatten? Im Grunde musste er sich eingestehen, dass er ebenso großen Respekt vor Sesshōmaru wie auch vor Nobu hatte, dies jedoch nicht mit Angst gleichzusetzen war. Er fürchtete nicht den Tod, dem ihm jeder kleine, sogar schon begangene Fehltritt einbringen konnte. Viel schlimmer war die Unterhaltung, die dieser Mann nun offensichtlich anstrebte und die Minoru dahin zurückwarf, wovor er einst geflohen war: Ständige Belehrungen und Überwachung. Jaken, der dem Fürsten auf dem Fuße folgte, war der lebende Beweis dafür, dass es genug Leute gab, die die Meinung seiner Mutter teilten und ihn immer wieder darauf aufmerksam machen würden, wie ungehobelt und vulgär er in ihren Augen anmutete. Was andere Leute von ihm hielten, störte ihn im Allgemeinen eher wenig bis gar nicht. Schlimm wurde es an der Stelle, an der sie beabsichtigten, sich in diese Dinge einzumischen und ihn umzukrempeln. Es war beim besten Willen nicht so, dass er nicht wusste, wie er sich 'anständig' zu verhalten hatte. Dafür hatte seine Mutter schon gesorgt. Er wollte es einfach nicht. Spätestens seitdem sie nur bei korrektem Benehmen dazu bereit gewesen war, ihn überhaupt wahrzunehmen, hatte er begonnen, sich konsequent gegen alles zu stellen, das ihn irgendwie in eine Richtung drücken wollte. Bei diesem Mann sah er da allerdings Schwarz. Mit jedem Meter, den sie gingen, wurde es jedoch unwahrscheinlicher, dass er beabsichtigte, ihm das Leben auszuhauchen. Er hielt den Fürsten weder für feige noch für so hinterlistig, ihn dafür erst von den anderen wegzuführen. Das hatte er einfach nicht nötig. Solange aber ungeklärte Verhältnisse im Raum standen und nicht klar war, was er nun eigentlich wollte, war Minoru so, als könne er die stechenden Fragen nicht aus dem Kopf vertreiben. Was hatte Rin ihm erzählt, dass er sich die Mühe machte, hierher zurückzukehren? Eine einfache Entschuldigung für sein Betragen hätte er doch schon vor einer Woche mit viel weniger Umständen einfordern können. Minoru schluckte trocken. Er war einfach zu durcheinander, um genau zu begreifen, warum er so ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Ob - und wenn in welchem Maße - er fürchtete, was ihm gleich bevorstand und was ihm nun eigentlich egal war und was nicht. Er schüttelte sich einen Moment kaum merklich, nahm sich zusammen und blieb stehen. „Ich will nicht schon wieder unhöflich erscheinen - “, sagte er ernst, als der Fürst nicht auf sein Halten reagierte. „Aber Ihr wolltet mit mir reden und nicht Bergsteigen.“ Der Daiyōkai wandte sich um und sah ihn mit einem kaum erkennbaren Anflug von Erstaunen an. „Das ist dein Betragen, wenn du 'nicht unhöflich' erscheinen willst?“, fragte er scharf. „Dann rede.“ Er näherte sich und blieb in einem Abstand von einigen Metern zu ihm stehen. Sein Blick war erhaben und fordernd – das war schon einmal mehr als sonst. „Ich habe um Eure Hilfe nicht gebeten. Ich wollte nie Dritte in meine Angelegenheiten einbeziehen und ihnen damit Mühe machen oder sie in Gefahr bringen. Wenn ich mein Leben aufs Spiel setze, um ein Versprechen zu halten, dann ist das allein mein Problem“, antwortete er mit fester Stimme. Was hatte er jetzt schon noch zu verlieren? „Das klingt jetzt fürchterlich undankbar -“ „Das ist es“, stellte Sesshōmaru leichthin fest. „- aber das bin ich nicht. Ohne Eure Hilfe hätte mich jeder dahergelaufene Mensch töten können, als ich krank war. Ich bin Euch sogar sehr dankbar dafür, dass Ihr mich nicht einfach habt liegen lassen, auch wenn es Euch vielleicht nur der Verdeckung Eurer Truppen diente. Aber ich konnte nicht einfach bei diesem Schmied sitzen bleiben und warten – und das wird mir kein schlechtes Gewissen abringen.“ „Warum ist es dir so wichtig, ein Versprechen einzulösen, das dich töten kann?“ „Welche Wahl hatte ich denn? Ich tauge weder zum Krieger noch zum Bauern. Ich kann mich lediglich selbst versorgen, solange nichts Unerwartetes passiert. Mein Wort ist alles, was ich besitze und alles, was mich ausmacht. Wenn ich es bereits gegenüber einem Freund breche, dem ich es aus freien Stücken gegeben habe, was ist es dann noch wert – und was ist mein Leben dann schon, wenn ich nicht einmal dazu im Stande bin? Das ist armselig.“ Der Taishō schnaubte einen Moment abschätzig und sah mit demselben strengen Blick auf ihn hinunter, den er immer zu haben schien. „Dein Leben ist also nicht mehr wert als das Wort, das du gibst?“ „Übersehe ich etwas Offensichtliches?“, fragte Minoru leise, aber beinahe verbittert. „Irgendetwas anderes, das ich habe, das von Wert sein sollte?“ „Reiz' ihn nicht“, klang ein Flüstern an sein Ohr und er wusste, dass zumindest Myōga noch da war. Seltsamer Moment für ihn. Wenn hatte er erst später mit einem Kommentar gerechnet – sofern es ein Später gab. „Was denkst du, was ich habe, das dir fehlt? Gehst du davon aus, dass mein Leben wertlos ist, wenn ich je mein Wort breche?“ Darüber musste Minoru einen Moment ernsthaft nachdenken. Für andere Leute hatte er sich diese Gedanken sicher noch nie gemacht. Es hatte ja schließlich auch nie einen Grund dazu gegeben. Nach einigen Minuten schüttelte er den Kopf. Sesshōmaru hob fragend eine Braue. „So?“, fragte er ernst. „Was?“ „An Eurem Leben hängt mehr als nur das allein. Ich halte es immer noch für äußerst wichtig, dass man sein Wort hält, aber ich bin auch nur für mich allein verantwortlich. An Euch hängen hingegen mindestens zweihundert Kappa, ein Mädchen und A-Un – und ich bin sicher, da sind noch mehr Personen, die auf Euch angewiesen sind. Der Westen ist riesig und ohne Euch wäre er Euren Feinden wohl ausgeliefert. Ihr habt also ein ganzes Heer von Personen, die Euch unterstellt und von Euch abhängig sind. Takeru hingegen kommt auch wunderbar ohne mich zurecht und um andere Personen schere ich mich nicht.“ Durch den Blick des Fürsten huschte für einen Moment etwas Ungläubiges. „Weil ich also Verantwortung trage und du nicht?“ „Weil Ihr ein ganzes Reich schützt“, gab Minoru erstaunlich ruhig zurück. „Du bist ein seltsames Kind“, stellte Sesshōmaru fest und vermied es, den Kopf über ihn zu schütteln. „Wo hast du nur solchen Unsinn her?“ Minoru zuckte leicht mit den Schultern. „Zeit zum Nachdenken? Ich weiß nicht. Und mit Verlaub: Ich halte das nicht für Unsinn.“ „Ein schöner Trick“, murmelte sein Gegenüber kaum hörbar, aber ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen verlangte er zu wissen, was er mit Nobu zu schaffen hatte. Minoru atmete einen Moment durch und überlegte, wie er es in Worte fassen konnte. Das war eine äußerst gute Frage, die er gerne selbst einmal beantwortet haben wollte. Warum interessierte sich ein Wolfyôkai von einer fremden Insel für ihn? Wollte er nur die Lücke seines Sohnes füllen? Aber das schien fast zu banal. „Er hat mir angeboten, mit ihm nach Hokkaidō zu gehen und mich zu unterrichten“, antwortete er schließlich. Da konnte sich der Fürst dann gerne auch selbst den Kopf drüber zerbrechen. „Er hält viel von dir“, entgegnete dieser schlicht. „Er hält mich für etwas, das ich nicht bin“, gab Minoru zurück, ohne groß darüber nachzudenken. „Ich bin kein Krieger -“ „Du bist fünfzehn, Junge. Du hast im Krieg rein gar nichts verloren.“ „- und ich bin kein Inuyōkai.“ Wenn Rin es ihm noch nicht warm aufgetischt hatte, wusste er es zumindest nun und ganz gleich, was folgen würde, es käme hier und jetzt und er müsste zumindest keine Sorge mehr darum machen, dass es ihn irgendwann unvorbereitet einholen könnte. Der Fürst schnaubte lediglich wieder, überbrückte die letzten Meter zwischen ihnen und sah auf Minoru hinab – und spätestens nun wusste Minoru nicht mehr, was er von der Welt eigentlich halten sollte. „Sieh' mich an.“ Er zuckte zusammen, dann hob er langsam den Blick in die goldenen Augen. Er reichte dem Inu no Taishō nicht einmal ganz an die Schulter und musste den Kopf in den Nacken legen, um der Anweisung nachzukommen. Als sein Gegenüber abrupt die Hand nach ihm ausstreckte, wollte Minoru noch einen Satz zurück machen, aber der kräftige Griff des Fürsten hatte sich bereits um seinen Unterkiefer gelegt. Jeder Muskel in Minorus Körper war bis in die letzte Faser angespannt, sein Ausdruck in Panik entrückt. Er hatte damit gerechnet, dass die Haut des Mannes so kalt war wie sein Auftreten, stattdessen war seine Hand beinahe heiß. „Halt still“, tönte es nur knapp, als er Minoru fester hielt und mit einer Kralle derselben Hand die Kratzer aufschnitt, die sein Vater ihm beigebracht hatte. Minoru zuckte zusammen, wollte nach der Hand schlagen, aber Sesshōmaru erstickte die Abwehr im Keim und wehrte die Klauen des Jungen mühelos ab, um ihn dann strafend anzuschauen. „Wenn du das nicht vernünftig auswäschst, bleiben Narben“, erklärte er knapp und gab ihn wieder frei. Minoru stolperte zurück und hielt sich davon ab, nach der Wange zu fassen, an der nun erneut warm das Blut herunterlief. „Ich - danke...“, brachte er schließlich kleinlaut hervor. „Warum hat er dich geschlagen?“, verlangte der Fürst zu wissen. „Das...“, Minoru stockte. Im Grunde wollte er darüber nicht reden. Vermutlich hatte sein Vater auch jedes Recht dazu gehabt. War er doch mehr als respektlos ihm gegenüber gewesen. Minoru schüttelte wortlos den Kopf. „Du solltest dir angewöhnen, meine Fragen zu beantworten“, kam es nun wieder eiskalt zurück. „Ich war unhöflich... vielleicht auch eher sehr respektlos“, gestand er leise und senkte den Blick, bevor er ihn in plötzlich aufwallendem Unmut wieder erhob. „Was interessiert es Euch?“ „Ich will wissen, warum ich ihn töte“, gab der Fürst trocken zurück. Minoru starrte ihn mit großen Augen an. „Nicht, dass ich diesen kleinen Zwischenfall noch als Grund bräuchte. Er hat mir schon genug andere gegeben. Sei also versichert, dass sein Ableben nicht durch dein Handeln begründet liegt. Du scheinst mir jemand zu sein, der gern alle mögliche Schuld auf sich lädt. Immerhin dachtest du offensichtlich, ich gäbe dir die Schuld am Betragen dieses Fuchses und an Rins Gefahrenlagen.“ „Das tut Ihr nicht?“ „Natürlich nicht. Rin war immer schon in der Lage ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Allerdings schätze ich es nicht, wenn man sich über meine Anweisungen hinwegsetzt.“ „Habe ich nicht auch -?“ „Natürlich hättest du bei Tōtōsai bleiben sollen! Das wusstest du, ohne dass ich es dir gesagt habe. Vielleicht macht es deinen Ungehorsam damit umso schlimmer. Solltest du noch einmal ganz bewusst nicht gehorchen, werden wir uns anders unterhalten müssen. Du darfst dich dafür entschuldigen.“ Minoru kniete im nassen Gras nieder und verbeugte sich vor ihm, wie er es einst gelernt hatte. Wenigstens dafür war dieser Unfug gut. „Und nun vergessen wir das“, der Fürst klang für seine Verhältnisse zufrieden, aber als Minoru ihn ansah, war sein Ausdruck eher von einer gewissen Wut durchzogen. Er ließ die Gelenke an seiner Hand leise knacken und musste sich offensichtlich beherrschen, nicht wütend zu werden. Als Minoru zurückzuckte, entspannte der Taishō sich deutlich, wenn auch unter Mühen. „Was hat mein Vater Euch getan, dass Ihr ihn töten wollt? Als ich Euch erwähnte, hat er mich angesehen, als sei ich der größte Verräter, der je existiert hat. Ich bin mir sicher, Rin hat Euch alles darüber erzählt.“ „Das hat sie. Es scheint, als wärst du wirklich ratlos. War meine Annahme, du seist zumindest teilweise im Bilde, falsch?“ „Ihr habt meine Mutter vom Hof verjagt, so viel ist mir klar. Dass Ihr eine Verbindung zwischen Fuchs und Hund nie geduldet hättet, ja, das weiß ich. Aber ihr bringt mich nicht um. Erstaunlicherweise nicht, obwohl Ihr es der Konsequenz halber tun müsstet.“ „Ich dachte, du seist so misstrauisch“, gab der Fürst nur ruhig zurück. „Dass du dann gerade den Leuten glaubst, vor denen du fliehst, wundert mich.“ „Wie bitte?“, Minoru sah ihn perplex an und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte „Es kümmerte mich nicht im Geringsten, wenn jemand bei Hofe auf die Idee käme mit einem Fuchs durchzubrennen, solange mich das nicht tangierte. Dass sie aber bestrebt waren, dir vor mir Angst zu machen, leuchtet ein. Es wäre ja auch zu dumm, wenn du mich getroffen hättest, bevor du ihnen nützlich sein konntest, nicht wahr?“ „Hättet Ihr die Güte, mir endlich einmal mitzuteilen, worum es hier eigentlich geht? Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr nun aufhören könntet mit mir zu spielen. Ich will nur meine Ruhe haben und mir nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, warum alle möglichen Leute plötzlich etwas von mir wollen, was sie wollen, und wie ich damit umgehen soll. Was auch immer Ihr hofft, von mir zu erfahren, ich bin mir sicher, dass ich es nicht weiß!“ Der Inu no Taishō sah ihn eine ganze Weile still an und nahm zumindest innerlich Abstand davon, ihn für seinen wenig respektvollen Ausbruch zu ermahnen. Immerhin hatte er den Jungen durchaus gereizt und ja, er hatte gerne noch das ein oder andere von ihm erfahren, aber so wie es aussah hatte dieses Kind weder etwas geahnt noch die Grundsätze infrage gestellt. Er hatte diese Dämonin immer für naiv und ehrbar gehalten und eigentlich rühmte er sich damit, eine gewisse Personenkenntnis zu besitzen, aber wie wollte er leugnen, was immer offensichtlicher wurde? „Du bist mein Erbe, Junge. Ich kann mir immer noch nicht erklären, wie deine Mutter es fertiggebracht hat, mir dich zu unterschlagen, aber eine andere Erklärung ist ausgeschlossen.“ Minoru starrte ihn lediglich an, als habe er den Verstand verloren und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. „Das ist doch vollkommen abwegig!“, protestierte er schließlich eher aus Verzweiflung als aus Überzeugung. „Das glaube ich nicht!“ „Es steht dir frei, mit mir in den Westen zu kommen, wenn wir morgen früh wieder abreisen“, gab der Taishō unbeeindruckt zurück. „Du bist gänzlich unschuldig an dieser Misere und ich hege keinerlei Groll gegen dich.“ „Na, das ist ja großzügig!“, fauchte Minoru wütend und sein Gegenüber weitete kaum merklich die Augen. „Andere Leute haben Probleme damit, dass sie einen Bastard untergeschoben bekommen und gerade Ihr wollt mir erzählen, dass Ihr nicht einmal im Stande wart, zu ahnen, dass Ihr einen Sohn haben könntet? Ich meine, Kinder fallen nicht vom Himmel!“ „Beruhige dich, Minoru.“ „Wie könnte ich?!“ „So ein unerzogener Bengel!“, mischte sich Jaken ein, der sich zumindest bisher hatte zurückhalten können. „Es zu wagen, so mit Sesshōmaru-sama zu sprechen -!“ „Halt du dich da raus, du widerliche Kröte oder ich beiße dir den verdammten Kopf ab, wenn er nur einen Moment wegschaut!“ Der Kappa stolperte tatsächlich rückwärts und fiel auf den Hintern. Sein Blick ging Schutz suchend zu seinem Herrn, der ihn sicher ohne Umwege in die Unterwelt befördert hätte, wenn Blicke auch nur im Mindesten hätten töten können. Dann wandte er sich wieder Minoru zu. „Nobu-sama wird verstehen, wenn du sein Angebot unter diesen neuen Umständen ablehnst“, konstatierte der Taishō kühl, als ginge es um nichts weiter als Nobus eventuell gekränkten Stolz. Minoru konnte nicht anders. Er knurrte tief, bis sich ihm alle Nackenhaare aufstellten, verwandelte sich direkt vor seiner Nase und ließ ihn eiskalt auf der Anhöhe stehen, auf der sie gehalten hatten. Als der Kappa ihm schimpfend nachlaufen wollte, trat Sesshōmaru diesem lediglich auf den Saum seines Yukata, sodass er eine schmerzhafte Bruchlandung auf den geschotterten Boden hinlegte. „Lass ihn in Frieden“, befahl sein Herr streng. „Er wird sich beruhigen.“ Kapitel 16: die lange Schatten wirft ------------------------------------ Die Steine verloren augenblicklich die wenige Wärme, als die Sonne an Kraft einbüßte und hinter dem Gebirgskamm verschwand. Minoru hatte genug von kaltem, nassem Wetter, Überraschungen und dem Tumult der letzten Wochen. Alles schien aus den Fugen geraten und in Frage gestellt und je mehr er darüber nachdachte, desto schlimmer wurde es. Bereits vor einer Stunde hatte er versucht, an Nichts zu denken und einfach zu tun, was ihm als Erstes in den Sinn kam. Aber das Denken ließ sich nicht so einfach ausblasen wie eine Kerze. Wo waren die stillen Sommernächte hin, in denen er auf dem noch warmen Rasen vor sich hindösen konnte und niemand ihn auch nur eines zweiten Blickes würdigte? Aber auch dieses Bild war wie alle anderen: Es verwirrte. War er damals wirklich glücklich gewesen? Freiheit für die ständige Bedrohung durch andere, Stille für kalte Nächte und leeren Magen. Mittlerweile stellte er sich die Frage, ob er so etwas Vergängliches wie Glück je empfunden hatte ohne rückblickend über diese Erinnerung schaudern zu müssen. Immerhin war er nicht so dumm gewesen, sich weit vom Lager zu entfernen, hatte einen Pfad durch die zerklüfteten Felsen weiter östlich genommen und starrte nun schon seit Stunden in die Richtung, in der die anderen nun sicher bald ihre Feier beginnen würden. Seinen Yukata hatte er achtlos auf einen Stein geworfen und sich daneben auf den felsigen Boden fallen lassen. Er war es leid zu frieren und diese erbärmliche Wintersonne hatte es nicht vermocht, ihn auch nur im Ansatz zu trocknen. Seine deutlich zerfetztere Hose hatte vermutlich schon in Ermangelung der ausreichenden Menge von Stoff aufgegeben und fühlte sich zumindest nicht mehr gänzlich an wie ein nasser Sack. Minoru zog ein Bein enger an den Oberkörper und legte den Kopf etwas auf seinem Knie ab. All seine Versuche, die Situationen für sich selbst zu ordnen, in eine sinnvolle Beziehung zu setzen und daraus irgendeinen Entschluss zu fassen, was er von alledem halten sollte, waren bisher kläglich gescheitert. Immer wenn er glaubte, einen klaren Gedanken gefasst zu haben, sich daran klammern wollte, fiel dieser in sich zusammen wie ein morscher Baum im Sturm. Was blieb war ein abgründiges Gefühl von Leere, die sich in seiner Brust festzusetzen schien wie ein Schraubstock und ihm die Luft abschnürte. Den Fürsten der Lüge zu bezichtigen ergab keinen Sinn. Er hätte keinerlei Nutzen daraus ziehen können, ihn als seinen Sohn auszugeben. Zwar hätte sich für ihn dann die Frage nach einem Erben geklärt, aber welcher Yōkai, der halbwegs bei Sinnen war, versuchte mutwillig das Kind eines anderen als seines auszugeben? Blieb also die Möglichkeit, dass er sich geirrt hatte, aber er wäre weder erfolgreicher Heerführer noch respektabler Fürst, wenn er aufgrund von ungesicherten Vermutungen solche Aussagen machte – und andere auch noch als ausgeschlossen verwarf. Die absurde Annahme, er sei wirklich der Erbe des Westens, warf allerdings so viele Fragen auf, dass Minoru ein leises Schwirren aus den Ohren verbannen musste. Dass seine Mutter den Fürsten kannte, hatte sie nie bestritten, aber warum sollte sie mit einem Kitsune durchgebrannt sein, wenn ihr so doch eine deutlich höhere Stellung sicher gewesen wäre, die ihrem ganzen Wesen deutlich eher entsprach, als alles, was Minoru sich zusammen reimen konnte. Sie war die perfekte Puppe für öffentliche Auftritte: Distanziert, erhaben, elegant und von Grund auf durchgeplant und konsequent. Dass sie das alles im Namen der Liebe aufgegeben hatte, passte einfach nicht ins Bild – zumal seine Eltern nie auch nur im Ansatz so gewirkt hatten wie Takeru und Yumiko es seit einer Woche taten. Da war kein benommenes Lächeln, kein bewundernder Blick oder auch nur die leiseste Freude, den anderen nach Monaten der Trennung zu sehen, wie er es bei Ayame und Kōga bemerkt hatte, wenn sie ihren Sohn ansahen. Warum also diese Flucht in die Einöde – und warum sollte sich Kōhei so arglos das Kind eines anderen unterschieben lassen haben? Hätten sie später mit ihm gegen den Westen intrigieren wollen, wäre es doch völlig unnütz und kontraproduktiv gewesen, ihn von jeglicher Art von Waffe fernzuhalten und für alle kriegerischen Spiele zu schelten. Er fröstelte, als ein kalter Wind über die Kuppe zog und schlang die Arme enger um die Schienbeine. Ein allzu bekannter Geruch schwang darin mit und Minoru sah davon ab, den Kopf zu heben, als Takeru sich ihm näherte. „Es war gar nicht so einfach, dich zu finden. Als ich von Nobu wissen wollte, warum er ohne dich zur Feier kommt, hat er mir erzählt, mit wem du unterwegs warst und worum es gegangen sein muss.“ Der Ōkami war mit leisen Schritten an ihn herangetreten und klang ebenso niedergeschlagen wie Minoru sich fühlte. „Ich glaube, das ist nun eines der Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben – und auch nie hatten.“ Minoru antwortete nicht. Er wäre zwar am liebsten jeder Seele auf diesem verrottenden Planeten aus dem Weg gegangen, aber mit Takeru konnte er es noch am ehesten aushalten. „Vergiss uns nicht, wenn du von all den neuen Eindrücken erschlagen wirst.“ „Ich werde nicht gehen...“ Er klang längst nicht so überzeugt wie er sich fühlen sollte. Takeru schnalzte abfällig mit der Zunge und ging vor ihm in die Hocke. An seinen Lederriemen bauschte der braune Pelz im Wind der Berge fein auf. „Red' keinen Unsinn. Natürlich wirst du gehen.“ Minoru, sonst so abgebrüht, wirkte kraftlos und abgekämpft. Er hatte den Kopf irgendwo zwischen Knien und Brust geborgen und starrte tonlos vor sich hin, als sei er mit den Gedanken ganz weit fortgetrieben worden. Schließlich seufzte Takeru lang, ließ sich neben ihm an dem Felsen heruntersinken und sah ihn an, bevor er eine Hand in das weiße, etwas zerzauste Haar an seinem Hinterkopf legte. „Du musst“, meinte er leise, aber bestimmend. „Es ist dein Zuhause. Der einzige Ort, an den du wirklich gehörst. Ist es nicht das, was du eigentlich schon die ganze Zeit suchst? Er ist zurückgekommen, um dich zu holen - und er lässt dir sogar die Wahl. Du siehst doch selbst, dass es das ist, was du tun musst, wenn du je zur Ruhe kommen willst. Wovor hast du Angst?“ „Ich habe keine Angst.“ „Natürlich hast du. Wie saudämlich du wärst, wenn du sie nicht hättest! Und ich weiß, dass du kein Narr bist. Es ist nur verständlich. Der Westen ist kein Vergleich zu dem hier, aber du bist doch bestens vorbereitet. Welchen Schaden kann er dir noch zufügen, den deine Mutter nicht schon lange vor ihm verrichtet hat? Wie willst du ihn enttäuschen, wenn keiner von euch eine Vorstellung hat, wer du überhaupt bist? Du musst nach Hause gehen, Minoru.“ „Du glaubst diesen ganzen Mist tatsächlich?“ Takeru musterte ihn eine Weile nachdenklich. Wenn er nur ein wenig bissig geklungen hätte, wäre er schon beruhigt gewesen, aber die Frage klang trocken und beinahe normal. „Ich weiß, dass die Frage bei dir beinahe sinnlos ist, aber hast du in deinem Leben mal ernsthaft in den Spiegel gesehen? Angenommen seine Aussage sei trotz allem falsch, solltest du das Angebot dennoch annehmen. Nicht einmal Nobu kann dir die Sicherheit bieten, die seine Gesellschaft mit sich bringt. Streng doch mal deinen Kopf an: Er hat seit gut zwanzig Jahren ein Menschenmädchen bei sich und sie lebt immer noch – du überlebst zehn Mal mehr als so ein Mensch! Ich schlage dich, wenn du auch nur daran denkst, etwas anderes zu tun!“ Er stand auf, riss Minoru an den Armen unsanft auf die Beine und legte ihm grinsend einen Arm um die Schultern. „Wenn du dann irgendwann einmal Taishō bist, kann ich behaupten, du hättest das nur meinem guten Zureden zu verdanken.“ Minoru wand sich grob aus seinem Griff und drehte ihm sofort den Rücken zu. „Du findest das auch noch amüsant, oder? Hast du eine vage Vorstellung davon, wie es ist, wenn du denkst, dass jede Person lügt, wenn sie den Mund aufmacht?“ Takeru zog die Brauen hoch und sah ihn ein wenig gekränkt an. „Ich habe dich noch nie belogen.“ Das hatte er durchaus nicht und auch seine nun so unangebrachten Scherze meinte er nicht ernst. „Nein, stimmt“, gab Minoru kurz angebunden zurück und erstarrte, als Takeru ihn umarmte und seinen Kopf auf seine Schulter sinken ließ. „Wenn dir die Westländer versuchen, den Alltag zu vermiesen, dann bin ich immer noch hier. Ich verspreche dir auch, dass keiner dich danach fragen wird, warum du zurückgekommen bist, wenn du es nicht erzählen willst.“ „Taker-“ „Wir sind doch Freunde, oder?“ Als Minoru nicht antwortete, presste er ihm für einen Moment die Luft ab. „Oder?“ „Ja...“ „Dann bleiben wir das auch. Ganz egal wie und wann du hierher zurückkehrst – und wehe dir, du tust das nie! Ich will zumindest einmal in hundert Jahren ein Lebenszeichen von dir hören. Das ist ja wohl das Mindeste! Du warst mein Unterbewusstsein, als ich nicht mehr klar denken konnte. Wegen dir bin ich endlich wieder Zuhause. Nun lass mich deines sein: Geh mit ihm, Minoru. Das ist der sicherste Ort und dein gutes Recht. Wirf es nicht so einfach fort. Wir bekommen alle nur so viel aufgeladen, wie wir tragen können – und ich bin mir sicher, dass dieser hochnäsige Haufen dort jemanden wie dich gut vertragen kann. Vielleicht werden diese Köter dann endlich mal erträglicher.“ „Du bist eine verdammte Plage, Takeru.“ Das Grinsen des Ōkami wurde breiter: „Willkommen zurück von den zu Tode Bestürzten, Minoru-chan. Es steht dir wirklich nicht, einen so trübseligen Anblick darzubieten.“ „Nenn' mich noch einmal so...“ „Oh, ich dachte, Ihr wäret für ein 'Minoru-sama' noch nicht bereit, Herr. Verzeiht mir bitte.“ Takeru ließ ihn schnell los, als er sich schnappend nach ihm umdrehte und brachte lachend einige Meter Abstand zwischen sich und die Zähne seines Freundes. Minoru hielt inne, als er ihm ins Gesicht sah. Takerus Lippe war aufgerissen und sein Körper von blauen Flecken und Kratzern übersät. „Mit wem hast du dich angelegt?“, fragte er plötzlich wieder mit aller Ernsthaftigkeit, die er aufbringen konnte. Takeru verlor seine gute Laune jedoch nicht und zuckte lediglich mit den Schultern. „Sieht der andere wenigstens noch mieser aus als du?“, hakte Minoru nach. „Ich komme schon zurecht. Mach dir bloß keine Sorgen um mich.“ Er gab sich wirklich Mühe, aufmunternd dreinzuschauen. „Ich weiß, du bist vielleicht noch weniger in Stimmung als sonst, aber willst du vielleicht trotzdem mit zur Feier kommen? Ich sterbe vor Hunger.“ Minoru seufzte tief und schüttelte ein wenig verzweifelt den Kopf über Takeru – und sein restliches Leben. Wie schaffte es dieser verrückte Wolf bloß, ihn binnen Minuten wieder ein wenig in geordnetere Bahnen zu lenken, wo er doch kaum Ahnung hatte, wie er sein eigenes Leben in den Griff bekommen sollte? Kommentarlos nahm Minoru seinen Yukata vom Felsen, warf sich das klatschnasse Ding über die Schulter und ging den Pfad wieder hinab, den er am Mittag so kopflos hinauf geprescht war. Takeru lief dicht neben ihm. „Denkst du, Nobu wusste es?“, fragte Minoru plötzlich, als sie bereits einige Minuten unterwegs gewesen waren. „Ich weiß es wirklich nicht“, antwortete Takeru. „Ich traue ihm alles zu. Wer weiß schon, was in dem Kopf von Rumoi no Nobu-sama vor sich geht? Er ist unberechenbar, wenn du mich fragst.“ „Schickt es sich, so über seinen zukünftigen Schwiegervater zu sprechen?“, stichelte Minoru und Takeru warf ihm einen warnenden Blick zu. „Das sehen wir noch. Ich mag Yumiko, aber die Entscheidung, mit wem ich mein ganzes, erwachsenes Leben verbringen will, braucht glaube ich mehr Überlegung als ein paar Tage. Solange wir die Verlobung offiziell nicht lösen, haben wir beide unsere Ruhe und können sehen, ob wir uns auf Dauer aushalten oder eben nicht. Nobu scheint uns da auch freie Hand zu lassen und solange ich mich nicht gegen sie entscheide, werde ich mit ihm auch keine Schwierigkeiten bekommen. Aber was rede ich? Du willst mit dem wohl unheimlichsten Mann in ganz Japan zusammenleben. Da ist mein potentieller Schwiegervater beinahe zahm.“ Minoru knirschte leise mit den Zähnen und schwieg eine Weile. Ob es die richtige Entscheidung sein würde und ob er im Zweifelsfall wirklich so einfach zu Takeru zurückkehren konnte, wenn sich dies alles als großer Fehler entpuppte, stand gänzlich in den Sternen. Takeru hatte allerdings recht. Der Taishō war für ihn noch einmal zum Lager des nördlichen Stammes gekommen, hatte ihm seinen Ungehorsam verziehen und ihm auch noch die Wahl gelassen, mit ihm zu gehen oder nicht. Dass diese suggerierte Freiheit auch nichts weiter als Taktik gewesen sein konnte, war Minoru durchaus bewusst. Aber auch dann hätte dieser Mann, der sich nun sein Vater nannte, mehr von ihm verstanden, als es vielen anderen bisher möglich gewesen war: Ihn zu zwingen brachte nichts als Widerwillen hervor. Letztlich war ihm der Taishō während der gemeinsamen Reise gen Norden das angenehmste Mitglied der Gruppe gewesen. Wegen ihm hatte er also bisher keinen wirklichen Grund, sich zu sträuben – eher wegen des Anhangs, den er so mit sich führte. Wenn Nobu auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hatte... aber das würde Minoru ihn schon selbst fragen müssen. Er drehte das Armband an seinem rechten Handgelenk. Die dunkelroten Steine blitzten, ohne dass die längst versunkene Sonne auf sie fiel. Wider Nobus Anraten hatte er es nicht abgenommen und der Dosanko hatte das Thema nie wieder aufgegriffen. Die Überlegung, wie lange er es trug, kam der Frage nach der Existenzdauer seiner Arme gleich. Er konnte sich nicht daran erinnern, es je nicht besessen zu haben. Wieder eines dieser Dinge, die er nie in Frage gestellt und als gegeben hingenommen hatte. Angelegenheiten dieser Art hatten ihm bisher nur unangenehme Überraschungen bereitet. Genug davon. Er legte eine Kralle unter das dünne Band und riss es in einer kleinen Bewegung durch. Die Steine fielen schimmernd zu Boden, während Minoru achtlos über sie hinweg stieg und einen seltsamen Anflug von Wärme verspürte. Takeru sah ihn einen Moment verwundert an, aber er vermied es, ihn darauf anzusprechen. „Die beiden Herren haben den gesamten Auftakt versäumt“, schalt Nobu sie, als sie sich in seiner Nähe auf dem Boden außerhalb der Höhle niederließen. Yumiko saß neben ihm und lächelte ganz offensichtlich erleichtert. „Und dann tauchen unsere beiden Herrschaften auch noch halb angezogen und blutig auf. Ihr würdet selbst zu eurer eigenen Beerdigung noch zu spät kommen, nicht wahr?“ Während Takeru ein wenig starr auf den Boden sah und sich leise entschuldigte, musterte Minoru Nobu abschätzend. „Bis zu unserer Beerdigung können wir uns ja noch eine Weile in Pünktlichkeit üben“, meinte er schließlich und Nobu lachte laut auf. „Das hoffen wir doch. Ich bin froh, dass du dich dagegen entschieden hast, die Nacht allein irgendwo zwischen den Felsen zu verbringen. Wie überaus unangenehm es gewesen wäre, dich in einem Nest dieser elenden Geier suchen zu müssen, wenn sie ihren plötzlichen Hunger nach jungem Hund stillen wollten.“ „Nun lasst euch nicht von ihm ärgern. Esst lieber etwas“, meinte Ayame. Sie reichte ihnen zwei Schüsseln voller fettiger, heiß dampfender Suppe, während Kōga neben ihr ganz offen die Blessuren seines Sohnes in Augenschein nahm. Er schien ein wenig genervt und wippte im Schneidersitz ungeduldig mit einem Bein, während er eine Unterhaltung mit seinem Sohn begann, in der es ganz offensichtlich um dessen letzte Schlägerei ging – ein kurzer Vater-Sohn-Exkurs in Sachen Selbstverteidigung. Minoru bedankte sich bei Ayame und trank von der Suppe. Er bemerkte durchaus, dass Nobu ihn interessiert betrachtete. „Wie lange wusstet Ihr es?“ Der Daiyōkai lächelte ruhig. „Ich hatte Vermutungen. Wissen kann man es nicht nennen. Aber ich muss zugeben, dass es mir ein Dorn im Auge ist, dass er dich nun will – und einen höheren Anspruch auf dich hat als ich je haben werde.“ „Warum habe ich das Gefühl, jeder hier wisse eher was passiert als ich?“, verlangte Minoru scharf zu wissen. „Der Fürst hat ohne Zweifel zuerst mit dir gesprochen. Aber ich habe dich gewarnt: Dieser Clan ist ein Haufen redseliger Tratschtanten. Ehe du einen Gedanken ausgesprochen hast, kennt ihn das halbe Rudel. In manchem Falle unangenehm, zweifelsohne. Wenn du hier bist, hast du dich entschieden, nehme ich an. Er lässt dir wahrlich nicht viel Zeit.“ „Ich hoffe Ihr nehmt es mir nicht übel –.“ Wieder lachte Nobu, diesmal ein wenig trocken und zog ein Knie heran, um den Arm darauf abzulegen. „Mein lieber Junge, du hast meinen Rat befolgt, und es vorgezogen, eine Entscheidung zu treffen, statt dich mit der Zeit treiben zu lassen. Ich wünsche dir, dass du auf diesem Weg die Vorsehung findest, die für dich einst gedacht war und so endlich in sicherer Obhut ruhen kannst. Ich bin mir sicher, dass das, was du bisher erfahren und erlebt hast – und sei es auch noch so schwierig gewesen – dich von den anderen abhebt und dir eine Sicht ermöglicht, die nur du erlangen kannst. Sieh das nicht als Nachteil, mach es dir zu Nutzen. Und wenn du in Schwierigkeiten bist, lass es mich wissen.“ „Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll.“ „Auch das erwähnt ich bereits. Ich verlange dafür nichts von dir. Aber du solltest ihm deine Entscheidung noch heute Abend mitteilen. Allein schon aus Respekt. Sicher treibt er sich irgendwo in der Nähe herum. Das sähe ihm nur zu ähnlich.“ „Darf ich Euch etwas ganz offen fragen?“ Minoru schluckte ein wenig, als Nobus Gesicht auf diese Frage hin einige Falten entwickelte, die so gar nicht zu seinem sonst so erhaben lächelnden Gesicht passen wollten. Er wirkte beinahe gekränkt. „Ich habe doch keinen Grund anzunehmen, ich hätte eine meiner Gesten übersehen, die dich bewogen haben könnten, das Gegenteil anzunehmen, oder?“ „Ich bin niemand, war nie wirklich höflich oder respektvoll, mein Betragen ist - im Gegenteil - alles andere als löblich. Von meiner unkooperativen Art ganz zu schweigen. Warum seht Ihr über all das hinweg und reicht mir auch noch ständig die Hand?“ „Das verwirrt dich, nicht wahr?“ Nun war auch der letzte Rest jeden Lächelns aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Miene wirkte so ernst wie das Gesicht einer Statue, die Minoru vor einigen Monaten auf einem Gebirgspass gesehen hatte. Eine verehrte Gottheit, umgeben von zahllosen Opfergaben menschlicher Wanderer. „Zurecht. Ich will, dass du dir eines merkst, Minoru: Diese Welt ist nicht gut. Dein Nächster ist nicht dein Freund und wer auch immer vorgibt, dir treu ergeben zu sein, darf niemals dein volles Vertrauen besitzen. In Momenten wie heute Abend, könnte man in Versuchung kommen, Worte wie 'Glück' und 'Frieden' in den Mund zu nehmen, aber du solltest dich an ihnen verschlucken, solange auch nur der kleinste Verdacht in dir aufkeimt, dass noch etwas folgen könnte. Dieses Land war nie friedlich und wird es auch vermutlich niemals sein. Wir sind keine Menschen und viele ihrer Gefühlsregungen mögen uns fremd erscheinen, aber auch wir haben diesen Zeiten Verluste anzuklagen: Verletzungen und Tode, sicherlich, aber auch Generationen von Kindern ohne Kindheit, ohne Familien, Schutz und die leiseste Hoffnung auf Hilfe. Ich bin dieses Leids überdrüssig. Seit der Zerstörung des Shikon no Tama verleitete der scheinbare Friede viele dazu, wieder Familien zu bilden, aber von sicheren, friedlichen Zeiten sind wir genauso weit entfernt wie wir es immer waren. Uns fehlen ganze Generationen, weil sich lange Zeit niemand getraut hat überhaupt eine Partnerin zu wählen oder gar Kinder in die Welt zu setzen. Verbindungen machen uns schwach, wenn sie angreifbare Punkte sind und gerade unsere Kinder sind oft hilflos gegenüber Feinden, mit denen wir vielleicht nicht einmal rechnen.“ Er seufzte tief und schüttelte den Kopf. Es schien als wolle er nichts mehr dazu sagen und so starrte er eine Weile mit ausdruckslosem Gesicht in die Menge, bevor er sich wieder Minoru zuwandte. „Ich kann mir das nicht mehr ansehen. Wenn niemand anfängt, etwas dagegen zu unternehmen, wird diese Serie zerstörter Seelen eine noch tiefere Schneise in dieses Land schlagen. Ich bewundere dich dafür, dass du in deinem jungen Jahren so erwachsen wirkst und in solchen Ausnahmesituationen wie neulich einen kühlen Kopf behalten kannst, aber dass du zu einem solchen Selbstschutz gezwungen wurdest, widert mich über alle Maßen an. Ich bin erleichtert, dass du nun unter dem Schutz deiner Familie stehen wirst. Du bist auf deine eigene Weise unverdorben, auch wenn du vermutlich nicht verstehst, wie ich das meine. Es wäre eine Schande, wenn dich diese Welt vernichtet.“ Minoru sah ihn lange an, dann atmete er durch und zog seinen ausgefransten Zopf über die Schulter nach vorn, um ihn zu öffnen. „Es hatte also nicht primär etwas mit mir persönlich zu tun. Ihr hättet jedem geholfen.“ Nun lächelte Nobu wieder. „Wenn du das so glauben möchtest.“ Minoru ließ das Band in seinen Schoß fallen, das seine dürftige Beleidigung einer Frisur zusammenhielt und sah doch ein wenig misstrauisch auf. Lediglich Nobus Mundwinkel zuckten kurz, bevor er den Kopf kaum merklich schüttelte und damit jede weitere Antwort in dieser Richtung verweigerte. „Wo wir gerade beim Lüften diverser Intentionen sind -“ „Du hast es endlich abgenommen und willst wissen, warum ich dieses Armband so ungern an dir gesehen habe?“ Minoru nickte langsam. Es war ein guter Moment solche Fragen zu stellen. Vermutlich der letzte, den er mit Nobu für lange Zeit in Ruhe haben würde und er wollte die nächsten Jahre mit so vielen bereinigten Unklarheiten verbringen, wie nur möglich. „Ich nehme an, du hast noch nie etwas von Fuchskoralle gehört, nicht wahr? Nein. Nun gut. Für gewöhnlich ist es ein wenig auffälliges, gräuliches Material, das von Kleinstlebewesen abgesondert wird, die in den südlichen Landen leben. Einige seltene, gut bewachte Kolonien sind in der Lage, dieses Gestein auch in einem intensiv roten Farbton herzustellen. Die Füchse nutzen sowohl die graue als auch die rote Form, um daraus Talismane herzustellen, die es ihnen erstaunlich einfach machen, selbst Priester zu täuschen. Füchse wie Katzen sind Meister der Verwandlung, aber so gut ihre Verwandlungskunst auch sein mag, ihr Geist besitzt selten die nötige Stärke, um ihr eigenes Yōki vollkommen zu unterdrücken und für andere zumindest in dieser Hinsicht unsichtbar zu werden. Selbst Pferde – wenn du mich fragst die sensibelsten und feigsten Biester, die diese Menschen bei sich führen – haben es schwer, einen Kitsune neben sich zu erkennen, wenn er so einen Talisman auf der Haut trägt.“ „Warum lässt man die roten Kolonien bewachen?“ Nobu lachte laut auf. „Tand, Augenwischerei und Weiberkram. Sie sind nicht besser und nicht schlechter als die grauen, aber um einiges schöner anzusehen. Dennoch gibt es wie immer einen Haken: Das Yōki wird nicht nur überdeckt, sondern auch drastisch eingeschränkt, wenn es dennoch versucht nach außen zu dringen. Das kann in der Nähe von Priestern entscheidend sein, wenn man bei Wut oder Verletzungen die Kontrolle über diese Energie verliert und sie sich selbstständig macht. Dummerweise drängen die Steine es dann zurück – und das muss ein widerliches Gefühl sein.“ „Als würde man in eine viel zu enge Box gepresst...“, Minoru ließ die Haare offen über den Rücken fallen und sah zu Boden. Er kannte das Gefühl nur zu gut und widerlich traf es nicht ganz. Was er während der Auseinandersetzung mit den Panthern und dem Wolf verspürt hatte, wollte er nie wieder auch nur im Ansatz wiederholt wissen. Bevor ihn die Erschöpfung hatte übermannen können, war er sich vorgekommen, als Schlüge jemand mit einer brennenden Fackel immer wieder auf alle Stellen seines Körpers ein, während er unter tonnenschweren Gewichten begraben wurde. Bei dem Gedanken daran schüttelte er sich unwillkürlich und versuchte, diese Erinnerung zu streichen. „Ich hätte diese Möglichkeit eher im Geiste abrufen müssen, als ich mich über dein erstaunlich schwaches Yōki gewundert habe. Aber es hat gedauert, bis mir einfiel, dass nicht nur bei grauem Schmuck damit zu rechnen ist. Mein Fehler, Junge. Ich werde auch alt.“ „Aber Ihr wusstet es, als Ihr mir dazu geraten habt, es abzulegen! Warum habt Ihr Euch da nicht erklärt?“ Nobu lehnte sich entspannt zurück an einen alten, knorrigen Baumstamm in der Waagerechten, den jemand anderes als Sitzplatz benutzte und hüstelte ein wenig vergnüglich. „Ich war müde. Und dir alles auf den Tisch zu stellen wäre doch langweilig. Ich wollte wissen, wie lange du wohl daran knabberst, ohne einfach auszuprobieren, was ich meinte.“ Minoru klappte beinahe die Kinnlade herunter, aber er konnte sich gerade noch so zusammenreißen. Dieser Ōkami war ja wohl die Krönung an diebischer Dreistigkeit, wenn es um seine eigene Freude ging. Bei so einer wichtigen Kleinigkeit Spielchen zu spielen! Sein Vater wäre vor Neid erblasst. Minoru stockte und hielt einen Moment inne. Nein, nicht sein Vater. Ein Mann, der ihn sein Leben lang betrogen hatte - ebenso wie seine Mutter. Er hatte sich nie verblendet täuschen lassen und letztlich recht behalten: Sie hatten nichts für ihn übrig und es lag nahe, dass das alles eingefädelt und durchdacht war, um einen „angreifbaren Punkt“ zu schaffen, so wie Nobu es genannt hatte. Er war einer dieser angreifbaren Punkte. Minoru zog abermals die Beine zur Brust und legte sein Kinn auf den Knien ab. Wie kalt die Welt erschien und wie verloren er sich in Wahrheit immer noch fühlte, wollte er niemandem sagen. Nicht einmal Takeru. Auch dann nicht, wenn er in der Lage gewesen wäre, diese Leere in Worte zu fassen. Er witterte Jaken, bevor er überhaupt nur einen Hauch des Fürsten wahrnahm. Obwohl er sicher nicht der Kandidat für solche Unternehmungen war, roch der Kappa als habe er sein ganzes Leben in einem kleinen, veralgten See verbracht. Nicht unbedingt schlecht oder gar abstoßend, aber doch einprägsam. Beinahe leichtfüßig wandelte Minoru über einige kleine Unebenheiten hinab zum See, während im Hintergrund Gesänge und Musik der feiernden Ōkami in kraftvollen Tönen durch das Gebirge flossen. A-Un lag dösend am Ufer, die Köpfe auf die Wiese gelegt, und schlief ruhig atmend. Jaken lehnte an ihm, zusammengerollt, den Stab, der mindestens zweimal so lang war wie er selbst, etwas schützend umarmt. Vom Inu no Taishō war allerdings nichts zu sehen. Minoru schritt dennoch beinahe lautlos zu A-Un, der zumindest seinen linken Kopf hob und den Ankömmling aufmerksam, ohne den geringsten Schreck, ansah. Nur noch eine dünne Kruste und wenige Fetzen seines einstigen Ohres erinnerten an seinen heroischen Kampf gegen Kōhei, den er so aufopferungsvoll bestritten hatte. Alle übrigen Wunden schienen verheilt. Minoru streckte vorsichtig eine Hand nach ihm aus und der stille Yōkai reckte langsam den Hals, um die Luft tief einzuatmen, die Minoru umgab. Er trug kein Zaumzeug, wie es sonst der Fall war und sein Maul zeigte deutlich die scharfen Zähne eines Raubtieres – ungewöhnlich, wenn man bedachte, dass er nichts weiter als Gräser zu sich nahm. „Bei eurer schnellen Abreise habe ich ganz verpasst, mich bei dir zu bedanken. Für die Reise und für deine Hilfe.“ Der Drache blinzelte einen Moment, als habe er nicht ganz verstanden, was dieses Kind von ihm wollte; dann drückte Un seine warme Nase an Minorus Hand und stieß tief die Luft heiß aus seinen Lungen heraus. Minoru verharrte einen Moment, kniete schließlich neben ihm am Ufer nieder und warf einen Blick ins klare Wasser, um die Wunden auf seiner Wange zu betrachten, die den Tag über wieder geblutet und seine Wange mit einem Schleier aus rot überzogen hatten. Sahen seine Zeichnungen sonst schon so aus als habe ihn jemand mit den Krallen geschlagen, verbesserten die Verletzungen den Umstand nicht sonderlich. Die wässrige Gestalt mit den gold-schimmernden Augen auf der Oberfläche war hager und abgesehen vom Blut blass wie Kreide. Er hatte schon deutlich besser ausgesehen, aber nie hatten Geist und Körper so im Einklang gestanden: Er wirkte tatsächlich so elend wie er sich fühlte. Schnell legte er die Hände ins kalte Gebirgswasser, strich das Abbild fort und sorgte sich um die Wunden, wie es ihm geraten worden war. Er war nicht eitel, aber die Erinnerung an diese Tage wollte er nicht bis an sein Lebensende präsent in seinem Gesicht umhertragen. Für seinen eigenen Frieden nicht und auch dem Triumph anderer zuwider. Als auch A neben ihm erwachte und den Kopf hob, warf Minoru einen Blick über die Schulter und drehte sich auf den Knien vollends um. Der Fürst nutzte zu allem Überfluss die Windrichtungen, um sich noch besser zu verbergen und hatte sich lautlos wenige Meter von Minoru entfernt positioniert, um ihn ungestört zu betrachten. Einen kurzen Moment wagte er es noch, den Mann direkt anzusehen, dann verbeugte er sich, wo er ohnehin schon einmal am Boden war; lehnte sich auf die Ellen, die Stirn beinahe am Boden. „Ich muss mich bei Euch entschuldigen, Euch so kalt abgewiesen zu haben.“ „Absehbar“, kommentierte der Fürst kühl, aber Minoru beschlich das Gefühl, dass er dennoch auf eine andere Reaktion gehofft hatte. Er hob langsam den Blick und sah ihn für einen kurzen Moment an. Seine ganze Ausstrahlung war die der schneebedeckten Gebirgshänge unweit nördlich. Fast gänzlich weiße Kleidung, wenn man von den roten Schultern, Ärmelspitzen und den Symbolen an seinem Kragen absah, die drei Blüten umschlossen von sich berührenden Sechsecken zeigten. Das Haar lag ihm wie bei der ersten Begegnung lang und wie ein breiter, weißer Fluss über dem Rücken. Auch von seiner Rüstung hatte er nichts abgelegt und war erneut bis an die Zähne bewaffnet erschienen. Drei Schwerter. Wer brauchte drei Schwerter, wenn er nur zwei Hände hatte? Unter seinem Blick konnte Minoru das Frösteln jedoch nicht ganz unterbinden und sah wieder zu Boden. Selbst seiner Mutter war es gelungen, durch solch goldene Augen eine gewisse Freundlichkeit in ihr Gesicht zu zaubern – auch wenn sie selten ehrlich gemeint war. Er hätte jedoch vermutlich jede Farbe kalt wirken lassen – Farbenlehre hin oder her. Nicht einmal den Hauch einer Miene verzog er, als er auf seinen Nachwuchs herabsah und Minoru ahnte, dass es entweder sehr schwer werden würde, mit ihm zurecht zu kommen oder erstaunlich einfach. „Wenn Ihr es noch wünscht, werde ich morgen mit Euch gehen.“ Der Taishō schwieg felsenfest. Er hatte zumindest erwartet, dass er ihn ablehnte oder ein, zwei versöhnliche Worte fallen ließ, aber es passierte nichts. Als Minoru sich bei einem gewissen Anflug von Sorge ob der ausbleibenden Reaktion erwischte, schalt er sich still selbst. Seit wann war er so empfindlich? War er nicht der Erste, der das Reden einstellte, wenn er eine Person nicht kannte oder einfach nicht reden wollte? Diese Wölfe hier quasselten ohne Unterlass und hatten keinerlei Gefühl für Distanzen. In einem so harten Kontrast schien ihn das zu verwirren. Im Geiste atmete Minoru tief durch und beruhigte sich wieder. „Gut“, sagte der Fürst jedoch so unerwartet, dass Minoru darüber zusammenfuhr und den Blick zu ihm hob. Sesshōmaru wandte sich von ihm ab und entließ ihn mit einem fast abfälligen Wink seiner Rechten. Er hatte den Jungen auf der Reise gen Norden lange genug betrachtet und sich eine Meinung gebildet. Nun, wenige Tage später, schien eingetroffen, was er für wenig möglich gehalten hatte: Zuvor noch abgebrüht und stur, war das Kind nun derart verunsichert, dass es grundlos zusammenzuckte. Es schien, dass er dem Jungen für den Tag deutlich mehr zugemutet hatte, als gut für ihn gewesen wäre. Blieb nur zu hoffen, dass dieser unsägliche Zustand bald wieder nachließ. Ganz davon ab, dass er Besseres zu tun hatte als seine Zeit in sinnlose Unterfangen zu investieren, konnte er, Sesshōmaru, es sich nicht leisten, einen scheuen, ängstlichen Welpen aufzuziehen. Kapitel 17: in einer missgünstigen Welt. ---------------------------------------- Minoru drehte den Rücken zum Wind und ging letztlich doch einen Meter weiter in den Schutz der Höhle zurück. Takeru lehnte hinter ihm an der Wand. Seine Fellschärpe wurde auch noch im größtmöglichen Windschatten von stürmischen Böen durchstrichen. Er wirkte gefasst und immer noch müde. Seine Anwesenheit auf der Feier hatte deutlich länger angehalten als Minorus, der in einem Anflug von Weisheit früh die Felle im Höhleninnern aufgesucht hatte, als eine gewisse Ruhe unter den Feiernden eingekehrt war. Nobu, der wie so oft nicht im Mindesten hatte durchschimmern lassen, dass in seinem Innern auch ein gefährlicher und unbarmherziger Kriegsherr schlummerte, hatte sich angeregt mit Ayame über ihren Großvater unterhalten, der vor Kōga das Rudel geführt hatte. Währenddessen waren Yumiko und Takeru damit beschäftigt gewesen, sich gegenseitig zu necken – und keiner von beiden hatte sich daran gestört, dass dies höchst ungebührlich war. Aber hier schienen die Verhältnisse trotz anwesender Fürsten entspannt zu sein. Takeru hatte recht: Es war kein Vergleich zum Westen, dessen personifizierte Etikette wohl Minorus Mutter darstellte. War es wirklich das, was er wollte? In den Westen? Die Zweifel hatten ihn den ganzen Abend über nicht losgelassen, bis er irgendwann zu dem Entschluss gekommen war, dass er sie sich nicht leisten konnte. Hatte Nobu nicht zuvor noch gesagt, wie erwachsen er wirke? Wie wenig erwachsen war es denn, eine getroffene Entscheidung immer wieder erneut zu hinterfragen? Am Vorabend noch zum Fürsten zu gehen, war die einzig richtige Entscheidung gewesen. Zum einen, weil ihm eine Antwort, wie Nobu es schon gesagt hatte, aus Respekt zustand und zum anderen, weil Minoru es für klüger gehalten hatte, sich selbst der Möglichkeit zu berauben, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen. Seine Antwort war klanglos hingenommen worden, frei von Abneigung oder Zufriedenheit. Pünktlich zur Abreise hatte kurz vor Sonnenaufgang der Wind aufgefrischt und der seit zwei Tagen verirrte Regen war zurückgekehrt. Hier oben im Norden vermischte er sich nun in der späten Kältewelle erneut mit Schnee, die sich unter die Regentropfen stahl. Schneeregen war eine widerliche Sache, nichts Halbes und nichts Ganzes, aber irgendwie passte er zur Stimmung. Dennoch, die kühlen Winde berührten Minoru längst nicht mehr so wie noch vor wenigen Stunden, als der sonst allgegenwärtige, verräterische Schmuck noch an seinem Handgelenk gesessen hatte; einem lästigen Parasiten gleich, der ihn all die Jahre unbemerkt beschwert hatte wie ein Gewicht an einem Angelhaken, an dem er mit Sicherheit geendet wäre, hätte er sich weiterhin darauf verlassen, allein mit dem Alter wehrhafter zu werden. Nach allem, was Nobu ihm zur Fuchskoralle erläutert hatte, hätte das Armband auch dies unterdrückt. Sein Haar fiel ihm in einem neuen, sorgsam geflochtenen Zopf über den Rücken und reichte mittlerweile beinahe bis zur Mitte seines Rückens. Er hatte es zu Beginn seiner Reise noch kurzgehalten, aus Sorge langes Haar könnte ihm langes, unbändiges Fell bescheren, das bald nur so vor Kletten gestrotzt hätte. Aber sein Fell blieb stets wie es war: Mittellang, dicht und weiß wie gefallener Schnee – zumindest unter den Grasflecken und anderem Dreck. So gut der Taishō auch seine Reaktion auf erdrückende Zwänge erahnt hatte, so wenig glaubte Minoru doch, dass er auch nur den Hauch einer Ahnung besaß, wie viel Überwindung es ihn nun gekostet hatte, die ausgestreckte Hand zu greifen. Er legte alle Gewalt in die Hände eines Mannes, den er noch weniger kannte als Nobu oder sogar Kōga; eines Mannes, der mit wenigen Wortwechseln und wenigen Taten einen vertraulichen Funken in ihm erwecken konnte, das ja. Aber was er hierfür brauchte war nicht etwa ein Funken, sondern Vertrauen in der Größenordnung eines infernalen Waldbrandes. Diese Distanz musste Minoru mit Blauäugigkeit und Hoffnung füllen – etwas, das ihm ungemein widersagte. Die Tatsache, dass der Fürst ihn seinen Erben nannte, versetzte Sesshōmaru – wenn es die Beziehung überhaupt beeinflusste – in eine eher prekäre Lage, war Minoru doch bisher von allen, die ihn als solchen ansahen, hintergangen und enttäuscht worden. Mit Nobu zu gehen wäre ihm ohne Frage leichter gefallen, aber wenn stimmte, was der Taishō sagte und seine Mutter ihn tatsächlich unterschlagen hatte, war er trotz aller tiefsten Ängste davon überzeugt, dass dies ein richtiger Weg sein konnte. Er wollte unter keinen Umständen seiner Mutter in die Hände spielen. Nicht nach alledem, was sie getan hatte und ganz bestimmt nicht nach dem neusten Verdacht gegen sie. „Willst du wirklich bei dem Wetter abreisen?“, murrte Takeru schließlich doch und sah hinaus. „Es bin nicht ich, der das entscheidet“, gab Minoru zurück und warf dennoch einen skeptischen Blick hinauf zwischen die grauen Wolken. Auch A-Un, den er am Vorabend noch bei seinem Herrn gesehen hatte, würde schwerlich fliegen können. „Warum muss es vor solchen Reisen auch immer regnen?“ Takeru schloss zu ihm auf und sah neben ihm hinaus. Minoru konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. Auch als er mit Takeru aufgebrochen war, um ihn nach Hause zu begleiten, hatte es geschüttet. „Es hat seitdem einfach nie aufgehört. Aber das ist eben die Jahreszeit. Aufregen bringt nichts.“ Takeru brummte unzufrieden und seufzte schließlich doch nur. „Nobu will bald wieder nach Hokkaidō reisen.“ Minoru warf ihm einen erstaunten Blick zu, bevor er wieder hinaus in den Regen sah. „Yumiko?“ „Sie bleibt bei mir“, ein Lächeln schlich sich auf die Lippen des jungen Wolfs. „Im Sommer werden wir dann selbst ein paar Monate auf Hokkaidō verbringen. Sie war noch nie von Zuhause weg, schon gar nicht ohne ihren Vater. Außerdem meint Nobu, dass während des Frühlings niemand mehr auf die Idee kommen wird, uns anzugreifen. Dass sie hierbleibt, ist also sicher.“ „Aber er lässt ihr Seijaku hier“, riet Minoru ins Blaue und Takeru knirschte zur Antwort mit den Zähnen. Natürlich ließ er seine Tochter nicht unbeaufsichtigt. Armer Takeru. Seine traute Zweisamkeit mit Yumiko musste offensichtlich doch warten, bis er Nobu etwas Handfestes gab. Nach einer Weile betretenen Schweigens reichte Takeru ihm ein kleines Paket, kaum größer als seine Handfläche. Minoru schlug den Stoff zur Seite und hielt inne, als er die erschreckend bekannten, roten Steine sah, die fein säuberlich auf eine dünne Kette aufgefädelt worden waren. Jeder einzelne war von seinem Nachbarn durch einen schwarzen, schimmernden Stein getrennt. Es war wunderschön; wie eine schillernde, tödliche Schlange, verborgen unter schützendem Laub. „Du willst mich auf den Arm nehmen, nicht wahr?“, fragte Minoru bissig. „Du hast sie eingesammelt?“ „Nicht ich. Yumiko“, antwortete er leichthin. „Sie hat sie letzte Nacht noch aufgefädelt. Nobu-sama sagte, sie wirken nur auf der Haut und vielleicht kannst du sie trotz allem nochmal brauchen.“ Minoru starrte die Steine an, als ginge von ihnen eine üble Krankheit aus. „Warum sollte ich?“ Takeru stöhnte entnervt, wickelte das Päckchen wieder ein und stopfte es ihm ungefragt in seinen Ärmel. „Dafür solltest du deinen Kopf schon selbst anstrengen. So seltene Hilfsmittel wirft man nicht einfach weg, weil sie bisher missbraucht worden sind.“ Minoru sah ihn einen Moment an, bevor er zumindest vor sich selbst zugeben musste, dass darin ein Funken Wahrheit steckte. Er beließ das Päckchen im Ärmel, wo es in einer doppelt genähten Falte immerhin nicht störte. Nobu hatte sich bereits auf der Feier von ihm verabschiedet. Spontane Abschiede lägen ihm eher, hatte er gemeint und ihn ohne jegliche Berührungsängste an sich gedrückt. Vielleicht war das einer dieser europäischen Bräuche, von denen er gesprochen hatte – oder einfach nur Nobu. Yumiko hingegen hatte sich steif vor ihm verbeugt und begonnen, ihn mit höher gestellten Titeln anzusprechen. Spätestens das hatte Minoru zur Nachtruhe getrieben. Es war unheimlich und er hoffte, dass er sich je daran gewöhnen würde. Der bekannte Geruch von krautigem Waldsee drang ihm in die Nase und Minoru richtete augenblicklich seine Aufmerksamkeit auf die nahende Gruppe. Auch Takeru hatte es wahrgenommen und warf Minoru einen scheuen Seitenblick zu, als begreife er erst jetzt, dass sich die Wege für eine lange Zeit trennen könnten. „Minoru...“ Der Inuyōkai sah ihn überrascht an und lächelte dann doch nur. „Ich werde schon irgendwie zurechtkommen.“ „Du kannst jederzeit ohne Grund zurückkommen, denk daran... pass' auf dich auf“, brachte Takeru gerade noch hervor, als der Fürst in den Eingang trat und er verstummend den Boden betrachtete. Jaken trippelte hinter seinem Herrn her und warf Minoru einen abschätzenden Blick zu, den dieser so vernichtend quittierte, dass der Kappa zurückschreckte. Ja, zumindest ihn würde er zu händeln wissen. Noch ein falsches Wort aus dem Maul dieser wandelnden Kaulquappe und er würde sich nie wieder trauen, in seiner Nähe auch nur zu piepen. Der Fürst hatte sich bereits abgewandt und nahm denselben Pfad, den sie vor gut einer Woche hinaufgekommen waren. Minoru warf seinem Freund ein letztes Lächeln zu, dann ließ er in einer fließenden Bewegung den humanen Körper verblassen und folgte dem Herrn des Westens mit langen Sprüngen. Takeru sah ihm mit gemischten Gefühlen nach und hoffte inständig, dass er ihm zur richtigen Entscheidung geraten hatte. Der Westen war vermutlich nicht bereit für jemanden wie ihn. „Wenn das Wetter uns doch nur wohlgesonnener gewesen wäre. Die Reise nach Norden hat nicht einmal einen ganzen Tag gedauert und nun schon zwei! Im dauernden Regen! Ich werde zu alt für so etwas! Mein Herr, können wir nicht rasten? Ich bitte Euch. Rin kann auch noch einen Tag warten!“ Minoru verdrehte genervt die Augen und ging freiwillig, mit einigen längeren Schritten, näher an den Inu no Taishō heran. Seit geschlagenen zwei Tagen hoffte er nun darauf, dass dieser Mann seiner kleinen Kröte zumindest annähernd den Mund verbat, aber er tat nichts dergleichen. Minoru hatte nicht einmal einen tiefer begründeten Verdacht, wie der Taishō dieses elendige Gejaule so kommentarlos ignorieren konnte – es sei denn, er war tatsächlich taub. Auf halbem Weg durch den Norden hatte das Wetter noch einmal eine kleine Aufmerksamkeit bereitgehalten und es schüttete seitdem dermaßen, dass sogar dem Fürsten die weißen Haare wie geölt am Körper klebten. Zu Anfang hatte Minoru noch versucht, das Fell ab und an aufzuschütteln, um zumindest etwas beschwerendes Wasser von sich zu werfen, aber das war von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen. Mittlerweile hatte er dieses sinnlose Unterfangen aufgegeben und stapfte auf zwei Beinen verdrießlich durch die Pfützen hindurch, die sein Vater ohne jegliche Mühe beiläufig umging. Nicht nur einmal hatte Jaken in der Zeit das Summen angefangen, was stets kurz darauf in einem Gesang endete, der Minoru irgendwann sicher über den Rand seiner Belastungsgrenze treiben würde. Mittlerweile spielte der Junge ernsthaft mit dem Gedanken, einen Kappa in einer Pfütze zu ertränken – oder zumindest zu testen, ob diese Option für schlimmere Zeiten Zukunft hatte. Nach allem, was dieser Lurch bisher von sich gegeben hatte, waren sie noch vor Mitternacht am Schloss. Minoru wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass der Taishō den Marsch hin und wieder verlangsamt hatte, um ihre Ankunft hinauszuzögern. Er legte offensichtlich Wert darauf, im Schutz der Nacht einzutreffen. Als Jaken schließlich ein weiteres Mal zu ihnen aufschloss und das Singen begann, steckte Minoru die Hände tief in die durchnässten Ärmel des dunkelgrünen Yukata und stapfte beiläufig in eine Kuhle, sodass die Hälfte der dickflüssigen Ansammlung von Wasser und Schlamm dem Kappa über den Körper schwappte. Er blieb entrüstet stehen und starrte diesem dreisten Köter nach, der so tat, als habe er davon rein gar nichts bemerkt. Als Jaken daraufhin in eine erneute Schimpftirade verfiel, sah der Fürst zum ersten Mal seit Tagen offen zu Minoru, der immer noch in einigen Meter Abstand zu ihm ging und die Schultern etwas zusammengezogen hatte. Der fing seinen Blick mit einer gewissen Überraschung auf. Seit ihrer Abreise hatte Sesshōmaru oft gewirkt, als sei er mit seinen Gedanken abgedriftet, auch wenn Minoru ihm nur hin und wieder einen abschätzenden Blick zugeworfen hatte. Keiner von ihnen hatte mehr gesagt als nötig und das war ihm zunächst auch nur recht gewesen. Er sprach nicht gern mit fremden Personen und letztlich war der Fürst nichts anderes. Im Gegensatz zu vielen anderen schien dieser Mann auch kein Interesse daran zu haben, mit ihm zu sprechen. Weder stellte er Fragen noch erhob er von sich aus das Wort – und er schien es auch von Minoru nicht zu erwarten. So sehr dieser die Stille auch guthieß, so seltsam war es doch, sie von jemand anderem ausgehen zu sehen. Im Vergleich zum Fürsten, der offensichtlich tief in sich ruhte, fühlte er sich ungewohnt unruhig und wenig beständig – und langsam wurde dieses Schweigen selbst für ihn bedrückend. Er erwischte sich ernsthaft bei der Frage, ob er ihn mit irgendetwas verärgert haben konnte und schüttelte besinnend den Kopf, dass sein Zopf flog und ihm nass gegen den Hals klatschte. Unsicherheit war scheußlich und er hatte keinen Grund zu einer solchen Annahme. Als das spärliche Licht des abnehmenden Mondes schließlich in der sonst finsteren Nacht auf die steilen Mauern des Anwesens fiel, hielt Minoru in einem Anflug von Schock inne. Ein wenig benebelt machte er einen Ausfallschritt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und starrte ungläubig auf den Ort, an dem er wohnen sollte. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber niemals mit einer Festung solchen Ausmaßes. Um den äußeren Steinwall, der ohne Schwierigkeiten die Größe einer ausgewachsenen Fichte übertraf, legte sich breit und ruhig ein Wassergraben dessen Oberfläche das Mondlicht zu verschlucken schien. Dieser Sotobori wurde von einer leicht gebogenen Holzbrücke überspannt, die zu einem ersten, großen Tor führte, das im gleichen Rotton glänzte wie die Balustrade der Brücke selbst. Von der eigentlichen Stadt dahinter war durch die hohen Mauern kaum etwas zu sehen. Lediglich die Wachtürme ragten an den Ecken des Steinwalls empor und reckten sich finster wie aufbäumende Riesen in den sternbedeckten Nachthimmel. Über allem wachte der mindestens vierstöckige Hauptturm, der Tenshu, der am besten gesicherte Teil des Schlosses, der die Stadt unter sich zu erdrücken schien – ebenso wie Minorus letztes Bisschen Hoffnung aus dieser Sache heil herauszukommen. Allein die Vorstellung darin eingesperrt zu sein, war weitaus beängstigender als der Fürst es in seinen kühnsten Phantasien hätte sein können. „Angst?“, fragte dieser trocken, als er bemerkte, dass der Junge nicht mehr folgte und auch Jaken schon ein wenig sorgenvoll zu ihm aufsah. Minoru hob den Blick und starrte ihn an. Seine Linke verkrampfte um das gegenüberliegende Handgelenk, nur um festzustellen, dass das Armband, an dem er in so einer Situation längst herumgespielt hätte, nicht mehr an seiner Stelle war. Er schluckte und wandte sich für einen Moment ab. „Es sind nur Steine, junger Herr“, mischte sich Jaken plötzlich erstaunlich nachsichtig ein. „Stein und Holz – und viel weniger Bewohner, als es von außen scheint. Sorgt Euch nicht. Immerhin hat Sesshōmaru-sama dafür gesorgt, dass die neugierigen Blicke Euch zunächst nicht treffen werden. Sonst wären wir sicher schon vor Sonnenuntergang hier gewesen.“ Als der Taishō sich ob dieser deutlichen Enthüllung seiner stillen Vorhaben einen Moment kaum hörbar räusperte, hatte sich der Kappa bereits zu Boden geworfen und entschuldigte sich überschwänglich für seine Plauderei – wobei er sich nur noch tiefer ins Schlamassel ritt. Minoru sah ein wenig unsicher zum Herrn dieser gewaltigen Anlage auf, die sich dennoch in die ansteigende Landschaft zu schmiegen schien. „Die meisten schlafen“, sagte dieser in einem ungeahnt beruhigenden Ton. „Niemand wird dich unnötig behelligen. Komm.“ Bevor er sich aus der verspannten Haltung lösen konnte, bedurfte es einiger Sekunden. Immer wieder hoffte er insgeheim, dass sich dieses Monstrum aus Stein vor ihm in Luft auflösen und sich als weitere Illusion herausstellen würde, aber je näher sie herankamen, desto sicherer schien die unabwendbare Tatsache, dass Stein und Holz die blanke Wahrheit darstellten. Auch aus der Nähe war das Wasser im Sotobori nahezu schwarz und wirkte so unendlich tief wie der Nachthimmel selbst, dessen Sterne wie verwaschene Glühwürmchen auf der Oberfläche tanzten, wo der Regen die Ruhe austrieb. Minoru ging mit einem solchen Unwohlsein über die dunklen Holzplanken der Brücke, als fürchte er, dass sie jeden Moment in sich zusammenfielen wie ein alter, gebrechlicher Mann, der unter stöhnenden Ächzen seiner schweren Last nachgab. Ja, er hatte Angst. Mehr als er je erwartet hatte. So nah an den Mauern der Burg wirkte alles bedrohlich; sogar der leere Vorplatz des Haupttores. Ein steinernes Ungeheuer, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Er gab sich zwar die größte Mühe, diese Eindrücke auf subtile Art zu verarbeiten und auch seine Gefühlswelt genauso wenig auszuleben, ganz wie er es sonst tat, aber er machte sich nichts vor: Unter diesen Umständen hätte jeder sehen können, dass er sich ganz und gar nicht wohl fühlte. Jaken blieb ungewöhnlich ruhig und in seiner Nähe. Immer wieder bedachte er den Jungen mit kurzen Seitenblicken und konnte nur erahnen, was hinter den nervösen, goldenen Augen vor sich ging. Ohne Vorwarnung setzte sich die Flügeltür des rot lackierten Holztores in Bewegung und öffnete sich unter Schaben und Knarzen nur wenige Meter weit. Während der Taishō durch den Torbogen trat ohne den Schritt auch nur für einen Moment zu verlangsamen, trottete selbst A-Un beschwingt, ganz offensichtlich in einem gewissen Ausmaß von Zufriedenheit, an Minoru vorbei in die Burg hinein. Der sah ihm unergründlich nach. Konnte man ein und denselben Ort tatsächlich so unterschiedlich wahrnehmen? Zögernden Schrittes passierte Minoru schließlich auch selbst den Punkt ohne Wiederkehr – und fuhr zusammen, als die schweren Türen hinter ihm wieder zuschlugen; dem scharfen, endgültigen Gebiss eines Raubtieres erschreckend ähnlich. Um ihn herum nur Mauern, Pflastersteine, Gebäudefassaden. Mit einem Mal fühlte er sich so zusammengepfercht wie in dem Unterboden, in dem er nur allzu oft hatte verweilen müssen. Die nassen Wände schienen sich über ihn zu beugen, als seien sie darauf aus, eine junge Seele unter sich zu begraben. Als er seinen Namen hörte, starrte Minoru einen Moment orientierungslos nach vorn. Dann folgte er hastig dem weißen Kimono vor sich, als strebe er, einer Motte gleich, zum einzigen Lichtpunkt, der sich zwischen all dem grauen Stein bewegte. Wie sie schließlich zum Honmaru, dem innersten und am besten geschützten Wehrkreis der Anlage, gelangt waren, konnte Minoru nicht mehr zurückverfolgen. Seine gesamte Konzentration war daran erschöpft, so wenig wie möglich aufzunehmen, das ihn noch mehr verunsichern konnte und dem Fürsten zu folgen, ohne seinen Individualabstand dabei gleich drastisch zu unterschreiten. Der Tenshu ragte drohend über ihnen, während sie in seinem Windschatten im immer noch prasselnden Regen einen Weg zum Palast bahnten, der neben dem Turm fast winzig wirkte. Drei Stufen einer sehr breiten Treppe führten auf den aufwendigen Eingang mit überbautem Dach zu, der nach einigen von Säulen getragenen, freien Metern in ein zweistöckiges und rechteckig-flaches Gebäude führte, das das eigentliche Palastgebäude darstellte: Ein elegantes Haus, von verschiedenen Bäumen gesäumt, dessen Schiebetüren vor dem Wetter mit schweren Holzpalisaden verbarrikadiert worden waren. Es wirkte längst nicht so bedrohlich wie die steinernen Mauern und Wachtürme der übrigen Burg. Als Minoru dem Hausherren in den noch beleuchteten Palast folgte, führte Jaken A-Un wortlos in einen nahegelegenen Komplex. Nachdem Sesshōmaru die Tür geschlossen hatte, wurde es im Innern schlagartig warm. Während der Fußboden in diesem Eingangsbereich zunächst noch dieselben, präzisen Steinquadrate zeigte, die auch den Vorplatz bedeckten, erhob sich am Raumende mit wenigen, breiten Stufen eine mit Tatami-Matten bedeckte Empore. Zuhause bei seinen Eltern war dies selbst in ihrer kleinen Hütte ähnlich aufgebaut gewesen, um eine Grenze zwischen Wohn- und Außenwelt zu schaffen. Wenn Minoru nun allerdings die Schlammwüste an seiner Kleidung betrachtete, würde er den Wohnbereich kaum betreten können, ohne diese Grenze vollends zu vernichten. Eine plötzliche Bewegung in seinen Augenwinkeln ließ ihn zusammenfahren, bevor er einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, was nun zu tun war. Er knurrte instinktiv so bedrohlich, dass die arme Frau, die dienend an die Seite ihres Herrn hatte eilen wollen, sich augenblicklich zu Boden warf und die Stirn auf die Steinplatten presste, als sei es ihr Leben, das von der Nähe zum Erdboden abhing. Verdutzt starrte Minoru sie an, als handle es sich bei ihr um eine gänzlich unbekannte Lebensform, die zu erblicken er sich nie geträumt hatte. „Ich hasse es, mich zu wiederholen“, sagte der Fürst mit einem Mal so scharf an die Frau gewandt, dass Minoru nur mühevoll dem Drang widerstehen konnte, den Kopf einzuziehen. „Verschwinde.“ Die Schwarzhaarige bedankte sich überschwänglich – wofür auch immer – und lief so schnell zurück in einen kleinen Raum an der Seite, dass an ihrer vorherigen Position eine seltsame Leere entstand, die Minoru immer noch wie gebannt fixierte. „Minoru.“ Als er wieder aufsah, stand der Fürst bereits an der Tür auf der Empore und sah ihn ungeduldig an. „Hör auf zu träumen und komm.“ Er brachte gerade noch ein Nicken zustande, dann lief er dem Fürsten nach, ohne einen weiteren Gedanken an den Dreck zu verschwenden, den er mit Sicherheit in den Palast trug. Der Gang hinter dem kleinen Eingangsbereich war ungleich größer. Die gesamte rechte Wand war von verbarrikadierten Türen gesäumt, die allesamt hinaus zwischen die Bäume führten, die er bereits von außen bemerkt hatte. Zur Linken gingen unzählige weitere Zimmer ab. Die Deckenpaneele, jeder Stützbalken und Türrahmen war aus hellem Kiefernholz gefertigt, die Zwischenelemente von einem dezent strahlenden Weiß – und der mit Tatami-Matten ausgelegte Gang so breit und lang, dass Takerus gesamtes Rudel von immerhin gut hundert Leuten darin einen sicheren Platz zum Schlafen gefunden hätte. Was folgte war ein auf den ersten Blick verwirrendes Öffnen und Schließen von Türen, Überqueren von ähnlichen, aber deutlich kleineren Gängen, bis der Taishō schließlich eine Tür aufstieß und zur Ausnahme nicht eintrat. „Deine Räumlichkeiten“, meinte er schließlich, als der Junge ihn nur still ansah. Minoru warf einen Blick hinein. Ein quadratischer Raum mit einem kleinen, schwarzen Lacktisch, der sich eng an die Wand schmiegte. Vor Kopf hatte jemand ein Futon ausgerollt und mit einer dunklen Decke überdeckt. Eine kleine Lampe mit Holzrahmen verbreitete durch den gefärbten Schirm ein warmes, gelbes Licht. „Es ist einfach ausgestattet – “ „Es ist perfekt“, unterbrach Minoru ihn wenig höflich, brachte aber eine steife Verbeugung über sich. „Vielen Dank.“ „Ich lasse nach dir schicken, sollte es Anlass dazu geben“, erklärte der Fürst kühl und musterte ihn. Das klang dann doch ein wenig seltsam in seinen Ohren. Ging es ihm um einen Anlass zum Tadel? Das warf abermals die Frage auf, was er hier nun eigentlich sollte. Er würde ihn doch nicht etwa in diesem Zimmer abstellen wollen und so tun, als sei er gar nicht da? Die Mauern mochten ihn vielleicht einschüchtern, aber auch die konnte man zur Not irgendwie überwinden, wenn es darauf ankam. Vielleicht wäre es an der Stelle jedoch angebrachter, die Fronten gleich zu klären. „Darf ich Euch etwas fragen?“, setzte er an und sein Gegenüber wirkte auf seltsame Weise deutlich entspannter als zuvor. „Selbstredend.“ „Muss ich auf diesem Zimmer bleiben?“ Sesshōmaru musterte ihn zunächst schweigend, bevor sein Ausdruck etwas missbilligendes annahm. „Fürchtest du, dass ich dir die Zunge herausreiße? “, hinterfragte er und Minoru musste sich zähneknirschend eingestehen, dass er bei ihm durchaus versuchte, die Worte umsichtig und weniger direkt zu wählen. Aber gut, wenn er das nicht wollte, umso besser. „Wollt Ihr mich einsperren oder darf ich mich frei bewegen?“ „Der Palast sollte für den Anfang genügen“, stellte der Daiyōkai schließlich fest und warf einen scharfen Blick auf den Jungen. „Im Ostflügel hast du jedoch nichts zu suchen.“ Minoru nahm das erst einmal so hin, nickte abermals und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie unwohl er sich wirklich fühlte. Der Fürst verschränkte die Arme vor der gepanzerten Brust und sah einen Moment auf den Jungen hinab, der seine Grenzen offensichtlich schon recht früh auszutesten suchte – und wie üblich mit dem Schlimmsten zu rechnen schien. Was für ein misstrauisches Kind, das tatsächlich in Erwägung zog, jemand wolle ihn in einem einfachen Palast aus Holz, Papier und Glas einsperren. Aber man musste keine besonders einfühlsame Person sein, um zu bemerken, wie überfordert er immer noch war. Nun, das war nur legitim. Niemand konnte Wunder erwarten, schon gar nicht von einem Kind, das jahrelang allein unter freiem Himmel gelebt hatte. Dies warf allerdings die Hoffnung auf, dass er im Grunde einen sehr selbstständigen Welpen vor sich hatte, der lediglich eine gewisse Orientierungsphase und Ruhe brauchte, um die neuen Ereignisse zu verarbeiten. Wie er jedoch reagieren würde, wenn er sich erst einmal eingelebt hatte, war aber ebenso ein Rätsel wie das unentschuldbare Verhalten seiner Mutter. Er konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, wie gerade diese so naive, zurückhaltende Frau es zustande gebracht hatte, ihn, Sesshōmaru, zu täuschen und diesen Jungen ganz offensichtlich mit ihrem Gebärden aus dem Haus zu treiben. Das klang nicht nach der Inuyōkai, mit der er sich aus purem Pflichtgefühl eingelassen hatte. Hatte Reika sich ihm gegenüber so verstellen können? Ausgeschlossen. Dennoch musste es einen Grund für ihren Sinneswandel geben – und auch wenn er ihr bei einem Treffen mit Sicherheit nicht den Atem für Erklärungen lassen würde, so interessierte ihn dieses Detail dennoch. Kapitel 18: Unnachgiebig schreiten Tage voran --------------------------------------------- Den Kopf unterhalb des Kissens in den Futon gepresst, die Decke komplett von sich getreten hatte er die letzte Nacht wieder ohne Kleidung und im nahezu durchgehenden Tiefschlaf verbracht. Seine dreckigen Sachen lagen noch ebenso zusammengeknäult auf dem schwarzen Lacktisch wie er sie Tage zuvor hingeworfen hatte, um zumindest die Matten vor dem Schlamm zu bewahren. Erst als er aufwachte, fröstelte er seltsam und kauerte sich angestrengt noch ein wenig mehr zusammen. Minoru ließ die Augen bewusst geschlossen, versuchte über mehrere Stunden verzweifelt wieder einzuschlafen und gab schließlich seufzend auf. Sinnlos. Er konnte sich nicht dazu zwingen, noch einen weiteren Tag seinem ruhenden Unterbewusstsein zu überlassen, das ihn mit traumlosen Dasein beschenkt hatte. Wie grausam in Anbetracht der Tatsache, dass er genau wusste, was ihn Bedrängendes erwartete, wenn er erst einmal wagte, die Augen zu öffnen. Seine Nase allein reichte aus, um ihm zu verraten, dass er sich tatsächlich immer noch im unmittelbaren Wirkungskreis des Inu no Taishō befand. Sein Geruch lag zwar nur vage und ein wenig verwaschen in der Luft, aber er war dennoch unverkennbar und allgegenwärtig. Minoru seufzte leise, setzte sich so ruckartig auf, dass ihm beinahe schwindelig wurde und schwang sich deutlich zu schnell auf die Beine. Besinnend hielt er sich eine Hand vor die Stirn und brummte leise, als verscheuche das die kleinen, dunklen Flecken, die vor seinen Augen tanzten. Tagelang zu liegen war dem Kreislauf nicht gerade zuträglich. Zunächst hatte er den Schlaf tatsächlich gebraucht. Die zwei Tage pausenlose Wanderung waren seinem ohnehin schon angeschlagenen Allgemeinbefinden nur als zusätzlicher Ballast erschienen und hatten ihm keine Zeit zum Ausruhen gelassen. Im Gegenteil: Zu wenig Zeit für Ruhe, zu viel Zeit zum Nachdenken. Er war sich dessen bewusst, dass er den Kopf endlich einmal wieder frei bekommen musste, hatte Geist und Körper eine Weile ruhen lassen, um dies zu erreichen, aber wirklichen Frieden fand er nur, wenn er sehr tief schlief. Wenn das so weiter ging würde er in nicht allzu ferner Zukunft gar nicht mehr wissen, was zu tun war. Schluss damit. Minoru blieb einen Moment stehen, atmete durch und sah langsam wieder klar. Er war unsäglich dankbar, dass sein Zimmer die realisierte Schlichtheit darstellte und all dem Maßlosen entbehrte, das die restliche Burg bisher ausgezeichnet hatte. Der kleine Lacktisch, der Futon und die Lampe waren die einzigen Gegenstände im Raum. Des Weiteren führte lediglich eine weitere Schiebetür zu einem kleinen, unscheinbaren Schrank, in dem mit überschaubarer, sauber gefalteter Anordnung ein wenig Wäsche gelagert war. Seufzend zog Minoru einige Sachen hervor und kleidete sich binnen weniger Minuten vollständig an, um zumindest ein wenig guten Willen zu zeigen. Selbst der graublaue Obi saß mit einigen Handgriffen eng und knitterfrei über dem dunkelgrauen Yukata. Er warf noch einen prüfenden Blick in den Schrank, dann donnerte er ihn herzhaft zu. Niemand würde ihn dazu zwingen können, etwas so nerviges wie Socken oder gar Schuhe zu tragen. Absolut niemand. Auf dem Flur hatte sich schon seit Stunden nicht ein Geräusch ausmachen lassen, also horchte Minoru nur kurz und verließ das Zimmer, dessen Tür er deutlich leiser hinter sich zuschob. Der Flur war wie erwartet nahezu verdächtig still. Er ließ sich nicht dazu herab, durch die Flure zu schleichen, gab sich jedoch zeitgleich Mühe immer mit allen Sinnen jede Begegnung mit anderen zu vermeiden. Der Palast schien jedoch wie leergefegt. Bei einem so prächtigen Gebäude hatte er mit einer geschäftigen Dienerschaft gerechnet, nie jedoch mit verwaisten Gängen. Um den Rückweg sorgte er sich nicht im Geringsten. Ihn zu finden sollte auch in extremen Situationen ohne Weiteres möglich sein. Die so gesparte Konzentration verwendete er lieber darauf, das Gefühl der Bedrängnis zwischen den hohen Wänden herunter zu kämpfen und war umso erleichterter, als eine halb offenstehende Schiebetür hinaus in den Garten führte. Spätestens als er den überdachten Holzsteg verließ, der das Gebäude an dieser Stelle einem Ring gleich umgab, und er auf nassen, hellen Kiesweg trat, wären die Tabi überflüssig und störend gewesen. Der Wind ging immer noch frisch, hatte aber längst die stürmischen Böen verloren und trug nur noch einen Bruchteil des neuerlichen Regens über den noch winterkahlen Garten. Nur wenige Triebe ließen sich an den früh blühenden Bäumen erkennen, aber selbst die sahen erbarmungswürdig aus. Im Frühjahr war dieser gut strukturierte Garten sicher ein sehr erholsamer Ort. So wirkte er allerdings eher kläglich. Ein großer, brückenüberspannter Teich lag unweit des Kiesweges unter einigen Ahornbäumen. Unter der Oberfläche tanzten große Karpfen ungeduldig um die einfallenden Tropfen herum, als erwarteten sie hoffnungsvoll den ein oder anderen Brocken Futter darunter. Minoru trat an den Rand und stellte erstaunt fest, dass die Fische sofort auf ihn zuhielten und mit ihren bunten Köpfen und großen Mäulern die Oberfläche durchstießen. So eine Gesellschaft war ihm deutlich lieber als die, die sich in einem schwachen Geruch zu seiner Linken ankündigte. Eine Wache musterte ihn offen. Die dunkle Rüstung des Mannes und sein langer Yari schimmerten schwarz, als er eine vollendet steife Verbeugung vollführte und darin verharrte. Minoru sah ihn eine Weile still an, verpasste allerdings zum Unglück der armen Wache, ihn aus dieser unkomfortablen Haltung zu entlassen, bevor er ihn stehen ließ. „Mit Verlaub, mein junger Herr, aber auch wenn ich mir Eures Mangels an Höflichkeiten durchaus bewusst bin, solltet ihr zumindest anerkennen, dass andere Euch solche entgegenbringen.“ Minoru kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er froh war, eine mehr oder minder bekannte Stimme zu hören – auch wenn er langsam nicht mehr darüber nachdenken wollte, wo sich dieser Flohgeist eigentlich aufhielt, wenn er schwieg. Mit einem gezielten Satz ließ der kleine Yōkai sich auf seiner Schulter nieder und stocherte mit seinem dünnen Wanderstab im Stoff des Yukata herum, bis er darin ausreichend Halt fand. „Es wirkt so trostlos...“, sagte Myōga nach einer Weile und kratzte sich kurz am Kopf. „Ich habe in den letzten Jahren keine Übergangszeit erlebt, die nicht auf ihre Weise trostlos gewesen ist“, entgegnete Minoru leise und sah ein weiteres Mal zu den Bäumen auf. Wenn die Welt in Schnee versank, wusste er zumindest ungefähr, welche Wetterlage ihn am nächsten Tag erwartete. Die Beute war stets leicht gefunden und durch sein Fell war er in den weißen Fluten beinahe unsichtbar. Der auflebende Frühling und heiße Sommer waren nicht nur schön anzusehen, sondern auch meist die Zeit, in der man sich auch gut und gerne eine Weile in die Sonne legen und ausruhen konnte. Selbst der stürmische Herbst hatte mit all den bunten Blättern und angenehmen Temperaturen etwas für sich. Schlimm war nur diese Beleidigung einer Wetterbezeichnung, die sich zwischen Herbst und Winter, Winter und Frühling befand. Grau in grau, matschig, kalt und einfach ekelhaft. Dagegen besaß selbst ein so sorgsam angelegter Garten wie dieser kein Mittel der Verteidigung. „Es wird sicher besser.“ „Ganz bestimmt“, pflichtete Myōga ihm überzeugt bei, zumal er ahnte, dass der Junge nicht den Garten meinte. „Auch diese Zeiten vergehen.“ „Du hast lange nichts mehr von dir hören lassen.“ Myōga sah ein wenig ungläubig zu Minoru auf. Das war eine durchaus seltsame Aussage für ihn. „Ich dachte, Ihr wäret mit Euren eigenen Gedanken beschäftigt und wollte nicht stören“, gab der Flohgeist schließlich zurück. „Dass Euer Freund Euch von diesem Weg überzeugen konnte, hat mein Einschreiten auch in diesem Punkt hinfällig gemacht. Es ist beruhigend, Euch nun in Sicherheit zu wissen.“ „Sicherheit nennst du das?“ Minoru spannte die Hand an, bis seine Gelenke knackten und ließ die Anspannung sofort wieder verschwinden, als sein Yōki unberechenbar einen Weg in seinen Arm suchte. Er schüttelte die Hand kaum merklich aus, als verscheuche er ein lästiges, aber winziges Insekt. „Ich weiß noch nicht, wie ich es nennen soll.“ „Es gibt keinen sichereren Ort.“ Myōga sah sich abermals um und nickte. „Und wenn ich die Lage richtig überblicke, ist es genau das, was wir jetzt brauchen.“ Minoru schnappte den Flohgeist von seiner Schulter und setzte ihn auf seiner Handfläche ab. „Junger Mann, ich verbitte mir so rüdes Gehabe!“ „'Wir'?“, fragte Minoru mit einem Anflug von Unglauben. „Ich diene Eurer Familie seit über einem Jahrtausend. Ich denke, da darf ich von „wir“ sprechen!“ „Würdest du dann die Freundlichkeit haben, mich aufzuklären?“ Myōga versuchte eine Bösartigkeit in dieser Frage herauszuhören, etwas Stichelndes, Ungeduldiges, aber auch wenn er es mit Leichtigkeit so hätte klingen lassen können, ließ er doch die Ratlosigkeit durchschimmern, die längst offensichtlich gewesen war. Der Flohgeist ließ den Kopf ein wenig hängen und spielte etwas nervös an seinen Ärmeln herum. „Ich würde Euch gern alle Eure Fragen beantworten“, versicherte er kleinlaut. „Aber ich weiß nicht mehr als Ihr. Weder über Eure Mutter noch die Umstände, die zu diesem Chaos geführt haben. Seit dem Tod Eures verehrten Großvaters habe ich dieses Anwesen nicht mehr besucht. Wenn Ihr Antworten sucht, solltet Ihr Euren verehrten Vater fragen.“ Minoru seufzte leise und setzte Myōga wieder auf seiner Schulter ab. Das war vermutlich die einfachste Lösung, wenn auch nicht die beste Idee. „Mein Großvater, hm?“, Minoru ließ für einen Moment die Krallen durch sein wirres Haar gleiten. Der Zopf hatte den Sturm eher schlecht als recht überlebt und er hatte ihn bisher nicht neu geflochten. „Sagtest du nicht, du dienst dieser Familie? Wo warst du dann währenddessen?“ „Nun, das ist eine lange Geschichte. In der Kurzfassung war ich bei Eurem - ja, er wäre Euer Onkel.“ Minoru seufzte lang. „Danke, Myōga, vielleicht ein andermal. Wenn ich die erneute Erweiterung meiner Familie ertragen kann.“ „Ganz wie Ihr wünscht.“ Auf dem weiteren Streifzug durch den Garten hatte Minoru bald einen Onsen ausfindig gemacht. Myōga erläuterte bereitwillig, dass das dampfende Wasser sich aus einer heißen Quelle speiste, die an dieser Stelle natürlich entsprang und lediglich von einer steinernen Anlage umbaut worden war. Ein Zugang zum Palast lag zwar unweit des Onsen, war allerdings geschlossen und so hatte Minoru keinerlei Sorge, alsbald von jemandem gestört zu werden. Das Wasser war noch heißer gewesen als er es erwartet hatte und gerade noch an der Grenze dessen, was auszuhalten war. Minoru hatte sich einen stillen Platz gesucht und war bald, als sich auch hier eine ganze Weile wie erwartet niemand sehen ließ, am Rand eingedöst. Seinen Kopf hatte er dabei schwer auf den Armen gebettet, die langsam auf den deutlich kälteren Steinen für die nötige Abkühlung sorgten. Erst Stunden später weckte ihn leichter Nieselregen, der ihm erschreckend kühl auf die Schultern fiel. Er riss verwirrt die Augen auf und sah sich mit einem Anflug von Panik um. Sein Herz schlug in seiner Brust wie ein gefangener Vogel und schwirrte beinahe, bis ihm endlich bewusst wurde, wo er sich befand. Beruhigt atmete er einen Moment durch, bevor ein deutlicher Geruch ihn herumfahren ließ. Er schauderte, als er den Fürsten in einiger Entfernung sah, der deutlich entspannt im heißen Wasser am Rand lehnte und ihn nachdenklich betrachtete. „Was hat dich geweckt?“, fragte er lediglich ruhig, während Minoru sich längst den Kopf darüber zerbrach, wie er aus der Lage wieder herauskam. „Der Regen... glaube ich“, antwortete er vorsichtig und warf einen misstrauischen, kurzen Blick zum Himmel. Der harte Regen der letzten Zeit hatte nachgelassen. Es nieselte tatsächlich nur. „Ja. Es wird der Regen gewesen sein.“ Er fröstelte einen Moment unwillkürlich und versuchte sich wieder zu beruhigen, aber er konnte seine Hände selbst unter dem Wasser noch zittern spüren. Wann war er nur so ein Wrack geworden? Sesshōmaru musterte ihn und zog kaum merklich, aber für Minoru deutlich genug eine Braue hoch. Betreten sah der Junge zur Seite weg. „Entschuldigt.“ „Dein Betragen ist grundlos“, ließ der Fürst ihn wissen. Sein Ton klang dabei so kurz angebunden und glatt wie immer. Aber statt es dabei zu belassen, wie er es sonst getan hätte, drückte er den Rücken etwas mehr an den steinernen Quellenrand hinter ihm und ließ die Schultern ein wenig sinken. „Ich bin keine Bedrohung für dich.“ Minoru seufzte tief und zog sich noch ein Stück zurück, bis er auch mit dem Rücken an Stein stieß und legte die Hände unter der Oberfläche flach an die glatte Wand. „Das ist es nicht“, gestand er sich leise ein und wusste mit einem Mal, dass das die Wahrheit war. „Ich wäre nie mit Euch gegangen, wenn ich das gedacht hätte.“ „Dennoch verlässt du das Zimmer seit Tagen nicht, dein Yōki gleicht einem sturmgeschlagenen Meer und du zitterst wie Espenlaub.“ Minoru hätte das am liebsten von sich gewiesen, bestritten und das Thema für sich beendet, aber das war aussichtslos. Er hatte damit gerechnet, sich von ihm in die Ecke gedrängt zu fühlen – stattdessen kam er sich zeitgleich entwaffnet und leer vor. „Das ist etwas viel“, gab er schließlich geschlagen zu. „Ich wollte, ich könnte alles für mich ordnen und wieder zur Beleidigung von Normalität zurückkehren, die ich mir ausgesucht habe. Da wusste ich noch, wer ich war und was ich wollte.“ Sein Gegenüber sah ihn lediglich still an, war augenscheinlich vollkommen ungerührt. Schließlich strich er sich sorgsam eine seiner langen Strähnen von der Schulter und legte die Arme ausgebreitet auf den Rand. „Die Wahrheit kann nur schwache Charaktere erschüttern.“ Minoru sah ihn geschockt an und knirschte so laut mit den Zähnen, dass sich Jaken, der sich in der Nähe herumtrieb, die Ohren zuhalten musste. Den Taishō hingegen ließ das völlig kalt. „Es gibt tausende Wahrheiten auf der Welt - und keine würde mich in derselben Art aus dem Takt bringen, wie die Lüge, die ihr vorangegangen ist“, knurrte Minoru schließlich leise, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den Mann vor ihm eine Weile eindringlich. Ohne seine Rüstung wirkte er deutlich normaler auf jemanden, der die Anwesenheit von Soldaten ebenso wenig gewohnt war, wie die eines Fürsten. Aber die Erhabenheit konnte er nicht abstreifen, wie er es mit seiner Kleidung getan hatte – sicher nicht einmal, wenn er schlief oder belanglose Dinge tat. „Ihr tut Euch erstaunlich leicht damit, hintergangen worden zu sein“, stellte Minoru plötzlich fest und der Taishō hob den Blick zu ihm. „Diese Distanz geht mir ab. Ich habe eine Abneigung gegen diese Frau, seitdem ich denken kann und ihr vieles zugetraut. Diese Intrigen, die Ihr vermutet, jedoch nicht und das macht mir diese Hexe nicht gerade sympathischer. Meine eigene Mutter scheut sich nicht, mich auf ganzer Linie zu betrügen.“ „Du sprichst über die Frau, die dir dein Leben geschenkt hat“, mahnte der Herr der Hunde ruhig, aber dafür fing er sich lediglich ein schiefes Lächeln, das ihn durchaus verwunderte. Minoru ließ den Kommentar mit dem warmen Dampf des Wassers davon schweben und tippte ein wenig ungeduldig mit den Krallen auf dem Oberarm herum. „Ich nehme an, nun soll ich Euch vertrauen und glauben, Ihr wärt anders als sie. Wann wollt Ihr mich fallen lassen? Ihr wisst, was Eure kleinen Lurche bereits jetzt über mich denken. Wenn Ihr warten wollt, bis ich Euch völlig ent–“ Der Fürst hatte eine Hand gehoben und zu seiner inneren Befriedigung hielt der Junge tatsächlich inne, bevor er sich noch um Kopf und Kragen redete. „Ich will dir einen gut gemeinten Rat geben, Minoru: Richte deinen Blick nach vorn. Du bist sehr wohl dazu in der Lage, Vergangenem zu gegebener Zeit Aufmerksamkeit zu schenken und der Gegenwart in angemessener Weise zu begegnen.“ Minoru sah ihn ein wenig baff an und schüttelte doch nur abwehrend den Kopf. „Ihr sagt das so, als sei es einfach.“ „Das ist es.“ „Dann helft mir!“, fauchte Minoru in einem plötzlichen Ausbruch von leiser Verzweiflung, der seinen Vater ebenso unsichtbar zurückschrecken ließ wie das unkalkulierbare, schiefe Lächeln zuvor. Minoru hätte sich unterdessen mit Freuden selbst für dieses unkontrollierte Gehabe geohrfeigt. Wie konnte er nur so undurchdacht forsch vorstoßen und sich damit selbst ein hilfebedürftiges Armutszeugnis gerade gegenüber dem Mann ausstellen, mit dem er am wenigsten anzufangen wusste. Der betrachtete den Jungen lediglich unverwandt und schien sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen. Als Minoru sich schon schnaubend abwenden wollte, huschte ein kaum merkliches Lächeln über das Gesicht des Fürsten, das in seiner Deplatziertheit kalte Schauer über Minorus Rücken jagte. „Dafür bin ich da“, meinte Sesshōmaru schließlich ruhig, verließ das heiße Wasser und nahm einen dunkelblauen Yukata vom Ast eines Baumes, um ihn sich überzuwerfen. „Ich erwarte dich morgen früh nach Sonnenaufgang in meinem Arbeitszimmer.“ Er warf Minoru einen mahnenden Blick zu, den der Junge kaum verarbeitete. Er starrte den Taishō an, als sehe er ihn gerade zum ersten Mal. Bereits kurz vor Sonnenaufgang hatte Minoru sich auf den Weg in die Küche gemacht, um etwas zum Essen aufzutreiben. Im Garten liefen auch Tage nach seiner ersten Erkundungstour immer noch keine wilden Rehe frei umher und so hatte er sich wohl oder übel den hiesigen kulinarischen Grundlagen anpassen müssen – Reis und Gemüse, Gemüse und Reis. Wenn er nicht bald zumindest einen Bissen Fleisch unter den Gurken hervor schaufeln konnte, würde er allein schon aus Protest den Palast nach Mäusen durchsuchen – und er war sich sicher, dass sich die ein oder andere finden lassen würde. Er hätte auch nicht in Mindesten den Anflug einer Hemmung verspürt, vor den Burgtoren ein Kaninchen aufzutreiben und es mit ein paar Reiskörnern zu garnieren, aber nachdem er es gewagt hatte, in den ersten Tagen ein Schale Reis selbst zu kochen, war die Mimik seines Vaters derart entgleist, dass Minoru auch ganz von allein auf die Idee gekommen war, solcherlei in naher Zukunft besser zu unterlassen – auch ohne den empört zeternden Kappa im Hintergrund. Mittlerweile ging er bis zu dreimal am Tag in die Küche, um sich - möglichst ohne Begegnungen mit anderen – den Hunger zu vertreiben, der in letzter Zeit immer schneller aufkam und sich in Magenschmerzen und Konzentrationsschwächen störend bemerkbar machte. Myōga vermutete derweil, dass sein ohne Armband nun frei schwelgendes Yōki zu viel Energie fraß, da Minoru mehr als weit davon entfernt war, dieses neuerliche Attribut unter Kontrolle zu bekommen. Die wenigen Bediensteten, die im Palast arbeiteten, huschten deswegen meist schon freiwillig in den nächsten Raum, sobald er auf den Flur trat, denn offenbar vermittelte ihnen diese unkontrolliert brodelnde Energie das Gefühl, der Neuling leide unter einem schlimmen Fall persistent schlechter Laune – und niemand wollte da unnötig noch irgendeinen Unmut auf sich ziehen. In Wahrheit war seine Laune zwar immer noch nicht sonderlich erhebend, aber dennoch weit jenseits jeder Aggressionsgrenze gelegen. Es sollte ihm dennoch nur allzu recht sein, dass sie sich freiwillig von ihm fernhielten. Die einzige, die für solche Signale durchweg unempfindlich schien, war – wen sollte es wundern – Rin. Am Tag nach seinem wenig ruhmreichen Ausbruch im Onsen, hatte sie in einer Arbeitspause direkt seinen Weg gekreuzt und auch wenn er sich nach einer anfänglichen Höflichkeit in distanzierter Kälte geübt hatte, war sie nicht gewichen. So wie er beim Fürsten nicht wusste, wie der es aushielt, wenn Jaken wieder pausenlos irgendeinen Unfug von sich gab, rätselte er bei Rin noch darüber, ob sie gegenüber diesen deutlichen Abweisungen einfach unempfänglich war oder sie mit einer solchen Ignoranz überging, dass selbst er vor Neid erblassen müsste. Zu seiner eigenen Beruhigung hatte sich Minoru mittlerweile einfach dafür entschieden, dass Ersteres zutreffend war – und den Gedanken dann radikal aus seinem Kopf verbannt. Wenn das nur mit allen anderen auch so einfach wäre! Oh, ihr aller Fürst gab sich größte Mühe, ihm dabei zu helfen, ganz wie er es versprochen hatte: Er ertränkte seinen einzigen Sohn in einem solchen Berg aus Arbeit, dass Minoru bejubeln musste, innerhalb von nun schon fünf Tagen zumindest einmal einen flüchtigen Blick in den Garten geworfen zu haben. Der sah aber immer noch so trostlos aus wie zuvor und er hatte sich in den Kopf gesetzt, diese verfluchte Arbeit klaglos zu beenden – auch wenn er so langsam das Gefühl bekam, dass diese Aktenberge nur auf einen armen Welpen gewartet hatten, dem man Beschäftigung zuschieben musste. Es war unglaublich was für ein immenser Haufen an Unterlagen selbst bei einer so kleinen Population wie den Inuyōkai anfallen konnte. Andererseits, wenn man jedweden langweiligen Schwachsinn zu Papier brachte, kam auch bei wenigen Personen ein erstaunlicher Berg wenig sinnreicher Fakten zusammen. Die Schriftrollen waren zu großen Teilen ungeöffnet und zentimeterdick von Staub überlagert gewesen, als er sie aus den Regalen gewuchtet hatte – der erleichternde Hinweis, dass es sich dabei nicht um die Meldungen der letzten zwei Wochen handeln konnte. Wenn er den Inhalt so im Überblick betrachtete, wusste er auch nur zu gut, warum man die Unterlagen so lieb- und interesselos umgehend ins Regal verbannt hatte. Die Stunden, in denen er seiner Mutter ein und dasselbe Gedicht immer wieder hatte vortragen müssen, waren ebenso abwechslungsreich gewesen wie diese Briefe. Verschnörkelte Bitten und Berichte, die an ihrer Trockenheit Tōtōsais Heimat den Rang abliefen. Im Jahre x wurden y Felder bestellt, von denen eine scheinbar beliebige Menge Reis/ Weizen/ Gurken/ Rüben/ irgendein anderes Gemüse gewonnen worden war. Der Tribut an das hohe Haus betrug einen ebenso wenig logischen Wert und nicht nur einmal grübelte Minoru, ob der jeweilige Untergebene einfach so lange seinen Abakus in die Luft warf, bis er einigermaßen glaubwürdige Zahlen lieferte, die sein gewitzter Besitzer dann niederschrieb. Was zur Unterwelt sollten sie mit so viel Grünzeug anfangen? Interessanter waren die Berichte über die Truppenstärken, die er irgendwann auf einen völlig anderen Haufen geworfen hatte, auch wenn sie zum selben Absender gehörten. Irgendein Mann hatte einen weiteren Sohn gezeugt, irgendeine kleinere Gruppe eine Auseinandersetzung mit angreifenden Fledermausdämonen „ehrenhaft und siegreich“ bestritten. Nicht einer dieser hohen Herren hatte sich dazu herabgelassen, dem Leser seines staubigen Blattes auch nur eine spannende Szene in den vielen Kämpfen zu schildern, die stattgefunden hatte. Militärisches Stakkato. Ort, Zeit, Gegner, Verluste und Sieg. Über eine Niederlage wollte ganz offensichtlich niemand mehr Tusche verschwenden als nötig und wer ganz kreativ sein wollte, übte sich darin, ein verstecktes Lob an irgendeinen seiner Leute in den Bericht zu zaubern. Minoru wäre es mittlerweile lieber gewesen, die Verfasser dieser Briefe hätten auch nur einen einzigen Moment in ihrem langen Leben darauf verwendet, daran zu denken, dass am anderen Ende der Kette jemand saß und diesen ganzen Kram lesen musste. Der Duft frisch gekochter Mahlzeiten drang durch die Gänge wie ein Strom, der nach langer Dürre seine wiedergewonnenen Wassermassen durch das Flussbett jagte. Es war kaum möglich die Küche zu verfehlen, auch wenn sie gut versteckt und abseits der größeren Gänge in den Kellergewölben lag. Dummerweise war dadurch nicht nur er in der Lage, dieser Witterung zu folgen und noch bevor er die Schiebetür auch nur berührt hatte, überflutete ihn der Geruch anderer Inuyōkai, der sich zuvor unter dem der Küche versteckt hatte. Er wollte umdrehen, später ungestört etwas essen, aber im selben Moment wurde die Tür bereits geöffnet und die fliederfarbenen Augen eines überraschten Mädchens nahmen die Größe kreisrunder Walnüsse an. Sofort senkte sie den Blick und neigte hastig den Kopf so tief, dass sie beinahe an seine Brust stieß. „Entschuldigt bitte vielmals!“, gab sie immer noch verschreckt von sich und rührte sich nicht mehr, was nur dazu führte, dass sie ihm in der Tür im Weg stand. „Ja ja“, meinte Minoru leise und schob sich wenig herrschaftlich an ihr vorbei in den Raum. Myōga hatte ihn oft genug ermahnt, solchen Respektausbrüchen seiner Umwelt zumindest zu dieser Zeit noch auf irgendeine Weise Aufmerksamkeit zu schenken. Das sollte genug sein. Erst vor zwei Tagen hatte er herausgefunden, dass der Taishō bereits vor seiner Abreise nach Norden jede Seele im Palast angewiesen hatte, bei seiner Rückkehr möglichst in einen Zustand der Unsichtbarkeit zu verfallen. Das hatte immerhin sein wenig erfreutes Verhalten gegenüber dem schwarzhaarigen Begrüßungskomitee erklärt – wenngleich die Gute tatsächlich nur ihrer Arbeit als helfende Hand hatte nachgehen wollen. Gleich am Morgen nach ihrer gemeinsamen Ankunft war ihnen zusätzlich wärmstens empfohlen worden, Minorus Wege nicht unnötig zu kreuzen – mit einigen wohl kalkulierten Drohungen, wenn er dem Geplapper des Kappas glauben durfte. Und auch wenn Sesshōmaru kleine Zwischenfälle wie nun in der Küche damit nicht unterbinden konnte, hatte er Minoru mit diesem zuträglichen Handeln wahrlich eine Menge Unannehmlichkeiten vom Hals gehalten. Und auch wenn das respektvolle Niederblicken und Verbeugen in den ersten Tagen befremdlich gewesen war, so empfand er es nun zumindest in der Hinsicht als angenehm, dass es schlicht einfacher war, an ihnen vorbeizugehen, ohne ihre Augen auf sich zu spüren als tasteten sie ihn ab. Das Mädchen erhob sich allerdings wieder, als Minoru in der Küche war, schloss die Tür, blieb jedoch mit ein wenig betretener Miene im Raum. Die Küche war nicht sonderlich groß, was vermutlich darin begründet lag, dass erwachsene Yōkai auf so etwas störendes wie Essen großteils verzichten konnten und die junge Generation allerorts einen vernichtend geringen Anteil der Bevölkerung ausmachte. Ein langer Tisch durchstreckte beinahe den ganzen Raum und war mit einigen Zutaten belegt, darüber hing ein Holzgestell von der Decke, an dem einige Töpfe, Pfannen und Kochbesteck befestigt waren. Eine Regalwand beinhaltete Geschirr und die lange Wandseite, parallel zum Tisch, war mit Öfen und Waschbecken bestückt. Im Gegensatz zu den übrigen Räumen, die Minoru gesehen hatte, besaß dieser einen Steinboden aus großen, aber naturbelassenen Platten und lag unterhalb einer Treppe im Mauerwerk des Palastes. Dünne Wände aus Papier wären hier, wo Feuer und Wärme vorherrschten, sicher auch nicht die beste Idee gewesen. „Soll ich Euch eine Mahlzeit bereiten?“, fragte das Mädchen fast scheu, während Minoru sich eine der weißen Schalen aus dem Regal nahm. Er wandte sich zu ihr um und zog eine Braue empor. Reis und Gemüse waren längst fertig und standen verloren und auskühlend neben dem Ofen in dem leise ein Feuer knackte. Dachte sie tatsächlich, er sei nicht in der Lage, eine Schüssel mit fertigem Essen zu füllen? Abermals blickte sie nieder und ihr haselnussbraunes Haar fiel ihr bei der ruckartigen Bewegung über die Schulter nach vorn. Im selben Moment stoben zwei Jungen mit entsetzlichem Lärm aus einer Seitentür, polterten sich jagend durch die gesamte Küche, fegten unter dem Tisch hindurch und darüber hinweg. Einer der beiden knallte Minoru ungebremst vor die Schienbeine, fiel und raffte sich stolpernd wieder auf, während der andere bereits auf seinen Rücken sprang. Gemeinsam rollten sie schreiend und knurrend über den Steinboden, stießen eine Vorratsvase voller Reiskörner um, die sich in einem regengleichen Rasseln auf dem Küchenboden verteilten und die Kinder ins Rutschen brachten. Der Eine schepperte unglücklich gegen einen Wassereimer, der sich in einem schwappenden Geräusch über ihm entleerte, während der Andere mit dem Kopf gegen die Regalwand schlug, die ihren Inhalt nur allzu bereitwillig zu den Reiskörnern auf den Boden werfen wollte. Minoru legte eine Hand an das oberste Regalbrett, das auch er ohne Schwierigkeiten erreichen konnte und fing einen fliegenden Teller mit der anderen auf. Das Mädchen erstickte währenddessen beinahe an der eigens eingeatmeten Luft und starrte das Chaos an, das die beiden Jungen angerichtet hatten. Sie konnten kaum älter als sieben sein und während der Brünette der beiden neben dem Mädchen seinen Kopf rieb, starrte der Schwarzhaarige zu Minoru auf, als sehe er einen Geist, während ihm ein rotes, dünnes Rinnsal über die Wange lief. „Du blutest“, gab Minoru das Offensichtliche kund und ließ das Regal los, als es das Schwingen eingestellt und sich eine gespenstige Stille in der Küche ausgebreitet hatte. Der Junge kroch rückwärts vor ihm weg und brachte kein einziges Wort hervor, während Minoru den Blick durch die im Chaos versinkende Küche schweifen ließ. Das sollte seine Mutter einmal sehen: Unordnung und Aktendesaster am westlichen Hof. Er konnte sich ein Grinsen beim besten Willen nicht verkneifen. In seinen Augenwinkeln ließ sich das Mädchen auf die Knie fallen und presste die Stirn an den Boden. „Ich weiß, wir sind Eurer Nachsicht nicht würdig, junger Herr. Es wird nie wieder vorkommen und wir werden diese Unordnung auf der Stelle beseitigen! Ich sorge dafür, dass die beiden eine angemessene Strafe erhalten!“ Minoru wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Jungen zu und sah sie einen Moment nachdenklich an. Dann schüttelte er besinnend den Kopf. „Na los, ab mit euch – und prügelt euch in Zukunft gefälligst draußen, bevor hier alles zu Bruch geht.“ Das ließen sich die Jungen nicht zweimal sagen und binnen weniger Sekundenbruchteile waren sie verschwunden, als habe ein vernichtender Orkan in der Küche gehaust und nicht zwei ausgelassene Welpen. Das junge Mädchen hingegen vergaß diesmal sogar zu Boden zu sehen, während sie Minoru anstarrte. Sie konnte kaum älter sein als er. Eher ein paar Jahre jünger. „Minoru-sama, die Jungen... es tut mir so leid. Sie dürften gar nicht hier sein... ich...“ „Welche Jungen?“, fragte er scheinheilig und füllte sich ein wenig Reis in die zum Glück unversehrte Schale. Ihre eigentümlich zart fliederfarbenen Augen nahmen wieder eine erstaunliche Größe an, dann aber verbeugte sie sich abermals - tief und dankbar. Minoru lehnte sich mit dem Rücken an das Waschbecken und sah sie einen Moment still an, bevor er ein paar Stäbchen aus einem Holzgefäß nahm und zu Essen begann. Sollten sie sich doch balgen. Er war der Allerletzte, der es den Kindern nachtragen würde, wenn sie in diesem öden, einpferchenden Palast nach Abwechslung suchten. Hauptsache sie unternahmen Derartiges demnächst in einem Raum, der nicht mit zerbrechlichen Dingen vollgestopft war – und sein Essen beinhaltete. Kapitel 19: ändern den Schein ----------------------------- „Guten Morgen.“ Die darauf folgende halbe Stunde hatten sie schweigend in der Küche zugebracht und während das Mädchen damit beschäftigt gewesen war, sämtliche Reiskörner zusammenzufegen und die Küche in ihren Ausgangszustand zurückzuversetzen, hatte Minoru drei Schalen Reis und eine unerträgliche Menge an geschmortem Gemüse zu sich genommen. Das füllte den Magen zwar längst nicht so gut wie ein frisch erlegtes Reh, aber war mindestens genauso warm. „Ohayō.“ Der erwiderte Gruß des Taishōs war fest, aber leise wie jeden Morgen, und meist blieben dies die einzig gesprochenen Worte für Stunden, was aber auch unter anderem damit zusammenhing, dass er Minoru nur eine kurze Zeit Gesellschaft leistete und derweil einige Inhalte der Nachrichten in erschreckend schwere Bücher übertrug. Er ließ seinen Blick über die Zeilen schweifen, rollte das Papier wieder zusammen und legte es auf einen Stapel zu seiner Rechten. Über seiner Schulter lag wie stets sein weißes, dickes Fell, das er sogar im Onsen getragen hatte, aber auch hier hatte er seine Rüstung abgelegt und trug lediglich seinen weißen Kimono mit rotem Muster und einen violett-gelben Obi, den er, entgegen seiner Angewohnheit, schlicht gebunden hatte. Seitdem sie angekommen waren hatte Minoru zudem nicht ein einziges seiner Schwerter zu Gesicht bekommen. Vielleicht hatte Myōga recht und dieser Ort war wirklich so sicher, dass der Fürst bedenkenlos unbewaffnet durch das Anwesen wandeln konnte. Unaufgefordert ging Minoru wieder an die Arbeit und zog sich in das angrenzende Zimmer zurück. Die Mühen der letzten Tage lichteten langsam die Regalwände des Raumes, der sich unmittelbar an das Arbeitszimmer des Fürsten anschloss und nicht minder schlicht war als Minorus eigenes Zimmer. Hier, so wie im Arbeitszimmer selbst, war neben dunklen Lacktischen und praktischen Dingen wie Schränken, Schreibwerkzeug und Papier, kaum etwas zu finden. Vor allem keine persönlichen Gegenstände irgendeiner Art. Die Papierrollen waren größtenteils wenig liebevoll in die Regale hineingeschoben worden und nicht nur eine wies ob dieser groben Behandlung und ihres Alters Knicke und Risse auf. Auch wenn Minoru seine Verwunderung darüber tunlichst in sich vergrub, so hatte er diese Unordnung dem Fürsten dennoch zu keinem Moment zugetraut. Sowohl Temperament als auch Ausstrahlung des Hausherren widersagte der Vorstellung, wie er auch nur einen Gegenstand unachtsam und fahrlässig verwarf. Aber derlei Eindrücke konnten täuschen, auch das wusste Minoru nur zu gut. Während er in den nächsten Stunden die Briefe überflog und auf ihre Stapel sortierte, stieß er auf einen, der ihn für einen Augenblick verwirrte. Im Gegensatz zu allen bisherigen Nachrichten war diese nicht an den Taishō, sondern einen gewissen 'Tōga-ō-sama' adressiert worden. Er eröffnete einen neuen Stapel für diesen Brief und brachte schließlich die vorsortierten Unterlagen einer Regalreihe ins Arbeitszimmer. Da der kleine, schwarze Lacktisch, an welchem sein Vater arbeitete, erbarmungswürdig überfüllt war, legte er die Stapel auf dem Boden ab. Minoru, völlig in andere Gedanken vertieft, erschrak, als der Fürst gezielt nach dem einsamen Brief griff, während dieser den Boden noch gar nicht berührt hatte. Er zog ihn Minoru aus der Hand und überflog ihn flüchtig. „Was ist mit diesem?“, fragte er ruhig, sah aber nicht auf. Als Minoru nicht antwortete, fügte er hinzu: „Du schienst verwirrt.“ Unmöglich, dass er die ganze Zeit auf ihn achtete und das mitbekam, obwohl er in einem anderen Raum gewesen war! „Dieser hier war nicht an Euch adressiert, Herr“, gab der Junge schließlich zurück. „Das war keiner dieser Briefe“, erwiderte der Fürst kühl. „Wir sortieren den Briefverkehr Eures Vorgängers?“, fragte Minoru verdutzt und ein wenig vorschnell. „Meines Vaters“, korrigierte der Fürst stumpf, tauchte den Pinsel abermals in die Tusche und beendete seine Arbeit mit einigen, feinen Linien. Wie konnte ihm das während der ganzen Tage entgangen sein? Wie dumm von ihm. Zumal er insgeheim gehofft hatte, irgendetwas zu finden, das ihn selbst betraf. Das musste er dann wohl oder übel abhaken. Dann klappte der Taishō das große Buch zu und zog ein anderes aus einer Ablage neben sich. „Wie weit bist du?“ „Die linke Regalwand fehlt noch. Heute werde ich das nicht mehr komplett schaffen, fürchte ich.“ „Dann beende es morgen. Geh zu Yūsei.“ Minoru nickte lediglich und verließ schweigend den Raum. Ihm den Tisch noch voller zu packen oder ihn in Stapeln von Zetteln einzumauern wäre sicherlich auch nicht sonderlich hilfreich gewesen. Blieb nur die Frage, wer oder was Yūsei war. „Myōga.“ „Er wird Euch irgendwann fragen, warum Ihr keine Hilfe braucht, Euch zurechtzufinden!“, schimpfte Myōga sofort und hüpfte aufgeregt auf seiner Schulter umher. „Sorge, dass er dich wittern könnte?“ Myōga zuckte zurück, als er das diabolische Grinsen in Minorus Mundwinkeln sah und schluckte schwer. Dieser elendige Haufen Arbeit, der ihm von seinem Vater aufgehalst worden war, hatte ganz offensichtlich seinen Zweck erfüllt und ihn ein wenig zur Ruhe gebracht. Das hieß allerdings auch, dass er wieder Biss entwickelte – was für einen alten Flohgeist zwar einerseits beruhigend, andererseits aber auch ein absoluter Graus war. In dieser Familie hatte ein Lächeln wie dieses noch nie etwas Gutes bedeutet und er würde da sicher keine Ausnahme darstellen. „Was ist nun?“ „Bis er ein Bein verlor, stand er im Feld an der Seite des Fürsten - seit der Zeit Eures Urgroßvaters. Hier links“, dirigierte er. „Wenn er da ist, hat man ihn sicher in den Westflügel geleitet.“ Minoru schlug den vorgegebenen Weg ein und steckte die Hände in die Ärmel seines Yukatas. Das klang nach einem sehr alten Dämon. Wie grausam es sein musste, ein so wichtiges Körperteil wie ein Bein einzubüßen, um für den Rest der langen Verweilzeit auf Erden dem alten Lebensstil beraubt zu werden. Yūsei war in der Tat alt, sicher noch älter als Tōtōsai. Von der Stirn bis zur Mitte des Hauptes war er fast kahl, den Rest seines altersgrauen Haares hatte er in einem dünnen, kaum nennenswerten Zopf im Nacken zusammengefasst. Die stützende Wirkung seines rechten Beines hatte er durch einen einfachen Stock ersetzt, den er mit seiner Hand derart fest umschlossen hielt, dass sein ganzer Arm zu zittern schien. Seine Krallen waren so krumm wie er selbst und er tat sich sichtlich schwer damit, seinen Respekt in einer Verbeugung auszudrücken. Noch nie war Standesgehabe Minoru persönlich so unangenehm gewesen. „Es ist mir eine Ehre, junger Herr“, sagte der Alte mit kratziger Stimme und hob den Blick wieder. Im Gegensatz zu anderen Momenten, in denen er einfach nicht sprechen wollte, wusste er in diesem wirklich nicht, was zu sagen war. Es war zu abwegig, dass ein so lebenserfahrener und alter Herr von der Anwesenheit eines Kindes geehrt zu sein vorgab; selbst, wenn es sich nur um eine Floskel handelte. Es fühlte sich von Grund auf falsch an. Yūsei musterte ihn verhalten, bis sich ihre Blicke für einen Moment trafen. Seine Augen waren von einer schwarzen Farbe und im Gegensatz zu seiner restlichen Erscheinung wirkten sie wach und jugendlich. „Verzeiht einem alten Mann seine neugierigen Blicke, Minoru-sama“, sagte er mit fester Stimme. „Ich habe mir auf meine alten Tage jedoch nicht mehr träumen lassen, Euch zu sehen.“ „Mich zu sehen?“, Minoru schloss die Tür hinter sich, was den Alten einen Moment ins Stocken brachte. Dann lächelte er jedoch wieder. „Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich unter drei Herrschern gedient. Den meisten von uns ist es nicht einmal vergönnt, die eigenen Kinder bis ins Erwachsenenalter zu begleiten. Ich hingegen darf mich nun als einen der wenigen Yōkai bezeichnen, die auch den zukünftigen Taishō treffen durften.“ Minoru biss die Zähne zusammen und hütete sich, seine Gedanken offen kund zu tun. Er hatte genug an den neuen Umständen zu knabbern – auch ohne, dass er versuchte, diesen nicht unbedeutenden Punkt seiner Zukunft darin zu verpacken. Er war nicht einmal in der Lage eine Waffe ordentlich zu führen, geschweige denn die Mauern eines so gewaltigen Anwesens und dessen Bewohner zu verteidigen. Allein der Gedanke war aberwitzig – und dennoch tat dieser alte Herr so, als sei es selbstverständlich und von ihm nichts anderes zu erwarten. Schließlich neigte Minoru den Kopf doch ein wenig vor ihm – und wehe Myōga würde ihm dafür nachher einen Vortrag über seine Stellung halten. „Von jemandem, der derart erfahren ist, wie Ihr es seid, so angesehen zu werden, ehrt mich. Ich hoffe inständig, dass ich Euren Erwartungen gerecht werden kann.“ Dem armen Greis fiel beinahe alles aus dem Gesicht – ebenso wie dem Flohgeist, der die kleinen Hände in Minorus Haare krallte und probeweise lieber nochmal an ihm schnupperte, um sicherzustellen, dass er nicht auf dem falschen Welpen saß. So wohlerzogene, gewählte Worte aus seinem Mund? Unmöglich! Yūsei fing sich jedoch schnell wieder und lächelte lediglich beschämt. „Ich will Euch nicht weiter die kostbare Zeit stehlen. Ihr wollt sicher Eure neuen Kleider begutachten. Ich muss gestehen, dass es eine Herausforderung war, mich allein auf die Maße Eures Yukatas zu verlassen, statt selbst Maß zu nehmen.“ Der Themenwechsel warf Minoru aus der Bahn. Kleider? Von was für verfluchten Kleidern und welchem Yukata sprach er? „Euer Vater war nicht sehr konkret, was die Farben anbelangt. Genau genommen hat er gar nichts gesagt.“ Yūsei nahm einen großen, dunklen Lackkasten von einem Tisch auf, um ihn auf einer Hand in Minorus Richtung zu tragen, was recht wackelig aussah. Schnell machte Minoru zwei Schritte vor und nahm ihm die Last ab. „Ich habe mich daher an die wenigen Informationen gehalten, die ich von Euch hatte. Solltet Ihr Änderungen wünschen, werde ich mich bemühen, diese schnell zu tätigen.“ Minoru öffnete den Lackkasten und bemühte sich, den darin befindlichen, weißen Stoff nicht ungebührlich anzustarren. Was machte der Fürst eigentlich noch so hinter seinem Rücken? „Wenn Ihr Hilfe beim Ankleiden benötigt - “ „Danke, ich versuche es zunächst selbst.“ Als der Alte hinausgegangen war, presste Minoru verdrießlich die Lippen zusammen. „Du hättest nebenbei auch erwähnen dürfen, dass der Mann nun Schneider ist – statt mich ins offene Messer laufen zu lassen.“ „Ich konnte ja nicht ahnen, warum Euer Vater Euch zu ihm schickt!“, protestierte Myōga leise, während sein Schützling die Kleidungsstücke einzeln auf dem Tisch ausbreitete und glattstrich. „Ihr solltet Euch allerdings glücklich schätzen. Yūseis Arbeit ist herausragend.“ Nun, damit hatte der Flohgeist eindeutig recht. Der Hanjuban war schlicht weiß, aber aus so hochwertiger Seide gefertigt, dass Minoru allein schon bei diesem Teil der Unterkleidung die Gedanken über die Finanzierung getrost in den Wind schoss. Sie würden die geringen Mengen an Geld, die er bis Dato in der Hand gehalten hatte, deutlich überschreiten. Spätestens der Kimono würde ihn sein Leben lang in die Schulden treiben – daran konnte auch der ungewöhnlich kurze Schnitt nichts ändern, der den Kimono bereits knapp oberhalb seiner Knie enden ließ. Auch er war aus widerstandsfähiger, schneeweißer Seide. An der linken Schulter prangte ein bordeauxrotes Muster aus verwebenden Ranken, das sich vom Kragen bis an den Ärmel fortsetzte. Der Saum der weit ausfallenden Ärmel war im selben Farbton gehalten, der an dunkles Blut erinnerte. Es fehlten lediglich der Geruch und die zu Boden fallenden, roten Tropfen, während dieselbe Farbe in den Ranken eher ästhetisch wirkte. Anbei lag ein langer, dunkelbrauner Obi mit ebenfalls rot verwobenen Enden. Die dazugehörige Hose, ein Sashinuki Hakama aus fein gearbeiteter Baumwolle, hatte ebenfalls die Farbe frisch gefallenen Schnees, wohingegen die Schuhe in tiefem Schwarz schimmerten und mit einzelnen Lederbändern sicher bis auf die Hälfte der Schienbeine schnürbar waren. Lediglich diese ließ er eine Weile unschlüssig stehen. Den Boden unter den Füßen zu spüren war ihm lieber, aber wenn er alles anprobieren sollte, musste er wohl oder übel auch diese anziehen. Er wollte den Mann nicht beleidigen, der sich mit all den Sachen so viel Arbeit gemacht hatte. Schließlich richtete er sich auf und fühlte sich für einen Moment unsagbar fremd in den neuen, sauberen und vor allen heilen Sachen. Es war erstaunlich, wie perfekt jedes einzelne Teil saß und wie leicht die Stoffe am Körper lagen. Yūsei hätte es vermutlich kaum besser abmessen können. Lediglich mit dem Obi war er nicht zurechtgekommen und hatte ihn zurück in den Lackkasten gelegt. Als Yūsei nach einer Weile mit seiner Zustimmung wieder eintrat, musterte er seine Arbeit einen Moment und half ihm schließlich auch mit dem Gürtel. Es war befremdlich, sich von einer fremden Person anfassen zu lassen – und noch viel verwunderlicher war es, wie viel Kraft der Greis aufbringen konnte. Als er den Obi festzog, dachte Minoru, er wolle ihm um jeden Preis die letzte Rippe in die Lunge quetschen. Ein schändliches Keuchen konnte er jedoch zum Glück unterdrücken. „Trifft es Euren Geschmack?“, fragte der Schneider letztlich ernst. Minoru warf einen Blick auf den Lackkasten, in dem er sich zumindest ein wenig spiegelte. Seinen langen, weißen Zopf hatte er sich über die Schulter gelegt und auch ohne Spiegelung war ihm bereits klar gewesen, dass die Farbe des Kimonos den Ton seines Haares traf, während das dunkle Rot dem seiner Markierungen an Handgelenken und Gesicht entsprach. Er war froh, dass er hinsichtlich dieser Sachen keine Auswahl hatte treffen müssen. So waren sie wenig auffällig, leicht und gefielen ihm gut. Genau richtig. „Ich danke Euch“, sagte er höflich. „Sie gefallen mir und passen gut.“ „Das beruhigt mich zutiefst“, gab Yūsei zurück und stützte sich ein wenig mehr auf seinen Stock. „Da dies Eure erste Erfahrung mit diesem Stoff sein dürfte, lasst mich dazu bitte etwas erläutern. Es handelt sich nicht um gewöhnliche Seide oder Baumwolle.“ Er fuhr mit der Hand über seinen eigenen Yukata in schlichtem Dunkelblau. „Es würde nichts nützen, wenn Eure Kleidung Euch bei der ersten ernsthaften Auseinandersetzung den Dienst versagte. Wie bei der Eures Vaters ist der Stoff reparabel, sofern Ihr es vermögt, Euer Yōki entsprechend einzusetzen. Das ist sicherlich nicht die einfachste Kunst, aber es erhält Euch diese Stücke, solange Ihr wünscht.“ Das war erstaunlich, aber auf eine Weise auch ernüchternd. Um den Stoff zu reparieren, müsste er sicherlich erst einmal in der Lage sein, kleinere Wunden seiner Haut selbst zu heilen. Von diesen gezielten Einsätzen war sein Yōki meilenweit entfernt. Es verhielt sich viel lieber wie eine aufgescheuchte Schlange und wand sich nervös um ihn herum. „Des Weiteren“, fuhr Yūsei fort, „wird der Stoff auch den Strapazen Eurer Formwandlungen widerstehen. Gewöhnliche Materialien geben den Verwandlungen gewöhnlich auch nach, aber sie leiden extrem darunter und irgendwann kann man sie schlicht nur noch wegwerfen. Grämt Euch aber bitte nicht, wenn diese Dinge nicht gleich funktionieren. Alles braucht seine Zeit und der Umgang mit diesen Sachen erfordert ebenso Übung wie alles im Leben.“ „Ich werde es versuchen. Das ist erstaunlich. Was ist an diesem Stoff anders als an anderen?“ Der Alte lächelte verlegen und sah ein wenig zur Seite. Minoru verstand sofort. „Verzeiht. Ich wollte Euch nicht bedrängen, Eure Berufsgeheimnisse zu teilen.“ „Nein, ich bin es, der um Vergebung bitten muss. Aber in der Tat rede ich ungern darüber. Ich könnte einen Lehrling brauchen, der sich dieses Handwerk ernsthaft aneignen will, aber ich fürchte, Ihr seid schon anderweitig eingeplant.“ Er lächelte so breit, dass man seine Fangzähne sehen konnte. Einer fehlte und der übrige wirkte stumpf und vergilbt. Minoru schenkte dem Alten ebenfalls ein flüchtiges, wenn auch aufrichtiges Lächeln und bat um Nachsicht: „Ich sollte zum Fürsten zurückkehren und mich für diese Aufmerksamkeit bedanken.“ Yūsei nickte ihm freundlich zu. „Lasst es mich wissen, wenn Ihr herausgewachsen sein solltet.“ Während Minoru ins Arbeitszimmer zurückkehrte, fand er den Tisch aufgeräumt, aber verwaist vor. Der Witterung des Taishōs in einer Umgebung zu folgen, in der praktisch alles seinen Geruch hatte, war anstrengender als angenommen, aber wenn es etwas gab, auf das sich Minoru verlassen konnte, dann war das seine Nase. Zum Glück verlor sich die Fährte nicht tiefer im östlichen Trakt, den zu betreten er nicht gewagt hätte, und schließlich fand er den Fürsten mit einer Hand voll Wachen auf dem Vorplatz des Palastes. Minoru hielt im Torbogen inne, da er immerhin angewiesen worden war, den Palast nicht zu verlassen und musterte die Szene einen Moment neugierig. Er bedurfte keines Hellsehers, um zu erahnen, dass das keine belanglose Unterhaltung war, die der Hausherr mit einem hochgewachsenen Yōkai führte, der ihm an Größe beinahe ebenbürtig war. Was Minoru nicht ahnen konnte, war, dass es sich bei diesem Mann mit den ungewöhnlich kurzen, schwarz-grünlich schimmernden Haaren um den Generalleutnant des Heeres handelte, dessen gelbe Augen trotz seiner jungen Erscheinung beinahe tausend Jahreswechsel hatten kommen und gehen sehen. „- Eurer hohen Aufmerksamkeit zu keinem Zeitpunkt wert“, fuhr Ryouichi mit seinem Bericht fort. „Bemitleidenswert stumpfsinnig und plump. Eine unmittelbare Gefahr ist auszuschließen. In Anbetracht der nahenden Ratsversammlung rate ich dennoch an, sich ihrer zu entledigen. Wenn Ihr es wünscht, werden wir uns umgehend darum kümmern.“ Eine Unterhaltung mit dem Fürsten verlief meist in einem Monolog, aber damit hatte sich der erfahrene Organisator der Patrouillen, Wachen und Krieger längst arrangiert. „Es sind einige Oni in der Nähe.“ Minoru widerstand dem Reflex, sich zu der Stimme umzudrehen, die hinter ihm erklang. Er hatte Rin ohnehin schon gewittert. Mit einem Oni waren selbst Takeru und er fertig geworden. Sie waren tatsächlich äußerst einfältig und agierten so vorhersehbar, dass es nicht sonderlich schwierig war, ihnen auszuweichen. Weniger amüsant wurde es, wenn diese Berge gehirnentbehrender Muskeln einen Treffer landeten. Im Normalfall lebten sie im zerklüfteten Hochgebirge – und fraßen vermutlich pures Gestein, so selten, wie sich dort jemand in ihr Revier verwirrte. So gab Minoru nur ein leises, aber durchaus verächtliches Schnauben von sich. „Nicht sonderlich beeindruckend, meinst du?“, fragte Rin vorsichtig, schob eine Strähne ihres hüftlangen, braunen Haares zurück hinter ihr Ohr und stellte sich an seine Seite. Sie hatte sich nicht angewöhnt, ihm mit Titeln und gehobenen Ansprachen zu begegnen, wie unter anderem Myōga es zu tun pflegte, und da er kein Aufhebens davon machte, beließ sie es dabei, solange niemand sonst zuhörte. „Wahrscheinlich hast du recht, aber wenn die Ratsmitglieder mit ihnen zusammentreffen sollten, wird ihre alleinige Anwesenheit in der Nähe der Burg ein schlechtes Licht auf Sesshōmaru-sama werfen.“ Sie musterte ihn für einen Moment und lächelte schließlich sanft. „Sehr stattlich. Yūseis Arbeit steht dir wirklich hervorragend. Er ist erstaunlich, nicht wahr? Immer wenn ich ihn sehe, wird mir schwer ums Herz. Er ist so begabt und freundlich und doch wirkt er immer auf eine so erschreckend subtile Weise traurig, dass ich weinen möchte. So alt zu werden mag vielleicht auf den ersten Blick verlockend sein, aber wenn ich ihn ansehe, denke ich immer, dass es auch Schattenseiten hat. Alles an sich vorbei ziehen zu sehen und als Einziger beständig den Wandel zu beobachten...“ Minoru warf ihr einen wenig verständnisvollen Blick zu. Musste sie so offen über das vermutete Gefühlsleben anderer Personen daherreden? Dass Yūsei nicht bis in Spitzen seines altersgrauen Haares vor Freude strotzte, konnte jeder sehen – auch ohne, dass ein Menschenmädchen nochmal den Finger in die Wunde legte. Sie blickte aus samtbraunen Augen zurück und lächelte lediglich freundlich, während sie ihren dunkelvioletten Yukata glättete, der am Saum mit so vielen feinen, weißen Blüten bestickt war, dass das Muster an Schnee erinnerte. „Kanae hat mir erzählt, was heute Morgen in der Küche passiert ist. Sehr nobel von dir, die Jungen zu schonen.“ Ihr Lächeln nahm anmaßend triumphierende Züge an. „Ich wusste immer, dass du nicht so kalt bist, wie du vorgibst, Minoru. Im Grunde bist du eine gute Seele. Ich verstehe nicht, warum du jemand anderes sein willst, als du bist.“ Diesmal spürte er selbst, wie sein Yōki eine wahrhaft erschreckende Wandlung vollführte, den brodelnden Teil übersprang und in einem explosionsartigen Lodern um ihn herum zu schwelen begann, dass selbst Myōga in seinem Haar einige Strähnen umklammerte und sich an so eng wie nur möglich zusammenzog. Niederes Menschenwesen, das sich anmaßte, über ihn zu urteilen! Was wusste sie schon von ihm? Nichts und noch weniger als das. Allein ihre immer noch ruhige Ausstrahlung machte ihn wahnsinnig. So unverschämt ruhig! Als Sesshōmaru ihn tonlos beim Namen nannte, warf er ruckartig den Kopf wieder herum und ließ sie stehen, bevor sein Temperament mit ihm noch ein verheerendes Spiel begann, das keiner von ihnen überleben würde. Er überbrückte die Entfernung zum Fürsten innerhalb weniger Sekunden mit erstaunlich gelassen wirkenden Schritten, während er immer noch vor Wut kochte. Sie war sich ihres Schutzes so bewusst, diese elende, überhebliche Frau, dass allein dies Minoru schon fast in den Wahnsinn trieb – dabei hatte sie nicht einmal gemerkt, dass ein Teil von ihm sie am liebsten auf der Stelle zerfetzt hätte! Die Krieger nahmen wieder Haltung an, doch als er den Fürsten erreichte, konnten sich Einige neugierige Seitenblicke tatsächlich nicht verbieten. „Ja, Herr?“ „Ryouichi wird sich deiner annehmen“, ließ der Taishō verlauten und nichts an ihm verriet ihm Mindesten, wie wenig begeistert er von der friedlosen Beziehung seiner beiden Schützlinge war. „Ich erwarte, dass du deinem Lehrer den gebührenden Respekt entgegen bringst und mir keine Schande bereitest.“ „Es wird mir eine Ehre sein, Euch zu unterweisen, junger Herr“, Ryouichi neigte den Kopf vor ihm und seine geübten, intensiv gelben Augen benötigen nicht mehr als die Zeit eines Wimpernschlages, um seinen Schüler zu begutachten. „Wenn es Euer Wunsch ist, führe ich Euch mit Freuden über die Trainingsplätze, an denen wir ab morgen mit den Stunden beginnen können.“ „Nicht heute“, fuhr sein Vater dazwischen und Ryouichi senkte augenblicklich das Haupt demütig ein Stückchen tiefer. „Er wird mich begleiten.“ Es bedurfte nicht viel Phantasie, sich zu überlegen, warum er ihn mitnehmen wollte und tatsächlich war es dem Fürsten ein tiefes Bedürfnis, die beiden nicht unbeaufsichtigt zurückzulassen. Unvorstellbar, was geschehen könnte, wenn er Rin mit ihrer sehr direkten, offenen Art mit seinem unkontrolliert reizbaren und impulsiven Sohn allein ließ. Seine Jugend machte ihn unberechenbar und Sesshōmaru wollte nicht nur einen Augenblick daran denken, wie er selbst noch vor kurzer Zeit auf eine derart anmaßende Unterstellung eines anderen – schon gar eines Menschen – reagiert hätte. Rin hatte hier lediglich der schützende Schatten vor Schlimmeren bewahrt, den er über sie warf. Kapitel 20: und lassen uns vergessen ------------------------------------ Sesshōmaru trug unlängst wieder seine vollständige Rüstung und auch zwei seiner drei Waffen hatte er mit Hilfe seines Obis an seiner Seite befestigt. Auch wenn er sie im Kampf gegen einige lächerliche Oni mit Sicherheit nicht brauchen würde, war es undenkbar, den Palast ohne sie zu verlassen. Obwohl Minoru für einen Moment darauf gehofft hatte, wurde ihm der Weg durch die Burg bewusst nicht erspart. Am frühen Nachmittag war hier ein dichtes Treiben zu beobachten, wenn auch längst nicht so stark wie morgens. Die wenigen Kinder waren jedoch die Einzigen, die ihnen neugierig nachstellten und ein Spiel daraus machten, wer den Herrschaften am längsten unbemerkt folgen konnte. Letztlich gewannen alle, da weder Sesshōmaru noch Minoru ihnen auch nur den Hauch von Aufmerksamkeit schenkten. Bei Sonnenlicht wirkten die Gebäude außerhalb des innersten Wehrkreises weniger einschüchternd als bei ihrer Ankunft. Die meisten einfachen Häuser waren aus Holz, wohingegen die Wehrtürme mit massiven Steinen errichtet worden waren und aus den hohen Mauern hervorstachen wie Bäume auf einer Ebene. Während des ganzen Weges zum Haupttor hatte Minoru den Blick strikt auf einen leeren Punkt vor sich gerichtet und versuchte, seinen Ärger über Rin so gut wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Mit immer noch sehr rauen Händen fuhr er abwesend über den feinen Stoff an seinem Ärmel und nahm die Hand schnell wieder weg, als die Hornhaut unangenehm über die Seide kratzte. Er machte sich nichts vor: Jeder, der auch nur den Hauch seiner Aura zu spüren vermochte, wurde gerade mit einem lodernden Feuer kochender Wut konfrontiert und gerade dem Taishō, dem ohnehin nichts entging, wollte er solche Ausbrüche eigentlich nicht vor die Füße werfen – insbesondere, wenn diese Rin betrafen. Erst als das rot lackierte Holz des vordersten Tores hinter ihnen wieder verriegelt worden war und sie auch die Brücke über den nun in der Frühlingssonne im hellen Blau glänzenden Sotobori überquert hatten, ließ Minoru die Luft tief in seine Lungen strömen und erwachte aus dem selbst auferlegten Fokus. Während der letzten Tage hatte der Regen nachgelassen und die Sonne war hinter den schweren Wolken hervorgedrungen. Auch jetzt schien sie verhalten und obwohl ihr bisher noch Kraft fehlte, so war es doch angenehm sie nach all den Monaten wiederzusehen. Die Umgebung hatte auf ihre Anwesenheit reagiert und zeigte entgegen des vorher verhaltenen Wachstums endlich neue Knospen. Als feiner grüner Hauch waren sie zwischen den kahlen Stämmen zu erkennen. Es wurde tatsächlich besser – zumindest was das Wetter anging. Sie ließen die gerodete Fläche vor dem Palast hinter sich und hielten auf eine nahe Erhebung zu, die sich aus hügeligem Vorland in ein dicht bewaldetes Gebirge erhob. Die derzeit einzige Deckung waren die Gruppen von Fichten und Tannen, die den kalten Temperaturen wie stets mit kräftigem Grün trotzen. Es dauerte einige Zeit bis Minoru sich wieder beruhigt hatte, aber das freie Gelände bewirkte wahre Wunder. „Du wirst dich zurückhalten“, ließ der Fürst ihn wissen, als er spürte, dass mit dem Jungen ein für seine Begriffe normales Gespräch wieder möglich war. Minoru warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Es war nun nicht so, dass er sich je als Erster freiwillig in einen Kampf gestürzt hatte. Das war eindeutig Takerus Interesse gewesen. Musste er ihm gleich eine Kette um den Hals legen wie einem gewöhnlichen Hofhund? „Es ist nicht das erste Mal, dass ich außerhalb sicherer Wände durch einen Wald gehe“, gab Minoru steif zurück. „Es gibt nun triftige Gründe, dich zu töten.“ Die Stimme des Fürsten war so eisig, dass Minoru die Farbe aus dem Gesicht floss. Er war stehen geblieben und auch Sesshōmaru hielt nun an. „Verwundert dich das? Die letzte Zeit hat dir nicht nur Wohlwollen eingebracht. Hattest du gedacht, Shunran würde vergeben - ihre Entstellung und den Tod ihrer Schwester?“ „Mit dem Tod ihrer Schwester habe ich nichts zu tun!“, protestierte Minoru, aber der sonst so kalte Ausdruck in den Augen des Fürsten verfinsterte sich. „Sei nicht naiv, Junge“, mahnte er und legte eine Hand auf den Griff eines seiner Schwerter, drückte es ein Stück weit in die Waagerechte. „Sie werden uns vorwerfen, was immer in greifbare Nähe rückt. Wir haben interveniert, obwohl es nie unsere Schlacht gewesen ist.“ Takerus Vermutung traf also zu: Der Ausfallschritt in die westlichen Länder war kein Versehen gewesen, sondern reine Provokation, die den Panthern niemand hätte nachweisen können. Hatte er unbeabsichtigt diesen Feinden einen Grund gegeben, den Westen mit Berechtigung anzugreifen? Er sah betreten zu Boden. Dass sein Handeln einen ganzen Landstrich in die Verantwortung ziehen konnte, hatte er sich niemals träumen lassen. Wie nahe es lag, dass jemand auf die Idee kam, der Taishō persönlich sei verantwortlich für den wenig hübschen Anblick dieser Dämonin, wenn sich herumsprach, dass der Angreifer zu allem Überfluss sein Sohn war! Dennoch. Als er den Kopf wieder hob, war ein erstaunlicher Anteil seines Blickes Trotz. Nein, er würde sich für diese Tat nicht schelten lassen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, weder in Bezug auf die Reise nach Norden noch in Anbetracht der Tatsache, dass diese Shunran sie ohne Zweifel in eine Falle geführt hätte. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten schien der Fürst gegenüber der wenig beschämten Haltung seines Sohnes nicht im Mindesten verstimmt. „Du hast mir die Arbeit abgenommen“, ließ er Minoru wissen, der daraufhin wieder in eine bodenlose Verwirrung abglitt. Hatte er sich nicht gerade noch darauf eingestellt, sich rechtfertigen zu müssen? Wie sollte er diesen Mann nur je verstehen! Dann spannten sich die Züge seines Vaters streng an. „Niemand gibt sich für mich aus. Deine Tat mag rachsüchtig wirken, aber ihr die Erinnerung daran ins Gesicht zu brennen, sorgt hoffentlich dafür, dass sie das nicht noch einmal vergisst.“ „Wenn Ihr so darüber denkt, hättet Ihr sie noch vor Ort selbst richten können.“ „Ich werde sie früh genug von ihrem Leid erlösen. Bis dahin darf sie in jeder Spiegelung daran denken, dass dieser Tag bald kommen wird.“ Er wandte sich wieder um und setzte seinen Weg fort. Wenn sich Minoru anstrengte, etwas in seinen Ton hinein zu interpretieren, klang er fast schadenfroh. War das so etwas wie ein verstecktes Lob gewesen? Zumindest der Hinweis, dass er etwas richtig gemacht hatte? Er folgte dem Fürsten und versank für eine Weile in Gedanken. „Es ist nichts naheliegender, als dem Westen, mir, über deine Person zu schaden“, meinte Sesshōmaru und strich sich einige Haare über die Schulter zurück, die der Wind von ihrem Platz verweht hatte. Allein bei dem Anblick dieser Krallen, die unter den weißen, offenen Strähnen in der Bewegung hervorblitzten, wusste Minoru, warum keiner ein großes Interesse daran hegte, es sich mit ihm zu verscherzen. Um das zu verinnerlichen hätte er dessen leicht pulsierende Aura als Gedankenstütze nicht benötigt. Sie fuhr über ihn hinweg wie eine scharfe Brise, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Nochmal wollte Minoru nicht nachhaken, auch wenn er keine wirkliche Frage gestellt hatte. Es war auch so deutlich, wovon er sprach und die beklemmende Stille, die sich danach über sie senkte, beendete das Thema endgültig. In den vergangenen Stunden war immer noch kein Anzeichen auch nur eines einzelnen Oni wahrzunehmen gewesen und Minoru bezweifelte langsam ihre bloße Existenz. Aber es sollte ihm recht sein. Er hatte keine große Lust auf einen Kampf oder seinem Vater dabei zuzusehen, wie er Oni schlachtete. Bisher hatte er ihn weder kämpfen noch töten sehen und etwas sagte ihm, dass er das vermutlich auch alsbald nicht erleben wollte. Doch auch wenn Minoru seit geraumer Zeit damit rechnete, tat der Fürst diese sinnlose Suche auch nach Stunden nicht als Zeitverschwendung ab und schickte sich nicht an, sie aufzugeben. Es war unschwer zu bemerken, dass er unerfreulichen Gedanken nachhing, während Minoru ihm in einigem Abstand folgte und nicht viel anderes tat. Es war so unerhört lächerlich! Während der letzten Tage hatte er es mit Arbeit kaschieren können, aber nun machte sich deutlich bemerkbar, was er bereits während der Reise gen Westen bemerkt hatte: Er war über die letzten Wochen unstet geworden, innerlich aufgewühlt und sensibel. Jede unvorhergesehene Bewegung des Fürsten ließ seinen Puls in die Höhe schnellen und seine Atmung abflachen. Das hatte sich seit dem Onsen nicht geändert. Er rechnete jederzeit damit, Fehler zu machen oder sich Strafen einzuhandeln. Vermied Blickkontakt und Widerworte. Fügsamkeit war keine seiner herausragenden Eigenschaften und Angst, dieses erschreckend hinderliche Gefühl, das mit Vorliebe den Geist benebelte und die Muskeln in der Not nur lähmte, hatte er schon jahrelang nicht mehr verspürt. Er musste sich dennoch eingestehen, dass es sich um nichts anderes handeln konnte. Dieses Gefühl, wenn er sich in seiner Nähe befand, ging weit über Respekt hinaus und das zu Unrecht. Nie hatte sich der Taishō ihm gegenüber feindlich gezeigt. Nicht einmal nach seiner gemeinsamen Reise mit Rin. Er trug es ihm nicht nach, dass er Dreck an seiner Kleidung ansammelte, die Mahlzeiten in einer engen Küche mit der Dienerschaft einnahm oder gar Mäuse fraß. Dieser Mann hatte sich seines Gebärdens mit keinem Wort verdient gemacht. Mit Nobu hatte er binnen einer Woche sprechen können, obwohl ihm dessen Motive völlig schleierhaft waren. Sein Vater hingegen hatte gute Gründe, sich seiner anzunehmen und es war schändlich von ihm, es ihm so zu vergüten. Aber er konnte nicht anders. Er und Angst! Minoru kannte nachdenkliche Sorge und wohl durchdachtes Vermeiden von Gefahr. Aber wirkliche Angst lag Jahre zurück. Er wollte verdammt nochmal dieses Gefühl nicht andauernd in der Nähe des Fürsten durchleiden; ein lauerndes Raubtier, das nur auf den Moment wartete, in dem es lohnenswert schien, zuzuschlagen. Wie widerlich es war, sich plötzlich selbst nicht mehr zu kennen. Keinen Einfluss auf den eigenen Willen zu haben. Er hatte so inständig gehofft, dass dies der Vergangenheit angehörte, nachdem er tatsächlich Frieden in der Arbeit finden konnte! Doch Unruhe und Unsicherheit kehrten sofort zurück, wenn sich ihnen eine Lücke bot – und rissen ihn wieder in diesen Zustand, den er zutiefst verachtete. Sesshōmaru, der die nun seichteren Gemütsschwankungen seines Sohnes verfolgte, presste die Kiefer hart aufeinander. Wenn er die Verantwortlichen in seine Klauen bekam, würden sie lernen, was es bedeutete, Hand an diesen Jungen zu legen. Einen Yōkai, noch dazu einen Welpen, so lange von seinem Yōki zu trennen, war selbst für einen Dämon grausam. Die Vorstellung allein bereitete dem Fürsten Unbehagen und er musste sich vorhalten, nicht eher reagiert zu haben. Die unüberschaubare Ähnlichkeit zwischen ihnen und das Fieber, das den Jungen so unversehens übermannt hatte, hätten ihn nicht nur stutzig machen, sondern auch zum Handeln zwingen sollen. Es grenzte bereits an ein Wunder, dass der Junge nur unsicher und schreckhaft geworden war, statt ohne dieses unglückselige Armband völlig den Verstand zu verlieren. Zu seinem persönlichen Ärgernis musste er einen Gedanken an seinen Halbbruder verschwenden. Inuyasha, sein Halbblut von Bruder, der ohne den Schutz des Schwertes Tessaiga nur allzu schnell von dem dämonischen Erbe ihres Vaters übernommen worden war, hatte sich in bedrohlichen Situationen durch aufwallendes Yōki nicht nur einmal zu besinnungslosen Blutbädern hinreißen lassen. Minoru war zwar binnen kürzester Zeit einer großen Menge eben solcher Energien ausgesetzt worden, aber eine solche Wandlung war glücklicherweise ausgeblieben. Sesshōmarus Miene verfinsterte sich daher zusehends, als er der Aura seines Sohnes ein weiteres Mal nachspürte. Wie ein verschrecktes Wildtier, angespannt und jederzeit bereit, in jede erdenkliche Richtung zu agieren. Nicht auszumalen was geschah, wenn diese Aura im Ernstfall den Einfluss noch tiefer in seine Persönlichkeit ausweitete. Denn immerhin war die Energie existentiell für sein Überleben und Bestandteil seiner Selbst. Mit der Dämmerung kehrten Wind und schneidende Kälte zurück. Die Böen jagten durch den Wald und schlugen beißend an den Berghängen entlang. Bis auf die Vorebene des Schlosses bestand der gesamte Westen aus Gebirgszügen, tiefen Tälern und dichten Wäldern, die selbst die nördlichen Gebirge an Unwegsamkeit übertrafen. Einige Bäume waren so alt und groß, dass ihre Wurzeln ein Eigenleben zu führen schienen und über den Boden mächtig und stark herausragten. Nach der Blattfrische im Frühjahr würde an einigen Stellen kein einziger Sonnenstrahl den Boden erreichen. Einige höhere Lagen waren noch mit einer dicken Schneemasse bedeckt. Minoru atmete die kühle Luft ein und machte einen Schritt näher an das Bergmassiv heran, durch dessen Pass sie sich einen Weg in die nächste Talsenke bahnten. Das war also der zentrale Westen. Nach den neuerlichen Ereignissen hatte auch diese Feststellung einen seltsamen Beigeschmack bekommen. Noch vor wenigen Tagen waren Grenzen für Minoru fiktive Gebilde gewesen, die irgendwann einmal gesteckt worden waren und die für ihn, der sich weithin als neutral ansah, keinerlei Bedeutung hatten. Heute war es ein Gebiet, auf das sein Vater Besitzansprüche stellte. Ein Gebiet, das zu verteidigen und auszuweiten von ihm selbst erwartet werden würde, wenn alles weiterlief wie bisher. Eine seltsame Vorstellung – ein Land beherrschen. Ebenso hätte man behaupten können, den weiten blauen Himmel zu besitzen. Das Erleichternde an der Sache war lediglich, dass es sowohl dem nun finster werdenden Himmel als auch den gerade noch im Winterschlaf ruhenden Bäumen vermutlich ziemlich egal sein dürfte, wer gerade behauptete, ihr Herr zu sein. Für sie waren das Belange einer anderen, niedrigeren Sphäre, die sie kaum berührten. Als sie das nächste Tal erreichten, setzte der Nieselregen ein und das Wetter schlug damit endgültig um. Minoru, der sich bisher damit zurückgehalten hatte, nahm die Form des weißen Hundes an und trabte neben seinem Vater her. Der Regen perlte an seinem Fell ab wie von Lotus. Als sich der Fürst schließlich im erstbesten Windschatten niederließ, legte er sich vor ihm nieder und ließ den Kopf auf die Vorderpfoten sinken. Sesshōmaru, wie üblich ein Bein etwas angezogen und das andere in eine einsame Schneiderposition auf dem Boden ablegt, lehnte mit geradem Rücken an der Felswand und ließ die Augen auf dem Hund ruhen, der ebenso zu ihm aufsah. All diese unkontrollierte Energie, die Instabilität und Unsicherheit führten dazu, dass Minoru in seinem jetzigen Zustand eine unkalkulierbare Variable darstellte und zu allem Überfluss ergriff er so gut wie nie von sich aus das Wort. Rin hatte nach ihrer Rückkehr vor etwas über einem Jahr bereits nach den ersten Tag in allen Farben und Tönen dargelegt, wie glücklich sie darüber war, wieder bei ihm zu sein und in ihrer verbliebenen, kindlichen Art ausgeschmückt, was sie in der Festung alles zu tun gedachte. Auch über das Leben in dem Menschendorf hatte sie viel erzählt und sich nicht zurückgehalten, zu weinen, als die Sprache auf die alte Priesterin kam, in deren Obhut er sie vor vielen Jahren gegeben hatte. Bei Rin war vieles ersichtlich und offenkundig. Ängste, Träume und Wünsche flossen nur so aus ihr heraus und es kümmerte sie nicht im Geringsten, dass Einige dies – vor allem ihm gegenüber – für anmaßend hielten. Doch auch wenn Sesshōmaru sich zurecht damit hätte rühmen können, eine große Interpretationsgabe in Sachen Intuition und Gesinnung Anderer zu besitzen, musste er zugeben, dass er diesen verbissenen Jungen durch dessen distanzierte Art und sein unstetes Wesen nur bis zu einem gewissen Grad direkt einzuschätzen vermochte. Es lag nicht im Rahmen seiner alltäglichen Beschäftigungen, sich mit anderen Lebensformen zu unterhalten, aber manchmal blieb selbst ihm nichts anderes übrig. „Geht es dir besser als neulich?“ Minoru hob vor Verwunderung den Kopf. Seit Stunden hatte der Fürst geschwiegen und nun begann er tatsächlich ein Gespräch. Erstaunlich. „Es ist in Ordnung“, gab er zurück und ließ den Kopf wieder zurück auf die Pfoten sinken, sah weg von ihm, ehe er bemerkte, dass der Taishō ihn so vermutlich nicht verstehen konnte. Er seufzte leise und verwandelte sich zurück. Vor ihm auf dem nassen Waldboden liegend, raffte er sich auf die Knie auf und wollte gerade wiederholen, was er gesagt hatte, da wurde er bereits unterbrochen. „Ohne Aussage“, stellte sein Vater fest und Minoru musste sich zusammenreißen, um den Unterkiefer am Gegenstück zu halten. „Ihr habt verstanden?“ „Selbstredend“, gab dieser zurück. „Davon ab: Wenn ich dich etwas Frage, erwarte ich eine aussagekräftige Antwort. Du kannst ehrlich zu mir sein – selbstredend in angemessener Weise und nur, wenn wir unter uns sind.“ Als sein Sohn daraufhin immer noch nichts sagte, legte Sesshōmaru den Unterarm auf das aufgestützte Knie und neigte den Kopf zur Seite. „Der Floh zählt dabei nicht.“ Minoru spürte, wie ihm ein leichter Schauer über den Rücken lief und fühlte sich, als habe man ihn gerade dabei ertappt, wie er aus der Küche stibitzte. Das war allerdings kein Vergleich zu der Herzattacke, die der arme Flohgeist zwischen seinen Haarsträhnen durchlitt. Benommen drohte er aus seiner sicheren Position zu fallen und konnte sich nur in einem letzten Aufbäumen seiner Kräfte am Platz halten. „Er weiß, dass sein kleines Leben an einem sehr dünnen Diskretionsfaden hängt. Nicht wahr, Myōga?“ „J... ja, Sesshōmaru-sama“, gab der kleine Yōkai leise zurück und ließ sich zittrig auf Minorus Schulter sinken. Tōga-sama hätte seine Loyalität niemals angezweifelt – oder ihm gar mit Mord gedroht! Aber Sesshōmaru war nun einmal nicht Tōga. Zu Myōgas Bedauern. Er hielt sich an dem neuen Stoff des Kimonos fest und wünschte sich mehr als alles andere, dass der Junge schon einen weichen Pelz über seiner Schulter liegen hätte, in dessen Schutz er sich nun liebend gern verkriechen wollte. „Ich habe versucht, mich an Euren Rat zu halten und meinen Blick nach vorn gerichtet, soweit es mir möglich war. Aber einige Tage sind kaum ein angemessener Zeitraum, um alles Vergangene zu vergraben und vergessen. Ich erkenne mich selbst nicht wieder; so schreckhaft und unsicher – und bitte, ich will Euch damit keineswegs beleidigen. Es ist schändlich, Euch gegenüber so undankbar zu sein. Ich komme einfach nicht zur Ruhe.“ Der Fürst sah ihn ruhig an, dann wurde sein Ausdruck wieder völlig ernst, auch wenn er durchaus zufrieden war, dass der Junge genau das bestätigte, was er längst ahnte. „Du bist überfordert. Das ist nur verständlich. Es hat seinen Grund, dass kein gewöhnlicher Dämon gern Anstoß an uns nimmt. Und ebenso wird das nicht unerheblich bei der Entscheidung gewesen sein, dich mit dieser Fuchskoralle zu versehen. Niemand möchte einen Daiyōkai händeln müssen; nicht einmal einen Welpen, sei er auch noch so klein.“ „Ich verstehe offen gestanden kein Wort.“ „Nein. Natürlich nicht“, ein unterschwelliger Ton von Enttäuschung durchtränkte seine trockene Stimme. „Ich hatte nicht erwartet, dass sie dir erlaubt haben, deine wahre Form zu nutzen.“ Ungläubig blinzelte Minoru ihn einen Moment lang vielsagend an. Myōga auf seiner Schulter verschluckte sich augenblicklich am eigenen Speichel und starrte zu dem Jungen hinauf. Er hielt dieses menschenähnliche Dasein für seine eigentliche Erscheinung? Nun wusste auch der treue, kleine Yōkai nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. „Aber junger Herr! Das ist doch nichts als Trug und Schein!“, protestierte der Flohgeist vehement. „Ebendies.“ Sesshōmaru krümmte die Klauen und raffte sich auf. Minoru fuhr ob dieser schnellen, fließenden Bewegung zusammen und als der Fürst ihm mit rot glimmenden Augen seine Rechte entgegenstreckte, begann sein Herz in der Brust zu rasen wie ein aufgeschreckter Vogel in einem knöchernen Käfig. Seine Aura hatte sich um ihn herum verfestigt wie eine Schutzmauer, beinahe tastbar und bereit, sich auf jedwede Weise zu verteidigen. „Ich kann dir die Hand nur reichen, Junge.“ Die Stimme des westlichen Fürsten war zu einem einzigen, dunklen Knurren verzogen. Die sonst so gradlinigen, magentafarbenen Zeichnungen auf seinen Wangen waren breiter geworden und liefen unsauber und fransig aus. Minoru biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Myōga krallte sich derweil fester in die Strähnen seines neu erwählten Wirtes und schluckte schwer. Er war vor vielen Jahrhunderten an Tōgas Seite gewesen, als dieser seinen Jungen zum ersten Mal in die Form des großen, weißen Hundedämons getrieben hatte. Bis zu diesem Tag hätte er ohne Weiteres alle vier Hände dafür ins Feuer gelegt, dass der junge Welpe seines Herrn nicht nur ein atemberaubend schöner, sondern auch durchweg höflicher Junge gewesen war, dem Widerworte und Aggression völlig fremd schienen – bis er erlebt hatte, wozu selbst ein unkontrollierter Welpe mächtiger Eltern im Stande war. Und Sesshōmaru hatte Tōga schon vor vielen Jahren in den Schatten gestellt. Nun, die nächste sterbliche Seele war hoffentlich weit genug weg und vielleicht war dies einer der wenigen Momente, in denen Myōga dem Himmel dankte, dass der derzeitige Taishō seinem Vater nicht nur in Mildtätigkeit bodenlos nachstand, sondern eben auch Kalkül und nötige Härte besaß, eine eskalierende Situation durch bloße Präsenz zu ersticken. Dann griff Minoru zu, ließ sich von der glühend heißen Hand seines Vaters auf die Beine ziehen. Eine Welle von Yōki begrub ihn augenblicklich unter sich, umhüllte ihn wie es die Wasserschlange im Mogami-gawa vermutlich getan hätte; nahm ihm den Atem, die Sicht und zuletzt das Bewusstsein. ~ „Junge.“ Der Regen prasselte ihm hart ins Gesicht. „Minoru.“ Er fühlte sich immer noch benommen, als er die Augen blinzelnd aufschlug und sein Kopf pochte, als sei er frontal gegen einen Felsen gerannt. Es war dunkel, aber als er den Kopf drehte, blendete ihn der Mond als wolle er es der Sonne gleichtun. Er ließ die Lider wieder zufallen und brummte leise. „Steh auf.“ „Mir ist kotzübel“, murmelte er zur Antwort und lockerte die Schultern, bevor er sich auf die Vorderbeine hievte. „Was haben wir doch für einen ausschweifenden Wortschatz“, klang die Stimme des Fürsten hoch über ihm. Er wandte den Blick zu ihm und stutzte einen Moment. Der riesige, weiße Hund, der neben ihm auf dem felsigen Boden saß, die blau-violette Mondsichel auf der Stirn, die magentafarbenen Zeichnungen deutlich in seinem Fell, sah aus blutroten Augen auf ihn herab. Der lange Pelz, der sonst lose seine rechte Schulter umgab, war nun Teil seines Fells. „Nun steh auf.“ Minoru atmete durch, raffte sich dann vollends hoch und schüttelte das aufliegende Wasser aus seinem Fell. Er fühlte sich schrecklich. Erschöpft, mit schmerzenden Muskeln, als habe er einen pausenlosen Lauf hinter sich. Der gewaltige Abstand zum Boden ließ ihn ahnen, dass sich einiges geändert hatte und das vertraute Körpergefühl nur ein Trugschluss war. Etwas über zwei Meter mussten es sein, wenn er die Nase an den Boden drücken wollte, aber kein Vergleich zu seinem Vater, der mit Sicherheit den doppelten Weg hätte zurücklegen müssen. Er machte einige Schritte, setzte die Pfoten möglichst vorsichtig ab, um zu testen, wie schwer die Bewegungen ausfielen, aber er erzeugte dabei kaum einen Laut. Nicht nur die Höhe hatte sich verändert. Alles war anders als sonst, wenngleich so vertraut als habe er nie eine andere Form besessen. Als er sich jedoch zu abrupt umwandte, loderte auf seinem Rücken ein heißer Schmerz auf. Er zuckte zusammen und konnte ein leises Fiepen kaum unterdrücken. Dann roch er Blut und weitete die großen, roten Augen. Nicht nur der Regen hatte sich auf seinem Rücken ausgebreitet und auch sein Vater blutete aus einer tiefen Bisswunde am linken Vorderbein. Minoru schluckte schwer. „Wenn du erst einmal zu denken aufhörst, gibst du einen recht wehrhaften Gegner ab“, meinte der Fürst gelassen. „Vielleicht sollte ich dir gratulieren. Andererseits hätte ich dir die grobe Behandlung gern erspart. Dein Training mit Ryouichi wird sich dadurch sicher nicht einfacher gestalten.“ Minoru sah sich mit einem verstohlenen Blick um. Das Tal, in dem sie sich eben noch befunden hatten, war verschwunden. Stattdessen war der Boden felsig, die Umgebung deutlich offener. Eine zugige Anhöhe, spärlich bewaldet und von Regen überzogen. „Was ist geschehen?“, fragte er schließlich. „Nichts anderes als erwartet“, gab Sesshōmaru zurück und stand auf, um seinen Weg fortzusetzen. „Du hast dich bedroht gefühlt und angegriffen, bis es aussichtslos genug schien, um zu fliehen. Dich einzuholen und auszuschalten war... umständlich.“ Das erklärte wohl sämtliche Schmerzen und die Übelkeit nur zu genau. Er senkte den Kopf noch tiefer und murmelte eine Entschuldigung. Sesshōmaru nahm sie beinahe beiläufig an. Er war lediglich überrascht, dass der Junge so biestig geworden war, dass er selbst dann die kleinste Lücke zum Kontern genutzt hatte, als er ihn mit dem gesamten Fang im Rücken gefasst hielt. Mit einer gewissen Genugtuung stellte er fest, dass sich die Aura des Jungen ein wenig beruhigte. „Wie fühlst du dich?“ „Das ist ein Scherz, oder?“, Minoru legte den Kopf schief. Sah er etwa aus, wie das blühende Leben? „Ich beliebe nicht zu scherzen“, kam es trocken zurück. „Nun, abgesehen von allem, das irgendwie brennt und sticht, lebe ich“, meinte Minoru nicht minder kühl und folgte ihm auf dem Fuße. Die eingerollte Rute des jungen Inuyōkai schwang jedoch unwillkürlich von einer Seite zur anderen und noch während er im Wind nach interessanten Gerüchen witterte, begann er bereits federnd zu traben. „Es ist großartig“, gestand er. „Einfach nur großartig.“ „Es war absehbar, dass es dir zusagt“, entgegnete der Ältere, während Minoru zum ersten Mal seine Schritte beschleunigte, um neben ihm zu gehen. „Könnt Ihr es mir beibringen?“ „Du hast die Linie einmal überschritten. Das nächste Mal sollte kein großes Problem für dich darstellen. Aber damit wir uns verstehen: Ich will, dass du nun ohne Umwege zu mir kommst, wenn du aus irgendeinem Grund den Boden unter den Füßen zu verlieren denkst.“ „Aber -“ „Das war keine Bitte, Junge. Einmal aus der Fassung gebracht, kann es dich ungewollt fortreißen und niemand in deiner Nähe wird dann vor dir sicher sein. Ich habe Besseres zu tun, als das Land von meinem marodierenden Sohn zu befreien.“ „Ich war noch nie... eine beachtenswerte Bedrohung für irgendjemanden“, meinte Minoru ungläubig, auch wenn sein Blick direkt auf den blutenden Lauf seines Vaters fiel. „Aber wenn Ihr es so wünscht...“ „Sie hatten Angst vor dir“, stellte der Fürst fest und sah seinen Sohn mit strenger Miene an. „Hättest du in ihrer Mitte die Kontrolle verloren, hättest du sicherlich massiven Schaden angerichtet. Dich möglichst demütig und schwach zu halten liegt da nahe. Wobei du für Demut ganz offensichtlich nicht geboren worden bist.“ Minoru knurrte leise, das Fell in seinem Nacken stellte sich ab wie tausend spitze Nadeln und in seinen gerade noch leuchtenden Augen funkelte ein Zorn, der in einer so jungen Seele einfach deplatziert wirkte. Jeder Gedanke an seine Mutter war einer zu viel. „Dein Hass sitzt tiefer als gut für dich ist“, meinte sein Vater möglichst schonend, aber er fing sich dafür einen so wütenden Blick ein, dass er versucht war, dem Jungen für diese Respektlosigkeit gehörig die Leviten zu lesen. Als dieser jedoch entgegen seiner sonstigen Gewohnheit zu reden begann, begrub er dieses Verlangen wieder. „Ich will, dass sie verrecken. Unehrenhaft und elendig; wie sie gelebt haben. Es schert mich nicht, dass ich nur lebe, weil sie mich monatelang mit sich herumgeschleppt hat. Nachdem ich auf der Welt war, hat sie mich gehasst – und versucht gar nicht, mir das auszureden. Gut möglich, dass sie ein Mädchen wollte oder einen Sohn, der anderen Ansprüchen genügt hätte, als ich es getan habe. Ich weiß nicht, womit ich ihren Unmut auf mich gezogen habe, aber diese Frau hasst mich aus tiefster Seele und sie hat es mich oft genug spüren lassen. Ich will sie tot sehen, und wenn sie erst einmal in der Unterwelt gelandet ist, beschwöre ich sämtliche Mächte, dass sie sie nie wieder verlassen kann. Ich und Demut!“ Er schnaubte verächtlich und wandte den Blick ab. „Ich habe lange genug gebuckelt und versucht, ein gutes Kind zu sein, habe versucht, den Anforderungen meiner Mutter zu entsprechen, sie glücklich zu sehen oder auch nur ein Lob aus ihrem vermaledeiten Mund zu hören. Sinnlos. Es ist einfach zu sagen, dass ich sie zu sehr hasse, auch wenn Ihr vielleicht recht haben mögt. Ich verdanke ihr immerhin, dass ich bei Hofe nicht ganz aufgeschmissen bin, wenn es darauf ankommt. Aber diese Diskrepanzen hätte ich gar nicht, wenn sie nicht zuerst auf die brillante Idee gekommen wäre, mich in der abgelegensten Dreckshütte großzuziehen, die es jenseits des Westens gibt!“ „Wenn sie dich verachtet, dann hasst sie mich in deinem Anblick“, sagte Sesshōmaru mit einem Ernst, der verstörend an Milde erinnerte. „Du wurdest benutzt. Das hätte nie passieren dürfen.“ „Lächerlich“, gab Minoru prompt zurück. „Mir fällt nicht ein, welchen Nutzen ich hätte haben sollen. Auch in dreihundert Jahren hätten sie mir nicht einmal ein Küchenmesser in die Hand gelegt. Eine formvollendete Verbeugung oder ein besonders melodisches Lied – womit hätte ich Euch gegenübertreten sollen, um Euch zu schaden? Ihr hättet mich binnen Sekunden in Stücke gerissen, und selbst wenn sie mich Euch als erstgeborenen Sohn oder gar einzigen Erben vorgesetzt hätten, wäre dies doch bedeutungslos gewesen. Nicht einmal erpressen hätten sie Euch können. Was sollte Euch das Schicksal eines Kindes interessieren, das Euch nie begegnet ist?“ „Du vergisst dich!“, fuhr der Fürst ihn scharf an. „Soll das deine Art von Sturheit sein oder ist das deine wahrhaftige Meinung? Es mag wenig dazu zu gehören, einen Sohn zu zeugen, aber es gibt kaum eine größere Schmach als einen zu verlieren. Es ist bereits schlimm genug – auch ohne diese Szenarien.“ „Soll das heißen, dass ihr meinetwegen Euer Gesicht verloren habt?", erkundigte sich Minoru mit einem Unterton, der dem Fürsten ganz und gar nicht gefallen wollte. Wann würde dieses Kind endlich einsehen, dass er der Letzte war, den Schuld traf? „Einzig wichtig ist, dass du nun hier bist“, antwortete er ernst. „Vergiss deine Mutter. Du bist mein Sohn und ich rate dir, mich nicht zu enttäuschen.“ Kapitel 21: wie blau der Himmel einst war. ------------------------------------------ Rin sah auf, als die Tür aufgeschoben wurde und ein völlig durchnässter Daiyōkai eintrat. Er ließ seinen Blick auf ihr ruhen, dann legte er seinen schwarzen Haidate mit dem daran befestigten, stählernen Sōde ab, als sei ihre Anwesenheit in seinen Gemächern selbstverständlich. Das mit scharfen Stacheln versehene Metall glitt geräuschvoll zu Boden, während Rin aufgestanden war und sich ihm näherte. „Ihr seht erschöpft aus“, stellte sie besorgt fest und legte für einen kurzen Moment die Arme um ihn. „Willkommen zurück.“ „Du solltest längst schlafen“, mahnte er sie geduldig, aber Rin lächelte nur. „Ich habe etwas geschlafen.“ Sie ließ sofort wieder von ihm ab und legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können, deren strahlendes Gold von einem dunklen Schatten durchzogen war. „Ihr hingegen nicht.“ „Du weißt, ich brauche das nicht. Was also hat dich wachgehalten?“ „Ich habe auf Euch gewartet“, gab sie mit einem unbeschwerten Schulterzucken zurück und betrachtete seine langen, weißen Haare, an denen das Wasser abzuperlen schien als seien sie Lotus. Mit einem Mal verschwand ihr Lächeln. „Ich war Minoru gegenüber sehr respektlos. Das hat mich den ganzen Tag über beschäftigt. Ich wollte ihm lediglich gut zureden, weil er mit den Kindern so nachsichtig umgegangen ist. Das ist für mich alles andere als eine Schande, aber er sieht es vermutlich als Schwäche an. Ist er noch sehr wütend? Wenn es Euch recht ist, würde ich mich gern entschuldigen. Er kann mich ohnehin nicht ausstehen, da muss ich es nicht unnötig schlimmer machen.“ „Heute nicht, er schläft bereits“, meinte der Fürst tonlos und wandte sich von ihr ab, um sich an einem kleinen Lacktisch niederzulassen, auf dem die eine kleine Lampe neben einem Teeservice den Raum erhellte. Er sah gebannt in die tanzende Flamme. „Sei vorsichtiger mit ihm.“ Rin nickte stumm, kam aber nicht umhin, die müde Haltung ihres Herrn zu bemerken. Es war immer dasselbe mit ihm in letzter Zeit, wobei er natürlich tunlichst vermied, dass dies irgendjemand auch nur ahnte. Seitdem er von Minoru erfahren hatte und mit ihm aus dem Norden zurückgekehrt war, schien er eine noch schwerere Last auf den Schultern zu tragen als die Rückkehr in die Burg seines Vaters ihm je aufgebürdet hatte. Sie kannte ihn langsam gut genug, um zu wissen, dass er sich Vorwürfe machte, die er nicht aussprach und unter denen er mehr litt, als je über seine Lippen kommen würde – insbesondere nicht gegenüber seinem Sohn, von dem er derzeit mehr Unheil fernhielt als dieser sich vorzustellen vermochte. In jeder Ecke des Schlosses wurde getuschelt. Dass Minoru ein falscher Anwärter sei, ein Sonderling und nicht würdig das Erbe des Fürsten anzutreten. 'Dienergeschwätz' hatte der Fürst das genannt, auch wenn er solch anmaßende Äußerungen nicht geduldet hätte, wären sie ohne Umwege an seine empfindlichen Ohren gedrungen. Er wusste, dass das Heer bedingungslos seinem Befehl folgte und einen Sohn, den er als solchen ansah, nie in seiner Legitimität anzweifeln würde. Das Heer war für ihn alles, das zählte und letztlich hatte er damit vermutlich auch recht. Dennoch hielt er die Dienerschaft immer noch von Minoru fern, um ihn nicht mit solchen Gerüchten zu konfrontieren und sicher auch, weil er nicht einschätzen konnte, ob er danach noch so viele Diener hatte wie zuvor. Auch Rin war sich nicht sicher, wie die Reaktion des Jungen ausfallen würde. Er hatte sich in der kurzen Zeit verändert, sprach noch weniger und das konnte sie ihm diesmal kaum verdenken. Jeder würde Zeit brauchen, sich in diese Welt aus hohen Mauern, Befehlsketten und Etikette einzufinden. Sie hatte einzig und allein den Vorteil, dass keiner der Yōkai sie als Mensch ernst genug nahm, um sie in diese Protokolle einzubeziehen. Sie war durch den Fürsten geduldet, genoss dadurch eine Art Narrenfreiheit und schwebte gewissermaßen über dem Geschehen wie auf einer kleinen, sicheren Wolke. Nicht selten hatte sie dadurch jedoch das Gefühl gehabt, man sehe sie als skurriles Haustier des Fürsten; eine kurzzeitige Verirrung eines der mächtigsten Yōkai Japans, an deren Ende von ihr nicht einmal Knochen blieben, sobald er ihrer überdrüssig wurde. Sie gab nichts darauf. Denn im Gegensatz zum westlichen Hof kannte sie Sesshōmaru nicht nur als unnahbaren, kalten Fürsten und wusste, was sich die hiesigen Yōkai nicht vorstellen konnten: Er würde sie niemals sterben lassen oder gar umbringen, auch nicht, wenn sie ihn einmal ungewollt verärgerte. Aber Rin konnte es den anderen Dämonen auch nicht ganz verdenken. Sie war nun einmal ein Mensch und das Wissen der Inuyōkai über ihren Fürsten begründete sich auf einem Bild, das sie sich zu einer Zeit gemacht hatten, in der sein Vater noch lebte. Nach dessen Tod hatte Sesshōmaru nur zwei Mal die Burg betreten. Beide Male hatte er seine Mutter aufgesucht; einmal als sein Vater gestorben war und viele, viele Jahre später, bereits damals in Rins Begleitung, um Informationen über Tenseiga zu erhalten, das Schwert, das ihm sein Vater vererbt hatte. Auch Dämonen veränderten sich mit der Zeit, wenn auch sicher nicht so schnell wie Menschen und so musste der heutige Mann vor ihr doch längst nicht mehr der sein, den die anderen Yōkai erwarteten. Sie war zufrieden und wenn sie wollte, konnte sie sich durch das medizinische Wissen, das ihr die alte Priesterin Kaede und der warmherzige Han'yō Jinenji vermittelt hatten, auch bei Dämonen gut einbringen. Für Rin war die Welt in Ordnung, auch hier bei Hofe. Minoru würde es da allerdings schwerer haben, seinen Platz in diesem Gefüge vor allen Einsprüchen zu behaupten und auch wenn er in der Lage war, durchaus viel zu ignorieren, wie sie selbst am eigenen Leib gespürt hatte, konnte sein Gemüt binnen Sekunden genauso in hitzige Wut entgleiten, der man besser nicht im Weg stand. Es war also zunächst sicher ratsam, tuschelnde Dienerschaft und jungen Hund möglichst auseinander zu halten, um beide Seiten vor Schaden zu bewahren – zumindest bis sich die Wogen ein wenig geglättet hatten. Sie ließ sich gegenüber dem Fürsten an den Tisch sinken, stützte die Ellen auf den schwarzen Lack und bette das Gesicht in ihren feingliedrigen Händen. Rin wollte gerade zufrieden lächeln, als ihre rehbraunen Augen seinen Arm begutachteten. „Ihr seid verletzt. Wie konnte das passieren?“, flüsterte sie erstaunt und blickte wieder zu seinem Gesicht auf. „Rin.“ „Hat Ryouichi sich geirrt? Waren es doch nicht nur Oni?“, sie lehnte sich halb über den schmalen Tisch und betrachtete den sonst so blütenweißen Kimono, der sich in unregelmäßigen Abständen dunkelrot verfärbt hatte. Gerade sein linker Arm! „Rin.“ Er klang mittlerweile tatsächlich warnend, aber sie wussten beide, dass er das nicht ernst meinte. „Minoru?“, erkundigte sie sich und als Sesshōmaru nicht reagierte, war das für sie Antwort genug. „Es war Minoru.“ Sie blinzelte ein wenig verstört. „Ein Streit?“ Sie hatte gelernt, dass wenn er etwas sagte, es nie ohne Grund geschah. So war auch überdeutlich verständlich gewesen, warum er sie gebeten hatte, vorsichtiger mit Minoru umzugehen. Dass sein Gemüt allerdings so viel hitziger war, als sie angenommen hatte, erstaunte Rin. Nie hätte sie gedacht, er würde Sesshōmaru verletzte – oder es überhaupt zustande bringen. „Ein unkontrollierter Welpe, nichts weiter. Solche Dinge passieren“, konstatierte der Fürst der westlichen Länder und tippte mit einer Kralle ein wenig auf dem Lacktisch herum. Hätte er vorher noch den leisesten Zweifel an der Verwandtschaft zu diesem Kind verspürt, wäre dieser spätestens nun aus der Welt geschafft worden. Er war, wie auch in all seinen anderen Erscheinungen, sehr zierlich gewesen, aber es blieb zu hoffen, dass sich dies durch die kontinuierliche Verpflegung bald ändern würde. Dennoch war es unmöglich, dass dieser Welpe zu jemand anderem gehörte als ihm selbst. Auch in seiner wahren Gestalt hatte das Schneeweiß des Fells das Erscheinungsbild des Jungen dominiert. Noch war es am ganzen Körper gleich lang, aber im Laufe der Jahre würde es langsam die typischen Variationen aufweisen, so wie auch Sesshōmaru sein Schulterfell in seiner wahren Form als etwas dunklere und deutlich längere Fellpartie wiederfand. Lediglich die Ohren waren eindeutig Reikas Erbe - gerade und aufrecht stehend, nicht herabhängend wie seine eigenen. Der Fürst ließ die Kralle ein wenig energischer auf den Tisch aufkommen, während er an die tiefroten Augen seines Erben dachte. Minoru hatte ihn attackiert, noch bevor sein Antlitz sich auch nur zur Hälfte in der Verwandlung verzerrt hatte und Sesshōmaru musste sich eingestehen, dass er die Geschwindigkeit, mit der sein Sohn die Form wechseln konnte, knapp unterschätzt hatte. Der Versuch, ihn möglichst schnell zu unterwerfen und ihm eine dargebotene Kehle abzuringen, war ungefähr so aussichtsreich gewesen wie Rin das Lächeln zu verbieten. Dieses Herunterbrechen seines Daseins auf eine instinktive Ebene hatte dem Fürsten zweierlei über seinen Sohn offenbart: Zum einen hatte sich die Aura des Jungen sichtlich beruhigt, nachdem er sie durch diese Verwandlung zentralisiert hatte und es schien durchaus eine Möglichkeit, sein Yōki auf diesem Wege unter Kontrolle zu bringen, zum anderen wusste er nun, dass Demut ihm nicht in die Wiege gelegt worden war. Trotz der groben Behandlung seines Rückens und massiver Drohungen, war er nicht dazu bereit gewesen, den Kopf vor seinem Vater und Fürsten zu senken. Er hatte diesen Welpen mit Wucht an die Felswand werfen müssen, um ihn ruhig zu stellen und es war zugegebener Weise erleichternd gewesen, als er mit klarem Verstand wieder aufgewacht war. Sesshōmaru verspürte keine große Freude daran, ein Kind zu malträtieren; schon gar nicht sein eigenes. Dafür, dass Minoru sich bei dem kleinsten Anzeichen von Wut kurz vorher noch vor Angst auf den Boden geworfen hätte, war das allerdings eine erstaunliche Erkenntnis. So schreckhaft der Junge jetzt auch wirkte, würde er sich sofort sperren, wenn jemand versuchen würde, ihn sich mit Gewalt unterzuordnen; auch wenn das zu keinem Zeitpunkt die Absicht des Fürsten gewesen war. Seine Mutter hatte diesen Fehler vermutlich begangen und sich an ihm ganz offensichtlich die Zähne ausgebissen. Das einzige, das sie damit erreicht hatte, war seine abgrundtiefe Verachtung – und er wollte nicht der Nächste sein, der diese auf sich zog. Bisher waren alle Vorwürfe, die Minoru ihm gegenüber in voller Berechtigung hätte äußern können, erstaunlicher Weise ausgeblieben. Den Finger in die Wunde zu legen war hier allerdings auch unnötig – Sesshōmaru war sich seines Versagens nur zu bewusst. „Oyakata-sama“, begann Rin leise mit einer eher seltenen Ansprache aus ihrem Mund und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Als er den Blick auf sie richtete, legte sie den Kopf ein wenig schief, sodass ihre langen, braunen Haare seidig zur Seite fielen; der kleine Zopf ein wenig zögerlicher als der Rest, ganz als brauche er eine Weile, zu entscheiden, ob er den anderen folgen solle. „Welchen Gedanken quälen Euch, dass Eure Bedrückung selbst für mich sichtbar wird?“ Sie wusste, dass diese Formulierung im Kern falsch war. Gegenüber anderen hätte er diesen verletzten Gemütszustand niemals zur Schau getragen – nicht einmal, wenn jemand sie und Jaken vor seinen Augen ausgeweidet hätte. Er tendierte in Ausnahmesituationen dazu, seinem Unmut auf andere Weise Ausdruck zu verleihen. Aber auch wenn er ihr gegenüber ein wenig von sich preis gab, so war Bedrückung doch eine Regung, die sie bei ihm zuvor nicht bemerkt hatte. Er bedachte sie lediglich mit einem vielsagenden Blick seiner warmen Augen und sah dann zur offenen Tür in den Garten hinaus, wo es längst zum Tagesanbruch dämmerte. „Ihr solltet morgen beim Training erscheinen“, stellte Rin schließlich fest und füllte Tee in zwei kleine Schalen. Eine davon schob sie ihm über den Tisch hinweg zu und lehnte sich dann langsam wieder zurück. „Zumindest ist das meine bescheidene Meinung.“ „Ryouichi wird allein mit ihm fertig.“ „Ryouichi ist ein ehrenwerter Mann, ein erfahrener Feldherr und ein fürsorglicher Vater“, sie hatte seine Aufmerksamkeit zurückgewonnen und stellte die Schale vor sich ab. Das kleine, weiße Porzellangefäß mit dem blauen Blumenmuster ließ den noch heißen Tee einen Moment schwappen, dann dampfte es friedlich vor sich hin. „Aber er ist nicht der seine. Warum erlaubt Ihr ihm eigentlich so früh mit dem Training anzufangen? Ihr selbst habt viel später damit begonnen.“ Er hob leicht eine Braue und sie lächelte milde: „Myōga hat es erwähnt.“ „Dieser Flohgeist ist geschwätziger als gut für ihn wäre“, gab der Fürst in einem unterkühlten Ton von sich und nahm schließlich doch die Schale in die Hände, die zwischen seinen scharfen Krallen gefährlich zerbrechlich anmutete. „Die Zahl unserer Feinde wird nicht geringer. Er wurde bereits zu tief in die Angelegenheiten hineingezogen, als dass ich es ihm nun verwehren könnte.“ „Kohaku war in Minorus Alter ein ausgebildeter Dämonenjäger“, gab Rin zustimmend zu bedenken. „Ein Mensch, sicher, aber dass Dämonen älter werden sollte kein Argument sein.“ Sesshōmaru betrachtete den Tee eine Weile lang. Rin übersah einen wichtigen Punkt und der hatte etwas damit zu tun, dass dieser Junge, so gutherzig und vernünftig sie ihn in seinem Kern auch einschätzen mochte, durch sein Training in jungen Jahren mit einer Macht in Berührung kam, die ihn durchaus verderben konnte. Größenwahn und Überheblichkeit waren keine schönen Aspekte, ebenso wie grenzenlose Machtgier – niemand wusste das besser als er, und er hatte seine erste Übungswaffe erst im zarten Alter von weit über fünfzig Jahren in den Händen gehalten. Sein Vater hatte früh genug erkannt, dass er in seinem Sohn einen potentiellen Konkurrenten hatte, der sich seiner Kontrolle mit jedem Trainingserfolg ein weiteres Stück entzog. Außerdem hatte er die Konsequenz gefürchtet, mit der Sesshōmaru bereits damals sein Bestreben nach Macht ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt hatte – etwas, das ihm sein Vater erst post mortem hatte austreiben können. Er musste Minoru einen gewissen Selbstschutz zusichern, aber es würde ein wenig Fingerspitzengefühl erfordern, ihn dabei nicht entgleiten zu lassen; insbesondere, wenn man seine tiefen, negativen Gefühle in diese Kalkulation einbezog. Rin bemerkte genau, wie er sich abermals in Gedanken verlor und wechselte abrupt das Thema: „Ich würde in ein paar Monaten gern für einige Tage nach Musashi reisen.“ Unaufgefordert füllte sie ihm etwas Tee nach. Sie hatte diese Angelegenheit längst mit ihm bereden wollen, aber in den letzten Tagen war es kaum möglich gewesen, ihn allein abzupassen. Er nickte lediglich, betrachtete sie allerdings lange. Rin fragte nicht etwa um Erlaubnis, sie teilte ihm lediglich ihre Entscheidung mit. Seine Zustimmung benötigte sie nicht. Es stand ihr frei zu tun, was immer sie wollte und er war der Letzte, der sie in ihrer Freiheit einschränkte. Doch über die schon früher bestehenden Gefahren hinaus hatte sich etwas erhoben, das größer und drohender, ja persönlicher schien, als bisher anzunehmen war. Man ging nicht mehr nur auf direktem Wege gegen ihn vor, sondern suchte nun auch die hinterlistigen, unehrenhaften Lücken zu finden, um ihn anzugreifen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Rin zurückkehren zu lassen; vielleicht wäre sie bei den Menschen sicherer gewesen, wo niemand auf die Idee gekommen wäre, sie könne ihm etwas bedeuten. Die Überlegung war nun allerdings überflüssig. Sesshōmaru hatte Rin von Anfang an die Wahl gelassen und nun, wo sie sich für seine Welt entschieden hatte, war es an ihm, auf sie zu achten so wie er es stets getan hatte. Auch eine Entscheidung für die Menschenwelt, fernab von ihm, hätte daran nichts geändert, sie wäre lediglich weniger gefährdet gewesen. „Jemand wird dich begleiten - und nimm A-Un“, fügte er schließlich hinzu und Rin sah ein wenig überrascht auf. Sie hatte angenommen, das Thema sei wie üblich abgenickt und damit beendet worden. „Ist es so schlimm, Sesshōmaru-sama?“, hakte sie etwas zögerlich nach und spürte, wie ein kleiner Splitter ihrer großen Hoffnung verloren ging. Es war nicht friedlich, auch nicht nach Narakus Tod. Die Welt war weiterhin grausam, ihr Fürst immer noch auf Kampf eingestellt und niemand wirklich sicher. Er war einer der kaltblütigsten Mörder, die dieses grausame Land zu bieten hatte, der Westen das expansivste Reich während des letzten Jahrhunderts – und das in wohl bemerkt nicht einmal zwanzig Jahren – und dennoch war Sesshōmaru über Gefahren besorgt, die nur er kommen sah. Dass er dabei um sein eigenes Leben fürchtete, war unwahrscheinlich. „Es wäre mir lieber, wenn du nicht allein gehst“, antwortete er entschieden und ging nicht weiter auf ihre Besorgnis ein. Rin nickte, ein wenig niedergeschlagen für ihre Verhältnisse, aber einzig und allein, weil sie tief in einem kleinen, kindlichen Fleck ihrer Selbst gehofft hatte, dass sie irgendwann Frieden finden würden. In Wahrheit wusste sie jedoch, dass dies mit ihm von vorneherein unmöglich gewesen war: Sesshōmaru war ein Kriegsherr und bereits als sie noch klein gewesen war und zusammen mit ihm und Jaken die Lande bereist hatte, war der Kappa nicht müde geworden, davon zu berichten, wie sie nach Narakus Vernichtung die Ziele seines Herrn verwirklichen wollten – und die bestanden aus nichts Geringerem als einem Reich, das sich über ganz Japan erstreckte. Kollisionen mit den anderen Fürstentümern standen da außer Frage und Jaken hatte ihr überdeutlich – mit einer gewissen, ihm eigenen Gehässigkeit – zu verstehen gegeben, dass ihre Überreste zu dem Zeitpunkt, da dieses Reich entstanden war, längst verrottet sein würden. Rin wusste, wen sie vor sich hatte und dass ihr Leben nie in friedliche Bahnen gelangen würde, aber sie vertraute ihm und fühlte sich, vermutlich als einzige Person im ganzen Land, sicher und geborgen. Mit einem Mal setzte sie ein zufriedenes Lächeln auf, das nur sie in einer solchen Situation aufzubringen vermochte und sah ihn beinahe hoffnungsvoll an. Auch wenn Sesshōmaru nicht eine Sekunde daran gezweifelt hatte, dass sie sich von der Ankündigung eines Begleitschutzes nicht aus der Fassung bringen ließ, hob er fragend eine Braue. „Werdet Ihr mich begleiten?“ Rin war nicht einmal verhalten genug, um diese Aussage zu umschiffen, sie künstlich zu verlängern, um sie abzuschwächen oder gar eine Begründung für ihre Frage vorzubringen – und ihn berührte dieses Verhalten, das er bei jedem anderen als respektlos und unangebracht verurteilt hätte, absolut nicht. „Wir werden sehen“, gab er dafür lediglich zurück. „Ich bin sicher die anderen würden sich freuen, Euch zu sehen.“ Er warf ihr einen bedrohlich kalten Blick zu, der mit Sicherheit in der Lage gewesen wäre, ein Stück der Unterwelt für einige Sekunden in eine Eiswüste zu verwandeln, doch Rin schaute auf ihren dampfenden Tee herab. Sie war sich durchaus im Klaren darüber, dass er ungern an gewisse Personen in Musashi erinnert wurde, aber daraus machte sie sich nichts. Heiter sah sie wieder zu ihm auf. Das Eis der Unterwelt taute. „Ja, seid Ihr denn gar nicht neugierig?“, sie klang beinahe bestürzt. Er lehnte kapitulierend einen Arm auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand, während er sie ansah. Wenn es um solche Diskussionen ging, waren er und Rin hoffnungslos unterschiedlicher Auffassung – und das im Grundsatz. Er war schlichtweg froh, wenn er jeden Gedanken an seinen Halbbruder verbannen konnte und sie schien davon auszugehen, dass dieser Han'yō und seine Brut ihn in irgendeiner familiären Weise tangieren mussten. Der Tag war zu frisch, um ihn mit einem Machtwort zu beenden und er zugegebener Weise zu müde, um diese unangenehme Thematik durch Vermeidung in die Länge zu ziehen. „Das wievielte soll es sein?“ „Ihr wisst nur zu genau, dass es ihr drittes Kind ist, Sesshōmaru-sama“, meinte Rin strafend und lehnte sich mit den Ellen auf den schwarzen Lack. Der Tisch war so schmal, dass sie mit ihrer Nase beinahe an seine stieß, während sie seine Augen fixierte, die ihren Blick geschlagen erwiderten. Er hatte aufgegeben; erstaunlich früh für etwas, das seinen Bruder betraf. „Und ich möchte wetten, Ihr wisst auch, wie die anderen beiden heißen und was sie treiben.“ „Nun wagst du dich zu weit vor“, entgegnete er matt und sie lächelte ihn zufrieden an, als habe er ihre Vermutung nur bestätigt. „Wusstet Ihr, dass sie Euch 'Onkel' nennen?“ „Rin.“ „Ihr seid so berechenbar, was das angeht“, sagte sie ernst. „Wenn Ihr Euch sorgt, um Minoru, um mich, fürchtet Ihr dann nicht auch, dass ihnen etwas zustoßen könnte?“ Sie ließ sich wieder zurücksinken und nahm einen Schluck Tee. „Sind sie auch in Gefahr?“ „Unwahrscheinlich“, entgegnete der Fürst. Er hatte einen kurzen Gedanken an sie verschwendet, zugegeben, aber neben der Tatsache, dass er nicht gerade für die Zuneigung gegenüber seinem Halbbruder bekannt war, konnte Inuyasha sich und seine Brut durchaus selbst verteidigen – im Gegensatz zu ihm. Verfluchter Han'yō. „Beruhigend“, meinte Rin leise, während sie ihn nachdenklich ansah. Eine so erschöpft-ergebene Pose hatte er sich noch nie erlaubt und langsam machte er den Eindruck, als könne Rin ihn heute sogar nach seinem Vater fragen und tatsächlich mit einer Regung rechnen. Erschreckend. Rin trank langsam aus. „Ich will nicht, dass noch mehr von uns leiden oder sterben müssen.“ „Jeden Tag stirbt jemand und oft genug durch meine Hand“, er drehte seine Schale einen Moment lang und sah den sich bildenden Wellen nach. „Und das Leben ist ein Leidensweg; der Tod endgültig, unausweichlich und das Ende allen Seins. Wachstum nur im Krieg, Frieden im Tod der Feinde“, sie zählte diese Dinge beinahe entnervt auf. „Mein Fürst, könnten wir aufhören die Welt so schwarz zu malen? Ich bin nicht naiv. Frieden und allgegenwärtige Freude wird es niemals geben – weder in diesem Land, noch in einem anderen. Dennoch ist es unser gutes Recht, unsere Nächsten vor Unheil bewahren zu wollen und die Augen nicht vor den freudigen Momenten zu verschließen, auch wenn sie bald wieder vergangen sein werden.“ „Manche würden es als egozentrisch ansehen, nur die schützen zu wollen, mit denen uns etwas verbindet.“ „Ich bin eine einfache Frau, keine hoffnungslos idealistische Heilsbringerin. Warum sonst sollte ich meine Kimonos mit Messern spicken?“, konstatierte Rin so glatt, dass ein unbeteiligter Zuschauer auf die Idee kommen könnte, die Gepflogenheiten bei Hofe färbten bis zu einem gewissen Grad selbst auf sie ab. „Es sei mir verziehen, dass ich bei Euren Feldzügen bereits genug damit zu tun habe, Euch und Jaken unversehrt zurück zu wünschen. Natürlich wäre es wunderbar, wenn niemand mehr sein Leben ließe, Kinder nicht mehr Waisen würden und die Welt ein beflügelnd schöner Ort wäre. Ist sie aber nicht. Dennoch bleibt mir die Freude an Menschen und Yōkai, die mir etwas bedeuten. Das ist nur legitim, findet Ihr nicht?“ Als er die Teeschale schließlich geleert auf dem Tisch drapiert hatte, sah er die junge Menschenfrau nachdenklich und ernst an. Manchmal beschlich Sesshōmaru der leise Gedanke, er habe sie in der kurzen Zeit, in der sie ihn auf seinen Reisen begleitet hatte, auf eine unverzeihliche Art verdorben. Ihre Jugend war von Verlust und Leid geprägt gewesen. Als Waisenkind, deren Familie durch eine Hand voll belangloser Wegelagerer für nichts als Geld und Nahrung getötet worden war, hatte sie am gesellschaftlichen Rand ihres Heimatdorfes gelebt, für Jahre nicht ein Wort gesprochen und sich über all die Zeit dennoch ein unbefangenes Wesen behalten, das frei von jeder Verbitterung war. Nun aber, eine erwachsene Schönheit Mitte zwanzig, schien sie mit beinahe dämonischen Kalkül einen Graben zwischen jenen zu ziehen, die zu ihrer Welt gehörten, und den anderen, deren Unglück sie nicht direkt zu berühren vermochte. Sesshōmaru zweifelte keinen Moment daran, dass sie einer Person – zu welcher Fraktion diese auch immer gehören mochte – im Ernstfall mit ihrer aufgeschlossenen Freundlichkeit entgegentreten würde, wie sie es immer zu tun gepflegt hatte. Was ihre Unschuld für ihn jedoch immer wieder aufs Neue entzauberte, war die Tatsache, dass sie heute keinen Moment zögern würde, dieser hilfsbedürftigen Person eines ihrer Messer bis zum Anschlag in die Kehle zu rammen, wenn diese ihre Gutmütigkeit gegen sie oder jemand Nahestehenden zu wenden suchte – sie war vermutlich die letzte junge Frau in Japan, die erwürgt werden würde, während sie jemandem eine Wunde säuberte. Es war nicht zu leugnen: Er hatte diese weiße Rose im Mark verdorben. Als er ihre Ausführungen unbeantwortet ließ und sie mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht betrachtete, lächelte sie lediglich, wo andere bereits den Kopf auf den Bambus gepresst hätten, und ließ ergeben die Schultern sinken, als er schließlich demonstrativ in den Garten hinaussah, in dem längst sämtliche Vögel ihre Morgenmelodie aus voller Kehle in die Welt entsandten. Selbst diese Gesänge waren nichts weiter als Revierabgrenzungen, bereit sich jedem zu stellen, der es wagte, das Territorium für sich zu beanspruchen. Ob Yōkai, Mensch oder Tier, irgendwie hatten sie doch alle gemeinsame Züge – und ein Daiyōkai war eine verheerende Mischung aus alledem. „Ich weiß, was ihr sagen wollt“, sagte Rin schließlich mit einem neckischen Grinsen. „Ich gehöre ins Bett.“ „Allerdings.“ Er leerte seine Schale und schob sie zur Teekanne zurück. „Du kannst hierbleiben. In diesen Mauern wird genug getuschelt – auch ohne, dass du am frühen Morgen aus dem Ostflügel auf dein Zimmer gehst.“ Auf der Stelle erstarrte Rin, wurde blass und im nächsten Augenblick puterrot. Sie starrte auf den kleinen, schmalen Tisch vor sich, als wisse sie nicht recht wohin mit sich. Es war ihr nicht für eine Sekunde in den Sinn gekommen, dass es womöglich sehr indiskret aussehen mochte, wenn sie die Nacht über in seinen privaten Räumen auf ihn wartete. Es hatte sich schließlich auch niemand Anstoß daran genommen, wenn sie draußen am selben Lagerfeuer schliefen. Sesshōmaru konnte sein plötzlich aufkeimendes Amüsement nur zum Teil unterdrücken. Er oder die Welt mochten sie in mancher Hinsicht vielleicht bis zu einem gewissen Grad verdorben haben, aber auch wenn sie in vielen Bereichen erwachsen geworden war, so war sie manchmal eben doch noch das kleine Mädchen, dass er einst aufgelesen hatte – ein wenig unbedacht und viel zu gut für diese niederträchtige Welt. 狐 Wäre es nicht so höchst unkomfortabel für alle Beteiligten gewesen, hätte die aberwitzige Verbreitungsgeschwindigkeit neuer Nachrichten in diesen Tagen beinahe einen amüsanten Nebeneffekt gehabt. So allerdings waren die Ereignisse lediglich besorgniserregend und brachten den Fürsten der Kitsune an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung, sobald jemand auch nur einen gewissen Hundefürsten indirekt erwähnte. Beinahe das ganze Land wusste mittlerweile von dem jungen Erben des Westens. Ein Umstand, mit dem offensichtlich niemand mehr gerechnet hatte, nachdem sich der Fürst so desinteressiert an jeglicher Verbindung gezeigt hatte. Vermutlich warfen diese neuen Umstände deshalb solch große Wellen. Kōhei allerdings konnte über die aufgebrachten Berichte anderer großer Familien nur insgeheim lächeln: Wer darauf gehofft hatte, sich den Westen Untertan zu machen und nun in dem Jungen eine neue Bedrohung für dieses Vorhaben sah, war vermutlich so machtgierig wie dumm. Der Inu no Taishō würde vor seinem Tod nicht einen Hektar seines Landes abtreten – ob mit einem Erben oder ohne. Einzig beruhigend war, dass niemand zu ahnen schien, wo sich das Kind in den letzten fünfzehn Jahren aufgehalten hatte. Die Gerüchte darüber brodelten heißer als manch aktiver Vulkan, sodass man hin und wieder auf die Idee kommen konnte, die menschlichen Gepflogenheiten hätten auf die Yōkai abgefärbt und alle einst ernstzunehmenden Heerführer in kleine, tuschelnde Mädchen verwandelt. Zwar war nicht ganz unerheblich, was sich im Westen Honshūs tat und so waren auch die langen Diskussionen durchaus gerechtfertigt, aber ob es nun wirklich nötig war, Vermutungen auf dem Weg zu bringen, die sich von Mund zu Mund verfestigten, war eine andere Sache. Minoru war mittlerweile wahlweise ein unkontrollierbar bedrohlicher Sprössling der Hunde, der all die Gerissenheit und Brutalität seiner teils über den Tod hinaus gefürchteten Ahnen geerbt hatte oder ein Kind, das der Taishō aus einer Verbindung mit seiner menschlichen Gesellschaft gezeugt hatte – ein schändlicher, schwacher Han'yō, zurückgeblieben und bis vor einigen Wochen effizient vor der Öffentlichkeit verborgen. Im letzten Falle freuten sich die Überbringer dieser Gerüchte diebisch über die aufkommende Schwäche des Westens. Der einzige, dem dieser Gedanke nicht ein winziges Lächeln abringen konnte, war der Fürst des Südens selbst. Wie auch Kōhei wusste er nur zu genau, dass es sich bei dem Jungen nicht um einen zurückgeblieben Han'yō handelte. Sein neu aufkeimendes Interesse zeigte jedoch deutlich, dass die gegenteiligen Berichte ihn beunruhigten. Kōhei hatte aufgegeben, die neuen Rekruten selbst unterweisen zu wollen, die erst kürzlich von der Akademie in sein Regiment überstellt worden waren. Die angeforderten Berichte im Monatstakt waren längst ein verflossener Befehl. Als die ersten Stimmen den südlichen Hof erreicht und von neuen Geschehnissen im Westen gesungen hatten, war Kōhei schroff zurück zu seinem Fürsten beordert worden. Den Jungen unauffällig zu beseitigen schien nun, da alle von ihm wussten, schier unmöglich – zumal die Tatsache, dass bisher keiner das Kind hatte beschreiben können, darauf schließen ließ, dass Sesshōmaru mit Argusaugen über Minoru wachte. So hatte Kōhei die letzten Tage bei Hofe verbracht und sich darauf eingestellt, alle paar Stunden harsch zu seinem Fürsten beordert zu werden, um das ein oder andere Gerücht zu widerlegen. Nein, der Junge hatte wie besprochen nie eine Waffe gehalten oder war in irgendeiner Art von Kampf unterrichtet worden. Seine Erziehung war rein folgsamer Natur gewesen, eines gebildeten und gehobenen Dieners würdig; keinesfalls die eines zukünftigen Herrschers. Kōhei antwortete allerdings nur auf die anfallenden Fragen seines Fürsten. Dass der Junge teilweise tagelang unter den Bodendielen eingesperrt und erst auf sein Drängen herausgelassen worden war, kam nicht zur Sprache. Es hätte den Fürsten wohl auch nicht interessiert. Er hatte genug Kinder und eine entsprechend harte Hand, um zu wissen, wie sich schreiende Welpen anhörten. Das flehende Betteln des Jungen würde Kōhei allerdings noch einige Jahre verfolgen. Der Kleine hatte beteuert, er wolle anständig sein und folgsam, sich mehr Mühe und dafür keine Widerworte geben. Stundenlang hatte Kōhei sich das angehört, als er an dem Tag in die Berge gekommen war, um einige Tage in der Hütte zu verbringen; dann hatte es ihm gereicht. Erziehung hin oder her, es gab Grenzen und eine davon war es, dreijährige Kinder in abgedunkelte, enge Verliese zu sperren und schreien zu lassen, weil sie nicht funktionierten. Selbst Gefangene konnten sich einer aufmerksameren Behandlung sicher sein. Nachdem er diesen Standpunkt klar vertreten hatte, war Minoru während seiner Anwesenheit nicht mehr weggesperrt worden – allerdings wollte Kōhei die Hand nicht für die Dinge ins Feuer legen, die sich während seiner häufigen Abwesenheit ereignet haben mochten. „Dann bin ich auf Eure Erklärung gespannt, General. Wie kann ein so harmloser, unschuldiger Welpe, als den Ihr ihn mir verkaufen wollt, einer hochrangigen Dämonin schweren Schaden zufügen und immer noch leben?“, hatte der Fürst ihn an einem Abend gefragt, nachdem er eine lange Unterredung mit einem Abgesandten des Ostens hinter sich gebracht hatte. Kōhei hatte nichts weiter tun können als den Blick vor ihm zu senken und sich entschuldigend zu verneigen. „Ich weiß es nicht, mein Fürst. Es ist Jahre her, dass ich ihn kannte. So junge Yōkai sind in ihrer Person noch nicht gefestigt. Es kann sich vieles geändert haben, aber zu dem Jungen, den ich kannte, passt es nicht.“ Der Osten tobte – und das nicht zu knapp. Sie waren ohnehin ein schnell eingeschnapptes Volk; diese Pantherdevas, von denen nun nur noch zwei und eine – dem Klatsch zufolge unbrauchbare – Illusionistin übriggeblieben waren. West und Ost hatten sich noch nie leiden können und nun, da Shunrans Angreifer sich auch noch als jüngste Verkörperung des Westens herausgestellt hatte, kochten alte Feindschaften frischer auf als ihnen allen lieb sein durfte. Kōhei konnte nur insgeheim den Kopf schütteln. Wie war es nur möglich, sich binnen so kurzer Zeit knietief in den Mist reiten? Der Junge hatte ein seltenes Talent, das er ihm sicher nicht vorgelebt hatte. Anstelle dieser wenig angenehmen Unterredungen mit dem Fürsten hätte er seine Arbeit durchweg vorgezogen. Akademieankömmlinge waren immerhin nicht alljährlich und die Einstellung der jungen Soldaten aus der Hand zu geben, mit denen er nun noch mehrere Jahrhunderte arbeiten sollte, störte ihn massiv. Ein wenig verstimmt musste er sich daher damit begnügen, die Unterlagen der Neuankömmlinge durchzublättern und sich mit den Berichten zufriedengeben, die seine Untergebenen ihm aushändigten. Papierkram war – neben aufgebrachten Vorgesetzten – das schlimmste Übel seiner Welt. Aber er musste etwas tun. Musste sich mit Arbeit umgeben, in Gedanken stürzen, die fernab dessen waren, was ihn wirklich beschäftigte. Sobald er nicht arbeitete war die Erinnerung an sie präsenter als das drohende Unheil, das langsam aufzog. Sie war niemals für ihn bestimmt gewesen. Unantastbar vom ersten Tage an, und doch konnte er nicht leugnen, ihr bis zum letzten Atemzug verfallen zu sein. In all den Jahrhunderten, die er nun am Hofe gelebt und gedient hatte, war er abgestumpft. Yōkai kamen und starben, wurden geboren und begraben. Der Grat zwischen Leben und Tod war immer noch so schmal wie zu den Zeiten seiner Jugend vor vielen hundert Jahren und doch war ihr Tod nicht so spurlos an ihm vorbeigegangen wie so viele andere. Kōhei blieb nichts anderes übrig, als seinen gewohnten Rhythmus aufzunehmen und die Erinnerung auf die einsamen Stunden am Abend zu verdrängen, in denen niemand auf die Idee kommen konnte, sein Gemüt und ihr Ableben in Verbindung zu bringen. Es wäre sein Untergang, wenn der Fürst davon erführe. Eine Zuneigung zu einer Inuyōkai, zu dieser Inuyōkai! Kōhei hatte von Anfang an versucht, es sich auszureden und zu verbieten, aber es war ihm nie gelungen. Liebe lag außerhalb der Überlegung und im Gegensatz zu vielen anderen Yōkai sah es Kōhei nicht als Schwäche an, einmal im Leben etwas als lieb und teuer zu erachten; nicht, wenn es um Reika ging. Dieses vergangene Geschöpf fragiler Anmut hatte es verdient, dass zumindest eine Person auf Erden dazu bereit war, für sie zurückzublicken und ihrer zu gedenken. Damit würde er aber vermutlich allein bleiben. Er konnte schlecht nachempfinden, wie es ihr während der letzten Jahre ergangen war. Sie hatte alles verloren, noch bevor sie überhaupt in der Lage gewesen war, zu begreifen, was um sie herum geschah. Zuletzt schien es als habe sie aufgegeben. Die Distanz zu ihrer Familie, den Verrat und besonders die Trennung von ihrem Sohn waren ihr zu viel geworden, die Lage zu aussichtslos – und doch hatte sie stets nicht mehr darüber sprechen wollen, als sie von allein offenbarte; hatte kein Mitleid tröstend angenommen. „Ob man es weinend oder lachend hinbringt, ein Leben bleibt ein Leben“, hatte sie gesagt, als Kōhei die Worte fehlten, um ihr Angst und Sorge zu nehmen. „Den Weg zu bestimmen liegt nicht in unserer Hand. Es wird ihm doch nichts geschehen, nicht wahr? Du achtest auf meinen Jungen.“ Kōhei schlug die Unterlagen zu und legte den Kopf in die Hände. Seine schwarzen Krallen fuhren einen Moment beinahe krampfhaft durch sein fuchsrotes Haar. Wie konnte er es wagen ihretwegen zu trauern, wenn er nicht einmal in der Lage gewesen war, ihr einziges Anliegen auf der Welt zu beschützen? Mehr als drei Jahre war ihr Sohn allein in den Wäldern gewesen und hätte jeden Moment von einem Dämon gefressen oder einem Priester exorziert, ja sogar von einem verfluchten, menschlichen Bauern erschlagen werden können. Und was hatte er getan? Befehle befolgt, seinem Fürsten gehorcht! Der hätte den Jungen lieber still und leise in die Unterwelt entschwunden gewusst als auch nur den Hauch eines Verdachtes auf den Süden zu lenken. Jemand hätte argwöhnen können, warum Kitsune Interesse an einem Inuyōkai hegten, dessen bloße Existenz im Normalfall weit außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen sollte. Diese Information wäre schneller am westlichen Hof angelangt als der Suchtrupp zum südlichen hätte zurückkehren können. Kōhei fand diese Gefahr bis heute jedoch zu gering, um dafür die Konsequenzen in Kauf zu nehmen, die nun aufkommen konnten, da dieser Welpe im Westen war. Jedoch hatte damals niemand, und das schloss ihn selbst durchaus ein, damit gerechnet, dass Minoru diesen Alleingang wirklich überleben konnte. Dieser Umstand ließ sein Versagen gegenüber Reika nur noch schwerer wiegen. Stattdessen hatte Kōhei den Konflikt im Norden zu nutzen gesucht und sich als Abgesandter der Kitsune nach Osten schicken lassen, um die Haltung der Panther gegenüber dem Süden zu erfahren. Er war allein gegangen und hatte so genug Zeit gehabt, Minoru während dieser Reise zu suchen – mit bekanntem Ausgang. Wenn der Junge nur geahnt hätte, was diese Wendung für Folgen hatte! Der General seufzte tief und nahm sich zusammen. Draußen auf dem Gang hatte sich jemand in seinen Korridor verirrt und das konnte, ausgehend von dem harten Schritt, nur einer seiner Männer sein, der mit einer zweiten Person auf dem Weg zu ihm war. Kōhei nahm die schwarzen Klauen aus dem Haar, strich seine Unterlagen und einige widerspenstige, rote Strähnen glatt. Sein kraftlos erscheinender Ausdruck wurde binnen Sekunden wieder trocken, die Haltung gerade und als Jirō nach erhaltener Erlaubnis mit Begleitung eintrat, konnte er sich sogar ein seichtes Lächeln abringen. Die beiden Ankömmlinge verneigten sich vor ihm und er ließ die Schultern ein wenig fallen, um der Situation die Schärfe zu nehmen. „Verzeiht die späte Störung, General. Ich sah noch Licht im Gang und dachte, diese Angelegenheit interessiere Euch vielleicht genug, um sie noch heute zu klären.“ „Für interessante Angelegenheiten darfst du mich sogar aus dem Bett reißen, Jirō“, gab Kōhei leichthin zurück, beachtete den hochgewachsenen Kitsune jedoch nicht weiter. Er hatte ihn selbst vor Jahren ausgebildet und pflegte mit ihm, wie mit einigen weiteren Untergebenen, durchaus einen gelassenen Umgang – jedoch nur, wenn keine grünen Rekruten anwesend waren. Die Aufmerksamkeit des Generals gehörte wie so oft dem Unbekannten. Sein einstiger Schüler hatte einen Akademieabsolventen mitgebracht, der mit wachem Blick an der Seite seines zugewiesenen Betreuers stand. Beinahe lächerlich klein wirkte er neben Jirō, einem Hünen unter den Kitsune, zudem selbst Kōhei aufblicken musste. In den kurzärmeligen, hellbraunen Yukata der Absolventen gehüllt, wirkte der Junge mit den grün schimmernden Augen durch seinen leuchtend orangefarbenen Fuchsschwanz und die ebenso auffälligen Haaren eher wie ein Eichhörnchen als ein Fuchs. Auch wenn dieser Farbton einige Nuancen heller war als sein eigener, fühlte Kōhei sich in die Zeit zurückversetzt, in der er einst bei Hofe in das Heer aufgenommen worden war. „Fahr fort“, wies er schließlich Jirō an, der offensichtlich darauf wartete, die Aufmerksamkeit seines Generals zurückzugewinnen. „Warum hast du ihn mitgebracht?“ „Er ist mit dem letzten Trupp vor drei Tagen von der Akademie gekommen und heute beim Training deutlich hervorgestochen. Seine Verwandlungsfertigkeiten übersteigen die seiner Kameraden deutlich und auch die Illusionen verdienen Zuspruch. Ich weiß, Ihr habt in letzter Zeit viel zu tun-“ „Dennoch sollte ich diese Angelegenheiten nicht so fahrlässig behandeln. Vielen Dank, Jirō, das ist sehr aufmerksam von dir. Ich werde morgen früh das Training übernehmen und mir selbst ein Bild machen. Sollte ich währenddessen abgerufen werden, wirst du einspringen. Halte dich also bereit.“ Dann warf er nochmals einen Blick auf den jungen Kitsune, dem das offenkundige Lob des Kriegers wenn auch nicht unangenehm, so doch ungewohnt zu sein schien. „Nur nicht nervös werden. Wie ist dein Name?“ Der Absolvent ließ seinen Blick über Kōheis Schreibtisch wandern, bevor er aufsah und sich nicht scheute, ihm ins Gesicht zu sehen. „Shippō.“ Kapitel 22: Es sind grausame Stürme ----------------------------------- Minoru musterte die Schale vor sich mit einer gewissen Skepsis. Ryouichi lehnte neben ihm an der Mauer und kaute scheinbar abwesend auf einem Streifen getrockneten Fleisches herum, während er mit tödlich gelben Augen zwei Soldaten beobachtete, die auf der nahegelegenen Wiese mit scharfen Yari Schlagabfolgen trainierten. „Ich sehe deine Hände nicht im Wasser“, meinte er beiläufig, als sein Schüler weiterhin nur die feinen Schlieren betrachtete, die die Eisstücke in dem klaren Wasser hinterließen. Minoru ließ die Hände mit den langen, scharfen Krallen in das eisige Nass gleiten, bis es auch die dunkelroten Markierungen an seinen Handgelenken bedeckte und schloss für einen Moment die Augen. Auch wenn er die Umgangsformen im Westen und seinen neuen Lehrer noch nicht vollendet begriff, verloren die letzten Wochen im Rückblick doch an Verworrenheit und fügten sich zu einer vagen Version eines Alltages, den Minoru als solchen zu akzeptieren begann. Nach der missglückten Suche nach den Oni, die mittlerweile von den Patrouillen in den Bergen aufgespürt worden waren, hatte Minorus Erholung verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch genommen. Zwar war ihm der Rückweg deutlich angenehmer erschienen als der lange, angespannte Marsch ins Gebirge, aber bereits in dem Moment, als er sein humanoides Erscheinungsbild wieder angenommen hatte, war deutlich geworden, dass diese bestialisch riesige Form ganz andere Grenzen zu setzen vermochte: Wo er sich gerade auf vier Beinen ein wenig müde gefühlt hatte und der Rücken ein unangenehmes Gefühl nur dann vermittelte, wenn er sich ungünstig bewegte, hatte der stechende Schmerz ihm im nächsten Moment beinahe den Atem geraubt und jeder einzelne Muskel nach wohlverdienter Ruhe verlangt. Er erinnerte sich noch vage daran, dass er im Verlust seines Gleichgewichtes nach dem rot lackierten Geländer der Brücke gegriffen hatte, wie er aber auf sein Zimmer gelangt war, verschwand im tiefsten Schwarz. In den darauffolgenden Tagen hatte er sich von Kopfschmerzen und Übelkeit nur in Ansätzen auskurieren können; nur das widerliche Brennen, das sich wie eine Meute von Messern durch ihn hindurch gezogen hatte, war deutlich früher verschwunden. Darüber hatte sich Minoru allerdings nur kurz freuen können, denn allzu schnell wurde offensichtlich, dass diese Besserung seinen Vater dazu anhielt, ihm jegliche lindernde Behandlung zu versagen. Zunächst war ihm der Grund dieser Umstände völlig schleierhaft gewesen, doch Myōga hatte bald erläutert, dass er nicht etwa auf eine wütende Natter getreten sei, sondern schlichtweg einem giftigen Hund ins Bein gebissen hatte. „Ihr vertragt das Gift Eures Vaters erstaunlich gut. Und wenn mich nicht alles täuscht und ich mir anmaßen dürfte, sein Handeln zu deuten, so hofft er, Ihr würdet eine gewisse Toleranz gegenüber Giften entwickeln. Das wäre sicherlich ein sehr hilfreicher Fortschritt, junger Herr.“ Nun, hätte Minoru nicht bereits dabei gelernt, dass es beim Erwerb 'hilfreicher Fortschritte' nicht darauf ankam, was er selbst von diesen hielt, wäre es ihm spätestens bei Ryouichi aufgefallen. Der hatte von Beginn an keinen Zweifel daran gelassen, dass er als Chūyō der westlichen Armee dem Fürsten direkt unterstellt und so auch nur diesem Rechenschaft schuldig war. Der Generalleutnant war die höchstgestellte Person außerhalb der eigentlichen Fürstenfamilie und das ließ er den Jungen durchaus spüren: Während der restliche Palast zumindest augenscheinlich vor Minoru kniete und kuschte, behandelte Ryouichi ihn oftmals wie das unwissende Kind, das er eigentlich war - ohne auch nur einen Moment lang Konsequenzen fürchten zu müssen. Gut zwei Monate hatten sie nun täglich mit den Kata, den vorgeschrieben Bewegungsabläufen, im unbewaffneten Nahkampf verbracht und zuletzt einige kleine Übungskämpfe simuliert, in denen Minoru seinem Lehrer allerdings hoffnungslos unterlegen gewesen war. Die Vertiefung sollte er nun während seiner sehr rar gewordenen Freizeit selbst vornehmen, was durch die Kata auch ohne einen Übungspartner möglich war. Minoru hatte sich mehr als einmal gewundert, warum er solche Abläufe lernen sollte. Er würde immerhin nie in seinem Leben unbewaffnet sein, solange ihm niemand gleich beide Hände abschlug und die Zähne zog, aber Ryouichi hatte darauf beharrt, dass jegliche Weiterbildung einen Vorteil bringe, auch wenn man ihn vielleicht nicht auf den ersten Blick sehen könne. Nun hatten sie begonnen mit dem Bokutō, dem Holzschwert, zu üben, das in seiner Form und Handhabung einem Katana nachempfunden war. Stumpf wie jeder Stock, aber zumindest eine fein gearbeitete Attrappe aus japanischer Rot- oder Weißeiche - einem sehr strapazierfähigen Material. Die ersten Stunden hatten ebenfalls aus den vorgegebenen Kata bestandenen. Bewegungen zur Perfektion nachzuahmen waren keine besonders schwierige Übung für einen aufmerksamen Yōkai, aber Ryouichi hatte es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, den Schwierigkeitsgrad zu heben. „Das genügt“, meinte der schließlich, stieß sich von der Mauer ab und nahm Grundhaltung ein. Als Minoru sich mit dem Bokutō in den eisigen Händen zu ihm gesellte, ließ der Chūyō den Blick über ihn schweifen und schnalzte kurz mit der Zunge. „Verspann die Schultern nicht andauernd. Das ist keine verfluchte Axt, Minoru. Den Rücken gerade und nimm dein Gewicht vom vorderen Fuß.“ Manchmal kam es Minoru vor, als lege Ryouichi deutlich mehr Wert auf eine vollkommene Körperhaltung als auf den Gedanken, dass es sich hierbei um eine Waffe handelte. Zumindest gab sich sein Lehrer die allergrößte Mühe ihn auf die kleinsten Unstimmigkeiten in seiner Balance hinzuweisen, ließ ihn auch zum Training anderer Einheiten antreten, wenn es gerade zu seinem Unterricht passte und sorgte im Allgemeinen dafür, dass Minoru abends nicht wusste, wie er morgens aus dem Bett kommen sollte. Für diese Aufgabe war Myōga wiederum wie geschaffen. Der Flohgeist war erbarmungsloser als Minoru es ihm je zugetraut hatte und zeterte so lange herum, bis sich der junge Fürstensohn mit dem ersten Sonnenstrahl erhob. Wer brauchte schon einen Hahn, wenn er einen Floh hatte? Die vielen neuen Termine hatten jedoch auch zur Folge, dass Minoru bisher kaum Zeit dazu gefunden hatte die Palastanlage im Honmaru für eine Weile zu verlassen, um die übrige Festung zu erkunden – die Teile, in denen Militär und Dienerschaft mit ihren Angehörigen lebten. Auch den Fürsten selbst bekam er selten zu Gesicht. Er verließ die Burg häufiger und kehrte erst Tage später zurück; etwas, das völlig normal für ihn sei, wie Ryouichi versicherte. „Wenn er diese Mauern freiwillig vorzieht, dann sollten wir uns Sorgen machen. Vorher nicht.“ Minoru hatte nur knapp genickt. Nach ihrem letzten, deutlich ungezwungeneren Gespräch schien es, als meide der Fürst ihn bewusst. Aber darüber würde er sicher nicht ein Wort verlieren. Ryouichi hielt schließlich inne und auch Minoru ließ das Bokutō sinken, das sich in den kalten Händen den Eindruck eines einfachen Holzknüppels vermittelte. „Ich wiederhole: Das ist keine Axt. Wenn du eine Waffe zum Hacken wünschst, ist das die falsche.“ Er griff ans Holz und drückte die stumpfe Klinge ein Stück nach oben. „Die Klingenachse niemals senkrecht zum Ziel. Für einen glatten Schnitt kein Stechen, kein Hieben, sondern Schneiden – und zwar mit dem Waffeneigengewicht.“ Er ließ das gerade mal ein Kilo schwere Übungsschwert beiläufig aus dem Handgelenk durch die Luft fahren. „Sonst könnten wir es uns auch sparen, sie gebogen schmieden zu lassen. Wenn du Knochen und Rüstung durchschlagen willst, legst du dosierte Gewalt in den Angriff. Ansonsten führst du die Klinge nur in die richtige Bahn. Alles andere überlässt du dem Schwert. Die wissen schon, was sie tun.“ Minoru zog wenig überzeugt eine Braue hoch, hielt sich aber während des nächsten Durchgangs an die Vorgaben und versuchte lediglich zu führen. Ein Schwert, das wusste, was zu tun war – das klang selbst für ihn noch ziemlich an den Haaren herbeigezogen. „Viel besser“, stellte Ryouichi schließlich fest. „Schnelligkeit und Präzision sind Grundpfeiler unserer Technik. Rabiate Gewalt und Hetzerei überlassen wir den Wölfen. Aber diese Litanei wird dich spätestens bei deinem Vater einiges an Nerven kosten.“ „Wie darf ich das auffassen?“ Minoru ließ die Waffe sinken und musterte Ryouichi, der mit den scharfen Krallen das Bokutō auf etwaige Kerben untersuchte. „Ich bin für die Basis verantwortlich, mit der der Fürst arbeiten kann: Technik, Haltung, Bewegung und Grundwissen. Auch danach wirst du gewisse Dinge noch bei mir lernen, den Umgang mit dem Yari etwa. Aber du sollst in den jeweiligen Abschnitten natürlich den besten Lehrer bekommen – und wir haben keinen besseren Schwertkämpfer als den Fürsten selbst. Die Grundlagen kann ich dir innerhalb von ein, zwei Jahren beibringen, aber zum Umgang mit dem Schwert gehört mehr als diese Bewegungsabläufe, mit denen wir nun hantieren. Der Großteil spielt sich hier ab“, sagte er und schlug ihm mit dem Holzschwert schnell und unsanft auf den Kopf, dass Minorus Ausweichbewegung erst kam, als der Schädel längst brummte. Ryouichi lächelte verschlagen. „Jeder Mensch kann Bewegungsmuster ablaufen, aber nur wahre Meister können mächtige und gefährliche Waffen führen, ohne sich selbst dabei zu verlieren, indem sie in sich Ruhen und sich nicht von niederen Gefühlen beeinflussen lassen. Das ist einer der Gründe, aus denen deine Familie seit vielen Jahrhunderten dieses Volk führt und von unbedeutenden Wesen zu einer nationalen Großmacht aufsteigen konnte. Du weißt, wie es hier mit der Weitergabe des Titels funktioniert?“ Minoru nickte langsam und steckte das Schwert zurück in den Obi, als Ryouichi sich seines etwas unachtsam über die Schulter legte und damit eine Pause signalisierte. „Taishō ist, wer sich den Titel verdient. Genau deshalb verstehe ich nicht, warum alle mich so gehoben behandeln – wenn wir von Euch mal absehen“, antwortete Minoru. Der Chūyō lachte heiser auf. „Solange du mein Schüler bist, wirst du keinen anderen Umgang von mir erwarten dürfen, aber ich denke, du kannst damit ganz gut leben. Dennoch hast du recht. Einen Titel verdient man sich, meistens indem man seinen Vorgänger übertrifft und ins Grab bringt – so zumindest der Usus bei allen erdenklichen Daiyōkai und Yōkai. Wie so oft sind wir jedoch ein wenig absonderlich, denn die Inu hatten Sō'unga. Das Höllenschwert galt als gefährlichste Klinge, die jemals geschmiedet worden ist. Sie war sicher auch die mächtigste, aber wäre sie in Hände gefallen, die sie nicht zu kontrollieren vermocht hätten, wäre die Welt heute nicht mehr.“ Minoru ließ einen Moment den Blick über die militärischen Einrichtungen schweifen, die ebenfalls innerhalb des Honmaru lagen und atmete einen Moment durch. Er wusste so wenig über seine eigene Familie, dass es mit Schande schon nicht mehr auszudrücken war. Er hielt zwar einerseits nicht viel von der Berufung auf ehrenwerte Vorfahren, aber wenn sie sein eigenes Leben noch im Tode zu beeinflussen vermochten, war es angebracht, Interesse an der Historie zu zeigen. „Taishō war, wer die Fähigkeiten hatte, dieses Schwert zu führen. Deine Vorväter sorgten dafür, dass einer ihrer eigenen Nachkommen, meist der älteste Sohn, dieser Bürde gewachsen war“, fuhr Ryouichi fort und zog zwei Streifen Trockenfleisch aus einer Tasche, von denen er einen an Minoru reichte. Dann ließ er sich zu Boden sinken und begann mit scharfen Zähnen auf der harten, dunklen Mahlzeit herumzukauen. „Körperliche und geistige Stärke standen bei den Inu damit schon immer höher als Abstammung und Besitz; und während andere Clans längst einen festen Regierungssitz aufgebaut hatten, waren wir fern von Sesshaftigkeit und einem Verständnis von Adel. Manchen liegt diese vagabundierende Lebensweise wohl immer noch im Blut.“ Er sah mit vielsagendem Blick zu Minoru. „Erst dein Urgroßvater schloss sich aus taktischen Gründen dem Wandel an und ließ diese Festung errichten, um von hier aus das Gebiet zu unterwerfen, das wir heute „Westen“ nennen. Für die Verhandlungen auf Augenhöhe nahm er zusätzlich den Titel „Fürst“ an, der für die Inuyōkai so unbedeutend war wie die Auskunft über die letzte Mahlzeit, andere Clans aber nicht gerade frohlocken ließ. Ein selbsternannter Fürst, der Ansprüche auf einen ganzen Landstrich erhob, schien ihnen nicht besser als ein Wilder, der in seiner Dreistigkeit mit einer Waffe herumzufuchteln vermochte. Dummerweise war der Wilde ein Kriegsherr und die Waffe totbringender als jede Naturkatastrophe – Widerstand zwecklos. Im Gegensatz zu allen anderen Clans vereinen sich bei uns also Taishō und Fürst in einer Person, wir benutzen die Worte fast synonym – wenn du einen anderen Fürsten bis auf die Knochen beleidigen willst ohne dein Niveau darunter leiden zu lassen, dann bezeichnest du ihn am besten als Taishō. In ihren Augen kannst du sie dann gleich einen stümperhaften Bauern nennen, auch wenn sie ihre eigenen Generäle sicherlich achten. Wenn die Ältesten hier jedoch nur verhalten lächeln, sobald ein fremder Fürst von Taten seiner Vorväter schwärmt und sich mit edlen Ahnen rühmt, hat das zwei Gründe: Zum einen gab es in den anderen Clans immer wieder Umstürze der führenden Familie durch einen mächtigeren Yōkai, sodass keiner von ihnen einen langen Stammbaum vorweisen könnte und zum anderen halten alte Krieger ohnehin nicht viel von Mitgliedern anderer Clans – die berühmte Hochnäsigkeit der Inuyōkai.“ Minoru hatte sich neben ihn auf den Boden sinken lassen, die Beine angewinkelt und das Kinn auf die Knie gelegt. Gedankenversunken schaute er über die Wiese, während er das Fleisch mit den Zähnen bearbeitete. Vielleicht war er diese Sache falsch angegangen. Zwar schien dieser Hof auf den ersten Blick die Perfektion eines dem Protokoll unterworfenen, gesellschaftlichen Gebildes zu sein, was Ryouichi ihm jedoch darlegte, beleuchtete die Angelegenheit von einer ganz anderen, wenn auch für Minoru nicht völlig schlüssig scheinenden Seite: Die Erblinie war offensichtlich nur bei denen beständig, die vorgaben, nicht viel von ihr zu halten. Das war erst einmal unlogisch, lag in Anbetracht dieser ominösen Waffe aber auch sicher darin begründet, dass der Clan lieber jemandem gefolgt wäre, der sie zu beherrschen vermochte, als einem schwachen Sprössling des vorangegangenen Taishōs. Dass die Inuyōkai mit der eigenen Selbstverständlichkeit ihrer Erhebung zum Fürstentum unter anderen Clans keine Freunde gewonnen hatten, verlangte Minoru jedoch nicht die mindeste Verwunderung ab. Wer sah schon gern dabei zu, wie sich Konkurrenz aus dem Nichts erhob? Zumal eine, der man nicht so einfach Herr werden konnte und die dazu tendierte, sich selbst als absolut erhaben einzuschätzen. Diese besondere Form von Arroganz hinterließ einen bitteren Nachgeschmack von etwas, das man Jahrhunderte später als 'snobistisch' bezeichnet hätte. Aber der Eindruck täuschte, denn die Eigenschaften, die man Hundedämonen unterstellte, hatten den Clan schon viele Jahrtausende vor der Grundsteinlegung der Festung begleitet. Sie waren durch die Selbsterhebung zum Fürstentum nicht etwa eingebildeter geworden; die schlichte Wahrheit war, dass sie bereits zuvor einen teils unerträglichen Stolz an den Tag gelegt hatten. „Die Waffe von der Ihr spracht -“ „Mach dir um Sō'unga keine Gedanken. Es existiert heute nicht mehr. Sesshōmaru-sama hat es vor einigen Jahren vernichtet und im Gegensatz zu Vielen denke ich, dass es überfällig war, es zu beseitigen. Macht mag immer verlockend sein, aber wenn sie die Welt vernichten kann, sollte sie nicht erstrebenswert erscheinen.“ „Das Schwert wird nicht mein Maßstab sein“, stellte Minoru fest. „Nein, und dafür solltest du vor allem dankbar sein. Sō'unga gehört nicht zu den Dingen, denen man nachtrauern sollte, Minoru.“ Er strich sich das kurze, schwarze Haar hinter die spitzen Ohren. „Mich wundert, dass Myōga dir davon noch nicht berichtet hat. Du solltest beginnen, Fragen zu stellen, solange du von wohlwollenden Personen umgeben bist. Der Fürst lässt zur Zeit niemanden in deine Nähe, den er nicht als bedingungslos vertrauenswürdig einstuft. Myōga berät deine Vorfahren seit Jahrtausenden, Yūsei war einst der Lehrer des Taishōs selbst und sogar diese elendig feige Kröte genießt sein Vertrauen.“ „Mir scheint, Ihr habt Euch vergessen“, stellte Minoru provokant fest. „Warum vertraut er Euch?“ „Ich diene, Minoru“, kam es kühl zurück. „Das tun wir doch alle irgendwie. Er wird seine Gründe haben. Du musst lediglich damit zurechtkommen, dass es so ist. Und wo wir gerade beim Akzeptieren sind: Pack zusammen und leg dich noch einige Stunden hin. Ich will dich heute Nacht bei den Außenübungen sehen.“ Als Minoru sich nicht augenblicklich in Bewegung setzte und ihn lediglich verdutzt ansah, knurrte er bedrohlich und fletschte die messerscharfen Zähne. „Sofort!“ Silbernes Mondlicht fiel zwischen das frische Blätterdach und tanzte mit jedem Windhauch. Das Wetter war mild geworden, der Regen des Frühjahres mit jedem vergangenen Tag ein wenig mehr versiegt. Nun hing nur die Abendfeuchte an den Gräsern und ein frischer Wind durchfuhr die ausgedehnten, bewaldeten Berghänge des Westens. Minoru war es noch nie so leicht gefallen, die vielen Personen um ihn herum zu vergessen, die verstohlene Blicke unauffällig hinter ihm herschickten, während er barfuß und mit einer beinahe belanglosen Gewandtheit Ryouichi tiefer in die Wälder folgte. Wie schmerzlich er sich nach einem solchen Freigang gesehnt hatte, wurde ihm erst nun bewusst, da die Mauern um ihn herum längst nicht mehr zu sehen waren. Die Trainingseinheiten hatten ihn gut auf Trab gehalten, sodass er nicht einmal im Traum daran gedacht hatte, Zeit für so einen Ausflug zu finden, wenn er es schon nicht in die außen gelegenen Wehrkreise der Festung schaffte. Außentraining wiederum war nichts weiter als Geländetraining, das in diesem Falle in zwei Gruppen abgehalten wurde, von denen die erste bereits in den Berghängen postiert war, während Minorus sich noch auf dem Weg zu ihrem Ausgangspunkt befand. Je nachdem wie ausgeglichen die Gruppen waren, konnte diese Übung die ganze Nacht andauern. Dass sie jedoch heute eher einen sehr lockeren Anstrich hatte und damit früher beendet sein würde, bemerkte selbst der Unwissende an der erstaunlich losen Formation, die die sonst so steifen Einheiten angenommen hatten. In der Nähe knackte ein Ast, huschte aufgescheuchtes Getier panisch durch das Unterholz. Minoru hatte die Witterung aufgenommen, noch bevor er wirklich darüber nachdachte, dass er es nicht mehr nötig hatte Kleintier zu jagen. Er wandte den Kopf wieder ab und machte einen Satz an die Seite seines Lehrers. „Hase?“, ein erhabenes Lächeln umspielte dessen Lippen und entblößte die weißen Fangzähne. „Kaninchen“, gab Minoru ernst zurück und erwiderte den forschenden Blick des Chūyōs. Der schüttelte schließlich nur leicht den Kopf und erhöhte sein Tempo, gefolgt von der gesamten Einheit, bis er eine verwachsene Talsenke erreichte. Dort nahm er seinen Speer und trieb ihn tief in den feuchten Boden. „Rüstung ablegen. Waffen zu mir“, begann er schroff und ohne jegliche Begrüßung. Minoru, der sich mit im Halbkreis aufgestellt hatte, blieb ruhig an seinem Platz stehen, während einige ein ganzes Arsenal an Fächern, Speeren und Klingen aller Größen ablegten. Er selbst trug nicht einmal ein Küchenmesser bei sich und so hielt er lediglich die Hände auf dem Rücken verschränkt und stellte mit leichtem Ingrimm fest, dass er nicht nur mit Abstand der Jüngste war, sondern auch mindestens einen Kopf kleiner als der nächst Größere. Dennoch vermittelte diese Gruppe trotz ihrer Neugier ein ganz anderes Bild als die Kappa damals. Hier trafen ihn nur neugierige Seitenblicke, aber keiner erlaubte sich ein herablassendes Tuscheln oder nahm es sich heraus, seine Anwesenheit zu hinterfragen. Schließlich zog Ryouichi ein dunkles Tuch aus dem Ärmel und befestigte es mit zwei schnellen Handgriffen an seinem im Boden ruhenden Speer. Der Wind wehte den schwarzen Stoff harsch auf und offenbarte die abnehmenden Mondsicheln des Westens; silberne Fäden auf schwarzer Seide. „Die erste Gruppe lagert östlich. Zum Sieg reicht es, die Flagge des Gegners vom Speer zu nehmen. Erlaubt ist, was keine Waffen erfordert und den Gegner für nicht mehr als eine Viertelstunde ausschaltet. Wiedereintritt ist jederzeit möglich.“ Er straffte die Schultern. „Viel Erfolg.“ Noch während Ryouichi zur Seite trat, war für die anderen offensichtlich klar, was zu tun war. Einer der Krieger sah Minoru an und neigte dem Kopf vor ihm. „Wenn es gefällt, wäre die rechte Flanke Eure.“ „Danke“, sagte Minoru ruhig. Er hätte in dem Moment sicherlich keine Position oder Anmerkung ausgeschlagen. Immerhin machten diese Männer das hier bereits seit Jahren. Ryouichi hatte sich derweil neben seinem jüngsten Schüler postiert. „Präg' dir deine Verbündeten genau ein. Wenn du jemand anderen wahrnimmst, schalt ihn aus bevor er es tut. Die Fahne findet ihr -“ „Indem wir ihren Weg zurückverfolgen“, Minoru nickte. „Verständlich.“ „Ich wusste, das liegt dir“, meinte Ryouichi und schlug ihm so hart auf die Schulter, dass er es in den Knien abfedern musste, um nicht einzuknicken. „Denk' nicht zu viel nach.“ „Nun auf mich euch!“, ließ er dann an alle gewandt verlauten und schaffte es dabei beinahe zu schreien, ohne die Stimme wirklich anzustrengen. Er pfiff laut auf den Fingern, dass es von den Bergen ebenso kräftig widerhallte und Minorus Gruppe splitterte sofort in alle Richtungen davon. Er hatte sich ihren Geruch eingeprägt – Gesichter sagten ihm meist ohnehin wenig – und sprintete die zugewiesene rechte Flanke ab. Immer in Hörweite der anderen, um nicht von ihnen getrennt zu werden, setzte er über die Felsen hinweg, die ins ansteigende Gelände hinauf immer größer wurden. Hier zahlte sich aus, dass er in Takerus unwegsamer Heimat tückische Felsformationen zur Genüge kennengelernt hatte. Sie hatten natürlich den immensen Nachteil, dass die andere Gruppe weiter oben in den Felsen saß und lediglich warten musste, bis sie ankamen. Zwei Verbündete waren allerdings in der Nähe ihrer Fahne zurückgeblieben, um sie im Ernstfall zu verteidigen. Nach einer guten Viertelstunde verlangsamte Minoru seine Schritte, setzte lautlos auf einem Felsen auf, der nur von den gewaltigen Wurzeln eines hohen Baumes davon abgehalten wurde, in die Senke unter ihm hinabzufallen, und horchte in die Nacht hinein. Links von ihm waren einige schon auf den Gegner getroffen. Der Kampf ging jedoch beinahe lautlos von statten. Lediglich der dumpfe Aufprall des Verlierers war zu hören. Minoru schluckte. Wenn ihn jemand erwischte, würde das vermutlich wieder in bösem Kopfweh enden. Dann ein kaum hörbares Rascheln unmittelbar über ihm. Der Wind stand ungünstig für ihn, umso besser für den anderen und es war nur wahrscheinlich, dass es sich hier nicht um einen seiner Gruppe handelte. Minoru ließ sich blindlings nach hinten fallen, gerade rechtzeitig, um dem Angriff auszuweichen, der ihm, von der Wucht des Aufschlags aus betrachtet, einen dünneren Knochen mit Sicherheit gebrochen hätte. Der Fels, den es stattdessen traf, mutete seinem haltenden Wurzelwerk dadurch einige Strapazen zu. Der Ahorn knackte unheilvoll, hielt jedoch stand. Minoru, der längst einige Meter unterhalb sicher im Hang gelandet war, konnte seinen Gegner schlecht ausmachen und presste den Rücken an den schützenden Fels. Ein leises Geräusch neben ihm ließ ihn herumschnellen, da wurde er schon von den Füßen gerissen, schlug die Krallen jedoch tief in die Arme des Angreifers und versuchte ihn von sich zu stoßen, als er wieder Halt fand. Aber der erfahrene Krieger hebelte ihn mühelos aus, bekam ihn unglücklich an der Schulter zu fassen und schleuderte ihn den Abhang hinunter. ~ Minorus Ohren zuckten heftig, als er wieder zu sich kam. Wie erwartet brummte sein Schädel als hätten sich Bienen darin eingenistet und die Knochen schmerzten, aber es hielt sich alles in Grenzen. Wohl auch, weil er noch im Sturz die Form gewechselt hatte. Fell und die kleinere Körperoberfläche hatten ihn weniger schlimm zwischen den Felsen landen lassen und so lag er eingerollt in einem Nest aus Stein und altem Laub und lauschte. Hatte er sich das nur eingebildet? Langsam erhob er sich wieder auf die Beine und schüttelte das Fell auf. Dann wieder. Es war keine Einbildung. In einiger Entfernung, genau genommen in einer völlig falschen Richtung, schrie ein Mädchen, das unmöglich an diesem Training beteiligt sein konnte. Er sammelte sich noch einen Moment, dann stob er zwischen den Felsen davon, weg von seiner Einheit und den kreischenden Tönen nach, die mittlerweile wieder verstummt waren. Seine Pfoten, zur Höchstleistung angetrieben, fanden sicheren Halt zwischen den Steinen und im Unterholz und noch bevor er freie Fläche erreichte, schlug Minoru der stark metallische Gestank von Blut entgegen, den er in der Zusammensetzung selten wahrgenommen hatte. Irgendetwas war falsch daran und doch mischte sich ein nur zu vertrauter Hauch darunter, der ihn für einen Moment stocken ließ. Inu. Minoru prüfte noch einmal die Luft und unterdrückte den Würgereiz, als ihm der menschliche Geruch in die Nase stieg. Nicht wie Rin, die teils den Geruch der Yōkai um sich herum angenommen hatte, sondern purer, unverfälschter Menschengestank nach Erde und Staub und Dreck. Er konnte sie beinahe schmecken. „Ihr versteht das völlig falsch!“ Minoru presste sich an den Boden und schob sich zwischen den Bäumen hindurch. Für einen Menschen wäre vermutlich alles eine Mischung aus vielen und doch gleichen Grautönen gewesen, für ihn reichte das spärliche Mondlicht jedoch aus, um die seltsame Versammlung vor ihm mit Präzision wahrzunehmen. Das Mädchen, das er aus der Ferne hatte schreien hören, lag zusammengerollt vor einem dunkelhaarigen Jungen, der kaum älter sein konnte als er selbst. Sie blutete, schnappte nach Luft und kroch panisch hinter den Jungen, der mit glänzender Klinge schützend über ihr stand. Das Katana lag unschlüssig in seinen Händen, ganz als wolle er es gar nicht benutzen. Wenige Meter von ihnen entfernt ragten zwei hochgewachsene Männer mit Strohhüten auf, die Minoru stark an eine größere Version von Myōgas Regenschutz erinnerten. „Hier... unmöglich“, flüsterte der kleine Flohgeist wie aufs Stichwort auf seiner Schulter und krallte sich in das dichte, weiße Fell des jungen Hundes, der sich eng am Boden hielt und langsam um die Beteiligten herumschlich, bis er hinter den Männern zum Liegen kam. „Sie dürften nicht hier sein... w-was genau habt Ihr vor?“ Minoru legte die Ohren an und machte sich sprungbereit, als einer der Männer auf die Jugendlichen zutrat und dabei seinen goldverzierten Stab mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf den Boden rammte. Auch die anderen beiden zuckten zusammen. „Was denkt Ihr, was Ihr da tut?“, zischte Myōga wütend als er die Haltung des Hundes unter sich bemerkte, konnte sich aber gerade noch zurückhalten, aufgebracht in seinem Fell herumzuspringen. Minoru sparte sich die Antwort, aber außer einer spontanen Improvisation hätte er ohnehin kein Vorhaben darlegen können. „Ihr versteht das völlig falsch“, insistierte der Junge. „Wir sind keine -!“ „Spar dir die Worte, Mononoke“, unterbrach der Mann ihn scharf und griff in seine Tasche, während er seinem Begleiter etwas zuraunte. „Es ist nur ihre Brut. Aber ihr Lärm wird nur allzu schnell die Mutter anlocken. Erledige sie rasch.“ Minoru kam nicht umhin über so viel Dummheit den Kopf zu schütteln. Wenn sich der Kerl da mal nicht in seiner Vorsicht verkalkulierte. Gerade als der zum Wurf ansetzen wollte, schoss Minoru aus der Deckung und packte mit dem gesamten Gebiss zu, riss den Mann am Arm herum, bis er stolperte und brachte ihn mit Gewalt zu Fall. Dann schnappten die Zähne in Richtung Kopf, bekamen außer Stroh allerdings nichts zu fassen. Die Antwort kam prompt durch den jungen Begleiter, der mit seinem Wanderstab Minoru von den Pfoten riss. Der Hund rollte über den Boden, überschlug sich zweimal und landete wieder auf den Beinen. Nicht denken, rief er sich wieder in den Sinn, während er die Strohfäden ausspuckte, nur nicht einschüchtern lassen. Sie sind nichts weiter als große, widerborstige Wildschweine. Ohne Umschweife ging er erneut zum Angriff über. Das Fell abgestellt, die Zähne gefletscht, wie er es bei jedem wilden Eber getan hätte, schoss er auf den am Boden liegenden Alten zu, während der Stab erneut durch die Luft sirrte. Dieses Mal war er darauf vorbereitet, gab die Form des Hundes auf, packte den verzierten Stock einhändig und riss den jungen Mann mit einem Ruck an sich heran. Lächerlich schwache Menschen. Die Klauen der freien Hand ließ er auf Kopfhöhe dem Mann entgegen fahren, der sein Haupt augenblicklich wegriss und sich dafür die Schulter in Fetzen reißen ließ. Mit einem markerschütternden Geschrei ging er zu Boden. Eine schnelle Bewegung hinter ihm ließ Minoru erst auf den alten Mann tippen, stattdessen hatte der Dunkelhaarige die Seite des Mädchens verlassen und dem Jüngeren die Waffe an die Kehle gesetzt. Das hier waren allerdings keine einfachen Menschen. Von Nahem stank ihre Kleidung bestialisch nach Ölen und Pulvern, die einzig und allein dazu dienten, Yōkai den Geruchssinn zu verderben. Da sie nicht gerade wie geschickte Kämpfer wirkten, waren sie als Dämonenjäger auszuschließen. Nein, diese hier waren Mönche. Ebenso nervig wie ein Dämonenjäger, aber mit deutlich geringeren, körperlichen Kräften ausgestattet. Solange sie nicht zum Einsatz ihres heiligen Papierkrams oder penetranter Bannsprüche kamen, waren sie schnell außer Gefecht zu setzen. Der alte Mönch am Boden starrte ihn immer noch aus großen, kastanienfarbenen Augen an und brodelte innerlich, während sein jüngerer Kumpane so beschäftigt mit seiner Verletzung schien, das Minoru ihm ohne Umschweife das Genick hätte brechen können. Stattdessen wandte er sich an den Alten. „Du und dein bedauernswert winselnder Welpe befinden sich auf Grund und Boden des Inu no Taishōs. Stinkendes Menschenpack wie ihr hat kein Recht, hier auch nur zu atmen, geschweige denn Jagd auf Yōkai zu machen. Ich schlage vor, ihr geht. Sofort. Bevor ich es mir anders überlege.“ Der Junge nahm die Waffe von der Kehle des Mönchs und starrte Minoru an, als habe er den Verstand verloren. „Höllenabschaum wird nie Anspruch auf das Land der Götter haben!“, giftete der Mönch wütend und begann sich auf die Beine zu hieven. „Sag das deinem Hundeführer, Köter!“ „Ich würde viel lieber sehen, wie du es ihm sagst“, gab Minoru recht kühl zurück und zuckte mit den Schultern. „Aber man kann im Leben schließlich nicht immer alles haben, nicht wahr?“ Die unverletzte Hand des Mönches angelte möglichst unauffällig nach seinem Stab. Er wollte gerade den Mund aufmachen, um irgendeinen Fluch auszustoßen, aber welcher das war, blieb allein sein Geheimnis. Die Augen schreckgeweitet aufgerissen, lief ihm das Blut aus der aufgerissenen Kehle über den Waldboden und sickerte zwischen die grün aufkeimende Vegetation. Menschen. Sie wussten wirklich nie, wann man besser die Klappe hielt. Minoru schüttelte die Hand aus. Zumindest beim zweiten Mal die Kehle nicht verfehlt. Den Geruch würde er allerdings tagelang nicht loswerden. Er wollte sich gerade umwenden, als etwas Kaltes an seinem Hals zu liegen kam. Als er über die funkelnde Schwertklinge hinweg den anderen Jungen ansah, konnte er einen entnervten Blick nicht unterdrücken. „Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“ „Verschwinde, Yōkai“, knurrte der andere. „Bevor ich es mir anders überlege.“ Minoru musterte ihn von Kopf bis Fuß und blieb schon ziemlich weit oben an den seltsamen Ohren hängen, die wirkten als habe er mitten in der Verwandlung vergessen, diese zurückzubilden. „Was willst du überhaupt darstellen?“, harkte er missbilligend nach. „Pass auf, was du sagst!“ Die Klinge presste sich enger an seine Kehle und hinterließ einen kurzen Schnitt aus dem heiß und ungebeten ein dünnes, rotes Rinnsal hervorquoll. „Darf ich fragen, wo dein verdammtes Problem ist?“, Minoru drückte die Klinge mit einem Finger zur Seite, was wiederum nur einen neuen Schnitt an seinem Hals ergab. „Kaito! Leg die Waffe weg!!“ Minoru sah das Mädchen nur aus den Augenwinkeln. Sie hatte es auf die Beine geschafft, ging aber gebeugt und hielt sich die Seite. Der Junge wandte ihr ungläubig den Kopf zu und schnaubte gepresst. „Was nimmst du den in Schutz?!“ „Er hat uns doch nur geholfen!“, fauchte sie zurück. „Lass ihn in Frieden!“ „Ich wäre auch allein mit ihnen fertig geworden. Dafür brauche ich keinen eingebildeten Köter“, insistierte Kaito eingeschnappt. „Leg die Waffe weg“, schrie sie ihren Begleiter an und warf einen Stein nach ihm, der stattdessen Minoru mit voller Wucht an den Kopf donnerte. Kaito grinste breit und allein dafür hätte Minoru ihn gern auf der Stelle gehäutet. Erstaunlicher Weise ließ der Dunkelhaarige jedoch das Schwert sinken, hielt es aber weiterhin zum Schlag bereit an der Seite. „Oh verflucht! Entschuldige bitte. Der war nicht für dich... .“ Die Entschuldigung kam zwar hastig, aber sie schien keine Hemmungen zu haben, ihn trotz dieses Missgeschickes ausgiebig zu mustern, als sie neben ihm angekommen war. Minoru erwiderte ihren Blick beiläufig und war eigentlich mit dem Gedanken beschäftigt, wie er diesem Kaito seinen Undank am besten vergelten konnte. „Verzeih bitte“, begann sie abermals. „Mein Bruder kann sich manchmal einfach nicht benehmen. Mein Name ist Honoka und du bist ein Inuyōkai, nicht wahr? Vielen Dank für deine Hilfe.“ Er musterte sie knapp. Ihre Haare waren grau, nicht das helle Weiß, das er sonst zu sehen bekam, sondern ein altes, tiefes Grau. Sie hatte sie zu einem langen, kompliziert geflochtenen Zopf zusammengebunden, der ein wenig an Fischgräten erinnerte und wie ihr vorlauter Bruder besaß sie aufgeregt zuckende Hundeohren in der Farbe ihres Haares. Ihr Lächeln offenbarte kleine Fangzähne. Han'yō. Deswegen hatten sie so seltsam gerochen. „Ihr wohl auch – irgendwie“, entgegnete Minoru. „Pah!“, schnappte Kaito und steckte zumindest das Schwert zurück in den Obi seines dunkelblauen Yukatas. „Unsere Eltern sind Mensch und Han'yō, ja“, erklärte Honoka gelassen. Sie schien diese Erklärung nicht zum ersten Mal abzulegen. „Ich habe noch nie einen vollwertigen Hundedämon aus nächster Nähe gesehen“, gestand sie und musterte ihn neugierig, während sie für Minorus Geschmack eindeutig zu nah an ihn heran kam. „Das hast du wohl!“, protestierte Kaito und riss seine verletzte Schwester unsanft von Minoru weg – immerhin zu Etwas war der Kerl gut. „Halt dich von ihm fern!“ „Von so nah sicher nicht!“, fauchte sie bissig. „Hör auf mich wie ein Kind zu behandeln, Kaito!“ „Wenn ihr euch dann in Ruhe zu Ende streiten wollt – ich bin weg!“, Minoru strich sich die Trainingskleidung glatt, angelte einen kleinen Ast aus seinem Haar und wandte sich zum Gehen, doch ehe er sich versah, hatte sie seine Hand gefasst und hielt ihn fest. Er riss sich hart los und sah sie wütend an, was sie augenblicklich zusammenschrumpfen ließ. Die war ja schlimmer als Rin! „Entschuldige. Wir sind auf der Suche nach der Festung. Kannst du uns vielleicht helfen... noch einmal?“ „Die finden wir auch allein“, Kaito musterte Minoru abschätzig. „Dafür brauchen wir ihn nicht.“ „Du hast deinen Aufpasser gehört“, gab Minoru knapp zurück und sah sich noch einmal nach den Mönchen um. Der Junge hatte während dieser Streiterei die Chance zur Flucht ergriffen, der Alte blutete weiterhin fröhlich aus und war mittlerweile tot. „Aber du bist doch von dort, oder nicht? Du hast vom Taishō gesprochen. Bitte. Ich will nicht noch mal auf solche Leute treffen.“ Ob es wirklich besser für sie war, allein auf seine Leute zu treffen war die nächste Frage. Wie reagierte die Übungsgruppe auf zwei jugendliche Han'yō? Sicherlich nicht besonders aufgeschlossen, wenn sie ohnehin mehr nach Mensch und Mönch stanken. „Er hat einen Menschen umgebracht, Honoka! Bist du bescheuert, ihm auch noch nach laufen zu wollen? Der Mann liegt da noch! Direkt vor deiner Nase!“ Minoru schüttelte nur bedächtig den Kopf. Die zwei wussten wirklich nicht, was sie wollten. Nahm ihnen einer den Todfeind vor der Nase weg, heulten sie ihm auch noch hinterher. Es gab also doch etwas, das noch sinnfreier dachte als ein Mensch es vermochte. Honoka stöhnte lang: „Oh, nun hör auf, so ein starrsinniger Holzkopf zu sein, Kaito!“ Dann wandte sie sich wieder an Minoru. „Du musst doch sicher selbst dorthin. Nimm uns mit. Vergiss meinen Idioten von Bruder für einen Moment.“ „Wie war das?!“ Irgendwie ahnte Minoru bereits, dass weder das Verlassen seiner Einheit, noch dieses seltsame Gespann, das er vermutlich nicht mehr loswerden würde, ihm die nächste Begegnung mit Ryouichi oder gar seinem Vater erleichtern würde. Die Begeisterung der beiden würde sich in bescheidenen Grenzen halten und er hatte nicht einmal einen guten Plan, wie er sein Verhalten erklären sollte. Dass ihm danach war und es ihm schlicht richtig erschienen sei, würde vor keinem der beiden lange Bestand haben. Rosige Aussichten für sein erstes und nun vermutlich letztes Außentraining. Er konnte nur hoffen, dass Myōgas erneute Abwesenheit etwas damit zu tun hatte, dass Ryouichi zumindest ahnte, wo er sich herumtrieb. Wie erwartet stiefelten die beiden Minoru hinterher wie junge Gänse ihrer Mutter. Was für ein Trauerspiel. Honoka hatte schwer mit dem Weg zu kämpfen und ließ sich schließlich von ihrem wenig begeisterten Bruder auf dem Rücken tragen. „Ich unhöfliches Ding habe ja nicht einmal nach deinem Namen gefragt“, stellte sie schließlich fest. „Minoru“, antwortete er stumpf und bahnte sich einen Weg zurück in Richtung Osten, um dann bald nach Norden zu schwenken. „Minoru der Hundedämon“, sagte sie leichthin als habe es Bedeutung. „Wie kommt es, dass du allein unterwegs bist?“ „Wie kommt es, dass ihr es seid?“, konterte Minoru, auch wenn es ihn kein Stück interessierte. „Wir leben mit unseren Eltern in einem Dorf in Musashi; weit fort von hier. Aber ich wollte unbedingt einmal diese Dämonenfestung sehen, statt immer nur die menschliche Seite zu betrachten. Es ist nicht so einfach zwischen den Stühlen zu stehen, weißt du?“ Nein, wusste er nicht, aber das war ihr vermutlich ebenso egal wie ihm. Warum hatten Frauen um ihn herum entweder die Neigung wahre Nattern zu sein oder ihr Leben vor ihm auszuschütten? „Wohnen alle Inuyōkai auf der Burg?“ „Ich denke nicht“, antwortete er. „Stimmt... die Adeligen dort werden kaum wollen, dass alle anderen mit ihnen in ihrem Schloss leben“, überlegte sie laut. „Das ergibt nur Sinn.“ „Anders herum wird ein Schuh 'draus“, schnarrte Kaito böse. „Keiner hat Lust, die ganze Zeit unter der Aufsicht seines Provinzfürsten zu vegetieren. Da würde ich auch lieber auf dem Land bleiben.“ „Vielleicht solltet ihr euch dann lieber im Dorf umsehen“, schlug Minoru vor und hoffte insgeheim, sie würden dann einfach verschwinden. „Nein, ich würde schon gern zum Palast“, erklärte Honoka. „Unser Vater war selbst nie dort, obwohl wir von da stammen. Ich glaube, weil er mit seinem Bruder nicht so gut auskommt.“ Minoru ahnte langsam, dass sein Vater sich aus verschiedenen Gründen nicht über diesen Besuch freuen würde. „Wir stammen nicht von da Honoka“, widersprach ihr Bruder ernst. „Wie du schon sagst: Vater war selbst nie dort und er kannte die Leute nicht einmal. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass irgendjemanden interessiert, wenn wir dorthin kommen! Die werden uns höchstens wegschicken.“ Er schien die Sache deutlich klarer zu sehen als seine Schwester, aber die wollte sich nicht hereinreden lassen. „Dann tun sie das eben!“ Offenbar war sie ebenso stur wie er ätzend war. „Ich will mir nicht vorwerfen, es nie versucht zu haben! Es ist doch gut, wenn wir uns für sie interessieren!“ „Warum sollte das gut sein?“, Minoru sah sie etwas verwirrt an. Das ergab doch keinen Sinn. Selbst wenn sie zu einem Teil von dort abstammten wäre das doch nicht wichtig. „Weil sie uns nicht egal sind? Weil wir auch ein Teil von ihnen sind?“ Er zuckte mit den spitzen Ohren und sah sie nun aufmerksamer an. „Warum solltet ihr das sein? Ich verstehe deinen Gedankengang nicht.“ „Na ja, sie sind doch unsere Familie...“, meinte sie etwas verunsichert. „Und weiter?“ „Ja nichts und, das reicht doch wohl!“ „Ich weiß ja nicht, was Menschen für einen Familienbegriff haben... aber offenbar einen anderen.“ „Wie meinst du das?“, sie sah ihn mit großen Augen an. „Du scheinst sehr überzeugt von irgendeiner Verbindung zwischen ihnen und dir zu sein. Vielleicht empfinden Menschen das so. Aber für mich hat Verwandtschaft rein gar nichts mit einem positiven Umgang zu tun.“ „Du liebst deine Eltern nicht?“, sie sah ihn entrüstet an und ließ sich vom Rücken ihres Bruders auf den Boden rutschen. „Sollte ich?“ Ihr Unterkiefer klappte herunter und sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Und wenn jemand vor dir stünde und sagte, er sei dein Bruder oder so?“ „Ich habe meinen Vater vor einigen Monaten zum ersten Mal getroffen. Was soll da gewesen sein?“ Sie überholte ihn und blieb direkt vor ihm stehen. Minoru musste bremsen, um nicht über sie zu fallen. Sie schnaufte vor Anstrengung und musste sich erst einmal sammeln. „Es war dir egal?“ „Egal sicher nicht, aber ich denke, du erwartest, dass es mir persönlich etwas bedeutet hat.“ „Er ist dein Vater!“ „Das war er auch schon vorher. Jeder hat einen.“ „Das ist ja schrecklich! Wie herzlos von dir!“, sie fing beinahe an zu weinen, was ihn nur noch mehr verwirrte als jede andere Reaktion, die sie hätte hervorbringen können. „Dein armer Vater!“ „Honoka“, setzte Kaito an. „Sein Vater denkt vermutlich genauso.“ „Das ist grausam. Wie könnt ihr so herzlos sein und eine Zusammenführung derart abtun?“ „Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst“, sagte Minoru ernst. „Und vermutlich wirst du auch nie verstehen, wie es mich nicht emotional ergreifen kann. Akzeptieren wir einfach, dass deine Welt nicht meine ist.“ Er ging seitlich an ihr vorbei und wanderte den Weg weiter entlang, während er sie völlig aus dem Konzept gebracht zu haben schien. Die nächste Zeit sagte sie kein Wort mehr und Stille kehrte ein. Kaito trug sie bald wieder und der Geruch der Festung wurde mit den Windrichtungen mal stärker, mal schwächer, aber Minoru war sich sicher, dass er auf dem richtigen Weg war. „Es ist mir egal“, meinte Honoka schließlich fest. „Ich möchte es sehen, auch wenn uns dort keiner haben will. Jetzt umdrehen wäre wie aufzugeben.“ Minoru nickte lediglich, sah sie allerdings nicht an. Sie klang wieder entschlossen; ihr Bruder seufzte schwer. „Sag mal, du bist gar nicht bewaffnet“, stellte sie daraufhin fest. Sobald sie nicht mehr dachte, sabbelte sie offenbar gern. „Ist das nicht gefährlich?“ „Ich komme zurecht“, konstatierte Minoru. „Hast wohl Angst dich zu schneiden“, höhnte Kaito und Minoru entschied spontan, dass er nicht einmal die Aufregung wert war, also ignorierte er ihn. In der Tat war dieser Han'yō im Besitz eines Schwertes. Ein einfaches, kurzes Wakizashi sicherlich, aber immerhin ein Schwert. „Hör auf, Kaito“, riet Honoka warnend. „Er hat dir nichts getan. Außerdem hat er eben auch so genug Schaden angerichtet. Und er kann zu diesem niedlichen Hund werden – das kannst du nicht!“ Niedlich? Na wunderbar. In der nächsten halben Stunde schlief sie endlich ein und Minoru konnte bereits einige Lichter in der Festung zwischen den Bäumen erkennen, als Kaito überraschend das Wort an ihn richtete. „Du bist ganz schön arrogant“, stellte er ohne Umschweife fest. „Ach ja?“ „Ja. Du kommst daher und zwingst uns deine Hilfe auf. Du tust, als ginge die Welt dich nichts an und als stündest du über allem. Außerdem bist du widerlich desinteressiert und unkommunikativ!“ „Wenn das deine Auffassung von arrogant ist, ist das wohl so.“ Unkommunikativ? War das sein Ernst? Er hatte in der letzten Stunde sicher mehr geredet als in den letzten zwei Monaten zusammen. „Hör auf damit!“, zischte Kaito. Er wollte seine Schwester offensichtlich nicht wecken. „Mit was?“ „Na, du machst es schon wieder. Du bist so arrogant, du bringst sogar Honoka dazu an etwas zu zweifeln, dass sie sich mehr als alles andere gewünscht hat!“ „Es ist nicht meine Schuld, dass ihr eine andere Weltsicht habt – und du deine Schwester nicht überreden kannst, Zuhause zu bleiben.“ Kaito schnaubte. „Du könntest dich etwas zurückhalten! Sie will doch nur sehen, wie die andere Seite aussieht.“ „Dann soll sie das tun“, Minoru sah starr geradeaus. „Ich habe nie gesagt, dass sie es nicht soll. Ist mir doch gleich, was ihr tut. Ich bin nicht eure Mutter.“ „Du hättest merken können, wie sehr du sie verletzt.“ Nun wandte Minoru sich doch zu ihm um, sah den Han'yō an und zog vielsagend eine Augenbraue hoch. „Wem wollt ihr hier eigentlich etwas vormachen?“, fragte er schließlich scharf. „Wenn ihr euren Eltern so zugetan seid, wie ihr vorgebt, würdet ihr wohl kaum im tiefsten Westen durch die Wälder streifen und ihnen Sorgen bereiten. Entweder ihr seid abgehauen und es ist euch herzlich egal, wie es ihnen damit geht oder es ist ihnen schlicht gleichgültig, wo ihr euch herumtreibt. So oder so: Wenn ihr jemanden verarschen wollt, macht es etwas weniger offensichtlich.“ „Vielleicht bist du auch einfach tatsächlich so emotionslos, wie du dich gibst“, fauchte Kaito ohne auf den Vorwurf einzugehen. „Dann kann ich von dir kaum Empathie erwarten.“ „Du hast es erfasst.“ Minoru wandte den Blick wieder nach vorn und betrat mit ihnen die Ebene, die auf die in den Fels eingelassene Festung zuführte. Es stimmte nicht, dass er vollkommen emotionslos war und keine Empathie empfand. Er konnte sich zumindest soweit in den Fürsten hineinversetzen, dass er wusste, dass ein hell erleuchteter Palast nicht gerade ein fröhliches Willkommen bedeuten musste. Im Grunde hatte er in den letzten Monaten genug damit zu tun gehabt, seine Emotionen zu ordnen, aber diese überschwängliche Ergriffenheit Honokas, die schon teils romantische Einflüsse zu haben schien, verstand er nicht. Waren ihr diese Dinge wirklich so bedeutsam? Warum hätte er sich über die Zusammenkunft mit seinem Vater freuen sollen, wenn er rein gar nichts über diesen Mann wusste? Der Taishō hätte ihn im Honmaru in einen Kerker werfen lassen oder gleich enthaupten können – enge Verwandtschaft hin oder her. Seine Mutter hatte diese Beziehung nie davon abgehalten, ihn zu verachten. Minoru fiel nichts auf der Welt ein, das ihm so wichtig war, wie Honoka diese unbedeutende Kleinigkeit schien: Sie klammerte sich an die verwandtschaftliche Beziehung zu anderen wie an den letzten Ast vor dem Ertrinken; dabei sahen die beiden weder schlecht genährt noch heruntergekommen aus. Sie suchten keinen Schutz in der Burg. Es wirkte eher wie eine fixe Idee ihrerseits, bei der er nur folgte. Während Minoru direkt auf die Burg zuhielt, weckte Kaito seine Schwester, die von dem Anblick ganz ergriffen schien. „Es ist riesig“, sagte sie ungläubig. „Und all das Wasser... ist das künstlich angelegt?“ Minoru beachtete sie nicht weiter. Auch nicht als sie sich leise mit ihrem Bruder unterhielt und ihn auf alle möglichen Kleinigkeiten aufmerksam machte, die ihr ins Auge fielen. Was sich hinter den Mauern abspielte, konnte man zwar nicht sehen, aber es war deutlich zu hören, dass mehr Personen wach waren als zu dieser Zeit üblich. Als sie schließlich vor dem schweren, dunkelroten Haupttor hielten, schlug Minoru hart gegen das Holz, da es sich nicht wie üblich von allein öffnete. „Wer da?“, rief jemand von den Mauern herunter. Bevor Minoru etwas sagen konnte, wollte Honoka antworten. „Wir...! Ehm..“, sie stockte. „Wie erklären wir das nur?“ Den letzten Teil flüsterte sie leise Kaito zu, als könne er ihr helfen. „Ich war mit dem Chūyō auf Außenübung.“ „Die Gruppe ist längst zurück und du stinkst nach Mensch“, kam es prompt von der anderen Seite des Tores zurück. „Den Umstand gedenke ich meinem Vater zu erläutern“, meinte Minoru glatt und siehe da, die Tür schwang mit lautem Knarren schwerfällig auf. Die Wache dahinter straffte die Schultern und neigte den Kopf vor ihm. „Ich bitte vielmals um Verzeihung für die harsche Art, Minoru-sama. “ Minoru nickte dem Mann zu. Es war immerhin seine Aufgabe auf das Tor zu achten und er konnte schlecht erwarten, dass er ebenso einfach hereingelassen wurde wie der Fürst selbst, der niemals hätte klopfen müssen. Als Minoru zwei Schritte durch das Tor getan hatte, dicht gefolgt von Kaito und Honoka, die von der Wache mit Erstaunen betrachtet wurden, landete Myōga sichtlich erregt auf seiner Schulter. „Ich bin nicht sicher, ob Ihr ihn jetzt treffen wollt. Ich schlage einen geordneten Rückzug vor. In den Wald. Bis er weniger kocht. Oder nein, besser nicht! Das macht es nur schlimmer. “ Minoru lief es kalt den Rücken herunter, aber er hatte nichts anderes erwartet. „Oh, er ist außer sich“, sagte der Flohgeist erschüttert. „Für seine Verhältnisse natürlich. Er hat noch nicht angefangen zu schreien, aber den Umstand hält mein armes, altes Herz auch nicht mehr aus. Gebt ihm bitte nicht zu viele Widerworte. Bitte, junger Herr. Ah, aber ich bin froh, dass ihr unversehrt zurück seid. Bis auf ein... zwei Kratzer. Das wird ihn beruhigen. Ganz sicher. Es muss ihn beruhigen.“ „Myōga“, meinte Minoru möglichst ruhig. „Vergiss das Atmen nicht.“ Der alte Floh holte tief Luft und atmete ebenso lang wieder aus, dann grub er die Finger seiner vier Hände in den Trainingsstoff seines jungen Schützlings und hoffte, die Nacht in einem Stück zu überleben. Sein Blick wanderte über seine Schulter zu den beiden Han'yō und die Chance auf eben dieses Überleben sank drastisch. „Myōga?“, Kaito sah den Flohgeist überrascht an, als habe er ihn überall erwartet, aber eben nicht hier. „Du bist dir schon darüber im Klaren, dass Vater dich für tot hält?“ „Kann ich mir gar nicht vorstellen“, gab der Flohgeist zurück und musterte den Jungen. „Was mich allerdings zu der Frage bringt, was ihr hier eigentlich verloren habt?! Ja, seid ihr jungen Hunde denn alle vollkommen übergeschnappt?!“ „Regt der sich immer so auf?“, fragte Kaito, wenig beeindruckt von dem schnaubenden, winzigen Yōkai. „Dass er dabei rot anläuft, ist neu“, erwiderte Minoru und trieb Myōga endgültig zur Verzweiflung. Nach den ersten Metern im äußersten Wehrkreis schwenkte Minoru nach rechts, die gewaltige, breite Treppe hinauf, die zum Palast führte. Die säuberlich angeordneten Zierkirschen, die den Weg abwechselnd mit Zierpflaumen säumten, standen gerade in voller Blüte und überzogen den Boden mit zartem Rosa und Weiß. „Es ist so wunderschön!“ Honoka sah sich ungläubig um. „Viel schöner, als ich es mir vorgestellt hatte!“ Was Honoka bezaubernd fand, konnte Minoru auch nicht davon ablenken, was ihn erwartete. So gelassen, wie er sich gab, war er keinesfalls, aber was hätte es genützt, nun in Panik zu verfallen? Nicht vor Fremden und unter den Augen aller, die sich nun noch auf den Straßen herumtrieben. Als sie schließlich auch den mittleren Wehrkreis, flankiert von Blüten, durchquert und eine weitere, riesige Steintreppe erklommen hatten, wartete oben Ryouichi mit vor der Brust verschränkten Armen. Minoru fing seinen wütenden Blick auf und neigte sacht den Kopf vor ihm. Aber der Chūyō ließ sich nicht dazu herab, das Wort an ihn zu richten. Stattdessen fixierte er Kaito. „Ihr folgt mir“, sagte er harsch und noch während Kaito den Mund aufmachen wollte, baute sich der Heerführer zu voller Größe auf. „Ich würde mir gut überlegen, was ich sage, wenn ich du wäre“, knurrte er und Minoru bemerkte durchaus, wie er die Stimme variierte und auch ihm dabei einen kurzen Blick zuwarf. Jeder Widerstand war hier zwecklos und so ließ Minoru sie zurück und betrat mit Myōga, der unbehaglich auf seiner Schulter umher rutschte, allein den Palast. Dass er an seiner Seite blieb war vielleicht ein gutes Zeichen – eventuell aber auch das schlechteste. Sein Vater erwartete ihn im riesigen Empfangssaal des Palastes. Der helle Holzfußboden hätte manchem Spiegel Konkurrenz gemacht und die Wandverkleidungen zeigten große, weiße Hunde mit im Kampf aufgerissenen Mäulern voller scharfer Zähne. Manch abgebildetes Rind des Hintergrundes war kaum halb so hoch wie diese Yōkai. Minoru hatte den Empfangssaal noch nie betreten. Groß und eindrucksvoll, aber nicht die Art von vier Wänden, in denen er seine freie Zeit zu verbringen suchte. Auch der Fürst empfing seine Ratsmitglieder in einem kleinen, abgelegenen Teil des Palastes und niemals hier. Umso schlimmer, dass er sich ihm nun gerade in diesem Raum stellen musste, der mit zwei Stufen in großem Abstand in drei Ebenen geteilt wurde. Ganz oben lehnte sein Vater ausdruckslos mit dem Rücken an der Wand. Hätte er gekniet und eine finstere Miene aufgesetzt, hätte er nicht übeler gelaunt wirken können. Es war nicht sein Ausdruck, der Minoru einen Moment erstarren ließ; es war das Yōki, das den Raum erhitzte. Einer lauernden Viper gleich erfüllte es die Luft und es war nur eine Frage der Zeit, bis diese zuschlug. Minoru ließ sich auf die Knie sinken und legte die Stirn an den Holzfußboden. Die Stille war schlimmer als jeder Wutausbruch, den der Fürst hätte erleiden können. Aber das war nicht sein Stil. Darin unterschieden sich seine Eltern grundlegend und Minoru wusste gerade wirklich nicht, welche Angewohnheit ihm da eigentlich lieber war. Er wagte nicht, sich auch nur einen Moment aus der Position zu lösen und es verstrichen mit Sicherheit zehn Minuten, bevor Sesshōmaru sich auch nur bewegte. „Dass du dich mit diesem Gestank unter meine Augen wagst“, sagte er schließlich in einem Ton, der an Gleichgültigkeit grenzte, aber nicht weiter davon hätte entfernt sein können. „Ich wollte nicht -“ „Spar' dir die Ausflüchte. Du lässt mich lange genug warten, da hättest du wenigstens den Anstand besitzen können, mich nicht mit diesem abartigen Geruch zu belästigen.“ „Wünscht Ihr-“ „Was ich wünsche ist offensichtlich bedeutungslos.“ Immer noch war von seiner Wut nicht das Geringste zu hören, obwohl sie sich ganz deutlich unter der Raumdecke zusammenballte. „Du bist undankbar, ungehorsam und unverschämt. Verlässt deine Einheit ohne Erlaubnis; machst dir nicht einmal die Mühe eine zu erbitten. Bringst ohne meine Zustimmung Han'yō hierher. Ein egozentrischer, undurchdachter Deserteur.“ Minoru hatte gerade den Kopf ein wenig gehoben, als der Unmut auch die Stimme des Fürsten erreichte: „Du siehst auf, wenn ich es dir erlaube. Du sprichst, wenn ich dich frage und vor allem wirst du diese Festung nicht mehr ohne meine persönliche Zustimmung verlassen. Jetzt raus! Sieh zu, dass du diesen Gestank loswirst, bevor du mir wieder unter die Augen trittst! Und zwar sofort!“ Der Fürst sah dem Jungen nach, der sich wie erwartet mit gesenktem Blick und vollends tonlos aus dem Saal stahl. Er blieb starr auf der höchsten Ebene stehen und sah still an die Stelle, an der sein Sohn gerade noch an den Boden gepresst gekniet hatte. Törichter Welpe. Kapitel 23: längst vergangener Monde ------------------------------------ Minoru hatte den Zopf gelöst. Die dunkelgrünen Bänder, die er aus Tōtōsais altem Yukata ausgerissen hatte, und sonst seine Haare am Platz hielten, lagen achtlos neben seinen Trainingskleidern auf dem Boden. Den ersten Kübel kalten Wassers hatte er vollends über sich ausgeleert. Er stand immer noch neben ihm an der Wand, an der sich Minoru langsam heruntersinken ließ. Den Rücken an die kühle Holzvertäfelung gelehnt, hatte er die Arme um die Knie geschlungen und starrte benommen den Furo an, in dem das heiße Wasser gemächlich dampfte. Undankbar, ungehorsam und unverschämt. Er konnte den Vorwürfen nichts entgegenbringen und im Grunde hatte er vom ersten Moment an gewusst, dass sein Handeln zum Scheitern verurteilt war. Wirklich erschreckend war jedoch, dass ihn die Wut des Fürsten traf, ja sogar verletzte. Minoru war es gewohnt, angeschrien, geschlagen und beschimpft zu werden. Doch nie hatte derlei etwas anderes erweckt als Sturheit und Widerwillen; hatte ihn seine Entscheidung wirklich hinterfragen lassen. Das Eingeständnis war schwer, aber er war auf dem besten Wege, einen Pfad zu beschreiten, den er sich längst zum eigenen Wohl untersagt hatte. Er atmete tief durch und betrachtete seine Klauen, an denen noch immer Mönchblut haftete. Menschengestank, durchmischt mit ätherischen Ölen, Räucherwerk und anderem Schund. Kein Wunder, dass er stank wie ein wanderndes Priesterarsenal. Minoru raffte sich auf, nahm eine mit Borsten besetzte Bürste von einer Ablage und begann den gesamten Körper mit eisigem Wasser und groben Bewegungen zu säubern. Erst dann ließ er sich in den Furo gleiten. Sein langes, weißes Haar schwebte neben ihm im heißen Wasser und doch fühlte er sich kein bisschen wohler. Er schloss die Augen und sank in sich zusammen. Diese beiden Han'yō waren die Kinder seines Onkels. Die letzten Zweifel hatte spätestens ihre Bekanntschaft mit Myōga ausgelöscht, der sich vor dem Bad sehr diskret verabschiedet hatte. Die anderen offenkundigen Hinweise wären jedoch auch ohne dies ausreichend gewesen. Er wusste zwar nicht, was zwischen ihren Vätern stand, das die Geschwister annehmen ließ, sie kämen nicht miteinander aus, aber vielleicht behielt Honoka letzten Endes doch recht und die familiären Bande ersparten Kaito und ihr nun gewisse Unannehmlichkeiten – mit Pech bewirkten sie jedoch das Gegenteil. Nachdem er abermals versucht hatte, den übrigen Hauch Mönch von sich zu waschen – und dabei vermutlich die letzte Schicht Haut gleich mit abgebürstet hatte – drehte er die langen Haare ein, um die gröbste Feuchtigkeit herauszupressen und zog einen einfachen, knapp passenden Yukata über, der neben vielen anderen ordentlich gefaltet in einem Regal lag. Der Obi war zu lang und sehr schmal, sodass er nach zwei Versuchen, ihn ordentlich zu binden, schließlich aufgab und den Stoff irgendwie haltend um die Hüfte wickelte, einen einfachen Knoten band und sich damit zufriedengab. Es sollte ja nicht ewig halten, nur bis auf sein Zimmer – oder war es ratsam, den Fürsten noch einmal aufzusuchen? Was, wenn er es erwartete – und was, wenn Minoru es damit nur noch schlimmer machte? Er biss sich vergrämt auf die Unterlippe und schalt sich selbst, als sich augenblicklich ein blutiger Geschmack in seinem Mund verteilte. Da war es wieder: Das Gefühl, letztlich doch nur die falsche Entscheidung treffen zu können und noch mehr Ärger zu provozieren. Zu oft hatte er dieses Spiel gespielt und niemals gewonnen. Während Minoru die letzten weißen Strähnen zwischen Rücken und Stoff hervorzog, klopfte es an der Tür. Er gewährte Rin Eintritt. Ihr Geruch war zu eindeutig, wenn er ihr auch zu Gute halten musste, dass sie sehr angenehm roch – für einen Menschen. Die Tabi hatte sie auf dem Flur ausgezogen, sodass sie barfuß in das nasse Bad trat und leise die Tür hinter sich zuzog – und schwieg. Sie drehte einen der hölzernen Wasserbottiche herum und ließ sich auf ihm nieder wie auf einem unbequem hohen Kissen. Den Kopf in die Hände aufgestützt, die Ellen auf den Oberschenkeln ruhend gab sie keinen Mucks von sich, währenddessen sie ihn dabei beobachtete wie er mit einem grob gezinkten Lackkamm die Haare entwirrte. Dass der Fürst nicht unbedingt das Gespräch suchte, war eine in Stein gemeißelte Tatsache; auch, dass er es vermochte wahlweise eine ruhige oder verhängnisvolle Stille zu erzeugen war nun offenkundig – eine Rin, die jedoch seine Verhaltensweisen annahm, war so unheimlich, dass Minoru nach einer Weile den Kamm sinken ließ und sie abwartend ansah. Fast erwartete er, dass sie sich nun auch herausnahm, ihn für sein Verhalten zur Rede zu stellen, aber sie wirkte nicht im Geringsten verärgert, wie sie da auf ihrem Eimer hockte, die Füße auf dem nassen, kalten Boden, die rehbraunen Augen auf ihn geheftet wie auf etwas, das sie in den Tiefen zu ergründen suchte. Sie hielt seinem Blick einige Minuten lang stand, dann zog sie die Brauen für einen Moment ernst zusammen, bevor sie kaum merklich lächelte. „Du bist ihm so ähnlich. Manchmal glaube ich, ich hätte es einfach laut aussprechen sollen, als mir der Gedanke zum ersten Mal kam. Vielleicht hätte uns das einige unschöne Momente erspart.“ Minoru reagierte nicht, aber das wunderte Rin schon lange nicht mehr. Für sie reichte es durchaus, dass er sich nicht übermäßig abweisend abwandte. „Es ist gut, dich heil zurück zu wissen“, sagte sie und richtete sich im Rücken auf. „Aber heute - und ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passiert - weiß ich nicht, ob ich dich sinnloser Weise noch einmal loben oder dir den nächstbesten Eimer für deine Dummheit über den Kopf ziehen soll.“ Er wollte den Mund aufmachen, aber sie fuhr ihm dazwischen: „Ich weiß nicht, was dich zu den anderen beiden getrieben hat, und sehr wahrscheinlich hättest du einfach Ryouichi darauf aufmerksam machen sollen, aber ich bin mir sicher, dass du dabei keine schlechten Absichten hattest. Ich bin so froh, dass du ihnen geholfen hast und sie nun heil hier sind – und ich weiß auch, dass dein Vater, völlig egal, was er nun sagt, froh darüber ist, seinem Bruder nicht mitteilen zu müssen, dass die Morgenpatrouille die Leichen seiner Kinder unweit der Festung gefunden hat. Dämonische Politik ist so einfach zu durchschauen: Selbst wenn Han'yō von Yōkai oft abwertend behandelt werden, hätte man es doch gegen deinen Vater ausgeschlachtet – Neffe und Nichte vor der eigenen Nase von zwei Menschen getötet. Glaub mir, das hätte ihm auch nicht gefallen. Aber ich weiß, was ihm noch viel weniger gefallen hätte – und da unterstelle ich ihm sogar, dass es ihm dabei nicht um die Bewertung seiner Machtposition geht, sondern tatsächlich darum, ob du heile nach Hause kommst oder nicht. Wie kannst du nur so gedankenlos sein? Da draußen warten hunderte, tausende Dämonen nur darauf, dich in die Finger zu bekommen und du tapst unbesonnen von den einzigen Personen in ganz Japan weg, die das verhindern können. Weißt du, was Ryouichi sich anhören durfte, weil du ihm weggelaufen bist? Hast du eine Ahnung, was hier los war?“ „Hör schon auf.“ „Aufhören?“, sie klang aus heiterem Himmel wütend und stand ruckartig auf. Das war tatsächlich ein so herber Kontrast zu ihrem sonstigen Auftreten ihm gegenüber, dass Minoru für einen Moment nicht wusste, was er davon halten sollte. „Ich bin die letzte Person auf dieser Erde, die Egoismus predigt, aber du musst doch irgendwann in deinem Leben mal anfangen zu denken – und zwar an dich! Das hast du bei Takeru schon nicht getan und heute war es für zwei Kinder, die du nicht einmal kennst. Und wenn du es für dich selbst nicht tun willst, dann tu es für deinen Vater! Er ist es, der in solchen Momenten nur hoffen kann, dass dich nicht irgendein Panther auf seinem Land erwischt hat – oder ein Oni, oder irgendein dämlicher Mönch, der nie verstehen wird, dass ihr nicht schlimmer sein könnt als all das Dreckspack unter ihresgleichen!“ „Rin.“ „Wenn du jemandem helfen willst, dann sieh zu, dass du alt wirst, lernst und etwas bewirkst! Jung zu sterben hilft in deinem Fall niemandem weiter. Bist du eigentlich zu blind oder zu stur, um zu begreifen, dass sie dich dein Leben lang klein halten wollten, um dich zu benutzen und der nun nächste logische Schritt ist, dich auszuschalten, solange sie noch können? Was denkst du, warum wir in diesem goldenen Käfig herumsitzen, statt durch das Land zu wandern wie sonst? Glaubst du, dein Vater findet es besonders einladend hier? Er hasst diese Festung nicht minder als du selbst. Er macht das doch nicht für sich!“ „Rin!“ Sie zuckte zusammen und sah Minoru verdutzt an, der längst direkt vor ihr stand und sie todbringend anfunkelte. Sie blinzelte ein wenig und schluckte schwer. Da waren ihr wohl die Nerven durchgegangen. „Ich weiß, du verstehst das“, sagte sie schnell. „Ich hatte erwartet dich wütend anzutreffen, aber das bist du nicht. Gut, auf mich nun vielleicht, aber nicht auf ihn. Du weißt doch, dass irgendetwas nicht ganz richtig war, an dem, was du getan hast. Ich meine-“ „Ich weiß es. Aber das werde ich nicht mit dir besprechen.“ „Das habe ich nie erwartet. Aber ich hätte auch verstanden, wenn dir der Umstand, dass jemand sich um dein Wohlergehen sorgt, unbegreiflich ist. Wenn man nur lange genug weggestoßen wurde, fällt es schwer, sich allein den Gedanken zu erlauben, dass man jemandem etwas bedeuten könnte. Man riskiert dabei zu viel – und nun schau nicht so, wir wissen beide genau, wovon ich spreche.“ Minoru hatte zunächst eine giftige Antwort auf der Zunge gehabt, schluckte sie nun aber widerwillig herunter. Er war nicht in der Stimmung sich mit ihr anzulegen, geschweige denn tiefer in die Diskussion einzusteigen. Ohne Tatsachen zu verdrehen und spöttisch auf Wahrheiten zu spucken, hätte er sie in diesem Punkt nicht widerlegen können und Unehrlichkeit war nicht seine Art. „Hier gibt es kein Risiko“, versicherte Rin. „Wenn du uns abhaust, finden wir dich und bringen dich zurück nach Hause. Ob es vier Jahre dauert oder vierzig. Das ist keine Drohung; es ist ein Versprechen. Aber die Medaille hat zwei Seiten. Jemand, der um dein Wohlergehen bemüht ist, wird von deinem Schaden nicht unberührt gelassen. Will heißen, du musst auf dich achten, um jene zu schützen, denen du wichtig bist.“ Sie bemerkte genau, dass er irgendetwas sagen wollte, das negativ ausfallen würde und tippte ihm mit dem Zeigefinger kurz auf die Lippen, da er sonst sicher doch nach ihr beißen würde. „Du bist mir wichtig, Minoru. Ich weiß, dass du mich meidest, weil ich nicht in das harte, grausame Bild passe, das du von der Welt hast – und das schließt sicher ein, dass ich ein aufdringlicher, plappernder Mensch bin –, aber das ist mir gleich. Außerdem kenne ich da noch mindestens zwei Hunde und einen Floh, die sich heute Abend um dich gesorgt haben.“ „Bist du nun fertig damit, mir ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen?“, fragte Minoru bitter. Sie legte nur abermals den Kopf schief. „Das kommt darauf an. Habe ich es denn geschafft?“ „Du bist unerträglich.“ Mit einem gelassenen Lächeln wandte sie sich seiner am Boden liegenden Trainingskleidung zu. „Ich nehme sie mit, wenn es dir nichts ausmacht. Vielleicht kann ich sie mit etwas Waschen ja retten.“ „Es ist mir gleich, was du tust.“ Er ließ sie allein im Bad zurück und ging lautlos auf sein Zimmer. Den Fürsten aufzusuchen erschien sinnlos. Minoru konnte gut darauf verzichten, den Anschein eines bettelnden, unterwürfigen Welpen zu vermitteln. Es war vorzuziehen, ihm die Lage am nächsten Tag in Ruhe zu erläutern und sich angemessen zu entschuldigen. So blieb immer noch eine verschwindend geringe Chance, dass sich seine Laune über Nacht besserte und er seinen Sohn beim nächsten Zusammentreffen nicht gleich auf Flohgröße zusammenstauchte – wirklich sehr verschwindend gering. Was allerdings Rin betraf, so hätte Minoru doch gern gewusst, ob der Fürst sich ihrer freimütigen Auslegung seiner Person bewusst war. Es war eine Sache, dass sie es sich herausnahm, Minoru offen zu kritisieren, aber wohl doch eine noch ganz andere zu behaupten, der Taishō sorge sich aus emotionalen Beweggründen um das Wohlergehen seines Sohnes. Nicht einmal den bloßen Gedanken hätte sich Minoru erlaubt, auch dann nicht, wenn er nicht ohnehin derartige Überlegungen von vornherein als unsinnig verwerfen würde. Für sie schien es allerdings selbstverständlich, solche Aussagen in den Raum zu stellen. Er mochte vielleicht unbedacht gehandelt haben, aber wenn jemand anderes ihren Freimut in den falschen Hals bekam, sah selbst er die drohenden Wolken aufziehenden Unheils. Kaito hatte sich vor dem Feuer platziert, das in der Mitte des Raumes loderte, und starrte mit aufgerissenen, goldenen Augen an die Decke des Hauses, in das sie harsch geleitet worden waren. Eine Frau mit haselbraunem Haar hatte ihnen eine große Schüssel dampfender Nudelsuppe zubereitet und ebenso schweigsam Honokas Verletzungen verpflegt; ohne eine Miene zu verziehen, aber mit einem deutlichen Ausdruck von Missfallen. Dann war sie mit dem dunkelhaarigen, herrischen Monstrum, das sie von Minoru getrennt hatte, nach draußen verschwunden. Nun war es still im Haus. Lediglich draußen heulte der frische Wind immer wieder, wenn er unter das Dach fuhr und in den Straßen stritten hin und wieder Hunde – einfache Hunde, die offensichtlich unter ihren dämonischen Äquivalenten lebten, wie sie es auch unter den Menschen taten. Kaito hatte einige von ihnen in den Gassen gesehen, als er auf dem Weg zu diesem kleinen Haus am Ende einer engen Straße nach Fluchtwegen Ausschau gehalten hatte. Vergeblich. „Nun mach nicht so ein Gesicht“, protestierte seine Schwester leise. Sie hatte ihre Suppe bereits ausgetrunken und stellte die Schüssel neben sich ab, um ihren Yukata glattzustreichen. Das war hoffnungslos, denn der Stoff hatte unter der Reise gen Westen stark gelitten und auch die feinen, zart rosafarbenen Blüten verschiedener Pflanzen, die den dunkelvioletten Grundton des Yukata zierten, vermochten den abgenutzten Anblick nicht zu überdecken. „Ich hätte dich an den Haaren ins Dorf zurückschleifen sollen“, knurrte ihr Bruder. „Was für eine hirnrissige Idee! Wir hätten tot sein können – und das nicht nur einmal.“ „Sind wir aber nicht.“ „Du meinst wohl 'noch nicht'!“, er rollte sich auf die Seite und sah sie mit funkelndem Blick an. „Und wenn das deine Henkersmahlzeit war? Was, wenn sie dir die Suppe vergiftet oder 'rein gespuckt haben? Dieser arrogante Köter hatte recht: Wir sind hier nicht willkommen. Sie haben mir mein Schwert abgenommen. Wenn ich jetzt versuche, durch diese Tür zu marschieren, wird mich jemand aufhalten!“ Er deutete wütend auf den Eingang des kleinen Hauses. „Hör auf, dir einzubilden, das hier sei Freundlichkeit!“ Er schob seine immer noch volle Schale missbilligend von sich. „Die Frau hat uns Essen gekocht. Du bist unverschämt, Kaito.“ „Ach ja? Ich bin nur dumm! Was denkst du, wer vor Vater und Mutter den Kopf für diesen Mist hinhalten darf, wenn wir je wieder nach Hause kommen? Du doch nicht.“ Der Treppenabsatz knarrte leise und Kaito fuhr schlecht gelaunt herum, nur um zu sehen, dass von der oberen Etage jemand mit zögerlichen Schritten herunter ins das Erdgeschoss trat. Das Mädchen rieb sich die fliederfarbenen Augen und betrachtete die Fremden einen Moment verdutzt, als wache sie gerade aus einem sehr grotesken Traum auf, der nicht weichen wollte. Die beiden Han'yō sahen sie nicht minder verwundert an und es war Honoka, die als erste ihre Sprache wiederfand: „Entschuldige, wir wussten nicht, dass noch jemand im Haus ist... sonst wären wir leiser gewesen.“ Das Mädchen, das der Hausherrin mit ihrem langen, braunen Haar auffällig ähnelte, sah die beiden immer noch ein wenig überfordert an und schien nicht ganz zu wissen, was sie von diesem späten Besuch halten sollte. Beinahe zeitgleich flog die Tür, von Wind beschleunigt, auf und Kaito erkannte in dem Eintretenden den schwarzhaarigen Inu, der sie hergebracht hatte. Hinter ihm folgte die Frau, die nur die Mutter des Mädchens sein konnte. „Haha-ue...“, setzte diese an und hundert unausgesprochene Fragen blieben ihr im Hals stecken. „Alles in Ordnung, Kanae“, meinte die Frau sanft und legte ihr die Hände auf die Schultern. Mit einem letzten, scharfen Blick auf den Mann schob sie ihre Tochter sacht, aber bestimmt die Treppe wieder hinauf, an deren Ende sie eine Tür schloss, während der Mann dasselbe mit dem Hauseingang tat, durch den mittlerweile ein kalter Wind durch den Raum fegte. „Mein Name ist Ryouichi. Ich bin Generalleutnant des westlichen Heeres. Auf Anordnung des Generals werdet ihr die Nacht in meinem Haus verbringen dürfen“, gebot er mit tiefer Stimme und sah die beiden Geschwister prüfend an. „Ich dulde keine Proteste.“ Dann ließ er seine gelben Augen warnend auf Kaito ruhen. „Und meine Tochter ist tabu. Wenn ich nur einen schiefen Blick bemerke, röste ich deine Augen über dem verfluchten Feuer. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Kaito starrte ihn ebenso perplex an wie Honoka und brachte zur Ausnahme kein Wort hervor. „Ob du mich verstanden hast!?“, donnerte der Chūyō und Kaito nickte schnell, was dazu führte, dass sich der Hundedämon sichtlich entspannte. „Gut. Ich hoffe, die Suppe war nach eurem Geschmack.“ Die Wechsel seiner Launen waren ja herzallerliebst. Wie wurde jemand so Sprunghaftes zum Generalleutnant einer ganzen Armee? Kaito musterte ihn einen Moment; die schwarzen, nackenlangen Haare, die dünnen, dunkelgrünen Abzeichen, die wie lange Kratzer von den unteren Augenlidern bis zur Hälfte der Wange reichten. Seine Augen waren stechend gelb, weit entfernt von seinem eigenen, warmen Goldton. Diese Mischung ließ ihn auf eine besorgniserregende Weise unheimlich wirken, was er durch eine gerade Haltung mit raubtierähnlicher Präsenz sicherlich bewusst verstärkte. „Entschuldige bitte... - Ryouichi, ja? - sag, sind wir Gefangene? Wir sind nicht hier um jemanden zu schaden. Nur aus reiner Neugierde.“ „Ihr habt genug Schaden angerichtet ohne es zu beabsichtigten“, stellte der Yōkai fest und warf einen prüfenden Blick ins Feuer. „Leg Holz nach, Junge. Dort an der Wand – na los, im Gegensatz zu mir wird es nicht beißen.“ Missmutig gehorchte Kaito und legte geübt einige Scheite in die Flammen; der Mann knurrte zufrieden. „Sind wir Gefangene?“, insistierte Honoka und nun sah Ryouichi sie deutlich aufmerksamer an. „Ihr seid meine Gäste“, gab er ruhig zurück und lehnte sich in der Nähe der Tür an die Wand. „Gäste bewacht man für gewöhnlich nicht“, warf Kaito ein und seine hoch angesetzten Hundeohren legten sich kaum merklich enger an seinen Kopf an. Die Mundwinkel des Chūyōs umspielte ein genüssliches Lächeln: „Wir wollen doch nicht, dass euch etwas zustößt.“ Kaito griff instinktiv nach dem Wakizashi an seiner Seite, nur um festzustellen, dass es natürlich nicht aus heiterem Himmel wieder an seinen Platz gesprungen war. „Ich nehme an, du suchst das hier“, meinte Ryouichi provokant und legte eine Hand an Kaitos Schwert, das in seinem Obi steckte – neben zwei weiteren Waffen, deren Gebrauch ihm sicher nur zu vertraut war. „Mach keine Dummheiten, Kind. Ihr habt einige Fürsprecher im Palast, die euch gern lebend und am Stück sehen möchten. Ich würde bedauern, ihnen mitteilen zu müssen, dass ich dazu gezwungen war, zumindest den Teil mit der Unversehrtheit außer Acht zu lassen.“ „Wir haben Fürsprecher?“ Honoka sah den hochgewachsenen Hundedämon interessiert an. „Wen? Unseren Onkel?“ Ryouichi musterte sie einen Moment scharf; sah sie unverwandt an, aber sagte kein Wort. Damit konnte Honoka offensichtlich nichts anfangen. Sie rutschte ein wenig unbehaglich auf der Stelle umher und als sie erneut ansetzte, eine Frage zu äußern, fuhr ihr Bruder dazwischen. „Nein. Nicht unser Onkel“, erriet er mit einem gehässigen Lächeln. „Der hat noch nie etwas auf uns gegeben. Myōga, würde ich sagen, und Rin, wenn es stimmt, dass sie hier ist.“ Ein pfiffiges Großmaul, entschied Ryouichi für sich. Als Myōga den Fürsten über den Verbleib seines Sohnes unterrichtet hatte, war es tatsächlich Rin gewesen, die erbeten hatte, ihr Zimmer für die beiden Han'yō räumen zu dürfen, nachdem Ryouichis eigenes Gesuch um eine Entsendung eines Stoßtrupps zur Hilfe der Kinder abgelehnt worden war. Der Fürst war offensichtlich der Meinung gewesen, Minoru müsse mit seiner Entscheidung allein zurechtkommen. Ein wenig hart, wenn man bedachte, dass der Junge knapp ein Schwert halten konnte. Ryouichi wusste, dass er den Vorgaben entsprechend gehandelt hatte. Minoru hatte unerlaubt die Gruppe verlassen und somit keine Hilfe zu erwarten. Dennoch machte sein Lehrer sich den leisen Vorwurf, mit seinem Verschwinden regelkonform zuerst zum Taishō gegangen zu sein, anstelle eine Suche nach dem Jungen zu befehlen. Er hatte sich zu sehr auf den Gedanken verlassen, dass Minoru allein nach Hause zurückgekehrt war. Eine Fehleinschätzung. So war er erleichtert gewesen, als der Flohgeist seinen Bericht vorgetragen hatte. Zwei Mönche – es hätte sie durchaus schlimmer treffen können. Aber auch Rins Ersuchen war auf Eis gestoßen, wenn auch nicht so heftig wie der Vorschlag, Verstärkung zu entsenden. Sie durfte ihr Zimmer nicht bereitstellen – was durchaus nicht nötig gewesen wäre, da der Palast eindeutig das Gebäude mit den meisten, leerstehenden Räumen war. Stattdessen konnte Ryouichi sich nun mit diesen Mischlingen herumschlagen; ein kleiner Vorgeschmack davon, was ihm noch bevorstand, wenn sein Vorgesetzter diese üble Laune behielt – immerhin war Ryouichi es gewesen, der Minoru mit nach draußen genommen hatte. Auch Setsuko war über die Anwesenheit der Han'yō in ihrem Haus nicht gerade glücklich, zumal so unerwartet. Wenn der Junge nur einmal etwas bis zum Ende durchdenken würde! Aber da schien die Jugend dieser Generation kein Händchen für zu haben. „Ein paar Decken“, unterbrach er schließlich ein weiteres Streitgespräch der Geschwister und deutete auf die Schiebetür, hinter der sich ein Regal verbarg. „Bedient euch.“ „Dürfte ich mir noch etwas von der Suppe nehmen?“, fragte Honoka plötzlich und als sie mit großen, bittenden Augen zu ihm aufsah, erinnerte sie Ryouichi so sehr an Kanae, dass er beinahe reflexartig zu lächeln begonnen hätte – trotz fehlender Ähnlichkeiten und fremden Geruchs. Welpen... ob nun Han'yō oder nicht. Übermütig und unbedacht, aber war er in ihrem Alter besser gewesen? Wohl eher nicht. Im Gegenteil. „So viel du willst, Kind.“ Während ihr Bruder nur wütend schnaubte und den Kopf herumwarf, lächelte sie warm. Er hatte nicht einmal für wenige Minuten Ruhe finden können und nach Stunden des unruhigen Liegens und Anstarrens der Deckenverkleidung, hatte sich Minoru im Garten an einem der blühenden Kirschbäume niedergelassen und war mittlerweile von heruntergewehten Blüten übersät. In offener Umgebung war das Unwohlsein deutlich besser zu ertragen als in seinem Zimmer, aber langsam musste Minoru sich eingestehen, dass er auch das Ausmaß seiner Handlung und die darauf folgende Reaktion bis ins Detail hätte abschätzen können. Während der letzten Stunden hatte er unzählige Perspektiven, Szenarien und kindischen Widerwillen durchlebt, bis er nun, weit nach Sonnenaufgang, langsam eine Ahnung davon bekam, welchen Schaden seine überstürzte Handlung hätte anrichten können – und längst getan hatte. Das bestärkte unter anderem die Entscheidung, nach dem Bad nicht gleich seinen Vater aufzusuchen – wenn auch aus ganz anderem Grund als zuvor angenommen: Es ging hier nicht darum, einen bettelnden, unterwürfigen Eindruck zu vermeiden. Viel evidenter war, dass er ihm zuvor in kritischen Belangen sicherlich undurchdachte, dämliche Antworten vor den Kopf geworfen hätte, die er nun nicht einmal mehr denken mochte. Wenn er sich die wenigen, vorherigen Gespräche mit seinem Vater ins Gedächtnis rief, konnte er sich nur zu deutlich vor Augen führen, wie weit er in den letzten Monaten von sich selbst Abstand genommen hatte. Das mochte zu einem gewissen Teil an seinem freigesetzten Yōki liegen, aber es widerstrebte ihm, sich von einer persönlichen Schuld vollends freizusprechen – und wenn es ihm bereits widerstrebte, hätte die Erklärung vor dem Fürsten ohnehin keinen Bestand. Aber es ging ihm auch längst nicht mehr darum, seinem Vater eine schmackhafte Schilderung auf den Tisch zu legen, um sein Handeln zu erklären. Es war unverschämt, unüberlegt und desertierend und wenn er nicht zufällig einen Weg fand, die Zeit zurückzudrehen, um eine andere Entscheidung zu treffen, konnte er an den bloßen Gründen des Zerwürfnisses nichts mehr ändern. Mit einer verwerflichen Handbewegung zog er eine der Kirschblüten aus seinen mittlerweile zumindest im Zopf zusammengefassten Haaren und ließ sie neben sich ins Gras fallen. Der Palast war bereits wieder erwacht und im Zuge der Morgensonne stießen einige Yōkai, die er sonst nie gesehen hatte, die äußeren Holzvertäfelungen des Westflügels auf und begannen einige Zimmer aufzuräumen, in denen vermutlich seit Jahrhunderten außer Staub niemand mehr gewohnt hatte. Einige der Diener bemerkten Minoru im Garten, sahen aber hastig und nach einer kurzen Verbeugung wieder fort, andere waren weniger aufmerksam und schwatzten am frühen Morgen daher, dass es dem Wolfsrudel einiges an Respekt abgenötigt hätte. Als jedoch sein Name fiel, zuckten Minorus spitze Ohren. „Ja, letzte Nacht. Setsuko schnaubt wie ein Drache. Han'yō in ihrem Haus. Oh, sprich sie bloß nicht darauf an, sie ist ganz unausstehlich heute“, die ältere Hundedämonin warf einen Blick über die Schulter und stellte einen vollen Eimer Wasser auf den Boden. „Sei froh, dass du nicht hier gewesen bist. Das hättest du nicht erleben wollen. Aber ich habe es euch gleich gesagt: Aussehen hin oder her, diese Daiyōkai schlagen nach der Mutter. Dass er sich überhaupt die Mühe mit dem Sohn einer Hochverräterin macht! Der Fürst hätte dem Elend gleich ein Ende setzen und diesen verwilderten Bastard mitsamt seiner Mutter töten sollen. Er hat mehr Geduld als ich ihm zugetraut habe. Das hat er nun davon.“ Minoru erhob sich und machte sich nicht einmal die Mühe, die Frauen anzusehen. Seine Präsenz tat das Übrige und ließ die Alte erstarren; sie behielt jedoch einen letzten Rest Würde und warf sich nicht ehrfürchtig zu Boden. Eigentlich hatte sie auch keinerlei Grund dazu. Minorus Ansehen hing einzig und allein vom Wohlwollen seines Vaters ab und je länger er sich mit ihm zerstritt, desto haarsträubender würden die Ansichten der Dienerschaft und desto vehementer würde man die Entscheidung des Fürsten in Frage stellen, diesen „verwilderten Bastard“ überhaupt aufgenommen zu haben. Nun, er hatte nie damit gerechnet, hier freudig begrüßt zu werden, von daher schockierten ihn die Aussagen wenig. Ekelhaft war allerdings die Vorstellung, mit jeder Äußerung, Bewegung oder kleinsten Geste Auswirkungen auf das Urteil über andere zu haben. Er richtete den Obi neu und straffte einen Moment die Schultern, als er den Flur betrat und verhältnismäßig zielstrebig auf den Ostflügel zusteuerte, den er eigentlich zu meiden aufgetragen worden war – allerdings im Zusammenhang dessen, dass er den Palast nicht verlassen sollte. Das war Monate her und im Grunde hatte der Fürst dieses Verbot längst revidiert, als er verlangt hatte, dass Minoru zu ihm kam, wenn er drohte, die Kontrolle über sich zu verlieren. Auch wenn er von diesem Zustand in dem Moment so weit entfernt war wie schon lange nicht mehr, wusste Minoru, dass er nun gehen musste. Mit jeder verstreichenden Stunde würde er die potentielle Zurückweisung des Fürsten nur noch mehr fürchten und es verlangte ihm so schon genug ab, dieser entgegenzugehen – auch ohne dass er weitere Ausführungen der Diener oder die konstante Untermalung durch die immer noch leicht schwelende Aura seines Vaters weiterhin auf sich einprasseln ließ. Als er an den hölzernen Rahmen der Tür klopfte, konnte er nur hoffen, dass es sich wirklich um das Zimmer des Fürsten handelte. Der mittlerweile vertraute Geruch, der den Palast prägte, war hier jedoch am deutlichsten und davon abgesehen war die Luft von einer so knisternden Spannung erfüllt, dass Minoru fest damit rechnete, sie sei in der Lage seine Haare aufzuladen. Als er die Erlaubnis erhielt, schob er die Tür auf und schloss sie mit einem leisen Knacken hinter sich. Der Fürst saß an der offenen Tür zum Garten, den Rücken an den Holzrahmen gelehnt und einen Unterarm scheinbar gelassen auf ein angewinkeltes Knie gelegt. Seine privaten Räumlichkeiten waren nicht weniger karg eingerichtet als Minorus. Ein schwarzer, rechteckiger Lacktisch, auf dem Schwerter mitsamt Reinigungsmaterial auslagen, daneben ein helles, unbenutztes Teeservice. Die Wände waren schlicht-weiß und der Boden wie fast überall mit Tatami ausgelegt. Ein Futon lag ausgerollt, aber unbenutzt in einer Zimmerecke am Boden und lediglich ein niedriger Schrank vor Kopf, auf dem ein stehender Schwertständer Tenseiga in der Waagerechten hielt, sowie die Rüstungsteile an einer Wand wiesen auf den Besitzer hin. „Dir ist bewusst, dass ich dich hier nicht sehen will.“ „Herr – “ „Deine Ausflüchte und vagen Entschuldigungen sind mir gleichgültig, Minoru. Geh, bevor ich mich vergesse.“ „Ich bin nicht gekommen, um mich vor Euch zu rechtfertigen.“ Sesshōmaru richtete den harten Blick vernichtend auf seinen Sohn, musterte ihn für einen Moment abschätzig. Hatte Minoru gerade noch dieses Gespräch und die daraus eventuell folgende Zurückweisung gefürchtet, wurde ihm allmählich klar, dass die Aufforderung, seinem Vater aus den Augen zu gehen, deutlich weitgreifender gewesen sein könnte, als er vermutet hatte. Er hatte nicht einmal genug Zeit, darüber zu entscheiden, ob es nun eine bessere Idee war, seinem Anliegen zu folgen und den Raum zu verlassen, als sich eine Hand beängstigend eng um seine Kehle legte und ihn ein ganzes Stück vom Boden abhob. Instinktiv griff er nach dem angespannten Handgelenk des Fürsten, versuchte sich aus der Umklammerung zu lösen, doch die Hand zog sich lediglich unbarmherzig eng zusammen. „Du strapazierst meine Geduld“, knurrte der Fürst so tief, dass es die Vibrationen bis in Minorus Zwerchfell trieb. Minoru versuchte Halt an der Wand zu finden, japste und schnappte nach Luft. Vergeblich. Seine Lunge versuchte sich verzweifelt auszuweiten, während der Kehlkopf ein bedrohliches Knacken von sich gab. Abermals versuchte er reflexartig nach Luft zu schnappen. Aussichtslos. Er ließ die Hände sinken, gab die letzte Abwehrhaltung auf und während er seinen Vater flehend ansah, flimmerte seine Sicht in schwarzen Flecken auf. Das Rot in den Augen des Taishōs zog sich langsam zurück. Er ließ Minoru achtlos fallen und betrachtete sein Handgelenk, das nicht den kleinsten Kratzer aufwies. Zugegeben, er hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Minoru blieb röchelnd am Boden liegen und rang schwer nach Atem. Sein gesamter Brustkorb fühlte sich an, als sei er gerade um die Hälfte zusammengepresst worden. Mit dem Rücken an der Wand brachte er sich langsam wieder in eine stehende Position, erntete dafür allerdings nur ein verächtliches Schnauben. Der Fürst wandte sich in einer fließenden Bewegung ab, die abrupt und unvollendet ins Stocken geriet, als er zurückgehalten wurde. Mit ungläubigen Blick sah er auf Minoru herab, der den Stoff seines Ärmels augenblicklich wieder fallen ließ. Sesshōmaru hätte mit allem gerechnet – einschließlich damit, dass er wenige Stunden später die Wälder nach einem ausgerissenen Jungen durchkämmen musste –, aber sicherlich nicht mit einer völlig untypischen und deplatzierten Geste. Er hielt inne und wartete, bis Minoru sich wieder erholt hatte und die ungesund bläuliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war, dann brummte er leise: „Setz dich. Du hast fünf Minuten, keine Sekunde länger. Und erwarte nicht, dass ich irgendetwas auf deinen Unsinn sage.“ Der Fürst ließ sich an den Tisch sinken, nahm eine Lage Nuguigami aus einer Holzschatulle und begann das Reispapier zu kneten als sei sein Sohn gar nicht mehr existent. Das war vermutlich die aufwendigste Bitte um eine Unterhaltung, die Minoru je hatte aufbringen müssen. Auch wenn seine Lunge sich langsam wieder auf ein gewöhnliches Heben und Senken eingerichtet hatte, fühlte sich sein Hals an, als habe er eine Schüssel voller Scherben heruntergeschlungen. In Anbetracht dieses weniger erfreulichen Ausbruchs seines Vaters, sagte Minoru die Tischdekoration eher weniger zu. Er hätte viel darum gegeben, wenn anstelle von Bakusaiga und Tokijin zumindest Tenseiga auf dem schwarzen Lack gelegen hätte. Wenn man Myōga glauben durfte, konnte dieses Katana wenigstens nicht schneiden – ganz im Gegensatz zu seinen beiden, höllisch scharfen Bundesgenossen. Aber weder konnte er nun noch einen Rückzieher machen noch war dem Fürsten zuzutrauen, wirklich die Waffe gegen ihn zu erheben. Wobei er mit der letzten Annahme lieber Vorsicht walten ließ: Dass er ihn ohne Vorwarnung fast erwürgte, hatte Minoru auch nicht erwartet. Angespannt nahm er auf der anderen Seite des Tisches Platz und betrachtete noch einmal mit gehörigem Unwohlsein die hellbeige Scheide Bakusaigas, bevor er sich an seinen Vater wandte. „Ich kann nicht rechtfertigen, was keine entschuldbaren Gründe hat. Es wäre überstürzt gewesen, Euch noch letzte Nacht aufzusuchen. Erst dachte ich, es wirke erbärmlich, wenn ich sofort um Vergebung bitte und ich hätte größere Chancen auf eine bessere Laune Eurerseits, wenn ich warte. Aber das war genauso unsinnig, wie der Vorwurf, Ihr könntet mir zu Unrecht absprechen, außerhalb dieser Mauern allein überlebensfähig zu sein, nachdem ich jahrelang Gegenteiliges bewiesen habe. Gestern Abend hätte ich Euch diesen Unsinn sicher vorgehalten. Ich habe mich in den letzten Monaten benommen wie ein unbedachter, egozentrischer Narr, der zuhört, aber nicht versteht. Nobu-sama hatte mich bereits darauf hinweisen wollen, dass ich für Euch einen unkontrollierbaren Schwachpunkt darstelle und Ihr habt das gleichwohl betont. Dennoch habe ich die Übung ohne jeden klaren Gedanken verlassen. Im Normalfall gehe ich Konfrontationen möglichst aus dem Weg und es ist mir bewusst, dass ich von Glück sprechen kann, nur zwei unentschlossene Mönche anstelle eines hungrigen Dämonen oder gar einer Falle vorgefunden zu haben. Diese ganze Aktion war so dämlich wie sie ärgerlich ist – und dabei steht noch völlig außen vor, dass ich Ryouichi hineingerissen, Euch Unannehmlichkeiten bereitet und meine Einheit verlassen habe. Ich bin nicht hier, um Vergebung für das zu erbitten, was ich gestern Abend getan habe. Ich weiß, dass ich sie nicht verdiene.“ Als habe Minoru nicht ein einziges Wort gesagt, zog Sesshōmaru Bakusaiga aus der Schwertscheide und hielt die Klinge in das von draußen hereinfallende, warme Sonnenlicht. Der junge Hund zuckte einen Moment zusammen, als die scharfe Waffe melodisch über das schwer definierbare Hüllmaterial strich. Der Grat zwischen Klingenrücken und Schneide war in einigen Abständen mit Gruppen runenähnlichen Abzeichen versehen, die nicht den Eindruck vermittelten, als seien sie zufällig während des Schmiedevorgangs entstanden, und der Waffe bereits von Weitem ein sehr authentisches Aussehen verliehen. Authentizität hin oder her, Minoru riss sich zusammen. In Panik zu verfallen, nur weil er ein Schwert hielt, kam derselben Dummheit gleich, einen Hund nur dann zu fürchten, wenn er fletschte. Der Fürst konnte mit bloßen Händen ebenso effizient töten wie mit einem dafür ausgelegten Werkzeug. Minoru, der von vorneherein genug Abstand zum Tisch gehalten hatte, legte ruhig die Stirn an die Reisstrohmatten unter ihm, sodass er beinahe völlig hinter dem Möbelstück verschwand. „Ich habe Euch in den letzten Monaten durch meine Unbesonnenheit sicher Ärger in einem für mich unabsehbaren Ausmaß bereitet. Das bereue ich zutiefst.“ Als er sich wieder erhob, hatte der Taishō begonnen, mit dem Nuguigami über die Klinge zu fahren, um oberflächlichen Schmutz und alte Öle zu entfernen, die Minoru immer noch deutlich wittern konnte. Und auch wenn er den Anschein erweckte, als habe er kein Wort von dem vernommen, was sein Sohn dargelegt hatte, so hatte sich die elektrisierende Wut, die zuvor noch bis über den Raum hinaus spürbar gewesen war, ein wenig beruhigt. In der Tat hätte Sesshōmaru ihm für jede Rechtfertigung und jeden Gnadenersuch erneut die Luftröhre zerquetschen wollen. Stattdessen überraschte dieses Kind mit erstaunlicher Einsicht und geschickt ausmanövrierender Ehrlichkeit. Er vermochte offensichtlich zu reden, wenn er den Mund einmal aufbekam, aber ob er diesen Einsichten auch Taten folgen lassen konnte blieb abzuwarten. Der Taishō war kein Narr. Er war sich dem allgemeinen Unvermögen, Geschehenes ohne erheblichen Aufwand und Risiken rückgängig zu machen, durchaus bewusst und hätte dies auch nie von Minoru verlangt. Allein dass er sich bei einem direkten Angriff auf seine Person nicht benommen hatte wie ein in die Ecke gedrängtes Tier und anschließend nicht geflohen war, sprach jedoch dafür, dass er neben seinen Überlegungen auch bereit war, Verhalten zu ändern. Lächerlich, dass er diese Fähigkeit genau dann entdeckte, wenn es klüger gewesen wäre, auf Angst zu reagieren. Die empfindliche Haut an seinem Hals hatte bereits begonnen von einem frischen Rot zu verschiedenen Blautönen zu wechseln. Abrupt raffte Minoru sich auf, strich eine widerspenstige Strähne hinter die spitzen Ohren, die sich während seiner Verbeugung selbstständig gemacht hatte und warf noch einmal einen Blick auf den augenscheinlich desinteressiertesten Fürsten unter der japanischen Sonne. „Ich werde mir Mühe geben, von nun an keine Last mehr für Euch darzustellen. Es mag dumm sein, Euch das gegen mich in die Hand zu legen, aber mir ist mitnichten egal, was Ihr von mir haltet.“ Bis zu dem Punkt froh, diese einseitige Diskussion halbwegs unbeschadet überlebt zu haben, erstarrte Minoru, als der Fürst mit einem widerlichen Geräusch eine Klaue über den Schleifstein auf dem Tisch zog. „Setz dich.“ Minoru musterte ihn etwas verwirrt. „Die fünf Minuten -“ „Sind um, wenn ich es sage.“ „Natürlich“, gab der Junge knapp zurück und ließ sich wieder auf den Boden sinken. Sesshōmaru versuchte aufmerksam einen schnippischen Unterton in dieser Äußerung herauszuhören, konnte aber auch beim schlechtesten Willen keinen erkennen. Er legte Waffe und Reispapier auf den Tisch zurück und richtete den Blick in funkelnder Erhabenheit auf Minoru. „Du hast die Mönche umgebracht.“ „Einen von ihnen“, korrigierte Minoru ein wenig verdutzt. „Ist das ein Problem?“ „Beide“, insistierte der Fürst hart. „Und du verlierst kein Wort darüber. Ryouichi hat nach ihnen suchen lassen. Den Jüngeren haben sie einige Kilometer weiter südlich gefunden. Bis auf die Schulter unverletzt, aber mit dem faulen, kranken Geruch einer alten Leiche. Die wievielten Leben waren das?“ „Die ich genommen habe?“, fragte Minoru deutlich verblüfft. „Das ist schwer zu sagen. Über tausend schätze ich. Ich habe dem keine Bedeutung zugemessen.“ Sesshōmaru war versucht, vor einem Kind geschockt zu reagieren. „Du hast tausend Menschen getötet?“ Minoru schüttelte leicht den Kopf. „Dann zwei. Nach Eurer Rechnung.“ Er setzte seelenruhig Mensch und Tier auf eine Stufe und war offensichtlich in dieser Frage so unbesonnen, dass er überhaupt nicht begriff, was für Abgründe er damit eröffnete. Auch wenn das erklärte, warum er nicht einmal mit der Wimper zuckte und der Mord an zwei Menschen ihm genau so viel Reue abverlangte wie ein versehentlich zertretener Wurm. Nun war Sesshōmaru nicht für Nachsicht und Freundlichkeit gegenüber Menschen bekannt und hatte mehrfach ganze Schlachtfelder voller Samurai in die Unterwelt geschickt, weil sie ihm ungefragt Weg gestanden waren, aber so eine abgebrühte Äußerung von einem Fünfzehnjährigen hatte auch er noch nicht vernommen – und nie hätte er sich erlaubt, so etwas gegenüber seinem eigenen Vater verlauten zu lassen! Der vorangegangene Inu no Taishō war unter seinen Feinden als erbarmungsloser Kriegsherr gefürchtet wie geachtet gewesen. Wer ihn allerdings näher kannte, kam nicht umhin, die durchaus milde Seite seiner Persönlichkeit zu erwähnen, die vor allem für die vorgesehen war, die deutlich schwächer waren als er. Neben der Tatsache, dass die keine Bedrohung für ihn darstellen konnten, erübrigte er zuweilen eher seine Zeit, um diese erbärmlichen Sterblichen zu schützen. Sesshōmaru wäre es im Traum nicht eingefallen, für ein Dorf voller Menschen das Wort zu erheben, aber sein Vater hatte da in aller Deutlichkeit eine andere Meinung vertreten und nicht zuletzt wegen solcher Neigungen sein Leben gegeben. Hätte er die Unterhaltung mit seinem Enkel geführt, wäre er vermutlich aus allen Wolken gefallen, wenn er Sesshōmaru bereits für ein konträres Extrem gehalten hatte. Der tippte lediglich kurz auf den Lacktisch und musterte seinen Sohn, der ihn unschuldig, voller Unverständnis ansah und wirklich nicht zu begreifen schien, warum er darauf angesprochen wurde. Zu allem Überfluss legte er den Kopf ein wenig schief, dass ihm der Zopf über die Schulter rutschte. Es war unverschämt, wie ähnlich er seinem Großvater in diesem Moment sah und wie weit er doch von ihm entfernt war. Dann plötzlich blitzte ein Funken Erkenntnis in ihm auf und er nahm abermals eine aufrechte Haltung ein. „Ich würde nie auf die Idee kommen, Rin etwas anzutun“, versicherte er ernst. „Ihre Art ist mir manchmal zuwider, aber das wäre kein Grund für mich.“ „Dann hattest du sicher einen guten Grund, diese beiden Männer zu ermorden“, stellte der Fürst heraus. „Gegen den Jungen habe ich mich verteidigt. Der Alte hat Euch beleidigt und wollte zur Waffe greifen. Hätte ich es nicht tun sollen?“ Sesshōmaru sah ihn eine Weile nachdenklich an. Es kümmerte ihn eigentlich nicht, ob jemand Menschen zum Fressen oder zum puren Vergnügen dahinraffte – und das würde sich wohl nie ändern. Er selbst empfand nichts, wenn er irgendetwas oder irgendjemanden in Fetzen riss. Das war aber nicht immer so gewesen. Während seiner ersten Kriege an der Seite seines Vaters hatte es durchaus etwas in ihm ausgelöst. Es war nicht mit den menschlichen Begriffen Angst, Reue oder Schock auszudrücken, aber wenn die sonst weißen Haare bis in die Spitzen mit dickflüssigen, warmen Blut verklebt waren, hatte während der ersten Jahrzehnte sogar er zumindest irgendetwas verspürt, das man im weitesten Sinne als Emotion hätte bezeichnen können. „Ich dachte, der Jüngere sei geflohen“, fügte Minoru schließlich nachdenklich hinzu. „Und der Alte wäre unbehelligt geblieben, wenn er uns nur hätte ziehen lassen.“ Der Fürst ließ eine Klaue über Bakusaigas Klinge fahren und die Waffe reagierte sofort mit einem feinen, aber durchdringend smaragdgrünen Schimmern. „Vergessen wir die Toten und machen uns Gedanken über die Lebenden. Du hast mir diese Brut ins Haus geholt, du wirst sie wieder loswerden.“ „Ich hatte keine Ahnung“, flüsterte Minoru. „Du solltest froh sein, dass es nur die Welpen meines nichtsnutzigen Bruders waren und niemand, der uns schaden könnte. Warum sind deine Altersgenossen genauso töricht wie du?“ „Das Mädchen wollte hierher. Ihr Bruder spielt lediglich den bissigen Leibwächter. Sie haben erraten, dass sie mir nur folgen müssen, um zum Schloss zu kommen.“ „Sie wissen nicht, wer du bist.“ „Nein.“ Der Fürst nickte ruhig, schwieg aber. „Ihr wollt ihnen nichts antun, oder?“, hakte Minoru vorsichtig nach. „Und meinen Bruder einen Grund geben, es zu vergelten? Wohl kaum.“ Außerdem würde es Rin sicher nicht gefallen, wenn er ihrer teuren Dorfgemeinschaft ein Haar krümmte, wo sie doch ohnehin nach dem dritten Balg sehen wollte. Vielleicht sollte es ihn langsam eher wundern, dass diese gedankenlosen Kinder den Säugling nicht gleich mitgeschleppt hatten. Viel wichtiger war allerdings, Inuyasha zuvorzukommen und die Kinder loszuwerden, bevor er in seinem Hitzkopf voreilige Schlüsse zog. Das Verhältnis zu seinem Halbbruder war zwar noch nie von Harmonie geprägt gewesen, aber gerade jetzt konnte er es sich nicht erlauben, diesen Han'yō zu seinen akuten Feinden zu zählen. „Hol Karten aus dem Arbeitszimmer. Du hast Zeit bis heute Nachmittag, um eine Route nach Musashi auszuarbeiten, die ohne großen Aufwand zu bewältigen ist.“ Minoru sah ihn verwundert an. „Ihr wollt sie nach Hause schicken?“ „Wir werden sie nach Hause bringen“, stellte der Fürst fest und benetzte ein weiteres Blatt Nuguigami, das er zuvor in der Hand geknetet hatte, mit Kamelienöl. Minoru blinzelte verdutzt. „Wen versteht Ihr unter 'wir'?“ „Ich lasse dich nicht allein herumstreunen“, bemerkte Sesshōmaru mit einem scharfen Unterton. „Achte darauf, dass A-Un mit Jaken fort ist. Rin wird laufen müssen und ich beabsichtige nicht, sie auch nur einen Abhang hinauf zu tragen.“ Als Minoru ihn immer noch mit großen Augen ansah, hob er ungeduldig eine Braue. „Karten, Minoru. Jetzt.“ Der junge Inuyōkai sprang auf die Beine und verschwand auf den Flur. Vielleicht würde es während einer solchen Reise und in einer Gruppe einfacher, ihn einzuschätzen. Sesshōmaru konnte auf etwaige weitere Überraschungen durchaus verzichten, auch wenn er alles andere als versessen darauf war, mit dem Nachwuchs seines Bruders durch die Lande zu ziehen. Nun, immerhin würde sich Rin ihren Wunsch, das Heimat gewordene Menschendorf zu besuchen, auch ohne A-Un ungefährdet erfüllen können und er kam nicht in den Konflikt sie oder Minoru dabei unbeaufsichtigt zu lassen. Kapitel 24: die der Nachhall ---------------------------- „Was haltet Ihr davon?“ Kōhei überflog die Nachricht zum wiederholten Male, faltete sie sorgsam zusammen und strich mit einer schwarzen Kralle nachdenklich über das feine Papier. Er sah dem Boten nach, der sich mit langen Sätzen auf den Heimweg machte, dann wedelte er mit dem Schriftstück vor der Nase eines Soldaten umher, der es ihm abnahm und auch ohne Anweisung wusste, dass er es auf direktem Wege seinem Fürsten bringen sollte. Schließlich ließ er sich auf einem gefällten Baumstamm nieder und überblickte die vor ihm liegende Senke, in der eine Gruppe von gut zwanzig Kitsune an einem Feuer lagerte. „Er wird jede Unterstützung versagen“, beantwortete er schließlich Jirōs Frage, der hinter ihm mit der Präsenz eines Berges aufragte. „Hayato-sama hat sich mit keinem Wort zum Westen positioniert. Wenn die Panther ihn um Beistand ersuchen, sind sie verzweifelt oder sehr wütend.“ Er schlug mit seinen drei Schwänzen, deren rotes Fell in der Abendsonne besonders intensiv glühte. Was Jirō jedoch als Wut gegenüber unverschämten Panthern interpretierte, war in Wahrheit der Ausgleich tiefgehender Überlegungen. Der Osten war allein schon durch seine Lage in einer ziemlich bescheidenen Situation. Der Inu no Taishō hatte die nach dem Tod seines Vaters neutral gewordenen Gebiete um die menschlichen Provinzen Echigo und Uzen in den vergangenen Jahren wieder in den Westen eingegliedert und war den Panthern damit praktisch vor den Hauseingang marschiert. Alle übrigen Grenzen kollidierten mit den Ōkami im Norden, dem Meer oder lagen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den zentralen Ebenen. Ein neutrales, eher friedliches Gebiet voller menschlicher Siedlungen, auf das zum Ärger des Ostens jedoch wieder Gebiete der Hunde folgten. Wollten diese mies gelaunten Großkatzen sich also mit anderen Völkern treffen, mussten sie schwimmen oder unweigerlich durch Feindesland marschieren, bevor sie in die neutralen Gebiete kamen, die das Reich Fürst Hayatos als weitläufiger Puffer umgaben. Bei der momentanen Laune des Inu no Taishōs wäre der Seeweg seiner unmittelbaren Reaktion in Folge einer Grenzmissachtung sicherlich vorzuziehen gewesen – was die Frage aufwarf, welchen Vorteil die Panther sich von den Kitsune wohl erhoffen mochten, dass sie seit Monaten einen derartigen Aufwand in diplomatische Beziehungen investierten. Hatte der Osten auf Gutdünken seinen Fürsten gebeten, einen Krieg gegen den Westen zu unterstützen oder waren sie über die Aktivitäten des Südens besser informiert als zu erhoffen war? Nein, ausgeschlossen. Die von Hayato-sama eingeweihten Personen waren allesamt vertrauenswürdig und an einer Hand abzuzählen. Nicht einmal dessen ältester Sohn und Erbe ahnte, dass sein Vater hinter verschlossenen Türen einen Weg suchte, den Westen in die Schranken zu weisen. Die Anfrage der Panther basierte also nur auf einer verzweifelnden Hoffnung. Zwischen den Fraktionen hatte es seit Jahrtausenden keine ernstzunehmende Auseinandersetzung feindlicher Art mehr gegeben und vermutlich hatte diese wohlwollende Haltung des Südens sie zu der Annahme verleitet, in den Kitsune einen möglichen Verbündeten zu finden. Bedauerlich für sie, dass sein Fürst einer offensiven Taktik derzeit nicht zustimmen würde. Die Pantherdämonen waren allein schon durch ihren Rachedurst dazu gezwungen, Karans Tod und Shunrans Entstellung angemessen zu beantworten. Würden sie einer Konfrontation aus dem Weg gehen, wäre es ein sicheres Anzeichen von Angst und Schwäche. Nun, sie hatten die Feuer geschürt, nun mussten sie eben dafür Sorge tragen, nicht völlig zerschlagen aus der Angelegenheit herauszukommen. Ihre Angst vor dem Westen war durchaus berechtigt, aber hätten sie nicht eher einen Gedanken daran verschwenden können, dass man besser keine schlafenden Hunde weckte, wenn man die passende Kette nicht zur Hand hatte? Offensichtlich nicht. Kōhei ließ erneut seinen Blick über die Absolventen schweifen, die er für einige Tage zur besseren Beurteilung mit in die südlichen Wälder genommen hatte. Sie waren jung, der Älteste kaum hundert Jahre alt, ungestüm, aufgebracht und dem trügerischen Gefühl verfallen, nach dem Abschluss nun der Welt der Erwachsenen anzugehören. Nach der Entscheidung für eine Karriere im Heer waren sie einst alle so gewesen und Kōhei erinnerte sich nur zu genau an jeden seiner Schüler. Viele von ihnen dienten bis heute unter seinem Befehl und er konnte dankend darauf verzichten, seine Männer für einen unüberlegten Osten ans Messer zu liefern. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde er wegen dieses aussichtslosen Ersuchens der Panther aber schon morgen wieder vor Hayato-sama auf den Knien herumrutschen und Ratschläge geben müssen, während Jirō und die anderen Stabsmitglieder sich um die naiv-übermütigen Neuzugänge kümmerten. In die Zwischenwelt mit diesen Katzen! Einer der Absolventen berichtete gerade über ein sehr wahrscheinlich erfundenes Ungeheuer, das in den Tiefen des nicht weit entfernten Biwa-Sees lebte und vorbeiziehende Wanderer mit seinen langen Tentakeln auf den Grund riss, um sie dort an seine nimmersatte Brut zu verfüttern. Ein anderer leerte währenddessen einen großen Eimer eiskalten Wassers über einer Gruppe Gleichaltriger aus, die kreischend aufsprangen, bevor eine der vielen Schlägereien losbrach, die die letzten Tage so amüsant gestaltet hatten. Jirō seufzte schwer, aber Kōhei hatte für dieses kindische Gebärden nur ein verschlagenes Lächeln übrig. Die Jungen benahmen sich, als handle es sich bei diesem Lager um eine reine Freizeiteinrichtung. Aber es waren nicht die ersten grünen Füchse, die der General unter seine Fittiche nahm. Es störte ihn in der Tat wenig, sie so unbekümmert zu sehen. Den meisten jungen Füchsen mangelte es an Ernsthaftigkeit und einem wirklichen Bezug zur harten Realität. Aber das war in einem gewissen Rahmen auch erwünscht und eingeplant, darüber hinaus nur allzu verständlich. Er selbst war immerhin auch nicht allwissend und abgebrüht auf die Welt gefallen und eine gewisse Ernsthaftigkeit würde sich in passenden Momenten schon einstellen – spätestens aber, wenn er sie etwas schärfer ansprach. Dennoch, einem Kitsune würden die verbitterte Grimmigkeit und die kalte Distanz anderer Völker immer fremd bleiben. Spitzzüngigkeit, Sticheleien und ein gewisser Hang zu derben Streichen waren gerade bei den Jungen ausgebildet, während die älteren Generationen meist einen Weg fanden, diese Züge in verdeckter Weise auszuspielen. Nur die allerwenigsten entwickelten mit der Zeit einen gewissen Zynismus oder Weltschmerz. Diese lebensfrohen Eigenschaften, die einem wahrlich ernsthaften, disziplinierten Volk wie etwa den Inuyōkai nur ein kaum merkliches Lächeln der Verachtung abringen konnten, waren für Kōhei ein Lichtblick – insbesondere da er sich nicht mehr sicher war, ob er sich nicht langsam in die Reihen der wenigen Bedauernswerten einfügte. Was Inu und Drachen jedoch nie verstanden hatten, war der Vorteil dieser Züge, die einem Kitsune mitnichten zu einem schlechteren Kämpfer machten. Ganz im Gegenteil: Wer mit Illusionen und Formwandlung arbeiten wollte, brauchte neben Können und Erfahrung auch Neugierde und Vorstellungsvermögen. Während Letztere gerade bei jungen Füchsen noch stark ausgeprägt waren, musste an Erfahrung gearbeitet werden. Wie sollte er einem Absolventen abverlangen die Form einer kniehohen Buddhastatue anzunehmen, wenn dieser so ein Objekt noch nie gesehen hatte? Für einen herausragenden Gestaltwandler, zu denen neben den Kitsune auch Tanuki und Katzenartige zählten, war über ein angeborenes Talent hinaus weitaus mehr essentiell: Kindliche Neugier, Gedankenfreiheit und Ehrgeiz im Angesicht der weltlichen Grausamkeiten zu erhalten und zeitgleich neue Eindrücke mit teils hartem Training zu verbinden. Ebenso wenig konnte er von ihnen erwarten, unter Druck und angespannter Atmosphäre diese Fähigkeiten frei auszuleben und das erforderte einen Erziehungsstil, den kein kriegerisches Volk jemals wirklich verstehen oder gar billigen würde. Er hatte genug von den Erziehungsvorstellungen einer Inuyōkai gesehen, um zu wissen, dass er sie abgrundtief verabscheute. Wenn er mit seinen Absolventen so umsprang wie sie mit Minoru, war praktisch ausgeschlossen, dass sie es auch nur fertig brachten die in der Akademie erlernten Techniken weiterhin anzuwenden. Er hätte Minoru niemals beibringen können, eine Illusion hervorzurufen – selbst wenn er ein vollwertiger Kitsune gewesen wäre. Dafür war das Kind einfach viel zu sehr von Hass zerfressen. Umso heller glimmte der kleine Funke von Stolz, den die Enttarnung Shunrans ausgefeilter Illusionen anfeuerte. Minoru hatte ihre erzeugte Realität so zielgenau als Lüge erkannt, dass er nicht einmal davor gescheut hatte, einen vermeintlichen Daiyōkai anzugreifen. Nur gut, dass bisher keiner die entscheidende Frage gestellt hatte, wie ein verdreckter, bissiger Hundewelpe die nötige Erfahrung sammeln konnte, die so eine Fähigkeit voraussetzte. Hunde hatten eben gute Nasen und das war offensichtlich Erklärung genug. Was seine Absolventen anbelangte, so tanzte derzeit keiner wirklich außerhalb der erwarteten Reihen oder bereitete ihm übermäßiges Kopfzerbrechen. Alle bis auf einen. Die smagradfarbenen Augen des Generals hefteten sich zum unzähligen Male auf den jungen Fuchs, den Jirō ihm vor einiger Zeit vorgestellt hatte. Shippō war nicht minder ausgelassen und übermütig als der Rest der Gemeinschaft, in Sachen Verwandlungskunst und Illusionen aber weit überlegen. Auch in körperlichen Auseinandersetzungen war er offenkundig erfahrener, weniger verschreckt und abgebrüht. Jirō hatte sich ebenfalls der Senke zugewandt und musterte wie sein General den jungen Fuchs, der in all dem Chaos, das mittlerweile im Lager ausgebrochen war, kaum herausstach. „Ich fürchte, ich werde dich um einen deiner Schüler berauben müssen, Jirō“, meinte Kōhei schließlich und sah zu dem hünenhaften Kitsune auf, der die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt hielt und zunächst nur zustimmend brummte. Dann nickte er. „Ich hatte es fast erwartet. Er ist bei mir nicht gut aufgehoben.“ Als Kōhei ihm einen strafenden Blick zuwarf, korrigierte er sich schnell. „Wegen Magie, meine ich.“ „Ja, du hast gut daran getan, ihn zu mir zu bringen. Ich denke, es ist lohnenswert ein wenig mehr in ihn zu investieren. Spätestens morgen früh wird der Fürst mich an den Hof rufen. Shippō wird mich begleiten, also sorge dafür, dass sie heute Nacht nicht wieder kilometerweit herumstreunen.“ „Sehr wohl“, beteuerte Jirō. „Nur ihn?“ Ein sanftes Lächeln umspielte Kōheis Mundwinkel. „Hayato-sama verlangt mir zurzeit zu viele andere Dienste ab. Ich kann mich nicht auf die Ausbildung aller konzentrieren, einen jedoch kann ich überall hin mitnehmen, solange er mithalten kann – und ich habe genug gesehen, um zu wissen, welchen von ihnen ich will.“ ☾ Kaito warf probeweise einen Stein über die hohen Steinmauern und vernahm nach beklemmender Stille den Aufprall des Geschosses auf der Wasserfläche des Sotobori mit einem gewissen Ingrimm. Verflucht tief. Vielleicht sogar zu tief zum Springen, wenn sie keinen Halt an den Mauern fanden. Er legte die Ohren für einen Moment missmutig an und starrte vernichtend das kolossale Hindernis hinauf, bis er sich umwandte und seiner Schwester angespannt in die Gassen der eng stehenden Häuser an der Mauer folgte. Kurz nachdem der Generalleutnant wegen irgendeines Boten zum Palast gerufen worden war, hatte Honoka das Haus verlassen und durchstreifte nun schon seit einer Weile den zweiten Wehrkreis. Kaito hatte seine Schwester mit Mühe davon abhalten können, sofort den Palast aufzusuchen, der auf einer Anhöhe neben dem schwindelerregend hohen, bedrohlichen Hauptturm in der Mittagssonne beinahe ein friedliches Bild dargeboten hatte. Von den angrenzenden Gärten war der Wind sanft herunter geweht und hatte den wohltuenden Geruch verschiedenster Frühlingsblumen herbeigetragen. Einladend, aber tödlich. Kaito hatte die vom Fürsten klar markierte Grenze in der vergangenen Nacht nur allzu deutlich wahrgenommen, als Ryouichi sie abgefangen und zu seinem Haus geleitet hatte. Sie waren im Palast nicht erwünscht und er wäre nicht so dumm, sich jemandem wie seinem Onkel auch nur mit einem Wort zu widersetzen, solange mehrere hundert Kilometer zwischen ihnen und ihren Eltern lagen. So waren die Geschwister der Allee, die sich wie eine blühende Schlange vom äußersten Wehrkreis bis vor den Vorplatz des Palastes zog, in die andere Richtung gefolgt und in dichter besiedelte Abschnitte der Festung gelangt. Die Häuser waren allesamt in sehr gutem Zustand, meist aus Holz und dezent mit Lack und Ornamenten verziert. Mit ihren Nachbarn schlossen sie oftmals große, von der Straße abgewandte Hinterhöfe ein, von denen hin und wieder ein Gesprächsfetzen oder metallisches Klirren zu vernehmen war. Ansonsten waren die Straßen leer. Nur die gewöhnlichen Hunde, die sich zwischen den Häusern ebenso streunend und herrenlos bewegten wie in manch menschlicher Siedlung, kreuzten in kleinen Gruppen ihren Weg, witterten kurz und zogen sich dann eilends und mit teils bedrohlichen Knurren zurück. Kaito fuhr sich mit einer Hand durch das offene Haar, das ihm wie ein sternenloser Nachthimmel über den Rücken fiel. Im Gegensatz zu Honoka hatte er sein Heimatdorf des Öfteren verlassen, um mit seinem Vater und dem Mönch Miroku in anderen Dörfern und Städten niedere Dämonen auszutreiben. Die Bauern waren meist dankbar und zahlten gut – was auf Mirokus Verhandlungsgeschick zurückzuführen war – und mit der Entlohnung eines Daimyōs ließ sich sogar noch deutlich länger auskommen, aber trotz der Hilfe waren die Menschen jedes Mal froh, wenn er und sein Vater dem Dorf den Rücken kehrten. Mensch und Yōkai in ganz Japan, so verschieden sie auch sein mochten, hatten eines gemeinsam: Ihre Abneigung gegenüber Han'yō. Kaito machte sich nichts vor. Dass die Straßen am Mittag so verwaist waren, lag einzig an ihrer Anwesenheit. Auch über die wenigen Yōkai, die selten genug zwischen den Gebäuden verkehrten, legte sich spätestens beim Anblick der ungewöhnlichen Ohren eine beinahe tastbare Anspannung. Doch während Kaito ob des aufwallenden Yōkis der meist bewaffneten und gerüsteten Männer jeden Moment mit einer Eskalation rechnete, wandten sich die Dämonen schlicht ab und gingen ihrer Wege. Dass nun aber auch die Hunde ein so ablehnendes Verhalten an den Tag legten, war ihm gänzlich neu. Wie er dieses Gefühl von Ausgrenzung verabscheute! „Für den Menschen zu viel, für die Yōkai zu wenig Dämon“, hatte sein Vater einst dazu gesagt und auf seine achtlose Art mit den Schultern gezuckt, als Kaito sich über die unfaire Behandlung beschwert hatte. „Keine Seite wird uns annehmen, Kaito. Das wird sich nie ändern. Aber wir haben unsere Freunde, unsere Familie. Alles andere ist unwichtig.“ Zuhause deutete niemand mit dem Finger auf sie. Ihre Mutter galt durch ihre Kinder streng genommen zwar nicht mehr als Miko, doch die unentbehrlichen Heilkünste und sakralen Fähigkeiten einer Priesterin, mit denen sie über das Dorf wachte, waren ihr geblieben. Ebenso fürchtete kein einziges Mitglied der kleinen Gemeinde die Anwesenheit der Han'yō oder die gelegentlichen Besuche eines vollwertigen und durchtriebenen Kitsune. Sobald sie aber ihre Siedlung verließen und auf Fremde trafen, begann der Spießrutenlauf. Sein Vater hatte dies in seiner Jugend selbst erlebt und doch schien es ihn heute kaum noch zu stören. Auch Kaito gab sich die größte Mühe, die Schmähungen abblitzen zu lassen, aber er hatte in seinen jungen Jahren zu viele gehört, um noch darüber hinwegsehen zu können. Seit geraumer Zeit hatte Kagome ihre liebe Mühe, ihren Ältesten zurechtweisen, wenn Fremde in das Dorf kamen und nachdem Kaito vor einigen Monaten einem Mann für eine Beleidigung, an die er sich lieber nicht einmal erinnern wollte, das Nasenbein gebrochen hatte, verbot sie ihm sogar, das Haus zu verlassen, sobald eine Gruppe Reisender anwesend war – da half auch nicht, dass sein Vater ihm den Rücken deckte. Keine Chance. Honoka ging mit dieser Angelegenheit ganz anders um. Die Aggressivität hatte sie von vorne herein ihrem Bruder überlassen und spielte böswillige Anfeindungen meist herunter. „Sie haben Angst“, hatte sie bemitleidet. „Wenn Dämonen dir nur Tod und Leid brächten, würdest du sie auch fürchten. Und für sie sind wir eben zum Teil Dämon. Sie wissen es nicht besser.“ Solche Äußerungen aus dem Mund seiner kleinen Schwester waren ihm schon vor einigen Jahren altklug und seltsam distanziert erschienen. Er hatte nicht glauben wollen, dass er das einzige Mitglied der Familie war, dem diese Ablehnung an den Nerven zerrte – und recht behalten. Honokas plötzliches Interesse für die Familien ihrer Eltern, der überstürzte Alleingang in den Westen zu einem so ungelegenen Zeitpunkt und all ihr Reden über Zugehörigkeit entsprang letztlich doch denselben Eindrücken, die bei ihrem Bruder Aggression und Widerwillen hervorriefen. Die Seite ihrer Mutter war ihnen völlig unzugänglich und so suchte Honoka Hoffnung in der aufkeimenden Vorstellung einer verbindenden Vergangenheit zwischen ihnen und einem der kriegerischsten Dämonengeschlechter des Landes – wenn man der Mundpropaganda glauben durfte. Mehr als diese Informationen besaßen sie nicht. Ihren Onkel hatten sie auch während seiner seltenen Besuche bei Rin kaum gesehen und während Kagome offen und freigiebig, ja fast nostalgisch von ihrer Familie berichtet hatte, war Inuyasha den Fragen seiner Tochter kontinuierlich ausgewichen. Er gab vor, sich dafür nicht zu interessieren, aber Kaito war schnell aufgefallen, dass sich sein Vater in Wahrheit vor diesem Thema scheute – und eigentlich keine Ahnung hatte. Zwischen ihm und seinem Bruder herrschte eine neue, ganz private 'Eiszeit', wie seine Mutter zu sagen pflegte. Der junge Han'yō atmete tief ein, bis sich der dunkelblaue Stoff seines Yukata an seiner Brust spannte und schloss für einen Moment die Augen, als er an seine Eltern dachte. Es passte nicht zu seiner Schwester, sich von Leichtsinn und Gedankenlosigkeit leiten zu lassen und dennoch hatte sie sich ganz allein auf den Weg nach Westen gemacht, um einen Daiyōkai zu treffen, der wissentlich im Disput zu ihrem Vater stand; hatte in Kauf genommen, ja, vielleicht sogar ausgenutzt, dass ihre Eltern ihnen durch die bevorstehende Niederkunft ihrer Mutter nicht ohne Weiteres folgen konnten und nun sicherlich krank vor Sorge waren. Kaito verfluchte sich mit jedem Tag, der fernab der Heimat verging, ein wenig mehr. Es wäre an ihm gewesen, seine Schwester zurück nach Hause zu bringen. Geschlagene anderthalb Tage hatte er gebraucht, um sie in den Wäldern einzuholen und hatte beabsichtigt, sie für ihr unerklärliches Verschwinden scharf zur Rede zu stellen, bevor er sie am Kragen nach Hause zöge. Als er sie jedoch weinend unter verwachsenen Baumwurzeln vorgefunden hatte, war ihm die Wut im Hals stecken geblieben. Seine Schwester weinte nicht. Niemals. Sie war stets gefasst, freundlich und manchmal ein wenig zu stürmisch, aber wirklich traurig hatte er sie zum letzten Mal vor vielen Jahren gesehen. Bis heute wusste er weder warum sie weinend unter die Baumwurzel geflüchtet war noch welches Ereignis sie zu dieser überhasteten Reise getrieben hatte, und er war es überdrüssig danach zu fragen. Sie hatte sich vehement geweigert über eine vorzeitige Heimkehr auch nur zu diskutieren. Sie wollte westwärts, um jeden Preis diese Festung aufsuchen. Was hätte er erwidern sollen, als sie dieselbe ungerechte Behandlung beweinte, die er seit Jahren verurteilte? Die Eintracht ihrer Ansichten endete allerdings genau an diesem Punkt und Kaito bereute mittlerweile nichts mehr als ihr in dem Augenblick nachgegeben zu haben. Auch als sie sich wieder gefasst hatte, war sie für seine Zweifel auf beiden Ohren taub gewesen. Er hatte versucht ihr klarzumachen, wie wenig sie von den Yōkai zu erwarten hatten – wenngleich er dabei deutlich schonender gewesen war als dieser taktlose Köter, dessen Worte für Honoka offensichtlich deutlich mehr ins Gewicht fielen als die Bedenken ihres eigenen Bruders, der seit Tagen genau die Interessenlosigkeit der Dämonen predigte, die Minoru so unverfroren selbst offenbart hatte. Aber dieselben Worte aus dem Mund eines vollwertigen Dämons – und sei er auch noch so klein – hatten für Honoka offensichtlich mehr Wert. „Kaito-sama, solltet Ihr nicht im Haus bleiben?“ Kaito fuhr erschrocken zusammen und drehte sich gereizt um. Als er in fliederfarbene Augen blickte, hielt er verdutzt inne. Wie hatte sie es geschafft, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen? „Chichi-ue hat mir aufgetragen Euch zum Mittagessen zu bringen“, erklärte sie. „Er hat jedoch nichts davon gesagt, dass Ihr im Ort herumstreift.“ „Ja, so etwas in der Art hatte er erwähnt“, gab Kaito tonlos zurück, bevor seine Schwester sich dazu verleiten ließ, eine fadenscheinige Ausrede zu suchen. Auch Honoka starrte Kanae an und wusste nicht recht, wie sie auf diese sonderbare Anrede reagieren sollte. Die jedoch musterte die beiden Han'yō von Kopf bis Fuß und schüttelte schließlich den Kopf. „Dann solltet Ihr Euch beeilen, bevor er Euch suchen muss. Er hat Wichtigeres zu erledigen.“ Damit ging sie in Richtung der Allee davon. Die Geschwister sahen ihr eine ganze Zeit nur ungläubig nach, als sie sich jedoch noch einmal umdrehte und ihnen einen warnenden Blick zuwarf, folgte Honoka ihr bereitwillig. Kaito blieb noch einen Moment stehen, dann heftete er sich an die Fersen seiner Schwester und versuchte zu verarbeiten, dass diese Kanae in der Lage gewesen war, sich ihm unbemerkt zu nähern – dabei war sie sicherlich noch jünger als Honoka! Bald darauf traten sie erneut zwischen die Blütenmeere der Allee; Kanae vorweg. Die Blüten fielen bereits in einzelnen Blättern zu Boden und übersäten den gepflasterten Weg in einem weiß-rosafarbenen Teppich. „Sie sind so wunderschön“, Honoka strich sich eine Strähne ihrer mausgrauen Haare zurück über die Schulter. „Ich wünschte, wir hätten so wunderschöne Bäume in der Nähe unseres Dorfes. Dann könnten wir zur Blüte Hanami feiern wie Okaa-san früher.“ „Sie passen nicht hierher“, antwortete Kaito schlicht und wandte sich von den Bäumen der Allee ab. Seine Schwester verblieb nachdenklich, pflückte behutsam eine der weiß-rosafarbenen Blüten von einem niedrig hängenden Ast und bettete das Gebilde sorgsam auf ihrer Handfläche. Ohne Druckstellen oder Risse, mit gleichmäßig kräftiger Farbgebung. Vollkommene Schönheit. „Ebenso wenig wie wir“, fügte ihr Bruder verbissen hinzu, obwohl er den Gedanken gerade in Anwesenheit eines Yōkais für sich hatte behalten wollen. Solche Anmerkungen fielen bei Honoka ohnehin nicht auf fruchtbaren Boden, doch Kanae hatte angehalten und taxierte die Geschwister einige Sekunden lang, als wolle sie mehr betrachten als es zu sehen gab. Kaito legte kommentarlos die Ohren an und stapfte ihr nach, während Honoka zu Kanae aufschloss und die Unterhaltung suchte. Wäre ihm nicht so unwohl bei dieser Unternehmung gewesen, Kaito hätte selbst jeden Winkel dieser Festung erkunden wollen. Ja, auch jetzt verlangte sie ihm ein gewisses Maß an Respekt und Erstaunen ab. Doch die Eindrücke schwanden in Unbedeutsamkeit angesichts der Gefahr, die er überall wahrzunehmen dachte und die sich exponentiell zu steigern drohte, als Kanae nicht den Weg zu ihrem Haus Einschlug, sondern der Allee um eine weitere Treppe hinauf in die tiefer gelegenen Bereiche des Honmaru folgte, dessen größter Teil vom Palast mit seinen weiträumigen Gärten und anliegenden Gebäuden eingenommen wurde. Bereits diese Anlage übertraf die Ausdehnungen ihres Heimatdorfes an Fläche – von Pracht ganz zu schweigen. Kaito schluckte mit aller Macht das beklemmende Gefühl herunter, das sich in seiner Kehle eingenistet hatte wie eine blutsaugende, dicke Zecke. Auch wenn er deutlich mehr von der Welt gesehen hatte als seine Schwester, so reichte doch keines der besuchten Dörfer oder Burgen auch nur im Ansatz an die Ausmaße dieses westlichen Herrschaftssitzes heran, der sich mit seinem nördlichen Rücken Schutz suchend an die dahinter liegende Felswand schmiegte – und keine Beschreibung wäre hinreichend gewesen, um die Besorgnis und angespannte Haltung des jungen Han'yōs wiederzugeben, als er begriff, dass Kanae sie nicht etwa zum Essen in ihr Haus, sondern in den Palast bringen wollte. Er wollte Honoka gerade am Arm packen und zurückziehen, als ihm ein sanfter, vertrauter Geruch von Mensch entgegenschlug. „Ich weiß nicht, ob ich das so frei sagen darf, aber zur Zeit weiß ich einfach nicht, ob ich euch junge Leute vor Freude drücken oder lieber schallend ohrfeigen soll, wenn ich euch sehe.“ „Rin!“ Honoka lief ihr augenblicklich entgegen und warf sich mit einer solchen Wucht an die junge Frau, dass dieser gar nichts anderes übrig blieb, als die Arme um das Mädchen zu schließen und einige Schritte nach hinten zu stolpern. Kaito hatte immer befürchtet, dass sie unter all den Dämonen noch weniger akzeptiert werden würde als er außerhalb seines Freundeskreises, dass sie unglücklich darüber werden müsse und ihre frohe Ausstrahlung unter all dem leide. Aber nichts davon war der Fall. Sie strahlte ebenso hell wie ihr leuchtend gelber Kimono, der mit feinen Blüten bestickt war. In ihrem dunkelbraunen, beinahe schwarzen Haar hing etwas wirr ein wenig Stroh, das sie beiläufig aus den Strähnen zupfte und vor dem Stall zu Boden gleiten ließ. Kein Unglück, keine Trauer, sondern eher eine gewisse, einfache Erhabenheit, die er ihr in dieser Situation niemals zugestanden hätte. „Du starrst mich an, als hättest du einen Geist gesehen, Kaito“, schalt sie ihn fast scherzhaft. „Hattest du erwartet, man würde mich fressen?“ „Etwas in der Richtung“, gestand er murmelnd. Rin fasste Honoka derweil an den Schultern und schob sie etwas von sich. „Du wirst mir das erklären müssen, Honoka. Ich will dich nicht ausschimpfen, aber wenn eure Eltern wütend werden, ist es besser, dass einer weiß, was dich zu diesem Unsinn getrieben hat.“ Honoka warf einen Blick zu Kaito, klappte den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. „Oh, ich kann mir auch so denken, warum er hier ist“, merkte Rin an und strich ihr über das feine Haar. „Aber nun sollten wir essen und ausruhen. Der Rückweg wird lang genug.“ „Du begleitest uns?“, fragte Kaito erstaunt, im Grunde viel erleichterter darüber, dass es einen Ausweg aus diesen Mauern geben könnte. „Ihr könnt von Glück sprechen, dass ihr überhaupt angekommen seid. Da werden wir euch doch nicht ohne Schutz zurück nach Hause schicken“, entgegnete sie tadelnd und gab Honoka wieder frei, um sie sanft in Richtung des Palastes zu schubsen. „Du sollst auf uns aufpassen?“ Kaito klang nicht sonderlich überzeugt. Rin war alles andere als wehrlos, wie er oft genug gesehen hatte, aber sie war eben auch keine erfahrene Dämonenjägerin wie Sango. „Aber nein. Das ist genauso lächerlich wie du denkst“, ihr Lächeln nahm beinahe süffisante Züge an. „Sesshōmaru-sama würde mich doch nicht allein gehen lassen.“ „Meinst du das ernst?“ Honoka sah Rin ganz aufgeregt an. „Du willst mir nicht erzählen, dass er sich dazu herablässt, mit uns durch die Landschaft zu ziehen.“ Kaito wollte gerade verstimmt die Arme vor der Brust verschränken, als Rins Lächeln mit einem Mal verschwand. „Er lässt sich sogar dazu herab, sich mit den Angelegenheiten undankbarer Kinder herumzuschlagen.“ Der junge Han'yō ließ die Arme lieber sinken und starrte ausweichend Löcher in die harten, gleichförmigen Pflastersteine des Vorplatzes. Rin hatte zu viel Zeit mit seiner Mutter verbracht und konnte schnell ähnlich unangenehme Züge annehmen, wenn man nur die falschen Grenzen zu übertreten drohte. Kaito hätte es besser wissen müssen, als vor ihr diesen speziellen Daiyōkai eine gewisse Form der Arroganz andichten zu wollen. „Entschuldige Rin. Ich bin zur Zeit unausstehlich.“ Die junge Frau betrachtete ihn mit einem Anflug von Mitleid. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sich außerhalb der Heimat nicht wohl fühlte und die Reise seine Nerven sicher ordentlich strapaziert hatte. Im Gegensatz zu einem gewissen anderen Junghund hatte Kaito nämlich schon in früher Kindheit an die Besorgnis seiner Eltern gedacht – und sie musste nicht viel raten, um zu ahnen, dass zumindest Inuyasha ihn vor Sesshōmaru gewarnt hatte. In gewisser Weise nicht zu Unrecht nach allem, was geschehen war. Außerdem konnte der Fürst nicht behaupten, sich je um seine nächste Verwandtschaft geschert zu haben. Dass dieser neuerliche Umstand Kaito nun einiges Kopfzerbrechen bereitete, war da nur zu verständlich. Er sollte nur nicht auf die Idee kommen, solche Kommentare in Hörweite seines Onkels von sich zu geben, bevor dieser seine Entscheidung nochmals abzuwägen gedachte. Es würde sich schon schwer genug gestalten, Kaito und Minoru für einige Tage in friedlicher Balance zu halten. Mit einer seltsamen Art von Faszination betrachtete der Herr des Westens den jungen Inuyōkai, der zwischen all den Karten, Reinigungsutensilien und tödlichen Schwertern von den Strapazen der vergangenen Nacht eingeholt worden war und so friedlich schlief, als läge sein Kopf auf einem weichen Kissen und nicht auf dem harten Lack eines niedrigen Holztisches. Seit einer Weile schon ruhten die goldenen Augen des Fürsten auf seinem Sohn. Die auf dickes Papier gezeichneten und teils sehr komplexen Karten hatten für Minoru zunächst wie erwartet unergründliche Fremdkörper dargestellt. Er hatte einige Zeit und beschriftete Exemplare benötigt, um ein Verständnis für die Materie aufzubringen und schließlich begonnen, mit Pinsel und Tusche Anmerkungen auf Bastpapier zu notieren, während der Fürst in schweigender Sorgsamkeit seine Waffen gepflegt hatte. Sesshōmaru ließ eine Kralle auf eines der Schriftstücke niederfahren, die um Minoru verteilt lagen, zog es vorsichtig zu sich und hob kaum merklich eine Braue, als er den Inhalt überflog. Er hatte eine Routenplanung erwartet, vielleicht Auflistungen benötigter Materialien, aber nichts dergleichen war darauf zu finden. Stattdessen schienen sie einzig als Gedankenstützen zur Erläuterung des Weges anhand dieser Karte zu dienen. Der Taishō sah den Jungen einen Moment nachdenklich an. Minoru notierte nur, um ihm die Route darlegen zu können, wie er es gewünscht hatte. Den eigentlichen Weg hatte der Junge längst im Geiste verinnerlicht. Erstaunlich, aber in Anbetracht seiner vorherigen Lebensweise nur zu verständlich. Vielleicht hatte Minoru mit seiner nicht ausgesprochenen Anklage recht und er unterschätzte ihn tatsächlich bis zu einem gewissen Grad. Viel bedauerlicher war allerdings, dass er sich selbst den Vorteilen seiner Eigenarten kaum bewusst sein dürfte. Entgegen seiner sehr praktischen und auf Erfahrungen basierenden Veranlagungen war seine Handschrift der Inbegriff stilistischer Perfektion. Keine Tuscheflecken, sichere, gradlinige Pinselführung und nicht ein einziger Fehler. Seine Schrift war so linientreu, gleichmäßig und makellos, dass sie als Lehrbild geeignet gewesen wäre. Die des Fürsten selbst hatte über die Jahre beunruhigende Ähnlichkeit mit seiner Schwertführung angenommen. Schnell, präzise und mit teils flüssigen Übergängen und Ausläufen. Was hier allerdings vor ihm lag wirkte nicht wie die Notizen eines Kindes. Eine solche Schrift erforderte nicht nur jahrelange Übung, sondern auch einen tiefen Willen zur Perfektion, den sich der Fürst bei seinem Sohn bisher nicht hatte vorstellen können – und auch weiterhin anzweifelte. Kinder wollten nicht perfekt schreiben. Hier hatte jemand erfolgreich nachgeholfen. Er warf abermals einen Blick auf den Inhalt. Bereits kurz hinter Grenze des Westens nahm die Zahl der Anmerkungen pro Streckenabschnitt mit einem Schlag rapide ab. Bekanntes Gelände. Er war so nah an seiner Heimat gewesen, dass er praktisch nur zwei Tagesmärsche von der Festung entfernt durch die Wälder gestreift war. Sesshōmaru konnte den anschwellenden Unmut nicht unterdrücken, der seinen Schlund empor kroch wie eine giftige, warme Schlange. Wäre er nicht der Meinung gewesen, als vermeintlicher Mischling unerwünscht zu sein, hätte Minoru mit Sicherheit den Westen betreten – und wäre von den Patrouillen möglicherweise schon Jahre zuvor entdeckt worden. Als hastige Schritte auf dem Flur zu vernehmen waren, unterdrückte der Taishō den aufkeimenden Rachegedanken und breitete gerade rechtzeitig seine Aura als Zeichen aufmerksamer und dominierender Präsenz im Raum aus, bevor die Wache mit fester Stimme um Einlass bat. Minoru schreckte dennoch knurrend aus dem Schlaf auf und war augenblicklich auf den Beinen. Die Wache wich ob des warnend aufwallenden Yōkis des Jungen ein Stück von der mit Papier bespannten Schiebetür zurück. „Setz dich hin“, befahl der Fürst trocken. Minoru gehorchte widerstandslos und murmelte eine leise Entschuldigung, während er sich darüber bewusst wurde, dass er vor dem Taishō eingeschlafen sein musste. Sesshōmaru ließ einige Momente verstreichen und gewährte der Wache erst Zutritt, als Minoru zumindest augenscheinlich zur Ruhe gefunden hatte. Absehbares Verhalten. Wie ein schreckhafter Hund, der sich erst daran gewöhnen musste, dass jemand anderes den Schutz von Haus, Hof und nicht zuletzt seiner Person übernommen hatte. Minoru war unterdessen damit beschäftigt, das unbehagliche Gefühl zu ignorieren, dass jemand hinter ihm stand und wandte sich schließlich doch halb zur Wache um, die unter ihrer dunkelgrünen, gepanzerten Uniform ihre Schultern straffte und den Kopf vor beiden senkte. „Der Chūyō ersucht Euch um Audienz, Taishō. Er ließ wissen, dass es dringlich sei.“ Sesshōmaru erhob sich und warf Minoru einen kurzen Blick zu, während er Bakusaiga zwischen die Lagen seines Obis gleiten ließ. „Du kannst hierbleiben, solange du nichts anrührst.“ „Seid Ihr sicher, dass Ihr das wollt?“, fragte Minoru vorsichtig und nickte nur schnell, als er sich damit einen warnenden Blick einhandelte. „Bereiten Euch die Welpen Schwierigkeiten, Chūyō?“ Ryouichi warf einen Blick über die Schulter und versuchte diese ungewöhnlich schnippische Frage und die üblich ernste Miene des Mannes hinter sich zu deuten. Er wusste nur zu gut, wie gefährlich es werden konnte, wenn Sesshōmaru den Präferenzbereich emotionaler Distanziertheit verließ. Da war man mit erhöhter Vorsicht wohlwollend beraten, doch der dunkelhaarige Inu mit seinen sonderbar gelben Augen hätte seinen Posten vermutlich nicht allzu lange bewahren können, wenn er nicht auch in diesen Augenblicken angemessen zu reagieren wusste. Außerdem schien der Fürst im Vergleich zum Vorabend beinahe guter Laune zu sein. „Nein, Herr“, antwortete er schließlich. „Sie haben Baldrian sei Dank friedlich geschlafen und eine leichte Verletzung des Mädchens verheilt bereits gut. Sie ist ein dankbares und anständiges Kind. Er für meinen Geschmack ein wenig vorlaut, den Umständen entsprechend misstrauisch und entgegen seinem Alter erstaunlich selbstsicher, aber klug genug, sich nicht zu weit vorzuwagen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie uns hier größeren Ärger bescheren. Nein, mit zwei Kindern werde ich gerade noch selbst fertig. Das hier bereitet mir deutlich mehr Kopfschmerzen.“ Er reichte Sesshōmaru ein zusammengefaltetes Stück Papier, dessen Verfasser bereits auf den ersten Blick offenkundig war. Akio, einer seiner Ratsmitglieder, der verbissen genug war, weit im östlichen Grenzbereich seines Landes zu siedeln, schrieb in einem unverkennbar gleichmäßigen und sehr knappen Stakkato. „Panther nahe der Ostfront. Bisher viele Spähtrupps, insgesamt vielleicht einige hundert. Keine nennenswerten Befehlshaber. Mit Eindringen in den Westen ist zu rechnen. Erbitte schnellstmögliche Anweisung. Hochachtungsvoll Akio.“ „Damit geht unsere kurze Ruhephase wohl dahin“, meinte Ryouichi schließlich, als der Fürst den Brief schweigend wieder zusammenfaltete und ihn nachdenklich betrachtete. „Absehbar“, gab er nach einer Weile zurück. „Natürlich. Sie haben ihre Wunden allerdings länger geleckt als ich erwartet hatte. Dass sie sich so lange still verhalten haben, gefällt mir nicht. Toran ist keine unüberlegte Närrin. Mit ihren Panthern allein stehen sie auf verlorenem Posten. Entweder sie bluffen zu einem bestimmten Zweck oder besitzen namenhafte Unterstützung.“ Ryouichi, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, tippte beharrlich mit der Kralle auf seinem Oberarm herum und lehnte sich mit der Schulter ein wenig an einen der hölzernen Pfeiler, der das Überdach der schmalen Terrasse trug, auf der sie standen. Dunkles, wetterfestes Mahagoni - eine Haltung, die nicht jeder in dieser Situation einzunehmen wagte. „Diese verfluchten Biester haben noch nie ehrlich gekämpft. Wir sollten in Erfahrung bringen, wer sie unterstützt. Je geringer ihre Hilfe, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie Aufmarsch und Angriff nur fingieren, um hinterrücks in einen ungeschützten Palast einzufallen. Minoru ist zu verlockend – selbst wenn er Shunran nicht verunstaltet hätte, wäre er das.“ Sesshōmaru musterte Ryouichi eine Weile, dann nickte er knapp und steckte Akios Nachricht in seinen Obi. „Wahr. Deswegen werdet Ihr ihn und die Han'yō meines Bruders fortbringen.“ Ryouichis gelbe Augen ruhten auf den fallenden Blüten eines Kirschbaumes, während seine Gedanken die möglichen Listen des Panther-Clans durchspielten. „Fort ja. Das ist sicher, wenn – wartet, ich?“ Er sah den Fürsten an, als habe er nicht richtig gehört. „Ich soll sie in Sicherheit bringen?“ „Die Panther beweisen gutes Zeitgefühl. Geleitet die Kinder nach Musashi. Ich hole Euch, wenn sich die Lage beruhigt hat.“ Ryouichi brauchte eine Weile, um die Tragweite zu begreifen und kam nicht umhin, den Taishō verdutzt anzustarren. Er hatte bereits damit gerechnet, dass Sesshōmaru trotz allen Zwistes einen Streit mit seinem Bruder vermeiden wollen würde, um die Zahl der Feinde so niedrig wie möglich zu halten. Da lag es nur nahe, die Ausreißer sicher der Gnade ihrer Eltern auszuhändigen. Minoru nun mit ihnen zu schicken war ebenfalls logisch, wenn er unangenehme Überfälle vermeiden wollte. Sollten sie doch eine bis an die Zähne bewaffnete Festung angreifen, wenn das, was sie wollten, hunderte Kilometer entfernt in Sicherheit war – und Ryouichi zweifelte keinen Moment daran, dass alle Augen hier auf Minoru gerichtet waren. Selbst wenn keiner der Gegner davon ausging, dass Folter oder Mord an seinem Sohn den Herrn der Hunde emotional berührten, so setzten sie doch auf dessen verletzbare Ehre und seinen Stolz. Außerdem war da etwas in seiner Miene, in seinem gesamten Ausdruck, das er von früher nur zu gut kannte. Diese neuen Informationen hatten ihn ein bereits gefasstes Vorhaben umplanen lassen. Da Katzen jeder Art nicht für ihre Vergebung bekannt waren, hatte der Chūyō seine Männer schon seit Monaten auf diesen und andere Fälle eingeschworen, die mit einem jungen Erben in die Grenzen des Möglichen rückten. In Anbetracht dieser laufenden Vorbereitungen und dem vorabendlichen Fiasko war ausgeschlossen, dass Sesshōmaru von vorn herein in Betracht gezogen hatte, ihn mit der Eskorte zu betrauen. „Was gedenkt Ihr zu tun?“, fragte er aufmerksam und lehnte immer noch gelassen an dem Pfosten. Die Antwort war jedoch nur ein schweigsamer, vielsagender Blick; völlig ausreichend für den Generalleutnant. Er richtete sich auf, straffte die Schultern und fixierte seinen Herrn fest. „Nein.“ Sesshōmaru zog eine Braue hoch und musterte ihn ruhig. „Nein?“, fragte er neugierig, aber gleichwohl so bedrohlich, dass es sicher klüger gewesen wäre, sich hinter dem nächst schützenden Objekt zu verschanzen – wenn man nicht gerade Ryouichi war. „Nein“, versicherte dieser abermals. „Mit Verlaub, mein Herr, aber ich bin Heerführer, nicht die Leibgarde Eures Sohnes. Ihr solltet an seiner Seite sein – Ihr, der Ihr ihn zu kontrollieren vermögt. Ich behaupte eine gewisse Kenntnis in Sachen Charakter zu besitzen und ich bin nicht besonders erpicht darauf, diesen Han'yō-Jungen und Minoru zeitgleich zu eskortieren. Euer Sohn mag augenscheinlich über dieselbe Distanz verfügen, die auch Ihr besitzt, aber ihm fehlt Eure Sicherheit und Ruhe. Mit den explosiven Kapazitäten komme ich nicht zurecht. Lasst mich für Euch dieses Panther-Heer vernichten und ich werde Euch ebenso wenig enttäuschen wie stets. Bei diesem jungen Daiyōkai ohne Maß gebe ich darauf keine Versicherung. Er braucht Euch. Jemanden der ihn zurückzuhalten weiß.“ „Ihr werdet tun, was Euch aufgetragen wird, Chūyō“, mahnte der Fürst scharf, aber Ryouichi schüttelte so überzeugt den Kopf, dass Außenstehende ihm sicher Suizidvorhaben unterstellt hätten. Der schwarzhaarige Inu jedoch wusste, wie weit er bei diesem Daiyōkai gehen konnte. Er kannte ihn zu lange, zu genau und sicherlich anders als selbst Rin es behaupten konnte. „Ihr wisst, dass ich recht habe“, meinte er schließlich ruhig. „Mit diesem Herumgetanze an Euren Grenzen komme ich zurecht. Gebt mir freie Hand, dann korrespondiere ich mit Akio und bringe die unangenehme Angelegenheit zu einem schnellen Ende, sobald auch nur eine Kralle dieses schnurrenden Packs westlichen Boden berührt.“ Ryouichi musterte seine zerkratzten Hände und krümmte die dunklen Klauen für einen kurzen Moment. Seine Stimme war mit einem Mal leise geworden. Kaum mehr als ein Flüstern. Das Lächeln, das für einen Moment über seine Lippen huschte spiegelte den leichten Anflug von Wahnsinn wider, der sich über seine schwefelgelben Augen gelegt hatte. „Warum hast du Baldrian im Haus?“ Ryouichis spitze Ohren zuckten für einen Moment – das einzige, undeutliche Signal von Überraschung, das er nicht zu unterdrücken vermochte. Die letzte vertrauliche Ansprache des Taishōs lag Jahrhunderte zurück. So unbegreiflich verblassend weit entfernt wie viele Erinnerungen einer zurückliegenden Jugend. „Für Kanae“, antwortete der Generalleutnant nach einiger Stille. „Wenn sie nicht schlafen kann. Es hilft wahre Wunder bei den Kleinen – leider nur bei ihnen.“ „Du leidest unter Schlafproblemen“, folgerte der Fürst hart und sah ihm direkt in die nun wieder friedlich scheinenden Augen. „Ich fürchte, ich schlafe nicht mehr als Ihr“, antwortete dieser steif. „Ryouichi.“ Die Stimme des westlichen Herrn nahm einen warnenden Unterton an. „Nein, mein Fürst, ich schlafe sehr gut“, erwiderte der Generalleutnant nun vollständiger. „Gut.“ Sesshōmaru legte eine Hand an Bakusaiga und ließ sie über den Griff wandern. „Unaufmerksamkeit und Schwäche sind inakzeptabel.“ „Ich werde Euch nicht enttäuschen“, sagte Ryouichi, legte die Hand ebenfalls auf den Griff seiner Waffe und verneigte sich für einen kurzen Augenblick ungewöhnlich tief. Er hatte den Wink durchaus verstanden. Sesshōmaru betrachtete seinen einstmaligen Trainingspartner mit einem stillen Anflug von Unbehagen. Diese Szenerie kannte er nur zu gut und er hasste sie mehr als die meisten unglückseligen Momente in seinem Leben. „Daisuke“, der Name kam ihm schwer über die Lippen und als Ryouichi auf der Stelle in eine Art Starre verfiel und nur sehr zögerlich den Kopf hob, um den Taishō anzusehen, wusste er, dass es für ihn nach all den Jahren genauso fremd klang. „...Ja?“ „Übertreib es nicht.“ „Was nötig ist. Nur das. Versprochen. Den Rest überlasse ich dir“, gab der Chūyō mit einem traurigen Lächeln zurück und beantwortete damit eine Frage, die seit Jahrhunderten zwischen ihnen lag und die keiner von beiden je offen gestellt oder beantwortet hätte: Entgegen aller Widrigkeiten, trotz der Veränderungen und Distanzen und wider allen Grauens, das er einst erduldet hatte, würde Ryouichi nicht eine Sekunde zögern, sein Leben für ihn zu geben. Abermals und endgültig. Kapitel 25: bis ins Heute trägt. -------------------------------- Wie eine ernstzunehmende Drohung hingen die grauen Wolken tief über den gebirgigen Waldabschnitten, die sie nun seit Tagen durchstreiften und doch fiel nie auch nur ein einzelner Tropfen auf den frühlingskalten Boden. Kaito hielt sich in dem Tross möglichst schützend an der Seite seiner kleinen Schwester – auch wenn dies bedeutete seinem Onkel unbehaglich nah sein zu müssen. Honoka hatte mittlerweile aufgegeben, ihrem Bruder dieses Verhalten zu untersagen und unterhielt sich mit Rin über die kleinen und größeren Ereignisse im Dorf, als sei jede mögliche Gefahr - und in erster Linie Kaito - nichts als reinste, klare Luft. Im Grunde tat das jeder hier. Allen voran der Fürst, der seiner nicht einmal halbblütigen Verwandtschaft beim Aufbruch in frühsten Morgenstunden lediglich einen kalten Blick zugeworfen hatte und seitdem noch schweigsamer gewesen war als sein arroganter Sohn, der sich in den letzten Tagen nur alle paar Stunden bei der Gruppe hatte sehen lassen. Die übrige Zeit war er als ein mittlerweile nicht mehr ganz weißer Hund umhergestreunt; mal knapp hinter ihnen, oftmals jedoch die Reisenden flankierend und zwischen all dem jungen, sprießenden Grün nur als heller Schimmer zu erkennen. Erst gegen Abend, kurz bevor sie rasteten, war Minoru stets zu den Übrigen zurückgekehrt und hatte sich in einigem Abstand am kühlen Boden zusammengerollt. Nachdem sie jedoch am Mittag die Westgrenzen hinter sich gelassen hatten und nun schon seit einiger Zeit in die weiträumigen Ebenen abstiegen, die ganz im Osten auf den Pazifik trafen, hatte er sich der Gruppe unerwartet angeschlossen, wenngleich er sich immer noch deutlich am Rand der unfreiwilligen Gemeinschaft aufhielt und mit keinem das Gespräch suchte. Im Gegensatz zur schlichten Kleidung, die er bei ihrem ersten Treffen im Wald getragen hatte, gab der auffallende Kimono, schneeweiß mit dunkelrotem Ärmelsaum und fein gezeichnetem Rankenmuster der rechten Schulter, deutlich mehr Aufschluss über seine gehobene Stellung. Der dunkelbraune Obi, mit roten Einflüssen verziert, war jedoch um einiges zu lang und Minoru hatte ihn mehrfach um die Hüfte binden müssen, um den Stoff zu bändigen. Der Junge war im Allgemeinen etwas zu klein und schmächtig geraten und wirkte vor allem in der Nähe seines eindrucksvollen, hochgewachsenen Vaters eher wie ein Kind als ein Jugendlicher, der kaum viel jünger sein konnte als Kaito selbst es war. Das alles war ihm zwar schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen, aber mit dem Wissen, dass dieser Wicht der Sohn seines weithin gefürchteten Onkels sein sollte, wurden diese Erkenntnisse aberwitzig. Kaito war selbst schlank, aber gut einen halben Kopf größer als sein Vetter und im Gegensatz zu ihm den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gewohnt. Inuyasha hatte Wert darauf gelegt, dass seine Kinder nicht unerfahren und schutzlos in der Welt herumirrten, wie er es einst getan hatte, und brachte dabei eine für ihn ungewöhnliche Form von Geduld auf, von der Honoka allerdings eher profitierte als ihr Bruder, der seinen Vater des Öfteren wutschnaubend und schreiend erlebt hatte. Zum Glück hielten so anstrengende Gemütszustände, in denen er entweder so gut wie gar nichts sagte oder nur bissige Antworten gab, kaum lange an und endeten spätestens mit einem mahnenden Blick ihrer Mutter sehr abrupt. Diese Unart, die ihr Vater bei schlechter Laune entwickelte, schien jedoch beim Rest der Familie ein unangenehmer Dauerzustand zu sein. Während Rin und Honoka sich unbeschwert unterhielten oder gleichsam mit klarer Stimme alte Lieder sagen, sagte keiner der beiden Yōkai auch nur ein Wort oder tat etwas anderes als stur einem Weg zu folgen, den nur sie kannten, der aber zugegebener Weise deutlich angenehmer war als der, den Kaito und Honoka in den Westen genommen hatten. Kaito strich zum wiederholten Male mit der flachen Hand über die hölzerne Schwertscheide seines Wakizashis. Der Chūyō hatte ihn zwar mit einem fragwürdigen Lächeln darauf hingewiesen, dass er in Zukunft besser auf sein Schwert achten solle, es ihm aber vor dem Aufbruch aus dem Palast unbeschadet wieder ausgehändigt. Der Spinner hielt sich vermutlich auch noch für einen amüsanten Zeitgenossen. Minoru hingegen trug ein deutlich längeres, aber ebenso einfaches Katana an seiner Seite, und auch Honoka hatte man nicht wehrlos auf die Reise geschickt. Über ihrer Schulter hingen ein neuer Kurzbogen aus Ulmenholz und ein dunkler, mit Urushi lackierter Bambusköcher voller Pfeile. Auch Kaito hatte von seiner Mutter einiges im Umgang mit einem Bogen gelernt, aber er hatte früh bemerkt, dass ihm im frontalen Kampf die nötige Ruhe für diese Waffe fehlte. So war Kaito zumindest hinsichtlich des Reisezieles und der Ausrüstung beruhigter. „Shippō hat erst kürzlich die Akademie abgeschlossen“, berichtete Honoka, als Rin sich nach den anderen Dorfbewohnern erkundigte. „Er ist auf dem besten Weg ein mächtiger Fuchsdämon zu werden, so wie er es immer wollte.“ „Nun schon?“, fragte Rin erstaunt. „Ich dachte, so eine Ausbildung dauert viel länger.“ „Tut sie. Er ist jetzt in den Süden gegangen, um am dortigen Hof weiter zu lernen und je nachdem, wie es dort läuft, kann er sich weitere Lehrmeister suchen. Von Vater und den anderen konnte er viel lernen, hat er gesagt, aber sie sind eben doch keine Kitsune.“ „Nein... natürlich nicht. Es freut mich für ihn, dass er seinen Weg gefunden hat. Aber das war nicht anders zu erwarten, so quirlig und überzeugt wie er immer war. Und was ist mit Saki und Mei?“ Honoka blieb einen Moment still, als die Sprache auf die Zwillingsmädchen von Sango und Miroku fiel. „Sie wollen jetzt unbedingt mit Kohaku und Kirara auf Dämonenjagd gehen“, antwortete sie schließlich. „Aber er sträubt sich dagegen, sie mitzunehmen.“ „Nun ja, Kohaku ist an ein Leben in Gesellschaft nicht mehr gewöhnt. Es ist nur verständlich, dass er zögert. Vor allem, wenn die Mädchen auch von ihrer Mutter und den anderen lernen könnten, wenn sie wirklich Dämonenjäger werden wollen. Euer Vater nimmt Kaito doch genauso zu den Aufträgen mit, da wäre es nur gerecht, wenn Mirokus Töchter ihn auch begleiten könnten.“ Honoka warf einen kurzen, zögernden Blick über die Schulter, sah ihren Bruder einen Moment lang flüchtig an und schaute wieder gen Boden, als sie bemerkte, wie ausdruckslos seine Miene war. „Schon“, meinte sie letztlich. „Aber das ist nicht was sie wollen, schätze ich.“ Rin schüttelte verständnislos den Kopf und schob ihr die feine, violett-weiße Blüte einer Sternhyazinthe in das geflochtene, graue Haar „Dann ist es ihre eigene Schuld, wenn sie im Dorf verschimmeln.“ „Zumindest Saki ist der Meinung, dass das nicht förderlich für ihre späteren Geschäfte wäre“, fügte Honoka leise hinzu und nun spitzte auch Kaito die Ohren. Rin sah sie verdutzt an, aber Honoka schwieg und kaute mit einem Mal auf ihrer Unterlippe als habe sie ein Thema angesprochen, über das sie dringend reden wollte, aber nicht auszuführen vermochte. „Das ist doch unsinnig. Warum denkt sie das?“ „Meinetwegen“, erriet Kaito leichthin als handle es sich um eine unschädliche Selbstverständlichkeit, mit der er ohnehin gerechnet hatte – was in diesem Fall aber keineswegs der Wahrheit entsprach. Rin drehte sich zu ihm um und blieb stehen. „Deinetwegen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst.“ Als jedoch Honoka nichts Gegenteiliges sagte und nicht einmal wagte, ihren Bruder anzusehen, sah er sich bestätigt. „Sich mit einem Han'yō zu umgeben, muss für einen Taijiya geschäftsschädigend sein“, vermutete er höhnisch. „Freundschaft hin oder her. Und um mir das ins Gesicht zu sagen, waren sie sicherlich zu feige.“ „Du hast diesem alten Mann die Nase gebrochen“, erinnerte Honoka ihn flüsternd. „Natürlich haben sie Angst.“ „Dann sollten sie ihre Berufswünsche besser an den Nagel hängen“, fauchte er wütend. „Dieser alte Sack kann froh sein, dass es nur seine Nase gewesen ist und du hättest mir das gleich sagen können!“ „Dann hättest du sie zur Rede gestellt!“ Ihrem Bruder stellten sich die Nackenhaare auf. „Worauf du Gift nehmen kannst.“ „Welchem Mann hast du die Nase gebrochen?“, fragte Rin streng, die derartige Ausbrüche von Kaito nicht gewohnt war. „Das ist doch völlig irrelevant“, schnappte der und fixierte seine Schwester. „Hinterrücks zu meiner kleinen Schwester zu gehen! Die sind doch nicht mehr gescheit! Wolltest du deswegen weg?“ „Kaito-“ „Ja oder nein?!“ Honoka blieb einige Sekunden wie angewurzelt stehen, dann wandte sie sich von ihm und seinen vor Wut glimmenden Augen ab, um einige schnelle Schritte nach vorn zu gehen. Eine offizielle Antwort blieb sie ihm jedoch schuldig. Kaito konnte unheimlich werden, wenn er wirklich wütend war und sie hatte gewusst, dass er darauf nicht gelassen reagieren würde. Nie jedoch hatte Honoka angenommen, dass einmal so nahestehende Personen die Vorurteile unterstreichen würden, die er seit Jahren hegte – und wenn er erfahren hätte, was sie sonst noch über ihn sagten, wäre er vermutlich gänzlich aus der Haut gefahren. Sie hatte genug Schmähungen in ihrem jungen Leben vernommen, aber bisher hatte sie immer gedacht, die Menschen seien einfach durch Angst in ihrer Wahrnehmung beschränkt und wüssten es schlicht nicht besser. Als die Zwillinge – oder zumindest Saki, denn Mei widersprach ihrer Schwester selten und gab ihre eigene Meinung wenig kund – ihre Bedenken in freundlichstem Ton geäußert hatten, war Honoka derart vor den Kopf gestoßen gewesen, dass sie die beiden ohne jeglichen Kommentar hatte sitzen lassen. Kaito hatte den Mädchen nie geschadet, war, ganz im Gegenteil, hilfsbereit und freundlich gewesen wie zu jedem im Dorf, der sich auch ihm und seiner Familie gegenüber wohlgesonnen verhielt. Dass er dazu in der Lage war, einen Menschen ernsthaft zu verletzen und den Mann sicher schlimmer zugerichtet hätte, wenn ihre Mutter nicht augenblicklich dazwischen gegangen wäre, war auch für Honoka verstörend gewesen, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, dass er in den letzten Jahren eine Ader entwickelt hatte, die sie durchaus fürchtete – nicht um ihretwillen, denn ihr würde er mit Sicherheit kein Haar krümmen. Und doch hatte sie es ihm nicht sagen können und allein nicht sagen wollen. Er wäre niemals mit ihr in den Westen gegangen, wenn er auf dem Weg von den Umständen erfahren hätte, die sie zum Ausreißen getrieben hatten; ja, eher direkt umgedreht, um die Zwillinge zur Rede zu stellen. Aber sie hatten nach Westen gehen müssen. Familie war der einzig konstante und vorurteilsfreie Zusammenhalt nachdem nun auch Anfeindungen seitens ihrer Freunde aufkamen – und der Rest der Familie war nun einmal im Westen. Für ihn und für sich selbst, für ihre Eltern und das ungeborene Geschwisterkind hatte sie sich nichts mehr gewünscht als etwas mehr Sicherheit und Zusammenhalt, aber bisher war davon von Seiten der Yōkai wenig zu spüren. Sie behandelten sie nicht herablassend oder grausam, wie man es von Dämonen vielleicht erwartet hätte, sondern eher wie Luft. Nur Rin hielt wie immer unerschütterlich zu ihnen – Rin, die sich noch nie daran gestört hatte, ob es sich bei ihrem Gegenüber um einen vollwertigen, blutrünstigen Dämon oder unerfahrenen Han'yō gehandelte. Wirklich schlechte Erfahrungen hatte sie nur mit Menschen und Wölfen gemacht und allein aufgrund ihrer Erlebnisse basierte die Vorsicht, die sie mit diesen walten ließ. Honoka schauderte, als Kaito sie wutschnaubend abermals um eine Antwort anrief. „Könntet ihr euch leiser streiten?“, fragte da plötzlich Minoru, während dem Mädchen die Tränen in die Augen stiegen. „Ich wäre sehr verbunden.“ Kaito richtete den Blick vernichtend knurrend auf seinen Cousin und fletschte mit einem Mal die Zähne. „Willst du mir was vorschreiben, du halbe Portion Hund? Sind wir den feinen Ohren der Herrschaft etwa zu laut?“ Minoru warf einen prüfenden Blick auf Kaito, war aber auch nicht sonderlich erpicht darauf, diese dämliche Herausforderung anzunehmen und sah seufzend wieder nach vorn. „Was?!“, hakte Kaito gereizt nach und vergaß dabei völlig, dass er dem Welpen drohte, während der Vater sicherlich nicht so teilnahmslos war, wie er sich gab. „Kaito! Es ist unnötig, wegen solcher Dinge die Stimme zu heben“, mahnte Rin in einem scharfen Ton. „Minoru wollte sicherlich nicht-“ „Von wegen!“ Kaito hatte die Ohren eng an den Kopf gepresst und funkelte Minorus Rücken immer noch wütend an. „Komm schon, Kleiner. Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, dass man Wege bis zum Ende geht oder hast du einfach nur Angst?“ „Holzkopf“, brummte Minoru und schob die Hände tiefer in die Ärmel. Rin seufzte laut. „Oh Minoru, bitte -“ Sie sprang erschrocken zurück, als Kaito knurrend auf die Stelle niederfuhr, an der einen Sekundenbruchteil vorher noch Minoru gestanden hatte. Der landete einige Meter weiter vorn in verspottender Ruhe wieder auf dem Boden und musterte seinen Vetter mit abschätzigem Blick. „Wie vorhersehbar.“ „Du hältst dich wohl für sehr toll!“, fauchte Kaito scharf. „Bleib einfach stehen, dann sehen wir ja, was hinter deinem großen Mundwerk steckt.“ Er legte eine Hand an den Griff seines Schwertes und spannte jeden vorhanden Muskel an, als Minoru lediglich unberührt mit der Zunge schnalzte. „Bitte. Tu es. Ich glaube, bisher hat nur der halbe Wald mitbekommen, wo wir sind.“ „Minoru hat recht“, fuhr Rin abermals bestimmt dazwischen und stellte sich nun vor den Han'yō, um eine Hand auf seinen Schwertgriff zu legen. „Wir sollten leiser sein. Und friedlicher.“ Sie bedachte Kaito mit einem strengen Blick, der langsam die Hand von der Waffe nahm und sich nur mühsam beruhigte, dann schüttelte sie tief seufzend den Kopf. Warum konnten sie sich nicht einfach vertragen? Vorsichtig wandte sie sich ab und legte Honoka einen Arm um die Schulter, drückte die Wange an ihr Haar. „Liebes. Nicht weinen. Es war gut gemeint, die Zwillinge und Kaito gleichermaßen schützen zu wollen, aber du solltest nicht versuchen, so schwierige und verletzende Dinge allein zu tragen. Es ist nicht anständig, dich hinein zu ziehen, weil sie Angst vor deinem Bruder haben. Und wir wissen beide, dass Kaito eigentlich nicht zum Fürchten ist.“ Dieser brummte leise, strich sich einige Haare über die Schulter zurück und betrachtete Minoru noch einen Moment. Der ging längst weiter, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Mit der Dämmerung wurden ihre Schritte kürzer und hielten letztlich an einem sprudelnden, klaren Flusslauf voller Forellen. Der Fürst war wieder einmal verschwunden, wie es des Öfteren seine Art war und mittlerweile wunderte es niemanden mehr, dass er von einer Minute auf die andere jede Spur von ihm fehlte. Am allerwenigsten Rin, die mit bis zu den Knien aufgebundenen Kimono im eiskalten Wasser stand und versuchte, einen der flinken Fische zu fangen. Sie war daran gewöhnt, dass er ging, wann immer es ihm beliebte und zurückkehrte, wenn es nötig war oder er seine Angelegenheiten – welcher Natur auch immer – erledigt hatte. Seine Abwesenheit bedeutete jedoch in keinem Falle Schutzlosigkeit. So viel war sicher. Mit einer gezielten, schnellen Bewegung stieß sie in die Fluten und trug die zappelnde, schlüpfrige Forelle mit geübtem Griff ans Ufer. Honoka sah ihr ungläubig nach. Sie war bereits im Wasser weggerutscht, nun bis auf die Knochen durchnässt, hatte zwei Fische vollkommen verfehlt und den dritten fallen lassen, als er zu zappeln begonnen hatte – während Rin so souverän wirkte, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan als Fische mit bloßen Händen zu fangen. Kaito hob anerkennend eine Braue, dann widmete er sich wieder seiner Forelle, die er hinter einem Felsen gestellt hatte. Nichts ahnend stand sie in der strömungsberuhigten Zone hinter dem Stein und schlug gleichmäßig mit ihrer Schwanzflosse dem letzten treibenden Strom entgegen. Dann eine schnelle Bewegung – und fort war sie. Der Han'yō knirschte mit den Zähnen und sah brummend auf. Der Einzige, der sich hier offenkundig zu fein dafür war, das Abendessen zusammenzutragen, war Minoru. Der saß in Form dieses vermaledeiten, weißen Hundes am Ufer, ließ sich die frische Abendluft um die schwarze Nase wehen und tat seit einer gefühlten Ewigkeit nichts anderes als gelangweilt auf den Fluss zu sehen oder die Ferne zu beobachten. „Das gibt es doch nicht“, fluchte Honoka, als ihr auch der nächste Fisch wieder aus den Händen rutschte. „Das kann doch nicht so schwer sein!“ „Du hast Klauen, Liebes. Benutze sie“, meinte Rin lachend, während sie sich am Ufer niederließ, um den Fang auszunehmen. „Der arme Fisch!“, protestierte sie vehement und schüttelte sich bei der Vorstellung, eines der schwimmenden Tiere mit den Klauen zu durchlöchern. „Du schaffst das ja auch!“ Rin lächelte mild. Es hatte Stunden gedauert, bis sich die Anspannung zwischen den Kindern gelegt hatte und es würde deutlich weniger Zeit in Anspruch nehmen, sie wieder aufzubauen. Kaito hatte kein Wort mehr über die Zwillinge oder Minoru verloren und war schließlich zu einer für ihn seltsam distanzierten Normalität zurückgekehrt, woraufhin auch seine Schwester wieder näher an ihn herangetreten war. Für Rin war es befremdlich, ihn so zu erleben und sie war sich sicher, dass diese Angelegenheit bezüglich der jungen Dämonenjägerinnen für ihn noch lange nicht aus der Welt geschafft war. Dennoch war gut zu sehen, dass er in der Lage war, diesen Unmut im Beisein Unbeteiligter zu beherrschen. Und trotz allem: Rin war nicht blind. Sie hatte den Kotodama no Nenju, die Kette aus heiligen Perlen, die einst sein Vater getragen hatte, um seinen Hals bemerkt. Kagome hatte sie Inuyasha schon vor Jahren abgenommen. Dass sie sie nun ihrem eigenen Sohn umgelegte, war Rin Zeichen genug. Ein lautes Platschen riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken sah sie auf und beobachtete Minoru, der mit einigen Zügen zurück ans Ufer schwamm und sich das klare Wasser aus dem weichen Fell schüttelte, in dem nun einiger Dreck in hellbraunen Fäden ablief. Zwischen seinen Fängen zappelte eine ersterbende Forelle, die er, Kaitos Schnauben geflissentlich ignorierend, ins Gras fallen ließ. „Ich kann sie ausnehmen“, bot Rin an, die ihre bereits mit einem ihrer vielen, im Kimono versteckten Messer fachgerecht vorbereitet hatte. Minoru musterte sie eine Weile mit aufgestellten Ohren, während die Forelle vor ihm das Leben aushauchte. Er kam nicht umhin zugeben zu müssen, dass Rin sich in den letzten Tagen, gerade für einen Menschen, als unerwartet überlebensfähig erwiesen hatte. Sie kannte viele essbare Pflanzen, auch wenn die nicht gerade seine bevorzugte Mahlzeit darstellten, und fischte klaglos in den kältesten Bächen – sehr erfolgreich und noch dazu schneller als er selbst, wenngleich ihre Finger nach einigen Minuten in der kalten Brühe kaum noch Gefühl aufweisen durften. Die Annahme, sie stelle für eine solche Reise nichts als eine Belastung dar, war vollkommen unberechtigt gewesen. Letzten Endes musste Minoru sich eingestehen, dass ihre Anwesenheit längst nicht so unerträglich war, wie er befürchtet hatte und sie zumindest während der vergangenen Monate bestrebt gewesen war, sich nicht weiter aufzudrängen. Für ihre Verhältnisse war mit diesem Verhalten sicher einiges an Anstrengung verbunden gewesen. Er hatte sie nur einige Stunden im Umgang mit den Han'yō beobachten müssen, um zu verstehen, dass sie sehr wohl auf seine selbstgewählte Distanz achtete. Wenn sie nicht gerade mit Honoka plauderte, sangen sie vor sich hin oder Rin verbrachte den halben Nachmittag damit, irgendwelches Grünzeug zu benennen und dessen Wirkung detailliert darzulegen, während sie Honoka an der Hand herumführte oder Kaito neckisch in die Seite stieß, was dessen Miene zumindest aus der mittlerweile eingefahrenen Härte aufweichen ließ. Auch den Fürsten selbst umschwirrte sie hin und wieder, unterhielt sich mit ihm in einem elendig langen Monolog und schien sich dabei nicht im Geringsten daran zu stören, dass sie keinerlei Antwort erhielt. Minoru war sich langsam sicher: Ihn nicht mit ihrem natürlichen Frohsinn zu belästigen, hatte Rin sicher ebenso viel abverlangt, wie es ihm an Überwindung kostete, auch nur im Ansatz auf dieses Angebot einzugehen. Sie musterte ihn immer noch geduldig, musste aber doch breit lächeln, als sich das Fell über den mageren Rippen einen Moment in einem tiefen Atemzug deutlich aufplusterte und er schließlich mit dem Fisch im Maul zu ihr trabte. Diesem Hund ein wenig Vertrauen abzugewinnen war mit Abstand noch schwieriger als dessen Vater zu einer Unterhaltung zu bewegen. Aber man wuchs eben auch nur mit seinen Aufgaben. Als sie ihm den Fisch abnahm, unterdrückte sie den Impuls, die Hand durch das nasse Fell zwischen den Ohren gleiten zu lassen und stieß stattdessen ein Messer in das Herz der Forelle, während Minoru sich neben ihr auf die Hinterbeine sinken ließ und einen Blick zu den Geschwistern in den Fluss warf – sicher nur, um sie nicht ansehen zu müssen. Er war so berechenbar. „Vom Ufer aus einen Fisch zu fangen ist sicher nicht leicht“, merkte sie vorsichtig an und zu ihrer Überraschung ließ er sich neben ihr mit dem Rücken zuerst ins Gras fallen, schüttelte einen durchnässten Ärmel seines seidenen Kimonos aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. „Auf jeden Fall ist es nasser.“ Nun wandte sie doch den Kopf. „Was?“, fragte er beinahe ungeduldig, als sie ihn einige Sekunden fassungslos anstarrte. „Wann... wann hast du dich entschieden in eine Konversation einzusteigen?“ „Brauchst du wirklich eine Zeit oder ist das so eine überflüssige Frage, die keine Antwort will?“ Sie blinzelte kurz, dann musste sie laut lachen, wich einem fragenden Blick seinerseits jedoch zügig aus. „Wenn du ohnehin nass bist, könntest du den anderen beiden vielleicht helfen“, schlug sie schließlich vor und erntete dafür nur ein leises Schnauben. „Dass ich mir dir spreche, heißt noch lange nicht, dass ich den Helfer spiele.“ „Schade. Damit hättest du mich wenigstens gänzlich aus dem Konzept gebracht.“ Sie beendete ihre Arbeit an dem Fisch und ließ das Messer sinken. „Wird es noch lange dauern, bis wir am Dorf ankommen?“ „Soll ich jetzt für dich abschätzen, was lang ist?“, schnappte Minoru und Rin erwischte sich dabei, wie die Muskeln ihres Kiefers unter Spannung gerieten. Nach Schweigen kam also Bissigkeit? Als sie ihn jedoch ansah, bemerkte sie einen Schimmer aufgeweckten Funkelns in seinen Augen. Verwundert musste sie feststellen, dass er sich tatsächlich über sie lustig machte. Humor war das Letzte, das sie erwartet hatte. Andererseits – hatte sein Umgang mit diesem Wolfjungen nicht auch sehr vertraut und neckisch gewirkt? „Morgen vor Sonnenuntergang, wenn wir das Tempo halten“, antwortete er schließlich auf die eigentliche Bedeutung ihrer Frage und betrachtete die ziehenden, grauen Wolken über sich. Bis zu einem gewissen Punkt konnte Minoru ihre Verbindung zu diesem Dorf sogar verstehen, aber die Aussicht auf ein Menschendorf, in dem man durch die Geschwister sicher erfahren würde, dass er eben kein einfacher Hund sondern ein Dämon war, beruhigte ihn nicht gerade. Menschen reagierten unter Umständen unvorhersehbar auf eine mögliche Gefahr und arbeiteten allein schon aufgrund ihrer körperlichen Schwäche mit allen erdenklichen Tricks und in diesem Dorf hauste nach neusten Erkenntnissen auch noch eine ganze Brut von Taijiya. Die Bekanntschaften seines Vaters verwirrten ihn zusehends. „Das ist gut. Je eher wir dort sind, desto schneller können ihre Eltern wieder ruhig schlafen.“ Dann senkte Rin ein wenig die Stimme. „Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.“ Minoru nickte knapp. Wenn dieser Inuyasha auch nur halb so wütend werden konnte, wie der Fürst, war es bei einer Abwesenheit von einigen Wochen sicher kein Zuckerschlecken, die heimische Schwelle wieder zu übertreten – bei ihm hatten immerhin einige Stunden gereicht, um seinen Vater in einen Zustand zu bringen, den Minoru nicht unbedingt ein zweites Mal erleben musste. „Er ist ungewöhnlich lange weg“, merkte Minoru schließlich leise an und setzte sich für einen Moment auf, um die Luft besser zu prüfen. Eine unbekannte oder besorgniserregende Witterung lag allerdings nicht darin. „Keine Sorge“, meinte Rin beruhigend. „Er ist es, vor dem andere sich fürchten.“ „Er ist der Letzte, um den ich mich sorge.“ „Oh, das wird er aber nicht gern hören“, gab sie frech zurück. „Wenn du anfängst, mir die Worte im Mund umzudrehen, kannst du wieder Selbstgespräche führen.“ Sie lachte laut auf. „Aber es stimmt, er ist heute Abend länger fort als in den letzten Tagen. In Anbetracht der Streitigkeiten heute Nachmittag aber auch nur verständlich. Wir waren sehr laut, da muss er erst einmal sehen, wer auf uns aufmerksam geworden ist. Außerdem ist es nicht seine Art, den ganzen Tag in der Gruppe umherzustreifen. Früher ist er manchmal für mehrere Tage verschwunden und genauso plötzlich wieder bei uns aufgetaucht. Jaken ist jedes Mal vor Angst fast gestorben, wenn er allein auf mich aufpassen musste. Aber erinner' ihn bloß nicht daran.“ „Schwer möglich. Seit meiner Ankunft in der Burg ist er mir kaum mehr unter die Augen gekommen.“ Rin sah ihn eine Weile nachdenklich an, dann legte sie den Kopf schief. „Weißt du nicht, wo er steckt?“ Minoru zog eine Braue hoch und sah sie vielsagend an. „Er und A-Un suchen Sesshōmaru-samas Mutter“, erklärte sie ein wenig verblüfft. „Ich dachte, das hätte er dir gesagt. Das ist noch schwieriger als zu erraten, wann er zurückkommt. Er selbst hat einmal mehrere Wochen gebraucht, um sie aufzuspüren. Dass Jaken nun schon fast zwei Monate fort ist, wundert mich gar nicht. Aber Sesshōmaru-sama konnte sie kaum selbst suchen gehen und so hat Jaken dich zumindest eine Weile in Ruhe gelassen. Er ist sonst viel zu neugierig – und weiß noch weniger, wann er den Mund halten muss als ich.“ Minoru sah sie eine Weile nachdenklich an. Jaken suchte also nach seiner Großmutter? Nun, er hätte es spätestens erfahren, wenn diese Frau im Palast aufgetaucht wäre. Hatte er eigentlich tatsächlich gedacht, die ganze Familie bestünde nur aus seinem Vater und dessen Halbbruder samt Anhang? Er konnte es Myōga nicht verdenken, diese Feinheiten verschwiegen zu haben, immerhin hatte er ihm diesbezüglich selbst den Mund verboten. Eine so hochgestellte Inuyōkai wie es die Mutter des derzeitigen Fürsten mit Sicherheit war, bereitete ihm allerdings allein bei dem Gedanken an ihre Existenz Magenschmerzen. Es ergab jedoch Sinn, dass der Fürst einen seiner Leute nach ihr sandte. Wenn er nämlich recht behielt und sich die Nachricht eines westlichen Erben im Land verbreitete, wäre die einstige Fürstin sicherlich nicht sehr dankbar, wenn sie diese Kleinigkeit aus zweiter oder dritter Hand erfuhr – wenn sie nicht schon schnippisch genug darauf reagieren würde, es von einem Kappa zu erfahren. Minoru kannte nicht viele Inuyōkai und noch viel weniger weibliche Angehörige seiner Art, aber bisher hatte sich diese Bevölkerungsgruppe als sehr leicht reizbar in sein Gedächtnis eingebrannt. Und wie sollte eine Frau sein, die einen Mann wie seinen Vater erzogen hatte? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und Rin, die das durchaus sah, verzog ein wenig das Gesicht, als verstehe sie nur zu genau, was er gerade dachte. „Bestimmt hat Sesshōmaru-sama es dir nicht gesagt, um dich nicht gleich mit einem Ansturm fremder Leute zu bedrängen. Deswegen hat er schließlich auch den Großteil des Palastes von dir fern gehalten. Mach dir keine Gedanken um deine Großmutter. Sie hat mit einer spitzen Bemerkung abgetan, dass er mich mit sich herumschleppt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie bezüglich eines vollblütigen Erben viel Schlechtes zu sagen hat.“ Sicher, dachte Minoru bitter, du bist auch nicht Teil ihrer Reputation, wenn du falsch atmest. Es war Abend geworden und bald darauf kam die Stille der Nacht. Während der letzte Rest Forelle in der Nähe des Feuers warm gehalten wurde, schliefen die Kinder bereits. Honoka lag erschöpft in den Armen ihres Bruders, der den Rücken an eine mächtige Eiche gelehnt hatte und Minoru in einiger Entfernung zum kleinen, Licht spendenden Lagerfeuer. Wie ein Hügel weißen Fells hatte er sich am Boden zusammengedreht und atmete sacht. Seiner neuerlichen Redsamkeit zum Trotze mied er die direkte Nähe der Gruppe in der Nacht. Rin legte noch einmal einige dünne Äste nach, um das Feuer am Leben zu halten und erschrak weder sichtbar noch im Innersten, als sie sich wieder umwandte und Sesshōmaru in der Dunkelheit an der Rinde einer jungen Buche lehnte. Seine helle Kleidung und das weiße Haar stachen aus der Finsternis hervor als bildeten sie einen neuen Leuchtkörper am schwarzen Firmament. Rin ließ sich ganz selbstverständlich an seiner Seite niedersinken und legte ihren Kopf sacht an den Oberarm des Fürsten. Erschöpft seufzend schloss sie die Augen. Er hatte sich wohl weißlich die gesamte Reise über aus den Unterhaltungen und Streitigkeiten der Jugend herausgehalten. Rin hingegen war unendlich müde. Über die bloßen Friedensbemühungen hinaus wurde sie das bedrückende Gefühl nicht los, das sie seit dem Streit der Geschwister überschattete als wandle eine dunkle Wolke mit ihren Schritten durch die Lande. Sie hatte beide Kinder seit dem Augenblick ihrer Geburt begleitet, ebenso die Zwillinge. Und nun, kaum dass sie ein Jahr fort gewesen war, hatten sich diese vertrauten Seelen auf so verletzende Weise zerstritten, dass es sie tief und anhaltend schmerzte. Ihr war bewusst, dass die Mädchen von Sango und Miroku mit Sicherheit keine persönliche Abneigung gegen die Halbdämonen hegten, dennoch schien es nur zu deutlich, dass sie wider besseren Wissens lieber ihre Freunde verneinten als von anderen Menschen schlecht angesehen zu werden. Kaito... sie konnte nur von Glück sprechen, dass es Minoru scheinbar gänzlich an Streitsucht und einem leicht verletzlichen Ego mangelte. Die vielen herausfordernden Blicke und Bemerkungen schienen ihn nicht zu erreichen. Es war jedoch fraglich wie lange diese tolerante Geduld noch Bestand hätte. Kaito hatte schon immer das große Talent besessen, Situationen mit Leichtigkeit zu erfassen – und es selten dämlich genutzt, um bewusst und unbewusst Salz in die feinsten Wunden zu streuen. Sie fürchtete den Moment, in dem Minoru entschied, bestimmte Dinge nicht mehr zu ignorieren; insbesondere, wenn Sesshōmaru abwesend war. All ihre Möglichkeiten einen solchen Moment zu entschärfen endeten bei ihrer bloßen Existenz und addierten sich zu einem einzigen, riesigen Nulleffekt, der dem feindlichen Aufeinandertreffen der Jungen nichts entgegenzusetzen hatte. Aber vielleicht war diese Angst auch unbegründet. Sie mussten nur noch einen einzigen Tagesmarsch in seidiger Eintracht verbringen. Einmal im Dorf hätten die Geschwister genug damit zu tun, sich ihren Eltern zu erklären und Rin bezweifelte zudem stark, dass Minoru viel Zeit in einem Menschendorf verbringen wollte. „Rin.“ Manchmal waren diese Yōkai einfach zu feinfühlig, auch wenn sich dies meist nur auf ihre Umgebungswahrnehmung beschränkte und so bemerkte er natürlich, wenn sie von so finsteren Gedanken heimgesucht wurde. Schweigend schmiegte sie den Kopf noch ein wenig enger an die glatte Seide seines Oberarmes. „Ihr seid lang fort gewesen“, sagte sie nach einer Weile leise. „Ihr wurdet vermisst.“ Sie musste lächeln, als er sich ein wenig bewegte und auf sie herabsah. Sie hob den Kopf und erwiderte den leeren Blick gutmütig, dann sah sie zu Minoru, der in einigem Abstand ruhte. „Er schläft nicht tief, oder?“ „Nie“, erwiderte der Fürst ruhig, bevor er sie abermals still betrachtete. „Es ist nicht gerecht“, sagte sie nach einer Weile mit belegter Stimme. „All das nicht. Hass, Zerstörung und Tod, die das Shikon no Tama gebracht hat, sind mit ihm und Naraku vergangen und dennoch... dennoch all dies. Intrigen, Kriege, Vorurteile, Kummer und Angst. Selbst die nächste Generation ist nicht in der Lage Frieden zumindest im engsten Kreis zu wahren.“ „Dieser lächerliche Wicht war nicht der Kern allen Unheils. Nur ein kaum nennenswerter Teil davon“, entgegnete Sesshōmaru. „Er hat eine Weile eine Hand voll Leute in Aufregung versetzt und ist von der Welt verschwunden wie Viele vor und nach ihm. Kinder sterben, Frauen werden vergewaltigt, Männer aller Art hintergangen. Das ist nichts Beklagenswertes, nur das Leben.“ „Zynismus“, schnaubte Rin abschätzig. Doch seine Antwort blieb endgültig wie immer: „Die Wahrheit.“ „Diese Wahrheit ist verachtenswert“, sie zog sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Findet Ihr es zu viel verlangt, ein wenig Frieden zu wollen?“ Er sah sie mit vielsagendem Blick an und sie schnalzte leise mit der Zunge. „Ja, ich bin mir des Widerspruches durchaus bewusst, ausgerechnet Euch danach zu fragen. Es ist eine Sache Kriege um riesige Landstriche zu führen, aber eine ganz andere diese Fehden verdeckt auszutragen und zuzulassen, dass selbst die Jüngsten Feindschaften aufbauen.“ Er wollte gerade etwas sagen, aber sie fuhr ihm harsch dazwischen. „Kommt mir jetzt nicht damit, dieser Unsinn bilde den Charakter!“ „Du nimmst dir zu viel heraus“, mahnte er sie mit gesetzter Stimme, als Minoru bereits mit den Ohren zuckte. „Und steigerst dich in Unsinn hinein. Diese Auseinandersetzungen sind belanglos.“ „Belanglos?“ zischte sie wütend. „Jemand stiehlt Euren Sohn, um Euch zu schaden und Ihr nennt aufkeimenden Hass innerhalb der Familie belanglos? Streit ist das Letzte, das wir brauchen können – und das wisst Ihr genau, sonst würden wir die beiden nicht zu ihren Eltern eskortieren. Ihr verdrängt diese Angelegenheit öffentlich in die Nichtigkeit. Versucht das nicht auch vor mir. Ich bin zu lange bei Euch, um diese Scharade mitzuspielen.“ „Du vergisst, mit wem du sprichst“, sagte er scharf und hart. „Deine Gefühle für diese Dorfkinder sind deine Sache. Belästige mich nicht mit ihrer irrelevanten Uneinigkeit, nur weil du nicht ertragen kannst, dass sie nicht harmonieren. Ich habe keine Zeit für derartig infantiles Gehabe.“ Ihre rehbraunen Augen funkelten wütend, dann wich die Aufregung in Sekundenbruchteilen einer inneren Ruhe und sie musterte ihn lediglich nachdenklich. „Ich weiß, wer Ihr seid – und dass niemand wagt, Euch zu widersprechen“, erwiderte sie schließlich entschieden. „Aber diese Dinge sind nicht belanglos. Ja, ich liebe diese Kinder und es schmerzt mich, wenn sie leiden oder sich gegenseitig verletzen. Dafür sind sie mir zu nah. Aber wenn wir Zwist und Zwiespalt in diesen Zeiten zulassen, sind alle in Gefahr. Ihr scheint tatsächlich zu glauben, ich kümmerte mich wie früher nur um meinen Zeitvertreib. Was tut der Chūyō, während unserer Abwesenheit?“ Nun hatte sie seine vollendete Aufmerksamkeit. Deutlich angespannt pressten die Muskeln seine Kiefer zusammen und er musterte sie durchdringend. „Kein Wort mehr davon.“ Sie seufzte lang und sank wieder gegen ihn, was er kommentarlos geschehen ließ und hüllte sich ein wenig in sein weiches Schulterfell. „In Ordnung“, flüsterte sie ergeben. Er legte den Kopf zurück an die Rinde. Menschen. Nur die Hälfte ihrer Gespräche schien eine sinnvolle Intention zu verfolgen und die andere Hälfte diente meist doch nur der Mitteilung unseliger Befindlichkeiten. Rin war längst nicht mehr das Kind, das er dieser alten Priesterin anvertraut hatte. Sie war zu aufmerksam und sensibel, um Unstimmigkeiten nicht zu bemerken und es war ihm eindeutig zuwider, dass sie in der Lage schien, ihn deutlicher zu lesen als die meisten anderen. Er konnte sie nicht mehr so leicht in einem ungewissen Frieden halten wie noch vor einigen Jahren und diese neuerlichen Seufzer, schwermütigen Gedanken und Sorgen resultierten aus diesem Unvermögen, sie von derartigen Dingen zu isolieren. Sesshōmaru wollte gerade die Augen schließen, als ein dumpfes Gefühl ihn innehalten ließ. Binnen weniger Sekunden kam Bewegung in den weißen Hund auf der anderen Seite des Feuers. Minoru hob den Kopf, sprang auf die Beine; Fell und Ohren blitzartig aufgestellt. Rin zuckte vor Schreck zusammen, als auch Kaito in ihren Augenwinkeln hochfuhr und eine Hand an die Waffe legte. Honoka rieb sich verdutzt den Schlaf aus den Augen und sah zu ihrem Bruder empor. Minoru ließ ein kaum hörbares Brummen vernehmen, hatte sich dem schwarzen Dickicht zugewandt, das neben dem Fluss in ein tieferes Waldgebiet auslief. Der Schatten außerhalb des Feuers war von Yōki erfüllt. Schwach oder unterdrückt, das war nicht ganz klar, aber die Nuancen änderten sich jeden Augenblick wie das Wogen einer ungeduldigen Welle am Ufer. Sie hatten sich die letzten Stunden bedeckt gehalten. Minoru schauderte einen Moment, als er deutlich bemerkte, wie die Aura seines Vaters, die er sonst so wohl bedeckt hielt, warnend über ihn hinweg strich und sich für alle als deutlich bedrohliche Energie spürbar über das Lager legte. Das kaum wahrnehmbare Rascheln verstummte für einen kurzen Augenblick, bevor es in beleidigter Kühnheit wieder aufbrauste. Unverschämtheit. Nun, Oni waren bekanntermaßen dumm und Hunger machte sie nicht gerade gescheiter. Minoru legte abermals die Ohren an und trat einen Schritt zurück. Er konnte keine genaue Witterung ausmachen; nicht einmal raten, um welche Art Dämon es sich handeln mochte, aber ein gewöhnliches Tier war es mit Sicherheit nicht. Sesshōmaru bemerkte, dass auch eine stille Drohung den Belagernden nicht zum Abzug gereichte und so erhob er sich in einer geschmeidigen Bewegung; Rin dicht an seiner Seite. „Hundchen haben sie geßagt. Hundchen außerhalb von Weßten.“ Das Zischen schien aus allen Richtungen zu kommen. Der enge Griff um eine Kehle, der sich langsam zuzog. Minoru sträubte sich das Fell, als die Stimme im nächsten Moment direkt hinter ihm zu sprechen schien und er sprintete hastig vor die Füße seines Vaters, wo er dicht am Boden und sprungbereit kauernd knurrte. „Mir dächte, die Brut strebt gen Himmel. Gleich drei zarte Kinder.“ „Drei der Zuckersüßen“, schnurrte es da unweit der Stelle an der Kaito eben noch mit Honoka geschlafen hatte. Der stand nun mit gezogenem Schwert direkt neben seinem Onkel und hielt seine Schwester eng bei sich, die sich mit angelegtem Pfeil und erhobenen Bogen aufmerksam umsah. „Der Zarten, Schmackhaften, Reinen. Will das Hundchen nicht teilen?“ „Viel zu große Laßt für einen einzelnen Hund. Sterben so flink, die Kleinen. So viel Verlußt.“ Rin wurde mit einem Schlag klar, wie vorteilhaft diese Unterdrückung des kindlichen Yōkis Seitens der Mutter war, wenn sie die vor Wonne säuselnden Stimmen dieser Bestien hörte, denen der Geifer hörbar schon aus den Mäulern ran, wenn sie nur daran dachten, eines der Kinder zu verschlingen. Zum ersten Mal wollten die Gegner nicht ihren Kopf und es behagte ihr deutlich weniger, dass sie sich auf die Kinder zu fixierten und keines dieser Wesen auch nur einen Anflug von Angst vor dem Fürsten zeigte. „Ich will nicht gefressen werden“, keuchte Honoka leise, hielt den Bogen aber bis zum Anschlag gespannt und fixierte einen Fleck in der Dunkelheit, der ihr seit einer Weile verdächtig vorkam. „Hier wird niemand gefressen“, meinte Rin bestimmt und versuchte in der Finsternis irgendetwas zu erkennen, das die ohnehin besseren Augen der anderen vielleicht übersahen – so unwahrscheinlich das auch sein mochte. „Nun im Monde, kleiner Hund, tanzt silbern Nacht zum Schaden. Kannst nicht weichen, kannst nicht flieh'n, wirst hundertfach begraben“, summte eine Stimme zu ihrer Rechten und gleich darauf erklang jenseits des Lichtscheins ein durchdringendes Fauchen und unter zumindest zwei der Kreaturen brach ein ohrenbetäubender Streit aus, der einzig und allein der Klärung diente, wem nun der erste Bissen zustünde. Ein bestialischer Gestank drang zwischen den Bäumen hervor, sodass selbst der Fürst unangenehm berührt die Zähne aufeinander biss und die größte Mühe walten ließ, diesen erhaben zu erdulden. Aussichtslos. Nicht einmal er konnte ausmachen, wo sich die unbekannte Zahl Gegner nun tatsächlich aufhielt. Sie verhinderten bewusst ein orientierendes Hören und dieser abartige Gestank betäubte zu allem Überfluss den feinen Geruchssinn der Anwesenden zu einem nicht beschreibbaren Grad. Kaito hatte längst das Gesicht halb unter dem Ärmel verborgen und versuchte unter dem Stoff hindurch zu atmen, aber auch dies schaffte keine nennenswerte Abhilfe, während Minoru, der es gewohnt war, gerade bei Nacht fast ausschließlich seinem Geruchssinn zu folgen, langsam die Galle hochkam, wenn er den kläglichen Versuch unternahm, eine Witterung auszumachen. Sesshōmaru ahnte, dass die Feinde im Schatten in dem Augenblick zum Angriff übergehen würden, wenn er auch nur den leisesten Verdacht einer Offensive ankündigte und so hatte er bisher nicht einmal Bakusaiga gezogen, sondern ließ lediglich die Hand auf dem mit feinen, weißen Seidenband umwickelten Griff seines Schwertes ruhen. In dem Moment, in dem die Situation eskalierte, würde es ausreichend problematisch die Unversehrtheit der gesamten Gruppe zu bewahren, auch wenn es keine Herausforderung wäre, diese niederen Kreaturen nacheinander der Unterwelt zuzuführen. Minoru würgte abermals, spuckte Anteile seiner letzten Mahlzeit aus und wurde unfreiwillig in ein humanes Erscheinungsbild zurückgezwungen, was ihm deutlich widersagte. Seine Augen funkelten böse, während sie wütend die Dunkelheit absuchten und er knurrend einen weiteren Schritt zurück machte. Rin legte ihm sanft die Hände auf die Schultern, um ihn zumindest annähernd zu beruhigen und bewirkte damit immerhin, dass er verwirrt verstummte. „Bleibt auf dem Weg“, befahl Sesshōmaru schließlich und zog Kaito unsanft am Kragen seines Yukata vor sich. Honoka ließ wie erwartet den Bogen sinken und sah ihrem Bruder ein wenig erstaunt nach, dessen goldene Augen sich vor Schreck geweitet hatten, während Minoru seinen Obi noch einmal festzog, um das Stück Stahl zu sichern, das er im Ernstfall vermutlich als Letztes ziehen würde. Kaito wollte gerade aufgebracht protestieren, als ein ohrenbetäubender Lärm im hellen Schein konzentrierten Yōkis in Form eines grellgrünen Energiebandes alles in seinem Weg zerlegte und der Fürst eine breite Schneise in Holz und Blatt, Gewebe und Knochen der umkreisenden Yōkai schlug. Dann fielen die Schranken: Schemen drängten aus der Finsternis hervor, gewaltige, unförmige Gestalten, die unter abermals aufwallendem Gestank und kreischendem Geschrei den trockenen Boden zwischen den Bäumen unter grobschlächtigen Körpern zerquetschten. Minoru und Kaito reagierten gleichzeitig, sprinteten dicht gefolgt von Honoka durch das Nachtlager auf den eröffneten Pfad zu und mussten nur einen Wimpernschlag später dem ersten Yōkai ausweichen, der mit ersterbenden Ächzen über dem Feuer zusammenbrach. Funken stoben umher und legten sich über den schlangenähnlichen Körper; die knöchernen Schuppen teils zerschlagen, die mächtigen Kiefer zuckend wie im Leben. Honoka tat vor Entsetzen einen Sprung nach vorn, als weitere Dämonen fielen und zwischen ihren Leichen larvenartige Würmer zum Vorschein kamen, die gleichsam ihnen und den beiden Zurückgebliebenen entgegenstrebten. Mit einiger Mühe setzte sie angewidert über die stinkenden Überreste einiger Yōkai hinweg, die als Opfer des Erstschlages den Weg säumten und schloss zu den Jungen auf, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Kapitel 26: Denn wo einmal Zwietracht keimt ------------------------------------------- Die Bäume standen in den Ebenen unbehindert dichter zusammen als noch in den Ausläufern der Gebirge. Das Gelände wurde vorhersehbarer, einfacher für Sprints, aber in großen Abschnitten auch offener, wo die Menschen siedelten und den Wald bewirtschafteten. Minoru hatte die Route wohl weißlich nicht durch menschliches Siedlungsgebiet gelegt - zumindest so gut er es hatte vermeiden können - und langsam kam er in Bereiche des Landes, die er nur allzu gut kannte. Aber all das half wenig in Anbetracht der Schneise der Verwüstung, die ihre Verfolger hinterließen. Er hatte sich daran gehalten, den Weg nur dann zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig gewesen war und ihn möglichst bald wieder aufgesucht, aber nachdem sie nun mehrere Stunden am Stück gerannt waren, fiel auch ihm das Atmen schwerer, der Kopf dröhnte und es blieb ihnen nichts als Hoffen und Laufen. Ein Großteil dieser tosenden Dämonen war ihnen nicht gefolgt und sehr wahrscheinlich dem Inu no Taishō zum Opfer gefallen. Einige Wenige allerdings hatten der jungen Beute nachgesetzt und Minoru glaubte die Stimme des seltsam zischelnden Exemplares unter den Drohungen der Verfolger ausgemacht zu haben, die ihrer Fährte unablässig folgten. Honoka gab sich flink und wendig, war mehreren der Yōkai geschickt ausgewichen, als sie die Schneise genutzt hatten, die der Fürst ihnen geschlagen hatte, und schlug sich tapfer, auch wenn ihr die Angst sämtliche Haare abstehen ließ. Kaito hatte indes den ein oder anderen Oni, der ihnen auf plumpen Beinen und mit grobschlächtigen Werkzeug bewaffnet zu allem Überfluss während des Weges frontal entgegengeprescht war, in einzelne Stücke zerlegt. Die Hoffnung, dass sich die Verfolger mit diesem Happen zufrieden gaben, war allerdings bald dahin gewesen. „Verflucht, wie weit denn noch?!“, fragte der Han'yō gepresst, als sie über einen schmalen Fluss hinweg gesetzt hatten und er einen kurzen Blick nach hinten wagte. Die Yōkai waren nur Schatten zwischen den Bäumen; große, mittlerweile sehr wütende Schatten. „Die müssen doch mal müde werden.“ Minoru warf einen flüchtigen Blick gen Himmel, um die Richtung abzuschätzen und wandte sich etwas weiter nach Süden. „Vor Sonnenhoch keineswegs. Selbst dann nicht, wenn wir das Tempo halten könnten.“ „Mit Glück verziehen sie sich bei Sonnenaufgang!“, keuchte Honoka, die ihren Bogen nun fest mit der Hand umschlossen hielt. Von drei Pfeilen hatte sie immerhin zwei zielsicher in eines dieser widerlich stinkenden Wesen versenkt. Dass sie davon nicht langsamer wurden oder gar aufgaben war kaum ihre Schuld. Minoru hatte bisher nur dürftige Blicke auf die Yōkai werfen können. Mit großen, glänzenden Schuppen übersäte, schlangenähnliche Wesen, die den Boden kaum zu berühren schienen, aber zwischen eng stehenden Bäumen deutlich an Geschwindigkeit eingebüßt hatten. Mit jeder freien Fläche holten sie allerdings unweigerlich auf. „Was wollen die eigentlich von uns?“ Honoka sah abgehetzt aus, war es nicht gewohnt so lange und unter Druck zu laufen. „Einen netten Plausch, schätze ich. Etwas Zärtlichkeiten und ein ausgedehntes Frühstück – was glaubst du, was die wollen?!“, fauchte Kaito zurück. „Was sollte eigentlich diese grandiose Aktion uns allein loszuschicken? Wollte der nicht auf uns aufpassen?!“ „Noch leben wir, oder? Mach dir lieber Sorgen um Rin! Sie kann sich ja wohl kaum selbst helfen!“ Kaito schnaubte laut über den Kommentar seiner Schwester. „Braucht sie auch nicht! Sie hat ja wohl den absoluten Daiyōkai-Bonus. He, Zwerg, wie ist das von seinem eigenen Vater versetzt zu werden?“ Minoru knirschte überdeutlich laut mit den Zähnen, kam aber nicht dazu nur einen Ton zu sagen, da Honoka ihren Bruder im vollen Lauf schon wütend einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt hatte. „Er hat recht, du bist ein Holzkopf!“ „Auf wessen verdammter Seite stehst du eigentlich?“ „Spart euch den Atem!“ Minoru hatte langsam genug von diesem Han'yō, der ihn ohne jedweden Grund pausenlos verbal angriff. Das war weder auszuhalten noch zu dulden, aber er wusste es besser als sich nun hier an Ort und Stelle mit ihm zu raufen und dabei Kopf und Kragen zu riskieren. Rin war bei seinem Vater vermutlich tatsächlich sicherer als sie, die sie nun seit Stunden vor irgendwelchem niedrigen Getier flohen, aber diese Flucht barg doch allemal weniger Risiko als ein Verharren in dem umstellten Lager. Warum der Fürst sie jedoch nicht längst eingeholt hatte, war Minoru schleierhaft. Er konnte kaum die ganze Zeit für die Beseitigung dieser Yōkai benötigt haben und doch war von ihm bisher keine Spur. Sollte er sie aus noch anderen Gründen fortgeschickt haben? Es half nichts. Sie mussten dieses Dorf möglichst unversehrt erreichen und bis dahin sollten sie unnötige Auseinandersetzungen vermeiden – was danach kam, war eine völlig andere Sache. Ein ganzes Stück hinter ihnen hatte die Horde von nunmehr nur noch zwei dieser Bestien den Fluss mühelos überquert und züngelte schnaubend in der Luft herum, um die Witterung wieder aufzunehmen. Kaito hatte einen kurzen Blick über die Schulter geworfen und verlor in Anbetracht ihrer nun deutlich sichtbaren Verfolger, die kurz darauf wieder aus seinem Sichtfeld verschwanden, jegliche Farbe im Gesicht. „Drachen.“ Honoka geriet beinahe ins Stolpern. „Was?! Bist du sicher?“ „Ich weiß wie ein verfluchter Drache aussieht!“ „Es gibt keine Drachen mehr auf Honshū!“, protestierte sie zur eigenen Beruhigung. „Sag das denen und nicht mir!“ Kaito wusste genug über Drachen, um keinen von ihnen begegnen zu wollen. Diese Kreaturen, die einst die Insel dominiert hatten, waren Myōgas Geschichten zufolge nicht besonders gut auf Inuyōkai zu sprechen. Eine Verteidigung durch Angriff, wie er sie vorgezogen hätte, rückte damit in unerreichbare Ferne. Doch gerade als er dachte, dass sich dadurch die Situation verschlimmert hätte, standen sie plötzlich knietief im Wasser. Ungläubig betrachtete er den See, der sich vor ihnen erstreckte wie ein nicht endender, dunkler Spiegel. Minoru erschauderte. Hier sollte kein See sein. Weder auf der Karte noch in seinen Erinnerungen war hier etwas anderes gewesen als ein eher schroffes Tal ohne einen einzigen Tropfen überflüssigen Wassers. Ein leises, eisernes Klirren verriet, dass Kaito sein Schwert gezogen hatte. Honoka tat es ihm gleich, holte einen Pfeil aus dem Köcher und setzte ihn an die Sehne. Ihre Hand war so ruhig, dass jeder erfahrene Schütze vor Neid erblasst wäre. Minoru stieg aus dem See heraus und fragte sich zum wiederholten Male, wo diese Biester wohl ihre Schwachstelle haben mochten und ob sie überhaupt dazu kommen würden, einen effektiven Treffer zu landen. Den See würden sie jedenfalls weder durchschwimmen noch umrunden können, ohne dass diese Ungetüme sie einholten. Er zog sein Katana – und reichte es Kaito, der ihn mit großen, verwunderten Augen ansah. „Ich kann damit nichts anfangen“, erklärte er ruhig. „Du schon.“ Kaitos Wakizashi war vielleicht lang genug um die Schuppen zu durchstoßen, aber ob es darüber hinaus tief genug reichte, um nennenswerten Schaden anzurichten, war zu bezweifeln. Dafür musste Minoru kein Experte im Schwertkampf sein. Honoka starrte ihn fassungslos an. „Du kannst nicht ohne-“ „Nimm schon“, unterbrach er sie und war beruhigt, als Kaito das Wakizashi ohne weitere Diskussionen in die Scheide rutschen ließ und das Katana abwägend in der Rechten drehte. Dann brach die Hölle über sie herein. Schlängelnd und lachend. Die beiden Kreaturen wiegten sich hämisch auf ihren kurzen, klauenbewehrten Beinen und ließen ihre schweren, langen Körper Gruben in die feuchte Erde walzen. Ohne die Beine und die ausladenden Hörner an ihren Köpfen hätte man diese Yōkai tatsächlich für Schlangen halten können, deren massige Stirn wie bei vielen Reptilien von einer gigantischen Nō-Masken verziert wurde, die mit leuchtend roten Augen auf die jungen Hunde herabblickten. Drachen, eindeutig, und sie stanken bestialisch. Der Dunkelgrüne der beiden, um einiges drahtiger als sein brauner Kumpane, stieß mit einem Schlag vor, verfehlte Honoka, die geschickt zur Seite auswich und ihren ersten Pfeil mit voller Wucht zwischen die Augen seiner hellen Maske schnellen ließ. Das Geschoss prallte ab, ließ den Drachen einen Moment verharren, bevor er sich schüttelte und die Maske zu einem hämischen Lachen verzog. Nun wurde auch Honoka zittrig. Sie hatte sich allein von diesem testenden Angriff nach außen von den Jungen abdrängen lassen, nur um feststellen zu müssen, dass auch der Kopf kein lohnendes Ziel war. So saßen sie ziemlich tief in der Tinte – und jeder weitere Fluchtversuch war kaum als lohnenswert einzustufen. Dann waren sie über ihnen, stürzten sich auf die drei Kinder wie Aasgeier auf lang ersehnte Kadaver. Minoru machte einen Satz zur Seite und im nächsten Moment über den niederfahrenden Kopf hinweg auf den Rücken des Dämons. Er versuchte mit den Klauen zwischen die abstehenden Segmente am Nacken zu gelangen, traf aber lediglich die glatte Oberfläche der beweglichen Schuppen, die jedwede Lücke sofort schlossen und jede Verletzung verhinderten. Stattdessen wehrte sich der Drache gegen den lästigen Jungen: Mit einem einzigen Schlag seines Schwanzes, der nahtlos in seinen Körper überging, fegte er Minoru von seinem Rücken und der hatte alle Mühe, dem nächsten Biest dabei nicht direkt vor das geifernde Maul zu fallen, das sich gerade unversehens auf Honoka stürzte. Kaito, die auf Minoru gerichtete Aufmerksamkeit nutzend, trieb das Katana mit Gewalt tief in die Richtung, in der er das Herz des Olivfarbenen vermutete. Doch auch als er es bis zum Schaft versenkt hatte, machte der Dämon keinerlei Anstalten, sich geschwächt zu zeigen, sondern fuhr wutentbrannt auf den Han'yō nieder - den Fluchtweg zu einer Seite mit dem schlagenden Schwanz versperrend. Kaito wich nur dürftig aus, drückte sich mit der Schulter an die Brust des Yōkai und versuchte mit Krallenschlägen sein Schwert aus dem Gewebe zu befreien, als er es nicht herausziehen konnte. Keuchend sprang er im letzten Moment nach oben weg, um dem Schlund der Bestie zu entkommen und ließ die Waffe stecken. Diese gewaltige Größe der Drachen hatte eine schier endlose Liste von Vorteilen, machte sie aber auch unbeweglich, je näher die drei sich an ihren gewaltigen Körpern hielten. Minoru hatte derweil auch die letzte Überlegung, hier etwas als Hund ausrichten zu können, verworfen. Auf zwei Beinen konnte er deutlich höher springen und seine Zähne wären ohnehin nicht tief genug eingedrungen um irgendetwas auszurichten. Er hatte es zwischendurch versucht, aber war von Geruch und Aussichtlosigkeit eines Besseren belehrt worden. Das hier war nun einmal leider keine Jagdbeute. Honoka erwies sich als außerordentlich geschickt, wenn es darum ging, Lücken zu finden und einen gewissen Abstand beizubehalten und profitierte stark davon, dass die Jungen den Dämonen zwar keine ernsthaften Verletzungen zufügten, sie aber zu beschäftigen wussten. Einzig einer ihrer Pfeile surrte Minoru auch nach dem Ausweichen noch so nah am Ohr vorbei, dass er beinahe damit rechnete, sie habe ihn treffen wollen. Kaito hatte indes das Katana dürftig befreien können. Es war abgebrochen, bevor es aus dem Körper des Drachens herausgerutscht war. Nun wusste er mit dem Haufen zerstückelten Metalls nichts weiter anzufangen. Einem beseelten Schwert wäre das niemals passiert und mit etwas Yōki hätte er damit auch deutlich mehr Aussichten auf Erfolg gehabt, aber eine solche Waffe war weit außerhalb seiner Reichweite. Er rollte unter einem erneuten Angriff des Kopfes weg, der daraufhin derart ungebremst in das Ufer donnerte, dass die kleinen Steine in der verschlammten Erde meterweit durch die Luft schossen. Er war gerade wieder auf den Beinen – als er sich abermals zur Seite werfen musste. Es gelang ihm lediglich den Großteil seines Körpers vor dem Maul des Dämons zu retten, der die scharfen Zähne in seinem langen, nachtschwarzen Haar versenkte und ihn daran amüsiert in die Höhe riss, als sei das alles ein vergnügliches Unterfangen. Kaito schrie auf, versuchte über dem eigenen Kopf ohne Sicht die Klauen in irgendein verletzliches Stück Drache zu schlagen. Mit dem Kopf zuerst in diesem Maul zu landen war sicher weniger leidvoll als anders herum, aber er hatte für beides wenig übrig. Plötzlich riss etwas harsch an seiner Kopfhaut und er schlug aus voller Höhe längs auf dem Boden auf. Der Dämon über ihm zischte und fauchte in den abwegigsten Tönen, während schwarzes Haar und Teile seiner Zunge in den Schlamm fielen. Minoru, der neben Kaito auf dem Boden aufsetzte, stieß ein bedrohliches Knurren aus und warf dem immer noch vor Wut und Schmerz keifenden Ungetüm einen yōkigezeichneten Klauenhieb entgegen, der den Angreifer zumindest für einen Augenblick zurückzucken ließ. Dann setzte er sofort zum Sprung an. Der Drache fischte ihn mit der Klaue aus der Luft wie eine lästige Fliege und brachte ihn ohne Umschweife zurück auf den schlammigen Uferboden, während Honoka dem zweiten, eher bräunlichen Drachen, kontinuierlich und erfolgreich auswich. Es war aussichtslos. Sie konnten diese Biester nur mit Mühe verwunden und egal wie oft sie sich aus den Angriffslinien zu retten vermochten, würden sie letztlich doch unterliegen. Es blieb noch ein letzter Ausweg, aber weder wusste Minoru, wie er ohne fremde Hilfe diese ominöse Endform eines Daiyōkai nutzen konnte, noch ob er dann in der Lage war sie eigenständig zu kontrollieren – und er war dem Gedanken nicht sonderlich zugetan, in irgendeinem Wald zur Besinnung zu kommen, nur um feststellen zu müssen, dass er neben diesen Drachen auch die anderen beiden auf dem robusten Gewissen hatte. Ganz zu schweigen davon, dass er sich auch in der Form keine allzu großen Chancen ausrechnete. Auch Honoka bemerkte langsam den Engpass, als sie nach ihren Bambuspfeilen griff und nichts als Luft zu fassen bekam. Resignierend tat sie einen Schritt zurück und überlegte gerade, ob es wohl sinnig sei, sich ausgerechnet in so einem Moment den Techniken des unbekannten Nahkampfes hinzugeben, als ein lautes und durchdringendes Sirren die Luft erfüllte. Der gerade frontal attackierende Kopf des Drachen wurde just zur Seite geschlagen und krachte gegen einen nahestehenden Baum, der mit lautem Knarren und Splittern nachgab und stürzte. Minoru gelang es gerade noch sich mühevoll unter den dunkelgrünen Klauen des verwunderten Drachens hervorzuziehen, als der gigantische Bumerang ein zweites Mal durch die Luft surrte und zielsicher das dunkle Horn des Ungetüms über ihm davonriss, bevor er zu einer Gruppe herbei eilender Menschen zurückflog. Einige Schreie gellten durch die Nacht und noch bevor Minoru begreifen konnte, was geschah, hatte Kaito die Situation punktgenau erfasst und sich mitsamt seinem Cousin in den tiefen Uferschlamm zur Seite geworfen, gerade als das Ungetüm über ihnen in einer grellen Fontäne reiner Energie von den Füßen gerissen wurde und sich in Einzelteilen über dem See verteilte. Sein Artgenosse stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und wandte sich den neu erschienenen Angreifern zu, als er bereits von der zweiten Energiewelle getroffen wurde, die den Boden zu seinen Füßen mit tiefen Furchen durchgrub und auch ihn kompromisslos mit sich riss. 狐 Seit einer ganzen Weile beobachtete der General den jungen Fuchs, der möglichst unauffällig zu vertuschen versuchte, dass er von Pferden so wenig Ahnung hatte wie Kōhei Freude an Kabuki, wenn er nicht gerade auf seine eigene Weise an diesem menschlichen Schauspiel beteiligt war. Zwei Tage waren vergangen seitdem sie den südlichen Hof nach Kōheis Unterredung mit Fürst Hayato verlassen hatten und mittlerweile war der frische Salzgeruch der See ebenso ein ständiger Begleiter geworden wie die vielen Menschen, die in der Nähe des Meeres siedelten. Sie grüßten höflich, verbeugten sich vor den wohlhabend gekleideten Männern auf ihren gut genährten, braunen Pferden und nahmen nicht wahr, dass sie dabei zwei Dämonen ihren Respekt zollten. Kōhei hatte es vorgezogen diese Reise im Auftrag des Fürsten möglichst unauffällig zu bewältigen und daher gleich bei Abreise am Hof eine menschliche Gestalt gewählt und die Pferde aus den Stallungen geholt. Eine solche Verwandlung war für ihn eine leichte Übung. Durchaus ein wenig komplexer als eine einfache Illusion um sich herum aufzubauen, aber dafür weniger störanfällig. Shippō hatte sich zunächst ein wenig schwer getan, auch wenn ihm Verwandlungen nach Kōheis bisher eher lückenhafter Einschätzung besser zu liegen schienen als Illusionen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er in der Lage gewesen war, seinen Fuchsschwanz erfolgreich zu verbergen, aber ansonsten sah seine Imitation recht glaubhaft aus – wenn man von dem überdeutlichen Rotstich in den sonst dunklen Haaren einmal absah. Das Wichtigste war ohnehin, dass Klauen, spitze Ohren und der Fuchsschwanz verschwanden. Kōhei hatte sein nun schwarzes Haar zu einem dicken Knoten gebunden und nickte manchem Menschen freundlich zu oder tat als sehe er sie überhaupt nicht, so wie es ihre ranghöheren Artgenossen und Fürsten mit Sicherheit getan hätten. Fürsten. Wie erwartet hatte der Seine auf die Anfrage der Pantherdämonen postwendend und unverzüglich nach Kōhei verlangt und wie erwartet beabsichtigte Hayato-sama nicht, den Osten zu unterstützten. Ganz im Gegenteil: Er war außer sich gewesen; so sehr, dass dem roten Pelz, der den weit ausfallenden Kragen seines schwarz-grauen Kimonos besetzte, die Haare zu Berge gestanden waren. „An welcher Stelle ihrer verkümmerten Phantasie glauben diese Spatzenhirne eigentlich, dass ich auch nur einen Finger für sie krumm machen würde?“ Kōhei kannte seinen Herrn mittlerweile lang genug, um zu wissen, dass man besser den Mund hielt, sobald er aus seiner für gewöhnlich erhabenen und gebieterischen Ausdrucksweise in wütende Beleidigungen abrutschte – was selten genug und meist dann geschah, wenn ihm die Dummheit anderer Personen beinahe physische Schmerzen bereitete. „Man sollte meinen, die seien lernfähig! Laufen den Hunden wieder ins aufgesperrte Maul – und das seit tausenden von Jahren!“ Er hatte sich wutentbrannt auf seinen Tatami sinken lassen und den vor Zorn funkelnden Blick seiner bernsteinfarbenen Augen auf seinen General gerichtet, um die Frage zu stellen, die Kōhei selbst die ganze Zeit umgetrieben hatte: Wie kamen die Panther auf die Idee, dass die Kitsune auch nur ein tendenzielles Interesse daran hegen könnten, dem Westen in seinem Wirken feindlich gegenüberzutreten? Kōhei hatte dem Fürsten seine Sicht der Dinge ausführlich dargebracht. Es war ihm mit jeder Überlegung unwahrscheinlicher erschienen, dass die Panther eine Verbindung zwischen dem Hundewelpen und den Kitsune hatten ziehen können. Die Entwicklung der mächtigen Häuser stand bei nennenswerten Vorkommnissen stets im öffentlichen Interesse und wer ein wenig Verstand dabei anwandte, nahm schnell Abstand davon, die Nachricht über eine Vermählung oder eine Geburt als schlichte Mitteilung eines erfreulichen Ereignisses anzusehen. Derartige Ansichten waren naiven Mädchen, verträumten Frauen und lebensunfähigen Männern vorbehalten. Vermählungen waren nichts anderes als geschmiedete Allianzen und Säuglinge die Krieger von Morgen, deren spätere Rolle im Kampf um die Vorherrschaft bedrohlich unklar war. So war es nicht verwunderlich, dass die plötzliche Kunde eines jugendlichen, westlichen Erbens diverse, teils haarsträubende Spekulationen über dessen bisherigen Verbleib ausgelöst hatte. Der derzeitige Westen war eine Bedrohung für jedes andere Volk, das in seiner Region auch nur den leisesten Herrschaftsanspruch stellte und ihn zu wahren gedachte. Damit würde der zukünftige Westen, und damit die Situation des Gesamtgefüges, aller Voraussicht nach von diesem ominösen Jungen abhängen. Jedoch involvierte keine dieser besagten, unzähligen Theorien die Füchse in unangemessen anklagender Weise oder reichte auch nur im Ansatz an den Kern der Wahrheit heran, dessen Ausmaß weniger als einer Hand voll Personen bekannt war. Wäre ein anderer Hof betroffen, wären die Leute unweigerlich auf die Idee gekommen, eine solch sonderbare Situation entspringe einem wohl ausgearbeiteten und erfolgreichen Komplott, aber dieser Umstand überstieg bei einer Persönlichkeit wie dem Inu no Taishō die Vorstellungskraft der Gerüchte. Den letzten Rest Wahrscheinlichkeit am Mitwissen der Panther eliminierte der Inu no Taishō höchstselbst, da er mit Sicherheit alles daran setzte, den Kindesentzug möglichst nicht publik werden zu lassen. Es zeugte von allumfassenden Versagen seinerseits, dass es jemandem möglich gewesen war, ihm seinen Sohn für fünfzehn Jahre nicht nur zu entziehen sondern gleichsam vorzuenthalten – wobei Kōhei einer der Wenigen war, der um die Chancenlosigkeit des feindlichen Fürsten in dieser Hinsicht wusste. Beinahe hatte der Fuchs einen Funken Mitleid für ihn übrig, aber da Sesshōmaru das einzige Element im Gefüge darstellte, das in den letzten fünfzehn Jahren von dieser Angelegenheit unwissend unbehelligt geblieben war, erstickte der Mitleidsfunken bereits im glimmenden Keim. Sesshōmaru spürte lediglich ein Nachbeben dessen, was andere durchlebt hatten. Nein, die Panther mussten zwangsläufig davon ausgehen, dass der Süden vollkommen neutrale Absichten hegte und mit alledem nichts zu tun hatte. Es gab jedoch einen Gedankengang der so augenfällig wie simpel war: Die Panther verloren schlichtweg die Nerven. Karan tot, Shunran schwer verwundet und im Grunde unbrauchbar, waren von den vier Pantherdevas nur noch zwei übrig und wer die Verbindung zwischen den Geschwistern kannte, wusste, dass die Verbliebenen diese Schmach nicht ohne Weiteres hinnehmen wollen würden – und Katzen waren immerhin für ihre Rachsucht bekannt, nicht für ihr strategisches Kalkül. Ein solcher Krieg war Selbstmord, gerade zu dieser Zeit. Unbesonnen wie sie sich gaben und von Verlust geblendet hatten sie keinerlei Chancen gegen den Westen. Sesshōmaru war nicht sein Vater. Er würde keine Sekunde zögern und mit aller Härte vernichten, was sich ihm in den Weg stellte ohne auch nur einen Gedanken an Gespräche oder – alle Mächte bewahret! – so etwas herablassendes wie Verhandlungen zu verschwenden. Vermutlich witterten die Panther eine gewisse Chance in der durch Minoru vermeintlich erschütterten Ruhe am westlichen Hof. Kōheis Auffassung nach war das ein fataler Fehler. Unruhe und Verwirrung, gerade solcher Natur, hätten die Strukturen und Abläufe vieler Völker erschüttert, so wie das Verschwinden des Wolfserben erst kürzlich den Norden in eine verletzbare Position gebracht hatte. Die Inu, wie er sie kannte, waren jedoch anders. Sesshōmaru war kein Mann, der sich von Gefühlen leiten ließ – wenn man voraussetzte, dass er zu Empfindungen fähig war – und vermochte es, in schwierigen Situationen keine Zweifel an seiner absoluten Autorität aufkommen zu lassen. Eine verletzte Katze war vielleicht versucht sich zurückziehen, aber dieser Hund wurde umso gefährlicher, je weiter man ihn in die Ecke zu drängen suchte – und das wusste sein Fürst nur zu gut. Hayato-sama hatte ihm im Großen und Ganzen zugestimmt. Es war einer seiner Grundsätze, zuerst die Ansichten der anderen zu hören, bevor er in eine Diskussion einstieg. Das bedeutete keinesfalls, dass Hayato auf die Gedankengänge seiner Untergebenen angewiesen war. Es gab jedoch nichts, das er mehr verachtete als heuchlerische, angepasste Personen, deren einziges Ziel es war, ihren Fürsten in seiner Meinung zu bekräftigen statt selbst zu denken. „Ich stimme mit Euch in vieler Hinsicht überein. Es ist aus gegebenen Gründen eher auszuschließen, dass das willkürliche Ersuchen unserer Hilfe mehr in uns setzt als bloße Hoffnung. Sie glauben, ein langer Friede sei ein Zeichen der Sympathie. Wir werden demnach weder in Taten noch in Worten Stellung zum Westen beziehen und den Panthern schlicht mitteilen, dass wir an einem Krieg nicht interessiert sind.“ Hayato hatte den aufgebrachten Pelzkragen mit bestimmtem Streichen seiner mit hellen Klauen wieder geglättet. „Sollten sie wider Erwarten an empfindliche Informationen gelangt sein, werden sie es uns spätestens dann auf die ein oder andere Weise mitteilen. In diesen Belangen sollten wir unsere Diskretion nämlich nicht überschätzen, ganz gleich wie klein die Zahl potentieller Gefahrenquellen ist und insbesondere dann, wenn unter den Eingeweihten ein bekannter Schwachpunkt existiert.“ Kōhei sträubte sich immer noch jedes Nackenhaar, wenn er an diesen Abschnitt der Unterhaltung mit Hayato-sama zurückdachte. Er hatte genau gewusst, auf wen sein Fürst dabei hatte anspielen wollen und einen Moment aufgebracht mit den Schwänzen gezuckt, als er wider allen Mühen dazu gezwungen worden war, einen Gedanken an dieses verabscheuungswürdige Weib zu verschwenden. „Saburō wird sich dieser Angelegenheit annehmen.“ „Saburō-sama?“ Kōhei hatte die Verwunderung nicht verbergen können. Davon abgesehen, dass der Fürst die Einteilung ausführender Kräfte im Regelfall Kōhei überließ, war es verstörend, dass er ausgerechnet Saburō den Vorzug gewährte. Der dritte Sohn des Fürsten war aus einer Ehe entstanden, die man gelinde ausgedrückt als gescheitert betrachten konnte. Ein Mädchen aus politischen Gründen zu verschenken und gegen ihren Willen somit an einen Mann zu verheiraten war auch – und vielleicht sogar insbesondere – unter Dämonen nichts Außergewöhnliches und so war es auch vor der Vermählung kein Geheimnis gewesen, dass die junge Füchsin von ihrer Familie in diese Verbindung gezwungen worden war. Aber man sprach nicht über solche Dinge oder trug die persönlichen Aversionen gar nach außen; besonders nicht als Braut. Die Ehe hatte die Insel Awaji in das südliche Großreich gebracht – und eine äußerst widerspenstige, silberhaarige Frau an den Hof ihres neuen Gefährten und seiner übrigen drei Ehefrauen. Takara hatte seit dem ersten Tag nie daran zweifeln lassen, dass sowohl dieses politische Gefüge als auch der Fürst selbst, den sie vermutlich für dieses Arrangement verantwortlich machte, ihre persönliche Abneigung genossen. Hayato-sama war eine Eroberung in friedlicher Manier ohne unnötiges Blutvergießen stets als der erstrebenswerteste Weg erschienen, doch selbst Kōhei, der damals noch sehr jung gewesen war, hatte sich zu der Zeit oft genug gefragt, ob sein Fürst in diesem speziellen Fall im Nachhinein lieber dem Schwert den Vorzug gegeben hätte, um diese Insel zu bekommen. Kurz gesagt: Takara hatte ihm, seinen anderen Frauen und den gemeinsamen Kindern das Leben für einige Zeit zur wahren Hölle in den eigenen Palastwänden gemacht, ehe er ihr nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes angeboten hatte, ein separates Haus auf Shōdoshima zu beziehen. Sie hatte dankend angenommen, jedoch nicht ohne kratzbürstig darauf zu pochen, dass sie den südlichen Hof niemals ohne ihren Sohn verlassen würde. Hayato-sama hatte sie wohlwollend ziehen lassen. Saburō war ohnehin nur der Dritte von vielen Söhnen und das einzige seiner Kinder, das je vom Herrn der Füchse Beachtung erfahren hatte, war sein ältester Sohn und Erbe Haru – ein breitschultriger, adretter Mann, deutlich älter als Kōhei, mit kastanienfarbenem Haar und den Bernsteinaugen seines Vaters. Das letzte Mal, dass Kōhei Saburō zu Gesicht bekommen hatte, war Jahre her. Er hatte sich über die Jahrhunderte zu einem hochgewachsenen, schlanken Mann entwickelt, dem die Abgeschiedenheit Shōdoshimas nach Kōheis Einschätzungen ein wenig zu sehr aufs Gemüt geschlagen war. Er hatte von seiner Mutter deutlich mehr mit auf den Weg bekommen als die ungewöhnlichen Erbanlagen eines Silberfuches und so war der Kitsune mit dem kohlrabenschwarzen Haar und den funkelnden, orangefarbenen Augen, die vermutlich das einzige Erbe seines Vaters darstellten, weithin dafür bekannt, wenig Zuneigung für seine Halbsgeschwister und den übrigen südlichen Hof zu empfinden. Dass Hayato-sama nun ausgerechnet diesen Sohn mit einer so wichtigen Aufgabe betraute, war aberwitzig. „Ihr werdet ihn bei Akashi treffen und zu mir bringen“, ordnete der Fürst tonlos an. „Was er wissen muss, wird er von mir erfahren. Sorgt nur dafür, dass er unbeschadet hierher kommt und bringt über ihn in Erfahrung, was immer möglich ist.“ Kōhei hatte versucht zu durchschauen, wohin das alles führen sollte und welchen Nutzen der Fürst nun doch aus Saburō ziehen wollte, aber er hatte sich einfach keinen Reim darauf machen können. Informationen über ihn beziehen zu wollen, würde bedeuten, dass er den Sohn der verstoßenen Ehefrau besser einschätzen wollte, aber das ergab nur dann Sinn, wenn er ihn für längere Zeit benötigte. „Darf ich Euch fragen -“ „Haru lebt nicht mehr.“ Kōhei war im Innersten versteinert und hatte seinen Herrn angestarrt, als erwarte er, dass der diese Aussage noch einmal revidierte. Aber er hatte nichts dergleichen getan; lediglich still und reglos auf der Tatami-Matte gesessen und seinen General mit derart gefühllosen Zügen betrachtet, das Kōhei mit einem Schlag bewusst geworden war, dass er lediglich eine bittere Wahrheit ausgesprochen hatte, für die er bereits eine undurchdringliche Maske zur Schau trug. Der Erbe der Kitsune war tot und kein Wort davon hatte den Palast verlassen – war nicht einmal bis zu ihm durchgedrungen! Er hatte die Stirn an den harten Bambus sinken lassen und sein langer, roter Zopf war ihm ungnädig über die Schulter nach vorn gefallen, während er seinem Herrn aus tiefster Seele sein Beileid kundgetan hatte. Haru war ein sehr aufmerksamer Mann gewesen, in einigen Situationen weniger gelassen als sein Vater, aber couragiert und ehrlich. Ihn zu verlieren war ein harter Schlag, der sich auf den ganzen Süden ausweiten würde – und da der zweite Sohn des Fürsten bereits vor vielen Jahren gestorben war, war Kōhei auch mit einem gewissen Unbehagen klar geworden, warum sich Saburō nun doch im regen Gespräch befand. „Wir brauchen Saburō, wenn dieses Land nach meinem Tod bestand haben soll“, hatte Hayato entschieden gesagt. Sollte sein Fürst eines Tages sterben, würde es nicht nur darauf ankommen, wer von seinen Kindern den größten Anspruch auf das väterliche Erbe hatte, sondern wer dazu in der Lage war, es gegen jeden Konkurrenten zu behaupten. Fürst Hayato wusste, wovon er sprach. Er hatte vor einigen tausend Jahren die Führung übernommen, nachdem er einen seiner älteren Brüder und zwei seiner Vettern, darunter den eigentlichen Erben des Südens, getötet und deren jüngere Schwester zur Frau genommen hatte – im Grunde erstaunlich, dass diese Dame mit ihm besser auskam als Takara es je würde. Sicherlich, es hätte in Hayatos Macht gestanden, Saburō zu übergehen, aber das hätten sich weder Sohn noch Mutter kommentarlos bieten lassen. Da war Takara wie alle Mütter – und die konnten wahrhaft unheimlich werden, wenn ihr Nachwuchs eine in ihren Augen unangemessene Behandlung erfuhr. Außerdem hätte der vernachlässigte Sohn seine Ansprüche dann sehr wahrscheinlich spätestens nach dem Tod seines Vaters geltend gemacht und in diesem Szenario wäre ein siegreicher Saburō vermutlich der Tod all seiner näheren Verwandten gewesen. „Harus Tod darf unter keinen Umständen nach außen gelangen, ehe Saburō unsere potentielle Schwachstelle beseitigt hat und ich diese Angelegenheit glaubhaft entschärfen konnte. Wenn jemand erfährt, dass eine marodierende Hündin meinen Sohn gerissen hat, wird der Inu no Taishō sicherlich nicht mit einem Kondulenzbesuch aufwarten.“ Kōhei hatte sich bei diesen Worten der Magen umgedreht und je öfter er über die Offenbarung der längst vergangenen Ereignisse nachdachte, desto dunkler und bedrohlicher legten sich die Schilderungen des Fürsten über sein Gemüt wie undurchdringliche, erstickende Wolken. Reika hatte Haru zerrissen. Im wahrsten, grausamsten Sinne des Wortes. Inmitten seines eigenen, bewachten und bewaffneten Palastes. Die Rekonstruktionen waren Bruchstückhaft, die Vorstellung allein ohnehin verstörend genug. Sie musste den Verstand verloren haben, anders konnte und wollte Kōhei sich diese Gemütswandlung nicht erklären, die gerade sie zu solch zielgerichtet grausamen Taten befähigte. Unter allen, die sich ihr entgegen stellten, sei der Fürstensohn ihr einziges Interesse gewesen. Nur Augen für ihn, niemanden sonst, bis kaum etwas von dem Erben des Südens übrig gewesen war. Wie sie das angestellt haben wollte, war Kōhei völlig schleierhaft. Er hatte bisher nicht die Chance bekommen, gegen einen Daiyōkai zu kämpfen und das sie einer gewesen war, konnte niemand bestreiten. Dennoch war Reika keine gewalttätige oder gar kriegerische Person gewesen; Haru hingegen ein ausgebildeter, schlachterprobter Yōkai, der niemals gezögert hätte, einen Angreifer auf sofortigem Weg in die Unterwelt zu schicken. Das ergab einfach keinen Sinn. Hayato-sama fehlte selbst jede Erklärung für diese Ereignisse und er hatte in den vergangenen Monaten aufgegeben, Antworten auf die Fragen zu suchen. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, wie ein unbedarftes, zartes Weib es fertig gebracht hatte, seinen Sohn derart zuzurichten und darüber hinaus noch lange genug zu leben, um drei weitere Palastwachen mit in den Tod zu reißen, bevor sie ihren Verletzungen und seiner eigenen Lanze erlegen war. Kōhei hatte dafür tiefstes Verständnis. Die letzten Monate hatte er damit verbracht, das imaginäre Bild dieser sterbenden Frau aus seinen Träumen und Gedanken zu verbannen. Dabei war er nicht einmal zugegen gewesen, als sie gestorben war und hatte sich die Umstände weniger katastrophal ausgemalt. Er biss die Zähne hart zusammen, bis seine Kiefer schmerzten und schloss für einen Moment besinnend die Augen. Wäre er doch nur nicht in den Norden gegangen, um Minoru zu suchen. Aber hätte er ahnen können, dass der Junge längst auf seinen Vater getroffen war? Dennoch, er hätte wissen müssen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, als er sich von Reika verabschiedet hatte. Sie war die letzten Jahre über immerzu in einer Mischung aus Trauer, Resignation und Phasen voller unrealistischer Hoffnungen gefangen gewesen; insbesondere wenn es um ihren Sohn ging. Aber an jenem Tag war etwas anders gewesen. Seine Hand hatte in den ihren gelegen und während sie mit ihren weichen, eleganten Fingerkuppen sanft über seine raue Haut gestrichen war als bedürfe er ihrer Unterstützung, hatte sie trotz aller Sorgen und Trauer ungewöhnlich gefasst gewirkt. Ob man es weinend oder lachend hinbringt, ein Leben bleibt ein Leben. Den Weg zu bestimmen liegt nicht in unserer Hand. Wir können nur versuchen, das beste daraus zu machen. Es wird ihm doch nichts geschehen, nicht wahr? Du achtest auf meinen Jungen. Hatte sie gewusst, dass dies kein Abschied auf Zeit war? Hatte sie vielleicht sogar gewartet, bis er den Palast verlassen hatte? Unwillkürlich ließ er einen Zügel los und fasste sich an den Handrücken. Was für ein Narr er doch war! Was für ein Heuchler vor sich selbst! Hatte er nicht immer geahnt, dass sie, unbedarft und sensibel wie sie nun einmal gewesen war, diesem Druck nicht lange standhalten würde und ihr mit schwindender Hoffnung auch immer weiter der Rückhalt entfiel, den er allein kaum zu ersetzen vermochte? Er, der Feind. Es war von Beginn her nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie einmal den Verstand verlor. Wie verzweifelt sie gewesen sein musste, ausgerechnet ihm zu vertrauen und wie dumm er, der er doch tatsächlich geglaubt hatte, die Pflicht gegenüber seinem Herrn mit der aufopferungsvollen Zuneigung für diese Frau verbinden zu können. Reika hatte sich nie bei ihm beklagt. Nie mehr gefordert, als er zu verwirklichen vermochte. Er hätte sie nicht von ihren Ketten lösen oder ihren Sohn zu ihr zurückbringen können, ganz gleich wie sehr er es sich für sie gewünscht hatte. Er hatte auf zwei Seiten gespielt, sich selbst dabei in halbwegs sicheren Gefilden gehalten und fühlte sich nun, als habe er beide betrogen: Seinen Fürsten und die Frau, die ihn bis zu seinem Tod in den Träumen verfolgen würde. Minoru hatte es gewusst. Kōhei konnte nicht erklären wie, aber in seinem Misstrauen hatte der Junge stets gewusst, dass sein vermeintlicher Vater ihm im Ernstfall nicht zur Seite stehen würde – und daraus seine Konsequenzen gezogen. War er als kleiner Junge noch in erregter Freude stürmisch darauf aus gewesen, dass Kōhei ihn auf den Arm hob, sobald der Fuchs durch die Tür herein trat, hatte er mit der Zeit begonnen verhaltener auf Besuche zu reagieren, sich zurückgezogen und war schließlich fast unerträglich ablehnend und kalt geworden. Kōhei seufzte leise. Einst war er sich noch sicher gewesen, dass das, was er tat, richtig war; dass er damit zumindest dem Jungen half und damit indirekt auch seiner Mutter, wenn er sonst schon nichts für sie tun konnte. Aber war das wirklich die Wahrheit gewesen oder eine bequeme Lüge, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen und keine definitive Position beziehen zu müssen? Er wusste es nicht mehr. Er wusste gar nichts mehr, das seine wirren Gedanken ordnen konnte. Kōhei fuhr sich mit einer Hand durch den Nacken und strich hart über einige angespannte Muskeln. Reika zu verlieren war die eine Sache und schon schrecklich genug. Nun zu erfahren, dass sie in einem ersten und letzten Aufbegehren ihr Leben gelassen hatte, fühlte sich jedoch an, als krieche eine dumpfe Kälte in jede Ritze seines Körpers. „Sensei?“ Die Stimme seines neuen Schülers riss ihn so hart in das Jetzt zurück, dass es beinahe physische Schmerzen verursachte. Er wandte den Blick zu Shippō, der beiläufig mindestens zum hundertsten Mal versuchte die ungewohnten Zügel zu bändigen, indem er sie auf der Suche nach der Mitte der Länge nach zwischen den Fingern hindurchgleiten ließ. „Ihr habt alle Farbe verloren. Ist alles in Ordnung?“ Kōhei rang sich ein Lächeln ab. Wenn er dieses Gespräch heute noch ein paar Mal ungewollt Revué passieren ließe, würde er sicher wahnsinnig. „Ja, alles in Ordnung“, log er ohne Umschweife. Was auch immer ihn belastete, er durfte seinen Schüler damit nicht behelligen. Zum einen hätte er es ihm ohnehin nicht erklären können und zum anderen war es nicht gerecht, wenn Kōheis aus den Fugen geratene Gefühlswelt sein Verhalten gegenüber dem Jungen beeinflusste. Er versuchte einen klaren Kopf zu bekommen und seine Aufmerksamkeit einzig seinem Schüler zu widmen, der ihn im Moment wenig überzeugt ansah, sich dann jedoch wieder dem Kleinkrieg gegen das ungewohnte Transportmittel Pferd hingab. Schließlich schien er verbissen zu resignieren und ließ die Strippen der zahmen Mähre unzufrieden locker, was die Falbe dazu veranlasste den Kopf erleichtert auszuschütteln und binnen weniger Schritte die nächstbeste Hecke anzusteuern, wo sie den Kopf zum Grasen im Gestrüpp abseits des Weges versenkte. Vollkommen perplex und ein wenig unbeholfen angelte der junge Mann nach den Zügeln und Kōhei kam nicht umhin, ihn mit einem leisen Anflug von Schadenfreude zu betrachten. „Als du meintest, du könntest reiten, hatte ich mir das ein wenig anders vorgestellt“, neckte er ihn und trieb damit die Röte auf den Wangen des jungen Kitsunes in die Abgründe ungesunder Intensität. Wäre die Stute nicht freiwillig Kōheis Wallach gefolgt, hätte er Shippō in den letzten Tagen schon mehrfach irgendwo hinter sich verloren. „Ich kann reiten“, protestierte der leise, aber vehement. „Nur nicht auf einer so eigensinnigen Fressmaschine.“ Damit erhaschte er die Lederriemen und zog einmal kräftig an ihnen, was lediglich dazu führte, dass das Tier erschrocken den Hals reckte und im Halbkreis einige steife Schritte rückwärts vollführte. Kōheis brauner Wallach sah seiner falb-farbenen Artgenossin verwirrt nach und drehte aufmerksam die Ohrmuscheln in alle Himmelsrichtungen. Ein seidiges Lächeln huschte über Kōheis verschlagenes Gesicht: „Weißt du, wenn der Tee fürchterlich schmeckt, trägt selten die Schale die Schuld daran.“ „Das ist ein Albtraum.“ „Das ist ein Pferd“, gab Kōhei lachend zurück. „Es zu reiten ist keine Kunst. Die Menschen tun das dauernd. Das einzige Problem dieser Biester ist ihre Sensibilität. Sie sind feinfühliger als jedes Katzenweib. Diese sind die Anwesenheit von Yōkai gewohnt, aber jeder andere Gaul nimmt vor dem kleinsten Dämon gleich Reißaus.“ „Warum reiten wir sie dann?“ Shippō war zwar angemessen überrascht gewesen, als Kōhei ihn zu seinem neuen Schüler ernannt hatte, aber Scheu fehlte diesem Fuchs völlig. „Weißt du, Menschen reagieren in ihrer Kleingeistigkeit ein wenig sonderbar, wenn ihresgleichen auf einem Yōkai reitet.“ Er wendete sein Pony und erwies sich gnädig, indem er Shippō noch einmal zeigte, wie er richtig saß und die Zügel hielt. „Was willst du denn geritten haben?“ „Eine Nekomata. Und ein Fahrrad.“ Kōhei musterte ihn eine lange Zeit und kam schließlich doch nicht umhin, einen fragenden Ausdruck in seinen smaragdgrünen Augen zu entwickeln. „Was in aller Welt ist denn ein Fahrrad?“ Sein Schüler sah ihn einen Moment verdutzt an, dann musste er lachen. „Eine sehr willenlose Reitmöglichkeit. Aber das ist schwer zu beschreiben. Wenn wir eins sehen, zeige ich es Euch gern.“ Er übernahm die Hilfestellungen mit Bravur und schaffte es bald sogar die Stute neben seinem Lehrer gehen zu lassen. „Wohin sind wir eigentlich unterwegs? Ihr habt mir immer noch keine Antwort gegeben.“ „Hast du gefragt?“ Kōhei konnte sich nicht daran erinnern, dass sie in den letzten Stunden gesprochen hatten und darüber hinaus war eine solche Auskunft nie erbeten worden. „An die zehn Mal. Aber Ihr habt mich gekonnt ignoriert“, entgegnete er in einem unterschwellig eingeschnappten Tonfall. Kōhei biss die Zähne zusammen und gab ein leises, undefinierbares Geräusch von sich. Er musste diese trüben Gedanken loswerden, aufmerksamer sein und sich auf das Zusammentreffen mit Saburō vorbereiten, der dem bisherigen Bild entsprechend mit Sicherheit kein sehr bequemer Zeitgenosse werden würde. ☾ Der Uferschlamm war nass, kalt und zäh. Auch nachdem Kaitos Gewicht von ihm gewichen war, benötigte Minoru zwei Anläufe, um wieder auf die Beine zu kommen und versank abermals bis zu den Knöcheln im weichen Boden. Die Drachen waren fort. Nur ihr abstoßender Geruch lag schwer und kaum erträglich in der Luft. Es war unmöglich bei diesem Gestank die Witterung der Personen aufzunehmen, die ihren Weg schnellen Schrittes auch durch die tiefen Gräben fortsetzten, die eindeutig ein Angriff mit Yōki verursacht hatte. Dennoch bedurfte es nicht viel Erfahrung im Umgang mit anderen Individuen, um festzustellen, dass diese Fremden für die Geschwister keineswegs Unbekannte waren. Honoka hatte die beiden Jungen längst hinter sich zurückgelassen und stürmte den drei Ankömmlingen ohne jegliche Scheu entgegen. „Eure Eltern?“, fragte Minoru tonlos, der sich eine Schicht groben Schlamms aus dem Gesicht wischte und mit einem klatschenden Geräusch zum übrigen Schmodder auf den Boden pfefferte. Dieser Tag war einfach von vorne bis hinten zum Kotzen – aber man sollte sich nicht beschweren, wenn man dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen war. „Unser Vater“, entgegnete Kaito mit abwesender Stimme, dann begann er von dem Gestank röchelnd zu husten. Ohne Zweifel, Inuyasha war schwer zu übersehen. Der erwachsene Han'yō war in einen auffälligen Suikan gekleidet, einer Kombination aus einer feuerroten langärmeligen Jacke und ebenso stechend gefärbter, ausfallender Hose. Mühelos trug er eine Klinge auf der Schulter, die mindestens so groß war wie er selbst, und ließ sie ungeduldig auf und ab wippen. Die aufgebrachte Wut in seinen goldenen Augen hätte durchaus mit dem kalten Zorn seines Halbbruders konkurrieren können. Honoka lief auf ihn zu und warf sich dem vor Wut beinahe kochenden Mann mit erschreckender Zuversicht um den Hals, küsste seine Wange und schmiegte sich an seine Schulter wie an ein weiches Kissen. Als dieser mit unbeirrt erboster Miene das Schwert zur Seite rutschen ließ und den Arm um sie legte, entschied Minoru, dass er mit dieser Angelegenheit nichts weiter zu tun hatte. Mit einem vom widerlichen Saugen des anhänglichen Schlammes untermalten Geräusch stieg er auf festeren Boden und kniete neben einem einzelnen, etwa faustgroßen Brocken nieder, der wenige Minuten zuvor noch Teil eines Drachen gewesen war. Der faulige Gestank, der von dem Gewebe ausging, war auf empfindlichste Weise abstoßend und mit nichts zu vergleichen – nicht einmal mit dem Räuchersammelsorium eines ganzen Klosters. Er stieß den Brocken mit einer Klaue an und betrachtete ihn eine Weile, während Kaito in seiner Nähe bereits angewidert das Gesicht verzog. „Tod“, entschied Minoru schließlich leise. Kaito schnaubte höhnisch. „Ach, was du nicht sagst.“ Der Yōkai erwischte sich dabei, wie er mit den Augen rollte und Kaito einen genervten Blick zuwarf. Er richtete sich auf und trat den Klumpen seinem Cousin entgegen. Er landete zerteilt und ein wenig matschig zu dessen Füßen, floss auseinander wie längst von Verwesung zersetztes Fleisch und verbreitete seinen Gestank mit eben solcher Intensität pestilenzartig in der Umgebung. Kaito zog erneut den Ärmel vor das Gesicht und musste mit einem leisen Schnauben zugestehen, dass dieser verschlammte Yōkai recht hatte: Diese Drachen hatten nicht erst vor wenigen Minuten ihr Ende gefunden. Wie war das möglich? „Wo steckt er also?“, schnarrte es plötzlich direkt neben Minoru und er wandte sich in kalkulierter, aber wenig ehrlicher Ruhe zu seinem Onkel um. Dieser Mann sah seinem Vater durchaus ähnlich. Hochgewachsen, wenn auch ein wenig kleiner als der Fürst des Westens, besaß er dieselben goldfarbenen Augen und das weiße, lange Haar trug er ebenso offen wie der Taishō das Seine. Aber darüber hinaus hatten sie wenig gemein, insbesondere die anhaltende, distanzierte Erhabenheit des Fürsten ging seinem Halbbruder vollends ab und auch wenn Bewegung und Haltung seines Onkels selbstbewusst und impulsiv anmuteten, so reichte seine Ausstrahlung doch nicht im Mindesten an die vereinnahmende Präsenz von Personen wie etwa Nobu heran. „Ist es also wahr“, brummte der Han'yō ohne eine Antwort abzuwarten und musterte Minoru, als müsse er sich versichern, nicht einem seltsamen, seltenen Tier gegenüber zu stehen. Minorus Stimmung verfinsterte sich schlagartig. Hier hatte jemand geplaudert. Sein Blick wanderte flüchtig an Inuyasha vorbei und fixierte die beiden Menschen, die er mitgebracht hatte. Der riesige Bumerang, der zuvor in den Kampf eingetreten war, ruhte auf der Schulter einer schlanken Dämonenjägerin in dunklem Kampfanzug, die sich an der Seite eines ebenfalls dunkel gekleideten Mannes hielt; dem Stab und dem Kesa - der Robe eines Buddhisten - nach zu urteilen sehr wahrscheinlich ein Mönch. Misstrauen in Sekundenbruchteilen zu überwinden war noch nie seine Stärke gewesen, ganz besonders nicht bei solchen Menschenschlägen. Andererseits hätte sein Vater sie kaum allein in Richtung des Dorfes gesandt, wenn er davon ausgegangen wäre, dass die dortigen Anwohner eine Bedrohung darstellten. So versuchte Minoru zumindest einen Teil seiner Anspannung zu lösen. Er musterte seinen Onkel, der sein Schwert mittlerweile wieder geschultert hielt. Breit wie ein Kinderarm war es an der geschwungen Stelle, in deren Nähe das Schwert zum Ende hin spitz zulief, als handle es sich um einen übergroßen Fangzahn mit Schwertgriff. Tessaiga. Dafür brauchte Minoru nicht einmal die Erläuterung des verschollenen Flohgeistes, der sich seit Tagen nicht mehr hatte blicken lassen. Imposant und verheerend, aber mit Sicherheit auch schwer und unhandlich. Als Inuyasha den Blick des Jungen bemerkte, zog er die Waffe ein kaum merkliches Stück näher an sich heran; knurrte gereizt – und verspielte sich augenblicklich sämtliche Chancen einer vernünftigen Unterhaltung. Kaito, der die Szene verfolgt hatte, reagierte ebenso sonderbar wie sein Vater und legte die Ohren auch noch in einiger Entfernung eng an. Der einzige, der den plötzlichen Stimmungsumschwung nicht verstand, war Minoru, der nicht ahnen konnte, dass der Zwist zwischen ihren Vätern neben einigen anderen Gründen vorwiegend die Erbansprüche auf dieses Schwert betraf, das, wie Tenseiga auch, aus dem Fangzahn seines Großvaters geschmiedet worden war. Die beiden Halbdämonen wären in ihren aufkeimenden, vernichtenden Vorurteilen gegenüber ihrer jungen, vollblütigen Verwandtschaft herb enttäuscht worden, wenn sie nur geahnt hätten, wie wenig Minoru tatsächlich von diesen Dingen wusste. Der konnte die plötzlich aufkommende Feindseligkeit nicht einordnen und nahm augenblicklich eine unterschwellig distanzierte Haltung an, deren ablehnende Note einen kalten Graben zwischen die Anwesenden zog. Das war mehr als Minoru je nach außen hatte dringen lassen wollen. Er war vor ein paar Tagen unüberlegt in einen Kampf gelaufen, ja, aber hier war er sich sicher, dass er diesem Mann nicht einmal im Traum die Stirn zu bieten vermochte – oder gar wollte. Dennoch war da etwas, das ihm verbot, sich derart harsch und unbegreiflich behandeln zu lassen. Wo Nobu einst mit Recht die Ansicht vertreten hatte, Minoru besitze die für Hunde seltene Gabe, den Stolz im rechten Moment herunterzuschlucken, hatte er gleichwohl auch geahnt, dass auch diese Tugend ihre Grenzen hatte – und ein Mann, den er weder kannte noch traute, der ihn scheinbar grundlos anfeindete, nicht einmal die Tageszeit sagen konnte und sich im Allgemeinen abwertend verhielt, durfte nicht mit Freundlichkeiten rechnen; Rettung hin oder her. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand der junge Hund ein solch barsches Verhalten als vollkommen unangemessen und verwerflich. Statt auf die Ansprache seines Onkels zu antworten reagierte er überhaupt nicht. Inuyasha, den allein schon die Ähnlichkeit des Sohnes zum Vater gereizt hatte, war nicht sonderlich erfreut, als sich nun auch gewisse Verhaltensweisen in diesem Zwerg widerspiegelten, die er an seinem großen Bruder auch noch nach Jahrzehnten hasste. Dass er selbst Auslöser dieses Verhaltens war, kam ihm nicht in den Sinn. Honoka, die die Situation mit einigen schlechten Vorahnungen verfolgt hatte, erwies sich als deutlich geschickter und entschärfend. „Sesshōmaru-sama hat uns vorausgeschickt, als uns diese Dämonen umzingelt hatten. Rin ist bei ihm“, antwortete sie an Minoru stelle und trat von hinten an ihren Vater heran. „Nur diese beiden haben uns gestellt und wäre der See nicht gewesen, hätten wir das Dorf bestimmt erreicht.“ „Es ist noch weit bis nach Hause“, warf der Mönch streng ein. Miroku, der sich ein wenig auf seinen Stab stützte, war mit seiner Frau ebenfalls näher heran getreten. Sie sahen alle ein wenig übermüdet und angekratzt, wenn auch erleichtert aus. Kaito machte daraufhin ein abwertendes Geräusch, das ihm jedoch halb in der Kehle stecken blieb, als die Gelenke in Inuyashas freier Hand warnend knackten. Sango ergriff deeskalierend das Wort, auch wenn Kaitos Reaktion sie sichtlich verwirrte. „Wie lange ist das her?“ „Einige Stunden“, antwortete Honoka. „Yōkai wie diese?“, verlangte Inuyasha zu wissen. „Keh! Als wenn Sesshōmaru für ein Dutzend von ihnen mehr als einige Sekunden opfern würde.“ „Es sieht ihm nicht ähnlich, Situationen zuzulassen, deren unglücklicher Ausgang auf ihn zurückfallen könnte“, merkte Miroku nachdenklich an und legte die Stirn in Falten. „Er hätte nicht zugelassen, dass wir seinen Sohn retten müssen, wenn es vermeidbar gewesen wäre. Der Schuld nimmt er sich nicht unbedacht an.“ Minoru wäre beinahe ein sehr abfälliger Ton entwichen. Die Sprachen von Schuld? Wirklich? Als habe der Inu no Taishō nichts Besseres zu tun als zwei ausgerissene Kinder durch halb Japan zu eskortieren! Wer stand hier wohl in wessen Schuld? Dass er jedoch längst zu ihnen aufgeschlossen haben sollte, war auch Minoru bewusst. Eine Position wie seine hielt man nicht inne, weil man sich von einigen Würmern die Stirn bieten ließ – untot hin oder her. „Du solltest nach ihnen sehen, Inuyasha“, riet Sango mit einem Anflug von Besorgnis, die eher Rin als dem Herrn des Westens galt. „Wir bringen derweil die Kinder zu Kagome.“ Wieder stieß Inuyasha ein von Unwillen zeugendes Geräusch aus, brummte dann aber irgendetwas, das nach einer Zustimmung klang. Er betrachtete seine Kinder einen langen Augenblick, dann strich er Honoka durch das verdreckte Haar und legte Kaito für einen Moment eine Hand auf die Schulter, bevor er mit langen Sprüngen zwischen nahestehenden Bäumen verschwand. Minoru sah ihm nach. Langsam wurde ihm diese Familiensache eindeutig zu kompliziert. Kapitel 27: reichen ihre Wurzeln tief - --------------------------------------- Die Pfade erstreckten sich wieder in dichten, aufblühenden Wäldern hügeliger Landschaft. Minoru hatte sich der kleinen Prozession in einigem Abstand angeschlossen und war froh, dass der Weg der beiden Menschen bald wieder denjenigen kreuzte, den er sich mit Hilfe der Karten zurechtgelegt hatte. Ein erneuter Streit mit seinem Vater war nichts, das er provozieren wollte, indem er gegen eine einfache Anweisung verstieß und den abgesprochenen Weg verließ. Dieser See bereitete ihm jedoch weiterhin Kopfzerbrechen. Da er eine Illusion bereits mit Sicherheit ausgeschlossen hatte, blieb nichts weiter als das erniedrigende Eingeständnis der Realität dieses riesigen, unüberwindbaren Hindernisses, das weder die Karten noch seine Erinnerungen verzeichnet hatten. Dieser Fehler hätte sie leicht ins Grab bringen können. Sein Fehler. Unzufrieden schob er die Hände tiefer in die ausfallenden, verschlammten Ärmel. Wie konnte man kleine Aufgaben nur so unverhohlen tief in den Sand setzen? Zumindest konnte niemand ihm die Schuld am Erscheinen dieser Drachen geben. Allein bei dem Gedanken an die stinkenden Ungeheuer breitete sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust aus. Honoka hatte recht behalten: Drachen waren in diesen Gegenden ausgestorben und darüber offensichtlich nicht sehr erfreut. Wie aber kamen letzten Endes verweste Leichen zurück ins Diesseits? Raureif lag noch auf dem Gras und während die Vögel schon eine Weile beschäftigt waren, ihre Reviere vehement und gleichermaßen mit Geschrei und Gekreisch zu verteidigen, lag über der Gruppe eine unangenehme Stille. Minoru war diese Ruhe nur recht. Er trug keine Schuld an dem Ausreißen der Geschwister und hoffte lediglich, dass er am Rande des Dorfes eine sichere Schlafstelle aufstöbern könnte, um auf Rin und seinen Vater zu warten. Kaito sprach seit dem Zusammentreffen mit seinen Bekannten noch weniger als zuvor. Er hatte seinem Vetter das zerbrochene Katana wortlos zurückgegeben und auch dann kein Wort gesagt, als Minoru sich für die Rettung aus Tessaigas Reichweite bedankt hatte. Das Einzige, das Kaito ihm noch entgegenbrachte, waren vernichtende Blicke, deren Begründung Minoru längst egal geworden waren. Wie sinnlos sich Höflichkeit doch jedes Mal darstellte, wenn er doch auf sie zurückgriff. Er hätte sich bei Kaito nicht bedanken müssen. Immerhin hatte er diesem undankbaren Idioten nur wenige Sekunden vorher selbst den Hals gerettet, als er mit bloßen Klauen den Großteil seiner Haare abgeschlagen hatte, um den Han'yō vor dem zahnbewehrten Maul des Drachen zu lösen. Dass er dabei die wütend züngelnde Echse gleich von einem Stück ihrer Zunge hatte trennen können, war eher Glück als Absicht gewesen. Aber man nahm eben mit, was man kriegen konnte und so hatte er diesem übellaunigen Biest zumindest ein wenig zusetzen können. Kaito hatte den Verlust seines nachtschwarzen Haares noch nicht wirklich wahrgenommen – und Minoru war auch nicht sonderlich scharf darauf, dass er diese Veränderung in seiner unmittelbaren Nähe entdeckte. Ein unbestimmtes Gefühl teilte ihm mit, dass sein Vetter dies sehr wahrscheinlich nicht als Kollateralschaden betrachten würde – was langsam eindeutig die Frage aufwarf, ob Menschenblut verblödende Auswirkungen hatte. Der hohe Aussichtsturm des Dorfes reckte sich weithin sichtbar in das fahle Morgenlicht. Dutzende Felder, getrennt durch schmale und trockene Fußwege, dominierten die Ebene und sowohl an den bewaldeten Hängen der Berge als auch vereinzelt in der eher kahlen Umgebung des Dorfes waren Ansammlungen von Hütten zu erkennen. Unter den Menschen herrschte bereits reges Treiben und das Vieh schrie lauthals um Futter, Pflege und Aufmerksamkeit. Während den Geschwistern das Herz aufging, drehte sich Minoru der Magen um. Der Geruch nach Mensch hing so schwer und allgegenwärtig in der Luft, dass er ihn sogar durch den Restgestank der Drachen noch wahrnehmen konnte, der wie zäher Honig hartnäckig an ihnen haftete. Er würde dieses leidliche Anhängsel aus Gestank und Dreck loswerden müssen - und das bald. Die Gruppe hatte das zentrale Dorf und die weiten Reisfelder bald hinter sich gelassen. Das Gelände stieg allmählich wieder an und sanfte, offen bewaldete Hügel wogten wie Wellen über das Land. Bereits bevor sie eine der Kuppen überquert hatten und im nächsten kleinen Tal die ersten Dächer der Hütten in Sicht gekommen waren, konnte Minoru an Honokas Aufregung und Kaitos trüber Stimmung ablesen, dass sie am Ziel angekommen waren. Die beschaulichen Häuser standen einzeln über die kleine Senke verteilt zwischen frisch umgegrabenen Feldern, die den Geruch von feuchter Erde verbreiteten. Ein Fluss schlängelte sich künstlich begradigt heran und wurde von mehreren, befestigten Wegen überspannt. Minoru verlangsamte unbewusst seine Schritte. Der Geruch von Mensch war hier nicht so deutlich wie in der Nähe der anderen Siedlung, aber in die Senke zu gehen, fühlte sich an wie in einen Hexenkessel hinabzusteigen. Die Stadt, die er vor einigen Monaten zur Informationsbeschaffung betreten hatte, war um Längen größer und dichter besiedelt als dieses Dorf, aber damals hatte ihm niemand auch nur einen Funken Beachtung geschenkt. Die Menschen hatten selten etwas für Streuner übrig. Aber das war nicht alles. Etwas an diesem Ort bereitete ihm zusätzlich Unbehagen und als er den Blick hob, wurde Minoru auch mit einem Schlag bewusst, was hier ganz und gar nicht stimmte. Der Mönch und die Dämonenjägerin hielten auf einige Häuser am Ende eines bewaldeten Hügels zu, auf dem eine mit Lampen gesäumte, steile und sehr lange Treppe geradewegs auf eine Anhöhe hinaufführte, auf deren Plateau ein Schrein errichtet worden war. Als Minoru in der Ferne das Torii auf dem Treppenabsatz bemerkte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Das Tor, das den Übergang von irdischer Welt zu heiligem Boden kennzeichnete, leuchtete in der aufgehenden Sonne mit seinem roten Lack wie ein erhabenes Mahnmal über der Menschensiedlung. Minoru stellte sich jedes Haar auf, das in dieser humanen Form dazu in der Lage war. Er hielt inne. Das war doch nicht ihr Ernst! Mönche und Taijiya allein wirkten auf einen jungen Yōkai bereits hinreichend bedrohlich; eine zusätzliche Annäherung an einen Schrein jedoch überschritt jedes Maß von Vernunft. In der Nähe eines Schreines waren Priester nie weit und wenn er eines gelernt hatte, dann dass er sich von diesen besser fernhalten sollte. Priester ließen sich selten täuschen, erkannten einen Dämon selbst in Tierform mit erschreckender Genauigkeit und zögerten in den wenigsten Fällen, zum vermeintlichen Schutz ihres Dorfes zum Angriff überzugehen. Er selbst hatte bisher glücklicherweise wenig Erfahrung mit dieser Menschengattung gemacht und war auch des Weiteren nicht besonders erpicht darauf. Der Fürst hätte ihn sicher nicht in die Nähe des Dorfes geschickt, wenn er es nicht für sicher gehalten hätte, doch dieser Ort kam Minoru bedrohlicher vor als jeder Wald. Überall in der Umgebung waren Menschen. Wie in einem angeschlagenen Bienenstock surrten sie zwischen ihren Häusern umher, klapperten mit Gerätschaften und erfüllten die Luft mit ihren ungleichmäßigen, hastigen Herzschlägen. Er sah den anderen wenig überzeugt nach. Die Geschwister legten ein völlig konträres Verhalten an den Tag und eine leise Stimme in seinem Innern flüsterte Minoru, dass er keine großen Ambitionen hatte, sie beim Zusammentreffen mit ihrer restlichen Familie zu begleiten. Aber die Anweisungen des Fürsten nach eigenen Vorlieben zu biegen, um diesem Ort zu entkommen und in einem nahegelegenen Wald auf ihn zu warten, würde Minoru sicher nicht wagen. Nicht nachdem er erst vor wenigen Tagen Einsicht beteuert und versprochen hatte, keinen Ärger mehr zu bereiten. Natürlich hätte er die Anweisung, den Weg nicht zu verlassen, dahingehend auslegen können, dass der Weg am Dorf endete, aber wollte er diese Erklärung wirklich gegenüber seinem Vater vorbringen, der immer noch nicht zu ihnen aufgeschlossen hatte? So schlimm konnte ein Dorf voller Dämonenjäger eigentlich gar nicht sein – und der Fürst hätte ihn ohnehin nicht in dieses Pulverfass geschickt, wenn er es nicht für sicher befunden hätte. Wenn er jetzt zögerte und all seine neuerlichen Gedanken in den Wind schoss, verlor er seine Glaubwürdigkeit und das würde für das zukünftige Miteinander Fatales bedeuten. Es half also nichts. Honoka ging verschwiegen neben ihrem Bruder, der mittlerweile einen Arm um ihre Hüfte geschlungen hatte, um seine übermüdete Schwester zu stützen. Diese untoten Würmer hatten sie vor der Abendruhe gestört und Honoka war es nicht gewohnt, mitten in der Nacht für Hochleistungen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Je näher sie dem kleinen Holzhaus am Fuße des Hügels kamen, desto schwerer legte sich Kaitos schlechtes Gewissen über seinen Geist. Er hatte es seinen Eltern in der letzten Zeit nicht leicht gemacht, hatte oftmals versucht seinen Kopf mit aller Macht durchzusetzen und war im Umgang mit provozierenden Fremden so unberechenbar, dass seine Mutter den Moment gefürchtet hatte, in dem er eine gewisse Linie überschritt und jemandem ernsthaft und nachhaltig schadete. Doch diese Dinge bedeuteten nichts im Vergleich zu über zwei Wochen voller Angst, Sorge und Suche. Zwei Wochen, in denen sie mit Sicherheit die Geburt ihres Geschwisterkindes versäumt und ihrer Mutter in den schweren Stunden unnötig Kummer bereitet hatten. Er fühlte sich elend und leer. Miroku und Sango hatten die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Auch sie schienen müde und es war Kaito nur recht, dass sie keine Anstalten machten, ihr Verschwinden zu bewerten. Sicher, sie hatten ihrem Vater geholfen sie zu finden und ohne die unerwartete Hilfe hätte dieser Sonnenaufgang deutlich schwärzer ausgesehen, aber er wusste, dass es sich hinreichend schwer gestalten würde, den Mund zu halten, wenn gerade die Eltern der Zwillinge nun kritisch das Wort an sie wandten. Noch bevor sie das Haus erreichten, das sie nach dem Tod der alten Priesterin Kaede vor gut einem Jahr bezogen hatten, kam Bewegung in die vier Wände. Kaito spürte die Aufregung, die sich unter dem Dach zusammenballte und etwas in ihm verkrampfte schmerzhaft. Honokas Reue schien hingegen von erwartungsvoller Vorfreude erstickt. Sie machte sich wie beflügelt von ihrem Bruder los und geriet ins Laufen, als die Tür zum Haus nur leise klapperte. Kaito hingegen kam ein Herzschlag abhanden, als er seine Mutter in der Tür stehen sah. Sie wirkte um Jahre gealtert, erschöpft und aufgebraucht. Als Kagome ihre ausgerissenen Kinder sah, erhellte sich ihr Ausdruck jedoch mit einem Mal zu früherer Leichtigkeit. Sie fing Honoka mit offenen Armen auf, die sie unversehens damit zu Boden zog und drückte ihre Tochter fest an sich. Kaito war wie angewurzelt stehen geblieben und brachte keinen weiteren Schritt über sich. Im Angesicht des leichten Gemütes seiner Schwester wog seines so schwer als ruhe alle Last und Schuld allein auf seinen Schultern. Wie in Trance verfolgte er die erleichterte Begrüßung zwischen den beiden und nahm kaum wahr, dass Kagome irgendwann direkt auf ihn zukam. „Kaito.“ Ihre forschen, braunen Augen fixierten ihn und er wich dem Blick flüchtig zur Seite aus. Auch als sie vor ihm stehen blieb, konnte er seiner Mutter kaum ins Gesicht sehen. „Wir wollten das nicht“, brachte er irgendwie zusammenhanglos hervor. Kagome seufzte tief, legte ihm eine Hand auf den Rücken und zog mit der anderen seinen Kopf zu ihrer Schulter herab. Das Kind war einfach zu groß geworden in den letzten Jahren. Dann gab sie ihn wortlos wieder frei, jedoch nicht ohne eine Hand an seine Wange zu legen und ihn aufmunternd anzulächeln. Ihre Fingerspitzen strichen über einige seiner verschlammten Strähnen und ließen die angetrocknete Erde herabrieseln. „So verdreckt seid ihr mir noch nie nach Hause gekommen“, merkte sie leise, aber doch eher nachdenklich an. „Ihr solltet baden, bevor ich euch ins Haus lasse. Eine warme Mahlzeit würde euch sicher auch gut tun, bevor ihr euch ausruht. Wir reden später über alles. In Ruhe.“ „Danke“, gab Kaito kleinlaut zurück, aber sie winkte mit wedelnder Hand ab als versuche sie eine lästige Fliege zu verscheuchen. Es hatte eine Zeit in den letzten Wochen gegeben, in der sie wütend gewesen war. Stocksauer auf ihre scheinbar ohne ersichtlichen Grund entflohenen Kinder. Aber diese war längst von Ängsten überschattet worden und nun war sie lediglich froh, ihre beiden Großen augenscheinlich unversehrt wieder unter ihrem Dach zu wissen. Mit jedem Tag der verging, wurde die Ruhe ihrer eigenen Mutter Kagome zu einem wahren Rätsel. Wie hatte die Frau nur all die Monate überstanden, in denen ihre Tochter teils wochenlange Reisen durch ein von Dämonen überranntes Mittelalter unternommen hatte, während Kagome selbst die beängstigenden Gedanken nicht einmal dann vertreiben konnte, wenn sie sich in Erinnerung rief, dass es sich bei ihren Kindern nicht um wehrlose Menschen handelte? Gern hätte sie sich mit ihrer Mutter über diese Dinge unterhalten, ihr ihre Enkelkinder vorgestellt und von all den Dingen erzählt, die in den vielen Jahren geschehen waren. Aber der Brunnen blieb still, hielt die Pforte zu ihrer Zeit verschlossen und die bittere Wahrheit war, dass sie nicht einmal wusste, ob ihre Mutter überhaupt noch lebte. Aber sie hatte sich für dieses Leben entschieden, für Inuyasha, all die Beschwerden dieser mittelalterlichen Welt und bereute diese Entscheidung nicht. Dennoch war es manchmal schwer, an ihre Familie zurückzudenken. Nicht nur an ihre Mutter, sondern auch an ihren sicher nicht mehr kleinen Bruder Sōta und Großvater, bei dem sie mit den Jahren immer öfter bereut hatte, sein verschrobenes Interesse für uralte Artefakte nicht zumindest ein wenig geteilt zu haben – ihm zuliebe. In solchen Nächten, in denen sie darüber wach lag, verdammte sie manchmal die feinen Sinne der Halbdämonen. Inuyasha bemerkte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte und wachte oft allein aus diesem Grund auf. Früher hätte er sich keinen Deut darum geschert, wie es ihr ging oder es zumindest nicht gezeigt – heute sah das anders aus. Die ersten Male hatte er noch ergründen wollen, was ihr fehlte, aber über ihr Schweigen diese Fragen aufgegeben und sie lediglich in seine Arme gezogen. Er war nicht gut darin, Dinge zu besprechen. Doch Kagome wollte ohnehin nicht mit ihm über diese Angelegenheiten reden. Es schien ungerecht, wenn sie über die Trennung zu ihrer Familie klagte, war er es doch, der seine Mutter früh verloren und seinen Vater niemals gesehen hatte. Kagome sah Kaito noch einen Moment nach, während er sich auf den Weg zum Waschzuber auf dem Hinterhof machte und stockte. Sein Haar war deutlich kürzer als zuvor und noch dazu sehr unordentlich abgeschnitten worden. Wohl wissend, dass man einen jungen Mann in seinem Alter besser nicht auf die neusten, vielleicht sogar unfreiwilligen Veränderungen aufmerksam machte, hielt sie den Mund und wandte sich mit wiedererwachtem Unmut an Sango und Miroku. „Wo ist er?“, verlangte sie scharf zu wissen und sah Miroku an als trage er allein die Schuld an Inuyashas Abwesenheit. Der Mönch schrumpfte sichtlich zusammen. Kagome war in letzter Zeit nicht unbedingt für ihre Milde bekannt, auch wenn sie gegenüber ihren Kindern vor lauter Erleichterung bisher sehr nachsichtig gewesen war. „Die Kinder waren von zwei Drachen eingekesselt, als wir sie fanden. Nicht der Rede wert, aber es muss mehr von ihnen gegeben haben. Sesshōmaru und Rin haben die Kinder vorgeschickt, um sich um den Rest zu kümmern und hatten immer noch nicht zu ihnen aufgeschlossen, als wir eintrafen“, antwortete Sango anstelle ihres Mannes und versuchte möglichst beruhigend zu klingen – sofern das in Anbetracht von zwei ausgewachsenen Drachen möglich war –, während sie damit fortfuhr, dass Inuyasha nur nach dem Rechten sehen wolle. Es gab bessere Nachrichten, wenn man gerade aus dem Kindbett kam. Das kannte sie nur zur Genüge. Kagome wurde trotz aller Bemühungen ein wenig blasser und sah ihre Freunde einen Moment schweigend an. „Drachen sind 'nicht der Rede wert'?“, fragte sie schließlich als wolle Sango sie für dumm verkaufen. „Es war nicht gerade Ryūkotsusei persönlich. Zwei ganz kleine Lichter. Inuyasha wird sicher bald zurück sein“, versicherte Miroku. „Mach dir keine Gedanken.“ Kagome besann sich auf ihre vernünftige Ader und versuchte sich zum ungezählten Male einzureden, dass Inuyasha niemand war, um den man sich sorgen musste – auch wenn die Geschichte sie anderes gelehrt hatte. Dass er sich jedoch offen um den Verbleib seines Halbbruders scherte, verwirrte sie. Zwar war es keine grundsätzliche Änderung in seinem Verhalten, da er auch zuvor schon helfende Ansätze gezeigt hatte, wenn rar gesäte Situationen diese erlaubten, aber niemals hatte er so klar erkennbar durchscheinen lassen, dass sein Bruder ihm nicht egal war. „Sesshōmaru in Schwierigkeiten?“, sie klang sehr ungläubig und auch Sango zuckte ein wenig ratlos mit den Schultern. „Wie wahrscheinlich ist das?“ „Nicht sehr“, gestand Miroku leise. „Aber wir wissen nicht, was sie wirklich aufhält. Nur dass er es für sinnvoll gehalten hat, die Kinder vorzuschicken und bisher nicht da ist. Spekulationen führen zu nichts. Es ist mir ohnehin ein Rätsel, warum er das für euch getan hat. Es sieht ihm nicht ähnlich, sich um andere zu kümmern.“ „Vielleicht weiß er, wie es euch ergangen ist, als die beiden fort waren, nachdem er jetzt selbst ein Kind hat“, schlug Sango vor. „Vielleicht war es Mitgefühl.“ Ein ernstzunehmendes Schweigen legte sich über die drei Freunde. Sie sahen sich der Reihe nach nachdenklich an, dann entfuhr ihnen ein synchrones, zutiefst resigniertes Seufzen. „Vermutlich wollte er sie einfach loswerden“, entschied Kagome desillusioniert. Es gab viele Wunder, die die abwegigsten Dinge in den Bereich des Möglichen rückten. Miroku und Sango waren ein harmonisches Ehepaar, Inuyasha ein durchaus verantwortungsvoller Vater und Partner, ja, selbst Shippō war irgendwann ein wenig ernster geworden. Aber einen einfühlsamen, mitleiderfüllten Sesshōmaru konnte selbst ein extraorbitantes Wunder nicht bewerkstelligen. Seit Myōga von diesem Jungen berichtet hatte, versuchte Kagome sich eine Beziehung zwischen dem distanzierten Inu no Taishō und einer Frau vorzustellen, die über Schweigen und arktische Kälte hinaus ging, aber jedes Mal, wenn in dieses Bild eine geschlossene Zimmertür involviert war, wurde sie von einer Welle Schüttelfrost gepackt und das Gedankenspiel brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus im eisigen Sturm – und dennoch war das Kind hier. Der magere Junge mit der schwelenden Aura war ihr gleich beim Verlassen des Hauses aufgefallen, hielt sich aber bewusst in einigem Abstand zu der Gruppe und hatte bislang weder ein Wort gesagt noch einen einzigen Schritt getan. Kleidung und Haar des Inus waren ebenso verschlammt wie ihre eigenen Kinder, sein Ausdruck erschöpft und angeschlagen. Auch er war also mit diesen ominösen Drachen aneinander geraten, was das flaue Gefühl in ihrem Magen nur verstärkte. Sesshōmaru war sicher in der Lage die Fähigkeiten seines Sohnes einzuschätzen. Er war stets an Rins Seite gewesen, wenn ihr Schwierigkeiten gedroht hatten – warum also waren die Kinder so in die Bredouille geraten? Sein Junge gab ein sonderbares Bild ab. Kagome hatte noch nie einen jungen Hundedämonen gesehen, geschweige denn einen, der Sesshōmaru so ähnlich sah und allein durch diesen Dreck nicht weiter von ihm hätte entfernt sein können. Auch hier stimmte irgendetwas nicht. „Guten Morgen“, grüßte sie ihn freundlich und war schon beinahe erstaunt, dass sie ein knappes Nicken zur Antwort erhielt. „Du musst Minoru sein. Mein Name ist Kagome.“ Seine Miene blieb ausdruckslos, die Hände tief in die ausfallenden Ärmel geschoben musterte er sie mit geradem Rücken. Aber er fühlte sich hier eindeutig nicht wohl. Kagome war versucht, ihm warmherzig zu erklären, dass niemand hier ihm schaden wolle und er sich nicht fürchten müsse, konnte sich aber gerade noch davon abhalten. Das war ein Satz, den man Mitgliedern dieser Familie besser nicht entgegenbrachte, wenn man keine schnippischen, beleidigten oder wahlweise aggressiven Männer erleben wollte. „Du bist hier herzlich willkommen. Auf dem Hinterhof ist ein Waschzuber, am Feuer steht noch heiße Suppe und ein Schlafplatz ist für dich sicherlich auch noch da. Fühl dich wie Zuhause.“ Minoru betrachtete die sonderbare Frau in ihren Männerhosen und versuchte einen bösartigen Unterton aus ihrem Angebot herauszuhören. Vergebens. Sie betrachtete ihn lediglich freundlich, wenn auch bestimmt und schien auf eine Reaktion zu warten. „Danke“, brachte er schließlich hervor. Ihr Blick heftete sich auf den zerfetzten Stoff an seiner Schulter, wo die Klaue des Drachen den Kimono zerrissen hatte. „Du bist verletzt.“ Als er nur leise schnaubte, musste sie lächeln, zog die Arme jedoch enger um den Körper und unterdrückte ob der aufkommenden, kühlen Brise ein leichtes Schütteln. „Du solltest besser ins Warme gehen, Kagome-chan“, meinte Sango gutmütig und betrachtete ihre Freundin mit Sorge. „Wir werden auch Zuhause nach dem Rechten sehen. Dann komme ich nachher vorbei und helfe dir.“ „Ja, vielleicht sollten wir tatsächlich besser rein gehen“, meinte sie leise. „Ich danke euch von Herzen für eure Mühe.“ „Dafür musst du uns nicht danken“, gab Miroku zurück. „Es ist selbstverständlich. Bist du sicher, dass du zurechtkommst?“ Aus den Augenwinkeln musterte er Minoru für einen Moment. „Natürlich. Ich bin mit meiner Familie in guter Gesellschaft“, erklärte sie ohne Umschweife und lächelte milde, wobei sie auch ihrem Neffen einen kurzen, vielsagenden Blick zuwarf. Es war unehrenhaft, jenseits jeder Vernunft und an Fatalität kaum zu übertreffen. Alles war erfüllt von Blut, Verwesung und Fleisch. Drachen in der Luft, Drachen am Boden und dazwischen Panther – überall und nirgends. Hatte man einen Drachen niedergestreckt, kam der nächste, fuhr mit ohrenbetäubendem Lärm zwischen die Inu und verbreitete einen Geruch von Pestilenz, Seuche und Grabsekreten. Es war unausstehlich. Er roch schon lange nicht einmal mehr sein eigenes Blut, das dickflüssig den provisorischen Leinenverband an seinem zerrissenen Unterarm durchtränkte. Prüfend ließ Ryouichi einen Blick über das Schlachtfeld wandern, das sich wegen der gigantischen Drachen in eine unvorteilhafte Breite gezogen hatte: Seine Truppen waren zerstreut und auch wenn die Drachen für sie händelbare Gegner darstellten, forderten diese Echsen doch eine vernichtende Menge an Aufmerksamkeit ein, die sie lieber ihren eigentlichen Gegner, den Panthern, hätten zukommen lassen. Akio schlug sich einen Weg in die rechte Flanke und setzte, unter Begleitung eines Pfeilregens seiner Leute, einen weiteren Drachen außer Gefecht. Insgesamt trieben nicht viel mehr als zehn dieser gewaltigen Reptilien auf dem Schlachtfeld ihr Unwesen, aber es konnten jederzeit mehr werden und wenn sie stets einen Weg fanden, nach wenigen Minuten in die Welt der Lebenden zurückzukehren, würden diese nach Tod stinkenden Kreaturen die Schlacht bis zur Weltendämmerung hinausziehen. Knurrend zog er den Yari aus einem verendeten Kater und fletschte in Anbetracht eines nachtblauen Drachen, der sich direkt vor ihm von den Toten erhob, unter der dunkelgrünen Tonmaske die Zähne. Wie oft er dieses Biest schon erschlagen hatte! Vier oder fünf Tode war es nun mit Sicherheit gestorben, und ein ums andere Mal setzte es sich wieder zusammen, als puzzelten die Diener der Unterwelt es persönlich wieder zurecht. Wütend flammte sein Yōki auf, ließ den hölzernen Schaft des Yaris im Kern splittern und trennte gerade noch den Kopf der Echse ab, als die Waffe endgültig barst. In Einzelteilen verteilte sie sich über dem nun wieder toten Körper des Drachen, während bereits das nächste Reptil aus dem Himmel auf ihn hinabstieß. Ryouichi sprang zur Seite, duckte sich unter den Klauen weg und versuchte Abstand zwischen sich und den neuen Gegner zu bringen, der über ihm aufragte, als wolle er dem Hauptturm des Honmaru erblassen lassen. „Mein kleiner Hund!“, tönte die Maske auf der Stirn des sandfarbenen Monsters. „Wie erfreulich, dich so unbeschadet wiederzusehen.“ Ryouichi konnte spüren, wie ihm das Blut in den Adern gefror und das klare Denken ein jähes Ende fand. Der Drache lachte rauh, peitschte schadenfroh mit dem Schwanz umher und schlug damit einen seiner deutlich kleineren Artgenossen ungerührt in die nächste Felswand. Metallisches Klirren, Schreien und kriegerische Rufe hallten von weit her, als der Chūyō benommen den Griff seiner zittrigen Hände um seine nachtschwarze Klinge verstärkte, die an seiner Hüfte ruhte. „Angst.“ Der Drache brummte zufrieden. „Dein Gedächtnis ist doch nicht so kurz wie befürchtet.“ Er züngelte genüsslich, dann näherte er sich mit dem gewaltigen Maul und zerquetschte beiläufig einen Panther unter seinen scharfen Klauen, der sich ebenso auf Ryouichi hatte stürzen wollen. Mit einer mächtigen, schlängelnden Bewegung zog der Drache mit seinem langen Körper eine Barriere zwischen den Generalleutnant und die Front des Schlachtfeldes, schnaubte ihm mit einem einzigen, tiefen Atemzug die Maske vom Kopf und zog seinen Kreis weiter, bis er den Inuyōkai vollständig abgeschottet hatte und ihn ausgiebig betrachten konnte. Der Gestank, der aus den offenen Wunden des Reptils trat, war unerträglich und allgegenwärtig, aber er erreichte Ryouichi nicht mehr. „Sie haben dich zurückgeholt“, säuselte der Drache in einem erschreckend zufriedenen Ton. „Wie grausam von ihnen. Sag, wärest du nicht lieber wieder tot als in diesem scheußlichen Dasein gefangen?“ Er lachte heiser. „Das Unglück in den Augen. Du warst schon immer erbärmlich, Daisuke-chan.“ Das Monstrum von einem Drachen wollte gerade zufrieden nach seiner erstarrten Beute züngeln, als es brüllend herumfuhr und mit dem Schwanz versuchte, seinen Nacken von diesem widerlichen Stechen zu befreien, das sich kalt und scharf in seinen Körper bohrte. „Chūyō!“, Setsuko riss den Speer zwischen den feinen Schuppen hervor, wich dem Schwanz aus, mit dem sich der Sandfarbene selbst einen gefährlich harten Schlag versetzte und trieb die Waffe abermals in ihren Gegner. „Ryouichi!“ Der blinzelte, schüttelte besinnend den Kopf und ging endlich zum Angriff über, riss die Obsidianklinge über den Boden und schlug damit eine todbringende Furche in Untergrund und Drachen. Der wirbelte zu ihm herum, stürzte sich im letzten Aufbegehren mit weit aufgerissenem Maul auf ihn. Ryouichi duckte sich unter dem verzweifelten Angriff weg und stieß die Waffe tief in die Rachenregion. Dann suchte er unter dem ersterbenden Drachen das Weite, bevor er von dem schlaffen Körper zerquetscht wurde und rette sich an einen beruhigteren Punkt weiter hinten in der Schlachtreihe. Setsuko setzte ihm nach, blieb aber in einigem Abstand stehen. „Was in Akayas Namen tut Ihr da bloß? Sollen Kanae und ich morgen an Eurem Grab stehen?!“ Ihre violetten Augen funkelten zornig, bis sie erschrocken feststellte, dass seine Hände zitterten. Nicht viel, aber doch so deutlich, dass sie es erkennen konnte. Dann besann sie sich, schob Verblüffung und Sorge zur Seite und knurrte wütend. „Eure Probleme sollten hinter Eurer Pflicht zurückstehen. Unser Leben hängt an Euren Entscheidungen!“ Seine schwefelgelben Augen hefteten sich auf sie als nehme er ihre Anwesenheit erstmalig zur Kenntnis – und sie blitzen für einen Moment unter dem Wahnsinn, den sie an ihm so fürchtete. „Wie war das gerade?“, hob er bedrohlich leise an. Setsuko tat das einzig Vernünftige, verneigte sich tief und schwieg eisern. Er nahm keinerlei Notiz von ihr, als er geradewegs in den tobenden Kampf zurückmarschierte und abermals, abwesend, die Klinge über den Boden zog. Das Yōki durchfuhr alles auf seinem Weg, traf einen Drachen quer und schleuderte die Panther in der Nähe seiner Druckwelle mehrere Meter durch die Luft. Die nahestehenden Inu, die die Technik ihres Kommandanten kannten, hatten den Angriff auch trotz der kaum wahrnehmbaren Witterung bemerkt und ihre Gegner in Verwirrung zurückgelassen, als sie sich ohne jede Vorwarnung zurückzogen und damit dem verheerenden Angriff entgingen. Dann stürzten sie sich zurück zwischen Drachen und Panther. „Übertreib es nicht“, hatte er gesagt. So viele Jahre immer noch nichts verstanden. Der blutige Pfad, den der Generalleutnant hinterließ, bestärkte alle in der Gewissheit, dass dies bis zum bitteren Ende geführt werden würde – wichen sie, wäre der Weg in den Westen frei und die Panther würden nicht zögern, jeden blutdurchtränkten Meter des Landes zu unterwerfen, wenn niemand sie daran hinderte. Shisunas sandfarbener Körper wurde von wellenförmigen Regungen gepackt. Augen von Maske und Echsenkopf schimmerten wieder in glänzendem Rot. Ryouichi betrachtete den erwachten Drachen für einen Moment teilnahmslos und schließlich mit einem entrückten Lächeln auf den blassen Lippen, während sich seine Gedanken rastlos in der Ferne umtrieben und seine menschliche Erscheinung verblasste. Vergib mir. Minoru hob aufmerksam den Kopf und drehte die Ohren in Richtung des Hinterhofes. Er lag still auf dem steil ansteigenden Hügel hinter dem kleinen Holzhaus, umgeben von frisch knospenden Sträuchern und abendfeuchten Gräsern. Im Haus regte sich das Baby unbehaglich und gab absonderliche Geräusche von sich, während seine Mutter über den Hof schritt, um die trockene Wäsche vor Einbruch der Nacht von der Leine zu nehmen. Auch seine Kleidung hatte er versucht vorsichtig zu reinigen und über die Leine gehangen. Noch waren vereinzelt braune Schlieren an dem Stoff zu erkennen, aber der gröbste Schmutz war bereits beim Eintauchen ins klare Wasser abgelöst worden – ganz im Gegensatz zu den Yukatas der beiden anderen, die Kagome mehrfach hatte waschen müssen. Yūseis Stoffe waren eben auch in dieser Hinsicht herausragend. Minorus Kopf sank zurück auf die Vorderpfoten. Er war unendlich müde und vermochte es dennoch nicht, in dieser fremden und bedrohlichen Umgebung Ruhe zu finden. Seine Aufmerksamkeit glitt flüchtig über die schlanke, dunkelhaarige Frau. Sie hatte ihm alles offen gestellt und ihn eingeladen, in ihrem Haus zu schlafen und mit ihren Kindern zu essen, aber er wollte die Räumlichkeiten nicht betreten. Kaito und Honoka waren bei Hof zunächst vor den Palasttoren abgewiesen worden und da er ohnehin nicht allzu großen Wert auf einen überdachten Schlafplatz legte, hatte Minoru vermeiden wollen, Kaito unnötig Wasser auf die Mühle zu schaufeln und seine Ruhe unter freiem Himmel gesucht. Einige Meter entfernt, in einem Holunderstrauch, saß Myōga und hatte während der letzten Stunden endlich aufgegeben, ihn zum Sprechen zu verleiten. Wie bereits vermutet stammten die Informationen, die das Dorf erreicht hatten, aus seiner Quelle und auch wenn er offensichtlich gute Gründe vorzuweisen hatte, wollte Minoru ihm doch nicht zuhören oder gar darüber sprechen, bevor er am Ende doch nur die Geduld verlor und dem alten Yōkai Verrat oder ähnlich verwerfliche Handlungen vorwarf. Kagome legte Honokas violetten Yukata sorgsam zusammen und warf einen prüfenden Blick in Richtung des Hundes. Als er diese Form am Nachmittag vor ihren Augen angenommen hatte, war sie nicht umhin gekommen, ihn fast entsetzt anzustarren. Hatte sie die allgemeine Situation bisher schon für skurril gehalten? Sie hatte nicht einmal geahnt, dass diese Form möglich war! Hieß dass, Sesshōmaru konnte auch so... so harmlos und niedlich aussehen? Das wiederum war nicht skurril – das war unheimlich. Leise seufzte Kagome in einem klagenden Ton und schloss für einen Moment die Augen. Sie war überglücklich ihre Kinder sicher zurückzuwissen, aber die Abwesenheit ihres Gefährten brachte sie um eine allumfassende Erleichterung. Die Herumtreiber dösten bereits seit Stunden und holten den verpassten Schlaf der vergangenen Nacht nach. Lediglich das jüngste Mitglied der Familie schrie hin und wieder in ohrenbetäubender Lautstärke um die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Ansonsten ruhte aber auch Yayoi, eingewickelt in mehrere Lagen wärmenden Stoffes. Beinahe friedlich. Etwas an dieser ganzen Angelegenheit war allerdings faul. Der alte Flohgeist war vor gut zwei Tagen nach jahrelanger Abwesenheit aus heiterem Himmel erschienen und hatte berichtet, dass Kaito und Honoka am westlichen Hof bei ihrem Onkel aufgetaucht wären – weitestgehend unversehrt. Während ihr tausende Steine vom Herzen gefallen waren, hatte Kagome ihren Mann davon abhalten müssen, etwaige Anschuldigungen darüber zu äußern, dass Sesshōmaru etwas mit dem Verschwinden ihrer Kinder zu schaffen gehabt hatte. Auch Myōga hatte das umgehend dementiert. Sie war jedoch selbst vollkommen perplex gewesen, als der Flohgeist behauptet hatte, ihre Tochter habe gezielt nach dem Sitz der Inuyōkai gesucht. Das ergab einfach keinen Sinn. Honoka hatte sich nie für Yōkai interessiert und war ohnehin nicht das Kind, von dem man kopflose Unternehmungen gewohnt war. Als dann noch die Rede davon war, dass ausgerechnet der Erbe des Westens, Sesshōmarus Sohn, ihren Kindern geholfen haben sollte, sprengte das den Rahmen an akzeptablen Absurditäten. Die Krone hatte Myōga seiner Geschichte schließlich damit aufgesetzt, dass er behauptet hatte, Sesshōmaru selbst eskortiere die Geschwister just in diesem Moment persönlich nach Musashi. Ein weiterer Anstieg der Verwunderung war durch diese Nachricht zwar nicht mehr möglich gewesen, aber sie hatte zumindest Inuyasha dazu bewogen, den Floh als senil und unzurechnungsfähig zu beschimpfen und ihn – Schnipps! – an die nächste Wand zu befördern. Kagome hatte ihm hingegen geglaubt. Das klang zwar alles zu sonderbar, um wahr zu sein, da gab sie Inuyasha durchaus recht, aber wenn das ihr Strohhalm sein sollte, dann würde sie ihn greifen. Wo hätten die Kinder sicherer sein sollen als in Begleitung Sesshōmarus? Sie hatte Myōga mit Fragen überhäuft und er war erleichtert gewesen, dass jemand seiner Nachricht Glauben schenkte; hatte ihr mit bekannter Freigiebigkeit alles erläutert – nur nicht Fragen, die den Jungen betrafen. Die hatte er indiskret abgeblockt und war sie letztlich sogar übergangen. Das sah ihm gar nicht ähnlich und auch wenn Kagome in dem Moment dafür keinen Sinn gehabt hatte, so war doch zumindest der Rest der Gruppe misstrauisch geworden. Schlussendlich war Inuyasha einfach aufgebrochen, gefolgt von Miroku und Sango, die ihre eigenen Kinder solange der Obhut ihrer ältesten Töchter überlassen hatten. Kagome hingegen war noch zu erschöpft von der Geburt ihres Kindes, als dass sie eine solche Reise hätte antreten können. Außerdem musste sie sich um die Kleine kümmern und so die Suche nach ihren Großen wohl oder übel anderen überlassen. Myōga war bei ihr geblieben, immer an der Seite der kleinen Yayoi, von der er vollkommen hingerissen schien. Es hatte ein seltsames Bild ergeben: Der alte Floh und das kleine, pausbäckige Mädchen, das friedlich schlafend die Händchen zusammenballte. Es gab friedliche Momente in dieser Welt, auch wenn ein seichter Schatten über ihnen allen lag. Von Myōga war allerdings seit der Ankunft der Kinder nicht mehr viel zu sehen gewesen. Er war wie selbstverständlich zu Minoru zurückgekehrt, der von dem kleinen Yōkai allerdings keinerlei Notiz zu nehmen schien. Der Inuyōkai hatte sich gesträubt das Haus zu betreten – höflich, aber doch bestimmt. Die angespannte Stimmung zwischen den beiden Jungen war für jeden offenkundig und spätestens als Kaito die Veränderung an seinen Haaren bemerkt hatte, wäre die Situation beinahe von missmutigen Blicken in eine handfeste Auseinandersetzung umgeschlagen. Kagome hatte ihren Sohn sofort zurechtgewiesen, als sein aufwallendes Yōki wie eine Welle über den Hofplatz geschlagen war und zu seinem Glück hatte er auch augenblicklich den Mund gehalten, seinen Vetter mit einem wütenden Schnauben bedacht und war davonstolziert. Dass ein Daiyōkai sich derartiges Verhalten tatenlos gefallen ließ, war Kagome neu. Selbst unter den meisten gewöhnlichen Dämonen reichte das winzigste Anzeichen feindlicher Absicht, um einen tödlichen Kampf zu entfachen. Aber hier war nichts dergleichen passiert und wenn sie Honokas lückenhafte Schilderungen bedachte, die sie bisher geäußert hatte, war ihr Sohn im Begriff alte Familienfehden aufrechtzuerhalten. Sie war es endgültig leid. Diese nie enden wollende Feindseligkeit zwischen Inuyasha und seinem Halbbruder war ihr schon vor Jahren auf die Nerven gegangen, als sie noch gegen Naraku zu Felde gezogen waren. Wie viel schneller hätten sie die Splitter des Shikon no Tama sammeln und Naraku ein Ende bereiten können, wenn die beiden auch nur für ein paar Tage zusammengearbeitet hätten. Selbst als das Höllenschwert, das sich über Jahrtausende im Besitz der Familie befunden hatte, auf dem besten Weg gewesen war, die Welt in eine von Untoten verseuchte, zweite Hölle zu verwandeln, hatten diese Holzköpfe noch gezögert, sich zum Wohle eines gemeinsamen Zieles zusammenzutun. Rückblickend konnte man durchaus behaupten, dass den beiden eine Familienzusammenführung schwerer fiel als multiple Weltrettung. Kagome grummelte in sich hinein. Sie war schon beinahe vor Euphorie geplatzt, als Sesshōmaru und Inuyasha es irgendwie geschafft hatten, im Umkreis von nur wenigen hundert Metern zueinander zu existieren ohne in Streit zu verfallen – nämlich immer dann, wenn Sesshōmaru Rin besucht hatte. Inuyasha war des Streits bereits gegen Ende der Splittersuche müde geworden, aber seither hatten sie es lediglich zu einer ignoranten Koexistenz gebracht. Sie würde einen Teufel tun und Sesshōmarus Sohn vermitteln, dass er hier nicht willkommen war, bevor diese Fehde niemals ein Ende fand. Von Minorus Seite war bisher keine offene Feindseligkeit zu bemerken gewesen, aber wenn ihr Sohn meinte, in diesem uralten Familienstreit mitmischen zu müssen, würde er bald merken, was sie davon hielt. „Willst du sicher nicht mit hinein kommen?“, fragte sie abermals, ohne sich zu ihm zu wenden. „Sonst stelle ich dir das Essen gleich heraus. Es gibt Rührei.“ Beinahe im selben Moment begann das Baby zu schreien als sei es von einer Horde wildgewordener Oni umzingelt und ersparte Minoru die mühsame Antwort. Kagome legte die gerade abgenommene Hose zur Seite und lief eilenden Schrittes zurück ins Haus. Der Hund atmete tief aus und schloss die Augen. Die Parallelen zu Rin waren auffällig, aber vielleicht sollte ihn das nicht wundern. Sie war immerhin an diesem Ort aufgewachsen, an dem Menschen anscheinend keine Scheu vor Yōkai kannten und selbst ihre zum Teil dämonischen Kinder wie selbstverständlich erfolgreich zurechtwiesen. Ein tödlich strafender Blick seiner Mutter hatte ausgereicht, um Kaito zum Schweigen zu bringen und ins Haus zu treiben, das er seither nicht mehr verlassen hatte. Einem Menschen wäre es für gewöhnlich nicht einmal eingefallen, einem Han'yō oder gar einem Yōkai gegenüberzutreten. Kagome hingegen schien bestrebt, Minoru zu vermitteln, dass er an diesem Ort willkommen sei und bisher hatte er darin keine verschlagenen Absichten erkennen können. Mit leisem Summen suchte sie das Baby zu besänftigen, das sich bald darauf wieder beruhigte und stellte kurz darauf ein dunkles Tongefäß auf den Hof, unter dessen Deckel duftender Dampf an die Luft stieg. Während sie sich aufrichtete hielt sie jedoch einen Moment wie erstarrt inne. Minoru betrachtete sie misstrauisch und wollte gerade seufzend die Augen schließen, als der Wind in seinem Rücken drehte und ein wohl bekannter Geruch vom Dorf herangetragen wurde. Sofort erhob er sich auf zwei Beine, zog den Obi des gliehenen, blauen Yukatas fester und umrundete das Haus mit schnellen Schritten, während Kagome den Weg durch das Gebäude nahm, um ihren Mann zu begrüßen, dessen Yōki sie längst wahrgenommen hatte. Rin stand mit Inuyasha vor der Eingangstür. Ihre Kleidung war zerrissen, tiefere Kratzer übersäten ihre Arme und auch an der Wange hatte sie eine Verletzung davongetragen. Alles in allem lächelte sie jedoch, auch wenn sie sichtlich Schwierigkeiten hatte ihr rechtes Bein vollständig zu belasten. Als sie Minoru bemerkte, der still an der Hausecke stand und beobachtete, wie Kagome ihrem Mann um den Hals fiel, war ihr die Erleichterung deutlich anzusehen. „Du bist wohlauf!“ Sie kam auf ihn zu und blieb in einigem Abstand strahlend stehen. „Inuyasha hat von den Drachen berichtet, die euch verfolgt haben. Das muss grausam gewesen sein. Ein Glück, dass sie euch rechtzeitig zur Hilfe geeilt sind. Diese Biester -“ „Wo ist mein Vater?“ Für einen Sekundenbruchteil war sie zu perplex, um etwas zu sagen. Noch nie hatte er den Fürsten so bezeichnet – und dann ausgerechnet jetzt! Sie klappte den Mund auf, dann doch wieder zu und wich seinem Blick aus, welcher neben der üblichen Härte einen Funken Unglauben enthielt, der ihr einen scharfen Stich versetzte. „Rin.“ Seine Stimme nahm einen warnenden, anklagenden Unterton an. „Wo?“ „Es gab... Schwierigkeiten.“ Kapitel 28: eine Pflanze langsamen Giftes ----------------------------------------- „Sie sind also nicht nur Wiedergänger, sondern zu allem Überfluss auch kaum endgültig zu töten“, stellte Miroku schließlich fest und verschränkte die Arme nachdenklich vor der Brust. Seine Frau neben ihm legte die Stirn in Falten und starrte in die Flammen, die den Wohnbereich von ihrer zentralen Feuerstelle mit Wärme und Licht versorgten. Die Berichte von Inuyasha und Rin hatten bald dazu geführt, dass das Haus gerammelt voll geworden war. Das sonderbare Ehepaar aus Mönch und Dämonenjäger war mitsamt ihrer Brut angerückt – ein kaum zehnjähriges Mädchen, das rastlos danach verlangte, draußen durch die Pfützen springen zu dürfen. Bei Einbruch der Nacht waren die grauen Wolken dazu übergegangen ihrer Drohung Taten folgen zu lassen und ergossen sich nun, der Stimmung gleich, verdrießlich über Musashi. Minoru sah nachdenklich den Hügel empor zum Schrein, der auf der Anhöhe errichtet worden war. Er hatte sich auf den Engawa zurückgezogen, der das Haus wie ein hölzerner Steg umgab und zumindest eine halbwegs trockene Rückzugsfläche bot, auch wenn er längst nicht so breit war wie der des Palastes. Die Enge des Raumes sagte Minoru nicht zu und hier – halb im Freien – hatte er eine größere Chance unter dem bindfadenartigen Regen noch andere, vielleicht alarmierende Witterungen wahrzunehmen. Der Wind trieb das Wasser scharf unter das Überdach, ließ es über die Holzdielen spritzen und einen kleinen See bilden, der Minoru um die bloßen Füße schwappte. Dann war die Böe schon wieder vorbei, der Regen fiel fast senkrecht zu Boden. Trommelte hart und platschte laut. Dreckswetter. „Schwache Würmer, wenn man die richtigen Mittel hat“, widersprach Inuyasha barsch, nahm sich eine weitere Schale voller Buchweizennudeln, goss eine ordentliche Portion sonderbar riechender Soße darüber und begann sie mit Hilfe zweier hübsch verzierter Stäbchen herunterzuschlingen – was ihn jedoch nicht davon abhielt, seine Meinung kundzutun. „Warum machen wir so einen Wirbel? Kagome tut zur Ausnahme einfach etwas Nützliches und läutert diese Viecher, sobald sie auftauchen. Dann sind wir sie auch los.“ Wäre Minoru sich durch diverse Gründe nicht sehr sicher gewesen, dass es sich bei dieser Kagome um eine Menschenfrau handeln musste, hätte er bei ihrem sich spürbar verfinsternden Gemütszustand beinahe gewettet, dass sie dennoch Yōki besitzen musste. „Ich habe dein drittes Kind zur Welt gebracht. Ist das etwa nichts?“ „Das ist doch was ganz anderes. Ich meinte, im Kampf nützlich. Nicht nur im Haus.“ Als es daraufhin laut knallte hatte sie ihm ein Stück Feuerholz über den Schädel gezogen und warf es schnaubend wieder hinter sich. Nun wirklich: Sollte Minoru sich noch wundern, wo sein Vetter dieses feinfühlige Verhalten gelernt hatte? Keine weiteren Fragen. Er schüttelte den Kopf, um einige Wassertropfen loszuwerden, die wie kleine Perlen an den losen Haaren in sein Gesicht hinabrannen. „Auch wenn ich Inuyashas Ton nicht als sonderlich angebracht empfunden habe, hat er etwas Wahres gesagt. Wir werden hier nicht viel Sorgen mit diesen Drachen haben“, pflichtete der Mönch seinem Vorsprecher bei und fing seine herumstöbernde Tochter ein, um sie sich auf den Schoß zu ziehen. Sie verzog wenig angetan das Gesicht und blähte protestreich die Wangen auf. „Aber außer diesem gibt es noch andere Dörfer. Ganz davon ab scheint Sesshōmaru zu glauben, dass sie gezielt gegen ihn vorgehen, wenn ich das richtig verstanden habe.“ „Er hat nicht viel gesagt“, schnarrte Inuyasha angesäuert. „Wie immer. Aber wenn er mir Rin überlassen hat, wird das wohl Aussage genug sein.“ Die Erwähnte ließ ihre Stäbchen sinken und sah schließlich in die Runde. „Ja, er glaubt, dass sie hinter uns her sind. Und ich auch. Hättet ihr sie gehört, würdet ihr das auch glauben.“ „'Hundchen, haben sie gesagt. Hundchen außerhalb des Westens'“, wiederholte Kaito, der mit verschränkten Armen in einer Raumecke saß und leer ins Feuer starrte. Den Sprachfehler der Kreatur wollte er offensichtlich nicht imitieren. „Wer sind 'sie'?“, wollte Sango wissen. Kaito schüttelte jedoch ratlos den Kopf: „Keine Ahnung. Klang, als seien sie auf uns angesetzt worden – oder auf jemanden.“ Seine goldenen Augen fixierten Minorus Rücken, der den Blick spürte, sich aber dennoch nicht regte. Myōga, der von der aufkeimenden Feindschaft der Jungen ebenso wenig hielt wie Kagome, sprang aufgebracht auf Inuyashas Schulter umher. „Niemand muss einem Drachen sagen, dass er einen Hund töten soll! Euer verehrter Großvater hat seit Jahrtausenden Kriege gegen diese Brut geführt und schlussendlich mit seinem Leben dafür bezahlt, sie aus diesen Gefilden zu bannen. Einen Inuyōkai zu verschlingen wird sich keine dieser Bestien entgehen lassen.“ „Wir sind keine Yōkai“, knurrte Kaito widerborstig, aber der Floh lief lediglich vor Wut rot an. „Halb oder vollwertig spielt keine Rolle. Glaubt Ihr, sie wären nicht in der Lage, das Blut Eures verehrten Großvaters wahrzunehmen? Kagome-sama hat kein Yōki, mit dem sie das Eurer väterlichen Linie überdecken könnte. Sie haben Euch vermutlich eher angreifen wollen als Minoru-sama, der deutlich nach seiner Mutter schlägt!“ Da schlug sich der Flohgeist zwei seiner vielen Hände vor den Mund und starrte ängstlich hinaus auf den Engawa. Minoru funkelte ihn so vernichtend an, dass der arme Alte das Gefühl hatte, auf der Stelle tot umfallen zu müssen. „Vergebt mir-!“ „Willst du andeuten, die seien wegen mir auf uns losgegangen?“, fauchte Kaito da plötzlich, hielt aber gleich inne, als seine Mutter ihm einen warnenden Blick zuwarf. „Beruhigt euch!“, fuhr sie die versammelte Mannschaft an und atmete dann selbst tief durch. „Auch wenn niemand sie auf euch gehetzt hat, ist doch offensichtlich, dass irgendetwas sie erweckt haben muss, nicht wahr? Darüber sollten wir uns den Kopf zerbrechen. Wer außer Sesshōmaru kann Personen von den Toten zurückrufen und hätte Interesse daran, solche Gegner auf unsere Familie zu hetzen?“ Sango wirkte einen Moment sehr verbissen und warf Minoru einen abwägenden Blick zu, dann rang sie sich doch durch: „Nun, wenn wir davon ausgehen, dass das Oberhaupt eurer Familie in gewisser Weise Sesshōmaru ist -“ „So ziemlich jeder mit ein bisschen Verstand“, fuhr Inuyasha dazwischen und beantwortete damit Kagomes Frage, die ihn daraufhin ebenso strafend ansah, wie ihren Sohn zuvor. „Inuyasha!“ „Was denn? Es ist doch wirklich keine Kunst, mit diesem Köter aneinanderzugeraten! Und er hat sich in den letzten Jahren auch nicht sonderlich friedlich gezeigt. Das habe ich euch von Anfang an gesagt. Er lebt für Mord, Krieg und Grausamkeiten.“ Minoru, der nun offen in den Raum sah, betrachtete seinen Onkel. Lächerlich, dass sein Vater sich mit diesem Ruf beinahe darüber aufregte, wenn er zwei Mönche aus dem Weg räumte. „Die Splitter haben reihenweise Tote zurück ins Leben geholt, ebenso Sō'unga. Aber das Shikon no Tama und dieses Höllenschwert sind beide zerstört“, zählte der noch lebende Mönch auf der anderen Seite des Feuers schließlich auf und versuchte damit die erneut aufkochende Stimmung zu beruhigen. „Mir fallen sonst nur die vier Panthergeschwister ein. Aber die haben damals Frieden mit Sesshōmaru geschlossen, nachdem er den jüngeren das Leben gerettet hat.“ Er hatte diesen verfluchten Katzen den Hals gerettet? Minoru gab ein verächtliches Schnauben von sich, das Rin erstaunt zu ihm sehen ließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich in irgendeiner Weise an dieser Diskussion beteiligen würde – selbst, wenn diese Beteiligung lediglich aus abfälligen Lautäußerungen bestand. „Ich fürchte, den Frieden gibt es nicht mehr“, bemerkte sie. „Sie haben Grenzen übertreten und uns einen Hinterhalt gestellt.“ Kagome blinzelte erstaunt. „Das glaube ich nicht! Sie waren so glücklich und zufrieden, als Sesshōmaru sie gerettet hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das für Land und Besitz aufgeben würden.“ „Yōkai die Macht gegen Familie tauschen?“, Kaito zog fragend eine Braue hoch. „Aufgrund welchen Herzens?“ „Du sei mal still!“, fauchte seine Mutter ihn wütend an. „Du sitzt schließlich nur hier, weil dein Großvater so viel Herz hatte, eine Menschenfrau zu lieben!“ Kaito knurrte leise und knallte den Kopf hart gegen die Wand hinter sich. Minorus Ohren zuckten leicht. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Wenn sein Großvater einen halbblütigen Sohn gezeugt hatte, musste unweigerlich ein Mensch im Spiel gewesen sein. Er schüttelte den Gedanken mit den nächsten Regentropfen ab. „Wenn die Panther wirklich Wiedergänger ins Leben rufen können, ist die Sache einfach erklärt“, meinte Rin schließlich leise und alle Augen ruhten auf ihr. „Wenn es je einen Frieden gab, ist er vorbei. Sie wollen westliches Land und Rache. Ich weiß, dass Truppen ausgerückt sind, nur nicht wohin. Aber mit Sicherheit gen Osten. Ohne Sesshōmaru-sama und Tenseigas Macht werden sie keine Chance haben, wenn diese Kreaturen dauernd wiedererwachen.“ „Warte kurz, Sesshōmaru hat Truppen?“, fragte Sango verdutzt. „Natürlich!“, fuhr Myōga auf, der immer noch furchtsame Seitenblicke zu Minoru warf. „Er ist immerhin Inu no Taishō!“ „Und wenn er Amaterasu persönlich wäre: Wen interessiert das?“, Inuyasha stellte seine Schale etwas zu hart auf den Boden auf. Das dünne Porzellan gab knirschend nach und entwickelte haarfeine Risse. „Was kümmert uns das alles, solange er irgendwann hier auftaucht und den Jungen mitnimmt?“ „Wenn ich Myōga-ojisan richtig verstanden habe, werden diese Drachen auch dir und deinen Kindern jederzeit nachsetzten“, warf Miroku ein. „Das ist durchaus ein Grund zur Besorgnis.“ „Wir haben diesen Panthern nichts getan“, widersprach Honoka plötzlich, die längst auf ihrem Futon lag und bisher nur in aufmerksamer Verschwiegenheit gelauscht hatte. „Warum sollten sie uns schaden wollen?“ Minoru seufzte innerlich und wandte sich wieder dem nassen Hang zu, an dem bei dem Regen vermutlich lediglich die Vegetation einen Erdrutsch verhinderte. Diese Leute redeten eindeutig gern, zu viel und zu laut. Er versuchte den Kopf für einen Moment frei zu bekommen und zumindest die für ihn essentiellen Informationen zu filtern. Drachen waren offensichtlich eine Art Todfeind der Inuyōkai und im Speziellen nicht gut auf seine Familie zu sprechen. Dass noch Truppen an der Ostfront stationiert waren, war Minoru völlig unbekannt. Niemand hatte darüber auch nur ein Wort verloren. Also war das entweder sehr diskret behandelt worden oder der Umstand war neu – und das wiederum würde heißen, dass sich die Panther geregt hatten. Er schloss die Augen und versuchte durchzuatmen. Die Zeiten, in denen sein vermeintliches Mischlingsdasein in Anbetracht des Inu no Taishōs seine größte Sorge dargestellt hatte, lagen so unfassbar weit zurück, dass sie für Minoru kaum noch greifbar schienen. Das war ein anderes Ich, eine ferne Version seiner selbst, die er nur noch verschwommen wahrnahm. Es lagen nur wenige Monate zwischen diesen Leben und doch fiel es ihm schwer, sich an die ruhigen Stunden zu erinnern. Tage, Wochen, Monate in denen er allein durch die Wälder gewandert war. Unheimliche Nächte, nachdem er das Haus in den Bergen verlassen hatte, in denen er vor jedem Oni flüchten musste, ständig angespannt und unsicher gewesen war, bis er endlich gelernt hatte, sich auf Instinkte und Wahrnehmungen zu verlassen. Kalte, heiße Tage und kurze Nächte, in denen er vor Hunger nicht wusste, wie er den stechenden Schmerz in seinen Eingeweiden loswerden sollte. Takeru, der mit aufgestelltem Fell geduckt neben ihm kauerte und sich über das anhaltend miese Wetter beschwerte, bevor sie gemeinsam den Eber in der Senke stellten. Ein unangenehmer Schauer ergriff Besitz von ihm, wanderte seinen Rücken entlang und zwang ihn zu einem unwillkürlichen Schaudern. Er hatte jetzt Vergangenheit und auch wenn es im Grunde nicht seine eigene war, würde sie ihn ebenso jederzeit einholen wie die Zugehörigkeit zu seinem Stamm. Primäre Dinge, die niemand zu ändern vermochte. Zur Hölle mit Neutralität. Er musste die Meinungen überdenken, die er sich gebildet hatte, als er noch niemand gewesen war. Vergessen, was er einst zu wissen geglaubt hatte. „Wir sollten wachsam bleiben“, schlug Kagome schließlich vor. „Und warten, was Sesshōmaru zu sagen hat, sobald er zurück ist. Mehr können wir gerade ohnehin nicht tun. Sollte die Lage dramatischer sein als zurzeit abzuschätzen ist, müssen wir uns eben etwas einfallen lassen. Es wäre ja nicht das erste Mal.“ „Keh, du glaubst doch nicht, dass Hoheit sich zu einem Gespräch mit uns herablässt!“ Inuyasha verschränkte die Arme vor der Brust; warf den Kopf zur Seite. Seine weißen Hundeohren zuckten gereizt. Minoru schloss die Augen. Diese fortwährenden Schmähungen gegen seinen Vater gestalteten sich langsam ermüdend und auf eine sehr offensive Art und Weise empfand er es als durchaus anmaßend, dass sie sie in seiner Gegenwart ausstießen und geflissentlich so taten, als habe ihn das nicht zu interessieren. Minoru war per se nicht jemand, der für eine andere Person in die Bresche sprang und sein Vater konnte sich und sein Ansehen durchaus selbst verteidigen, aber war es nicht sehr unpassend, ein Elternteil vor dem Kind in facettenreichem Zwist darzustellen? Als habe Rin gerade ähnliches gedacht, seufzte sie tief und warf ihre Stäbchen aus einiger Entfernung zielgenau in ihre leere Schale. Holz klapperte laut auf Porzellan und etwaige leisere Wortwechsel verstummten. Die Anwesenden sahen sie fragend an. „Ihr geht mir mit diesem Gehabe auf die Nerven“, verkündete sie glatt und erhob sich in einer fließenden Bewegung, die auch daran keinen Schaden nahm, dass sie ihr Bein weiterhin nicht vollständig belasten konnte. „Wenn diese Familie zu meinen Lebzeiten noch lernt, zumindest respektvoll miteinander umzugehen und gemeinsame Feinde wie solche zu behandeln, sterbe ich wahrscheinlich auf der Stelle an einem Herzstillstand.“ Inuyasha, der sich am ehesten angegriffen fühlte, war zunächst zu verwundert, dass sie so deutlich und spöttisch Stellung bezog, um etwas zu entgegnen. Schließlich fing er sich jedoch und fand allein schon zur Erhaltung seiner üblichen Patzigkeit schnell die Sprache wieder: „Pah! Ich werde nie verstehen, warum du freiwillig zu ihm zurückgekehrt bist und auch noch behaupten kannst, mit ihm auszukommen! Du solltest langsam anfangen, auf Ratschläge zu hören: Irgendwann wird er sich gegen dich wenden.“ Sie funkelte den Han'yō über das Feuer beinahe herablassend an und weigerte sich auch nur im Ansatz auf seine absurden Kommentare einzugehen. „Oh, du und er, ihr könnt euch meinetwegen hassen, bis euer armer Vater sich im Grab umdreht“, zischte sie ihn an und diesmal verstummte er völlig. „Sollte ich aber noch einmal mitbekommen, wie dein unterirdisches Benehmen auf deine Kinder abfärbt, platzt mir der Kragen! Du bist noch blinder, noch hundert Mal sturer als er. Bist du nach den letzten Wochen immer noch zu starrsinnig, um zu begreifen, wie nötig wir Zusammenhalt brauchen?“ Minoru warf einen Blick über die Schulter und musterte Rin. Wäre es ihr möglich gewesen, ihre Nackenhaare hätten abgestanden wie die eines kampfbereiten Hundes. Sie musste viel Vertrauen in die Situation haben, wenn sie darauf setzte, dass keiner der Anwesenden ihr in einem drohenden Streit etwas zuleide tun würde. Andererseits: Es war Rin. Vermutlich nahm sie es einfach in Kauf, so wie sie sich auch zwischen ihn und Kōhei gestellt oder gleich ein vertrauliches Gespräch zu ihm gesucht hatte. Sie kümmerte sich offensichtlich selten um Konsequenzen – oder wusste sie besser einzuschätzen als er ahnte. Ein wenig steif wandte Minoru sich gänzlich zum Raum um und betrachtete die junge Frau, bevor er schließlich die restlichen Beteiligten im Auge behielt, die sie alle ungläubig anstarrten. Das kleine Mädchen auf dem Schoß ihres Vaters sah verwirrt von einem zum anderen und schien nicht zu begreifen, warum es plötzlich so still geworden war. Dann erhob sich Kagome und legte Rin sanft die Hände auf die Schultern. „Beruhige dich, Rin-chan. Dieses Thema ist es doch nicht wert darüber zu streiten. Die beiden werden keine Freunde mehr. Nicht in diesem Leben. Dafür ist zu viel passiert und wir müssen das akzeptieren. Ich weiß, du strebst nach Harmonie, aber die finden wir leider nicht überall. Wir können nichts erzwingen.“ Rin musterte Kagome für einen Moment über ihre Schulter, dann entwich ihr ein abfälliges Geräusch. „Ihr redet über Drachen und mutmaßt über Feinde, debattiert über Einigkeit und im Grunde glaubt ihr doch alle, dass von unserer Seite nichts zu erwarten ist.“ „Von seiner Seite“, korrigierte Sango sanft. „Du bist-“ „Unserer“, insistierte sie scharf. „Ich habe mich vor Jahren entschieden, wo mein Platz ist. Das solltet ihr auch so langsam mal versuchen.“ „Wir wissen, wo wir hingehören“, gab Inuyasha gereizt zurück und funkelte die junge Frau aus seinen goldenen Augen scharf an. „Dass du immer noch glaubst, einen Platz bei meinem Bruder zu haben, ist nicht unsere Schuld. Du hättest irgendwann einmal vernünftig werden können, statt nach Kaedes Tod gleich an seine Seite zu springen.“ „Du weißt als allerletztes, wo du hingehörst, Inuyasha“, gab sie kalt zurück und sah erhaben auf ihn herab. „Denkst du immer noch, du und deine Kinder könnten ihr Leben lang so tun als sei der Westen nur ein fremder Ort jenseits der Ebenen? Honoka mag den falschen Ansatz verfolgt haben, aber andere werden ähnliche Gedanken haben: Wenn der Krieg kommt, wirst du nicht in Musashi die Hände in den Schoß legen können – und niemand wird einen Dreck darauf geben, dass du mit deinem Bruder in einer ewigen Fehde lebst. Auch nicht, wenn sie deine Kinder schlachten. Was tust du, wenn dein Starrsinn Leben einfordert?“ Mit einem Ruck war Inuyasha auf den Beinen und knurrte sie tief an. „Ich muss mir von einer verblendeten Göre keine Vorträge anhören!“ Die beiden Streitparteien warfen sich über die Flammen giftige Blicke zu und nach einigen Minuten der funkelnden Stille, war es schließlich Inuyasha, der mit überlegenen Ton das Wort ergriff: „Du vertraust ihm, auch wenn er dir kein Wort über seinen Sohn gesagt hat?“ Minoru erstarrte für einen Moment innerlich und fürchtete, sie könne zu ihrer Verteidigung Dinge über ihn preisgeben, die er nicht in den Händen dieser Leute wollte. Ihm gegenüber war sie beinahe überfreundlich und hier fuhr sie aus der Haut, als habe ihr jemand glühende Kohlen unter die Füße geschmissen. Doch auf ihren Lippen zeichnete sich lediglich ein dünnes, vernichtendes Lächeln ab. „Ja.“ Der Han'yō klappte den Mund auf, kam aber nicht dazu noch etwas zu sagen. „Vielleicht solltet ihr erst einmal anfangen vor eurer eigenen Tür zu kehren.“ Die Blicke wanderte zu Minoru, allen voran Rins, die zwar überrascht, aber auch dankbar schien, dass wenigstens einer ihr in gewisser Weise den Rücken stärkte. „Ach, der Welpe kann ja doch sprechen“, schnarrte sein Onkel daraufhin verächtlich, aber Minoru ignorierte ihn und sah lediglich zu Rin. „Bist du sicher, dass du über Nacht bei diesen Leuten bleiben willst?“ Sie nickte langsam. „Sie sind trotz allem meine Freunde. Wenn man sich unter Freunden nicht mehr streiten kann, ist die Freundschaft nichts wert.“ „Rin hat recht. Wir sollten uns auf die Freundschaft besinnen, die wir teilen und uns alle beruhigen“, verkündete der Mönch ein wenig geschwollen. Er hatte sich die ganze Zeit aus diesem Streit herausgehalten und seine Tochter eng an sich gedrückt, um nun entschärfend aufzutreten. Allerdings hatte er dabei die Rechnung ohne Kaito gemacht, der bitter lachte und sich dann schnaubend aus seiner lehnenden Haltung in einen geraden Sitz aufrichtete. „Auf unsere Freundschaft?“, fragte er höhnisch und Minoru spürte, wie sich Honoka unruhig auf dem Futon regte und unangenehm berührt den Kopf hob. „Kaito...“ „Eure verdammte kleine Dorfgemeinschaft ist nichts als Schall und Rauch, wenn es darauf ankommt“, fuhr der unbeirrt fort. „Glaubt auch nur einer von euch, dass Honoka ohne Grund gegangen ist? Ich meine, wir reden von Honoka!“ Sango schüttelte ernst den Kopf. „Kaito, du bist doch derjenige-“ „Der zu den Yōkai rennt? Ich bin doch nicht bescheuert! Aber das ist fürchterlich einfach, nicht wahr? Wenn ich es gewesen wäre, müsste man sich keine Gedanken um das Warum machen.“ „Liebling, das müssen wir nicht noch heute Abend klären. Es ist gut, dass ihr zurück seid und was passiert ist können wir morgen immer noch in Ruhe besprechen.“ „Ich will, dass sie dabei sind“, sagte der Junge scharf und fixierte Sango und Miroku. „Dass sie wissen, was für widerliche Mistviecher ihre Töchter sind.“ „Bitte was?!“ Sango bekam große Augen, während Honoka gequält aufstöhnte und den Kopf im Kissen vergrub. „Haben sie mittlerweile durchgesetzt mit ihrem Onkel Jagd auf niedere Lebewesen machen zu dürfen?“, hakte Kaito mit bösartigem Unterton nach. „Wenn sie irgendwann Han'yō töten wollen, sagt Bescheid, damit ich ihnen vorher den Kopf abreißen kann.“ Minoru zog einen Moment eine Braue hoch, als eine leichte Welle dämonischer Energie durch den Raum schwappte und das Baby in der Wiege zu schreien begann. Kagome eilte zu ihrer jüngsten Tochter und warf ihrem Sohn verstörte Blicke zu. „Wie kommst du auf diesen Unsinn?“ „Was sollen die Zwillinge angestellt haben?“, fragte nun auch Miroku, behielt dabei aber vollkommene Ruhe bei. Er musste diese ohnehin schon kochende Situation nicht noch anheizen. „Kurzerhand verkündet, dass sie nicht mit dir zur Arbeit gehen wollen, weil Han'yō dabei sind“, knurrte Kaito. „Wir sind für sie nichts als geschäftsschädigender Anhang. Es geht hier um nichts weiter als Ansehen und Geld. Das sind die niedrigsten Beweggründe, jemanden fallen zu lassen und sie tun das ohne mit der Wimper zu zucken – ach ja, vergessen wir nicht, dass sie zu feige waren, mir das ins Gesicht zu sagen und es lieber Honoka unter die Nase gerieben haben.“ Er schnaubte wütend. „Wir werden hier genauso wenig geschätzt wie überall in der Welt!“ „Pah! Und dann muss sie gerade zu Sesshōmaru rennen? Was für ein Unsinn!“, fuhr Inuyasha seinen Sohn an. „Wenn du Ausreden für dein Verhalten suchst, sind das wohl die schlechtesten!“ „Wohin sonst, wenn das die einzige Familie ist, die uns außerhalb bleibt?! Freundschaft scheint ja nichts wert zu sein“, zischte der zurück. Minoru musterte seinen Vetter, dessen dunklen Ohren sich eng an sein schwarzes Haar legten, als er Gegenwind bekam und er die Beweggründe seiner Schwester entgegen seiner eigenen Meinung zu verteidigen begann. Es war überdeutlich gewesen, dass Kaito nie etwas von der Idee seiner Schwester gehalten hatte, aber vor den Erwachsenen wollte er ihr offensichtlich nicht in den Rücken fallen. Er konnte also erstaunlich sozial sein, selbst wenn das hieß, den eigenen Überzeugungen zu widersprechen. Erschreckend. „Ihr hättet zu uns kommen können“, sagte Kagome streng und wiegte Yayoi sanft in ihren Armen, bis das Baby zu glucksen begann und offensichtlich wieder einschlief. Sie sah zerbrechlich aus, die Hundeohren winzig in silbrig-weißem, fast durchscheinenden Haar verborgen, ihr kleinster Finger nicht einmal so lang wie Minorus Klauen. „Ich weiß...“, meldete sich nun auch Honoka. „Aber ich wollte Zeit für mich... und dann war ich schon so weit weg. Außerdem war das doch nicht neu. Kaito sagt seit Jahren, dass uns jeder hasst.“ „Das ist nicht wahr! Niemand hasst euch!“, protestierte ihre Mutter vehement und ließ sich neben ihr zu Boden sinken. Ihre Tochter aber drehte sich von ihr weg und kuschelte sich wieder in ihr Kissen. „Wir sollten das klären, wenn die Zwillinge auch dabei sind“, entschied Sango schließlich laut. „Das wäre nur fair.“ „Da gibt es nicht zu klären“, Kaito klang hart und endgültig. „Für mich ist die Sache durch. Kommen sie mir nochmal quer, garantiere ich für gar nichts!“ Rin bahnte sich einen Weg zur Hintertür und blieb schließlich vor Minoru stehen, versperrte ihm die Sicht in den Raum, legte sacht eine Hand an den nachtblauen Stoff, der seine Brust lose überspannte und sah ihm müde in die Augen. „Du hast vielleicht recht. Die Auseinandersetzung geht uns nichts weiter an und wir sollten zur Ruhe kommen. Du siehst mindestens so müde aus wie ich mich fühle und hast das Essen nicht einmal angerührt.“ Sie seufzte lang und er machte ihr Platz, als sie auch nur leichten Druck auf ihre Hand legte, sodass sie auf die nassen Holzbretter des Engawa treten konnte. „Ich will hier auch nichts essen.“ „Das dachte ich mir.“ Sie klang erschöpft. „Am Rand des Dorfes gibt es eine unbewohnte Hütte. Wir können dort die Nacht verbringen. Hoffen wir, dass dein Vater dann bald zurück ist.“ Minoru wandte dem Wohnraum den Rücken zu, in dem gerade ein erneuter Streit entbrannte und Kaito wütend die Stimme hob. Er knurrte leise und ließ die Hand über den Stoff seines Kimono gleiten, den Kagome eng an der Hauswand über eine Leine gehangen hatte. Er war immer noch feucht und würde bei dem Wetter auch sicher nicht zur Gänze trocknen, aber das war nicht so wichtig. „Wir haben Truppen im Osten?“, hakte er schließlich nach und schenkte den Vorgängen im Haus keinerlei Beachtung mehr, während er den geliehenen Yukata gegen seinen Kimono tauschte. Mit einem bitteren Gesichtsausdruck nickte Rin. „Der Chūyō ist dort. Ich weiß zwar auch nichts Genaueres, aber Ryouichi-sama rückt so gut wie nie aus. Die Ratsmitglieder an den östlichen Grenzen kommen eigentlich gut allein zurecht, also muss es etwas Ernstes sein – oder ein Exempel.“ „Wenn die Drachen auf Inu aus sind, was ist dann mit der Festung?“ Sie sah ihn nachdenklich an und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber dein Vater wird die richtigen Entscheidungen treffen. Hab Vertrauen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, ihm keine zusätzlichen Sorgen zu bereiten. Alles andere wird sich fügen.“ Aufmerksam beobachtete sie ihn, wie er den kurz geschnittenen Kimono fast fachgerecht und mit gezielten Griffen über den Hanjuban streifte und zurechtlegte. Beinahe wollte sie ihn für seine Sorgfalt loben, als er den Obi mehr oder weniger nur praktikabel knapp oberhalb der Hüfte mehrfach um sich herum schlang und einen einfachen Knoten band, bevor er in den strömenden Regen trat. Kühler Wind fuhr durch den Raum und trug den Geruch diverser Pflanzen, die eiserne Schwere der Schmiedeöfen und einen seichten Hauch von poliertem Holz heran. Ryouichi schlug die Augen auf und blickte starr zur Zimmerdecke. Sein Körper protestierte auf die unerdenklichsten Weisen und als er auch nur den Kopf drehen wollte, schoss ihm der Schmerz durch den Rücken bis hinab in den Steiß. Missmutig biss er die Zähne zusammen. Er sollte gar nicht mehr leben. Nicht nach diesem Kampf, nicht nach dieser Verwandlung. Die Erinnerungen waren trotz aller Mühen vage. Er hatte Jahrhunderte gebraucht, um diesen Wahnsinn zu unterdrücken, ihn bestmöglich zu kontrollieren, um für niemanden eine Gefahr darzustellen, aber langsam musste er wohl einsehen, dass alle Beherrschung im aussichtlosen Nichts verlief, wenn er erst einmal Blut geleckt hatte oder kalkulierte Handlungen zugunsten entrückten Schlachtens weichen mussten. Ein Wunder, dass er überhaupt noch einen klaren Gedanken hatte fassen können, als Shisuna aufgetaucht war. Das tiefe Grollen, das sich allein bei dem Gedanken an diesen Drachen in seiner Kehle entwickelte, ließ ihn augenblicklich vor Schmerz zusammenfahren; den Laut im Keim verstummen. Ryouichi schloss die Augen und versuchte lindernder Kühle an seinem Kissen nachzuspüren – vergebens. Stattdessen brannten sich die lodernd roten Augen des Feindes durch seine Gedanken wie Speere durch eine offene Wunde. Er konnte nachfühlen, wo die gekrümmten Klauen der Bestie ihre Furchen unerbittlich in seine Haut getanzt hatten, ein ums andere Mal, heute wie damals. Das helle Lachen und die sanft gesäuselten Zugeständnisse Shisunas, bevor er alle Furcht und alles Wissen um Leid und Tod wie eine verheißungsvolle Aussicht am Ende einer langen, qualvollen Reise erscheinen ließ. Drachen! Sie hatten Drachen zurück nach Honshū geholt. Nach allem was geschehen war, allem was passieren würde. Unsterbliche, gigantische Wiedergänge ohne jeden Skrupel! Nur die Realität konnte so grausam sein. Die verfluchte, unbarmherzige Wahrheit, die er längst hätte erkennen müssen. Sie würden ihn nie in Frieden lassen. Weder in Realität noch im Nachhall. Ryouichi entfuhr ein erstickend leidendes Geräusch, wie die Antwort auf einen dumpfen, anhaltenden Schmerz. Jeder Muskel, jedes noch so winzige, beanspruchte Areal seines Körpers flehte augenblicklich um Gnade, ließ ihn in aufflammender Pein schreien, bis ihn schließlich ein hysterisches Lachen mit einem schauerlichen Schütteln erfasste und er kaum noch Luft bekam. „Du bist aufgewacht.“ Er gefror innerlich und mit dem abrupt verebbenden Lachen kehrte auch der Schmerz zurück. Er schlug die Augen erneut auf und starrte abermals an die Zimmerdecke. „Muss ich dich daran erinnern, dass wir uns bezüglich deiner Strategie einig waren?“ „Ihr seid hier...“ „Darf ich erfahren, welchen Grund du dir sonst für dein Überleben ausgemalt hast?“, schnappte der Fürst hart und sah mit funkelnden Augen eisig auf ihn herab. „Ich sagte, du sollst es nicht übertreiben!“ Ryouichi wollte ihm vorsichtig widersprechen, aber Sesshōmaru schenkte ihm allein für den Versuch ein durchdringendes Knurren. „Rücksichtslos und ohne einen Funken Verstand Feinde bis zur Selbstaufgabe zu schlachten, ist kaum als kalkuliertes Vorgehen einzustufen! Ich dachte, du hättest endlich gelernt, dich unter Kontrolle zu halten.“ „Es schmerzt mich, Euch derart enttäuscht zu haben“, der Chūyō ließ den Kopf ein wenig tiefer in das Kissen sinken. „Ich sah keinen Ausweg.“ „Narr“, schalt der Fürst ihn scharf, dann atmete er tief durch und straffte die Schultern, als helfe das, den restlichen Tag irgendwie von sich zu wischen, den er damit verbracht hatte, Tenseiga zu bemühen, um diese Drachen ein für alle Mal vom Angesicht der Welt zu tilgen. Ryouichi hatte keine Möglichkeit zur Verfügung gestanden, diesen immer wiederkehrenden Yōkai auf Dauer die Stirn zu bieten und er hatte das einzige getan, das ihm in dieser Situation geblieben war: Die Front zurückgeschlagen, das Unheil möglichst lang vom westlichen Inland ferngehalten - zu jedem Preis. Zeit, die es Sesshōmaru ermöglicht hatte, zu seinen Truppen zu stoßen und sich dieser vermaledeiten Ausgeburten selbst anzunehmen. Es war die einzig sinnvolle Entscheidung gewesen und dennoch verblieb ein bitterer Beigeschmack über diesen wenig glatten Sieg. Sie hatten gut zwanzig Mann verloren, zwei davon an Ryouichis Wahn. Nichts gegen vorangegangene Kriege, aber deutlich zu viel für eine einzelne Schlacht um Grenzbereiche. Niemand hatte mit diesen Drachen gerechnet, auch er nicht. Derart übertölpelt worden zu sein, würde ihm noch für lange Zeit ein unangenehmes Stechen in der Brust bescheren. Er konnte von Glück sprechen, dass Inuyasha und seine sonderbare Gemeinschaft Minoru rechtzeitig zur Hilfe gekommen waren und ihr Dorf mit genügend sakralen Personen versorgt war, die einen Wiedergänger zur Not schnell auf seinen Platz verweisen konnten. Dass er das noch erleben musste! Diesem Han'yō würde er das selbstgefällige Grinsen vermutlich bis an sein Lebensende nicht aus der Visage schlagen können. Aber wenn das der Preis für Minorus Leben sein sollte, dann war das eben so. Sollte sich Inuyasha in seiner kleinen, beschränkten Welt damit rühmen, ihm zuvorgekommen zu sein. Diese Kurzsichtigkeit passte zu seinem stumpfen Gemüt. Wie bereits seit Stunden warf er einen abwägenden Blick auf Ryouichi, der auch nun möglichst unbewegt auf seinem Futon lag. Einer seiner Arme war bis auf den Knochen aufgeschlitzt worden, der andere an der Schulter zertrümmert. Dazu kamen eine nicht allzu geringe Zahl weiterer Knochenbrüche und kleinerer Wunden, einige ausgeschlagene Zähne und Zerrungen. Sesshōmaru war in ihrer Jugend oft genug gegen ihn angetreten, hatte ihn selbst wenig rücksichtsvoll behandelt und dementsprechend zugerichtet, um zu wissen, wie zäh dieser Inu sein konnte. Nein, körperliche Schäden in diesem Ausmaß waren für Ryouichi im Allgemeinen tragbar, solange sein Yōki dagegen halten konnte – und da wurde es kritisch. Er hatte es zu weit getrieben, sich in seiner blinden Aggression derart verausgabt, dass Sesshōmaru aufgrund seiner schwachen Aura für einen Moment der festen Überzeugung gewesen war, er ziehe eine Leiche unter dem gefallenen Drachen hervor. So angeschlagen war es unter keinen Umständen möglich, ihn zurück zur Festung zu bringen. Daher hatte der Fürst den Großteil seiner Truppen allein zu seinem Herrschaftssitz zurückgeschickt und lediglich die Verletzten in Akios Anwesen einquartiert. Er hasste Weniges mehr als einen seiner Vasallen wegen derlei zu behelligen, aber wenn er nicht riskieren wollte, die übrigen Männer auf dem Weg an ihre Wunden zu verlieren, blieb ihm kaum eine andere Wahl. Viel besorgniserregender als Ryouichis leidender Körper war jedoch sein Geisteszustand. Er hatte im Schlaf gezuckt und geschrien, wie er es noch nie von ihm vernommen hatte. Seine Hände zitterten unaufhörlich und auch wenn er die Holzpanelen der Decke zu fixieren schien, zuckten seine schwefelgelben Augen unruhig in seinem fahlen, blutarmen Gesicht wie unter nervösen Anfällen. Der Fürst der westlichen Lande schloss für einen Moment die Augen, um sich gänzlich zu sammeln, aber bevor er dazu kam, die Angelegenheit in gewöhnlicher Kühlheit abzuschließen, drang ein kaum vernehmliches Flüstern an seine empfindlichen Ohren. „Er war da.“ Ryouichi schauderte allein bei dem Gedanken an den riesigen Drachen, der seine Artgenossen um mindestens die Hälfte überragte. „Verwandelt, ja, aber es war sicher er. Er wusste, wer ich bin. Er wusste mehr, als jeder andere wissen sollte.“ Sesshōmarus gesamter Ausdruck verfinsterte sich mit einem Schlag. „Wer.“ „Ryūkotsuseis Bruder.“ Das Knurren, das dem Fürsten entfuhr, ließ sogar das Wasser in der nahestehenden Vase feine Wellen schlagen. „Diese Panther treiben es eindeutig zu weit!“, seine Stimme klang gereizter als für ihn üblich und Ryouichi hätte es nicht gewundert, bei diesem Ton einen roten Schimmer in seinen sonst so gleichgültigen Augen zu entdecken. Für ihn sagte diese Reaktion allerdings genug aus. „Ihr habt ihn nicht getötet.“ „Eine Frage der Zeit“, stellte Sesshōmaru glatt fest. „Was weiß er?“ Ryouichi schwieg und lenkte sogar den Blick weiter auf die Seite, als der Fürst in seinen Augenwinkeln herantrat und sich bedrohlich aufbaute. „Rede schon. Weiß er von Minoru? Rin?“ „Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Von mir nicht.“ „Was verknotet dir dann die verfluchte Zunge, Daisuke?“ Ein wenig betreten hob der Generalleutnant den Blick zu seinem Herrn, dessen sonst so weiße Skleren wie erwartet einen deutlich roten Grundton angenommen hatten. Die gelben Augen seines Gegenübers hingegen sprachen Bände und Sesshōmaru zuckte unwillkürlich zurück, das sogar das Weiß in seine Augen zurückkehrte. Er schwieg lange, dann schien er sich wieder zu fangen. „Ein Grund mehr, sich seiner zu entledigen“, knurrte er. „Ihr reist zur Festung zurück, sobald Ihr könnt. Nehmt Euch die Zeit, die Ihr braucht. Keine Außeneinsätze, bis wir diese Untoten da haben, wo sie hingehören. Ich muss zurück nach Musashi. Kommt Ihr zurecht?“ Der tiefe, unüberwindbare Graben, der zwischen ihnen lag, tat sich gähnen auf. Ein Gefühl, so elendig wie es nur Bedauern sein konnte, legte sich wie ein Schatten über Ryouichis Gemüt und presste ihm beinahe physisch die Luftröhre zusammen, als der Fürst zu seiner üblichen Kälte zurückkehrte und vertraute Anreden einem kommandierenden Grundton weichen ließ. „Ja, Herr.“ „Eure Entscheidung war angemessen, Chūyō.“ „Ich danke Euch für Eure Nachsicht, Oyakata-sama“, gab er ebenso steif zurück. Als der Fürst daraufhin den Raum verließ, seufzte Ryouichi leise und richtete seinen Blick betrübt auf die reich verzierte Wand neben sich. Vielleicht hatte Shisuna recht und der Tod war angenehmer als diese Leere. Der sonst friedliche Morgen wurde von lauten Revierstreitigkeiten überschattet. Die Amseln zeterten wie eine ganze Armee und schlugen sich in den verbliebenen Pfützen des Vortages Krallen und Schnäbel entgegen, bis eine unterlegen ihr Heil in der Flucht suchte und die Siegerin mit aufgeregt wippenden Schwanzfedern und energischem Siegesgeschnatter ihren Triumph kundtat. Einen ganzen Tag hatte Minoru nun schon in dieser leerstehenden Hütte verbracht, die vor dem Tod einer alten Priesterin das Heim von seinem Onkel und dessen Familie gewesen war und seit ihrem Umzug in das größere Haus am Fuße des Tempelhügels keinen neuen Besitzer gefunden hatte. Rin war auch am vergangenen Tag im Dorf gewesen, hatte Bekannte getroffen und Geschichten ausgetauscht, bevor sie am Abend klatschnass vom anhaltenden Unwetter und Beladen mit allerlei Aufmerksamkeiten zurückgekehrt war, während er sich vehement geweigert hatte, den Unterschlupf auch nur für eine Minute zu verlassen. Es reichte vollkommen, dass alle paar Stunden ein Mensch den Kiesweg entlangtrampelte, der direkt vor dem mit einer Matte verhangenen Hauseingang zum Wald verlief, und seinen sonderbaren Geruch in der Gegend verbreitete als markiere er seine Umwelt mit der Penetranz eines territorialen Katers. Minoru murrte leise und schüttete den Rest seines noch dampfenden Tees hinunter. „Du verbrennst dir eines Tages noch die ganze Kehle.“ „Wenn heißer Tee mein Leben kostet, wird niemand mich vermissen“, gab er stumpf zurück. Der junge Inu richtete sich im Rücken auf und zog die Schultern ein Stück zurück, um die Muskeln zu spannen und endlich die Müdigkeit loszuwerden, die nach einem Tag voller Untätigkeit an ihm haftete wie ein nimmersatter Blutegel. Auch das Frühstück – Reis mit Ei und Tee – waren Rin am Vortag von den Dorfbewohnern geschenkt worden, aber darüber hinaus wurde Minoru das Gefühl nicht los, dass hinter diesen Gaben teils ein wohl bedachter Zweck stand. Teilnahmslos stieß er die alte Teekanne mit der Kralle an. Sie war gebraucht und einfach, aber sehr gut erhalten. Neben ihr stand eine große, mit Reis befüllte Holzschale und eine aus Bambus geflochtene Trage voller Holz. Die Dorfbewohner, dem Geruch nach vor allem die Frauen, hatten Rin zudem Leinenstoff mitgegeben, einen gusseisernen Topf und Sandalen. „Sie wollen dich einrichten, damit du bleibst.“ Die junge Frau stockte kurz, bevor sie amüsiert einige Falten aus ihrem Kimono strich und Minoru neuen Tee einschenkte. „Es sind sehr liebe Leute. Ein Dorf voller freundlicher Menschen ohne Verständnis. Sie haben gehofft, dass ich zurückgekommen bin. Aber keine Sorge: Ich habe ihnen gesagt, dass ich die Sachen bringe, bevor wir aufbrechen. Du musst mich wohl oder übel noch eine Weile aushalten.“ „So freundlich wie mein Onkel, meinst du?“ Sie strich sich seufzend das strähnige Haar zurück, aber als sie nichts sagte, fuhr er fort. „Dieser Ort gefällt mir nicht. Die Freundlichkeit ist oberflächlich, die Bündnisse ebenfalls und unter allem liegt mehr Misstrauen und Angst, als abzuschätzen wäre. Wir sollten schnellstmöglich verschwinden.“ „Es sind keine Bündnisse, Minoru. Es sind Freundschaften. Wir müssen nicht immer einer Meinung sein, um uns gegenseitig die Treue zu halten.“ „Davon spreche ich nicht“, gab er entschieden zurück. „Sie fürchten meinen Vater. Alle. Du bist willkommen, weil sie wünschen, dass du Vernunft annimmst und wieder unter Menschen lebst.“ „Wobei ich ihnen viel Vergnügen wünsche“, spöttelte sie mit einem Schulterzucken. „Ich weiß, dass fast jeder hier meine Entscheidungen für dumme Fehler hält, aber sie sind mit Blindheit geschlagen, wenn sie in die Welt sehen. Für Blindheit anderer werde ich mich nicht biegen. Dafür ist das Leben zu kurz.“ Minoru schwieg und wandte den Blick nach draußen. Dieser Ort sagte ihm nicht zu. Die Menschen ergriffen vor Yōkai nicht sofort die Flucht, verhielten sich aber ansonsten wie gelähmtes Wild. Im Gegensatz zu Rin vertrauten sie den Dämonen nicht im Geringsten und sie war in ihren Augen sicher nichts anderes als ein naives, dummes Ding, das nicht bemerkte, wie sich die Schlinge um ihren Hals langsam tödlich zuzog – jemand, den man, wenn möglich, bekehren sollte, bevor sie wie eine Fliege im Netz zappelte. Dass sie Rin dabei nicht längst aufgegeben und ob ihrer Beharrlichkeit in diesem vermeintlichen Irrglauben belassen hatten, lag sicherlich nur daran, dass sie in den Augen der Menschen eine hilfsbereite und freundliche junge Frau war, der man solche Ideen eher als bemitleidenswert latenten Wahnsinn antrug als sie für ihre Entscheidungen fallen zu lassen. Sie bemitleideten sie, nichts weiter. Im Regelfall hätte Minoru diese Ansichten unterstrichen – abgesehen von dem Teil mit dem Mitleid. Ein Mensch, der mit dem Feuer spielte, musste damit rechnen, sich tödlich zu verbrennen und es schien nur natürlich, dass ihre Artgenossen wie eine Horde trotteliger Hennen hinter ihr dreingluckten, um sie zurück in ihre Gemeinschaft zu bringen. Aber nach allem, was er bisher erlebt hatte, wirkte dieses Bild falsch. Rin schien plötzlich wie die einzig Sehende unter Blinden. Der Fürst würde ihr nicht ein einziges Haar krümmen. Niemals. Und das ließ das restliche Dorf mitsamt seinem Onkel und dessen Anhang auf einmal äußerst beschränkt dastehen – Gefangene ihrer Angst und gefährlicher Konfliktherde. Kaito hatte in gewisser Weise recht: Hier war längst nicht alles so friedlich wie es schien – und das lag beim besten Willen nicht nur an diesen ominösen Zwillingen. Sobald die Han'yō hier in Verruf gerieten oder gar die geringsten Ängste der Bevölkerung bestätigten, würde die Stimmung gefährlich ins Wanken geraten. „Er wird bald hier sein“, versprach Rin schließlich sanft und betrachtete ihn nachdenklich. „Ich verstehe, dass du dich hier nicht wohl fühlen kannst. Es ging mir am Anfang genauso. Menschen sind bedauernswerte Wesen, die sich von niederen Gefühlen wie Angst und Gier leiten lassen und in Extremfällen ihre körperlichen Schwächen durch List und andere unangenehme Dinge kaschieren. Das wird auch immer so bleiben, aber man kann zur Not mit ihnen Leben.“ Ein wenig erstaunt wandte er sich zu ihr zurück und versuchte den Anflug eines Lächelns in ihrem Ausdruck zu erkennen, der sie sonst umgarnte wie eine Motte das Licht, aber da war nichts. Nur finstere Gedanken, die sich auf ihrer Miene niederschlugen. „Du bist ein Mensch“, warf er schließlich ein, als sie lange nichts sagte. Rin musterte ihn einen Moment, als müsse sie überlegen, wie sie diese Tatsache nun behandeln sollte, dann seufzte sie gedehnt. „Meine Eltern hatten nie wertvollen Besitz. Ein einfaches Haus in einem Dorf, weit entfernt von hier. Ein eigenes Feld und einen Ochsen. Wir hatten immer genug zum Essen, aber nichts von Wert. Die Banditen, die unser Haus niederbrannten, meine fliehenden Eltern in Stücke hackten und das halbe Dorf verwüsteten, werden bei uns nichts gefunden haben, aber vermutlich ging es ihnen auch gar nicht darum. Mein Vater hat meine Brüder und mich durch zur Flucht angetrieben. Wir sollten uns im Wald in Sicherheit bringen. Meinen kleinen Bruder haben sie gleich nach wenigen Metern mit einem Pfeil niedergestreckt und während ich winzig genug war, mich im Wald unter einer Wurzel zu verstecken, haben sie auch den Ältesten erwischt und hinter ihren Pferden hergeschleift, bis er nicht mehr geschrien hat. Glaub mir, ich kenne die Abgründe menschlicher Natur. Töten als Zeitvertreib, es im nächsten Moment widerrufen. Yōkai sind grausam, manchmal herzlos, gefährlich und tödlich, aber sie machen keinen Hehl daraus. Auch unter euch gibt es Intrigen, Hass und Missgunst, das weißt du vermutlich am Besten, aber es behauptet zumindest kein Dämon, dass der gelebte Ausdruck seiner Gattung Richtlinie für korrektes Miteinander sein sollte. Um die Wahrheit zu sagen: Menschen machen mir Angst. Bis heute. Da konnten auch die vielen Jahre hier nichts ändern. Die Menschen hier kenne ich. Sie sind einfache Leute und trotz ihrer Ängste und Sorgen in Ordnung.“ Zum ersten Mal vermied sie es, ihn anzusehen, blickte auf ihre Hände und verschlang sie ineinander, als sie bemerkte, wie sie unkontrolliert ein wenig zitterten. Dann schüttelte sie den Kopf, als könne das vergangene Tage von ihr werfen. „Die Menschen in meinem Heimatdorf haben mich damals aufgenommen. Im Falle eines Waisenkindes, gerade eines Mädchens, bedeutet das, dass ich nicht direkt in den Wald gejagt, sondern im Dorf geduldet wurde, solange ich niemandem zur Last fiel. Alles andere war mir überlassen. Dass ich jahrelang nicht mehr gesprochen habe, war rückblickend nicht gerade zuträglich. Menschen haben eine Schwelle, an der ihr Bemühen und ihr Mitleid ein jähes Ende finden. Die hängt sehr eng mit Geduld zusammen und sobald sich dein bemitleidenswertes Verhalten nicht in der vorgesehenen Zeit ändert, beginnt irgendwann die Ignoranz – oder im schlimmsten Falle die Verachtung für deine Eigenarten.“ Sie schob sich einige Strähnen hinter die Ohren und endlich stahl sich wieder ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ich wollte im Wald nach Wurzeln suchen, als ich deinen Vater gefunden habe. Zuerst dachte ich, er sei tot. Überall war Blut, seine Rüstung zerstört, aber er war durchaus lebendig und hat mir beinahe vor Schreck die Seele aus dem Körper getrieben, als er sich plötzlich knurrend aufgesetzt hat. Ich wusste ehrlich gesagt nicht genau, dass er ein Yōkai ist. Natürlich hat mir meine Mutter von Dämonen erzählt und generell waren sie in aller Munde, aber wenn welche ins Dorf kamen, was selten genug der Fall war, waren es eher absonderliche Ratten oder anderes Volk, das nur Menschen lästig werden konnte. In meiner kindlichen Naivität wollte ich ihm helfen und habe tagelang versucht, Wasser und Essen für ihn aufzutreiben, auch wenn er nie etwas davon wollte. Deinen Vater zum Essen zu bekommen ist wirklich eine ermüdende Sache! Er hat nie etwas angerührt und auch wenn er mich mehrmals darauf hingewiesen hat, dass meine Mühen unsinnig seien, wollte ich helfen. Schließlich habe ich es geschafft, mich beim Klauen einiger Fische erwischen zu lassen. Einige Männer des Dorfes waren nicht sonderlich erfreut deswegen, aber na ja, so ist das nun einmal. An dem Tag kamen zum ersten Mal richtige Yōkai auf der Suche nach einem Juwelensplitter in mein Dorf. Ookami. Sie haben ihre Wölfe auf die Dorfbewohner losgelassen. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, außer einer unendlichen, kalten Leere, die angenehmer Wärme wich, als Tenseiga mich vom Tod löste.“ „Du musst mir all diese Dinge nicht erzählen“, hob Minoru nach einer langen Pause an. „Ich weiß, dass er mich erwürgen wird, wenn ich dir auch nur ein Haar krümme. Es ist aber gut zu wissen, dass wir uns einig sind: Das hier ist kein Ort von Friede und Freundlichkeit, auch wenn du den Menschen hier mehr traust als anderen. Wir sollten nicht länger bleiben als nötig und nicht mehr Ärger provozieren als unbedingt erforderlich. Das könnte in einer unschönen Zwickmühle enden.“ „Hast du Angst vor den Menschen?“, fragte Rin sanft. Minoru knurrte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Es sind viele, aber ich denke, ich würde mit ihnen zur Not fertig, wenn ich keine Rücksicht nehmen müsste. Aber diese Gruppe um Inuyasha stünde im Ernstfall auf der Seite der Schwachen. Gleich dem Grund, der den Kampf entfacht hat, wäre ich am Ende in der Schuld.“ „Das siehst du falsch“, protestierte sie vorsichtig und runzelte die Stirn. „Sie sind nicht ungerecht.“ „Er kann mich nicht leiden“, konstatierte Minoru kühl. „Und ich ihn auch nicht.“ „Kaito ist manchmal ein wenig schwierig, aber im Grunde eine ganz wunderbare Person.“ „Ich spreche von seinem Vater.“ Nun bekam sie große Augen: „Du bist mit Inuyasha aneinander geraten? Jetzt schon?“ „Glaub nicht, dass ich ihm einen Grund gegeben hätte. Dazu kam ich nicht einmal“, Minoru betrachtete angesäuert die Oberfläche seines Tees, der wie ein winziger See in seiner Holzschale ruhte. Dieses Menschendorf und seine Bewohner gingen ihm gehörig gegen den Strich. „Hat er dich etwa angerührt?“, fragte Rin in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und aufkeimender Aggression, dass Minoru sich zum ersten Mal darüber wunderte, was sie nun eigentlich in ihm sah. „Lediglich gedroht. Wir müssen nicht weiter darüber reden. Wie es scheint wollen wir beide nicht unbedingt hier sein, auch wenn ich das bei dir erwartet hatte.“ „Ich hatte mich darauf gefreut, für ein paar Tage hier zu sein, um nach dem Baby zu sehen und alte Freunde zu treffen, aber ich hatte mir alles ein wenig anders vorgestellt. Einfacher und weniger aufgeladen. Unter anderen Umständen wären wir auch sicher anders aufgenommen worden.“ Minoru lachte heiser auf, was sie erschrocken zusammenzucken ließ. „Du meinst, wir wären anders aufgenommen worden, wenn Vater ihnen im Nacken gestanden hätte?“ Ein böses Lächeln schlich sich auf seine schmalen Lippen. „Ja, ich bin mir sicher, Inuyasha wäre nicht auf die Idee gekommen, mir zu drohen oder beiläufig über ihn herzuziehen. Wenn Angst sie freundlicher macht, kann mir ihre Freundlichkeit gestohlen bleiben. Ich bin falsches Gehabe und Feigheit leid.“ „Junger Herr....“ Minoru schnippste den Flohgeist hart von seiner Schulter, der wegen des aufflammenden Yōkis seines jungen Schützlings versuchen wollte, wohlwollend auf ihn einzureden. Der Alte hatte Nerven sich noch zu Wort zu melden! Rin fing Myōga aus der Luft auf und bettete den bewusstlosen Yōkai sacht in ihren Handflächen. Es wurde eindeutig Zeit, dass Sesshōmaru zu ihnen zurückkehrte. Minoru war bisher ruhig geblieben und hatte alles duldsam über sich ergehen lassen, aber wie lange würde er den Zustand toleranter Ignoranz noch aufrecht erhalten können? Vermutlich musste sie von Glück sprechen, dass er der Erhaltung seines Ansehens allein aufgrund seiner Natur noch nicht viel Wert beimaß. „Ich würde heute gern ein Stück außerhalb des Dorfes einige Freunde besuchen“, meinte sie schließlich vorsichtig und erhob sich, um mit einer freien Hand einige Reiskörner von ihrem Kimono zu sammeln. „Wäre es frech, dich zu bitten, mich zu begleiten?“ Minoru knurrte angesäuert und betrachtete sie von Kopf bis Fuß, als helfe ihm das in irgendeiner Form bei seiner Entscheidung. Hatten sie nicht gerade noch festgestellt, dass sie von den Menschen hier nicht viel zu erwarten hatten? Andererseits hatte er nicht die größte Auswahl: Außerhalb des Dorfes lauerte immer noch die Gefahr, auf andere Dämonen zu treffen, und auch wenn er ihr keinen besonders effizienten Schutz bieten konnte so war er doch in der Lage, prekäre Situationen früher zu wittern und damit eher zu meiden. Zudem brauchte er dringend ein wenig Freiraum. „Ich werde kein Wort mit irgendjemandem wechseln“, stellte er ernst fest, während er das Band aus seinen Haaren zog, das die Beleidigung einer Frisur mit Mühe an Ort und Stelle zu halten suchte, und den langen Zopf mit einer Kralle entwirrte. „Das ist auch nicht nötig.“ Rin lächelte zufrieden und klopfte sich ein wenig Staub von den Ärmeln, der sich in dieser alten Hütte gesammelt hatte. Dann schlüpfte sie in ihre Getas und machte sich auf den Weg, bevor er doch noch auf die Idee kam, den nächsten Tag in diesen vier Wänden zu vergeuden. Kapitel 29: verdorben und verderbend. ------------------------------------- Während Minoru Rin gegen Mittag durch hohe Wiesen zurück zum Dorf folgte, brachte der sanft streichende Wind die erste Frühlingswärme des Jahres mit sich. Als habe jemand irgendein sonderbares Tor geöffnet und alles Getier entlassen, das über den Winter in kühler Dunkelheit eingesperrt gewesen war, begann der Wald um sie herum zu leben. Grillen zirpten in gemeinschaftlicher Lautstärke gegen das Zwitschern der Vögel an und die Luft war von vielbeinigen, umherschwirrenden Flatterkram überfüllt. Auf den Reisfeldern arbeiteten Menschen und auch im Wald schlug eine Axt im unermüdlichen Takt auf totes Holz ein. Minoru wedelte entnervt eine Hummel von sich, die ihn seit einigen Minuten wie toll umkreiste. Verwirrte Insekten. Der einzige Blumenduft, den er unterwegs eingesammelt haben konnte, stammte von längst verdorrten Pflanzen und hing ihm immer noch mit derselben Penetranz in der Nase wie die Witterung frischer Erde. Kein Wunder, dass sie gleich zufrieden gewesen war, obwohl er verkündet hatte, mit niemandem ein Wort wechseln zu wollen. Tote waren gemeinhin nicht für ihre ausufernden Konversationen bekannt. Da Rin jedoch einige dieser Leichen im Leben gekannt zu haben schien, hatte Minoru auch in seiner eher bescheidenen Laune davon abgesehen, sie darauf hinzuweisen, dass ein menschlicher Friedhof wohl kaum der bevorzugte Aufenthaltsort eines Yōkais war. Nun gut, es lagen keine Bannsprüche über diesem Totenfeld wie er es bei anderen Grabstätten der Menschen erlebt hatte, aber es handelte sich immer noch um sakralen Boden, der ihm wenig Zuneigung abringen konnte. Im Gegenteil – bis er dieses verdammte Gefühl von Verfolgung wieder von sich gestreift hatte, konnte gut einige Tage dauern. Andererseits sollte er lernen, mit solchen Situationen umzugehen. Wie sah das denn aus, wenn er später eine menschliche Ruhestätte allein aufgrund des geweihten Bodens mied? Rin sah ohnehin deutlich mitgenommener aus. Sie hatte lange an einem Grab gesessen und alte, verwelkte Blumen aufgesammelt als handle es sich um zerbrechlichstes Material, das noch anderweitig verwendet werden sollte und die niedergeschlagene Stimmung, die sie mit einem Mal umgab, war für sie so untypisch, dass Minoru sogar froh war, als sie nun langsam zu ihrem bekannten, geschwätzigen Ich zurückfand. „Danke, dass du mitgekommen bist. Ich fühle mich noch elender, wenn ich allein dorthin gehe.“ Er entgegnete daraufhin nichts und folgte mit dem Blick dem Wippen eines zurückschnellenden Ahornastes, den sie vor sich aus dem Weg geschoben hatte. Statt ihn ebenfalls zu verbiegen, tauchte er unter dem Ast hinweg. „Sie war schon sehr alt, als sie mich aufgenommen hat“, murmelte Rin vor ihm eher für sich selbst. „Als sie im vergangenen Frühjahr verstarb, habe ich Musashi umgehend verlassen. Ich müsse den Umgang mit Menschen lernen, damit ich mich wirklich entscheiden könne, hat sie immer gesagt. Entschieden hatte ich mich schon Jahre zuvor, aber sie war alt und gebrechlich und hat sich gut um mich gekümmert. Ich konnte sie nicht allein zurücklassen. Natürlich wäre sie nie wirklich allein gewesen, aber es kam mir dennoch falsch vor.“ Mit leisem Ingrimm erinnerte sich Minoru an Inuyasha, der ihr vorgeworfen hatte, gleich nach dem Tod dieser alten Frau in den Westen gegangen zu sein. Was für ein Narr sein Onkel im Grunde doch war. „Sie wollte mich zur Miko ausbilden.“ Minoru hob den Kopf und zog ungläubig eine Braue empor. „Du eine Miko?“ „Verrückt, nicht wahr? Ich wollte nicht, weil ich Angst hatte, dass ich dann niemals wieder mit Yōkai leben könnte. Dabei hätte ich mir nur Kagome ansehen müssen, um zu wissen, dass das möglich ist. Aber zumindest den Umgang mit Arznei und einigen helfenden Handgriffen habe ich mir angeeignet. Das genügt mir. Ich bin schlecht darin, mich auf lange Zeit zu konzentrieren und Meditation wird mir nie liegen.“ Die Gefährtin seines Onkels war demnach also eine Priesterin. Es hätte ihm gleich aufgehen müssen, als der Mönch von Läuterung gefaselt hatte, aber ihre Aura wirkte ebenso wenig bedrohlich wie der Rest dieser Frau, die ihm als eine der Wenigen hier ausschließlich mit Freundlichkeit begegnet war. Das warf seine Ansichten von Priestern jäh über den Haufen. Missmutig schob er seine Hände tiefer in die Ärmel. Rin musterte ihn über die Schulter und musste lächeln. „Zu viele Priester, Mönche und Dämonenjäger, hm? So ist das nun einmal, wenn sich die gesamte Rotte, die einst Naraku verfolgt hat, an einem Ort niederlässt.“ Als kein Funken der Erkenntnis in seinen Augen zu sehen war, wurde sie stutzig. „Du hast keine Ahnung, von wem ich rede, oder?“ „Nicht einmal ansatzweise.“ Unvorstellbar, wie schnell Geschichte in Vergessenheit geraten konnte! Schön, all das hatte sich vor seiner Geburt zugetragen und Minoru war sicherlich nicht mit einer Umgebung gesegnet gewesen, die ihm bereitwillig von vergangenen Kriegen berichtet hatte, aber es war dennoch befremdlich, jemanden vor sich zu haben, der von den wohl einschlägigsten Ereignissen der letzten Jahrzehnte keinen blassen Schimmer hatte. Beinahe war sie versucht, diese Wissenslücke mit einer Kurzfassung zu füllen, entschied sich im letzten Moment jedoch anders und klappte den Mund wieder zu. Ein so unbedarftes Opfer für ihre ausführlichen Geschichtsstunden durfte sie Jaken und Myōga nicht unterschlagen. „Nun, das war ja auch vor deiner Zeit“, räumte sie letztlich ein. „Du solltest bei Gelegenheit vielleicht Jaken-sama nach ihm fragen.“ Bildete er sich das gerade nur ein oder war sie das Sinnbild von Scheinheiligkeit, wie sie da süffisant lächelnd vor ihm stand und zufriedener dreinschaute als ein Welpe, dem man zum ersten Mal vom Knochen probieren ließ? Das Knacken eines feinen Astes, das aus einiger Entfernung lautstark an sein Ohr drang, ließ Minoru herumfahren. Aber es war nur Honoka, die durch das hohe Gras auf sie zugeeilt kam. „Rin-chan! Minoru!“, sie kam lächelnd neben ihnen zum Stehen. „Ich konnte euch im Dorf nirgends finden. Ich hatte schon befürchtet, ihr seid abgereist ohne euch zu verabschieden!“ „Und das würde dich wundern?“, erkundigte sich Minoru sarkastisch, ehe Rin auch nur den Mund aufmachen konnte und putzte Honoka damit ihre zufriedene Ausstrahlung mit einem Schlag vom Gesicht. „Nein“, gab sie kleinlaut zu. „Nicht unbedingt. Ich hatte nur gehofft, dass ihr noch in der Nähe seid.“ „Ich würde nicht gehen ohne noch einmal bei euch vorbeizuschauen“, versicherte Rin, dann blickte sie mitfühlend auf das Mädchen herab. „Habt ihr viel Ärger bekommen?“ „Kann man so sagen.“ Honoka stellte einen kleinen, geflochtenen Bambuskorb ins Gras und atmete lang aus. „Sie waren sehr wütend, wenn auch nur aus Besorgnis und vor allem Vater hat mich überhaupt nicht verstanden. Er und Kaito haben sich fürchterlich gestritten, bis Mutter dazwischen gegangen ist, und ich glaube, dass es noch eine Weile dauern wird, bis sie uns das wirklich verzeihen können. Ich soll zur Strafe meiner Mutter helfen. Im Haus und mit der Arbeit, aber das ist nicht gerade schrecklich. Kaito soll das Winterholz dieses Jahr allein machen und vermutlich ist es ihm nur recht, nicht Zuhause sein zu müssen. Er ist gleich heute Morgen in den Wald gegangen.“ „Klingt, als wäret ihr verhältnismäßig glimpflich davon gekommen“, merkte Rin mit einem beschwichtigenden Lächeln an. Sie hatte andere Erziehungsmethoden gesehen. Hart, fast erbarmungslos und ohne viel vorangegangene Diskussion. Natürlich hatte sie sich instinktiv zum Schutz der Kinder aussprechen wollen, war aber von Sesshōmaru augenblicklich darauf hingewiesen worden, dass diese Dinge sie in keinem Moment tangieren durften. Honoka stimmte ihr umgehend zu: „Sie sind froh, dass wir zurück sind. Das würde auch härtere Strafen nicht so schlimm machen. Wir hätten es durchaus verdient. Was heißt... ich finde, ich hätte es verdient, aber sie sind der Meinung, Kaito sei ebenso schuldig und da ist nichts zu machen. Ich soll sein Mittagessen vorbeibringen – und eures habe ich auch dabei. Vielleicht können wir ja alle zusammen essen?“ Minoru bemerkte sofort, wie Rins Blick fragend und abwägend zugleich über ihn fiel wie ein drohender Schatten. Aber anstelle eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich gleich wieder an Honoka. „Hältst du das für eine kluge Idee?“ Das Mädchen nickte überzeugt. „Wir werden uns schon nicht gegenseitig umbringen. Auch die Jungen nicht, da bin ich mir sicher.“ Abwartend sah sie zu Minoru, der in stoischer Verschwiegenheit den Blick über die Grasflächen wandern ließ. Als er sie offensichtlich ignorierte, hakte sie schließlich bestimmt nach. „Nicht wahr??“ Er riss den Kopf herum und funkelte sie aus aufgebracht goldenen Augen heraus an. „Habe ich je Anstalten gemacht, ihm den Kopf für seine respektlose Dämlichkeit abzureißen?“ Honoka zuckte im ersten Moment zurück, dann zog sich ein verspieltes Lächeln über ihre blassen Lippen. Mit einer gewissen Leichtigkeit in allen Bewegungen griff sie ihren Bambuskorb, der nach warmen Reis, Gemüse und Fleisch duftete, und lief durch das hohe Gras voraus in Richtung Wald. Minoru zuckte mit den spitzen Ohren und schob die Hände zurück in die Ärmel seines halblangen Kimonos, bevor er den beiden anderen, von dieser Idee deutlich weniger überzeugt, folgte. 狐 „Wie weit ist es bis zum anderen Ufer?“ Das kräftige Pony des jungen Fuchses scharrte mit dem Huf am Wegesrand und machte Anstalten, den Kopf nach dem kargen Grün der Küste zu strecken. Shippō zog die Zügel harsch an. Das Tier stampfte empört auf der Stelle und schnaubte unzufrieden. Die Zuneigung der Falben für seinen Reiter war eindeutig größer gewesen, als der sich noch nicht in Sachen Durchsetzungsfähigkeit erprobt hatte. „Nicht weit. Vier Kilometer vielleicht.“ Kōhei ließ sein Pony in einen leichten Trab verfallen und trieb es über die breite Straße, die sich am Waldrand unmittelbar entlang der Küste erstreckte. Am Strand wateten Menschen während der Ebbe durch die ufernden Gewässer der Harima-See und stellten große Netze auf, um mit der Flut die landwärts zurückkehrenden Fische zu fangen, die sich nun in größeren Tiefen aufhielten. Es war bereits später Nachmittag und die Sonne neigte sich gen Horizont, um Landschaft und Meer in ein leuchtendes Rot zu tauchen. Den Treffpunkt am Rande Akashis hatten sie bereits vor Stunden erreicht; vom Erben des Südens war bisher jedoch keine Spur. Wer noch nie das Meer gesehen hatte, für den war Akashi ein sonderbarer, fast malerischer Ort. Die verhältnismäßig große Menschenstadt war bekannt für ihren Fisch, den sie vorwiegend in der Akashi-Straße, einer Meerenge, unmittelbar vor ihren weiten Stränden fingen. Die Meerenge verband die Harima-See mit der Bucht von Ōsaka und galt als ebenso schön wie gefährlich. Nur bei miserabelsten Wetter mit dichtestem Nebel war es dem menschlichen Auge versagt, die Insel Awaji auf der anderen Seite der Wasserstraße zu erkennen, deren Ufer so nah wirkte, dass man in Versuchung kommen konnte, hinüberzuschwimmen. Für Menschen wie Yōkai eventuell möglich, aber dennoch gefährlich, wusste man doch nie, was in den Tiefen des Wassers neben tückischen Strömungen und Fischen lauerte. Unwetter hatten hier schon manche Familie von einem Tag auf den anderen um ihren Ernährer gebracht – und doch kamen die Gewässer und alle übrigen Naturgewalten zusammen nicht einmal im Entferntesten an die Massen von Menschenleben, die durch ihresgleichen gefordert wurden. Nur einen kurzen Marsch ostwärts lagen die großen Städte Kōbe und Ōsaka. Gewaltige Ansammlungen menschlicher Kultur, Gebäude und Körper. Sie wandelten mit der Unermüdlichkeit gereizter Ameisen durch ihre Straßen und bevölkerten die kleinsten Gassen bis in die frühen Morgenstunden hinein. Das war ein derart absonderliches Verhalten für ihre sonst so ängstliche Art, dass es Kōhei bei seinem letzten Besuch in Kōbe ein sonderbar beklemmendes Gefühl beschert hatte. Dieser Ausflug war Jahre her. Er hatte sich mit Jirō einen Spaß daraus gemacht, überzogen selbstbewusste Menschenwelpen gehörige Angst einzujagen und sie auf den Platz zu verweisen, der ihnen im Gefüge zugedacht worden war. Gerade die männlichen Exemplare neigten in einem gewissen Alter dazu, sich für unfehlbar mächtige Schöpfungen einer höheren Macht zu halten, die sich allem und jedem überlegen fühlten. Meistens waren es genau diese Menschenkinder, die nach einer Hetzjagd durch die halbe Stadt vor den Yōkai zu Boden gingen und in aberwitzigsten Lautäußerungen um ihr erbarmungswürdiges Leben winselten. Lächerlich. Aber das waren vergangene Zeiten. Kōhei empfand längst keine Freude mehr an so nichtigem Gespiel und überließ es gern den Jüngeren, mit den Menschen der Städte und Dörfer ihren Schabernack zu treiben. Die Lektionen, die sie diesem unausstehlichen Volk beibrachten, währten ohnehin selten lange und was sollten sie als Dämonen den Menschen schon antun können, was diese sich ohnehin nicht jeden Tag gegenseitig zumuteten? Es gab kaum ein Dorf, das unter den kriegerischen Zeiten dieser Epoche nicht litt und auch die großen Städte blieben nicht verschont. In Ōsaka belagerte einer ihrer Feldherren bereits seit gut zwei Jahren verbissen ein Kloster. Kein Gebiet, in dem man freiwillig siedeln wollte. Doch auch wenn sich die menschlichen Provinzen um Settsu und Izumi, in denen die Städte Akashi und Ōsaka lagen, seit vielen Jahrhunderten im Besitz der Kitsune befanden, so scherten sich die Yōkai doch wenig um die Belange der sterblichen Bewohner. Für Hayato-sama waren die Kämpfe der menschlichen Kriegsherren, die auf seinem Land stattfanden, nicht mehr bedeutsam als die Revierkämpfe der Drosseln in seinem weitläufigen Garten. Belangloses Klingen- und Schnäbelwetzen. Der Taishō des südlichen Heeres zog die frische Seeluft tief in die Lungen ein und ließ seinen Blick über Awaji-shima jenseits der Meerenge schweifen. Die Insel hatte bis auf ihre spärliche Besiedlung und das milde Klima wenige Vorzüge. Die Menschen dort lebten fast ausschließlich von Landwirtschaft und Fischfang und wäre es nicht um der Lage Willen gewesen, Hayato-sama hätte dieses wertlose Stück Boden wohl nie in Besitz nehmen wollen. Aber nachdem sie die Provinzen Settsu und Izumi eingenommen hatten, war der nächste logische Schritt diese Insel als Bindeglied und Brücke zu Shikoku zu anexieren – mitsamt den auf ihnen lebenden, dunkel gefärbten Kitsune, die sich entsprechend ihrer gewöhnlichen, animalischen Äquivalente 'Silberfüchse' nannten. Allein bei dem Gedanken an Saburō wurde Kōhei schlecht. Er erinnerte sich nur mit Widerwillen an die wenigen Tage vor vielen Jahren, als der ungeliebte Sohn des Fürsten zur Initiationsfeier seines jüngeren Halbbruders erschienen war – und der gesamte Hof für einige Tage spürbar die Luft angehalten hatte, um nicht durch ein Missgeschick in das schallende Kreuzfeuer zu geraten. Er war jung gewesen, die genauen Abläufe höfischer Feiern nicht gewohnt, und trotz allem hatte er binnen Stunden dafür gesorgt, dass alle vorlauten Mäuler mit einem Mal verstummten und noch Wochen später die imaginären Abakusse der Ratgeber seines Vaters auf den Lacktischen schepperten, während sie abzuwägen suchten, wie gefährlich dieser Abkömmling seiner restlichen Familie werden konnte. Sie hatten damit gerechnet, dass die Nähe seiner Mutter in Einstellung und Wesen auf ihn abgefärbt hatte, die Einsamkeit der Insel jedoch eine Gesellschaftsfähigkeit in ihren Grundzügen ausschloss. Saburō hatte diese vorschnellen Unterschätzungen nur allzu rasch und deutlich Lüge gestraft. Mit der Präsenz einer kokett-angriffslustigen Viper war er mit einer Selbstverständlichkeit durch die fremden Hallen seines Vaters geschritten, die die Grenze zur Unverschämtheit deutlich strapaziert hatte. Allein seine Anwesenheit an diesem Tag war eine gezielte Provokation für seinen Vater: Saburō war mit genügend jüngeren Brüdern gesegnet, um sich für die nächsten dreihundert Jahre in regelmäßigen Abständen an Initiationsfeiern zu beteiligen. Doch seinen ersten und einzigen offiziellen Besuch hatte er sehr bedacht auf das Genpuku eines Jungen gelegt, dessen erstaunliche Ähnlichkeit zu seinem Vater eben diesen dazu verleitet hatte, von seiner sonstigen Ignoranz gegenüber überzähligen Söhnen – sprich allen, die nicht sein Erbe waren – abzusehen und sich den gefährlichen Luxus zu erlauben, das Kind zumindest in gewisser Weise zu mögen. In diesem Gefüge, in dem manch Welpe viel riskiert hätte, um die Anerkennung seines Vaters zu verdienen, hatte Saburō sehr deutlich die Grenzen dessen ausgereizt, was ihm als Sohn des Fürsten genehmigt war, und seinen Vater damit beinahe zur Weißglut getrieben ohne ihm auch nur einen wirklichen Angriffspunkt zu bieten. Kōhei, der damals noch aufstrebendes Mitglied des Heeres gewesen war, hatte man an dem Abend zum Wachdienst eingeteilt. Er erinnerte sich mit Graus an den gutaussehenden Yōkai, der sich am späten Abend genüsslich neben ihm an die Wand gelehnt hatte. Seine Bernsteinaugen hatten das schiefe Lächeln seiner fein gezeichneten Lippen widergespiegelt, als wolle er bewusst erreichen, dass man eine unmittelbare Verbindung zwischen ihm und dem blutigen Chaos zog, das zeitgleich unter den Gästen ausbrach. Der Fürst hatte alle Mühe gehabt, die Anwesenden ohne Eingreifen seiner Soldaten wieder zur Räson zu bringen, und während sich zunächst niemand erklären konnte, wie dieser Stimmungsumschwung zustande gekommen war, wurde im Nachhinein nur allzu deutlich, dass Saburō die Anwesenden gegeneinander aufgebracht hatte – für einen verstoßenen Fremden wie ihn ein schier unmögliches Unterfangen; zumal in dieser kurzen Zeit. Trotz seiner Jugend und der Abgeschiedenheit Shōdoshimas war er bereits damals, vor mehr als vierhundert Jahren, mit einem Maß an Manipulativität ausgestattet gewesen, das selbst die überzogensten Geschichten über täuschende, gehässige Kitsune in den Schatten stellte – und diese Eigenschaft würde in den letzten Jahrhunderten sicher keine Milderung erfahren haben. Allein, dass er die Abgesandten seines Vaters nun schon seit Stunden warten ließ, zeigte deutlich, dass er nicht gewillt war, sich dem Fürsten ohne Weiteres zu fügen. Er reizte abermals seine Grenzen aus – und die waren in Anbetracht seiner neuen Stellung fast exponentiell erweitert worden. Zu allem Überfluss. Kōhei konnte sich gerade noch der Störquelle zuwenden, da schreckten auch schon die Ponies auf. Laute Schreie gellten durch den Wald und Kōheis Wallach stieg sofort, als ein Kind unmittelbar vor seinen Hufen aus dem Unterholz schoss, über den Weg flitzte und auf den Strand eilte. „Yōkai“, schrie das Mädchen laut und die Fischenden wandten sich mit fragendem Blick zu ihr um, bis die Bedeutung der Worte langsam wie eine ansteckende Krankheit um sich Griff und die Menschen erst in Aufruhr und dann fast augenblicklich in Panik versetzte. Sie ließen ihre Netze fallen, stolperten aus dem Meer wie eine Schar aufgescheuchter Gänse und fielen teilweise unbeholfen zu Boden, als sie den stabileren, sandigen Untergrund erreichten. Kōhei klopfte dem aufgebrachten, braunen Wallach versöhnlich den Hals und seufzte leise. Nun, immerhin ließ Saburō ihn nicht weiter warten. Der Fürstensohn sorgte lediglich dafür, dass er für die nächsten hundert Jahre im Gedächtnis der Menschen verblieb und seinem Vater, der wenig davon hielt, Menschen auf so direkte Weise mit Kitsune zu konfrontieren, ein weiteres Zeichen seines Unwillens zu schicken. Die Menschen auf dem Strand erstarrten zu Salzsäulen, als die Yōkai am Ende der Straße in Sicht kamen. Saburō ritt vorweg. Das elegante, schlanke Pony so schwarz wie sein kurzes Haar, das sich kaum von dem dichten Pelz abhob, der wie ein hochstehender Kragen auf seinen Schultern ruhte. Nicht einmal ein blindes Kind hätte darüber hinweg sehen können, dass diese Person ein Dämon war. Doch die immer noch panischen Menschen schienen den Silberfuchs nicht im Mindesten zu interessieren. Seine bernsteinfarbenen Augen, die wie glühende Kohlen in finsterster Nacht flammten, waren auf Kōhei gerichtet, der mit einem mulmigen Gefühl von seinem Wallach stieg und das menschliche Erscheinungsbild unwillig inmitten der verängstigten Fischer aufgab. Der schwarze Haarknoten löste sich allmählich, bis lange rote Strähnen einem Fluss gleich über seinen Rücken fielen und zuvor braune Augen in smaragdenem Grün glänzten. Ein seichtes, verstohlenes Zucken der weißen Spitzen seiner drei leuchtend roten Fuchsschwänze verriet seine Anspannung, die in Anbetracht des Erben und der ihm folgenden Sänfte erneut ungeahnt auflebte. Saburō war gekommen – und er war nicht allein. ☾ „Eure Mutter ist ein Schatz“, verkündete Rin unbeschwert, als sie ihr Mittagessen im Schoß ihres dunkelvioletten, etwas zu weit fallenden Yukatas ausgepackt hatte. Auch dieses Kleidungsstück hatte sie von den Dorfbewohnern bekommen und im Gegensatz zu vielem anderen Kram auch benötigt, da sie ihre ursprüngliche Reisegarderobe nach ihrer Ankunft zeitnah den Flammen zugeführt hatte, um den Gestank von toten Drachen loszuwerden. Im Gegensatz zu Yūseis Seide schienen Gerüche aus einfacher Baumwolle kaum auswaschbar. Honoka gab mit vollem Mund ein zustimmendes Geräusch von sich. Sie saßen auf einer von der Sonne angenehm beschienenen Lichtung auf dem Waldboden. Minoru wie üblich ein Stück abseits. Im Vergleich zur Reise hatte sich wenig verändert: Der weibliche Anteil der Gruppe schwatzte munter, der männliche schwieg. Neu war allerdings, dass Minoru nicht der einzige war, der das Essen trotz Hunger noch nicht angerührt hatte. Kaito lehnte mit dem Rücken an einem Baum, hatte die Beine an den Knöcheln auch im Stand überschlagen und starrte auf seine Schale hinab als sehe er durch sie hindurch. Durch mangelnden Appetit ließ sich dieses für ihn sonderbare Verhalten kaum erklären. Auf der Reise hatte sich gezeigt, dass die Natur eines Han'yō deutlich mehr Nahrung einforderte, als es sogar die eines jungen Yōkai tat und in Anbetracht des ansehnlichen Haufens frisch geschlagenen Holzes würde er kaum behaupten können, keinen Hunger zu haben. Ebenso absonderlich war, dass er Minorus Anwesenheit kommentarlos hingenommen hatte und sich auch nicht weiter um ihn zu scheren schien. Das war beinahe, als habe jemand ernsthafte Gedanken in seinen Dickschädel gepflanzt, die ihm nun das Gehirn zermarterten. „Ist alles in Ordnung mit dir, Kaito?“, fragte schließlich auch Rin, der das abwesende Verhalten des Jungen ebenfalls aufgefallen war. Er sah für einen Moment auf, musterte sie angespannt und nickte dann knapp. Die schwarzen Haare hatte er zum Arbeiten zu einem kurzen, ungleichmäßigen Zopf zusammengebunden, dessen einzelne Strähnen deutlich verrieten, dass sie unfachmännisch gekürzt worden waren. Schließlich stellte er die Schale neben sich auf den Boden, um doch wieder an die Arbeit zu gehen. Mit einem Ruck riss er die Axt aus einem breiten Baumstumpf und schulterte sie. Rin betrachtete ihn voller Unwohlsein, vermied es jedoch, ihn abermals anzusprechen. Es dauerte nicht lange bis Schalen geleert und Mägen gefüllt waren. Sogar Minoru hatte sich dazu durchringen können, die Aufmerksamkeit Kagomes anzunehmen. Rin und Honoka hatten sich unterdessen darauf geeinigt, dass Rin dem Mädchen beim Sammeln bestimmter Pflanzen helfen würde, die sie für ihre Mutter besorgen sollte. Minoru hatte seine Ablehnung für diese Unternehmung überdeutlich kund getan, indem er sich als Hund inmitten der Lichtung ausgestreckt hatte und den ersten warmen Sonnenschein des Jahres auf seinem Fell genoss. Kaito nahm ohnehin keine Notiz von ihm und solange der Han'yō ihn ignorierte und nicht auf die Idee kam, ihm irgendwelche abstrusen Beleidigungen an den Kopf zu werfen, würde die Atmosphäre in ihrer leicht dahinfließenden Anspannung verbleiben. Rin hatte mit einem mulmigen Gefühl akzeptiert, dass Minoru sie nicht begleiten wollte und zumindest versichert, möglichst in der Nähe zu bleiben, war dann aber mit der Zuversicht aufgebrochen, dass die Jungen vielleicht endlich gelernt hatten, einander zumindest zu dulden. Kaito schlug unbeirrt Holzscheite zurecht und stapelte sie eher grobsinnig zu einem Haufen auf. Wann immer Minoru unauffällig die Augen öffnete, um einen kurzen Blick auf ihn zu werfen, schien Kaito in seinen Gedanken versunken. Wenn es nicht so befremdlich gewesen wäre, hätte Minoru die Situation beinahe als angenehm empfinden können. Vielleicht war dieses subtile Gefühl von Ruhe aber auch einfach nur pure Resignation. Er war dankbar, endlich wieder in einem Wald liegen zu können und dieses mit menschlichen Stimmen, menschlichen Kram und menschlichen Gerüchen vollgestopfte Dorf in einiger Entfernung zu wissen. Die Umstände hier gingen ihm langsam aber sicher an die Nerven und auch wenn Kaito eben immer noch Kaito war, wirkte sein zumindest in Anteilen vorhandenes Yōki in einer Flut aus menschlichen Eindrücken fast vertraut und auf bedenklich angenehme Weise beruhigend. Als es jedoch mit einem Mal aufwallte, hob Minoru augenblicklich den Kopf. Die Ruhe seines Vetters hatte ein jähes Ende gefunden und noch lange bevor die Menschen in ihren dunklen Kampfanzügen zwischen dem sprießenden Grün der Bäume hervortraten, hatte Minoru sie gewittert. So viel zu seiner menschenfreien Erholsamkeit. „Da bist du ja“, stellte eine junge Frau gelassen fest und trieb die eiserne Spitze ihres Holzspeeres tief in die lockere Erde zu ihren Füßen. Die andere Frau an ihrer Seite war das Ebenbild der ersten, wenngleich sie ihre deutlich längeren Haare zu einem kunstvollen Knoten trug, der, mit unzähligen Haarnadeln gespickt, einen ernsten Eindruck vermittelte, der sich keineswegs in ihren Zügen wiederfand. Minoru legte den Kopf enger an die Vorderpfoten und betrachtete die Zwillinge möglichst unauffällig. „Wir haben schon im Dorf nach dir gesucht, um uns zu entschuldigen.“ Die auf den ersten Blick bereits deutlich souveränere Schwester war vorgetreten und schien sich wenig an der umgeschlagenen Stimmung zu stören. „Geht“, knurrte Kaito angespannt. „Sofort.“ „Du könntest uns zumindest die Chance lassen, wenn du schon -“ „Zur Hölle mit dir, Saki! Ich sagte, du sollst endlich verschwinden!“ Kaito ließ die Axt mit Wucht in den Holzklotz fahren, auf dem er seit Stunden den schon lange umgestürzten Baum in feuerfertige Stücke zerschlug. Das Metall schoss krachend in das trockene Material und ließ es splitternd bersten. Nun fand auch die andere Frau ihre Stimme: „Wir wollen doch lediglich -“ „Es ist mir gleichgültig, dass eure Eltern euch dazu breitschlagen konnten, eine Entschuldigung hervorzuwürgen!“, unterbrach er sie wütend und kämpfte das erneute Knurren herunter, das sich wie von allein in seiner Kehle bildete. „Geht mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse!“ „Das sähe dir ähnlich.“ Saki friemelte wenig beeindruckt an dem roten Band herum, das ihr kurzes, schwarzes Haar davon abhielt, störend in ihr Gesicht zu fallen und machte sich nicht einmal die Mühe Kaito genauer anzusehen. „Ob du es willst oder nicht, wir haben uns hiermit dafür entschuldigt, deine Schwester in diese Dinge hineingezogen zu haben. Auch wenn wir natürlich nicht ahnen konnten, dass sie gleich wegläuft.“ Kaito bleckte die Zähne und verschränkte mit gewissem Hohn die Arme vor der Brust. „Du schämst dich auch für gar nichts.“ „Was erwartest du von mir?“, hakte die Dämonenjägerin scharf nach. „Dass ich mich für die Wahrheit entschuldige? Es ist Fakt, dass wir nicht einfach mit Vater Dämonen austreiben können, solange ihr dabei seid. Das Honoka zu sagen, mag dumm gewesen sein, aber es bleibt dabei.“ „Ich sage es zum allerletzten Mal: Seht zu, dass ihr verschwindet und mir aus dem Weg geht. Ich will euren Schwachsinn nicht hören.“ Mei, die sich bisher wie üblich zurückgehalten hatte, berührte zaghaft die Hand ihrer Schwester und sah sie voll Unsicherheit aus ihren dunkelbraunen Augen an. „Lass uns gehen“, flüsterte sie. „Das führt zu nichts.“ Saki zog ihrer Zwillingsschwester die Hand weg und richtete ihren Blick entschlossen auf Kaito, der mit angespannten Muskeln in einigen Metern Entfernung die Hand um den Griff der Axt gelegt hatte und mit den Klauen gereizt kleine Löcher in den hölzernen Schaft trieb. „Menschen haben Angst vor Dämonen. Das ist nun einmal so. Wir wissen alle, wozu sie fähig sind und die Alten haben den Verlust, den sie bringen, beinahe alle am eigenen Leib erfahren. Wie viele Familien wurden durch Yōkai zerstört oder ausgelöscht? Wie viele Unschuldige in den Tod gerissen? Willst du erwarten, dass sie Nachsicht und Vertrauen gegenüber denen zeigen, die sie Jahrzehnte lang in ihren Träumen verfolgt haben? Unser Dorf mag sich an die Anwesenheit dieser Ungeheuer gewöhnt haben, aber da sind wir nun einmal mit die einzigen. Sobald wir außerhalb arbeiten, werden die Menschen in euch nur den Dämon sehen, ganz gleich wie ihr seid. So können wir kein Vertrauen in der Bevölkerung aufbauen – und das ist nun einmal nötig. Es ist doch nichts Persönliches.“ „Nein, natürlich nicht“, spottete Kaito bissig. „Nur eine Frage, ob ich Freunde zum Preis des Ansehens verrate.“ „Wir verraten doch niemanden.“ Saki stieß erbost die Luft aus ihren Lungen aus und ballte entnervt die Hände zu Fäusten, als ihre Erläuterungen bei Kaito nicht zu fruchten schienen. „Wir müssen doch nur irgendwann daran denken, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen sollen! Findest du es nicht sehr starrsinnig von dir, Tatsachen so gleichgültig von der Hand zu weisen? Selbst die Menschen in unserem Dorf haben Angst, Kaito – und das mit Recht. Natürlich gibt es Dämonen, die sich nicht wie wilde Bestien aufführen. Shippō hat mehrfach unter Beweis gestellt, dass er Menschen wohlgesonnen ist und auch euer Vater ist für das Dorf ein großer Vorteil. Dennoch lockt ihr andere hierher. Weniger gutmütige, grausame Wesen, die jedem von uns sofort den Garaus machen würden. Seit Rin fort ist, war zumindest abzusehen, dass dieser Hundedämon nicht mehr hierher kommt, aber statt euch mit eurem Leben hier zufrieden zu geben und einfach einzusehen, dass wir unmöglich zusammenarbeiten können, musstet ihr ja unbedingt in den Westen gehen. So harmlos ihr auch sein mögt: Yōki lockt Dämonen an und ihr eure Familie – die Seite der Familie, von der man besser die Finger lässt. Hast du eine Ahnung, was die Inuyōkai erst vor wenigen Jahren in Echigo und Uzen angerichtet haben?“ „Ich bin kein verfluchter Inuyōkai“, knurrte Kaito scharf, dem die Wut langsam aber sicher die Sinne vernebelte. Die einzelnen Vorwürfe verschwammen zu einem einzigen, großen Brocken Stumpfsinn, den er unmöglich mit logischen Argumenten widerlegen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Minoru legte langsam die Ohren an, als das wutgeladene Yōki seines Vetters über ihn hinwegstrich wie ein warmer Windstoß, der an seinem Fell zerrte. „Nein, aber du bringst sie hierher!“ Ihre Stimme war eine Mischung aus Anklage und Verzweiflung, aber Kaito sah sie lediglich aus lodernden Augen an. Mei, die beschwörend versuchte, ihre Schwester davon zu überzeugen, nach Hause zu gehen, fuhr erschrocken zusammen, als der hölzerne Stiel der Axt in Kaitos Händen zersplitterte und er davon nicht einmal viel zu bemerken schien. Ohne eine erneute Warnung auch nur in Erwägung zu ziehen, ging Kaito drohend auf die Zwillinge zu. Saki, die offenbar bemerkte, dass sie zu weit gegangen war, riss ihren Speer wieder aus dem Boden und richtete ihn unversehens auf den nahenden Han'yō. „Bleib zurück!“, zischte sie warnend. „Das ist kein Grund, handgreiflich zu werden.“ Missbilligend ließ Kaito seinen Blick über die in der Sonne funkelnde Speerspitze schweifen, bevor er sein Wakizashi, untermalt von einem leisen, metallischen Schaben, aus der Schwertscheide zog. Minoru erhob sich gemächlich auf alle Viere und näherte sich der Szenerie in schlenderndem Gang. Kaito hatte alles Recht der Welt, diese vorlauten Weiber für ihre großspurigen Schmähungen zu häuten – zumindest in den Augen eines wenig harmonisch denkenden Yōkais. Die Feindseligkeit zwischen ihm und dem Han'yō verlor in Anbetracht dieser Situation an Gewicht. Zwar war Minoru nicht sonderlich erpicht darauf, sich mit zwei jungen Dämonenjägerinnen anzulegen, aber sollten sich zwei gegen einen wenden, würde er nicht stumpf in der Gegend herumliegen wollen. Die Zwillinge, allen voran Mei, wirkten ohnehin nicht sehr handlungssicher. Mei schien bisher zu verblüfft und panisch, um sofort zu einer Reaktion zu kommen und spielte unentschlossen an dem mit Rochenhaut überzogenen Griff ihrer Klinge herum. Erst als sie sich letztlich doch dazu durchgerungen hatte, die Waffe zu ziehen, ließ das warnende Knurren des Hundes sie erschrocken zusammenfahren. Minoru hatte sie mit gesträubtem Nackenfell und gefletschten Zähnen gestellt, was tatsächlich ausreichte, um sie aus dem Konzept zu bringen. Doch seine Ohren drehten sich im selben Moment einer schnell herannahenden Geräuschquelle zu. Kaito hatte gerade unmittelbar vor Sakis Speer innegehalten und die verbissen anmutende Taijiya mit einem erhabenen Ausdruck fixiert, als sie mit der Waffe vorstieß. Der Han'yō zog den Kopf gerade rechtzeitig zur Seite, ließ sein Schwert augenblicklich fallen und entriss ihr in einer einzigen, gezielten Bewegung den Speer – nur um sie im nächsten Moment mit der stumpfen Seite niederzuschlagen. Bevor Mei reagieren oder Kaito nachtreten konnte, donnerte eine ganze Gruppe von Personen auf die Lichtung – Inuyasha, Kagome und Sango. „Kaito, aus!“ Der Angesprochene krachte unter schmerzhaftem Schreien zu Boden und Minoru entging dabei nicht, wie die Kette aus dunklen Perlen, die er stets um seinen Hals trug, verräterisch schimmerte. Wenn er bisher noch nicht von der Situation angewidert gewesen war, dann spätestens jetzt. Während Kagome – die mit ihrem gellendem Zwischenruf ganz offensichtlich dafür verantwortlich war, dass sich ihr Sohn nun mühsam wieder auf die Beine kämpfen musste – vom Rücken ihres Partners sprang, stellte sich Minoru instinktiv jedes einzelne Haar auf, das er am Leibe trug. „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“, fragte sie in Wut und Sorge. „Mit gezogenen Waffen aufeinander loszugehen?! Selbst wenn du nur die stumpfe Seite genommen hast, hättest du ihr den Schädel einschlagen können!“ Sie ließ Kaito unbeachtet und kniete neben Saki nieder, währenddessen auch Sango besorgt zu ihrer bewusstlosen Tochter eilte, deren Blutgeruch sich wie eine Wolke in der Umgebung ausbreitete, derweil die lebenswichtige, rote Flüssigkeit in den Waldboden sickerte. „Okaa-san!“, Mei klang verzweifelt und wollte gerade zu ihrer Mutter eilen, als Minoru neben ihr die animalische Form aufgab und sie prompt in die nächstbeste Hecke stieß, wo sie sich inmitten der Brennnesseln und Brombeerranken überschlug. Dämliches, hilfebedürftiges Rindvieh. Wenn sie vorher nichts geregelt bekommen hatte, musste sie nun nicht noch nach ihrer Mutter schreien. Er würdigte sie keines Blickes, schnaubte lediglich verächtlich, während er zu Kaito aufschloss, der zumindest wieder auf seine Knie hoch gekommen war. Für wenige Sekundenbruchteile musterte Minoru seinen Vetter mit einem von Unglauben geprägten Ausdruck – bis seine Züge hart wurden. „Das ist selbst für einen dahergelaufenen Straßenköter erniedrigend“, stellte er kalt fest. Kaito trieb seine Klauen tief in die Erde und bebte vor Wut und Scham. Minoru wandte sich nicht weniger offensiv zu Inuyasha, der die Aussage des Jungen als Angriff gewertet hatte und zumindest in einem Anflug von Verwunderung eine Braue hob, als ihm die Aura des Inuyōkais wie brühendes Wasser entgegenschlug. Er hatte genug von Leuten, die behaupteten, ihren Kindern zugetan zu sein, nur um sie aus Angst an die Kette zu nehmen – ob sie dabei nun Armbänder oder Halsketten verwendeten, war vollkommen zweitrangig. Sie setzten es mit solch einer Selbstverständlichkeit gegen ihren Sohn ein ohne sich auch nur einen Moment für die Umstände zu interessieren, dass es Minoru die Galle hochtrieb. „Wie könnt ihr es nur wagen?“, seine Stimme hatte einen finsteren Unterton angenommen. „Dass er euer Sohn ist, berechtigt euch zu gar nichts!“ Kaito mochte ein Vollidiot sein, aber bei den Umständen in diesem Dorf und dem Verhalten seiner Eltern wunderte Minoru das langsam kein Bisschen mehr. Wer wäre bei dieser Aussichtslosigkeit nicht irgendwann davon überzeugt, dass die versammelte Weltgemeinschaft nur die schlechten Seiten an einem sah? Inuyashas Züge nahmen sogleich eine erregte Farbe an: „Vorlautes Balg, wenn -“ „Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte sie für den Schund, den diese Wahnsinnige von sich gegeben hat, ohne weitere Rückfragen in Stücke gerissen! Aber das scheint hier niemanden zu interessieren, nicht wahr? Unter 'Freunden' muss man solche Dinge ja offensichtlich hinnehmen, ohne sich wirklich dagegen wehren zu dürfen. Und du scheinst mir auch nicht gerade die herausragende Hilfe für deine Kinder zu sein, wenn sie schon lieber zu Fremden laufen, als euch um Rat zu bitten. Vielleicht bist du genau deswegen so ein Arsch. Aber das ist beim besten Willen nicht mein Problem, wenn du mit deinem Versagen nicht zurechtkommst!“ Kaito starrte wie geschlagen zu Minoru, der sich zwischen ihm und seinem Vater aufgebaut hatte. In Inuyashas Augen flammte der tiefste Hass auf, den er in den letzten Jahren hätte empfinden können. Noch nie hatte jemand ihn so offen angegriffen und beleidigt – schon gar nicht jemand, der ihm nicht einmal bis an die Schulter reichte und zu allem Überfluss auch noch aussah wie eine verwilderte, biestige Version seines älteren Bruders. Er hatte die Hand kaum in Minorus Richtung bewegt, als der augenblicklich in tiefem Grollen zu Knurren begann. „Fass mich an und du stirbst.“ „Willst du mir etwa drohen?“, erkundigte sich sein Onkel höhnisch, sah jedoch davon ab, ihn für sein vorlautes Mundwerk zu Boden zu bringen. Zu allem Überfluss gab es jemanden auf der Welt, der wenig begeistert davon wäre, wenn sein Sohn ebenso blutend am Boden lag wie Saki. Stattdessen hob er mit verächtlichen, abwertenden Lächeln das Kinn. „Für einen mickrigen Welpen nimmst du den Mund ganz schön voll!“ „Du solltest vielleicht daran denken, dass Welpen mal erwachsen werden“, konterte Minoru ohne Umschweife und so selbstbewusst, als glaube er tatsächlich daran, dass Zeit allein seine Möglichkeiten beeinflussen könnte. „Aber dafür fehlt dir ganz offensichtlich der Weitblick, sonst würdest du daran denken, dass sich diese Versklavung deines Sohnes irgendwann rächen könnte! Wovor habt ihr geisteskranken Menschenfreunde eigentlich Angst? Dass er einen dieser verlogenen Sterblichen reißt? Gut so! Soll er doch! Vielleicht lernen sie dann endlich ihre Zunge zu hüten, statt sich darauf zu verlassen, dass jegliche Gegenwehr hier auf ungerechteste Weise erstickt wird! Dann hat diese verlogene Bande wenigstens endlich einen wirklichen Grund, sich vor euch zahnlosen Schoßhunden zu fürchten! Schande über dich und deine Frau, dass ihr euer eigenes Blut aus Angst so behandelt! Ihr seid in erster Linie euren Kindern verpflichtet und nicht dem verdammten Frieden in eurem ach so netten Dorf!“ Inuyasha fletschte fast zeitgleich die Zähne und packte den Jungen grob am Kragen, um ihm vom Boden zu heben und kräftig zu schüttel: „Du überheblicher, kleiner Flohsack! Ich zieh' dir das Fell über die Ohren. Vielleicht lernst du dann, gegenüber Erwachsenen die Schnauze zu halten!“ „Inuyasha-sama! Lasst ihn herunter! Ihr wisst ja nicht, was Ihr da tut!“ Myōga sprang zwischen den Schultern der beiden umher und zerrte am Arm des Han'yō als könne er dadurch etwas bewirken. Dann wurde er wütend. „Ihr lasst den Jungen sofort herunter oder ich rede nie wieder ein Wort mit Euch!“, donnerte er so überzeugt, dass Inuyasha ihm tatsächlich einen Funken Aufmerksamkeit widmete, bevor er ihn mit der freien Hand von der Schulter schnippte und mit einer gewissen Genugtuung zusah, wie der Flohgeist benommen zu Boden segelte. Der Anflug eines erfolgreichen Lächelns gefror ihm jedoch im selben Moment, in dem die Aura des Jungen unangenehm brennend auf die bloßen Hautstellen traf, die nicht durch das Feuerrattenfell seines Suikans geschützt waren. Ein flüchtiger Blick in die rot schimmernden Augen des Jungen verhieß nichts Gutes und Inuyasha tat das einzige, das ihm in diesem Moment sinnvoll erschien, und warf ihn hart von sich. Bevor er aufschlug, schaffte Minoru es zumindest, sich zu drehen, sodass er nur unglücklich mit der Schulter über den Boden schrappte, bevor er mit dem nächsten Überschlag irgendwie auf die Beine kam und mit dem Rücken an einen Baum krachte. Das große Gewächs schien für einen Moment überdehnt zu ächzen, bevor seine Krone im milden Wind raschelte und dann wieder still stand, als sei nie etwas geschehen. Minoru, der einige Schwierigkeiten hatte, die Gedanken von nebeligen Schwaden zu lösen, riss die Klauen mit Mühen aus dem Baum, die er zur zusätzlichen Sicherheit so tief unter die Rinde getrieben hatte, dass ihm nun die Fingerkuppen brannten. Nur in Fetzen gelangte der Streit in seinen Geist, der nun auch zwischen den Anwesenden entflammt war. Kagome fauchte ihren Mann an, während Kaito versuchte, die Wogen zu glätten. Verfluchtes, submessives Geplänkel! Das einzige, das jedoch wirklich zu Minoru durchdrang, war Rin, die entgeistert nach ihm rief und Inuyasha beinahe über den Haufen rannte. „Minoru, tu das nicht! Bitte!“ „Sie hat Recht, du weißt als allerletztes, wohin du gehörst, wenn du denkst, diese Menschen seien deine Freunde und würden euch wohlwollend behandeln, solange ihr nur artig Sitz und Platz macht!“ Inuyasha zuckte bei den letzten Worten unwillkürlich zusammen, knurrte dann aber augenblicklich, auch wenn er außer Stande war, dem Jungen argumentativ etwas entgegenzusetzen. Er erinnerte sich in stillem Grauen an die Zeit, in der er selbst es gewesen war, der von der Kette zu Boden gebracht wurde, kam aber nicht dazu, daraus ein sinnvolles Gegenargument zu spinnen. Diskussionen lagen dem Han'yō nicht, schon gar nicht, wenn er in Rage war. Bevor er jedoch einen bissigen Kommentar erdenken konnte, schlidderte Rin unvermittelt auf den immer noch vor Yōki schwelenden Minoru zu und presste ihn mit vollem Gewicht an den Baum, als sie sich an ihm warf. „Hör auf... .“ Verdutzt starrte er über ihre Schulter, Augen groß wie Wagenräder, und verstand erst jetzt allmählich, dass er im Begriff gewesen war, die Fassung zu verlieren. Sie strich ihm sanft über die Haare, als müsse sie ein verzweifeltes Kind trösten. „Wir verschwinden hier“, flüsterte sie überzeugt. „Sofort, wenn du willst.“ Er schob sie von sich und schauderte gehörig, strich sich selbst über die Haare als müsse er das Gefühl loswerden, das ihre Hand hinterlassen hatte. Dann fuhr er sich durch den Nacken, um die aufgestellten Haare dort zu glätten und schloss für einen Moment die Augen. „Rin-“ „Oh, seid bloß alle still!“, fuhr die junge Frau auf, als sie von den anderen angesprochen wurde, und lenkte ihre Aufmerksamkeit lieber auf den Jungen vor sich. „Alles in Ordnung? Es tut mir so leid. Ich hätte bei euch bleiben sollen!“ „Das hätte nichts geändert“, gab Minoru leise zurück, während sich langsam migräneartige Kopfschmerzen einstellten. „Können wir dann?“ Sie blinzelte fragend. „Was denn?“ „Fort. Du hast gesagt-“ „Ach, aber natürlich!“ Sie warf einen von Wut verhärteten Blick über die Schulter, um Inuyasha mit einem Ausdruck zu strafen, der pure Vernichtung gleichzusetzen gewesen wäre, wenn sie ihn nicht über die Jahre auch anders kennen und schätzen gelernt hätte. Saki hatte sich zumindest wieder aufgesetzt und schien bis auf eine blutende Platzwunde und einen gehörigen Schrecken unversehrt zu sein, während Kagome mit sanfter, von Schuldgefühlen zerfressener Stimme auf ihren Sohn einredete. Der hatte jedoch, selbst wenn er seiner Mutter zuhörte, nur Augen für seinen Vetter, dem er mit vollkommen undefinierbaren Blick betrachtete, als müsse er etwas Wichtiges ergründen. Dann folgte Rin Minoru, der sich mit der langsam sinkenden Sonne westwärts wandte, nachdem Myōga sich wieder auf seiner Schulter niedergelassen hatte und schwermütig die Lichtung überblickte. Minoru wusste, dass er über die Stränge geschlagen hatte. So deutlich wie noch nie. Wenn sein Vater davon erfuhr, würde er im Boden versinken müssen, um seinen Kopf zu behalten! Beinahe vor diesen Leuten die Kontrolle verloren und sich mit seinem deutlich überlegenen Onkel angelegt – er musste wirken wie ein lebensmüder Irrer! Aber wie hätte er den Mund halten können? Vielleicht war es unter Menschen löblich, Frieden zu jedem Preis anzustreben – aber war es wirklich fair, denjenigen zu strafen, der nach all den Provokationen schlussendlich die Fassung verlor? Kaum. Doch dazu allein hätte er nie etwas gesagt. Die Kette aber... – seine Linke strich prüfend über die Falte seines Ärmels, in der er die Fuchskoralle sicher verstaut hatte. In dem Moment zu schweigen, hätte er sich niemals verziehen. Kapitel 30: Wir können Verlorenes nicht zurückgewinnen ------------------------------------------------------ „Anstatt Trübsal zu blasen, solltest du zumindest im Ansatz versuchen, die Tragweite dessen zu verstehen, was du heute erreicht hast.“ Wieder keine Reaktion. Rin blähte die Wangen froschgleich auf und stieß die Luft verzweifelt aus ihren Lungen. Er hatte sich in Schweigen und Ignoranz zurückgezogen, wie er es so oft tat, und in den Stunden, die sie nun bereits in dem kleinen Bambushain lagerten, keine Anstalten gemacht, sich von seinem Ruheplatz zu erheben oder sie auch nur anzusehen. Das eher mickrige Feuer flackerte gegen die finstere Nacht an und mit dem Untergang der Sonne hatte auch die angenehme Frühlingswärme ein jähes Ende genommen; war grausameren Böen und einem Hauch von Raureif gewichen. Rin hatte die Arme um ihren Körper geschlungen und saß mit angezogenen Beinen unruhig auf dem von abgestorbenen Bambusblättern überzogenen Boden. Ihr Kinn hatte sie auf die Knie gelegt und stierte resignierend in die Dunkelheit der Nacht. „Noch vor einigen Wochen hättest du es nicht geschafft, dich wieder zur Fassung durchzuringen und klare Gedanken zu fassen“, setzte sie leise nach, auch wenn sie langsam das Gefühl bekam, Selbstgespräche zu führen. Minoru regte sich abermals nicht. „Nun missmutig herumzuliegen und zu tun, als hättest du etwas fürchterlich Dummes angestellt, macht dich nur unglaubwürdig. Ich kann verstehen, dass du dein Handeln für überstürzt hältst. Für sinnlos, gefährlich und viel zu altruistisch. Es hätte schief gehen können, aber das ist nichts weiter als Spekulation. Als du dich gegen Inuyasha gewendet hast, warst du überzeugt, das Richtige zu tun und vermutlich hast du das auch.“ Auch wenn Honoka sie unverzüglich auf die sonderbar aggressiven Energien aufmerksam gemacht hatte, waren sie viel zu spät auf der Lichtung eingetroffen. Es bedurfte allerdings nicht der größten Auffassungsgabe, um zu begreifen, was sich in etwa zugetragen haben musste – und dass Minoru in Anbetracht der Funktionsweise des Kotodama no Nenju der Geduldsfaden riss, war kaum verwunderlich. Er hatte sein Leben lang unter dem Einfluss der Fuchskoralle gelitten – wenn auch nur indirekt durch die Schwäche und Anfälligkeit, die dieses Schmuckstück brachte. Andererseits war ungewöhnlich, dass er zugunsten eines anderen das Wort ergriffen hatte, während die Vortage genügend Gründe geliefert hätten, für sich selbst einzustehen. Wobei es genauso gut denkbar war, dass er die Form der Kontrolle, die die Perlen auf Kaito hatten, sehr wohl persönlich nahm. In jedem Fall konnte es nicht schaden, Inuyasha und Kagome mit einer radikal ablehnenden Ansicht ihrer Erziehungskontrolle zu konfrontieren. Einer Ansicht, die Rin so scharf vermutlich nicht hätte vertreten können. „Dein Urteil über Musashi ist sehr hart.“ Sie schloss für einen Moment die Augen, als ein Windhauch die Asche des Feuers empor und unvermittelt in ihr Gesicht wirbelte. „Dir fehlt ein Vergleich und das Verständnis für diese Gruppe. Sie haben schlimmere Dinge durchgestanden als Meinungsverschiedenheiten. Wenn sie streiten – wenn wir streiten –, dann klingt das teilweise verletzend und böswillig, aber sie sprechen ihre Gedanken aus und damit kann ich zumindest besser leben als mit einem gespielten Lächeln, dem das Messer im Rücken folgt.“ Sie sah aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Wie ein weißer Fels in all der Nacht, den zerzausten, geflochtenen Zopf einer ausgefransten Schlange gleich neben sich am Boden. Man konnte kaum sehen, wie er atmete. „Inuyasha verhält sich dir gegenüber nicht korrekt, aber ihm fehlen oft mehr Grundlagen im Umgang mit anderen Personen als mir. Er weiß wie es ist, in einem Dorf zu leben, in dem dich die Leute nicht nur fürchten, sondern abgrundtief hassen. Han'yō haben es nicht einfach in dieser Welt. Musashi ist nicht perfekt. Die Menschen verspüren immer noch tiefe, natürliche Ängste, sie versuchen mich zu belehren und viele von ihnen werden auch Kagome schief ansehen, weil sie freiwillig drei dieser Kinder auf die Welt gebracht hat. Aber sie akzeptieren sie dort. Sie schätzen die Sicherheit, die Inuyashas Anwesenheit bietet und sie mögen Kagome und mich recht gern. Es ist nicht optimal, keine friedsame, schöne Welt, aber eine Umgebung, die Inuyasha und Kagome als sicher befunden haben. Ein Ort, an dem sie ihre Kinder aufziehen wollen und sich wohl fühlen. Es ist das kleinste Übel mit den besten Aussichten. Verstehst du das?“ Sie glaubte einen gedehnten Atemzug zu hören, aber ansonsten war da nur die Stille der Nacht. „Dennoch, ich denke, es war nötig, sie einmal darauf aufmerksam zu machen, dass die Lage trotz aller Vorzüge für ihre Kinder schwierig ist. Auch die haben keinen Vergleich und nun, wo sie langsam ihren Welpenschutz – entschuldige das Wort – verlieren, werden sie mehr mit den Schattenseiten konfrontiert. Du magst für dich heute nicht Übermäßiges, für Kaito, Honoka und Yayoi jedoch viel erreicht haben. Auch darauf solltest du stolz sein.“ Sie sah ihn noch eine Weile an, dann biss sie sich ein wenig auf die Unterlippe und kaute auf ihr herum. „Es tut mir leid, wenn ich dir eben zu nahe gekommen bin. Ich hatte Angst, du könntest dich verlieren und Dinge tun, die du noch lange bereust. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte... .“ „Vergessen wir das.“ Minoru regte sich ein wenig, als er den Kopf in eine bequemere Position drehte und die Augen schloss. Nachdem Rin eingeschlafen war, streckte Minoru sich lang aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in den sternenbehangenen Nachthimmel hinauf. Der Atem der Menschenfrau ging ruhig und gleichmäßig, unterbrochen vom leise ersterbenden Knacken des Feuers, welches den Bambushain in einen rauchig schmeckenden Nebel hüllte, der ihm in der Nase brannte. Aber das war angenehm im Vergleich zu den beißenden Gerüchen des Menschenortes. Vermutlich hatte Rin recht und er sah die Welt, in der die anderen lebten, zu schwarz. Vertrauen fiel ihm nicht leicht, das wusste er selbst, und ein Dorf voller Menschen und sonderbarer Personen machte es ihm nicht gerade einfacher, in jeder noch so gut gemeinten Aktion nicht eine wohl versteckte List zu vermuten. Sicherer als durch die Wälder zu ziehen war es jedoch allemal. Demnach durfte er sich dabei gar kein vernichtendes Urteil erlauben, wenngleich diese Kette, die Kaito trug, allein beim leisesten Gedanken, den er an sie verschwendete, Wut auslöste. Besinnend schloss er die Augen und lauschte dem leisen Schnarchen des Flohgeistes, der sich irgendwo nahe seines Ohres niedergelassen hatte und bereits seit Stunden schlief – ganz im Gegensatz zu Minoru selbst. Aber wach zu bleiben war vermutlich auch nicht die schlechteste Idee. Immerhin war nicht sicher, ob diese Drachen nicht doch irgendwo herumstreunten und sie vielleicht erneut in die Zange nahmen – etwas, das Minoru sich nicht genauer ausmalen wollte. Ein Geräusch ließ ihn Stunden später hochschrecken. Er war nicht wirklich eingeschlafen, aber in eine Art verträumten Halbschlaf gefallen, als die Blätter am Boden ungewöhnlich raschelten. Sofort war er auf den Beinen und fixierte einen Punkt in der Dunkelheit, der mit der Richtung der Geräuschquelle verhältnismäßig übereinstimmte. Dann war es mit einem Mal totenstill. Die Luft regte sich nicht, kein Blatt knisterte in leisen Tönen geruhsam über den Boden und die Welt schien in einem leeren Gähnen zu verharren. Dann ein seichter Hauch. Minoru ließ die angespannten Schultern sinken. Der Fürst trat aus der Dunkelheit zwischen all den Bambusrohren hervor und der junge Inu atmete innerlich auf, als habe jemand eine schwere Last von ihm genommen. „Willkommen zurück“, in formvollendeter, allerbester Manier neigte er den Kopf. Sesshōmaru kam nicht umhin, eine Braue in die Höhe zu ziehen und seinen Sohn zu betrachten, als habe er den Verdacht, gleich mit einer unbändigen Anhäufung wenig erfreulicher Nachrichten konfrontiert zu werden, die auf unbestimmte Weise beinhalten würde, warum er die beiden in einem Bambushain, mehrere Kilometer entfernt vom verabredeten Treffpunkt hatte aufstöbern müssen. Dennoch musste diese Unterhaltung warten. Als Minoru auch nur Andeutungen machte, den Mund öffnen zu wollen, hob er gebieterisch die Hand und schnitt ihm das Wort ab. Sein Gesichtsausdruck war so unbestimmt wie selten zuvor und erst jetzt bemerkte Minoru, dass der Fürst nicht allein gekommen war. Hinter seinem aufwallenden Schulterfell bisher gut versteckt, trat ein schlanker, blasser Mann hervor, in dessen Stirn ein zusätzliches, drittes Auge ruhte, das Minoru unverwandt anzustarren schien. „Sonderbar“, murmelte er, als Minoru ihn voller Unbehagen musterte, und fuhr mit einer von fast durchschimmernden Klauen bewehrten Hand über sein kahles Haupt, aus dem elfenbeinfarbene Hörner hervorragten, die Ähnlichkeit mit denen der nördlichen Steinböcke aufwiesen. Als er den Schatten des Fürsten verließ und sich mit einem gezielten Schritt vor denselben schob, wich Minoru zurück. Doch über die schmalen Lippen des fremden Yōkai huschte lediglich ein abgehacktes Lächeln. „Morgen früh, wenn es Euch danach verlangt.“ Seine Stimme klang wie von fern, so als befinde er sich nicht an diesem Ort. „Euer Interesse ehrt mich“, gab der Fürst glatt zurück und Minoru kam nicht umhin, seinen Vater voller Verwunderung anzusehen. So höflich hatte er nicht einmal mit Nobu gesprochen. Wer also war dieser sonderbare Dämon, der unbewaffnet und in einfachster Kleidung so viel Respekt einfordern konnte und nun ohne jeglichen Kommentar, aber mit einem sonderbar fixierten Blick aller seiner drei Augen in die Dunkelheit verschwand. Minoru stand einige Zeit wie angewurzelt still, dann lief es ihm eiskalt den Rücken herunter und er schauderte. „Was-“ „Gleich“, unterbrach der Fürst ihn leise und näherte sich ruhigen Schrittes. „Weitere Zwischenfälle? Aber verschone mich mit den Unzulänglichkeiten dieser Dorfbewohner.“ Minoru, der gerade schon den Mund hatte aufmachen wollen, um etwas zu antworten, presste die Kiefer wieder aufeinander und schüttelte vorsichtig den Kopf. „In dem Fall nicht, schätze ich. Von den Drachen wisst Ihr sicher.“ Der Fürst nickte knapp und ließ sich nach einem prüfenden Blick auf Rin zu Boden sinken. Das Menschenkind schlief so tief, dass sie von seiner Ankunft nicht das Geringste bemerkt hatte. Es war also einiges in dem Dorf vorgefallen, wenn sie so erschöpft war. Aber diese Informationen konnte er sich auch bei ihr holen, wenn er für solchen Unsinn überhaupt Verwendung hatte. Dass Rin und Minoru in dem Dorf nicht unbedingt ein harmonisches Gleichgewicht erzeugen würden, wenn ohnehin schon Missgunst und Streitigkeiten die Beziehungen verspannten, war von vorne herein kalkuliert gewesen und die aufgebrachte Stimmung seines nutzlosen Halbbruders hatte ihm beim letzten Zusammentreffen genug über dessen Haltung gegenüber der Situation und auch gegenüber Minoru verraten. Aber er kannte dieses Halbblut langsam gut genug, um zu wissen, dass dieser nicht das Rückgrat besaß, seinem Sohn ernsthaften Schaden zuzufügen und der Rest dieser verweichlichten Truppe war ohnehin nicht dazu in der Lage, Kindern mit Gram zu begegnen. Minoru warf einen letzten Blick in die Richtung, in der der sonderbare Dämon verschwunden war, dann ließ sich wieder auf seinen Platz sinken, den er bereits vor Stunden auserkoren hatte, schlug die Beine im Schneidersitz zusammen und legte einen trockenen Ast in die glimmenden Kohlen des einstigen Feuers. Sogleich griffen winzige Flammen nach der neuen Nahrung wie Totenhände nach dem Leben und die Lichtquelle glomm, untermalt von leisem Knacken, sacht auf. „Wäre es unangebracht, zu fragen, wo Ihr gewesen seid?“, erkundigte er sich schließlich, da sein Vater keine Anstalten machte, irgendein Gespräch zu beginnen. Als die goldenen Augen des Fürsten sich forschend auf seinen Sohn hefteten, fügte er hinzu: „Reine Neugier – und einige Bedenken. Rin sagte, Ryouichi-sama sei ausgerückt. Vermutlich nach Osten.“ „Ja, nach Osten“, kam es unterkühlt zurück. „Das ist nichts, das dich interessieren muss.“ „Ich verstehe.“ Minorus Stimme klang neutral, aber dem Fürsten des Westens entging nicht der leise Unterton von Enttäuschung. Doch Minoru war zu jung, um sich neben seinen ganz persönlichen Problemen auch noch mit politischen Gegebenheiten zu beschäftigen. Ganz zu schweigen davon, dass sie deutlich dringlicheren Gesprächsbedarf hatten. ≠ Das war noch unbegreiflicher als ein Schwert, das es angeblich vermochte, Tote ins Reich der Lebenden zurückzuholen. 'Widernatürlich' war ein Begriff, der Minoru auf der Zunge lag, aber er hatte ihn mit Mühe und Not wieder heruntergewürgt. Allein der Gedanke, seinem Vater gegenüber ausfallend zu werden, war unangebracht. „Ich traue ihm nicht“, entgegnete er stattdessen nach einer Weile der Stille und stellte noch einen Ast sorgsam in das knackende Feuer. „Er stinkt nach modrigen Höhlen und altem Schund.“ Das stimmte zwar, war aber nur die halbe Wahrheit. Was der Fürst ihm soeben eröffnet hatte, jagte Minoru immer noch kalte Schauer über den Rücken. Der behornte, alabasterfarbene Dämon, der sich in Begleitung des Taishōs befunden hatte, war einer der ältesten Yōkai, die das Land beherbergte. So alt, dass er und seinesgleichen nicht einmal eigene Namen besaßen, mit denen man sie hätte Ansprechen können. Sie waren „Jikan“ – ein Ausdruck, der nicht im Mindesten eine Zugehörigkeit ausdrückte. Es war der Name des Einzelnen ihres Kreises – und der Name aller. Prägnant, absonderlich, bezeichnend. Denn was hätte besser beschreiben können, über was diese Wesen verfügten, als ihr Name? Jikan. Zeit. Wenn er den Schilderungen des Fürsten folgte, waren sie in der Lage, die Zeit, die den Einzelnen umgab, aufzudecken. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Allein die Vorstellung versetzte Minoru in unangenehme Erregung, sobald er sich die Ausmaße vor Augen führte, die die Macht einer solchen Person erreichen konnte. „Sind das deine Kriterien, jemandem nicht zu trauen?“ Die Stimme des Taishōs klang kühl wie stets, aber ruhig. Doch Minoru schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nur meine Meinung. Ich traue ihm einfach nicht.“ „Du vertraust niemandem, den du nicht kennst.“ „Mit gutem Gewissen“, er lehnte sich wieder zurück und zog ein Knie an, das er mit den Armen umfing. Es war gefährlich jemanden zu trauen, den man nicht kannte – noch riskanter als sein Vertrauen in eine nahestehende Person zu setzen und selbst das fiel ihm nicht leicht. Wie konnte man jemandem vertrauen, der über solches Wissen verfügte? Und ganz davon ab: Aus welchem Grund sollte er diesem Wesen erlauben, Einblick in sein Leben zu nehmen? „Meine Vergangenheit kenne ich. Warum sollte ich etwas über die Zukunft wissen wollen? Wenn mir vorausgesagt wird, dass ich morgen im Schlaf sterbe, könnte ich es dann noch verhindern oder würde ich es durch Vermeidung erst provozieren? Diese Dinge sind sinnlos. Es kommt, wie es kommt und wenn ich es ohnehin nicht ändern kann, will ich erst gar nicht wissen, was das Morgen bringt.“ Sesshōmaru betrachtete seinen Sohn eingängig. Manchmal war es erstaunlich, wie weit entfernt dieses Kind von dem geistlosen, unwürdigen Tier entfernt war, das so viele Palastdiener dem Geschwätz nach in ihm sahen. Er hatte nicht viele Bücher lesen können und doch zu vielen Sachverhalten eine wohlüberlegte Meinung, die selbst Sesshōmaru in dem Alter zugegebener Weise nicht besessen hatte. Mit fünfzehn wäre er nicht einmal auf die Idee gekommen, sich um diese Thematik zu scheren. Als ihm vor vielen Jahrhunderten der Vorschlag unterbreitet worden war, Einblick in seine Zukunft zu erhalten, war er von der Idee vorbehaltlos eingenommen gewesen und hatte beinahe eingeschnappt reagiert, als sein Vater sich nach dem Orakel jeder Auskunft über die Einsicht verweigert hatte. Bis heute wusste Sesshōmaru nicht, was sein Vater damals in Erfahrung gebracht hatte und ob es seine Einstellung zu ihm verändert, ja ihn vielleicht sogar dazu bewogen hatte, ihm das so lange verachtete Tenseiga zu vermachen. Minoru hingegen schien den Gedanken eher befremdlich zu finden und hatte bereits seit den ersten Worten der Erörterung von Jikans Angebot eine ablehnende Haltung angenommen. „Diese uralten Yōkai bieten ihre Dienste nur wenigen, ausgesuchten Personen an“, meinte der Fürst schließlich. „Es wäre unklug, sie abzuweisen und sie damit womöglich zu beleidigen.“ „Was sollte er schon tun?“, fragte Minoru stumpf und seinem Vater entfuhr tief im innersten, dunklen Fleck seiner Seele ein leises Seufzen. Er sollte die Gespräche erst beenden, bevor er seinen Sohn lobte. Mal wohl bis zum Ende durchdacht, mal in der eigenen Ablehnung vorschnelle Entschlüsse gefasst. „Es läge nahe, den zukünftigen Generationen diesen Vorschlag nicht mehr zu unterbreiten.“ „Meine Entscheidung soll für all meine Nachfahren fallen?“ Minoru schnaubte einen Moment, dann wurde er still. Konnte man wirklich von ihm erwarten so weit ins Voraus zu planen, dass er nicht einmal erdachte Urururenkel in seinen Entscheidungen berücksichtigen sollte? Die Welt konnte morgen schon untergehen, warum also diese Bedenken? Schließlich knurrte er nur unzufrieden. „Ich traue ihm aber nicht!“, betonte er abermals. „Nicht nur weil er fremd ist. Ich mag ihn nicht.“ „Vertraust du mir?“ Er sah einen Moment auf und schaute seinen Vater erschrocken an. Mit der Frage hatte er nie gerechnet und irgendwie war sie ihm so direkt gestellt auch äußerst unangenehm. Er senkte den Blick in die Flammen und seufzte resignierend. „Ja.“ „Dann ist diese Diskussion überflüssig“, entschied der Fürst ernst und lehnte die Schulter etwas bequemer an die Borke des Baumes, während er seinen Sohn betrachtete, der immer noch nicht ganz überzeugt zu sein schien. „Sprich schon.“ „Was, wenn Ihr etwas seht, das Euch missfällt? Wenn ich Euch enttäuschen werde –“ „Minoru.“ „- oder jemand nahestehendes töte oder einfach nur -“ „Minoru!“ Er zuckte über die Wut in der Stimme zusammen und verfiel wieder in ein angespanntes Schweigen. „Wer bin ich?“ „Der Inu no Taishō“, entgegnete Minoru leise, aber der Fürst schien damit nicht zufrieden. „Mein Vater.“ „Ich bin der gefürchtetste Daiyōkai in ganz Japan. Nach der Einschätzung meiner Feinde erbarmungslos, expansiv und eine Bedrohung für jeden, der meinen Weg kreuzt. Wie willst du das überbieten? Mich enttäuschen. Wenn du ein schwacher, feiger Junge ohne Rückgrat wärst, würdest du das vielleicht schaffen. Aber nichts kann dich noch dazu machen. Egal, was ich sehen werde, es wird in keinem Moment meine Meinung über dich beeinflussen. Wenn er so wenig vertrauenswürdig ist, wie du befürchtest, könnte er versuchen, meine Ansicht über dich in eine andere Richtung zu bewegen. Glaub nicht, ich sei naiv. Oder hast du Angst, mich etwas wissen zu lassen, das schon geschehen ist?“ Minoru überlegte nur kurz, bevor er bestimmt verneinte. „Da gibt es nichts.“ Ebenso wie Minoru war Sesshōmaru sehr vorsichtig, Fremden Glauben zu schenken. Dass sein Vater allerdings einst beteuert hatte, diese Yōkai stünden allein schon wegen ihres unfassbaren Alters über der Wahrheit selbst und sähen sich keinem Fürsten, sondern nur ihren eigenen, allumfassenden Interessen verpflichtet, sprach gegen eine so misstrauische Annahme. „Überlege es dir“, meinte er schließlich. „Es wird ohnehin nur funktionieren, wenn du dich darauf einlässt. Schlaf jetzt.“ Minoru nickte und die nächste Stunden, in denen er sich bis zum Schlaf den Kopf über die Angelegenheit zerbracht, verwünschte er diesen dreiäugigen Dämon für sein Angebot heimlich in die tiefsten Abgründe der Unterwelt. Kapitel 31: Zeit nicht aufhalten -------------------------------- „Was hat er eigentlich davon? Wenn er die Zukunft kennt, braucht er sie nicht zu teilen.“ „Er braucht dich, um deine Zukunft sehen zu können. Es ist denkbar, dass sie ihn interessiert, also bietet er einen Handel an.“ Einen 'Handel? Minorus Definition von einem Handel beinhaltete den Profit beider Seiten. Das hier war eher mit Erpressung gleichzusetzen. Aber dieses Thema würde er nicht vor seinem Vater breittreten. Mit einer verwerflichen Handbewegung fischte der junge Dämon einen Ast aus seinem Haar und schnippte ihn achtlos zwischen das Gehölz, das den gesamten Waldboden bedeckte. Ein Sturm hatte vor vielen Jahren bis auf wenige Ausnahmen jeden einzelnen Baum entwurzelt oder brechen lassen. Entlaubt und staubtrocken lagen sie am Boden verteilt, bildeten hohe, verkeilte Stapel aus vielen einzelnen Stämmen, und Gruben, wo ihre Wurzeln einst den Halt verloren hatten. Am Waldrand war dieses Chaos von den siedelnden Menschen teilweise behoben worden, aber in die Tiefen dieses weiten Areals wagte sich kaum ein Sterblicher vor. Rin war jedoch nicht aufgrund des Waldes im Bambushain verblieben, sondern weil – sogar laut ihrer eigenen Aussage – derlei Angelegenheiten nicht für sie bestimmt seien. So war sie mit Myōga zurückgeblieben und hatte bei dem Gedanken, den nächsten Tag allein zu verbringen, nicht einmal ansatzweise Besorgnis entwickelt. Raureif lag schwer und belastend auf dem Grün der lebenden Vegetation und ein Marder schoss aufgeschreckt aus seinem Nest, als Minoru auf den gewaltigen Baumstamm sprang, der mit seinen ebenfalls gestürzten Brüdern eine verkeilte, mehrere Meter hohe Mauer bildete. Der Geruch von Feuer, genährt mit trockenem Buchenholz, erfüllte die klare Morgenluft und drehte Minoru den Magen um. Er hatte sich entschieden, dieses unnötige Gehampel zuzulassen. Vielleicht war Jikan auch nur ein eben solcher Scharlatan wie all die Weissager der Menschen, die durch die Lande zogen und sich mit ihrem 'Handwerk' über die Runden brachten. In Wahrheit hielt der junge Hundedämon rein gar nichts von solch prophetischem Unfug. Es war Täuschung, allgemeingültiges Geplänkel, das er sich auch selbst hätte erdenken und allein aufgrund der verschiedenen Gerüche, die den Menschen anhafteten, sogar individualisieren können – und sollte es nicht Täuschung sein, sondern die nackte Wahrheit, dass jemand dazu im Stande war, die Zukunft einer anderen Person vorherzusagen, dann war es gefährlich und darüber hinaus vollkommen unnötig. Kurzum: Minoru wäre die Situation lieber umgangen und hätte es anstelle dieser obskuren Aussichten sogar vorgezogen, zum Palast zurückzukehren. Fremde waren ihm zuwider und einzig und allein die Tatsache, dass der Fürst vom Sinn dieser Unternehmung überzeugt schien, hielt ihn davon ab, vehement zu protestieren. Er war selten altruistisch genug, um in einem solchen Moment seine persönlichen Wünsche gegen das Heil aller abzuwägen, aber wenn er diesen Dämon verprellte, würde er vermutlich sowohl seinem Volk als auch seiner Familie einen scheinbar wohlgesonnenen Verbündeten nehmen – einer, der viele war. Diese Gefahr allein hätte vermutlich auch nicht ausgereicht, um Minoru in diesen Wald zu bringen, in dem der sonderbare, alabasterfarbene Yōkai mit den Steinbockshörnern wartete. Dass sein Vater die Angelegenheit jedoch offensichtlich als gefahrlos einstufte und sein Vertrauen einforderte, überwog. Was wusste er schon von solchen Dingen? Von den Bündnissen seines Volkes, den Feinden seiner Familie? Dennoch: Er hasste es, wenn Leute sich für ihn in irgendeiner Weise interessierten. In den meisten Fällen brachte das nichts als Ärger. Jikan saß im gelassenen Schneidersitz am Boden und machte keinerlei Anstalten, dem Fürsten mit mehr als einem wissenden Lächeln zu begrüßen. Er hatte sich zwischen all den toten Stämmen und dunkelgrünen Flechten annähernd häuslich eingerichtet. Ein Feuer knisterte in seinem Rücken und verbreitete den bereits bekannten Geruch von trockener Buche. Daneben war ein ganzes Arsenal von Pflanzen, getrocknete wie frische, zusammengetragen worden. Ein Mooslager wies noch einige Dellen auf und zeugte von einer erst kürzlich beendeten Nachtruhe. „Akayas Kinder, Herren des Westens. Seid gegrüßt.“ Jikan wies sie mit einem Wink seiner bleichen Hand an, vor ihm Platz zu nehmen. Minoru ließ sich steif neben seinen Vater sinken, als der – entgegen seiner Gewohnheit – einer förmlich knienden Haltung den Vorzug gab. „Euer Erscheinen ist höchst willkommen“, erklärte der Yōkai in seinem leicht entrückten Tonfall und entkorkte beiläufig einen aus Leder und Holz gefertigten Beutel. Das dritte Auge auf seiner Stirn war dabei unentwegt auf Minoru gerichtet, während die übrigen beiden ihn kaum wahrzunehmen schienen. „Zeit ist kostbar. Wir sollten sie nicht verschwenden.“ Er füllte eine hölzerne Schale bis zum Rand mit milchig-grauer Flüssigkeit, deren süßer Geruch allein Minoru bereits den Kopf zurückziehen ließ. Süße Dinge waren eine zwiespältige, verräterische Sache. Als Jikan ihm die Schale mit beiden Händen darbot, widerstrebte es Minoru, auch nur die Hand danach auszustrecken. Aber ehe er sich eines Besseren besinnen konnte, nahm sein Vater ihm die Arbeit ab – verblüffte den Jungen allerdings damit, dass er selbst einen kaum nennenswerten Schluck abtrank, bevor er seinem Sohn die Schale reichte. Minoru nahm sie ihm verdutzt ab und starrte auch dann noch zu ihm auf, als er den Blick längst wieder Jikan zugewandt hatte. „So beunruhigt, Sesshōmaru? Euren Nachwuchs vergiften zu wollen, käme dem Versuch gleich, einen Fisch zu ertränken“, meinte der Yōkai, lächelte breit und entblößte gefährliche, weiße Zähne. „Ihr habt viele Feinde. Aber streitende Reiche sind nicht unser Belang. Partei zu ergreifen ist für uns nicht von Bedarf.“ Dann fixierten auch die übrigen, dunklen Augen Minoru. „Trink aus, Junge. Es ist nicht bitter.“ Nein, dachte Minoru, es ist unbarmherzig süß und das macht es nicht besser. Aber der Fürst nickte ihm still zu und Minoru trank, wenn auch sehr angestrengt, das durchweg abscheulich süße, breiige Zeug, das wie flüssiger Honig seine Kehle hinunterlief. Alle Sinne, jegliche Intuition schrie Feuer und Mordio und als er die Schale abstellte, fürchtete er für einen Moment, die Brühe gleich wieder hochwürgen zu müssen; konnte sich allerdings gerade noch zusammenreißen. Jede andere Reaktion blieb allerdings aus – es war nur ekelhaft. Jikan lächelte zufrieden, dann wandte er den Großteil seiner Aufmerksamkeit wieder dem Fürsten zu. „Ihr seid Eurem Namen gerecht geworden; seid in aller Munde. Eurem Vater war bewusst, dass Ihr ihn bei Weitem übertreffen würdet, dazu hat er uns nicht gebraucht. Ausgelacht hat er uns, als wir es ihm gesagt haben. Grenzenlosigkeit in bestimmten Bereichen war schon immer ein Charakterzug von ihm gewesen; als Mann wie auch als Kind. Eine Schande, dass es so enden musste. Äußerst bedauerlich. Weniger ruhmreich als er es verdient hatte. Doch das Schicksal geht seine Wege und er hat gutes Werk an Euch verrichtet – im Leben wie auch darauf.“ Sesshōmaru antwortete nicht, rührte sich nicht, während Minoru bei dem Gedanken, dass niemand sonst es bisher gewagt hatte, über den vorherigen Taishō zu sprechen, etwas quer im Hals stecken blieb. Er hatte damit gerechnet, dass eines Tages Myōga von seinem Großvater berichten würde, nicht aber, dass ein Fremder sich erdreisten könnte, ausgerechnet seinen Vater darauf anzusprechen als sei er der engste Berater und Freund des Hauses. Der Taishō verzog jedoch keine Miene. Vielleicht hatte er nichts anderes erwartet. „Tief atmen“, meinte der alabasterfarbene Yōkai plötzlich an ihn gerichtet und Minoru bemerkte erst jetzt, dass er deutlich zu flach nach Luft rang. Er hatte das Gefühl, die Welt drehe sich ungesund schnell und hastig. Der Boden wurde sonderbar uneben, Luft noch knapper als zuvor. Je mehr Beachtung er sich widmete, desto schlimmer wurde es. Als er im nächsten Moment panisch nach seiner Kehle griff, fand er sich mit einem Mal mit dem Kopf im weichen Schulterfell des Fürsten wieder, der ihm wie selbstverständlich einen Arm um die Schultern gelegt hatte. Mit der sich ausbreitenden Verwirrung schwand die Aufmerksamkeit, die er diesem absonderlichen Zustand schenken konnte. Der vertraute Geruch war angenehm, beruhigend, und vertrieb allmählich auch den süßen Nachgeschmack, der Minoru immer noch im Mund haftete. Er atmete tiefer, freier, während er allmählich schwerer in den weißen Pelz sank. Als Minoru wenige Minuten später tief eingeschlafen war, widerstrebte es dem Fürsten, seinen Sohn vor sich abzulegen, aber der Yōkai bestand darauf. Wenn er schlief, wirkte er fast friedlich und verletzlich – was natürlich auch der Wahrheit entsprach –, aber im wachen Zustand lag immer eine gewisse Härte in seinen Augen, die auch dann nicht weichen wollte, wenn er offensichtlich zufrieden war. So entspannt hatte er den Jungen in der ganzen Zeit noch nicht gesehen. „Erstaunlich, nicht wahr?“, meinte Jikan und die Monotonie in seiner Stimme ließ ihn noch entrückter klingen als es das sonderbare Timbre ohnehin schon vermochte. „Jedes junge Wesen wirkt anziehend, wenn es schläft. Ob Inuyōkai-Welpe oder Fohlen. Das erfüllt seinen Zweck bei denen, für die es ausgelegt ist. Einen hungrigen Oni mag es aus anderen Gründen verzücken, aber Euch wird vermutlich allein die Erinnerung daran wachsam bleiben lassen, wenn er längst erwachsen ist. Selbst diese unschuldigen Kinder manipulieren unwillentlich.“ Er lehnte sich langsam zurück. „Bezüglich der Tiefe der Einblicke können wir nichts versprechen. Vergangene Ereignisse sind oftmals stark von Emotionen beeinflusst oder verblassen in Verdrängung und Vergessen, während wir ferne Zeiten in emotionslosen Fragmenten, frei von Schattierungen der Gefühle, aber meist nur schemenhaft und selten eindeutig wahrnehmen. Viele Umstände werdet Ihr der Zeit selbst überlassen müssen.“ Es bedurfte einiger Minuten, bis sich der Taishō auf den Gedanken eingelassen hatte, zu sehen, was nicht wirklich war. Doch dann erkannte er die polierten Möbel und den vertrauen Geruch des sommerlichen Gartens, in dem die Azaleen in voller Blüte standen. Die Umgebung war geladen, wurde unter dem drohenden Gewitter spürbar an den Boden gepresst, sodass man das Gefühl hatte, die Luftschichten mit bloßen Händen berühren zu können. Es waren seine eigenen Räumlichkeiten. In leiser Anerkennung nahm er die erstaunliche Detailgenauigkeit der einzelnen Gegenstände wahr, bis ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass der Körper, in dem er sich befand, trotz aller Vertrautheit keinesfalls gehorchte. Seine eigene Hand strich ohne jede Aufforderung über die Karte, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lag, und rückte eine kleine, hölzerne Figur wenige Millimeter weiter nach Norden. Echigo und Uzen. Wie ein Fremder im eigenen Körper musste er erleben, wie sein altes Ich Angriffe plante, die wenige Jahre darauf siegreich sein würden. Als der Körper den Kopf wandte, blieb Sesshōmaru nichts übrig, als zu sehen, was ihm geboten wurde. Im Geiste verspannte sich seine Kieferpartie, als er die strahlend helle Gestalt seiner Gefährtin erblickte, die in der Regentür kniete und mit ihm zugewandten Rücken in den Garten hinaus starrte. Reika. Ihr langes, weißes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem kunstvollen Knoten hochstecken lassen und die dicken, ockerfarbenen Seidenlagen, die sie umgaben, ließen ihre Gestalt irrsinniger Weise noch schmaler, noch verletzlicher wirken als es ohnehin schon der Fall war. Das hier waren nicht Minorus Erinnerungen einer vergangenen Zeit, es waren seine. Wie oft war er diesen Tag in seinen Gedanken durchgegangen, hatte versucht zu begreifen, worauf es keine Antwort gab und nicht einmal einen Hinweis darauf gefunden, was diese Frau dazu verleitet haben könnte, ihn derart zu hintergehen. Doch das waren nur bruchstückhafte Erinnerungen an einen Nachmittag voller schlechter Nachrichten. Sie so klar und deutlich vor sich zu sehen, die schwüle Luft schmeckend am gewohnten Platz zu sitzen, während ihre Gefühlswelt in einer Art finsteren Wolke um sie wallte, war eine andere Erfahrung als die bloße Rekapitulierung dieses Momentes. „Kommt herein“, hörte er seine eigene Stimme. Kühl und ungerührt ob der miserablen Neuigkeiten, die sie ihm vor einigen Stunden dargebracht und den Raum seither nicht verlassen hatte. Sie tat wie ihr geheißen, gehorsam wie immer, und hatte sich kaum erhoben und zum Raum umgewandt, als hinter ihrem Rücken ein Platzregen einsetzte, der über den Engawa bis in die Wohnräume klatschte. Gewandt schob sie die Regentür zu, ihre irisierenden Klauen berührten das Holz dabei kaum, und als sie sich wieder zu ihm drehte, war von dem Kummer, der sie entgegen aller Gewohnheit zu ihm getrieben hatte, nichts mehr zu sehen. Ihre tief goldfarbenen Augen wirkten emotionslos, aber sie war nicht besonders geschickt darin, völlig unantastbar zu erscheinen wie man es von einer Fürstin erwartet hätte. Ihr feines, weißes Fell fiel ihr über die Schultern nach vorn und schmiegte sich eng an die Seiten ihres Halses. Nur frontal war von der zarten Haut ihrer Kehle ein blasser Schimmer zu erkennen, bevor sie entschieden von ockerfarbener Seide bedeckt wurde. In Perfektion ließ sie sich ihm gegenüber am Tisch nieder und senkte sofort den Blick. Sie war schmal geworden seit ihrer ersten Begegnung, fast kränklich. War er sich dessen damals ebenso deutlich gewahr geworden? Sein vergangenes Ich straffte die Schultern und sah die junge Frau in förmlicher Ernsthaftigkeit an. „Verlangt es Euch danach, zu Eurer Familie zurückzukehren?“ Keusch senkte sie den Kopf unter seinem Blick noch ein wenig mehr. Die Anspannung, die sie dabei durchfuhr, war mehr als deutlich. „Wenn mein Herr es wünscht“, antwortete sie in einem Wispern. Das war alles was er von ihr bekommen hatte: Züchtiges Verhalten, ehrfürchtig gewisperte Antworten und wenig Eigenleben. Er war nie in der Lage gewesen, die Erziehungsgrundlagen anderer Familien zur Gänze zu begreifen, doch mit Reika hatte er begonnen, seinen Vater umso besser zu verstehen, der einst in einem Gespräch hatte einfließen lassen, wie sehr seine Mutter doch aus den Reihen anderer Frauen hervorstach. In der Tat: Seine Mutter war die einzige Frau, die es sich erlaubte, eine eigene Meinung zu besitzen und die in Abwesenheit ihres Gefährten mit Leichtigkeit das ganze Heer in Bewegung versetzte ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, ob es sich für eine Frau als ungebührlich darstellen könnte, die Aufgaben ihres Mannes zu übernehmen. Bei Reika hatte er von Anfang an gewusst, dass er dies nicht von ihr erwarten konnte. Sie war von ihren Eltern zu einem gehorsamen, unterwürfigen Verhalten erzogen worden, wie er selbst zum Herrschen. Und so zuwider ihm die Vorstellung schien, vor jemandem den Kopf auch nur um Zentimeter zu senken, so wenig war sie dazu in der Lage, die immer höflichen, sicheren Pfade gewählter Ausdrücke und vorgeschriebener Verhaltensweisen zu verlassen und irgendjemandem gegenüber offen zu sprechen. Nun, für die militärische Führung des Hofes war eine Frau nicht relevant. Ryouichi hatte sich während der Jahre seiner Abwesenheit, in denen er Jagd auf Tessaiga und Naraku gemacht hatte, um alles gekümmert und er würde es ohne Rückfragen jederzeit wieder tun, sobald sein Fürst den Hof erneut verließ. Er hatte Reika für seine Kinder gebraucht, nicht mehr. Ohne gesicherte Erblinie wäre der Westen allen Siegen zum Trotze mit fortschreitender Ausbreitung immer mehr in Bedrängnis geraten. Das hatte er irgendwann eingesehen, auch wenn Sesshōmaru alles andere als versessen darauf gewesen war, Nachkommen in die Welt zu setzen. Aber sein Sinneswandel war nicht zuletzt seiner Mutter geschuldet, die ihm mit dieser lästigen Angelegenheit im Nacken gesessen hatte: Wenn er in einer seiner vielen Schlachten wider Erwarten fiele, was er auch damals für eine absolut lächerliche Vorstellung gehalten hatte, wäre seine Familie so gut wie vernichtet – solange man von einem gewissen Han'yō absah; und das wollten sich weder seine Mutter noch er selbst ausmalen. In dem Szenario hätte es nahe gelegen, dass jemand versucht gewesen wäre, die Führung zu übernehmen – insbesondere nun, da Sō'unga dank seiner höchstpersönlichen Bemühungen kein Hindernis mehr darstellte. Das zuzulassen wäre einem unmittelbaren Verrat an seinem Vater und all seinen Vorfahren gleichgekommen. Um dieses hypothetische Dilemma auszuschließen, hatte Sesshōmaru seinen Widerstand aufgegeben und Erkundigungen über geeignete Inuyōkai einholen lassen. Er hatte nicht viel Zeit gebraucht, um zu wissen, was er wollte. Mit den Inu der Echizen-Region war es möglich gewesen, zwei lang getrennte Zweige der Familie wieder zusammenzuführen und damit zumindest im Ansatz Aussicht auf einen vollblütigen Daiyōkai-Nachfahren zu haben. Wenn er schon sein Leben an eine andere Person binden sollte, dann doch bitte zum höchstmöglichen Gewinn – und Reika hatte den Erwartungsrahmen beim ersten Eintreten in den Empfangsraum empfindlich gesprengt. Sie war eher zurückhaltend und scheu als eine lohnende Verbündete – nicht die Persönlichkeit, die er sich im Stillen an seine Seite gewünscht hatte –, aber dennoch eine Erscheinung, mit der er nicht mehr gerechnet hatte: Es hatte in den vorangegangenen Jahrhunderten nur eine Hand voll potentieller Daiyōkai außerhalb seiner unmittelbaren Verwandtschaft gegeben. Unerwartet eine von ihnen zu sehen, hatte ihm damals Verwunderung abgerungen. Nur anstandshalber hatte sie ihre Schwester an den Hof begleiten sollen, denn natürlich war genau diese Familie bestrebt gewesen, ihm die jüngere Tochter zu präsentieren, die nicht bereits für Pflichten vorgesehen war, über die niemand auch nur ein Wort zu viel verlor. Doch derlei Ambitionen, so traditionell Akayas Totenwache auch sein mochte, waren in Anbetracht der Möglichkeiten aus seiner Sicht irrelevant. Natürlich hatte es einen stummen Aufschrei des Protestes gegeben, als er dennoch ausgerechnet die Frau wollte, die seit ihrer Jugend auf die Wache am Grab ihrer Vorfahren eingeschworen worden war, aber nicht einmal die einflussreichste Familie nach der seinen wagte es, sich dem Inu no Taishō offen zu widersetzen. Zumal sie auf die jüngere Schwester hatten zurückgreifen können, die gleichermaßen erzogen worden war. Selbst seine Mutter war auf ihre Weise von der jungen Frau angetan gewesen, auch wenn sie sie für geistig verdorben befunden hatte. „Das Mädchen ist zu unbedarft. Gutmütig und leichtgläubig wie Schlachtvieh“, hatte sie im abfälligsten Ton geäußert, den sie hätte Zustande bringen können und ihre lange, noch rauchende Pfeife auf der steinernen Lehne ihres Stuhles ausgeschlagen, bis der glühende Tabak unbeachtet zu Boden gerieselt war. Dann hatte sie die Knie überschlagen und das Kinn in ihrer Hand aufgestützt, um ihren Sohn mit einem belustigten Funkeln in ihren strengen Augen zu mustern, während der leuchtend violette Lack an ihren Klauen gefährlich gefunkelt hatte. „Wenn man eine wie sie bekommt, fragt man jedoch nicht nach dem Innenleben. Hoffen wir schlicht, das eure Kinder deinen Geist tragen. Hübsch zu sein wird nicht reichen, wenn ihr Vater nichts Geringeres verlangt als das ganze Land.“ Dass Reika an jenem Tag seiner Erinnerung jedoch gekommen war, um ihm zu offenbaren, dass sie das Kind verloren habe, das sie nun schon seit einigen Monaten getragen hatte, war ein denkbarer Tiefschlag, der den Fürsten dereinst hart daran erinnert hatte, dass er trotz aller Macht nicht jeden Umstand beeinflussen konnte. Sie deswegen zu verstoßen war damals jedoch zu früh gewesen. Solch unerfreuliche Dinge gehörten unvermeidbarerweise zum Leben und auch wenn dieser Erinnerung lange Zeit ein fader, ja fast bitterer Nachgeschmack angelastet hatte, war die Hoffnung geblieben, dass es sich bei diesem unerwünschten Ereignis um einen unglücklichen Einzelfall gehandelt haben musste. „Bleibt“, entschied sein altes Ich schließlich für sie. „Aber besucht Eure Familie, wenn es Euch wohltut. Euer Zustand scheint mir kränklich. Lasst mich wissen, wenn es euch mangelt.“ „Ich danke Euch, Herr.“ Ihre Verbeugung war förmlich. „Ich bin auf bedauerlichste Weise ratlos, was mein Unwohlsein anbelangt. Meine Schwester sorgt sich aufopferungsvoll um mich, sodass ich gleichwohl behaupten darf, Familie wie Gesellschaft um mich zu haben. Ich werde Euch nicht verlassen, wenn Ihr es nicht ausdrücklich wünscht.“ Mit einem Mal verblasste das Bild. Reikas schmale, bleiche Gestalt verschwand vor ihm wie im Nebel. Sesshōmaru riss sich gedanklich von diesem Rückblick los und machte sich abermals bewusst, dass es trotz aller Eindrücke nicht real, sondern eine längst vergangene Wahrheit war, die in Anbetracht der gegenwärtigen Geschehnisse so falsch und absonderlich wirkte, als habe sie niemals stattgefunden. Dann wurde es wieder schwarz. Dunkelstes, finsterstes Schwarz. Die gläsern schimmernden Klauen des alten Yōkais fuhren gedankenverloren die geraden, burgunderfarbenen Zeichnungen an Minorus Handgelenken ab, als der Fürst sich in der Realität wiederfand. In aller Seelenruhe zog Jikan sich von dem Jungen zurück und betrachtete den Daiyōkai eindringlich. „Ungewöhnlich“, kommentierte er die vorangegangene Vision und wiegte den Kopf leicht zur Seite, sodass seine geriffelten, hellen Hörner in der aufgehenden Morgensonne wie polierter Perlmutt schimmerten. „Derart ungetrübte und detaillierte Einblicke wären selbst für eine Gegenwart selten. In der Vision einer Vergangenheit haben wir sie beinahe nie so sehen können. Über alle Maßen bemerkenswert. Die Gedanken an Eure Gefährtin müssen Euch während der letzten Monde umgetrieben haben.“ „Meine persönlichen Angelegenheiten haben hier keinen Belang“, entgegnete der Fürst kalt. Er wusste, dass er selbst für diese Vision verantwortlich war – schließlich hatte er freiwillig von der milchigen Flüssigkeit getrunken. Doch das erlaubte diesem Yōkai noch lange nicht, sich an seinem Leben zu ergötzen. „Natürlich nicht“, gab Jikan in einem geflüsterten Hauch zurück und lächelte gefährlich schief. „Fahren wir mit dem Jungen fort.“ Kapitel 32: oder Vergangenes ungeschehen machen. ------------------------------------------------ Ein kaum vernehmliches Summen durchzog die neu erstandene Dunkelheit. Wie ein gleichmäßiger Fluss flutete es bis in den tiefsten Winkel des schwarzen Raumes, in dem der Fürst unangenehm körperlos in der Leere verharrte. Der Ton wurde lauter und nahm allmählich eine Melodie an, die in den ersten Momenten schwer zu erkennen war. Doch dann schien es beinahe zu eindeutig: Fast jede Inu sang dieses Lied ihren Kindern vor und selbst seine verehrte Mutter, Fürstin der westlichen Länder, hatte sich dazu verleiten lassen, dies auch dann noch zu tun, als er gerade noch bereit gewesen war, sich von ihr tragen zu lassen. Es handelte von Verlust, Krieg und Tod und wandelte sich mit jedem Wort, das ausgesprochen wurde, mehr zu einem Kriegslied. Die Melodie allein war jedoch für jeden einzig und allein tröstlich. In diesem Ton lag kein Kampfeswille. Es klang beruhigend, hoffnungsvoll und doch auf verstörende Weise klagend. Dann verstummte die Stimme abrupt. Was blieb war Leere, die sich gähnend ausbreitete und die nachklingenden Töne erstickte. In der Zeitspanne eines Wimpernschlages verschwand all das Schwarz und machte einem gleichtönigen Wohnraum mit weit geöffneten Türen platz. Die sommerliche Luft, die Holzplanken des kleinen Hauses, die deutlich blühenden Blumen der Bergwiese - nichts davon besaß Witterung oder herausragende Farbe. Für den Sonnenstand, der eindeutig Mittag ankündigte, war das Licht im Allgemeinen zu gedimmt, die Konturen einzelner Gegenstände verliefen, als habe man sie verwischt. Mal schien die Vase auf dem Tisch mit grauen Figuren verziert, im nächsten Augenblick jedoch rein weiß. Inmitten des Wohnbereiches schien Sesshōmaru nicht mehr als ein unbeteiligter Gast. Weder das Kind noch die Frau schienen Notiz von ihm zu nehmen und auch als er einen Schritt näher an seinen Sohn herantrat, hob niemand den Blick. Im Vergleich zur Vision seiner eigenen Vergangenheit, in der er sich unmittelbar in seinem Körper wiedergefunden hatte, schien er in Minorus Kindheit keinen Platz zu haben. Der Junge, der am Tisch kniete und konzentriert mit schwarzer Tinte und einfachem Pinsel einige Schriftzeichen auf das Washi brachte, hätte Minoru kaum unähnlicher sein können. Er war kräftiger als seine ältere Erscheinung, das weiße Haar war streng gekürzt worden und reichte ihm nicht einmal bis in den Nacken. Kaum älter als drei konnte er sein und entbehrte jedem Anschein von kalkulierter und misstrauischer Natur, der Minoru sonst auszeichnete. Ihm gegenüber saß eine zierliche, schattenhafte Gestalt, die sich mit einem schwarzen, verschwommenen Fächer eifrig Luft zuarbeitete, der immer dann auf die Hand des Kindes niederfuhr, wenn er einen Pinselstrich falsch anzusetzen drohte. „Du könntest deine Mutter so stolz machen, Minoru – wenn du nur ein wenig mehr Arbeit in deine Tätigkeiten investieren könntest. So ungeschickt und verträumt machst du mir keine Freude.“ „Es... es tut mir leid, Mutter. Ich wollte Euch nicht verärgern.“ „Aber natürlich wolltest du das nicht, Schätzchen, aber du solltest langsam lernen, hübscher zu schreiben. Wenn du eines Tages bei Hofe bist, wird man das von dir erwarten.“ „Wo?“, der Junge legte verwundert den Kopf schief. „Bei Hofe. Wenn du ein guter, fleißiger Junge bist, werden die Füchse dich sicher trotz allem am Hof dulden. Dann solltest du nützlich sein. Niemand mag unnütze Bengel. Und da du bedauerlicherweise zu wenig anderem taugst, wirst du dich wohl oder übel im Schreiben und Gefallen üben müssen.“ Sie schlug harsch mit dem Fächer auf das rauhe Holz des Tisches. „Nun weiter.“ „Was ist falsch mit mir?“ Unruhig ließ er einen scheuen Blick und die zerbrechlichen Finger über die Steine seines Armbandes geleiten, um sie nicht direkt ansehen zu müssen. „Mein armes Kind“, sie ließ den Fächer in ihrer Hand wieder breit vor ihrem konturlosen Gesicht aufklappen und lehnte sich noch weiter in den Schatten zurück. „Wir dürfen nicht zu viel erwarten von dieser Welt. Das Volk deines Vaters ist leider deine einzige Chance. Meine Familie wird uns niemals erlauben, auf westlichen Boden zurückzukehren. Die Entscheidung für deinen Vater war in vieler Hinsicht endgültig – also sei ein lieber Junge und arbeite hart. Sobald wir an den Hof zu deinem Vater können, wird alles einfacher. Solange müssen wir uns mit seinen Besuchen zufrieden geben.“ Das leise Rauschen der Blätter eines Waldes wogte wellengleich und stetig. „Er ist gleich hier vorn! Ihr müsst ihn Euch unbedingt ansehen!“ „'Ihn'?“ Eine dunkle Gestalt mit langem Haar schritt grau in grau hinter dem Jungen her. Einzig seine Augen leuchteten in einem auffälligen Smaragdgrün. Er klang eher besorgt als verstimmt, als er dem Jungen zu einem Wald folgte, der sich auf einer Anhöhe erstreckte. Unbedarft rannte das Kind auf das Unterholz zu, doch als die Brombeerzweige verdächtig zu zittern begannen, riss der Kitsune den Jungen zurück und hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest. Die freie Rechte fuhr zur Waffe an seiner Seite, dann hielt er abrupt inne. Ein dunkler Hund schob sich zwischen den Pflanzen hervor auf offenes Feld. Die struppige Rute begann beim Anblick des Jungen aufgeregt zu wedeln und trotz der verwaschenen Form des Tieres war deutlich zu erkennen, dass sein Fell von Kletten verklebt und zu großen Teilen verfilzt war. Das abgemagerte Wesen ließ sich augenblicklich auf den Boden sinken, als es Minoru sah. „Er ist ganz allein. Die Menschen aus dem Dorf haben ihn vertrieben und jetzt hat er keinen Ort, an den er gehen kann. Habt Ihr etwas dagegen, wenn wir ihn mitnehmen? Ich bin sicher, Mutter wird es erlauben. Sie ist immerhin auch einer.“ „Ein was, Minoru?“, erkundigte sich Kōhei tonlos und starrte wie geschlagen auf das Tier. Seine Stimme klang wenig nach ihm selbst. „Ein Hund natürlich“, erwiderte Minoru. „Wir können ihn nicht hier lassen. Er würde umkommen. Bitte sagt ja.“ Ohne eine Antwort abzuwarten löste sich das Kind unmittelbar vor den Augen des Fuchses zu einer weißen Kugel auf, die mit leuchtend goldfarbenen Augen und abstehenden Welpenfell auf den heruntergekommenen Hund zulief. Der wandte ihm den Kopf zu und begrüßte den Kleinen, indem er die Schnauze gutmütig auf seine Vorderpfoten sinken ließ. Kōheis kaum erkennbare Gestalt geriet beinahe ins Schwanken, versuchte sichtlich Fassung zu erringen und gleichzeitig Ruhe zu bewahren, aber das fiel ihm in Anbetracht des verwandelten Kindes alles andere als leicht. „Hör sofort auf damit“, zischte er schließlich. „Wie kommst du zu diesem Unsinn? Du verwandelst dich sofort zurück! Wenn deine Mutter das jemals sieht -!“ Er hielt inne, als habe er mitten im Satz jede Intention verloren und wurde steif. Sein Blick kalt und unergründlich. Da hallte auch schon eine Frauenstimme über den Hügel, während das so schon unklare Bild noch deutlicher verblasste. Der Welpe erstarrte, während der alte Hund noch einmal den Kopf hob, der Sekunden darauf losgelöst vom Rest des erbarmungswürdigen Körpers zurück an den Waldrand rollte. Die altbekannte Dunkelheit hielt Einzug und hüllte die Szene in ein dichtes Netz aus Finsternis. Das einzige, das schemenhaft über all dem schwebte, war der abgeschlagene Kopf des verwahrlosten Hundes. Eine Kinderstimme, hell und klar, klang in stockfinsterster Nacht. Nur eine heruntergebrannte Kerze stand auf dem niedrigen Holztisch und spendete fahles Licht. An der rauhen Oberfläche des Tisches zurückgeworfen, hüllte es den Jungen mit den kurzen, weißen Haaren in der Mitte des Raumes in sonderbaren Schein. Minorus Blick war leer und von Müdigkeit dunkel untermalt. Kaum älter als sechs und doch klang seine kindliche Stimme so leblos wie die einer Leiche. Nur mit Mühe war zu erkennen, dass sich auf der anderen Seite der Lichtquelle etwas bewegte und noch während das Kind sang, fuhr die Gestalt im Schatten hoch und etwas glänzendes flog aus der Dunkelheit in den Lichtschein, traf den Jungen, der sehenden Auges nicht einmal versuchte, dem Geschoss auszuweichen. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der scharfkantige Fächer gegen seinen Kopf und fiel zu Boden. Blut rann heiß und schwer an der Stirn des Kindes herab. Dennoch blieb er ungerührt stehen. „Willst du deine Mutter zum Weinen bringen?“, fragte die Gestalt scharf, aber obgleich es eindeutig die Stimme einer Frau war, klang sie so abstrakt und verzerrt wie auch der Raum absonderlich finster erschien. Die Dunkelheit war unnatürlich; viel zu dicht und undurchdringlich, um real zu sein und gleichgültig in welche Richtung Sesshōmaru sich wandte, vermochte er seinen eigenen Blickwinkel nicht zu ändern noch war es ihm möglich, in das Geschehen einzugreifen. Wenig angetan über seine Handlungsbeschränkung, verfinsterte sich seine Miene zusehends. Die Frau gab sich noch affektierter als die westliche Fürstin es in den provozierendsten Momenten vermochte. Der Junge hingegen klang stumpf und hohl. „Nein, Mutter“, antwortete er steif und ohne jede Regung. „Dieselben Fehler, immer wieder. Was habe ich getan, dass man mich mit einem derart talentlosen Sohn strafen musste? Du willst, dass wir hier vermodern, nicht wahr? Wenn du nur den Hauch einer Vorstellung hättest, was ich für dich durchmachen musste, würdest du etwas mehr Achtung und Respekt veräußern! Wegen dir sitzen wir in dieser verlassenen Einöde, wegen niemandem sonst! Und hier werden wir sterben, wenn du nicht endlich lernst, dich zu benehmen und deine Stunden ernst zu nehmen!“ „Es tut mir aufrichtig leid, Mutter.“ Was folgte war ein seltsam abfälliges Geräusch und das harte Klopfen eines Gegenstandes auf die grob bearbeitete Oberfläche des schweren Holztisches. Der Takt klang brachial und beinahe verstörend laut in dem Raum wider. „Von vorn.“ „Haha-ue!“ Die Stimme des Jungen klang verzweifelt und ängstlich. Wieder war es unnatürliche Dunkelheit, die den Raum erfüllte, aber dieses Mal war nicht einmal eine winzige Lichtquelle auszumachen. Kleine Hände mit scharfen Klauen kratzten über groben, steinbedeckten Boden und die schier endlose hölzerne Decke, aus der feine Erde und Dreck rieselte, wann immer das Kind dagegen stieß. „Haha-ue!“, rief Minoru abermals. „Darf ich bitte hinaus? Ich wollte das nicht! Wirklich nicht! Bitte... ich mag nicht mehr hier sein. Es ist so dunkel... ich .. bitte, ich tue das auch nie wieder. Versprochen! Mutter? Seid Ihr da?“ Warm und durchdringend schien die Sonne auf die beiden Kinder, die ausgestreckt im Gras lagen und zwischen den hohen Halmen fast gänzlich verschwanden. „Ich weiß, was wir spielen!“, der Junge mit den deutlichen Hornansätzen und den für Wasserdrachen typischen, punktförmigen Stirnzeichnungen, setzte sich mit einem Mal auf und blickte munter auf Minoru herab, während der Grashalm, auf dem er kaute, aufgeregt auf seinen bläulichen Lippen wippte. Der Fürst musterte das fremde Kind eingehend. Auch wenn die Mizuchi streng genommen wenig mit den Machenschaften ihrer nahestehenden Verwandten zu tun hatten, waren und blieben sie dennoch Drachen und damit alles andere als Verbündete der Inuyōkai. Doch Minoru verhielt sich vollkommen unbefangen und musterte seinen Freund lediglich nachdenklich. „Hm?“ „Eroberung!“ „Ist das wieder eines deiner blöden Kriegsspiele, Satoshi?“, erkundigte sich Minoru wenig überzeugt. Sein Gegenüber rollte ein wenig mit den wasserblauen Augen. „Zuhause spielen wir das dauernd“, verteidigte er sich dann vehement. „Du baust dir eine Basis und versuchst sie zu verteidigen und meine zu erobern oder zu zerstören. Wie ist ziemlich egal.“ Dann sprang er auf, dass sein grau-grünliches Haar nur so flog. „Ich gehe an den Hang! Mein Papa sagt, das ist taktisch klug!“ Damit stürmte er davon. Minoru sah ihm einige Minuten lang unentschlossen nach, dann jedoch raffte er sich ebenfalls auf und sammelte einige Äste zusammen. Beide Kinder brauchten eine ganze Weile, um mit ihrem Material etwas zu bauen, das nur im Entferntesten an einen Unterschlupf erinnerte und bereits beim ersten schärferen Windstoß bedrohlich zu wanken begann. „Bist du endlich soweit?“ Der junge Wasserdrache hatte zwar gerade erst den letzten Ast an die rechte Stelle gerückt, ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Anschein zu erwecken, als sei er deutlich länger fertig und warte nur auf seinen Freund. Der warf noch einmal einen prüfend, skeptischen Blick auf sein Gebilde. Dann nickte er zustimmend und griff mit der Linken nach einem Stock. Als er zurück zu Satoshi sah, hatte der seine fiktive Waffe jedoch schon wieder sinken lassen und starrte wie vom Blitz getroffen an Minoru vorbei, dem allmählich zu dämmern schien, was sein Freund da sehen musste. Mit einem Mal verschwand die warme Sommersonne mitsamt dem eindringlichen Geruch des hohen Grases. Es wurde schlagartig kühler, dunkel und trostlos. Satoshi war verschwunden, fortgelaufen zwischen die Hügel, als eine nachtschwarze, verwaschene Frauenhand Minoru den Stock entriss und ihm damit mitten ins Gesicht schlug. Der Junge ging zu Boden, wurde jedoch sofort wieder auf die Beine gerissen und davongeschleift. „Wir spielen nicht Krieg!“, fauchte ihn eine wütende, verzerrte Stimme an. „Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht! Niemals! Wir werden nie wieder so schreckliche Dinge tun oder uns schmutzig machen! Sieh dich nur an, voller Gras und Erde! Du bist beschämend!“ Ein plötzlicher Szenenwechsel nahm auch den letzten Rest von orientierungsbehelfender Helligkeit. Der steinige Boden, die hölzerne Decke. Abermals unter dem Fußboden des Hauses, wo man nicht einmal die Hand vor Augen zu sehen vermochte. Nur das aufgebrachte Gespräch zweier abstrus keifender Stimmen schallte gedämpft bis in den letzten Winkel. „Ich verlange von Euch, diese verabscheuungswürdige Schlachtkleidung in Zukunft nicht mehr in diesen Räumen zu tragen. Dabei dulde ich keinerlei Widerrede. Ihr verderbt das Gemüt des Jungen, wenn Ihr ihm andauernd dieses Leben in Waffe und Rüstung vorlebt. Er wird Euch irgendwann einmal nacheifern wollen und wir wissen beide, dass er niemals ein Schwert tragen wird, also macht die Lage für uns nicht noch schwerer als sie ohnehin schon ist.“ Jemand schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, dass es in der Dunkelheit von der Decke rieselte. „Ihr seid nicht befugt, derart herablassende Unternehmungen von mir zu verlangen! Ich bin Taishō, seit mehreren hundert Jahren. Das legt man nicht einfach mit der Kleidung ab.“ „Ich verlange auch nicht, dass Ihr Eure Stellung quittiert, sondern lediglich, dass Ihr Eure Garderobe im Angesicht des Kindes überdenkt.“ „Ich bin Soldat, kein verfluchter Viehhirte!“ „Die Wahl liegt bei Euch: Kriegsassoziierte Gegenstände werden diese Schwelle ab heute nicht mehr überschreiten – auf welcher Seite der Tür Ihr also bleibt ist Eure Entscheidung. Wollt Ihr den Jungen weiterhin sehen, würde ich anraten, Vernunft walten zu lassen. Immerhin wollt Ihr doch nicht -“ Es schepperte. Noch eine ganze Weile tönte Geschrei von fern heran, aber es waren keine Worte mehr zu entziffern. Schließlich fiel eine Tür mit lautem Knallen in den Rahmen, sodass abermals Staub von der Decke bröselte. Kurz darauf erhellte Licht die Dunkelheit und mit schwarzen Klauen bewehrte Hände hoben Minoru in einen stärker beleuchteten Wohnraum. Die Schläfe des Jungen war aufgeplatzt und leuchtete in verschiedensten Farbtönen. Auch seine Handgelenke waren von bläulichen Flecken übersät, seine Augen rot vom Weinen - und ganz allmählich strapazierte dieser Umgang auch das Gemüt seines im Rückblick zum Zusehen verurteilten Vaters. Kōhei, zum ersten Mal klarer erkennbar, war vor ihm in die Hocke gegangen und strich sacht einige Tränen aus dem Gesicht des Kindes. „Nicht weinen“, murmelte er leise. „Alles wird gut.“ „W...wo ist Mutter?“ „Draußen“, entgegnete der Kitsune mit gereizter Stimme. „Sie muss sich abregen und wird sicher bald zurück sein. Keine Sorge.“ „Ihr habt gestritten!“, fuhr das Kind auf, aber der Fuchs gab lediglich ein bestätigendes Geräusch zurück. „Wegen mir!“, setzte der Kleine nach. „Ich will nicht, dass Ihr nicht mehr kommt!“ Kōhei stockte für einen Moment, dann schüttelte er sacht den Kopf. Der rote Zopf glitt von seiner Schulter zurück auf seinen Rücken. „Rede keinen Unsinn. Natürlich komme ich wieder. Ich bin doch bisher immer zurückgekommen.“ „Dann bleibt!“, bettelte das Kind herzzerreißend. „Bitte!“ „Du weißt, das geht nicht. Ich muss zurück zum Hof und meine Pflichten erfüllen. Auch Erwachsene können nicht einfach tun, was sie wollen.“ „Haben sie nicht jemand anderen da, der das machen kann? Bitte, Vater, geht nicht wieder. Ich will nicht allein sein.“ Abermals schüttelte Kōhei den Kopf, aber ließ zeitgleich seine Hand über das verhältnismäßig kurze Haar des Jungen gleiten: „Ich kann nicht einfach wegbleiben. Man braucht mich dort.“ „Ich brauche Euch hier!“, beteuerte Minoru und zog den Kopf zurück. „Mutter ist viel freundlicher zu mir, solange Ihr hier seid. Wenn ihr weggeht, wird sie grausam. Lasst mich nicht mit ihr allein.“ „Du solltest so nicht über deine Mutter sprechen.“ Der Einwand des Fuchses sollte ernst klingen, enthielt aber einen deutlich wütenden Unterton, den der Junge sofort auf sich bezog und zurücktrat. „Es ist aber wahr!“, erwiderte er dennoch trotzig. „Sie hasst mich, weil ich nicht bin wie Ihr. Weil sie wegen mir nicht mehr bei ihrer Familie ist und auch nicht zu Euch an diesen dämlichen Hof kann. Wenn ich mehr nach Euch käme oder anders wäre als ich bin, würde sie mich vielleicht leiden können, aber ich weiß nicht wie! Ihr müsst bleiben, bis sie mich nicht mehr so sehr hasst!“ Blitzschnell hatte Kōhei die Wangen des Jungen zwischen seinen gefährlich schimmernden, schwarzen Krallen eingefangen, die keinesfalls zu einem Rotfuchs passen wollten. „Beruhige dich, Minoru.“ „Sie sagt, ich sei ein Biest und dumm und unnütz und wenn ich nicht gewesen wäre, wäre alles besser für sie. Und auch für Euch. Für alle. Aber nun wo ich da bin, müssten wir das Beste daraus machen. Das hat sie gestern erst gesagt. Ich will das nicht mehr hören! Wenn Ihr fort seid, sperrt sie mich tagelang unter diesem Boden ein. Bitte, Vater, bleibt hier!“ Der Kitsune schien sich zu irgendetwas durchringen zu müssen, holte mindestens zwei Mal tief Luft und schloss doch nur wieder die Augen. Dann sah er Minoru ernst und gefasst an. „Deine Mutter hat sehr viel durchgemacht, um dich sicher zur Welt zu bringen und fernab von Gefahren und entgegen aller Widerstände hier aufzuziehen. Sie hatte eine schwere Zeit und manchmal fällt sie deswegen in diese aufbrausende Art zurück und sagt Dinge, die sie nicht so meint. Aus Verzweiflung. Aus Angst. Du bist kein Biest, Minoru. Kein Tier und sicherlich nicht dumm und unnütz. Du bist noch jung und manchmal unterlaufen einem dabei nun einmal Fehler Die passieren mir heute noch und manche Dinge kann ich gar nicht.“ Er lächelte. „Ich bin zum Beispiel ein ganz miserabler Sänger. Da bist du viel begabter, als ich es je sein werde.“ „Aber warum muss ich das können, wenn Ihr es auch nicht könnt?!“ Der Kitsune seufzte schwer. „Mein Weg ist nicht deiner. Manchmal haben wir keinen Einfluss darauf, was wir werden. Ich wollte früher nie in den Krieg. Das haben andere für mich entschieden – und nun komme ich davon nicht mehr los. Aber ich erfülle meine Aufgabe bis heute und darf mich von ihr auch nicht so einfach abwenden. Auch nicht für dich. Bei dir wird das eines Tages ähnlich sein. Gib nicht auf, Minoru. Es wird immer ein Morgen geben.“ „Aber Mutter verachtet mich, ganz gleich wie sehr ich es versuche!“ Der Fuchs zog den Jungen bestimmt in seine Arme und legte den Kopf behutsam in das weiße Haar des Kindes. „Sag so etwas nicht, Minoru. Das darfst du nicht denken. Für deine Eltern bist du das höchste Gut. Wenn sie könnten, würden sie jederzeit die Welt um deinetwillen aus den Angeln heben – gleichgültig, was du tust, erreichst oder sein willst. Doch manchmal sind auch den Erwachsenen die Hände gebunden. Deine Eltern lieben dich, mein Kleiner. Das ist gewiss.“ „Taishō.“ Der Fürst schlug die Augen auf. Sein Blick streifte den Zeitdämon lediglich, bevor er sich umgehend auf seinen Sohn richtete. Minoru schlief weiterhin fest und rührte sich nicht im Mindesten. „Euer Knurren war für uns besorgniserregend“, kommentierte Jikan den Grund der Unterbrechung und musterte den Fürsten aufmerksam. Er vermied es jedoch, die Beweggründe dieser Reaktion zu erforschen und wechselte das Thema. „Die Klarheit dieser Einblicke war im Vergleich zu der Euren wohl ernüchternd. Wir haben uns dennoch gestattet, darauf zu verzichten, ein deutlicheres Bild zu erzwingen. Wir denken das wird in Eurem Sinne gewesen sein. Vergangenheit liegt unveränderbar hinter uns und ist damit nichts weiter als eine emotional ansprechende Rückblende. Ihr seid so pragmatisch, diesen Gedanken zu teilen.“ „In der Tat“, gab der Fürst kühl zurück. Doch eine Kleinigkeit stimmte an dieser Darstellung nicht zur Gänze. Vergangenheit war vergangen und damit unabänderlich – aber das hieß nicht, dass er sie unbeachtet von sich weisen würde. Es ergab nur Sinn, dass er in einer Zeit, in der er nicht zugegen gewesen war, nichts weiter sein konnte als ein stiller Beobachter, wenn er bereits in seiner eigenen Vergangenheit dazu verurteilt gewesen war, unbeteiligt in seinem eigenen Körper zu verharren. Dennoch hatten ihn diese Einblicke nicht gerade versöhnlich gestimmt. Angespannt ließ er die Hände auf seinen Knien ruhen. Zwar waren die Visionen schnell aufeinander gefolgt, doch er brauchte nicht mehr, um zu begreifen, warum der Junge auf einige Umstände sonderbar reagierte. Viel eindringlicher, viel abwegiger war jedoch der Gedanke, dass er Minoru Unrecht getan hatte, als er ihm vor einigen Monaten in Sachen Respekt vor den Eltern hatte belehren wollen. Der Fürst selbst war keine Person, die tiefschürfende Gefühle erlaubte oder gar auf längere Zeit empfand, aber der Hass, den Minoru gegenüber seiner Mutter verspürte, erschien ihm in Anbetracht dieser Gegebenheiten auf beunruhigende Weise gerechtfertigt. Wie konnte er seinem Sohn verdenken, diese Frau zu verachten, wenn er selbst nun die Wut herunterkämpfen musste, die sich wie ein ungebetener Gast durch seinen Geist fraß und die sonst so weiße Sklera seiner Augen in einen leuchtenden Schleier aus Rot hüllte? Er ließ die Schultern einen Moment kaum merklich kreisen und zügelte sein Temperament mit der Leichtigkeit einer Handbewegung. Wenn das hier vorbei war, hatte er entgegen seiner Gewohnheit einiges mit dem Jungen zu bereden. Ganz zu schweigen davon, dass er sich nun überlegen musste, wie er im Ernstfall eines Zusammentreffens auf diesen verfluchten Kitsune reagieren sollte. Er schien anders in die Angelegenheiten verstrickt als gedacht und zumindest in den entscheidenden Momenten war er offensichtlich gewillt gewesen, Minoru zur Seite zu stehen. Wenn man es aus der Perspektive betrachtete, war der Fuchs die einzige, wenn auch temporär begrenzte Stütze des Kindes in dieser feindseligen Atmosphäre. Im Grunde hatten die verschwommenen Einsichten jedoch damit mehr Fragen aufgeworfen als sie beantworten konnten: Reikas Beweggründe, ihren Sohn derart ungebührlich zu behandeln, waren in Anbetracht der Schärfe ihres Vorgehens nur noch unergründlicher geworden. Hinzu kam die sonderbare Rolle dieses Fuchses. Er hatte klar erkennbar versucht, Minoru das Leben einfacher zu machen, aber dabei einen gewissen Punkt niemals überschritten: Er hatte sich nicht offen in die Erziehung eingemischt und auch die Wahrheit konsequent für sich behalten. Das war absonderlich. Yōkai waren nicht zwiespältig wie die Menschen, die zwischen Moral und persönlichen Präferenzen, Pflichten und Gelüsten wankten und darüber oftmals den Verstand verloren. Sie folgten ihren Zielen bis zum bitteren Ende und das tat auch dieser vermaledeite Fuchs seit mehreren Jahrhunderten mit Bravur, indem er die Befehle seines Fürsten ausführte. Welchen Nutzen hatte der Kitsune daraus gezogen, den Jungen vor Schaden bewahren zu wollen? Mitgefühl etwa? Nein, Mitgefühl allein stand auch Kōhei nicht sonderlich zu Gesicht. Sesshōmaru kannte neben seinen persönlichen Erfahrungen mit diesem Mann ausreichend Geschichten über den General der südlichen Armee und Mitgefühl nahm in diesen Erzählungen ebenso viel Platz ein, wie in denen, die man vermutlich über ihn erzählen mochte – mit der feinen Ausnahme, dass bei Kōhei niemand behaupten konnte, er rette Menschenkinder vor dem Tod. Seine Vorliebe für gelegentlich ausufernde Hetzjagten auf Menschen schlugen eher im Gegenteil zu Buche. Selbst wenn er entgegen aller Natur und wider besseren Wissens väterliche Gefühle für Minoru entwickelt haben sollte, war es immer noch mehr als Mitleid und es fehlte der persönliche Profit. Was also würde einen eingefleischten Krieger von seinem eigentlichen Weg abbringen, bis zu dem Punkt, an dem er die Grenzen seiner Pflicht überschritt oder ihr sogar zuwider handelte? Welcher Beweggrund führte einen Dämon auf den Drahtseilakt zwischen Pflicht und persönlicher Präferenz; machte ihn verletzlich, schwach und ließ ihn auf riskanten Pfaden wandern? Sesshōmarus Kiefermuskulatur verspannte. Er kannte die Antwort – besser als viele andere. Der einzige Mann, von dem er eine solche Schwäche nie erwartet hatte, war an ihr zugrunde gegangen. Diese verfluchte Menschenfrau vor ihrer eigenen Sippe zu retten, war keine Verpflichtung gewesen. Das Ansehen seines Vaters hätte nicht einmal den empfindlichsten Kratzer erlitten. Jeder anständige Yōkai hätte kein Wort mehr über die Frau verloren, die dem Fürsten des Westens ein Bastardkind geschenkt und dabei ihr Leben ausgehaucht hatte. Sie wäre als vergangene Freizeitbeschäftigung verbucht worden. Stattdessen war er dieser Izayoi auch dann noch zur Hilfe geeilt, als sein Leben ohnehin schon am seidenen Faden gehangen hatte; war bereit gewesen, all das sehenden Auges für ihre Sicherheit zu opfern, das ihn über Jahrtausende angetrieben hatte, und damit seinen ältesten Sohn durch seinen Tod unversehens und viel zu verfrüht zum nächsten Taishō erhoben. Liebe war ein miserables Übel. Eines, das Kōhei durchaus hätte verleiten können, diese sonderbaren Schritte zu gehen. Aber sie ergab in dieser Konstellation dennoch keinen Sinn. Er musste Reika lieben, wenn er Minoru half, doch stattdessen schien er sie zu hintergehen – wenn auch nur in kleinsten Schritten. 'Deine Eltern lieben dich.' Dem Fürst wurde mit einem Mal heiß und kalt. „Wollen wir fortfahren?“, erkundigte sich Jikan störenderweise und betrachtete sein Gegenüber eindringlich. „Es sei denn, Ihr benötigt noch einige Zeit, um die verstörenden Ereignisse zu verarbeiten.“ Auf die Provokation konnte Sesshōmaru sich unmöglich einlassen. „Fahrt fort“, entgegnete er stattdessen knapp, auch wenn ihn der letzte Gedanke noch lange verfolgen würde. Jahre flogen vor dem inneren Auge des Fürsten wie in überhetztem Zeitraffer dahin. Der Wald war nicht mehr als ein Gewirr aus grauen Ästen, schwarzen Stämmen, blutigen Klauen. Das einst weiße Fell des jungen Hundes verlor an Glanz, wurde stumpf und bald darauf schimmerten die Rippen unter dem Haarkleid hervor wie dünne, zerbrechliche Stäbe. Yōkai, riesig wie alte Eichen oder winzig wie ein Blatt griffen schier wahllos an, rauften am Fell oder drohten gar ganze Stücke aus ihm herauszureißen. Reh und Kaninchen ergriffen überhastet die Flucht. Schneller als das Jagen lernte er Gefahren auszuweichen und schließlich lief auch die Beute gut. Gerade rechtzeitig. Eine wenig solide, aber funktionierende Lebensweise. Die mageren Rippen wurden allmählich undeutlicher; gänzlich verschwinden wollten sie allerdings nicht. In rascher Folge fiel Schnee, blühten Kirschen und sanken Myriaden rötlicher und gelber Blätter auf den dunklen Waldboden. Immer wieder. Dann verlangsamte sich die Vision schlagartig. Eng an die Erde gepresst, die scharfen Zähne tief in den weichen Bauch eines ausgewachsenen Rehs geschlagen, riss Minoru ganze Stücke von Fell und Fleisch heraus, bis er die Ohren wandte und die blutgetränkten Lefzen warnend zurückzog. Der junge, rotbraune Wolf mit den ungewöhnlich laubgrünen Augen hatte die Rute dreist in die Höhe gestreckt und näherte sich anmaßend leichtfüßig, blieb aber in einigem Abstand stehen. Auch er wirkte ausgehungert, jedoch um einiges gepflegter als der Hund. „Ich gratuliere zum Fang“, verkündete der Wolf und legte den Kopf ein wenig zur Seite, als Minoru sich lediglich wieder seiner Mahlzeit zuwandte und ihn nicht weiter zu beachten schien. „Ein großartiges Reh. Gut genährt. Ich bin sicher, es hat eine Weile gedauert und viel Mühe gekostet, um es zu Boden zu ringen.“ Der Wolf schwieg, wartete offensichtlich auf eine Antwort. Doch als die ausblieb, setzte er neu an. „Mein Name ist Takeru. Mein Vater ist Anführer der nördlichen Ookami. Es wäre doch eine Schande um das Reh, wenn jemand uns entdeckt, während noch Fleisch an ihm ist.“ Nur der warme Wind des Spätsommers zog in den Bäumen umher und erzeugte den einzigen vernehmbaren Laut, der neben der groben Arbeit eines scharfen Gebisses zu hören war – rauschendes Blattwerk und das Zerreißen von Gewebe. Lange blieb es still, dann stellten sich dem Wolf mit einem Mal die Haare am Nacken deutlich auf. „Sag mal, hörst du schlecht? Da wo ich herkomme, erweist man höher gestellten Personen Respekt! Die Höflichkeit allein sollte dir gebieten, die Beute freizugeben oder wenigstens auf ein Gespräch einzugehen, wenn man danach verlangt! Wie will ein mickriger, kleiner Wicht wie du einen Anspruch verteidigen?“ Minorus Ohren zuckten kurz, dann wandte er den Kopf und musterte den Wolf abschätzig. „Na sieh an, deine Ohren scheinen ja doch zu funktionieren, Inu.“ Minoru machte sich nicht die Mühe, einen geordneten Ablauf von Drohungen an den Tag zu legen, mit denen seine animalischen Äquivalente versuchten einen Kampf zu vermeiden, sondern griff unmittelbar an. Er riss den unvorbereiteten Wolf von den Beinen, schnappte nach seiner Kehle, aber Takeru schien kampferprobter und bald schon rollten die beiden Jungen in einem tosenden Gewirr aus weißem und braunem Fell über den Waldboden, bis sie erst nach einer ganzen Weile wieder auseinandersprangen und Minoru sich abermals vor dem Reh aufbaute. Er sah mitgenommen aus. Das Fell von Dreck und Blut übertüncht, wobei schwer ersichtlich war, wie viel des Blutes nun von ihm, dem Wolf oder dem Reh stammte. Er schüttelte sich ausgiebig und ließ sich gebieterisch vor dem toten Tier auf die Hinterläufe nieder, während Takeru immer noch in Lauerstellung abwartete, ob noch ein weitere Angriff folgen würde. „So wie ich das sehe, hast du keinerlei Grundlage auch nur einen Knochen zu fordern. Die Stellung deiner Familie ist mir vollkommen gleichgültig. Spar dir dieses Gehabe. Wenn du Hunger hast, bitte gefälligst um Hilfe und ich überlege mir das vielleicht nochmal“, kommentierte Minoru kalt. Takeru gab seine angespannte Haltung auf und hob den Kopf als verstehe er nicht, was gerade genau geschah. „Ich setze keine Pfote da rein.“ „Stell dich nicht so an. Da drin ist es trocken – und so sehr stinkt es nun auch wieder nicht.“ „Ich ersaufe lieber hier draußen im Regen, bevor ich mich in diesem Fuchsbau eingrabe, Takeru“, brummte eine nur allzu bekannte Stimme. „Wir suchen weiter.“ „Ich will aber hierbleiben! Ich bin klatschnass!“ „Hat unser Prinz nasse Füße bekommen?“, höhnte Minoru unbarmherzig. „Es ist erst Nachmittag. Schlaf hier, wenn du willst. Ist mir gleich.“ „Hast du etwa Angst im Dunkeln?“ Der Wolf streckte gehässig die durchnässte, braune Rute empor und zog den Kopf ein, als der weiße Hund vor ihm die spitzen Ohren anlegte und bösartig fletschte. „Tu was du willst, Takeru, aber geh' mir nicht auf die Nerven. Ich schlafe in keinem Fuchsbau. Ende der Diskussion.“ Damit trabte er davon und der Wolf sah ihm nachdenklich nach. „Du bist so ein herrischer Köter! Warum sind Diskussionen immer aus, wenn du es willst?“ Dann holte er mit einigen langen Sätzen auf. „He, du hast wirklich Angst im Dunkeln oder?“ „Takeru...“ „Ja?“ „Ich frage mich gerade, wie lange du wohl brauchen würdest, jemand anderen zu finden, der für dich Fressen ranschafft. Ob du wohl vorher verhungern würdest?“ Der Wolf seufzte, senkte die Rute wieder und schubste den Weißen versöhnlich mit der Schulter an. „Erpressung.“ „Nein. Leider einfach nur die bloße Wahrheit.“ Sein damaliges Erscheinungsbild hatte kaum noch Ähnlichkeit mit ihm. Verklebtes, schlammiges, weißes Haar; ungepflegt und spröde. Hohle Wangen in einem jungen und besorgniserregend blassen Gesicht, in dem die burgunderfarbenen Zeichnungen den Eindruck von geronnenem Blut auf frisch gefallenen Schnee vermittelten. Die durchnässte und zerschlissene Kleidung ihres ersten Zusammentreffens war längst den Flammen überreicht worden und auch die unzähligen Schürfwunden, tiefen Kratzer und Lanzenstiche der Kappa waren mittlerweile verheilt. Und dennoch hatte Minoru zu der Zeit etwas besessen, das ihm auf dem Weg abhandengekommen war: Das widerstrebende Aufflammen, das seine ganze Erscheinung durchzog, sobald ihm jemand in den Weg trat – ungeachtet, um wen es sich dabei handelte. „Warum bist du hier, Junge?“ „Wenn ich gehen kann, bin ich sofort weg.“ Er hielt sich die Seite, die von einem der Kappa mit der Lanze durchbohrt worden war. Störrisches Kind. „Das habe ich nicht gefragt.“ „Ich will nach Norden.“ „Im Norden gibt es nichts zu holen für jemanden wie dich. Ruh dich aus und geh nach Hause.“ „Nein.“ Eine breite, schwere Pranke fuhr auf Minorus Schulter nieder, sodass er unter ihrer Wucht nachgab. Er wirbelte umher, der großen, breitschultrigen Gestalt entgegen, die sich hinter ihm genähert hatte und mit einem Mal erhellten sich die harten, dunklen Konturen des Dosanko. „Ich verabscheue lauernde Abschiede“, meinte Nobu rauh und musterte Minoru mit seinem gesunden Auge schwermütig. „Sieh es mir nach, dass ich dich morgen früh nicht verabschieden werde.“ „Aber natürlich.“ Minoru wirkte sichtlich verwirrt. „Wir werden hier nicht mehr gebraucht. Ich werde also bald zurück nach Hokkaidō gehen. Du kannst jedoch jederzeit zu mir kommen, wenn dir der Sinn danach steht.“ Der Junge nickte vorsichtig, doch ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte der Riese von einem Wolf ihn an sich gezogen. Verkrampft hielt Minoru inne, als sich die Hand des Dosanko auf sein Haar legte, während der andere Arm seine Schulter – für Nobus Verhältnisse sanft – umfing und ihn an die breite Brust drückte. Der lachte jedoch nur, als er die gefrorene Reaktion des Jungen auf eine so unbehagliche Geste bemerkte. „Hund!“, meinte er wissend, dann wurde er ernst und strich Minoru mit seiner Pranke über den Kopf, bevor er ihn freigab. „Sei wachsam, Minoru. Ich kann nur wiederholen, was ich deinem Traumtänzer von einem Freund schon angetragen habe: Wir suchen uns unsere Bürde nicht aus, aber wir können versuchen, das Beste daraus zu machen – für alle, die wir mit unserem Leben erreichen.“ Hohe Wände, dunkel und bedrohlich als wollten sie sich in Anbetracht eines Passanten tödlich verengen, wölbten sich über allen Fluren und Gängen; schienen jeden zu ersticken. Doch allmählich und zögerlich wurden sie lichter, ähnlich einem Wald, der nach einer langen Nacht in der aufgehenden Morgensonne längst nicht so bedrohlich wirkte wie in der vorangegangenen Finsternis. Nur allzu bekannte Szenen spiegelte die Erinnerung wider. Das Zusammentreffen im Onsen, Schränke voller unsortierter Unterlagen – ein nie enden wollender Fluss Schriften, die in Anbetracht des Todes ihres Besitzers für Jahrhunderte an Bedeutung verloren hatten. Ryouichi, der in den Trainingsstunden seine Qualitäten als Ausbilder mit milder Schikane und versöhnlichem Sarkasmus mischte, sowie Inuyashas Kinder, die im Angesicht der Mönche den Ernst der Lage offensichtlich unterschätzten. Der Streit, der sich aufgrund von Minorus unerlaubtem Entfernen von der Gruppe entwickelt hatte, schwebte wie eine erdrückende Gewitterwolke im Nichts; frei von Blitz und Donner. Doch dann schlugen bereits die Drachen ein, als habe sich die Wolke dennoch entladen; drängten die Kinder an den Rand eines Sees und gingen zum Angriff über, bis Tessaiga sie dahinraffte. Das Menschendorf, das ebenso beengend wirkte wie einst die Wände der Palastgänge und dennoch auf subtile Art um einiges bedrohlicher. Erst als Rin, in zerrissener Kleidung und übersät mit Kratzern an Armen und Wangen, vor dem Eingang eines Hauses auftauchte, schien die erdrückende Stimmung zu weichen. „Du bist wohlauf!“, sagte sie erleichtert und ging auf ihn zu. „Inuyasha hat von den Drachen berichtet, die euch verfolgt haben. Das muss grausam gewesen sein. Ein Glück, dass sie euch rechtzeitig zur Hilfe geeilt sind. Diese Biester -“ „Wo ist mein Vater?“ Er hatte sie hart unterbrochen, aber der Unglauben in seiner Stimme schwang deutlich mit. Rin hielt perplex inne und wich seinem Blick aus. Erst als er sie abermals dazu aufforderte, konnte sie sich sichtlich unbehaglich zu einer Antwort durchringen. „Es gab... Schwierigkeiten. Es tut mir leid, Minoru. Die Drachen sind ein größeres Problem als erwartet. Sesshōmaru-sama musste zurück, um den Chūyō zu unterstützen. Er wird uns holen, sobald es ihm möglich ist. Nur keine Sorge. Es geht ihm gut.“ Für einen kurzen Augenblick sog er die Luft tiefer in seine Lungen, dann legte sich ein unergründlicher Ausdruck über Minorus Züge, während er gedankenverloren zu Inuyasha und seiner Familie sah. Kapitel 33: Das was bleibt -------------------------- Die undurchschaubar finstere Vergangenheit war gewichen. Seichter Nebel, fein, aber undurchdringlich wie tiefste Gewässer, hatte alles in seiner Nähe umhüllt und die wenigen Silhouetten der hohen Bäume und massiven Gegenstände in schwer ergründliche Schemen verwandelt. Der Boden, von gräulichem Gras bedeckt, lag verzerrt in einiger Entfernung zu allem, was für gewöhnlich auf ihm hätte wachsen müssen. Sämtliche Vegetation schwebte grau in weiß in sonderbar logischer Anordnung mehrere Meter über Mutter Erde und erst langsam, ganz langsam fügte sich die Umwelt wabernd und fließend in gewohnte Formen. Die mächtigen wie jungen Bäume berührten mit ihren Wurzeln das Erdreich, verzerrte Zäune fügten sich in eine ordentliche, geplante Reihe. Der Nebel wurde dichter und als der Wind die Blätter in den hellen Kronen erfasste, die jeden Grüns entbehrten, wirbelte die Luft in sanften Schwaden sichtbar aufgewühlt umher. „Was gibst du mir dafür?“ Eine tiefe, knorrige Stimme klang grob aber auch dumpf durch die Nebelwand, doch außer den Umrissen einer großen, schmalen Person war in diesem lichten Wald niemand zu erkennen. „Was ich dir dafür gebe? Was denkst du, was ich habe?“ Die Gegenfrage wurde von den sich verdichtenden Schwaden umso mehr gedämpft. Der spöttische Unterton darin war jedoch deutlich vernehmbar. „Was gibst du mir-“, tönte die erste Stimme, diesmal eindringlicher, „wenn ich den Enkel des großen Daiyōkai des Westens zurück an seinen Wirkungsort bringe?“ „Was kann ein Wesen wie du von meiner Person schon wünschen?“ „Nur eines“, grollte die dunkle Stimme im Verblassen. „Wenn ich dir helfe, wirst du das hier ändern. Das alles.“ Der Wald war von kehligem Knurren und knackenden Ästen erfüllt. Inmitten silbrig-weißer Wogen rollten zwei schimmernde Gestalten, knurrend ineinander verknäult, über den Boden, krachten gegen einen Baum, der ächzend zu schwanken begann. Silbriges Laub wurde in alle Himmelsrichtungen geschleudert, während eine der Gestalten elegant einige Meter entfernt aufkam und seinen Gegner abwartend beobachtete, der regungslos am Boden zurückblieb. Doch nur wenige Augenblicke später ging der vermeintlich Geschlagene wieder auf sein Gegenüber los, das ihn unversehens aus der Luft riss und ihn am Boden festzusetzen suchte, was deutlich fehlschlug. Der Angreifer bekam eine Hand frei, schlug sie mit allen Klauen tief in den Rücken seines Gegenübers und riss sein Opfer mit Gewalt herum. Wie tödlich spielende Kinder rollten sie über den weiß schimmernden Waldboden, rutschten einen Abhang hinab und wer auch immer unten lag, halb verschüttet von Erde und Zweigen, trat den anderen von sich herunter, der sofort wieder zum Angriff ansetzte. Was am Anfang noch ein Übungskampf hätte sein können, hatte den harmlosen Charakter gänzlich verloren. Der Lärm, den die beiden veranstalteten, hallte an entfernten Berghängen wider; ging durch Mark und Bein. Es war tödlicher Ernst. Mitten im Kampf, während der Angreifer seine Klauen im Hals seines Gegners versenkt hatte, zerfloss die ohnehin schon schemenhafte Form des Verteidigers zu der eines sonderbar geformten Hundes, der ohne zu zögern und ungeachtet seiner schweren Verletzungen alles daran setzte, dem Griff zu entkommen und sofort die gegnerische Kehle attackierte. Die Bilder überschlugen sich – und als sich alles erhellte, waren die beiden vorher noch so schimmernden Gestalten nicht mehr von ihrer Umwelt abzugrenzen. Erneut mischte sich Grau in die grelle Vision, formte längliche Rechtecke. Dutzende, hunderte von ihnen, die vorn säuberliche Reihen bildeten und weiter entfernt jeder Ordnung entbehrten. Jemand kniete am Boden, einen Hund an seiner Seite, der sich im gebührenden Abstand abgelegt hatte, und zog geistesabwesend mit langen Klauen die in den Stein geschlagenen Schriftzeichen des Grabes nach. Der Nebel floss flüssig schwebenden Träumen gleich durch den Raum, lag auf Wänden, Tischen und Lebenden gleichermaßen. Hüllte sie ein und gab dünn die Gesellschaft preis. Viele Personen, helle Gestalten aus Weiß und Silber, saßen aufgeregt tuschelnd an ihren Plätzen, die in der Mitte eine weite, helle Fläche freigaben. Elegant und erhaben wie der hereinbrechende Abend neigte eine junge Frau inmitten des freien Platzes das Haupt vor einem hochgewachsenen Mann, dessen offenes Haar wie ein weißer Schleier über seinen Rücken fiel. Er nahm ihre Hand und wenige Augenblicke nachdem sie einen Tanz begonnen hatten, der wenig traditionell schien, legte die Frau mit dem deutlich dunkleren Haar den Kopf an seine Schulter. Der Mann führte sie im Kreis, immer wieder, doch es schien sie nicht zu stören. Die Anwesenden stellten allmählich ihre Gespräche ein und sahen dem auffälligen Paar zu, das sich wie eine Einheit elegant und selbstbewusst durch den Saal bewegte als gehöre er allein ihnen. Nach einer sanften Drehung glitt sie sicher zurück in seine Arme, lehnte sich mit einer gewissen Kühnheit weit zurück, vertraute darauf, dass seine Hand auf ihrem Rücken sie sicher hielt. Sanft wie ein samtiger Pfirsich ließ die junge Frau ihren Kopf bald zurück an seine Schulter sinken und seufzte ergeben, während sie sich blind von ihm führen ließ. „All die Monate“, flüsterte sie kaum hörbar. „Es wäre beruhigender, dich nicht so lange entbehren zu müssen. Diese Burg ist so viel leerer ohne dich.“ „Mein Herr, dieses Vorhaben, das Ihr ersinnt, ist, wenn ich meine bescheidene Meinung äußern darf, gewagt.“ „Das dürft Ihr nicht.“ „Aber mein Herr, bedenkt doch-“ Untermalt von einem lauten Knurren fuhr die Faust auf den Tisch nieder. Strategische Figuren, die zuvor noch in überdachter Anordnung auf einer Karte platziert worden waren, flogen umher; verteilten sich auf der gesamten Länge des Tisches. Der schlanke, hochgewachsene Mann am Kopfende erhob sich zeitgleich mit dem aufstrebenden Yōki, das selbst die umherwandernden, milchigen Nebelschwaden der Vision in scheue Aufregung versetzte. Entgegen der spürbaren Wut war seine Stimme jedoch gefasst. „Eine letzte, gutmütige Warnung: Ihr seid alles andere als unersetzlich. Geht an Eure Arbeit.“ In einem Tempo, das gerade noch den Erhalt eines Mindestmaßes an Würde erlaubte, verließen mehrere, graue Gestalten hastig den Raum und schoben die Tür behutsam hinter sich zu, als fürchteten sie auch nur ein weiteres, überflüssiges Geräusch zu verursachen. Die bedrohliche Aura ebbte ab und mit ihr beruhigte sich auch der Nebel, der erneut die gesamte Szene in ein milchiges, dichtes Weiß tauchte. Die Atmosphäre wurde augenblicklich leichter, vertrauter. „Du bist wirklich ein Herzchen“, tönte einer der drei im Raum verbliebenen Männer und stieß sich non chalant von der Wand ab, an der er während der Versammlung gelehnt hatte. In der Statur dem Ersten gleich, fanden die Gemeinsamkeiten im Verhalten ein jähes Ende. Nachdem er auch den Rest der Holzfiguren mit einer verwerflichen Handbewegung zu Boden befördert hatte, ließ der Zweite sich im Schneidersitz äußerst unschicklich auf den niedrigen Tisch sinken. „Ich bin kein Experte in solchen Belangen, aber allmählich solltest du dir diese behäbigen, alten Männer vom Hals schaffen. Sie sind lästig – und eindeutig zu frech.“ „Gerade du solltest nicht darauf plädieren, Frechheit als Kriterium für eine Reise in den Nether anzuwenden. Das könnte übel für dich enden“, entgegnete der Erste gelassen und schnippte seinem Vertrauten eine der Holzfiguren an den Kopf. „Davon ab: Die Aufgabe dieser 'behäbigen, alten Männer' ist es, mir zu widersprechen, wenn sie es für nötig halten. Würde ich jeden einzelnen von ihnen dafür hinrichten lassen, säße ich bald allein auf den Ratsversammlungen.“ „Diese Einrichtung hat natürlich immensen Nutzen, wenn du ihnen ständig das Wort verbietest und ohnehin nicht auf sie hörst“, konterte der andere ungerührt, erntete dafür aber nur ein hämisches Lachen. „Vermutlich hast du Recht. Das macht diese Institution ein wenig überflüssig.“ „Ausgehend von ihrem Wissensstand sind ihre Einwände begründet und legitim.“ Die dritte Person, ein junger Mann mit kurzem Zopf, der sich bisher schweigend im Hintergrund gehalten hatte, sprach in ruhiger Überzeugung. Er war nicht minder ein Krieger als die anderen beiden, doch verrieten seine schmalen Schultern und etwas an seinem Auftreten, dass er der Jüngste von ihnen war. Vielleicht ein paar hundert Jahre alt. „Natürlich sind sie das.“ Der Mann auf dem Tisch streckte ein Bein aus und legte den Unterarm über sein angewinkeltes Knie. Dann wurde er mit einem Mal ernst. „Es wäre dennoch unsinnig ihren Wissensstand um empfindliche Informationen zu erweitern. Sie fürchten sich ohnehin zu viel.“ „Sie haben viel zu verlieren“, gab der Jüngste ohne eine deutliche Färbung in der Stimme zurück. Es war eine Aussage, ein Fakt – mehr nicht. Abweisend wandte sich der Erste der Außentür zu und fixierte einen fernen Punkt im Garten, während der Krieger auf dem Tisch nur verächtlich schnaubte. „Wer hat das nicht? Dennoch führt dieses Volk seit seiner Entstehung vernichtende Kriege und ich werde nicht zu der Generation gehören, in der wir Beleidigungen zugunsten eines dünnen Friedens buckelnd hinnehmen, weil einige den sicheren, warmen Herd einer Konfrontation vorziehen.“ Der Jüngere verschränkte die Arme vor der Brust: „Niemand von ihnen scheut Blutvergießen oder Verluste. Ihnen das vorzuwerfen ist nicht gerechtfertigt. Sie fürchten das Ausmaß dieses Krieges, dessen Folgen selbst im positiven Ausgang noch unklar sind. Es sind keine Drachen oder Panther von denen wir hier sprechen.“ „Sollten wir ihnen sagen, was wirklich auf dem Spiel steht?“, erwiderte der andere bitter. „Glaubst du, das würde sie beruhigen?“ Sein Gegenüber veränderte seine Position, wollte gerade offensichtlich eine Antwort auf die provokante Frage geben – und hielt augenblicklich inne, als der Erste die Aufmerksamkeit vom Garten löste und die Diskussion jäh unterbrach. „Krieg ist niemals ein Spiel. Keine Komposition von Blut oder ein Tanz. Egal wie viele Gedichte noch darüber geschrieben werden, gleichgültig der Lieder: Krieg ist Krieg. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn ich spielen wollen würde, zöge ich andere Brettspiele vor.“ Missbilligend betrachtete er die Überreste der strategischen Aufstellung und für einen kurzen Moment war selbst der Nebel nicht dicht genug, um Minorus goldene Augen zu verbergen, die mahnend und nachdenklich zugleich in einem inneren Feuer loderten, das weniger selbstsichere Personen verschlungen hätte. Dann obsiegte abermals der Nebel. „Einige von ihnen glauben, dass ich diesen feinen Unterschied nicht beherrsche.“ Der Mann auf dem Tisch knurrte kehlig, dann wandte er sich an den Dritten. „Makoto, würdest du den Fürsten und mich für einen Augenblick allein lassen?“ Der Jüngere zögerte einen Moment, dann verbeugte er sich tief und verließ in einem harten und kraftvollen Gang, der seine ernste Stimmung vollkommen widerzuspiegeln schien, das Zimmer. Stille beherrschte den Raum. Keiner der beiden Verbliebenen rührte sich, bis die Schritte am Ende des Ganges verklungen waren. Dann schlug die Stimmung um. „Du weißt genau, wie ich es meine“, zischte der andere Minoru aufgebracht an, als wäre dessen Position nichts weiter als ein Titel. „Sag mir, wenn ich mich irre, aber mit jedem Tag den wir verstreichen lassen, läuft uns Zeit davon. Wie schlimm ist es wirklich?“ Minoru wandte sich von ihm ab. Das bauschende Schulterfell schimmerte in einem verzerrten, fast schmutzigen Weiß durch den silbergrauen Nebel. „Manchmal machst du mich wahnsinnig“, knurrte der andere in seinem Rücken und knirschte ob der Ignoranz verbissen mit den Zähnen. „Du könntest wenigstens mir gegenüber ehrlich sein. Glaubst du, ich sei blind? Denkst du ich sehe nicht, dass du mir seit Wochen lieber die linke Seite zuwendest, auch wenn es absolut keinen Sinn ergibt? Wir haben keine Wahl. Du hast keine Wahl. Wenn ein Kampf dich bereits zu viel kosten würde -“ „Vorsicht“, mahnte Minoru gefährlich leise. „Vergiss nicht, mit wem du sprichst.“ „Du bist es, der nicht vergessen sollte, wer du bist – was dein Tod für uns alle bedeuten würde.“ „Wenn wir versagen, werden sie jeden einzelnen Inu für mein Handeln zur Rechenschaft ziehen.“ „Scheiß drauf!“, fuhr sein Gegenüber abermals auf. „Du hast keinen Erben. Niemanden, der in deinem Sinne herrschen würde. Wenn du fällst, sind wir verloren – unabhängig davon, ob du mit einer Klinge zwischen den Rippen oder unter Qualen auf deinem Futon verreckst.“ Er schnaubte bei dem Gedanken. „Ich weiß, was ich vorziehen würde.“ Dann seufzte er, als habe er diese Dikussion bereits unzählige Male geführt. „Wir können dem Rat nicht die Wahrheit sagen. Sie würden Chancen wittern, sich gegen dich zu wenden. Genauso wenig können wir darauf warten, dass sie dir einstimmig folgen wie die Lämmer – oder haben wir so viel Zeit?“ Schweigen. Unabänderlich und tief. „Zeit“, Minoru spuckte das Wort aus wie Gift. „Wenn ich eines nie auf meiner Seite hatte, dann dies.“ Knurrend sprang sein Gegenüber vom Tisch herab, packte den Fürsten am Kragen und zerrte den Stoff mit einem reißenden Geräusch von seiner linken Schulter. Keine Widerworte, nicht einmal der Versuch, sich diesen aufdringlichen, anmaßenden Yōkai vom Hals zu halten. Der machte beinahe benommen einen Schritt zurück und musste sich mühen, die Fassung wiederzuerlangen. „Zufrieden?“, fragte Minoru müde. Die Vision verblasste mit einem Mal. Doch so sehr der Nebel sich auch mühte, die hell glimmenden Zeichnungen auf der Brust seines Sohnes im dichten Grau zu ersticken, leuchteten sie doch noch lange nachdem jede andere Kontur verschwunden war in stiller Warnung. Verworrene, glühende Markierungen, die klauenartig nach seinem schlagenden Herzen trachteten. Aufgebracht flackerte das Bild und verlor in einem Sturm aus Dunkelheit den letzten Lichtschein. Wie unter den Bodendielen der alten Berghütte schien es. Schwarz, kühl und einsam. Mit einem Mal entbrannte ein so ohrenbetäubender Lärm, dass die Finsternis sich unter ihm zu verformen schien. Schreie gelten durch das Nichts, Bogensehnen surrten und irgendwo schlug etwas mit einer solchen Wucht ein, dass selbst der nicht vorhandene Erdboden erzitterte. Flammen, farblos grau wie Schemen, loderten an ebenso schlecht erkennbaren Bäumen empor und zwischen ihren Stämmen huschten Schatten durch die verschneite Nacht, schnell und schwer, mit finsterem Knurren und schnappenden Kiefern. Schreie der Panik gellten auf und allmählich erschienen auch die Flammen in einem deutlichen orangerot, das leckend nach jeglichem Leben trachtete. Scheppernd schlug etwas Metallisches auf einen Stein auf und klapperte eine Weile, während ein starker Wind den abgestandenen Geruch von Blut, Leichen und Eingeweiden mit sich trug. Der Mond, der bisher nur Schwärze zur Erde gesandt hatte, leuchtete im nächsten Augenblick in klarstem Weiß und benetzte mit seinem hellen Schein die leeren Augen hunderter Yōkai. Zeitdämonen. Alabasterfarbene Haut überzogenen von geronnenem, dunkelroten Blut, dessen schwerer Geruch auch in finsterster Nacht die dreiäugigen Krähendämonen herbeiführte. Mit scharfen Zähnen besetzte Schnäbel fraßen sich durch die nun fahle Leichenhaut und nicht wenige dieser Vögel trieben ihren Schabernack mit den Toten, nisteten sich in ihrer Brust ein und ließen ihre leeren Körper unter krähendem Gelächter wie steife Marionetten durch das verwüstete Waldstück wandeln. Ein Schrei, hell und klar, gellte durch die Nacht; wurde lauter, eindringlicher und beinahe unerträglich. Doch weder die Toten noch die Vögel schienen sich daran zu stören. Ihr ohrenbetäubendes Krächzen, Fressen und Geflatter verschmolz mit den Schreien zu einer einzigen Welle des Lärms, deren Crescendo mit einem Mal verstummte, als nur der leiseste Hauch drohenden Yōkis die Luft zwischen den Bäumen zum Schwelen brachte. Wie zwei unheilbringende Pforten zur Unterwelt hefteten sich tiefrote Augen auf die Vögel und als der Hund eine gewaltige Pfote auf die Lichtung setzte, flogen sie in einer schwarzen Wolke vom Boden auf, verließen die toten Körper, die ungelenk und stumpf zu Boden fielen und suchten Schutz in den höchsten, kahlen Baumkronen, wo sie schweigend verharrten. Der Inu schenkte ihnen nicht einmal einen Hauch von Beachtung und lockerte mit einer kurzen Bewegung der Schultern die Muskeln unter seinem durchnässten Fell, bevor er auf die Lichtung trat. Ein gutes dutzend Pfeile bewegten sich in stoischer Beharrlichkeit bei jedem seiner Schritte, doch nur die wenigsten von ihnen waren tief genug eingedrungen, um nennenswerten Schaden anzurichten. Ein Großteil von ihnen hatte es vermutlich kaum durch das dichte Fell geschafft. Dennoch lag selbst der deutlich längere Pelzbesatz, der sich vom rechten Vorderlauf über seine Rücken zog und schließlich beinahe nahtlos in die sichelförmig aufgestellte Rute überging, von Regen und Blut schwer geworden eng an seinem Körper an. Die schlaffe, blasse Person, die zwischen den gewaltigen Kiefern des Daiyōkais wie eine seltsam verrenkte Puppe wirkte, schwankte mit den Schritten ebenso verloren wie die vergeudeten Pfeile. Ihr Blut rann über die spiralförmig gewundenen Hörner, fiel zu Boden und hinterließ feine rote Spuren im Schnee, den schon hunderte andere in ein rotes Meer verwandelt hatten. Als habe jemand einen Stein auf die spiegelglatte Oberfläche dieses toten Meeres geworfen, verschwamm die Szene unter einem erneuten Aufschrei in Wellen der Unkenntlichkeit – und allmählich begriff auch der Taishō, dass dies nicht mit der Vision zu tun hatte, sondern der klaren, kalten Realität entsprang. Es kostete den Fürsten einige Augenblicke, um den Übergang von winterlich tödlicher Vision und erbarmungsloser Gegenwart gänzlich zu begreifen. Er hatte ausreichend Kriege geführt, um zu wissen, wie sich gnadenlose Vernichtung niederschlug. Es war fast greifbar gewesen: Der durchdringende Geruch von toten Körpern in der kalten Nachtluft, das hämische Lachen der schwarzen Krähen, die jedes Schlachtfeld aufsuchten, um ihre Schnäbel wie gefiederte Parasiten in die Leichen zu graben. Zu deutlich für eine gewöhnliche Zukunftsvision. Zu real. Während sich die letzten Bilder aus seinem Geist lösten, musterte er sein Gegenüber. Jikan jedoch schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen, wirkte noch blasser als zuvor und hatte den Blick seiner drei schwarzen Augen unentwegt auf einen Punkt am Boden gerichtet, auf dem der Welpe in zusammengekrampfter Haltung verschwitzt und keuchend um Atem rang. Stille legte sich wie eine erstickende Wolke über das provisorische Lager – dann schlug das Yōki des Taishōs unvermittelt mit einer Vehemenz durch den Wald, die junge Bäume in ihrem frühlingshaften Bestreben bis auf den letzten Ast entlaubte. Jikan zog sich eher höflich als verschreckt von dem Jungen zurück und suchte in erhabener Ruhe den Blick des Daiyōkais, der ihm schlicht die Aufmerksamkeit verweigerte und stattdessen seinen Sohn prüfend betrachtete. Haar und Kleidung des Jungen waren mit Tannennadeln und altem Laub bedeckt, als habe er sich ununterbrochen auf dem Waldboden gewälzt, während verschieden tiefe Kratzer den lädierten, weißen Kimono an scheinbar beliebigen Stellen zusätzlich in helles Rot tünchten. Ein knapper Blick auf die blutverschmierten Klauen des Welpen genügte, um zu verstehen, dass er sich diese Wunden selbst beigebracht haben musste. Es grenzte beinahe an ein Wunder, dass all dieser Tumult keine ungebetenen Gäste auf den Plan gerufen hatte, doch weder Witterung noch andere Wahrnehmungen deuteten darauf hin, dass sich noch jemand in der Nähe aufhielt. In verborgener Anspannung wandte sich der Fürst dem jung wirkenden, uralten Yōkai zu und fixierte sein ungerührtes Gegenüber ohne jeglichen Ausdruck. Abermals hatte ihn seine Einschätzung nicht trügen können: Insbesondere die letzte Vision war von derart besorgniserregender Deutlichkeit gewesen, dass es schwer möglich war, Jikan nicht den entscheidenden Einfluss auf diese Klarheit zuzusprechen, die er mit einem empfindlichen Angriff auf Minorus Wohlbefinden erkauft haben musste. Das dritte Auge des Zeitdämons hatte sich mittlerweile müde geschlossen und er gab sich alle Mühe gefasst und durchdacht zu wirken, so wie es sich in seiner Position schickte, aber Sesshōmaru war selbst zu beherrscht, um zu übersehen, dass die klauenbewährten Hände Jikans unwillkürlich zitterten. Über alle Maßen interessant. Es gab also Einsichten, die selbst diese Dämonen verunsichern oder gar beunruhigen konnten – ein Umstand, der den Herrn der westlichen Länder in einen alarmierten Zustand versetzte. Das beharrliche Schweigen und die immer noch vernichtend schwelende Aura des Inus bewog Jikan unwillentlich dazu, selbst den Faden wiederaufzunehmen. Im Innersten sichtlich nervös, benetzte er die spröden, weißen Lippen mit seiner schwarzen Zunge, bevor er eine Stimme erhob, die längst nicht mehr so abwesend klang wie zuvor. „Wir empfinden keine Freude daran, einem unschuldigen Kind Leid zuzufügen“, erklärte er ohne jegliche Spur von Bedauern. „Doch es war eine Notwendigkeit, die Zukunft des Jungen aus der Verschleierung zu lösen. Ein Kind wird nicht für immer ein Welpe bleiben. Aus unschuldigen Kindern erwachsen ernstzunehmende Dämonen, deren Leben keine Fehlinterpretationen duldet.“ Als der Fürst weder eine fragende Miene aufsetzte noch sonst etwas an seinem wenig entgegenkommenden Ausdruck änderte, fuhr der alabasterfarbene Dämon ungerührt fort: „Wir verehren Wissen. Das ist einer der Gründe, aus denen wir unsere Dienste anbieten. Es ist die Neugier, die Yōkai dazu treibt, über den Rand des Jetzt hinaus in die Zukunft blicken zu wollen – und wir teilen gern, denn wir brauchen eure Kooperation. In tausenden von Fällen ist es das, was wir tun.“ Es war nichts Neues, dass Zeitdämonen nicht uneigennützig waren. Dennoch galten sie als über alle Maßen diskret. Nie würden sie ihr Wissen mit jemand anderem teilen als den Angehörigen ihres eigenen Volkes und demjenigen, der mit der Zustimmung des Betroffenen Einsicht in dessen Lebensspanne verlangte. Aber etwas an der Aussage dieses Exemplares ließ den Fürsten sehr hellhörig werden. „In tausenden von Fällen“, wiederholte er. Seine frostige Stimmung brachte eine unsichtbare Kälte mit sich, die sich lauernd selbst über das knisternde Feuer ausbreitete und es ein wenig zaghafter flackern ließ. „Wissen verpflichtet“, antwortete Jikan tonlos. „Fähigkeiten haben ihren Preis. Wir bewahren ein wertvolles und empfindliches Gleichgewicht, das Schicksal und Bestimmung in einer anfälligen Waage hält. Es sind mächtige Paradigmen, größer als irdische Bestrebungen, Belange und Möglichkeiten, denen sich niemand von uns verwehren kann – selbst ein mächtiger Daiyōkai wie Ihr kann dem nicht immer entgehen.“ „Maßt Euch nicht an, meine Zeit mit der Bürde Eurer Sippe zu verschwenden“, entgegnete der Herr des Westens scharf. Die leise mitschwingende Bedrohung in den Worten Jikans war ihm nicht entgangen, dennoch war er nicht gewillt, dieses Versteckspiel weiter als bis zu diesem Punkt zu folgen. Schleichend umgarnte Tatsachen hatten ihm noch nie zugesagt und gerade in diesem Zusammenhang reizte die pirschende Umrundung des eigentlichen Themas seine Stimmung gefährlich. Jikan hingegen schien diese Unterbrechung seiner vorsichtigen Erläuterung nicht zu behagen. Er straffte die Schultern, nur um sie dann erneut sinken zu lassen, warf einen weniger als flüchtigen Seitenblick auf den immer noch angestrengt atmenden Welpen zu seinen Füßen und betrachtete schließlich abermals abwägend den mit mehreren Schwertern bewaffneten Vater, der sich nicht dazu herabließ auch nur eine einzige deutbare Regung in seine Miene zu bringen. „Unsere Worte werden Euch nicht gefallen, aber Ihr solltet sie hören. Es ist schmerzhaft, auch solche Nachrichten überbringen zu müssen, aber die Vorsehung hat letztlich nicht allen eine versöhnliche Zukunft auf den Weg gegeben.“ Er hielt einen Moment inne und schien sich seine bewusst als unangenehm bezeichneten Worte zurechtzulegen. „Euer Sohn mag heute noch ein verlorenes Kind sein, dessen Werdegang Ihr in Euren Händen wähnt, aber lasst mich Euch versichern, dass diesem Umstand nichts ferner liegt. Der Weg, auf dem er wandelt, ist unabänderlich. Ihr könnt dem nichts entgegensetzen oder gar verhindern, was er einst werden wird.“ Abermals befeuchtete der Zeitdämon seine Lippen mit der Zungenspitze, dann griff er in einen Beutel an seiner Seite und reichte dem Fürsten sehr höflich einen in Leinen gewickelten Gegenstand mit beiden Händen. Seine zerschlissene Kleidung fiel kompromisslos wieder in ihre alte Position zurück und legte sich lose über den mageren Körper. Sesshōmaru schenkte dem groben Stoff in seinen Händen kaum Beachtung, schlug ihn zur Seite und bemerkte schmerzhaft, wie ihm trotz aller Vermutung einen Moment der Herzschlag aussetzte, als er die milchgraue Klinge des Dolches an einem aufwendig verzierten Griff hervorzog. „Es wird nicht Euer letzter Sohn sein, Fürst. Sorgt Euch nicht darum. Es sind kaum nennenswerte Opfer nötig, einem weiteren vollblütigen Erben den Weg zu bereiten, aber es wird ohne Zweifel gelingen. Ein Daiyōkai, der Euch ähnlicher ist als dieses Kind und die ehrwürdigen Gepflogenheiten Eurer Familie, Euren Zielen und Ansichten mehr entspricht.“ Jikan musterte den Dolch in den Händen des Taishōs. „Ich versichere Euch, er wird nicht leiden, wenn Ihr nur beherzt handelt.“ Dieser hörte ihn und hörte ihn doch nicht. Es ist ihr Alter, das sie von so weltlichen Begebenheiten wie Besitz und Rang entfernt. Ihre Interessen sind allumfassend, zum Wohle eines höheren Prinzips, das ich mir nicht anmaße, begreifen zu wollen. Ihnen fehlt der Grund zur Lüge, zur Manipulation. Das ist alles, was ich weiß, Sesshōmaru, aber es sollte ausreichen, um ihnen respektvoll und ohne Vorbehalte entgegenzutreten. Keine unnötigen Feindseligkeiten, hast du verstanden? Auch nach all den Jahren klangen die Worte seines Vaters streng und verständnisvoll zugleich – doch erhielt seine sonst so versöhnliche Milde einen denkbar bitteren Beigeschmack. Sesshōmaru betrachtete den Dolch eine Weile. Er war meisterhaft gefertigt und bereits mit bloßem Auge erkennbar scharf. Den Blick so emotionslos wie stets, eine Klaue bedächtig über die milchige Klinge streichend, sah er auf Minoru hinab, der wenige Zentimeter vor ihm verkrampft auf dem Rücken lag. Ahnungslos; trotz all der Qual nicht im Mindesten erwacht. Achtsam legte der Fürst den Dolch neben sich zu Boden und erhob sich in einer fließenden Bewegung. Ein kurzer, untypischer Moment des Zögerns, dann zog er Bakusaiga lautlos aus der mit weißer, schmaler Rochenhaut umwickelten Schwertscheide. Jikan hatte sich bereits erschrocken erhoben und wollte gerade abwehrend die Hände heben, als der Taishō die Waffe auf die Brust seines Sohnes richtete. Behutsam schob er mit dem Schwertrücken den losen Kimono am Kragen zur Seite, legte die Klingenspitze auf die freigegebene, blasse Haut darunter. Bakusaiga beantwortete den unregelmäßigen, gehetzten Herzschlag des Jungen mit einem smaragdfarbenen Glimmen, das sich über die ganze Länge der Waffe ausbreitete und bald dem überhasteten Takt folgte. Der Inu no Taishō ließ für einen Moment besinnend die Lider über seine goldenen Augen fallen, bevor er tief durchatmete und seinen Blick erneut auf das Kind richtete. Nur eine kurze Bewegung, dann fand die scharfe Klinge ihr Ziel mit üblicher Präzision, fuhr zwischen die dünne Haut, die die Rippen wie ein Segel umspannte, perforierte die Brusthöhle und ließ die linke Lunge in einem erstickenden Ton kollabieren. Der Zeitdämon starrte den Fürsten über die Klinge hinweg an. Ein erstauntes Röcheln entfuhr seiner Kehle, als er in die Knie sackte und unter dem Schmerz mit einem mal so viel älter wirkte. Sesshōmaru stieg über Minoru hinweg und zog sein Schwert mit einem Ruck aus der Brust des Mannes heraus, nur um es mit dessen eigenen Leinentuch mit nebensächlicher Genauigkeit zu säubern. „Jämmerlich, dass du das nicht hast kommen sehen.“ „Das werdet Ihr bereuen... Ihr habt keinerlei Vorstellung, was ... “, der Atem des Yōkais ging angestrengt und stoßweise. Offensichtlich hatte er Probleme damit, den ausgefallenen Lungenflügel schnell zu kompensieren, aber seine hervorgestoßenen Worte waren auch trotz des ächzenden Krächzens, das seinen Körper nur mühsam verließ, gut zu verstehen. Sesshōmaru setzte Bakusaiga erneut auf die Brust des Yōkais und funkelte ihn mit einem überlegenen Ingrimm an. „Noch irgendwelche Prophezeiungen, alter Mann?“ „Die Blutrote Nacht.. er wird Anspruch erheben!“, in Anbetracht des Todes wirkte der Dämon beinahe panisch. Sein drittes Auge schlug nun glasig erneut die Lider auf und ließ die Stimme ein weiteres Mal in weite Ferne abdriften. „Wehret euch dem weißen Biest, das lachend auf den Toten steht, während Nippon untergeht.“ „Herzallerliebst.“ Abermals fand die Klinge ihren Weg, durchfuhr die zweite Lunge und ließ den alten Yōkai so schnell im Stich, dass es fast eine Schande war, wie flüchtig auch der letzte Glanz aus seinen schwarzen Augen verschwand und der Kopf mit seinen großen, perlmuttfarbenen Hörnern nach vorn sackte. Das Schwert glühte für einen Moment in stiller Boshaftigkeit hell auf, gab den Körper einer ausbreitenden Zerstörung preis, die jede Faser in Sekundenbruchteilen auseinander riss und nicht einmal Knochen für die Krähen ließ. Kapitel 34: ist der Blick nach vorn. ------------------------------------ Beiläufig und ohne dem Getier einen Funken ehrlicher Aufmerksamkeit zu gönnen, schlug der Rappe seinen Schweif in aller Seelenruhe nach den Insekten, die sich erdreisteten, sein gepflegtes, nachtschwarzes Fell zu berühren. Dann tat er einen weiteren Schritt, um gemächlich die spärlichen Halme zu seinen Hufen abzuweiden, während seine Artgenossen missgünstig den Kopf hoben nur um im nächsten Augenblick mit angelegten Ohren vor ihm zurückzuweichen. Kōhei versuchte die frappierende Ähnlichkeit im Betragen dieses schwarzen Bastards von einem Hengst und dessen dämonischen Herrn zu ignorieren – und scheiterte zum wiederholten Male an diesem Abend. Der neue Erbe der südlichen Ländereien hatte ohne Umschweife an Ort und Stelle Lager aufschlagen lassen – ungeachtet der menschlichen Bevölkerung, die über die Ankunft einer Horde Kitsune wahlweise in eine beklemmende Schockstarre oder ausufernde Panik verfallen war. Das Lagerfeuer brannte durch das feuchte Holz schwelend vor sich hin und erleuchtete den sandigen Boden in einer Woge von Rot, das den Farbtönen der Sänfte entsprach, die mit vorgespannten, vielschwänzigen Ochsen auf dem Weg gehalten hatte. Das Tier, eindeutig ein Yōkai, wenn auch nicht weit von einem gewöhnlichen Rind entfernt, döste und ließ den Kopf entspannt gen Boden sinken. Nicht ein Geräusch war bisher aus dem Inneren der Sänfte nach außen gelangt und doch war das Flackern von Yōki, das aus jeder Ritze des Gefährtes hervordrang, deutlich zu spüren. Auch Shippō, der erstaunlich schweigsam in einiger Entfernung zu Kōhei auf dem Boden lag, hatte nicht nur einmal einen zweifelnden Blick auf den roten Lack geworfen, um sich dann möglichst schnell wieder abzuwenden. Zur Sänfte schauen bedeutete, an Saburō vorbeisehen zu müssen, der Kōhei im Rahmen aller Höflichkeit keine andere Wahl gelassen hatte, als ihm gegenüber Platz zu nehmen. Die Nacht hatte sich in ihrem bisherigen Verlauf angenehm ruhig dargestellt, doch wusste der General nur zu gut, wie schnell sich das Blatt wenden konnte. So sehr einige Menschen in den großen Städten wie Ōsaka und Kōbe über die Jahre auch in ihrer Selbstsicherheit die bedenkliche Vorstellung entwickelt haben mochten, dass Dämonen für sie keine ernstzunehmende Gefahr darstellten, hatte dieser Irrglaube insbesondere in den Fischerdörfern noch keinen Einzug halten können. Ein Großteil der Häuser in der nahegelegenen Stadt hatten bei Anbruch der Nacht nicht einmal gewagt, den Docht ihrer Öllampen zu entfachen, während die wenigen, die unwissend oder mutig genug waren, es doch zu tun, alsbald von ihren Nachbarn eines Besseren belehrt worden waren. Die Stadt wirkte wie ausgestorben; hielt den Atem an – und doch war es nur eine Frage der Zeit, bis es einen dieser schwachen Wesen nach einem Priester oder sonstigem Exorzismus verlangte. Saburō wusste das nur allzu genau und schien sich an der gedrückten Stimmung zu aalen wie eine Schlange in der heißen Mittagssonne. „Euch scheint meine Gegenwart nicht besonders zu behagen, General“, die bernsteinfarbenen Augen des Fuchses glommen im selben Feuer der Kohlen – ein gefährliches Flackern zwischen erheiternder Wärme und gefährlicher Verbrennung unbestimmten Grades. „Ihr irrt, Kōtaishi. Sollte ich jedoch den Eindruck erweckt haben, bitte ich Euch aufrichtig um Verzeihung.“ Im Geiste hatte er mehrere hundert Male versucht, die angemessene Anrede eines Erbprinzen mit Saburō in Einklang zu bringen, aber in Worte gefasst klang es immer noch abgrundtief falsch. Es war weiterhin Harus Gesicht, das er dabei vor sich sah und vermutlich würde es das noch lange Zeit bleiben. Augenblicklich umspielte ein schmales Lächeln die Lippen des dunkelhaarigen Kitsunes, dessen Klauen in ein ebenso tiefes Schwarz getaucht zu sein schienen wie sein kurzes Haar und der weiche Pelz, der den Kragen seines ebenfalls erstickend finsteren Kimonos zierte. Lediglich die herbstlich roten Motive, die sich in feinen Schlingen vom rechten Oberarm zum linken Saum rankten, brachen mit dem mitternächtlichen Einerlei, das auch seinen gesamten Charakter zu durchsetzen schien. „Lügner“, hauchte er gefährlich mild. „Ihr habt meine Gesellschaft bereits bei unserem letzten Zusammentreffen mit wenig Zuspruch begrüßt – dabei hatten wir nicht einmal ausreichend Zeit uns näher kennenzulernen. Dieser unsagbare Trubel muss uns wohl daran gehindert haben.“ Kōhei musterte ihn kommentarlos und überlegte nur einen Augenblick lang, wie angemessen es wohl wäre, ihn auf die Zuständigkeiten für diesen „Trubel“ zu verweisen, bevor er entschied, dass das keine besonders kluge Idee darstellte. „Fürst Hayato hätte ein wenig Mitleid mit Euch zeigen und jemand anderen entsenden können, um mich abzuholen, wenn Ihr Euch derart unwohl fühlt. Aber ich schätze, er vertraut nur Euch genug, um Informationen einzuholen, nicht wahr?“ Er lächelte süffisant und überschlug die Beine, ehe er in gelangweilter Manier tief ausatmete. „Warum beenden wir diese Farce nicht wie erwachsene Männer und sorgen dafür, dass Ihr Euch nicht weiterhin vor Unbehagen windet – geschweige denn, ich mir die Laune an diesem Anblick verderben muss. Was will der Fürst über mich wissen? Sagt es gerade heraus, damit ich mich nicht bereits mit der höfischen Hinterlist herumplagen muss, ehe ich überhaupt angekommen bin.“ Kōhei ließ seinen Blick einen Moment auf Saburō ruhen, nur um feststellen zu müssen, dass dieser es genauso hielt. Wie er bereits vor einigen Jahrhunderten bewiesen hatte, war dieser in Abgeschiedenheit aufgewachsene Sprössling des Fürsten bedauerlich geschickt darin, Situationen zu erfassen und sein Gegenüber mit diesem Wissen zu konfrontieren – etwas, mit dem niemand bei Hofe wirklich umgehen konnte. Wenn man von den Intrigen des Anderen wusste, sprach man sie nicht aus, sondern versuchte sie gegen ihn zu verwenden. Nicht so er. Und was hatte es da noch für einen Sinn, Unwissenheit zu beteuern? „Nun?“, hakte Saburō schließlich mit einem Hauch von Ungeduld nach. „Nun, es ist nur verständlich, dass Euer Vater Interesse an Euch hegt, wenn Ihr ihn beerben sollt.“ Kōhei war bewusst, dass er damit in die Vermutungen seines neuen Prinzen einstimmte, aber anstelle eines triumphalen Grinsens verschränkte dieser die Hände nachdenklich unter dem Kinn und wirkte mit einem Mal ernst. „Dann ist Haru tatsächlich tot. Wir haben Gerüchte gehört, aber nie Definitives. Es wäre ebenso möglich gewesen, dass mein Erzeuger mich nur an den Hof ruft, um sich meiner zu entledigen. Das, oder es blieb ihm nichts anderes übrig.“ Kōhei biss die Zähne zusammen: „Ich dachte, Ihr wäret über den Tod Eures Bruders informiert. Verzeiht die grobsinnige Nachricht.“ Nun huschte abermals ein mildes Lächeln über die Züge des schwarzen Fuchses. „Ihr könnt Euch das Bedauern sparen. Ich sollte Euch mein Beileid aussprechen. Haru war mein älterer Halbbruder. Ich kannte weder ihn noch die Angehörigen seiner Familie. Ihr hingegen schon. Sein Tod kümmert mich nicht. Er macht lediglich Probleme.“ Er schloss die Augen, verharrte nachdenklich und still, dann schlug er sie wieder auf. „Wodurch ist er gestorben?“ „Euer Vater versicherte mir, dass Ihr alles Nötige von ihm erfahren würdet.“ „Mit anderen Worten: Er ist nicht im Kampf gefallen und Ihr dürft über die Umstände kein Wort verlieren.“ „Das darf ich in der Tat nicht“, räumte Kōhei zumindest einen Teil der Aussage ein. Dass Haru nicht im Kampf gefallen war, wäre eine Lüge gewesen, aber wenn er Saburō auch nur im Entferntesten verriete, wer den Erben der Füchse auf dem Gewissen hatte, könnte jedermann in einigen Tagen sein herbstrotes Fell an den Palastmauern bewundern. „Dieses Intrigenspiel ist bedauerlich und teilweise viel zu offensichtlich“, merkte Saburō schließlich an und straffte die Schultern. „Er ist entweder sehr dumm oder außergewöhnlich schlecht beraten. Wenn er Kriege vermeiden will, wäre es sinnvoll gewesen, den Tod seines Erben öffentlich zu betrauern, anstatt die Angelegenheit hinter verschlossenen Türen auszusitzen. Es wird Gerüchte geben – und auf kurz oder lang wird sich jemand fragen, warum er Harus Tod vertuschen wollte.“ „Die Leute werden immer reden“, hielt Kōhei ernst dagegen. Doch Saburō schüttelte den Kopf: „Man muss einer hungrigen Meute nicht noch das Stück Fleisch vor die Füße werfen. Die momentane Situation erlaubt das nicht. Habt Ihr verfolgt, wie hoch die Wellen aus dem Westen geschlagen sind? Keiner hat dieses Kind bisher gesehen und trotzdem spricht jeder darüber. Neunzig Prozent der Gerüchte sind hanebüchener Unsinn und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Inu no Taishō seinen Sohn öffentlich präsentieren wird, um weiteres Gerede zu unterbinden. Dass er es noch nicht getan hat, sagt uns nur, dass er mit dem Jungen noch nicht den Eindruck erwecken kann, den er benötigt – und wir wissen alle, welchen Eindruck die Inu anstreben. Aber ich schätze, der Hof hat diese Angelegenheit aufmerksamer verfolgt als ich.“ Saburō hatte die glühenden Augen auf die Kohlen im Feuer gerichtet und tat als habe er gerade nichts Bedeutsames gesagt – während Kōhei heiß und kalt zugleich wurde. Er wusste nicht allzu viel über den dritten Sohn des Fürsten, aber für eine Erkenntnis hatte dieser vor vielen Jahren selbst gesorgt: Saburō war trotz seiner relativen Redseligkeit alles andere als einfältig – und wer so manipulativ war wie er, ließ solche Bemerkungen nicht zufällig oder unbedarft fallen. Er wusste mehr über die momentane Lage des Südens als zu erhoffen gewesen wäre. Nur wie weit reichte dieser Kenntnisstand? ☾ Es war späte Nacht. Der Mond stand hell am Himmel, an dem Wolken in Eile vorüberzogen und selbst zwischen den gewaltigen Bäumen des Waldes strich der Wind schneidend. Raureif hatte die Frühlingsblumen unter einem feinen, aber bedrohlichen Hauch von Eis begraben, sodass Gräser unter jeder Berührung knisterten, ja die schwächeren gar entzweibrachen. Der Winter führte einen letzten, aussichtslosen Schlachtzug gegen den unvermeidbaren Frühling. Der hohe Fürst des Westens hatte den Kopf auf das Schulterfell gebettet und seinen Nachwuchs zwischen sich und einem knorrigen Baumstamm in den Windschatten gebracht. Der Junge schlief immer noch tief und fest. Seine Wange lag eng an dem eisigen Moos, das unter seinem gleichmäßigen, warmen Atem an einigen Stellen schon vor langer Zeit geschmolzen war. Der Anblick seiner entspannten Gesichtszüge und die leicht gekrümmten Klauen, die nur hin und wieder zuckten, hätten etwas Beruhigendes haben können – doch nach nunmehr vier Tagen wurde diese Szene zusehends alarmierender. Minoru war nicht ein einziges Mal aufgewacht, nachdem er das Gebräu des Zeitdämons zu sich genommen hatte und während er zumindest anfangs noch von Albträumen gequält worden war, waren die letzten Tage in einem andauernden Tiefschlaf vergangen. Wenn sich der Junge selbst in diese Lage manövriert hätte, hätte Sesshōmaru wenigstens einen Grund gehabt, zu behaupten, sein Sohn müsse etwas aus seiner Leichtgläubigkeit lernen! Doch Minoru traf ausnahmsweise keinerlei Schuld. Im Gegenteil: Das Kind hatte ablehnen wollen, hatte vehement verwehrt, sich in die Hände eines Fremden zu begeben, als er nicht einmal gewusst hatte, dass dies absolute Passivität von ihm verlangen würde. Minoru hatte nur eingewilligt, weil er selbst ihn darum ersucht – ja, ihm sogar versichert hatte, dass jede Sorge unberechtigt sei. Kaum merklich zog der Taishō den Atem tiefer in die Lunge und ließ ihn angespannt entweichen. Nur ihren eigenen allumfassenden Interessen verpflichtet. Die Vorstellung, dass sein Vater sich zum ersten Mal geirrt haben musste, war absonderlich. Es war natürlich denkbar, dass Minoru das besagte „allumfassendes Interesse“ dieses Volkes durch spätere Taten empfindlich berührte, aber hatte ernsthaft jemand angenommen, er, Sesshōmaru, lasse sich von dahergelaufenen, drittklassigen Dämonen befehlen, zu töten? Gleichgültig wen und sicherlich nicht seinen eigenen Sohn. Er hatte nicht umsonst auf den anderen Zweig der Familie zurückgegriffen und Reika gewählt, um seinen Erben auszutragen. Wenn er einen zahmen Schoßhund zum Nachfolger gewollt hätte, hätte er auch mit jeder beliebigen Inu das Lager teilen können – ganz davon ab, dass er der Letzte war, den es betroffen stimmte, wenn sein Welpe in einigen Jahrhunderten ganze Völker auslöschte. Die entsprechenden Züge hatte er an dem Jungen bereits zur Kenntnis genommen. Minoru war im Grunde zu jung, um beim Töten vollkommen emotionslos zu agieren und konnte von Glück sprechen, dass diese Abgeklärtheit bei seinem Vater auf mehr Gleichgültigkeit und vielleicht auch Verständnis stieß als es bei seinem Großvater der Fall gewesen wäre. Gedankenversunken schob er einige lose Strähnen aus dem blassen Gesicht des Welpen; ein wenig gröber als Rin es vermutlich getan hätte. Minoru zuckte unter der Geste zusammen und schmiegte sich erneut enger an das Moos. Sesshōmaru machte sich nichts vor: Wäre es dem Jungen möglich gewesen, hätte er spätestens bei einer Berührung die Augen aufgeschlagen und sich zurückgezogen. Aber selbst diese kleine Reaktion war ein großer Fortschritt im Vergleich zu vergangenen Tagen. Allmählich verließ er den Tiefschlaf. Die scharfen Klauen des Jungen zuckten kurz, dann lag er wieder still. Eine Bewegung in seinem Rücken ließ den Fürsten die Hand augenblicklich wieder an sich nehmen, aber es war nur Rin, die zwischen seinem Schulterfell auf die andere Seite rollte und sich tiefer in den weichen Pelz kuschelte. Sesshōmaru schloss die Augen. Er hatte seit Tagen nicht geschlafen und obwohl er sonst keinen Schlaf benötigte, fühlte er sich durch diese Visionen erschöpfter als nach so manchem Feldzug, den er als Halbwüchsiger an der Seite seines Vaters bestritten hatte. Kinder waren offensichtlich anstrengender als jeder Krieg der letzten tausend Jahre – insbesondere unstete Daiyōkai-Welpen und ganz besonders dann, wenn sie ihre Eltern in Weitsicht übertrafen. Sesshōmaru unterdrückte ein Seufzen. Ein Leben lang hatte er sich auf die Einschätzungen seines Vaters verlassen können – selbst dann, wenn er sie Jahrhunderte lang angezweifelt hatte –, während er für seinen eigenen Jungen kaum in der Lage war, eine einzige, gefahrlose Entscheidung zu treffen. Selbst die Schonzeit, die er ihm im Palast abseits von Dienern und höfischen Protokoll ermöglicht hatte, barg Risiken. Irgendwann würde er Minoru mit seinem späteren Leben konfrontieren und ihn weniger versöhnlich behandeln müssen – wenn der Tag kam, würde sich zeigen, wie es um den Charakter seines Sohnes tatsächlich bestellt war. Sesshōmaru war nicht besonders geübt darin, Kompromisse einzugehen und durch geschickte Leitung Einsichten zu bewirken, die auf wahrem Verständnis fußten. Kurzum: Er war nicht sein Vater. Im Grunde fühlte er sich in der Rolle des unbarmherzigen Eroberers deutlich wohler als in der, die Minorus bloße Existenz ihm abverlangte. Wäre das Kind mit ihm aufgewachsen, wäre die Grundlage vermutlich eine andere gewesen. Nun waren fünfzehn Jahre alles andere als ein hohes Alter, aber dennoch fehlten wichtige, prägende Zeitabschnitte, in denen er – insbesondere nach der Einsicht in die Vergangenheit – den Jungen lieber an seiner Seite gewusst hätte. Das Zusammentreffen mit Jikan hatte zumindest dazu geführt, dass er einige Züge des Kindes besser verstand. Aber würde das ausreichen, um ihn wider seiner Vorerfahrungen zu seinem Erben zu erziehen? Die Zukunft sprach dafür. Aber zwischen dem jungen Welpen an seiner Seite und dem Daiyōkai der Visionen lagen Welten. „Stimmt... etwas nicht?“ Der Fürst schlug die magentafarben gezeichneten Lider auf und starrte ob der unvermittelten Ansprache mit einem Anflug von Überraschung auf seinen Sohn herab. Dessen goldene Augen waren matt und abwesend, aber in ihnen lag dennoch eine gewisse Sorge. „Du bist wach“, stellte der Taishō schließlich mit üblich kalter Stimme fest, nachdem er sich einige Sekunden hatte ordnen müssen, um zu einer gewohnt unbeteiligten Miene zurückzukehren und sich nicht allzu ertappt zu zeigen. Minoru jedoch gähnte nur lang und streckte die Glieder aus, bevor er sich wieder auf der Seite zusammendrehte und seinen Vater verschlafen betrachtete. Erwidern wollte er jedoch nichts. „Wie fühlst du dich?“, hakte der schließlich nach, als ihm bereits die Augen wieder zufielen. „Fürchterlich“, gestand Minoru leise. „Als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen. Ist Jikan fort?“ „Ist er.“ Endgültig. Minoru atmete erleichtert aus und schmiegte sich enger an den weichen Untergrund. „Ruh' dich aus“, gebot der Fürst knapp, während der Atem des Jungen allmählich wieder tiefer ging. „Im Morgengrauen brechen wir auf.“ Minoru schien zunächst bereits im Halbschlaf versunken, als er unter erneutem Gähnen tödlich scharfe Fangzähne entblößte und schwer vernehmlich Worte murmelte, die seinen Vater für einen Moment in Fassungslosigkeit erstarren ließen. „Nach Hause...?“ Das Fell des Fürsten hatte sich ob dieser unbedarften Frage bis in die feinen Haare am Nacken aufgestellt und er hatte alle Mühe, diese Regung samt ungewöhnlich beklemmenden Gefühl in seiner Brust in geordnete Bahnen zu lenken. Bestimmt strich er die letzten aufmüpfigen Haare seines Pelzes mit flacher Hand glatt. „Nach Hause“, bestätigte er schließlich gepresster als beabsichtigt. Minoru versenkte die Klauen im seidenen Ärmelsaum des Fürsten und knurrte ein letztes Mal in einem beruhigten Ton, bevor er wieder einschlief und seinen ungläubigen Vater sich selbst überließ. „Und du kannst dich wirklich an gar nichts erinnern?“ „Was ist an 'nein' eigentlich so schwer zu verstehen?“ Rin schaute verdrießlich drein und zog zum wiederholten Mal die von der Nacht verknoteten Strähnen ihres Haares mit den bloßen Fingern auseinander. „Das ist auch wirklich zu schade! Aber Sesshōmaru-sama weiß doch sicher alles! Bist du denn gar nicht neugierig, was einmal aus dir werden wird?“ „Nein.“ „Und wenn du Dinge jetzt noch ändern könntest, weil du sie voraussiehst?“ „Nein.“ „Was hat dir das alles gebracht, wenn du jetzt nicht einmal einen Teil davon wissen willst?“ „Nein.“ Sie schnaubte angesäuert. „'Nein' ergibt da überhaupt keinen Sinn!“ Minoru verdrehte die Augen und fragte sich nicht zum ersten Mal in den letzten Stunden, warum um Himmels Willen er nicht einfach weitergeschlafen hatte. Konnte die Welt so grausam sein? Nun, andererseits sollten vier Tage Ruhe durchaus reichen und allein der Gedanke, dass sein Vater ihn den ganzen Weg über hatte tragen müssen, behagte ihm gar nicht. Dieser schritt unbeteiligt einige Meter weiter vorn durch den westlichen Wald und dachte offensichtlich gar nicht daran, Rin das Wort zu verbieten – und selbst wenn er sich dazu herabgelassen hätte, wäre der Erfolg nicht garantiert gewesen. Wenigstens hatte Myōga mittlerweile einen Platz auf Minorus Schulter eingenommen und die Beteuerungen eingestellt, wie unfassbar beruhigend es doch sei, dass der junge Herr endlich erwacht war. Ein Umstand, der Minoru deutlich zu verstehen gab, dass vier Tage Dauerschlaf nach einem derartigen Unterfangen nicht üblich waren. Er hatte dem Flohgeist seine Geschwätzigkeit gegenüber der Familie seines Onkels zwar noch nicht gänzlich vergeben, aber ebenso sah er keinen Gewinn darin, dem alten Hasenfuß mehr als nötig nachzutragen. Immerhin hatte er sich für ihn gegen Inuyasha wenden wollen und das rechnete er ihm hoch an – so aussichtlos der Versuch auch gewesen war. „Vielleicht vertreibt es dir auch einige Sorgen. Das wäre doch beruhigend“, hob Rin erneut an und diesmal knurrte Minoru so laut, dass sie es noch in ihrem Zwerchfell spürte. „Wenn dich dieser Unfug so sehr interessiert, dann hol dir die Informationen woanders. Ich bin eindeutig die falsche Anlaufstelle – aber wenn ich nur ein Wort darüber aus deinem Mund höre, reiße ich dir alle Fingerglieder einzeln aus!“ „Dann darf ich?“, sie überging die in den Raum gestellte Warnung, die er ohnehin nicht hätte wahr machen können und wandte sich an den Fürsten. „Sesshōmaru-sama!“ „Nein.“ Kalt, eintönig, endgültig. Sie biss die Zähne zusammen und brummte unzufrieden. „Man sollte meinen, solche Angewohnheiten könnten sich gar nicht vererben.“ Sie sah Minoru schmollend ins Gesicht und stellte mit Entsetzen fest, dass seine Lippen von einem schmalen, fast unsichtbaren aber definitiv triumphalen Lächeln umspielt wurden. Mit einem Anflug von Genugtuung nahm er ihre Verwirrung wahr und wandte sich wieder ab. Bereits seit den frühen Morgenstunden hackte sie auf seinem offensichtlichen Desinteresse herum und versuchte ihn davon zu überzeugen, wie sinnvoll und spannend es doch sei, zumindest Züge der Zukunft zu kennen. Er würde seine Meinung diesbezüglich sicher nicht mehr ändern. Wenn er am nächsten Tag von einem beliebigen Oni gefressen werden würde, dann war das nun einmal so – und er würde sich sicher nicht den Kopf über Theorie zerbrechen, ob Zukunft änderbar war oder nicht. Er traute den Zeitdämonen immer noch nicht über den Weg – ganz zu schweigen von der Zuverlässigkeit ihrer vermeintlichen Kunst. Das einzige, das ihm dieses Unterfangen beschert hatte, waren vier Tage Schlaf, die sich rückblickend eher anfühlten, als habe er eine ebenso lange, erfolglose Hetzjagd hinter sich, bei der er schlussendlich nur im Kreis gelaufen war. Abermals reckte er sich ausgiebig und das ungesund anmutende Knacken in seinem Nacken, das sich dabei löste, zwickte zu allem Überfluss noch unangenehm. Wenn sie bei der Festung ankamen, würde er freiwillig ein möglichst heißes Bad nehmen, um dieses widerliche Gefühl loszuwerden, das sich mühevoll als Mischung aus Erschöpfung und Fremdeinwirkung definieren ließ. Er konnte immer noch die scheußliche Süße dieses Gebräus auf seiner Zunge schmecken, wenn er sich nur darauf konzentrierte und so sehr er sich auch bemüht hatte, den Geruch dieses Zeitdämonen an einem eiskalten Bachlauf loszuwerden, schien er doch an seinem Körper zu haften. Abstoßend. Aber dies hier waren bereits bekannte Wälder und aus einigen Kilometern Entfernung wehte der Wind den Geruch von Feuern, Hunden und Schmiedeöfen heran. Die Kirschen hatten an Witterung verloren; waren sicher bereits verblüht. Augenblicke später blitzte zwischen dem frischen Blattwerk einiger Erlen bereits das klare Wasser des Sotoboris in der Morgensonne auf. Aus dieser Entfernung mutete der mächtige Graben wie ein Rinnsal an. Dann hielt Minoru mit einem Mal inne. Stutzig geworden musterte er die schwarzen Seidenbanner auf den Wehrgängen, die im wechselnden Takt des Windes mit jeder Böe eine abnehmende Mondsichel in kräftigem violett-blau entblößten. Schließlich blieb auch Rin neben ihm stehen und sah ihn fragend an. „Ist alles in Ordnung?“ Er zog die Brauen zusammen, sah noch einmal hin und wandte sich schließlich an seinen Vater: „Es wäre mir sehr unangenehm, wenn ich mich nun irrte, aber sollte das Banner nicht eine silberne Mondsichel auf schwarzem Grund zeigen?“ Rin sah verwirrt in Richtung der Festung, verengte die Augen für einen Moment, dann gab sie auf. „Ich seh' nicht einmal die Banner...“ Der Fürst war währenddessen stehen geblieben und betrachtete nun selbst die entfernten Zinnen. „Mhm“, gab er ein wenig zerknirscht zurück, dann setzte er seinen Weg fort als sei nichts geschehen. Rin ließ unsicher die Hand aus den Haaren sinken, dann folgte sie ihm kopfschüttelnd, während Minoru einen letzten Blick zu den Bannern warf. Nein, er war sich sicher. Silber auf Schwarz. Es wäre ihm aufgefallen, wenn der Mond in derselben Farbe abgebildet worden wäre wie die Zeichnung auf der Stirn des Fürsten – der missgünstige Laut seines Vaters war demnach kaum an ihn gerichtet gewesen. Etwas stimmte nicht. Das Haupttor schwang langsam und schwerfällig auf, knarrte in den Angeln und gab den Weg in die Burg frei. Die Soldaten nahmen Haltung an, als ihr Fürst an ihnen vorüberging. Minoru hatte die Wachen schon öfter bei dieser Respektbekundung aus den Augenwinkeln betrachtet. Mit den exakt parallel zum Körper abgestellten Yari, dem durchdringenden Blick und ohne jegliche Regung in der Miene schien die gerüstete Wachmannschaft stets wie eine Reihe von Statuen. Nie wäre ihnen eingefallen, sich mit ihren Waffen vor den Füßen der Herrschaft in den Staub zu werfen wie es die Palastdiener pflegten. Ihre Ankunft musste sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben: Die Wegesränder waren gesäumt von knienden Inuyōkai. Alte Soldaten, der Gewohnheit wegen auch ohne entsprechende Rüstung salutierend, während Hunde aufgeregt zwischen den Dämonen umherstreunten. Junge, strebsame Männer mit kaltem Blick und einige wenige Mütter mit ihren Kindern, die als einzige wagten, die Stille zu durchbrechen. Minoru schloss möglichst unauffällig zu seinem Vater auf, hielt sich nur zwei Schritte hinter ihm und nahm mit unangenehmer Regung zur Kenntnis, wovor der Fürst ihn während der letzten Monate bewahrt hatte. Niemand wagte, sie direkt anzusehen und auch die Wachen schienen, dem steinernen Erscheinungsbild entsprechend, durch sie hindurchzuschauen. Aber Minoru fühlte sich im Zentrum so vieler Personen dennoch beobachtet. Er kämpfte das Gefühl weitestgehend herunter, straffte die Schultern und war zum ersten Mal froh, am Morgen zumindest den gröbsten Schmutz heruntergewaschen und die Haare neu gerichtet zu haben. Als sie die Treppen nahmen, die durch die Wehrkreise zum Palast führten, hatte die Kirschblüte nichts weiter hinterlassen als einige verloren wirkende Blütenblätter, die nicht den Gärtnern zum Opfer gefallen waren. Es waren zwar kaum drei Wochen gewesen, die sie sich vom Palast entfernt hatten - und Zierkirschen verblühten schnell -, doch ließ dieses Detail die Zeit wie eine kleine Ewigkeit wirken. Je näher sie dem Honmaru kamen, desto bekannter wurden die Gesichter. Zukünftige und ehemalige Soldaten wurden zu Palastwachen und Dienerschaft. Als Minoru jedoch die eleganten Frauen sah, die sich tief verneigten und verstohlene Blicke durch den dünnen Stoff ihrer Fächer warfen, war er versucht, stehen zu bleiben. Diese Damen hatte er noch nie gesehen und auch ihr Geruch mutete ihm sonderbar unbekannt an. Sie gehörten nicht hierher. Der Fürst ließ die Ansammlung jedoch vollkommen unbeachtet über sich ergehen und tat, als schreite er ohnehin allein den Weg zum Palast empor. Minoru folgte ihm schweigsam und auch Rin hatte seit ihrer Ankunft kein Wort fallen lassen. Beunruhigt bemerkte Minoru, wie auch sie den fremden Inuyōkai einen misstrauischen Blick zuwarf und schlicht einige Strähnen über ihre Schulter zurückstrich, als eine der Frauen bei ihrem Anblick ein empörtes Gesicht machte. Nun, natürlich. Sehr wahrscheinlich war nicht jeder Inu mit Rins Anwesenheit im Palast einverstanden. Aber wenn sein Vater es so wünschte, sollten sie besser nicht daran denken, diese Meinung offen zu äußern. Rin schien das Gehabe jedenfalls nicht sonderlich zu verletzen. Minoru hätte es ihr und seinem Vater gern gleichgetan, aber derartig abgebrühte Verhaltensweisen fehlten ihm schlicht. Als eine andere Dame viel zu offensichtlich ihre unverhohlene Neugier preisgab und ihn über den Rand ihres Fächers mit blitzenden Augen betrachtete, knurrte er so kehlig, dass sämtliche Farbe aus ihrem ohnehin schon blassen Gesicht wich. Prompt schlug ihr eine andere unsanft auf den Kopf und drückte die Jüngere unbarmherzig tiefer an den Boden. Minorus Laune sankt mit jedem Meter, den er neue Unbekannte aus den Augenwinkeln wahrnahm, gegen den Gefrierpunkt. Ihm war nicht entgangen, dass von Ryouichi jede Spur fehlte. Niemand hatte es gewagt, seinen Platz einzunehmen, um den Fürsten auf dem Vorplatz des Palastes in Empfang zu nehmen, welcher nicht minder von Fremden bevölkert schien: Unter dem Vordach des Engawa nahmen Wachen in dunkelgrünem Yukata augenblicklich Haltung an, weitere Frauen knieten auf dem Pflaster, die Hände formvollendet vor ihren niedergepressten Köpfen und runden Rücken ausgestreckt. Spätestens nun begann Minoru sich in die Enge gedrängt zu fühlen. Wäre sein Vater nicht so gelassen gewesen, wäre seine Stimmung angesichts der Personen längst umgeschlagen. Ein wenig verwundert nahm er wahr, dass die Luft über den steinernen Platten zu seinen Füßen allmählich zu schwelen begann und bekam seinen Unmut gerade noch rechtzeitig in den Griff, bevor die erste Frau auf die Idee kam, sie müsse sich aufgrund dieser Warnung deutlich zurückziehen. Er hatte nicht vor, seinem Vater einen Grund zu geben, sich um seine Stabilität zu sorgen. „Sesshōmaru-sama!“, tönte eine quakige Stimme in die Stille hinein. Jaken schlüpfte zwischen den Inu hervor, unter denen er allein schon wegen seiner geringen Körpergröße unsichtbar geworden war. Minoru warf er einen kurzen Blick zu, verneigte sich hastig mehrmals und schien dabei darauf bedacht, dass der Fürst dies auch unbedingt zur Kenntnis nahm, bevor er in eine Endlosschleife aus Lobpreisungen verfiel. Der Flohgeist auf Minorus Schulter bemerkte das mit Mühe im Zaum gehaltene Yōki seines Schützlings und nutze die überschwänglichen Bekundungen des Kappa, um sich unbemerkt näher an das Ohr des Jungen zu schieben. „Dies sind Leibgarde und Hofdienerinnen Eurer verehrten Großmutter“, flüsterte er eindringlich, während Minoru die sonderbaren Wachen unauffällig taxierte. Dann glitt die Stimme des alten Beraters unter der Erkenntnis in ein gequältes Quietschen ab. „Sie ist hier! I... ich hatte keine Ahnung, dass sie bereits einen Besuch in Erwägung zieht! Andererseits... sie wartet seit Jahrhunderten auf einen Enkel und die Kunde von Eurer Heimkehr in den Westen wird sich sicher herumgesprochen haben.“ Er schnappte abermals piepsend nach Luft, dann drängte er sich näher an einige der weißen Strähnen, um Halt zu finden. Warum er? Er wurde eindeutig zu alt für solcherlei Verwegenheiten! Dieser Hündin gegenüberzutreten hatte ihm stets einige hundert Jahre seiner Lebensspanne gekostet – selbst dann, wenn er lediglich Tōga-sama begleitet hatte! Aber der war tot und seine Frau sowie sein wenig charmanter Sohn an einem Platz versammelt! Abwägend betrachtete er Minoru, aber was sollte dieser Welpe schon im Ernstfall für ihn tun können? Ganz zu schweigen davon, dass die Fürstinmutter nicht davon absehen würde, ihm an dem unsäglichen Verhalten ihres Enkels zumindest eine Teilschuld zuzuschieben – und die würde reichen, um ihn genüsslich in einzelne Scheibchen zu filetieren. Dennoch... wenn er ihn nun verließ, würde der Junge es ihm vermutlich nie vergeben. Er konnte ihn nicht sehenden Auges ins Verderben laufen lassen. „Hört mir zu“, bettelte er angestrengt, während Minoru seinem Vater in das Gebäude folgte. „Wenn Ihr irgendwann auch nur den Hauch einer angemessenen Erziehung erhalten haben solltet, wäre nun die Zeit, davon Gebrauch zu machen. Wenn nicht für Euch, dann zumindest für Euren Vater. Sie wird sich nicht nehmen lassen, Euch zu sehen – und jeden Schwachpunkt nutzen, wenn Ihr der Sinn danach steht. Euer Vater hat sie warten lassen. Sie wird demnach nicht allzu glücklich sein.“ „Er ist Inu no Taishō“, hauchte Minoru so leise, dass es vermutlich nur sein Vater hätte hören können. Myōga brach in Anbetracht dieser kühnen Einschätzung der Lage der Schweiß aus. Was machte er sich eigentlich vor? Dass einer dieser verfluchten Hunde seinen wohlgemeinten Ratschlägen auch nur mehr als einen Wimpernschlag widmen würde? Lächerlich! Er hatte sich an Tōga versucht – Jahrhunderte, nein, Jahrtausende lang hatte er versucht diesem schlichtweg beratungsresistenten Hund die Tollheit auszutreiben und war daran ebenso gescheitert wie später an Inuyashas unbesonnenen Gemüt. Was hatte ihn nur geritten, diesen mehr als grünen Jungspund unter seine Fittiche nehmen zu wollen, der ohnehin keinerlei Gespür für Umgangsformen hatte und stattdessen mit Vorliebe Wildschweine und anderes Getier erlegte. Das war doch nicht auszuhalten! „So glaubt mir doch! Ich flehe Euch an: Macht nicht den Fehler, Meinung und Einfluss Eurer hohen Großmutter zu unterschätzen!“ Kapitel 35: Es ist der leichte Weg ---------------------------------- Mit leisem Schnauben warf Minoru seinen nicht mehr allzu weißen Kimono in eine Zimmerecke, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit den messerscharfen Klauen der Linken gereizt auf seinem bloßen Oberarm herum. Der Fürst hatte sich noch in dem Moment von ihm verabschiedet, als die Palasttüren hinter ihnen geschlossen worden waren, und Minoru befohlen, sich auszuruhen bis man nach ihm schicke, während er sich mit seiner Mutter unterhalten wolle. Minoru war alles andere als versessen darauf, diesem Treffen später am Tag beizuwohnen, aber wie es aussah, hatte er keine andere Wahl. So hatte er mit einem nicht geringen Anteil von Widerwillen Myōga nachgegeben und zumindest versucht, die wertvolle Kleidung mit Hilfe seines Yōkis in einen akzeptablen Zustand zu versetzen. Aber wem wollte er etwas vormachen? Seine Aura war seit Ablegen der Fuchskoralle zwar exponentiell an Macht angewachsen, aber kontrollieren konnte er sie deshalb noch lange nicht. „So beruhigt Euch doch!“ Myōga, der davon abgesehen hatte, auf Minorus bloßen Schultern herumzuspringen, hatte sich stattdessen auf dem kleinen Lacktisch in dessen Zimmer niedergelassen und versuchte mit größter Anstrengung, dem Drang zur Flucht zu widerstehen. „Solche Handgriffe gehören zur feineren Kunst. Ihr werdet es mit der Zeit lernen. Bis dahin gehe ich zum Schneider und bitte ihn, etwas für Euch herauszulegen. Er hat sicher etwas Passendes, das dem Treffen mit Eurer Großmutter zuträglicher ist. Es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis Euer Vater nach Euch schickt.“ Hätte es Minoru in dieser Form vermocht, er hätte die Ohren nach hinten gelegt und das Fell missgünstig gesträubt. Je öfter er sich die Situation vor Augen führte, desto übler wurde ihm. Seitdem er seiner Mutter den Rücken gekehrt hatte, war derlei Aufwand um sein Auftreten und Aussehen vollkommen hinfällig gewesen. Es widerstrebte ihm, nun in Muster zurückfallen zu müssen, die er bereits vor Jahren hinter sich gelassen hatte. Wenn er sich nun wieder für eine Frau verbiegen sollte –! Nun, was dann? Einmal abgesehen davon, dass jede Seele außerhalb des Westens darauf aus zu sein schien, dem Sohn des Inu no Taishōs das Fell über die Ohren zu ziehen, war fortlaufen ohnehin keine Lösung. Er konnte nicht sein Leben lang Erwartungen entfliehen, und seinem Vater und dem Hof nun den Rücken kehren zu wollen, weil er sich vor dem Protokoll scheute, war nicht recht. Immerhin hatte er zumindest in dieser Hinsicht geahnt, worauf er sich einlassen würde, als er vor einigen Monaten den Weg in den Westen angetreten war und außerdem erst vor gut zwei Wochen seinem Vater dargelegt, dass er nicht beabsichtige, weiteren Ärger zu verursachen. Zudem wusste er spätestens jetzt, dass der Fürst in der Vergangenheit ein hohes Maß an Rücksicht hatte walten lassen, um ihn nicht zu verschrecken. Der sonst so ruhige Palast schien unter der Aura all der Dämonen zu schwirren wie ein übergroßes Hornissennest und wenn er auch nur einen Moment die Gedanken fallen ließ und lauschte, hörte er wie auf den Gängen leise Schritte über die Holzdielen huschten und witterte eine ungeliebte Mischung aus vertrauten und vollkommen fremden Gerüchen der Anwesenden. Es war ein Albtraum – und fast hoffte er tatsächlich, dass es nur ein sehr klarer Teil der vielen, schlechten Stunden war, die er in den letzten Tagen im Schlaf zugebracht hatte und an den er sich später ebenso wenig erinnern konnte, wie an die übrigen. Doch je länger er dastand, desto unbarmherziger wurde ihm bewusst, dass diese Realität sich weit entfernt von jedem Traum bewegte. Für einen Moment schloss er die Augen, atmete tief durch und sah schließlich zu Myōga, dem ebenfalls das Unwohlsein ins Gesicht geschrieben stand. „Nein, keine neuen Sachen“, entschied er schließlich. „Schaff' die zu Yūsei und richte ihm aus, ich wäre ihm sehr dankbar, wenn er sie für mich herrichten könnte. Er meinte, solange ich dazu nicht in der Lage sei, könne er das für mich übernehmen. Ich kann darauf verzichten, mich nach einer Konfrontation mit einer Armee aus Fremden auch noch in neue Sachen zu zwängen.“ Myōga blinzelte einen Moment verblüfft, dann schien er über die ruhig vorgetragene Entscheidung seines Schützlings fast erleichtert. Mit zwei Sätzen war er an der Tür, schlüpfte mühelos durch einen nicht einmal sichtbaren Spalt und war verschwunden, um jemanden zu suchen, der ein wenig größer und in der Lage war, die Kleidung zum Schneider zu schaffen. Minoru atmete abermals besinnend durch, legte den Kimono mit der übrigen Kleidung sorgsam gefaltet auf den Flur und ließ sich schließlich, gehüllt in einen einfachen Yukata, auf seinen Futon sinken. Für einen kurzen Moment hätte er viel darum gegeben, wenn es einfach nur einen Augenblick lang wirklich still gewesen wäre, aber das würde ihm an diesem Tag nicht vergönnt sein. Wieder schlich Dienerschaft über einen entfernteren Flur und irgendwo klapperte Stahl und Geschirr. So musste sich eine Ameise in ihrem Bau fühlen – niemals Stillstand. Wenn er ehrlich war, hatte ihn das Gefolge der Fürstinmutter deutlich mehr aus der Bahn geworfen als die Kunde ihrer Anwesenheit. Mit ihrer Existenz hatte er sich dank Rins Anmerkung zumindest kurzfristig auseinandersetzen können – dass sie dabei jedoch ihren halben Hofstaat mitschleppen würde, war ihm nie in den Sinn gekommen. Aber waren es nicht immerhin Yōkai? Er hatte einige Zeit inmitten eines riesigen Wolfsrudels gelebt und sogar ein Menschendorf überstanden – da würde er jetzt doch nicht vor seinesgleichen zurückschrecken wie ein scheues Reh! Es war bereits Abend als man nach Minoru schickte, der indes recht erfolglos versucht hatte, die Umwelt für einige Augenblicke aus seiner Wahrnehmung zu verbannen. Doch das war einfacher gesagt als getan, wenn man wortwörtlich Flöhe husten hörte – und sein Floh gab sich mit derartigen Lautäußerungen sicherlich nicht zufrieden. „Schaut ihr nicht direkt ins Gesicht. Chizuru-sama schätzt derlei unschickliches und anmaßendes Verhalten gegenüber ihrer Person nicht. Verbeugt Euch. Gerne tief, aber kniet nicht vor ihr nieder. Als Sohn Eures Vaters ist es Euer gutes Recht in ihrer Anwesenheit auf eine gewisse Position zu bestehen – die müsst ihr jedoch im Nachhinein auch erhalten können: Vermeidet gereizte Reaktionen oder solche, die darauf hinweisen könnten, dass ihre Worte Euch berühren.“ Die letzten warmen Strahlen der versinkenden Sonne drangen durch die noch offenstehenden Regentüren des Westflügels und erhellten die Gänge in einem matten Rot. Minoru schwieg, während der Floh auf seiner Schulter seine Litanei unbeirrt fortsetzte. Um einige Dinge sorgte sich der Berater jedoch grundlos: Diese Frau würde ihn auch dann nicht berühren können, wenn sie ihn für vollkommen ungeeignet und unzumutbar hielt. Ihre Meinung war ihm schlicht egal, solange sein Vater sich nicht an ihr orientierte – und er konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass der seine Meinung verwarf und sich mit einem Mal gegen ihn wandte, weil seine Mutter es so wollte. Myōga hingegen schien anderer Ansicht. Mit einem winzigen Fetzen Tuch tupfte er den Schweiß von seiner kahlen Stirn und sah sich zum wiederholten Male schutzsuchend um – vergebens. Der Welpe war zu jung für ein sicheres, warmes Schulterfell, in dem der Flohgeist nun nur zu gern unauffällig verschwunden wäre. Was hätte er alles gegeben, Minoru anstelle dieser Situation zu dessen Großvater begleiten zu dürfen! Allein der Gedanke schnürte dem kleinen Berater die Kehle zu. Tōga-samas Reaktion auf seine Enkel, gleich welchen, hätte er sich an einer seiner vielen Hände abzählen können. Seinen jungen Schützling hätte das Verhalten des Meisters mit Sicherheit im ersten Augenblick verstört, doch selbst jemand wie Minoru wäre nicht umhingekommen, in der Nähe dieses Mannes ein wenig aufgeschlossener zu werden. Doch zu spät. Es war aussichtslos, die Toten zurück unter die Lebenden zu wünschen. Myōga ballte die Hände zu Fäusten und versuchte die niederschmetternden Bilder aus seinem Geist zu verdrängen. Doch das war leicht gesagt und schwer getan. Minoru nahm die Nervosität und das Unwohlsein des Flohs beunruhigt zur Kenntnis. Myōga kannte den Palast und seine Bewohner seit Jahrtausenden. Er würde deutlich besser wissen, wie die Situation einzuschätzen war. Andererseits war er ohnehin eine eher besorgte und ängstliche Person, sobald die Zeichen auf Konfrontation standen. Trotz allem wurde dem Inu die Panik langsam unangenehm. „Nun hol' mal tief Luft und beruhige dich endlich“, knurrte der Junge leise, während er lautlos über die Nachtigallenböden zum Empfangssaal schritt. „Aber junger Herr -“ „Du machst mich nervös.“ Myōga blinzelte einen Moment ungläubig, dann schüttelte er besinnend den Kopf. „Verzeiht“, flüsterte er angestrengt. „Versucht einfach bitte daran zu denken, nur dann zu antworten, wenn sie Euch unmittelbar anspricht und auch dann nur -“ „'So kurz wie nötig'“, nahm ihn Minoru den Satz vorweg und fluchte leise. „Zur Hölle, Myōga! Ich bin nicht taub! Ich habe dich die ersten achtzehn Mal schon deutlich verstanden!“ „I... Ihr habt mir zugehört?“, dem Flohgeist schwindelte mit einem Mal und er sich ein wenig tiefer in den Stoff des Kimonos krallen, um vor Verwunderung nicht von seinem Platz zu rutschen. Es gab doch einen Himmel! Kein Welpe hatte sich bisher die Mühe gemacht, seinen Ratschlägen zu lauschen – allen voran nicht der Großvater dieses Bengels! Sollte es doch noch Hoffnung auf seine alten Tage geben? „Junger Herr, ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ „Vielleicht hältst du dann einfach mal den Mund?“, fragte Minoru schnippisch. „Zumindest für fünf Minuten.“ Die Stirn so eng an die Tatami-Matten gepresst als beabsichtigten sie in Minorus Anwesenheit mit dem polierten Holzfußboden zu verschmelzen, kauerten die beiden Dienerinnen zu beiden Seiten der Fusuma. Die ausladenden Schiebeelemente, die den Eingang zur Empfangshalle bildeten, waren fest verschlossen und aus dem Innenraum entwich kaum mehr als die leisen, zusammenhanglosen Fetzen eines Gespräches, von dem kein klares Wort zu verstehen war. Minoru gab sich alle Mühe, die Dienerinnen seiner Großmutter nicht zu beachten und strich stattdessen abermals eine schwer sichtbare Falte aus seinem Kimono, den Yūsei wie erwartet in einen tadellosen Zustand versetzt hatte. Auf einen stillen Befehl hin zogen die Dienerinnen die schlichten Türen in einer unnatürlichen Synchronität auseinander und noch während der junge Erbe den Raum betrat, den vermutlich jeder mit etwas Verstand in diesen Stunden wohlweißlich gemieden hätte, schlug ihm die Witterung der Frau deutlich entgegen, die sich in Gegenwart des Fürsten anmaßend gelassen auf die Armlehne ihres opulenten Stuhles gestützt hatte. Chizuru, Mutter des Inu no Taishōs und Herrin über eine gewaltige Himmelsfestung in der Provinz Hida. Auch außerhalb der Burgmauern hätte Minoru sie sicher als Familienmitglied zuordnen können. Zwar waren goldene Augen und weißes Haar unter Inuyōkai nicht unüblich, doch die auffällige Ähnlichkeit zu seinem Vater war nicht zu leugnen. Die abnehmende Mondsichel auf ihrer Stirn wies dieselbe violett-blaue Farbe auf wie die ihres Sohnes – und damit auch die der zuvor an der Burg gehissten Banner. Minoru musste zu seinem Unmut wahrnehmen, dass das Eis tatsächlich äußerst dünn war, wenn sie derartige Machtspiele wagte und weiterhin in der Nähe seines Vaters saß, während dieser zu ihrer Linken Stellung bezogen und die Hände in die Ärmel geschoben hatte. Es war diese ohne Umschweife in seiner Gegenwart präsentierte Selbstsicherheit, die deutlich machte, dass es sich bei dieser Frau nicht etwa um die Schwester des Taishōs handeln konnte. Die Fusuma hinter Minoru schlossen sich mit einem höhnisch endgültigen Aufeinanderschlagen der Holzrahmen. Myōga zuckte furchtsam zusammen und warf einen zaghaften Blick über die Schulter, nur um die Türen zu mustern. Dann schluckte er und zog den Kopf noch ein wenig mehr ein. Das Yōki der einstigen Fürstin tanzte unheilvoll an der Decke des Raumes entlang und verhängte Anspannung über jeden Winkel. Minoru hingegen ließ sich davon offensichtlich nicht beeindrucken, schritt geradewegs durch die ersten beiden Ebenen des Saales und blieb schließlich steif auf dem Absatz der zweiten Stufe stehen, um eine gebührend tiefe und an der Perfektion kratzende Verbeugung zu vollführen, über die Myōga nur staunen konnte. „Er ist reichlich klein“, stellte die hohe Dame spitz fest, stützte den Ellbogen ein wenig mehr auf die rot gepolsterte Armlehne zu ihrer Rechten und legte ihr Kinn in gespielt prüfender Haltung an ihre zarten Fingerknöchel. „Und hager.“ Sie schien einen Moment nachzudenken, dann bemerkte sie scharf: „Wenn ich nicht wüsste, dass er sich jahrelang von Aas ernährt haben muss, läge der Gedanke nahe, er schlage auch diesbezüglich nach seiner Mutter.“ Myōgas kleines Herz setzte für einen Moment aus, doch als er mit böser Vorahnung zu dem Jungen blickte, der gerade erst wieder eine aufrechte Haltung annahm, hatte sich ein Ausdruck über dessen Miene gelegt, der sogar im Vergleich zu seinem ohnehin ungerührten Blick distanziert war. Augenscheinlich nahm er sich dieser Provokationen nicht an – in Wahrheit hätte er jedoch liebend gern auf dem Absatz kehrtgemacht und diese Frau mit ihren offenkundigen Schmähungen sich selbst überlassen. Sie nahm sich deutlich zu viel heraus und insgeheim fragte sich Minoru, wie es ihr wohl schmecken würde, wenn er ihr die Meinung seiner Mutter, nach der er ja angeblich schlug, über derartiges Verhalten einer Dame näher erläutert hätte. Stattdessen gab er Myōgas Ratschlägen nach und blieb ungerührt. Wenn sein Vater dieses unverschämte Verhalten kommentarlos duldete, musste auch er damit leben. „Komm näher, Junge. Ich bin schließlich nicht gekommen, um meine Augen mehr anzustrengen als nötig.“ Mechanisch gehorchte Minoru und vermied es auch hierbei seine Abneigung deutlich nach außen zu tragen. Fast hatte er vergessen, wie wenig es ihm zusagte, unbekannten oder unliebsamen Stimmen Folge zu leisten und dass sie eine Frau war machte die Angelegenheit nicht gerade angenehmer. Auch als er lediglich gut zwei Meter von ihr entfernt innehielt, mied er ihren Blick. Ausgiebig taxierte sie die Linien seiner Züge und offenbar jeden einzelnen Faden seiner Kleidung, bevor sie schließlich abermals den Blick über die dunkelroten Zeichnungen an seinen Wangen schweifen ließ und grübelnd in ihrem Stuhl zurücksank. Der Lack auf ihren Klauen blitzte in der Farbe dunkler Pflaumen auf, als sie ihre Hände anmutig in ihren Schoß legte. „Wie alt bist du?“ „Sechzehn“, entgegnete Minoru fest, auch wenn er sich dabei nicht allzu sicher war. Doch das wollte er sich nicht anmerken lassen. „Sechzehn“, wiederholte Chizuru in Gedanken versunken und ließ eine Hand über ihre mächtige Perlenkette wandern, an der ein großer, dunkel leuchtender Stein in goldener Fassung ruhte. „Sechzehn oder fünf – ein Welpe wird solch hohe Politik, auch seine eigene Person betreffend, kaum ausreichend begreifen können. Dennoch schließt das eine unfreiwillige Beteiligung nicht aus. Weißt du, Junge, etwas an deiner Geschichte will mir nicht ganz einleuchten: Angenommen du sagst die Wahrheit und hast die ersten Jahre deines Lebens mit deinem Wiesel von einer Mutter in irgendeiner schnöden Hütte gehaust: Wie erklärst du dir dann, dass die Frau, die mit deiner Verbergung nicht nur ihr eigenes Todesurteil gefällt hat, nicht bestrebt war, dich lebend zurückzubekommen? Ein kleiner, verletzlicher Welpe allein im Wald. Allein die Vorstellung bricht einer Mutter doch das Herz.“ Minoru starrte eine Weile wortlos auf den polierten Holzfußboden, in dem er sich teils spiegelte und bemerkte dabei nicht einmal den abfälligen Atemzug, der dem Fürsten soeben aus der Lunge entwichen war und den dessen Mutter gekonnt ignorierte. Er hatte sich stets vor dem Tag gefürchtet, an dem Kōhei oder seine Mutter ihn fanden und er in das kleine Haus zwischen den Hügel zurückkehren musste. Es war die richtige Entscheidung. Wenn sie mich finden, kann es nicht schlimmer werden. In den ersten Monaten hatte Minoru diese Worte wie ein Mantra verwendet bis er selbst davon überzeugt gewesen war, dass nichts schlimmer sein konnte, als weiterhin freiwillig dort zu leben. Kōhei hatte zwar behauptet, sie hätten ununterbrochen nach ihm gesucht, aber das war wenig glaubhaft. Der Fuchs war zwar niemand, zu dem er aufsah, aber auch er war in der Lage, ein ausgerissenes Kind auf einer Insel aufzuspüren. Sie hätten damit rechnen müssen, dass er früher oder später auf Inu traf – und die Folgen dieser Begegnung lagen auf der Hand. „Ich weiß es nicht.“ „Es ergibt keinen Sinn, nicht wahr? Zumindest nicht auf den ersten Blick.“ Sie lehnte sich gänzlich mit den Schultern an das Stuhlpolster und seufzte schließlich theatralisch. „Ich weiß, Männer neigen dazu, derartige Tatsachen von der Hand zu weisen, aber die prägenden Jahre im Leben eines Welpen sind nun einmal die ersten. Was in dieser Zeit versäumt oder verfehlt worden ist, wird stets nur mit Mühe in die rechten Bahnen zu lenken sein, aber niemals vollständig getilgt werden können. Äußerst bedauerlich, aber so zuträglich, wenn man eine Dynastie vernichten möchte. Nach allem was ich gehört habe nur allzu offensichtlich. Ein Pazifist! Man stelle sich das nur einmal vor: Ein Inu aus Akayas Linie, der nicht an die Waffe gewöhnt werden sollte; noch dazu schmächtig und gewöhnlich wie ein Streuner…“ Minoru schaltete ab. Er hatte den Blick allmählich vom Boden auf das opulente Bild im Rücken der Fürstin wandern lassen und hörte nicht weiter zu. Ein weitläufiges Schlachtfeld in satten Farben zierte die gesamte Breite der Wand, auf dem gewaltige Hunde mit Augen von Blattgold vielgestaltige Yōkai in einem wilden Kampf bezwangen. Einer seiner Vorfahren hatte gerade mit dem gesamten Gebiss einen eingespannten Ochsen im Rücken gepackt. Der muskulöse Körper des Hundes, über dem sich breit gefächert gleich mehrere Ruten aufrollten, war von dichtem Fell bedeckt, das in der Farbe der Wolken strahlte, zwischen denen weitere Inu dem Kampf schwebend entgegeneilten. Insgesamt annähernd zwanzig ausgewachsene Inuyōkai mit breiten Schultern und scharfen Klauen, zwischen deren Fangzähnen die Leiber der Zugtiere kaum größer wirkten als die von Kaninchen. Einer so unbekannt wie der andere. Minoru zwang sich zur Gelassenheit und schluckte ein Murren ungeäußert herunter. Krieg und Kampf waren nicht seine Welt, doch wie viel lieber wäre er in ihrer Gesellschaft durch die Wälder gestreift als auf zwei Beinen vor einem derartigen Tribunal sein Urteil zu vernehmen, das auf Kriterien fußte, die aus derartigen Prunkdarstellungen einfach nicht hervorgingen. „Oh lieber Junge, versteh' mich nicht falsch: Das alles ist nicht deine Schuld“, beendete seine Großmutter gerade ihren Monolog, als Minoru ihr erneut Aufmerksamkeit widmete. „Du kannst eben nicht anders handeln als man es dir eingebläut hat. Aber du musst einsehen, dass du uns schadest. Einsehen, wie erniedrigend es für deinen Vater wäre, ein so geartetes Kind der Öffentlichkeit vorzustellen. Wir sind alle froh, dass du uns gefunden hast und deinen Vater davon überzeugen konntest, sein Sohn zu sein, jedoch -“ „Nein.“ Das Wort war ihm in einer Endgültigkeit entwichen, die für einen Moment unangetastet im Raum stand. Auf seiner Schulter schnappte ein schockierter Flohgeist hörbar nach Luft und drückte sich enger an den seidigen Stoff des Kimonos, als Yōki wie eine Dürreperiode über sie hinwegfegte. „Wie war das?“, hakte Chizuru gefährlich leise nach. Ihre Klauen hatten sich bedrohlich gekrümmt, die Linien um die feinen, sonst so gehässig wirkenden Züge ihrer Lippen verhärtet. „Ich sagte, nein. Ich habe niemals behauptet, irgendjemandes Familienmitglied zu sein. Mein Vater sagte, ich sei sein Sohn. Daher bin ich hier. Es war sein Angebot, dem ich gefolgt bin. Nichts weiter.“ Sie schien alles andere als begeistert, hinsichtlich dieser Feinheit korrigiert worden zu sein, überspielte es jedoch beiläufig, indem sie tödlichen Klauen harmlosen Schiffchen gleich über den stahlblauen Stoff ihres Kimonos wandern ließ und einzelne Falten glättete wie Wellen in einem Meer. Das Kleidungsstück, das die darunterliegende Schicht aus weiß-violetter Seide verdeckte, fiel ihr lose über die Schultern und schien an Saum und Kragen mit einem dicken, weißen Pelz besetzt, der sie größer wirken ließ als sie es in Wahrheit war. „Es obliegt natürlich meinem Sohn allein, einen Welpen anzuerkennen“, lenkte sie schließlich ein und machte sich nicht einmal die Mühe, den Taishō anzuschauen. „Ausgeschlossen, dass er einen beliebigen Streuner in die Familie einführt, nur um sich seiner ungeliebten Pflichten zu entledigen.“ Sie lächelte süffisant und dieses Mal war es am Fürsten selbst, sie mit einem zornigen Blick zu bedenken. „Mutter. Genug.“ Abermals seufzte sie gedehnt und wedelte seine Worte mit einer Handbewegung fort als handle es sich um lästige Fliegen. Dennoch ging sie dieses Mal auf ihn ein und gab sich alle Mühe, verletzt zu klingen: „Musst du deiner armen Mutter bei jeder Äußerung Hintergedanken vorwerfen, Sesshōmaru? Das ist äußerst unhöflich von dir.“ „Euer Zynismus ist unangebracht.“ Er klang wie Eis. „Ist er das?“, fragte sie und hob die Augenbrauen in aufgesetzter Überraschung. Der Tonfall des Taishōs schreckte sie nicht im Geringsten ab. Minoru, der mit dem Einschreiten seines Vaters davon abgesehen hatte, seine gesamte Aufmerksamkeit erneut der Wandmalerei zuzuwenden, um die drohende nächste Welle an Schmähungen auszublenden, musterte die Frau erstmalig. Er wurde das Gefühl nicht los, sich zwischen den Klauen einer spielenden Katze zu befinden, die ihn mühelos wie einen Ball bearbeitete, jedoch nie dazu überging, die Krallen tief hineinzuschlagen. „Was bleibt mir außer Zynismus? Nach hunderten von Jahren, in denen ich dich ständig daran erinnern musste, dass ein männlicher Erbe unerlässlich ist, präsentierst du mir ihn. Ist das deine Art von Humor, Sesshōmaru, oder möchtest du deine Mutter tatsächlich kränken?“ Sie sah ihren Sohn mit funkelnden Augen an. „Die Dienerschaft zerreißt sich das Maul und du erwartest, dass ich diesem unterwürfigen Welpen freundliche Worte widme?“ „Ihr könnt Euch Eure Mühen sparen“, hob Minoru in ruhigem Ton an, noch ehe sein Vater etwas erwidern konnte. „Ich gebe weder etwas auf das Geschwätz der Leute noch auf Eure Meinung. Das einzige Urteil, das mich interessiert, ist das meines Vaters.“ Sowohl der Fürst als auch dessen Mutter hatten sich ihm zugewandt und musterten ihn wahlweise unergründlich ernsthaft oder wenig erfreut. „Wie pathetisch!“, entfuhr es Chizuru schließlich stöhnend, als sie die ausgedehnte Stille durchbrach. Sie stützte die Elle abermals auf ihrer Lehne und warf ihm einen gelangweilten Blick zu. „Nicht einmal annähernd“, gab Minoru ungerührt zurück und fing mit einer Hand Myōga auf, der soeben ohnmächtig von seiner Schulter gefallen war. „Wie Ihr schon sagtet, obliegt die Entscheidung, mich in der Familie aufzunehmen, meinem Vater allein. Ebenso, ob ich ihm nachfolgen werde oder er mich für einen anderen aus dem Weg schaffen muss. Nennt mir also einen Grund, warum ich mich um Eure Ansichten scheren oder mir auch nur eine weitere Beleidigung anhören sollte.“ „Du wirst unverschämt.“ „Ihr irrt, wenn Ihr denkt, dass ich für meine Zufriedenheit anstrebe, mich allerorts lieb Kind zu machen.“ Für einige Augenblicke sah sie ihn schweigsam an, dann breitete sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus und sie wandte sich unversehens an ihren Sohn. „Weißt du nun, was du wissen wolltest, Sesshōmaru?“ Sie legte ihre Wange in die eine Hand, während die andere mit zwei Fingern erhaben Worte von sich wedelte, die niemals gefallen waren. „Du brauchst mir natürlich nicht zu danken – auch wenn ich darauf bestehen muss, dass du in Zukunft derartige Unklarheiten frühzeitig aus der Welt schaffst.“ Minoru blickte fragend von ihr zu seinem Vater und verstand beim besten Willen nicht, woher der unerwartete Themenwechsel rührte. Doch der Fürst stand da, schweigend und mit einem eigenartigen Blick auf seinen Sohn, dass es schien, als habe der ihm etwas vollkommen Sonderbares eröffnet. Minoru hatte einen Weltuntergang erwartet – doch sicherlich nicht das. Sollte Myōga sich in seinen Einschätzungen geirrt haben? „Dein Vater“, hob seine Großmutter ernst an, „war der Meinung, ich solle mich nicht darauf verlassen, dass du in Anbetracht der Umstände gewillt bist, das Leben zu führen, das für dich vorgesehen war.“ Sie gab einen aufmüpfigen Ton von sich und musterte ihren Sohn scharf. „Da präsentiert er mir nach hunderten von Jahren einen Enkel und wagt es, solchen Unsinn in den Raum zu stellen.“ Als sie Minoru erneut ansah, wurde ihr Blick deutlich zufriedener. „Du scheinst mir jedoch sehr sicher zu sein.“ Minoru stockte. „Wie muss ich das verstehen? Was ist mit dem ganzen Gerede über den Einfluss meiner Mutter und meine Unzulänglichkeiten?“ „Also wirklich, Kind! Glaubst du tatsächlich ihr niederes Wesen könnte sich mehr in dir niedergeschlagen haben als mein Sohn? Was für ein kurioser Gedanke!“ Sie lächelte versöhnlich und legte die Hände anmutig zurück in ihren Schoß. Kapitel 36: die Lüge zu leben ----------------------------- Die Bestimmtheit, mit der die Schläge an der Tür das Holz erbeben ließen, überschritten eindeutig die empfindliche Grenze von Höflichkeit. Ryouichi, der sich mit Mühe auf die Beine brachte und den Weg zur Tür trotz geringer Distanz mit einigen Schwierigkeiten bestritt, zog den losen Obi noch einmal enger um die Hüfte und fluchte leise in sich hinein. Gnade diesem Wicht, der der Meinung schien, aufgrund seiner derzeitigen Einschränkungen Höhenluft schnuppern zu dürfen. Ungehalten riss er die Tür auf, die gelben Augen glimmend vor Wut. „Was?!“ Er erstarrte zur Salzsäule, noch während der Fürst ungerührt eine Augenbraue um wenige Grad anhob – und nichts erwiderte. Ryouichi wurde leichenblass, hielt sich sichtlich unsicher mit einer Hand am Türrahmen und starrte seinen Herrn für einen Moment vollkommen perplex an, bevor er seine Sprache wiederfand. „Verzeiht, Taishō.“ Er senkte den Blick zu Boden und neigte den Kopf, während der Fürst ihn knapp musterte und wortlos in den Raum hinein schritt. Ryouichi schloss für einen Moment die Augen und versuchte den Schwindel zu verdrängen, der ihn zwar seit Tagen quälte, nun aber schier aberwitzige Ausmaße annahm – außerdem konnte er wenigstens so einen Moment ausblenden, was für ein erbarmungswürdiges Bild er in seinem einfachen, hellen Yukata auf bloßen Füßen abgab. Möglichst lautlos schob er die schwere Holztür zu und blieb mit durchgedrücktem Rücken und zurückgezogenen Schultern wie angewurzelt stehen. Sesshōmaru durchmaß das geräumige Erdgeschoss des zweistöckigen Hauses mit wenigen Schritten, inspizierte scheinbar belanglos die Inneneinrichtung und schenkte seinem Untergebenen so viel Aufmerksamkeit wie klarer, kalter Morgenluft. Der wäre nur allzu gern an Ort und Stelle im Boden versunken. Seit er aus dem Osten zurückgekehrt war, hatten die Heeresangehörigen ihm kaum eine ruhige Minute gelassen. Beinahe stündlich waren sie erschienen und hatten um Besprechung und Rat gebeten. Wegen der Fürstinmutter, den neuen Wacheinteilungen, die sich durch ihre Truppen ergaben, den Verlauf der Ostfrontkämpfe, dem Verbleib des Fürsten. Ryouichi hatte die Festung in Abwesenheit Sesshōmarus über Jahrhunderte verwaltet und verteidigt. Dass man ihn aus Gewohnheit um Rat ersuchte, wunderte ihn daher wenig. Dennoch hätte er es in den vergangenen Tagen vorgezogen, die Tür endgültig am Rahmen festzunageln – insbesondere dann, wenn die Sonne sich gerade erst scheu am Horizont angedeutet hatte. Wie hätte er ahnen können, dass der Fürst nach all den Jahren genau in dieser Zeit auf die Idee kam, ihn in seinen eigenen vier Wänden aufzusuchen?! Es fühlte sich nicht real an – und es war kein gutes Zeichen. Alles andere als das. „Wie kann ich Euch behilflich sein?“, erkundigte er sich schließlich förmlich und mit einer deutlich gefestigteren Stimme. Doch sein Gast schien damit beschäftigt, die Gegebenheiten seines Wohnraumes zu prüfen, statt sich mit den aufkeimenden Höflichkeiten des Hausherren abzugeben. Seine goldfarbenen Augen ruhten auf einem Ikebana aus blühenden Magnolienzweigen und Narzissen, das den langen Holztisch in der Mitte des Wohnbereichs zierte. Das Gesteck war äußerst sorgsam arrangiert worden, was es jedoch nicht vor dem allmählichen Welken bewahren konnte. Einige Blüten hatten sich bereits bräunlich und gewellt auf dem Tisch angesammelt, den eine hauchdünne Staubschicht bedeckte. Sesshōmaru ließ sich in einer eleganten Selbstverständlichkeit an besagtem Tisch nieder, dass man meinen konnte, er wohne seit einem guten Jahrtausend selbst in diesem Gebäude. Die Beine im lockeren Schneidersitz überschlagen, legte er eine Hand auf den Lacküberzug des alten Möbelstückes und tippte auffordernd mit der Klaue auf das in der Morgensonne schimmernde Holz. Ryouichi gehorchte, hielt trotz einiger Schmerzen mühevoll den Körper gerade und sank ihm gegenüber auf ein Kissen; kniend, die Hände ordentlich auf den hellen Stoff seines Yukatas abgelegt. „Darf ich Euch etwas anbieten?“ Die Miene seines Gegenübers verblieb steinern. „Neuigkeiten.“ „Die Kämpfe an der Ostfront sind zum Erliegen gekommen. Akio hat drei weitere seiner Leute an ihre Verletzungen verloren. Darunter den Sohn seiner Schwester. Tenseiga konnte die Zahl der Drachen wie erwartet eindämmen. Bisher liegen keine weiteren Sichtungen vor. Einen ausführlichen Bericht habe ich auf Euer Arbeitszimmer bringen lassen.“ „Darüber bin ich mir im Klaren. Wir wissen jedoch beide um Lücken in Berichten.“ Ein wenig beklemmt glitten Ryouichis dunkle Klauen über die Fasern seines Yukata. „Ihr wünscht?“ „Eure Meinung.“ Er strich beiläufig lose Haare aus seinem Schulterfell. „Deine Meinung.“ Ryouichis Kehle wurde mit einem Mal trocken wie Reispapier, während seine Adern auch die wiedergewonnene Farbe seiner Haut versacken ließen. Nervös strich er einige Strähnen seines schwarzen Haares zurück über die Schulter. Das waren keine Anweisungen, die man alltäglich bekam. Im Grunde war er seit Antritt dieses Postens nie um seine persönliche Meinung gebeten worden. Sichtlich unbehaglich hielt er sich mühevoll aufrecht und gehorchte. „Ich werde aus den Panthern in den vergangenen Monaten nicht schlau. Euch zum Kriegseintritt im Kampf gegen den Norden zu bewegen, hätte nur Sinn ergeben, wenn ein Handeln Eurerseits andere Völker dazu getrieben hätte, sich mit ihnen zu verbünden. Niemand muss Drachen darum bitten, Inu zu schlachten. Ich bin mir sicher, die Panther haben diese siechenden Biester wiedererweckt, wie sie es damals mit Tadahisa vorhatten, als Ihr sie gestört habt. Aber untote Drachen gegen den Westen, wenn sie doch wissen, was Tenseiga vermag? Sicher, wir haben sie vor einigen Jahren mit der Übernahme von Echigo und Uzen in die Enge gedrängt. Es ist nur logisch, dass sie sich wehren. Aber alles was nach ihrer Niederlage im Norden passiert ist, scheint mir von Übersprungshandlungen durchzogen. Verletzte Katzen sind unberechenbar. Karans Tod und Shunrans Entstellung werden sie nicht schnell vergeben – und dennoch glaube ich, etwas an ihrer neuerlichen Rache lief nicht nach Plan, weshalb sie auf die Drachen zurückgegriffen haben. Das ist selten dämlich, selbst für sie, aber eine andere Erklärung habe ich nicht.“ „Ihre Beweggründe sind mir gleichgültig“, erwiderte der Fürst ungerührt. Ryouichi musterte ihn einen Moment forschend, dann nickte er einsichtig, auch wenn es eigenartig war, dass Sesshōmaru ihn hatte aussprechen lassen, auch wenn ihn all das nicht interessierte. Für gewöhnlich tendierte er in solchen Momenten zu harschen Unterbrechungen, um sich uninteressantes Geschwätz zu ersparen. „Ich verstehe“, erwiderte der Generalleutnant. „Nun, wenn es um diese Belange geht: Ihre Schlagkraft ist bestenfalls mittelmäßig. Ihre Bedrohung liegt allein in der Tücke. Sobald sie sich uns im offenen Kampf stellten, bin ich sicher, dass ich sie mit den Truppen allein zerschlagen könnte. Nur diese Drachen.. sie sind dutzende Male wiedererstanden. Gleich, wie oft wir sie vernichtet hatten. Ohne Tenseiga ist jeder Feldzug gegen diese Bestien chancenlos. Wenn sie unsere Patrouillen dort draußen abpassen, verlieren wir jeden ausgesandten Mann.“ Er seufzte leise, spannte die schmerzenden Muskeln an und atmete gedehnt aus. „Ihr könnt mit Tenseiga nicht überall sein. Das werden sie ausnutzen, wie sie es bisher auch getan haben, aber nun sind wir darauf vorbereitet. Solange tote Echsen und biestige Katzen unsere einzige Sorge darstellen, dürfte das Problem effizient und zeitnah aus der Welt zu schaffen sein.“ Stille kehrte ein, als Ryouichi geendet hatte und nachdem er einige Minuten vergeblich darauf gewartet hatte, dass sein Fürst sich zu einer Erwiderung herabließ, schaute er auf und sah in Sesshōmarus ausdrucksloses Gesicht. Der kalte Goldton in den Augen des Taishōs wirkte bei näherer Betrachtung sonderbar matt, so als habe er seit Monaten nicht mehr geschlafen. Allmählich beschlich Ryouichi eine finstere Vorahnung. „Sie sind doch unsere einzigen Sorgen?“ Sesshōmaru entgegnete darauf nichts und ließ die Fingerkuppen gemächlich über die dünne Staubschicht wandern, die sich auf dem Tisch abgelagert hatte. „Wo ist deine Frau?“, erkundigte er sich schließlich tonlos und ohne von den feinen, grauen Partikeln aufzublicken. Ryouichis Innereien vollzogen einen spontanen Knoten. Womit hatte auch gerechnet? Dass ihm je ein Detail wirklich entgehen würde? Eines ignorierte er jedoch offensichtlich mit Absicht. „Sie ist nicht meine Frau“, hielt er sehr verhalten gegen, versuchte dabei möglichst nicht belehrend zu klingen und die eigentliche Frage dennoch zu umschiffen. Er war niemandem Rechenschaft schuldig – außer ihm. Dummerweise. Die plötzlich wieder eiskalten Augen des Inu no Taishōs trafen seine wie ein Wintersturm und erübrigten jede Wiederholung der Frage. „Sie fühlt sich in meiner Nähe zurzeit nicht wohl.“ Die emotionslose Miene des Fürsten entglitt mit einem Mal in einen absonderlich finsteren Ausdruck. „Lächerlich“, erwiderter er in einer Monotonie, die seiner Erscheinung vollkommen widersprach. „Ich kann es ihr nicht verdenken, immerhin-“ „Es ihr nicht verdenken?“ Ein Knurren schüttelte zwei wehrlose Magnolienblüten, die sich gerade noch eisern an dem schrumpeligen Ast gekrallt hatten, kläglich zu ihren Brüdern in den Staub. „Bist du noch bei Sinnen?“ „Sie versucht nur ihr Kind zu beschützen.“ „Vor dir? Unfug.“ Sesshōmaru lehnte sich zurück und betrachtete Ryouichi beinahe abschätzig. „Dann lässt sie das Mädchen nicht zu dir?“ „Ich bin nicht ihr Vater. Ich habe kein Recht-“ Ein abwertendes Schnauben unterbrach ihn mitten im Satz: „Du hältst diese Gossenhündin und ihren Welpen seit zwölf Jahren auf deine Kosten aus ohne etwas zu fordern.“ „Ihr habt nicht gesehen, was auf dem Schlachtfeld passiert ist. Ihr würdet anders denken, wenn es so wäre.“ Ryouichi erinnerte sich nur noch dunkel und mit Grauen an den Augenblick, an dem alles an Bedeutung verloren hatte, das nicht mit dem Untergang seines Gegners in Verbindung stand. Er wusste nicht, was er genau getan hatte – das wusste er nach derartigen Zuständen nie –, doch seither kamen nur noch Personen zu ihm, die selbst am Kampf nicht beteiligt gewesen waren. Er spürte, wie die Übrigen im Innern vor ihm zurückwichen, wenn er sie ansah, und das letzte freundliche Lächeln in ihrem Angesicht schmolz wie dünnes Eis in der Sommerhitze. Setsuko war während des Kampfes in seiner Nähe gewesen – und hatte noch vor seiner Rückkehr von Akios Anwesen, in dem er sich zumindest bis zur Reisefähigkeit auskuriert hatte, mit Kanae das Haus verlassen. Sesshōmaru musterte ihn bereits eine Weile still, dann schüttelte er eigenartig deutlich den Kopf: „Narr. Hat Shisuna dein Selbstwertgefühl mit dir gehäutet?“ Ryouichi wurde auf einen Schlag aschfahl und starrte Sesshōmaru an, als habe der ihn gerade über den Tisch hinweg mitten ins Gesicht geschlagen. „Bevor diese Drachen Hand an dich gelegt haben, hättest du das Frauenzimmer nicht kampflos auswandern lassen, sondern an den Haaren zurückgeschleift - und wenn es nur wegen des Mädchens gewesen wäre. Du hattest zwar schon immer einen Hang dazu, dich niedriger darzustellen als nötig, aber deine submissive Art gegenüber jedweder Schmähung ist lachhaft. Auf dir liegt weder ein Fluch noch stellst du ein Risiko dar.“ Ryouichi lächelte plötzlich schief. „Tatsächlich nicht? Ich habe über zwei Jahrhunderte gebraucht, um mich wieder einigermaßen sicher unter Leuten zu bewegen und nochmal ein halbes mehr, um die Aussetzer auszumerzen – und all das an einem Tag fortgeworfen. Ich kann mich nicht einmal selbst kalkulieren. Ihr tätet wohl daran, mich meinen Ämtern zu entheben und fortzujagen, statt eine Bestie mit Eurem Sohn arbeiten zu lassen.“ Sesshōmaru schien seine Antwort abzuwägen, aber allein dass der Fürst ihm nicht direkt für diesen belehrenden Vorschlag zurechtgewiesen hatte, hinterließ bei Ryouichi einen sonderbaren Beigeschmack. „Warum seid Ihr wirklich hier?“, fragte er schließlich und ließ nun auch die Schultern sinken. „Ihr ersucht mich sonst weder um Gesellschaft noch um Meinungen. Diese Zeiten sind lange vorbei.“ Der Friede war so weit entfernt wie an jedem anderen Punkt in ihrem Leben. Die derzeitige Situation bedurfte keiner außergewöhnlichen Regelung, selbst wenn Untote involviert waren. Gleichgültig welche Völker sich ihnen entgegenzustellen suchten, sie würden sie zerschlagen. So war es seit den Anfängen, als Akaya die Inu noch selbst in die Schlacht geführt hatte, und so würde es bleiben, bis sie mit gebleckten Fängen untergingen oder den entgültigen Sieg davontrugen. Sein Fürst konnte ihn unmöglich wegen einer solch belanglosen Besprechung aufgesucht haben – dafür hätte er ihn im Normalfall nicht einmal in den Palast kommen lassen. Sesshōmarus Blick ruhte auf ihm, doch Ryouichi bemerkte mit einem Anflug von Unruhe, dass der Taishō viel eher damit beschäftigt schien, die Umgebung zu prüfen. Er tat es ihm gleich, doch bis auf den Schmied, der in einiger Entfernung den Stahl bearbeitete und entfernte Gespräche war in dem Haus am Ende der Straße nichts zu vernehmen. Sesshōmaru schien derselben Meinung zu sein. Er betrachtete den Chūyō mit einem abwägenden Ausdruck, erst dann erhob er erneut ruhig das Wort: „Auf dem Weg von der Ostfront nach Musashi bin ich Jikan begegnet und habe sein Angebot angenommen.“ „Minoru hat dem tatsächlich zugestimmt?“ Der Generalleutnant schaute ein wenig ungläubig drein. Er konnte sich nicht vorstellen, warum ein misstrauisches Kind wie er sich in die Hände eines völlig Fremden begeben sollte. „Ich habe ihn darum gebeten“, sagte Sesshōmaru ernst, wenig begeistert davon, dass Ryouichi seinen Sohn so treffsicher einzuschätzen vermochte, obwohl er lediglich Trainingsstunden mit ihm absolviert hatte. „Er wird den Westen führen. Er wird gegen sie ins Feld ziehen.“ „Gegen Jikan?“, die schwefelgelben Augen des Generalleutnants waren von Zweifeln durchzogen. „Sie haben keinen Landbesitz und tun niemandem etwas zuleide. Warum sollte jemand Groll gegen sie hegen?“ „Er wird seine Gründe haben, wenn es soweit ist“, entgegnete Sesshōmaru. „Wenn es soweit kommt.“ „Die Zukunft, die sie zeigen, ist endgültig. Es wird dazu kommen.“ „Ist dem so?“ „Die Berichte sind in dem Punkt unstrittig.“ Ryouichi strich beiläufig eine Falte aus seinem Yukata, dessen loser Stoff drohte, von seiner Schulter zu gleiten, seitdem er die Spannung aus den Muskeln genommen hatte. Verfluchter, kratzender Fetzen! Yūseis Arbeit würde nie auch nur einen Fingerbreit von ihrer angedachten Stelle weichen. Aber er hatte seine Kleidung im Kampf derart zerfetzt, dass auch der Schneider sie nicht mehr retten konnte – und dafür gleich eine gehörige Ohrfeige kassiert, die ihn in seinem wenig strapazierfähigen Zustand ohne Umschweife zu Boden gebracht hatte. Generalleutnant hin oder her, dem einstigen Lehrmeister beichtete man besser etwas vorsichtiger, wenn man seine aufwendigen Stücke vernichtete. Nun musste er warten, bis Yūsei sich seiner erbarmte und ihm einen neuen Kimono anpasste. „Wir wissen beide um die Lücken in Berichten“, wiederholte Sesshōmaru seine Worte steif. „Sie jedenfalls halten es für sehr wohl möglich, die Zukunft zu ändern und machen davon Gebrauch. Ich sollte ihn töten.“ Ryouichi hob den Blick von seinem Yukata und starrte den Taishō ungläubig an, als habe der den Verstand verloren. „Du solltest ihn... er hat das verlangt? Aber der Junge lebt. Er ist hier. Warum – oh bitte, sag nicht, du hast sie umgebracht!“ „Einen von ihnen.“ Ryouichi trieb die Klauen in seinen Yukata, bis sie sich schmerzhaft in seine Oberschenkel gruben. Er machte den Mund auf, schloss ihn wieder und schüttelte verzweifelt den Kopf, ehe er die Finger beim Geruch seines eigenen Blutes entspannte und die Klauen aus dem Fleisch zog. „Das ist Wahnsinn! Selbst für dich! Niemand hat bisher gewagt einen von ihnen – wer weiß davon?“ „Du.“ Ryouichi bettete den Kopf in den Händen, von denen in dünnen Fäden das Blut wie roter Lack hinabrann, und brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Er war Einiges gewohnt, aber das war eine vollkommen unbekannte Größenordnung: Niemand wusste, wie alt Jikan wirklich waren und wie weit sich ihr Einfluss erstreckte. Es war kein Gegner, den er je hätte abschätzen können, keiner, mit dem er sich überhaupt jemals eingelassen hätte. Aber wenn sie von ihm verlangt hatten, Minoru zu töten... wenn man verlangt hätte, Kanae umzubringen... . Er ließ die Hände sinken, kämmte sein rabenschwarzes Haar mit den Klauen über die Stirn zurück und musterte seinen Fürsten ernst. „Wenn sie ihn ohnehin schon tot sehen wollten, werden sie nun nicht die Hände in den Schoß legen. Wenn sie nicht selbst agieren, werden sie andere anstiften, aber dann sind wir genau da wo wir vorher immer waren – jeder will den Erben des Westens tot sehen. Nun, in dem Spiel hatten wir bisher immer den längeren Atem, nicht wahr?“ Er lächelte mild, doch seinem Gegenüber fiel es bei den Worten sichtlich schwer, eine ungerührte Miene zur Schau zu tragen. Er strich mit einiger Mühe das Schulterfell glatt, dass sich in feinsten Härchen aufgerichtet hatte. „Den längeren Atem“, wiederholte er leise, dann ließ auch er die Schultern sinken und lehnte sich ein wenig zurück. Sein Blick schweifte erneut durch den Raum und blieb schließlich doch wieder auf Ryouichi ruhen. „Ich schulde dir mein Leben.“ „Du schuldest mir rein gar nichts“, erwiderte der schroff. Sein Lächeln verflog so schnell, als habe es von vorne herein nie existiert. Etwas im Ausdruck des Fürsten verfinsterte sich, doch bevor Sesshōmaru Widerspruch erheben konnte, schnaubte sein einstiger Freund leise. „Sag das nie wieder. Das ist, als wolltest du mich für etwas bezahlen, das keine Währung kennt.“ Beklemmende Stille. Das fortwährende Hämmern aus der nahegelegenen Schmiede drang plötzlich unversöhnlich und eigentümlich laut zu ihnen hinein. Ein dröhnendes Crescendo von Metall auf Metall, das allmählich unerträglich wurde. Sie betrachteten sich stumm, bis schließlich Ryouichi den Blick abwandte. Er stützte die Ellen auf den Tisch und legte den Kopf unter einem leisen Seufzen schwerfällig in die Handflächen. Sein dunkles Haar schimmerte rötlich, wo seine Hände zuvor feine Blutspuren an den Strähnen hinterlassen hatten, die allmählich trockneten. „Warum sprechen wir jetzt darüber?“, flüsterte er gequält. „Es ist vorbei. Lange vorbei.“ Als er die Hände sinken ließ, wirkte er so müde und kraftlos, wie die Schlacht ihn zurückgelassen hatte. Sorgsam faltete er sie auf dem Tisch, um zumindest das unkontrollierte Zittern seiner Glieder zu unterdrücken. „Sobald ich einigermaßen genesen bin, setze ich Minorus Stunden fort“, hob er mit fester Stimme an. „Allerdings bitte ich um Erlaubnis, die Grundlagen erweitern zu dürfen.“ Der Westen hielt spätestens seit der Rückkehr Sesshōmarus die Oberhand. Niemand, abgesehen von diesen grenzdebilen Katzen, wagte es, gegen den jungen Inu no Taishō ins Feld zu ziehen oder ihn auch nur zu kränken. Über die Jahre seiner Abwesenheit, in denen er allein durch die Lande gestreift war, hatte vermutlich auch der letzte Narr begriffen, dass es keine besonders zuträgliche Idee war, diesem Mann in irgendeiner Weise aufzufallen – und erst recht nicht in negativer. Jedem war bewusst gewesen, dass dieser Zustand mit der Geburt eines Erben ins Wanken geraten und eine Neupositionierung erfolgen würde. In dem Zusammenhang war es bei aller Schmach sogar zuträglich, dass Minoru nun erst in Erscheinung trat. Er war kein wehrloser Säugling, das musste sich auch Ryouichi immer wieder bewusst machen. Man vergaß zu schnell, dass er vier Jahre ohne jegliche Hilfe allein überlebt hatte, was in diesen Wäldern zugegebenerweise eine Leistung war; auch dann, wenn er Kämpfe dabei gemieden haben mochte. Da er von Grund auf misstrauisch war, würde man ihn vermutlich nicht gesondert darauf hinweisen müssen, dass sein Kopf eine gern gesehene Trophäe darstellte. „Zu viel Macht in zu jungen Jahren -“ „- verdirbt das Gemüt“, endete Ryouichi für ihn und zwang sich ein schiefes Lächeln ab. „Dieser Satz aus deinem Mund. Sag Bescheid, wenn du daran zu ersticken drohst.“ „Mein Vater hatte recht“, erwiderte der Fürst ernst. „Wann hatte er das mal nicht? Aber Minoru ist nicht für Stahl gemacht. Er wird mit der Zeit lernen, eine Waffe nicht mehr als Fremdkörper zu betrachten, doch bis dahin halte ich es für effizienter und sicherer, wenn wir seine Stärken ausbauen statt ihm zusätzlich neue Wege aufzubürden. Ich werde darüber hinaus die Wachen neu instruieren. Keiner nähert sich der Festung unbemerkt. Eine Verstärkung der Patrouillen halte ich jedoch erst nach Beseitigung der Drachen für sinnvoll. Wir sind zu wenige, um uns sehenden Auges ausbluten zu lassen.“ Es war ein nachdenklicher Blick, den der Fürst ihm schenkte, dann nickte er schließlich und erhob sich. „Ich verlasse mich auf dich.“ Ryouichi stand ebenfalls auf und verneigte sich umgehend tief, doch er bemerkte zu spät, dass sein Körper diese automatischen Bewegungsabläufe verweigerte. Er schwankte leicht und trat zwei Schritte zurück, um den Rücken an die Wand lehnen zu können. „Narr. Du gehörst ins Bett“, schalt Sesshōmaru ihn scharf, während Ryouichi sich bemühte, mehr als ein Gewirr tanzender, dunkler Flecken wahrzunehmen. Als der Schwindel wenige Augenblicke später verflogen war, war der Fürst bis auf wenige Schritte herangetreten, zog sich nun jedoch wieder zurück. „Du kommst zurecht, nehme ich an?“ „Ja, Herr.“ „Gut. Rin wird später nach dir sehen.“ Damit war er bereits zur Tür hinaus. Der Holzrahmen gab nicht einen Ton von sich, als das Schiebeelement auf ihn traf. Ryouichi ließ sich an der Wand hinuntersinken und schloss erschöpft die Augen. Er hatte ihm nichts mitteilen können, das seinem Fürsten nicht ohnehin schon ersichtlich schien, dessen war Ryouichi sicher. Und auch wenn es ein verstörender Gedanke war, so wurde er doch das Gefühl nicht los, dass Sesshōmaru dies von Anfang an bewusst gewesen war. Prüfend ließ Kaito die Handfläche abermals über den Griff seines neuen Schwertes gleiten. Sein Vater hatte vor wenigen Tagen beschlossen, dass ein Wakizashi mit kaum mehr als einer Elle Länge keine geeignete Waffe für einen Heranwachsenden sei und das Katana prompt auf einen Markt erstanden. Es war angenehm schwer und nach allem, was Kaito von Tōtōsais Kurzeinführung der Schmiedekunst behalten hatte, nicht einfach aus einem Stück gegossen, sondern zumindest einige Male gefaltet worden. Der Klingenrücken war mit einigen tiefen Kerben versehen, was darauf schließen ließ, dass die Waffe an dieser Stelle nicht gehärtet worden war und nur die Seitenflächen durch das Hauteisen geschützt wurden. Was zunächst wie ein Nachteil klang, war eine spitzfindige Konstruktion, die die Klinge flexibler machte und so unter anderem erlaubte, dass ihr Anwender den Klingenrücken ohne Furcht vor einem Bruch des Schwertes zur Parade führen konnte. Kaito hätte seinen Vater nicht um ein neues Schwert gebeten – schon gar nicht um ein solches. Er wusste, wie teuer guter Stahl in Kriegszeiten war, und selbst wenn die Menschen allmählich einen dünnen Frieden untereinander aufbauten, so hatten sich die Preise von den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erholt - und seine Familie war alles andere als reich: Zwar besaß seine Mutter das Wissen und die läuternden Fähigkeiten einer Priesterin, doch durch ihren Mann und ihre Kinder, sowie einen Mangel an tiefgründiger Spiritualität, übernahm sie im Dorf eher die Aufgaben einer Heilerin als die einer Miko. Ein Unterschied im öffentlichen Ansehen, denn finanziell war es um beide Tätigkeiten nicht besonders gut bestellt. So sorgte sein Vater für den Lebensunterhalt der gesamten Familie, was dieser als „altbewährt und gut“, seine Mutter jedoch als „vollkommen rückständig“ bezeichnete - manchmal war es doch sehr deutlich, dass sie aus zwei vollkommen unterschiedlichen Epochen stammten. Während nun Honoka an der Seite ihrer Mutter in den Genuss botanischer Grundkenntnisse und neuartiger Prinzipien wie Emanzipation kam, hatte Kaito bereits in jungen Jahren begonnen, seinen Vater auf dessen Jagden zu begleiten; zunächst nur als unbeteiligter Zuschauer, später dann mit eigenen Aufgaben. Zu Beginn hatten seine Eltern des Öfteren noch über die Notwendigkeit gestritten, ein Kind in solche Unternehmungen einzubeziehen, sein Vater war jedoch in dieser Angelegenheit unerbittlich gewesen. „Ich habe als Kind genug unter meiner Hilflosigkeit gelitten. Wenn er kämpfen will, wird er es verdammt nochmal lernen! Irgendwann muss er auf eigenen Beinen stehen und sich selbst helfen, Kagome. Wir leben auch nicht ewig! Außerdem ist es mir lieber, wenn er von mir lernt, bevor er irgendeinen Unsinn treibt.“ Kaito legten sich bei der Erinnerung an diese Worte die Ohren an. Seine Eltern waren stets bemüht gewesen, ihn von ihren Disputen möglichst wenig spüren zu lassen, aber an dem Abend war die gepresste Wut seines Vaters unüberhörbar gewesen. So gab Inuyasha sich jedes Mal, wenn er an seine Kindheit zurückdachte und nicht gerade dazu tendierte, in Schweigen zu verfallen. Kaito hatte aus eben diesem Grund nie genauer nach dieser Zeit gefragt. Vermutlich hätte er sogar eine ausweichende Antwort, an guten Tagen sicherlich sogar einige erklärende Sätze zu hören bekommen, doch er wollte keine alten Wunden aufreißen. Ihm reichte, was seine Mutter ihm erzählt hatte: Dass die Mutter seines Vaters früh verstorben und er nach ihrem Tod ganz auf sich allein gestellt gewesen war. Das zu begreifen war Kaito bereits vor Jahren erschreckend leicht gefallen. Die meisten Mütter waren dazu bereit, ihr Kind ungeachtet seiner Eigenarten zu lieben; bei einer Dorfgemeinschaft musste man von Glück sprechen, wenn sie den Han'yō nicht schnellstmöglich nach dem Verscheiden seiner Mutter ertränkten. Schleierhaft blieb jedoch, wie sein Vater dennoch allen Widrigkeiten zum Trotze zum Erwachsenenalter gelangt war. Seine Mutter hatte auch dafür eine formschöne Erklärung parat gehalten: „Weißt du, Liebling, es gibt sture Persönlichkeiten und es gibt deinen Vater. Mit dem Tod verfährt er ebenso stiefmütterlich wie mit Hausarbeit: Wenn er nicht will, will er nicht.“ Das mochte stimmen oder auch nicht, in jedem Falle hatte sein Vater dennoch das Entscheidende bereits zuvor erkannt: Er mochte mittlerweile selbst hochrangigen Dämonen ohne Weiteres das Fürchten lehren, weshalb es für ihn auch überhaupt nicht zur Debatte stand, ob er seinen Sohn während der Arbeit beschützen konnte, aber auch er würde nicht ewig leben. Keiner seiner Eltern – und das war eine Nachricht, die Kaito noch immer Schauer über den Rücken trieb. Als kleiner Junge hatte er nicht wahrhaben wollen, dass seine Eltern eines Tages einfach so fort sein könnten. Doch mit den Jahren hatte er verstanden, dass es auch seinem Vater nicht möglich war, jeden Feind zu bezwingen: Gegen das Alter waren sie machtlos und mit der Zeit würde es sich vor allem bei seiner Mutter bemerkbar machen. Für seine Geschwister, seinen Vater und ihn waren einhundert Jahre eine überschaubare Spanne, auch wenn er sich das bisweilen noch nicht vorzustellen vermochte. Seine Mutter hingegen würde dieses Alter sehr wahrscheinlich nicht einmal erreichen. Vielleicht hatte sie auch unter diesem Aspekt im Streit um seine Erziehung Einsicht gezeigt. Es hatte zwar noch eine Weile gedauert, bis sie bereit gewesen war, dem stählernen Klirren der Übungskämpfe oder ausschweifenden Erzählungen über erlegte Dämonenratten mit Nachfragen und lächelnd zu begegnen, doch schlussendlich schien auch sie froh darüber, nicht jedes Mal in Sorge verfallen zu müssen, wenn sich ihr Ältester aus ihrem Blickfeld entfernte. So froh, dass sie sogar begonnen hatte, Honoka und ihm den Umgang mit dem Bogen näher zu bringen. Doch Kaito wusste, dass sie sich für ihn kein Leben inmitten von Schlachten und Tod wünschte. Für sie würde er vermutlich stets ihr kleiner Junge bleiben, der unter ihren zum Nichtstun verdammten Augen zusehends ungefragt älter geworden war – dafür war sie nun einmal seine Mutter. Im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen war er ihr dankbar für die ehrliche Sorge und den Zwiespalt zwischen Friedenswünschen und Kampfessinn, zeigten sie doch nur überdeutlich, dass er ihr nicht gleichgültig war. Ebenso hätte er gern seinem Vater von Herzen für die neue Klinge gedankt, doch war diese wahrscheinlich wohlgemeinte Geste von Beginn an von derzeitigen Ereignissen überschattet worden. Kaito sträubte sich gegen den undankbaren Gedanken, kam jedoch nicht umhin, zu glauben, sein Vater habe ihm diese Aufmerksamkeit zu großen Teilen auch als Beschwichtigung zukommen lassen. Nach dem blutigen Zwischenfall mit Saki waren seine Eltern mit den anderen übereingekommen, dass es sinnvoll sei, Abstand zwischen die Fronten zu bringen. Was bedeutete, dass Kaito zum ersten Mal allein mit seinem Vater durch die Lande zog, während Miroku bei seiner Familie geblieben war. Nun war Kaito weder besonders erpicht darauf, die Zwillinge täglich wittern oder gar sehen zu müssen noch trauerte er Mirokus Gesellschaft tatsächlich hinterher, aber er konnte dennoch das Gefühl nicht überwinden, sehenden Auges ins Exil gestoßen worden zu sein – für diese verdammten Weiber! Und er wollte auch noch den Rest seines nun schändlich kurzen Haares dafür geben, wenn diese Zicken nicht längst einen ihrer Erzeuger dazu überredet hatten, mit ihnen ebenfalls loszuziehen. Allein. Ohne geschäftsschädigende Halbblut-Mischlinge. Hoffentlich erwiesen sie sich mit ihrer Überheblichkeit und ihren viel zu zögerlichen Reaktionen als herbe Enttäuschung und blamierten ihre Zunft bis auf die Knochen. „Sag schon, was du denkst.“ Bitte was? Kaito starrte seinem Vater einen Moment fassungslos ins das markante Gesicht. Dann begriff er allmählich, dass dieser nicht wirklich wissen wollte, was er den Zwillingen Diverses an den Hals wünschte, sondern lediglich wegen der Schilderungen der Dorfbewohner nach seiner Meinung fragte. „Er muss verflucht groß sein“, antwortete Kaito schließlich und ließ die Hand endlich vom Griff seines Schwertes rutschen. „Ich meine, den Beschreibungen zufolge muss es den Bauern beinahe zermalmt und seiner Frau den Kopf am Stück abgebissen haben. Dafür muss man schon eine gewisse Größe und zumindest Masse mitbringen. Es wäre sicher einfacher gewesen, wenn jemand den Dämon gesehen hätte. Aber so... schwierig. Immerhin stinkt es nirgendwo nach halbverwestem Drachen.“ Inuyasha verschränkte die Arme hinter dem Kopf und reckte sich ausgiebig, ohne dabei seinen Schritt entlang der Terrassen zu verlangsamen. Der Reis war noch nicht auf den Feldern. Obgleich es in Wasserbetten wuchs, weigerte sich das weiße Korn vehement auf allzu nassem Untergrund zu keimen, ganz zu schweigen davon, dass es im Moment noch deutlich zu kalt für die Pflanze war. Dennoch trieben sich auch in dieser Jahreszeit normalerweise Menschen auf den Feldern herum und gingen die Vorbereitungen für die Saat an. Nun waren jedoch sowohl die Terrassen, als auch das weite Tal, das sich vor ihnen eingerahmt von Bergketten erstreckte, wie ausgestorben. Und wer wollte es ihnen verdenken? Niemand wollte sich am späten Nachmittag in eine Gegend vorwagen, in der erst vor zwei Tagen Menschen auf bestialische Weise getötet worden waren; nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. „Keine Drachen“, bestätigte Inuyasha. „Die haben die Schnauze voll. Ich möchte trotzdem wetten, dass unser Freund nicht viel lebendiger ist.“ Kaito beschleunigte seinen Schritt bergab und schloss zu seinem Vater auf. Mit fragender Miene schaute er zu ihm auf, was jedoch mit einem höchst unerfreuten Ausdruck quittiert wurde. „Du hast Miroku doch sonst immer aufmerksam zugehört, oder etwa nicht? Ich dachte, du wärest längst selbst darauf gekommen.“ Kaito, der sich seit ihrem Aufbruch aus dem betroffenen Dorf vor gut einer halben Stunde tatsächlich herzlich wenig mit dem eigentlichen Problem befasst hatte, wich dem harten Blick seines Vaters aus – der bitteren Stimme entging er dennoch nicht: „Hast du eigentlich in letzter Zeit nur Stroh im Hirn? Konzentrier' dich auf das Wesentliche, solange es nötig ist. Danach kannst du von mir aus wieder Trübsal blasen, bis es dir selbst zum Hals 'raushängt. Aber solange wir einen Dämon jagen, der einen Mann zu Mus verarbeitet und seiner Ehefrau ungeniert den Kopf abkaut, wirst du gefälligst bei der Sache bleiben!“ Kaito ging eine sehr bissige Erwiderung durch den Sinn, dann jedoch trat er lediglich einen Stein wütend von sich, der ein wenig unrund hinab ins Tal stolperte und sich schließlich doch nur in einigen Sträuchern am Wegesrand verfing. Inuyasha stöhnte entnervt und arbeitete insgeheim an einer Methode, diese Launen für die nächsten paar Jahre auszuhalten, ohne sich dabei irgendwann die Haare strähnenweise auszuraufen. Kagome nannte es „Pubertät“, aber was half es, für diesen Fluch einen Namen zu finden? Wenn er sie richtig verstanden hatte, wurden alle Kinder in Kaitos Alter davon befallen – und er hatte drei! Ein leises Knurren entrang sich seiner Kehle und verpuffte in einem Seufzen. Vielleicht war es mit Mädchen anders; vielleicht würde Honoka einfach seine gutmütige, anständige Tochter bleiben und Yayoi sich zu einem fröhlichen Kind entwickeln – während sein Sohn ihm vorab den letzten Nerv in Fetzen riss. Er war unerträglich launisch, reagierte auf jedes erdenklich falsche Wort mit bissigen Antworten und hatte an allem etwas auszusetzen. Dazu sein leicht reizbares Gemüt und diese verdammte Streitlust gegenüber jedem, der sich ihm auch nur im Ansatz entgegenstellte. Es war nicht auszuhalten! Wütend betrachtete er seinen Sohn aus den Augenwinkeln, der schweigend neben ihm innegehalten hatte und endlich die Talsenke unterhalb der Terrassenanlagen in Augenschein nahm, in der ein breiter Fluss, gespeist vom letzten Schmelzwasser aus den Hochlagen, schnell und dunkelbraun dahinströmte. Die tiefgoldenen Augen des Jungen arbeiteten sich von einem Hang zum nächsten, taxierten gewissenhaft das Flussufer und einige einsam stehende Bäume. Inuyashas Ärger löste sich bei dem Anblick allmählich in einem erstickendem Gefühl von Schwere auf. Kagome hatte auf seine Klagen, die er über Kaitos neue Verhaltensweisen geäußert hatte, mit verhaltenem Gelächter reagiert und ohne Umschweife geantwortet, dass der Sohn nun einmal nach seinem Vater schlage. Diese Tatsache hätte Inuyasha niemals abgewiesen. Kaito war von Kindesbeinen an in vielerlei Hinsicht sein Abbild gewesen, doch was Kagome an diesem Umstand in dem Moment nicht begriffen hatte, war, dass all die harten und launischen Reaktionen, die Inuyasha selbst oft an den Tag legte, daher rührten, dass ihm als Kind keine andere Möglichkeit geblieben war. Keine, die er gekannt hätte. Als Kagome ihm vor vielen Jahren offenbart hatte, dass sie ein Kind von ihm erwarte, hatte er ihr und seinem ungeborenen Sohn versichert, alles in seiner Macht stehende zu tun, um für seine Familie zu sorgen, sie zu beschützen und ihnen ein Leben zu ermöglichen, wie er es sich so oft gewünscht hatte. Er hätte gern alles Übel der Welt von seinen Kindern ferngehalten, ihnen die Dinge im Guten vermittelt, die er so hart hatte lernen müssen – doch mit welchem Erfolg? Kaito hatte sich verändert. Kaito, der einst jedem frohsinnig und aufgeschlossen begegnet war, Leben in alle Häuser des Dorfes gebracht hatte und regelmäßig in seinem Schoß eingeschlafen war, obwohl er felsenfest vorgab, überhaupt noch nicht müde zu sein, distanzierte sich von allem. Er fiel in Muster, die Inuyasha von sich nur allzu gut kannte. Streitlust, Zynismus, Abneigung; der Wunsch anders sein zu können, das Leben in seinen Grundzügen zu ändern. Nun war sogar Honoka davongelaufen. Sein besonnenes Mädchen hatte die Fassung verloren und war ohne ein Wort verschwunden. Ausgerechnet zu seinem Halbbruder, der sich nie um ihn geschert hatte. Dafür brauchte es mehr als eine einmalige, unbesonnene Aussage der Zwillinge. Kein Erfolg. Nein. Er hatte sie enttäuscht. Sie alle. Statt ihnen ein sicheres, schönes Leben zu ermöglichen, hatten er und Kagome Schandensbegrenzung betrieben. Hatten ihrem Sohn die Gebetsperlen umgelegt, um ihn zumindest davon abhalten zu können, sich in einem Zustand der Rage zu etwas hinreißen zu lassen, das er sich selbst nie vergeben würde. Wie konnte er sich erlauben, wütend auf den Jungen zu sein, wenn er doch selbst versagt hatte, derartig schmerzhafte Erfahrungen von ihm abzuwenden oder ihm zumindest zu vermitteln, dass die Welt nicht nur schwarz war? Warum hatte er das nicht früher bemerkt? Warum hatte ausgerechnet dieser lächerliche Wicht von einem Welpen - „Vater.“ Inuyasha knirrschte ungehalten mit den Zähnen und sah seinen Sohn gereizter an, als er es beabsichtigt hatte. „Was?“ „Du bist nicht bei der Sache.“ „Woher willst du das denn schon wieder wissen?“ „Na ja... ist so eine Eingebungssache“, hob Kaito unschuldig an, dann zuckte er beiläufig mit den Schultern als bedeute die gezogene Waffe in seinen Händen rein gar nichts. „Ich dachte lediglich, dir wäre sonst sicher aufgefallen, wenn ein meterhohes Skelett auf uns zuhält. Und bevor du fragst: Es ist auch reine Eingebung, dass es nicht nur nett plaudern möchte.“ Inuyasha starrte ihn für einen Moment verdutzt an. Dann fühlte er sich unmittelbar ertappt. „Klugscheißer“, schnarrte er seinem Sohn zu und zog Tessaiga mit einem energischen Ruck aus der Magnolienholzscheide, während sich zu seiner Rechten bereits ein knöcherner Fuß von den Ausmaßen eines Holzkarrens in den feuchten Boden der Reisterrasse hievte. Höhnisch rasselten die Knochen lose aneinander entlang und verbreiteten mit einem Mal einen Lärm, den sicherlich noch der taube Großvater drei Dörfer weiter hätte wahrnehmen müssen. Hier hielt sich jemand für besonders witzig! Inuyasha schnaubte wütend und schwor diesem Dämon insgeheim, ihm für diese Unterbrechung jeden seiner gigantischen Knochen einzeln zu zerschlagen – indes Kaito hinter ihm ein amüsiertes Glucksen entglitt, bevor er an seinem Vater vorbeizog, um den Kampf zu eröffnen. Inuyasha starrte ihm einen Augenblick mit offenem Mund nach. Wie konnte dieses Kind bei so etwas ruhig bleiben, während er bei einfachen Unterhaltungen schneller aus der Haut fuhr als eine Natter? Das hatte er eindeutig nicht von ihm! Kapitel 37: der nichts als Kummer birgt. ---------------------------------------- Auch wenn er innerlich vor Wut kochte, war Myōga vom Angstschweiß immer noch ganz kalt, als er auf der schmalen Ostmauer saß und schnauben auf Minoru hinabsah. Noch vor einigen Stunden war er im nächtlichen Palast erwacht und hatte erleichtert aufgeatmet, als er den Jungen tief schlafend neben sich vorgefunden hatte. Es grenzte an Hexenwerk, dass er seinem dürftigen Anstand zum Trotze wohlauf war, aber derartige Geschenke hinterfragte man nicht. Nur wenige Stunden später war Myōga erneut aufgewacht, hatte seine schmerzenden Glieder gestreckt, die Augen aufgeschlagen und – verschwunden! Der Bengel war wie vom Erdboden verschluckt gewesen! Eine Lappalie, wie er zunächst angenommen hatte. Doch diese leise flackernde Hoffnung war mit einem Sturzbach gelöscht worden, als eine Schar Damen der Fürstinmutter sich leise tuschelnd auf den Gängen darüber ausgetauscht hatte, was genau Minoru ihrer Herrin am Vorabend an den Kopf geworfen hatte. Taishō! Nichts geringeres als einen öffentlichen Anspruch auf den Titel hatte er proklamiert! Was hatte er sich nur dabei gedacht?! In dem Moment war für Myōga das Grauen perfekt geworden: Wenn der Junge erst begriff, in welche Lage er sich damit manövriert hatte, wäre er schneller fort als Myōga eine passende Möglichkeit einfiel, diesen Umstand dem Fürsten in einer Weise zu erklären, die ihm den winzigen Kopf erhielt. Also hatte er begonnen nach Minoru zu suchen. Weder in der Küche noch den weitläufigen Gärten oder auch auf den geharkten Sandplätzen der Trainingsflächen im Honmaru war eine Spur von ihm auszumachen gewesen. Schließlich, als Myōga am Rande der Verzweiflung gewankt war, hatte er ihn gefunden: Einen Arm unter den Kopf gelegt, den anderen schwindelerregende vier dutzend Meter über der Oberfläche des Sotobori in der Luft baumelnd, lag Minoru ausgestreckt auf der Ostmauer hoch über den Siedlungen des ersten Wehrkreises, der unter ihm allmählich erwachte. Oh, kein Zweifel, dass er längst nicht so tief schlief wie es den Anschein machte. Myōga verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte wütend auf den dunklen Stein unmittelbar neben Minorus Ohr, um seinem Ärger Luft zu machen. Allzu große Hoffnung, damit etwas zu bewirken, durfte er sich nicht machen, aber der Junge musste ihn gehört haben. Dafür war sein Gehör zu fein. Zu – bitte was? Minoru gähnte lang und ohne auch nur die leiseste Mühe, die Hand vor den Mund zu nehmen. Dann streckte er sich ausgiebig, bevor er die Lider erneut zufallen ließ und tat als ginge ihn die Welt nichts an. Erbost blähte der selbsternannte Berater die Wangen froschgleich auf. „Euer Großvater wäre stolz auf Euch!“ Minoru entglitt ein entnervtes Stöhnen, das in ein Knurren abrutschte. „Was willst du?“ „Wie könnt Ihr es dem schwachen Herzen eines alten Mannes antun, ohne ein Wort einfach so zu verschwinden?! Insbesondere nach gestern Abend! Wenn auch nur das Gerücht laut wird, dass Ihr fortgelaufen sein könntet – ich will mir das gar nicht näher vorstellen!“ Fortgelaufen? Minoru schlug erneut die Augen auf, blickte in den klaren Morgenhimmel und genoss die ersten Sonnenstrahlen des Tages einen letzten, ruhigen Moment lang. „Hilf mir, Myōga“, meinte er schließlich ohne den Floh anzusehen, der sich in Erwartung einer abweisenden Diskussion sämtliche Argumente bereitgelegt hatte und in Anbetracht der vor Sarkasmus triefenden Stimme seines Schützlings mit einem Mal nicht mehr ganz so vorbereitet schien. „Wann habe ich Anlass zu einer solchen Vermutung gegeben? Ich erinnere mich nicht.“ „Nun, das habt Ihr natürlich nicht...“ „Glaubst du, ich habe Interesse daran, meinen Vater vor seiner Mutter bloßzustellen? Ich denke nicht, dass ich das Echo überleben würde.“ Er setzte sich auf und sah auf Myōga herab, der ein wenig betreten mit den Händen rang und versuchte, die rechten Worte zu finden. Seine Wut war wie verflogen. „Das Gerücht würde ausreichen. Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt unauffindbar herumzuschleichen. Die Dinge stünden anders, wäret Ihr vom Volk respektiert... wäret Ihr hier geboren worden und ein wenig mehr... wie soll ich sagen..“ „Ein wenig weniger ich“, endete Minoru für ihn und sein Blick verfinsterte sich. Damit war der angenehme Morgen dahin. „Ich bin weder blind noch taub, Myōga. Sie lieben mich nicht eben.“ „Das sollen sie auch nicht“, hielt der Floh ernst entgegen. „Sie dürfen nicht an Euch zweifeln. An der Treue zu ihnen, zu Eurem Vater und an der Konsequenz mit der Ihr Feinde zu vernichten pflegt. Sie folgen der Stärke, nicht dem Blut. Ihr seid als Fremder gekommen und niemand von ihnen weiß Euch einzuschätzen. Das macht es nicht leicht.“ Minoru seufzte, ließ sich von der Ostmauer auf den breiten Wehrgang gleiten und strich halbherzig eine Falte in seinem Kimono glatt. „Wenn meine Mutter es mir schwer machen wollte, dann hat sie es unweigerlich geschafft. Ich sollte ihr gratulieren, bevor ich diesem lauernden Volk eine Darbietung meiner Art von Konsequenz gebe.“ Myōga setzte mit einem langen Sprung auf seine Schulter und musterte ihn besorgt, während er zwischen der glatten Seide nach Halt suchte. Er hatte mehrfach bewiesen, dass er hinsichtlich eines Angriffes nicht zimperlich war, wenn es darauf ankam – und diese Mönche hatten nicht einmal wirklich seinen Unmut erregt. Was er mit seiner Mutter tun würde, wenn er eines Tages dazu im Stande wäre, sie aufzuspüren und herauszufordern, wollte sich der Berater nicht vorstellen. Hass war eine Pflanze, die insbesondere bei Inuyōkai gefährliche Formen annehmen konnte – und sie wurde unweigerlich mit Blut gegossen. Es blieb jedoch die leise Hoffnung, dass er diese innere Szene auf seine alten Tage nicht mehr mitansehen müsste. Der Vater war immerhin ebenso wenig entzückt wie der Sohn und ehe Minoru alt genug war, dass man ihn ohne Aufsicht in der Weltgeschichte herumstreunen ließ, hätte Sesshōmaru mehr als genügend Gelegenheit, den unschönen Fleck in seinem Ansehen hinreichend zu vergelten. Derart törichte Einfälle konnten auch nur dem Geiste einer Frau entspringen! „Warum habt Ihr es so überstürzt öffentlich gemacht?“, erkundigte sich Myōga bewusst sachter als geplant. „Der Fürst kann sich nicht erlauben, einen Erstgeborenen ohne Herrschaftsabsichten aufzuziehen“, entgegnete Minoru trocken. „Ich habe Besseres mit meiner Zeit anzufangen, als den Westen mit dummen Gemütssprüngen von innen zu destabilisieren.“ Unsicher mit dem Saugrüssel wippend betrachtete der Flohgeist ihn und verengte allmählich die Augen. Irgendetwas war anders als sonst. Seit wann war er so sicher in seinen Entscheidungen? Natürlich, bevor sie nach Musashi aufgebrochen waren, hatte er durch die vielen Trainingsstunden mit dem Chūyō kaum Zeit gehabt, an anderes zu denken oder sich wie zuvor in die einsame Sicherheit seiner Räumlichkeiten zu verkriechen, aber darüber hinaus zu dieser Haltung fähig zu sein, war eine andere Größenordnung. Myōga hatte damit gerechnet, ihn schlecht gelaunt, ja vielleicht sogar panisch vorzufinden, wie er es am Vortag im Angesicht der Fremden noch gewesen war, doch stattdessen schien er auf eine beunruhigend resignierte Art ruhig. „Minoru-sama... ist sicher alles in Ordnung?“ „Es geht mir gut. Es ginge mir noch besser, wenn ich auch nur ein paar Stunden für mich haben könnte.“ „Nun, Ihr könntet später in die Gärten gehen. Dort ist es um die Mittagszeit sehr schön und verhältnismäßig ruhig. Außerdem wäret Ihr nahe am Palast -“ „Und nahe bei dieser Schwadron von Hofdamen, die sie mitgebracht hat. Danke, aber nein danke.“ Das feine weiße Haar in seinem Nacken stellte sich allein bei dem Gedanken ab. „Es reicht vollkommen, dass ich mit ihr zu Mittag essen werde.“ „Mit... mit Eurer... .“ Er nickte. „Unmöglich“, erwiderte Myōga scharf. „Das glaube ich nicht! Nicht nachdem Ihr Eure Unverschämtheiten entgegen all meiner Ratschläge erneut vollkommen ausgelebt habt! Ich bin froh, Euch am Stück vorgefunden zu haben und verbitte mit dir Annahme, ich könnte glauben, dass Eure verehrte Großmutter Euch zum Essen sehen will.“ Minoru ließ ihn wettern und zuckte lediglich mit den Schultern. „Sie hat den Fürsten um Erlaubnis gebeten und er hat zugestimmt. Was bleibt mir also anderes, als zu ihr zu gehen?“ Dann knirschte er leise mit den Zähnen. „Sie wusste, ich könnte und würde nicht ablehnen, wenn sie ihn um Zustimmung bittet.“ Myōga kam nicht umhin, dem Jungen einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen. Er fühlte mit ihm, voll und ganz. Die Gefährtin seines einstigen Herrn war furchteinflößend und gebieterisch, wenn auch auf eine gänzlich andere Art als ihr Sohn. Bei beiden reichte jedoch ein kaum merklicher Wechsel der Aura oder ein härter werdender Ausdruck in den Augen, um einen ganzen Saal voller Bediensteter in blanke Panik zu versetzen. Chizuru zog es vor, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel mit kalter Berechnung auszuspielen, um ihr Ziel zu erreichen – und sie war eindeutig zu spitzfindig, um nicht zu bemerken, dass sie ihren Enkel am besten manövrieren konnte, wenn sie es durch dessen Vater tat. „Die Zustimmung des Taishōs ist gleichbedeutend seinem Befehl “, murmelte er Minoru bestätigend zu, als rezitiere er eine vergangene Lektion. Minoru vergalt es mit einem leisen Knurren, wenngleich es nicht an den Flohgeist gerichtet war. „Und über den kann ich mich kaum hinwegsetzen. Warum tut er mir das an?“ „Nun...“, Myōga friemelte verhalten an dem Stoff seiner Kleidung herum. „Ich möchte das neu aufkeimende Vertrauen zwischen Euch und Eurem Vater nicht untergraben... aber ich kann mir vorstellen, dass es ihm lieber ist, Ihr esst mit ihr zu Mittag als... er.“ Minoru hielt einen Moment inne, dann schüttelte er nur besinnend den Kopf. „Würdet Ihr... ich meine, wäre es möglich, dass wir nun zum Palast zurückkehren? Ihr werdet sicher einsehen, dass das das Beste ist.“ „Später.“ Bevor Myōga auch nur ein Wort der Vernunft anbringen konnte, war der Welpe unversehens vom Wehrgang in die Tiefe gesprungen. Wind klatschte dem Floh um den Stechrüssel, der sich im Luftstrom so schmerzhaft verbog, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Mit verschwommenen Blick und einem heiseren Schrei auf den Lippen trieb Myōga die Finger aller verfügbaren Hände in den eng gewebten Seidenstoff, um nicht davongeweht zu werden und ehe er sich versah presste ihn die Schwerkraft unbarmherzig auf die Schulterknochen des Jungen, dass er atemlos fluchte. Mühevoll rappelte sich Myōga mit schmerzenden Knochen auf, warf einen Blick auf den Wehrgang der mindestens zwei dutzend Meter über ihnen prangte und stellte fest, dass er eindeutig zu alt für die sprunghaften Abenteuer eines jungen Hundes geworden war. Er war kein niedlicher Welpe. Yayoi war niedlich. Niedlich und hübsch und gut und mit viel zu kurzen Zähnchen ausgestattet, um irgendjemandem ein Haar zu krümmen. Minoru hingegen war weit über diesen Punkt hinaus und würde mit den Jahren sicherlich nicht zahmer werden. Er zuckte zusammen, als ein deutliches Knurren vor Minoru ertönte. Einige streunende Hunde, die sich zwischen den Häusern herumtrieben, hatten bei ihrer Landung auf dem Pflaster einen erschrockenen Satz zur Seite gemacht und zogen nun die Lefzen zurück, bis das blasse Fleisch ihrer Zähne deutlich sichtbar war. Minoru verspannte sich, als er einem großen, dunklen Ungetüm direkt in die braunen Augen starrte. Der Hund knurrte kehlig und stellte das Fell drohend ab, als er den Oberkörper sprungbereit senkte und die spitzen Ohren anlegte. Der Flohgeist nahm entsetzt wahr, dass Minoru keinerlei Anstalten machte, dem Treiben Einhalt zu gebieten oder wenigstens dem Angriff aus dem Weg zu gehen. Stattdessen blieb er still stehen, stellte abermals die feinen Härchen in seinem Nacken auf und gab sich auch dann noch unbeeindruckt, als der Rüde nach vorn sprang und einige Armlängen von ihm entfernt in die Luft schnappte. Immer noch knurrend drückte sich das Tier näher an den Boden und leckte sich über die Schnauze. „Geh“, befahl Minoru trocken und zu Myōgas Erstaunen glättete sich der struppige Pelz des Hundes, der, dicht gefolgt von seinen Artgenossen, in der nächsten Gasse verschwand. Was um alles in der Welt tat er da? „Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen?“, keifte er seinen Schützling an. „Ihr hättet nur dagestanden, währenddessen diese Töle Euch angefallen wäre?! Wenn das jemand sieht!“ Minoru blickte ihn einen Moment lang an, dann bog er zielstrebig auf eine breitere Straße ab, die immer noch im Schatten der hohen Mauer lag. „Wie viele Jahre lebst du nun unter Hunden?“ „Das ist eine sehr unverschämte Frage!“, fauchte der Floh zurück. „Demnach lange. Findest du es da nicht ein wenig unangebracht, nach all der Zeit noch blind zu sein?“ „Wie bitte?! Bei allem Respekt! Dieses Tier hat geknurrt und gefletscht und – “ „Gefletscht, dass ich fast in seinen Rachen sehen konnte. Er dachte, ich bedrohe ihn und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er war verunsichert. Nichts weiter. Es ist mir schleierhaft, wie du überlebt hast, wenn du eine so defensive Drohung für einen geplanten Angriff hältst.“ „Ich bezweifle, dass Euer Vater oder sonst jemand in diesen Mauern den Gedanken unterstützen würde.“ „Ich werde keinem streunenden Hund das Fell über die Ohren ziehen, weil ich ihn erschreckt habe.“ Als Myōga abermals den Mund aufmachen wollte, legte Minoru einfach die Hand über ihn und erstickte seine Stimme wie unter einer Kuppel. „Ende der Diskussion.“ Myōga blinzelte verdutzt und schwieg auch dann, als Minoru ihn längst aus seinem Griff befreit hatte. Oh Oyakata-sama, was hat mich nur geritten, als ich mir diesen Bengel aufgehalst habe?, dachte der kleine Berater bitter und beinahe meinte er in der Ferne ein warmes, amüsiertes Lachen zu vernehmen, das ihm die Kehle zuschnürte. 狐 Der braune Wallach spürte die Anspannung seines Reiters und schlug zum mindestens zehnten Mal abwehrend mit dem Kopf. Kōhei ließ die Zügel zwischen seinen Fingern locker am Gebiss des Tieres spielen und nahm sie wieder stramm auf, als es sich endlich beruhigt hatte. Shippō beobachtete ihn mit beklemmter Miene und wandte den Blick schließlich wieder nach vorn. Der südliche Hof lag nur einen knappen Ritt, aber einige Höhenmeter voraus und ehe die Sonne im Zenit stand, würden sie durch das schwere, hölzerne Tor reiten, hinauf zum Palast – und dem unvermeidbaren Zorn Hayatos entgegen. Kōhei wünschte, die vergangenen Tage hätten Gnade erwiesen und ihm das Wissen, um die Begleitung in der Karosse erspart, die der Ochsenyōkai mit unermüdlichem Rhythmus hinter sich dreinzog. Es hätte im Grunde nicht viel geändert, ihn jedoch davor bewahrt, sämtliche Horrorszenarien vor dem inneren Auge in allen erdenklichen Farben auszuschmücken. Saburōs schwarzer Hengst stampfte unbeirrt durch die ihm fremde, ansteigende Landschaft aus dichten Wäldern, mit Bäumen, deren gewaltige Äste den Weg wie ein Dach überspannten, ineinander griffen und trotz des vorangeschrittenen Tages nur fahles Licht durch die Blätter fallen ließen. Sowohl Pony als auch Ochse waren vermutlich kaum einen echten Berg gewohnt, dennoch ließen sie sich von dieser Unannehmlichkeit ebenso wenig beeindrucken wie ihr Herr, der indes mit den Damen im Innern des roten Gefährtes plauderte. Als eine von ihnen amüsiert über seine Worte lachte, gefror Kōhei beinahe das Blut in den Adern. Wieder reagierte sein Pferd, wieder spielte er an den Zügeln, um es abzulenken. Der Fürst wäre sicherlich nicht von Wiedersehensfreude erfüllt, wenn er seine Frau, die das freiwillige Exil seiner Gesellschaft seit fast sieben Jahrhunderten vorzog, nun ungebeten zurückbekam. Doch war es das Mädchen, das Kōhei wirkliche Sorgen bereitete: Dieses schüchterne, hübsche Ding mit den grauen Augen und mitternachtsschwarzem Haar, die an Saburōs Seite wirkte, als könne die Welt keinen anderen Platz für sie vorgesehen haben. Eine Geliebte war das eine, doch den Bauch, der sich unter den Lagen dicker Seide vorwölbte, verhieß einen weiteren Gast, der dem Fürsten noch weitaus ungeliebter sein dürfte als sein ohnehin schon wenig favorisierter Sohn. Das Haupttor stand bereits offen, als die Festung in Sicht kam. Saburō hatte schweigend zum Kopf der Gruppe aufgeschlossen, als sie die ersten Verteidigungsanlagen innerhalb der Wälder passiert hatten. Seine scharfen Züge waren eine ausdruckslose Maske, während sie ruhigen Schrittes unter dem Torbogen hindurchritten. Dicht hinter ihnen folgte die Kutsche und nun war auch dem Ochsenyōkai die Erleichterung fast anzusehen. Er brummte zufrieden, während er das Gefährt über die gepflasterten Straßen zum Palast zog und fast mochte man glauben, dieser niedere Yōkai danke im Stillen dem Erbauer, zumindest ein Plateau gewählt zu haben, wenn er die Festung schon in den Bergen hatte verschanzen müssen. Am Palastplatz mit seinem hellen Steinboden wurden sie von einem Teil der Armee erwartet. Die neuen Rekruten, junge Füchse aus dem Akademiejahrgang, stierten Shippō an, als habe er Beneidenswertes tun dürfen und Kōhei hoffte im Stillen, dass sein neuer Schüler klug genug wäre, ihren Unmut abzuwenden statt ihn mit Angeberei zu füttern. Aber das sollte nun wirklich nicht seine Sorge sein. Vor den Stufen, die hinauf in die herrschaftlichen Gebäude führten, schwang er sich von seinem Braunen und peitschte einen Moment mit den feuerroten Schwänzen, um der Wirbelsäule ein wenig Entspannung von dem beschwerlichen Ritt zu gönnen. Jirō trat zu ihm, überragte ihn wie stets um mehr als einen Kopf und griff nach dem Zügeln seines Pferdes, während ein Palastdiener herbeigeeilt war, um auch Saburō diese Ehre zu erweisen. Der neue Erbe des südlichen Reiches überließ ihm seinen Hengst, der missmutig die Ohren anlegte und augenblicklich nach dem Helfer schnappte. Saburō machte sich nicht die Mühe, das Tier zurechtzuweisen und warf einem weiteren Diener einen scharfen Blick zu, als niemand sich um den Ochsen bemühte. „Sorg' dafür, dass man die Kutsche abspannt und den Ochsen mit den Pferden im Stall versorgt“, sagte Kōhei an Shippō gewandt und so laut, dass auch Saburō es hören konnte. „Sie sollen ihm eine Box neben dem Rappen geben.“ Zumindest mit dem Ochsen hatte es während der Reise keinen Streit gegeben, also blieb zu hoffen, dass der Hengst so wenigstens einen Grund weniger hatte, den Stall zu zerlegen. Saburō bedachte Kōhei mit einem langen Blick, dann schließlich nickte er ihm so knapp zu, dass Kōhei meinte, er habe es sich nur eingebildet, und öffnete eigenhändig die Tür der Kutsche. Takara machte sich nicht die Mühe, die dargebotene Hand ihres Sohnes zu greifen und stieg selbstständig aus der Kutsche aus – und Kōhei wurde noch schlechter, als ihm ohnehin schon war. Takara hatte nie versucht, ihrem Mann gefällig zu sein und doch hatte Kōhei zu hoffen gewagt, dass sie ihr Verhalten nun um ihres Sohnes Willen abmildern würde. Doch statt ihr Haar wie für eine verheiratete Frau hohen Ranges angemessen in einer hochgesteckten Frisur oder zumindest zu einem Zopf zu ordnen, wallte es wie flüssiges Silber über ihren Rücken. Die Seide an ihrem Körper war schlicht, schmiegte sich jedoch eng an ihre Kurven und war weit genug ausgeschnitten, dass man nicht nur einen Anteil ihres schlanken Halses, sondern gleichsam den saphirnen Anhänger ihrer Kette auf ihrem Dekolleté betrachten konnte. Kōhei wandte den Blick von ihr ab und sah die Stufen zum Palast hinauf, während Saburō seiner Auserwählten aus der Kutsche half und damit zumindest auf Seiten der Palastdiener eine kurzfristige Schockstarre hervorrief. Die Soldaten besaßen den Anstand, starr nach vorn zu sehen und Kōhei dankte ihnen stumm, dass ihm zumindest diese Standpauke erspart blieb. Auf den Weg zum Empfangssaal hielt sich Kōhei im Hintergrund, während Saburō, gefolgt von beiden Damen, mit einer Präsenz voranschritt, die anmuten ließ, dass diese Stätte längst ihm gehörte und beinahe verspürte Kōhei so etwas wie Mitleid. Es war närrisch anzunehmen, dass der Fürst aus dem letzten Zusammentreffen nichts gelernt hatte. Kōhei kannte seinen Herrn gut genug, um zu ahnen, was in wenigen Augenblicken passieren würde. Es versprach, ein wenig angenehmer Tag zu werden und wenn er sich nicht irrte, würde die kommenden Jahre im Allgemeinen wenig erfreulich. Haru hätte seinem Vater nie widersprochen, nur deswegen hatte er überhaupt so lange als Erbe überdauert. Saburō hingegen... nun, die Zeit würde zeigen, ob er sich fügen konnte. Anderenfalls würde es wohl ein kurzer Besuch. Als die Diener die opulenten Fusuma zum Saal aufgeschoben hatten, senkte Kōhei reflektorisch den Blick – jedoch nicht ohne vorher die Lage binnen Sekundenbruchteilen erfasst zu haben. Der gesamte Raum war gefüllt mit Scharen von Dienern, die sich eng an den Wänden hielten, während sich augenscheinlich jedes Mitglied der Familie eingefunden hatte. Die Nachkommenschaft des Fürsten, rund vier Dutzend Kinder, das kleinste noch eng an seine Mutter geschmiegt, hatte sich zu beiden Seiten des Vaters niedergekniet, der unbeeindruckt wie stets im Schneidersitz auf seinen Matten saß und die Ankömmlinge betrachtete. Erst als diese sich verneigt und auch seine übrigen Kindern ihnen Respekt gezollt hatten, erhob sich Hayato. Im Vergleich zu Jirō war auch er klein wie jeder andere, aber er besaß breite Schultern, deren Eindruck von einem dichten, roten Pelz hervorgehoben wurde und die Ausstrahlung eines Raubtieres, die sich bei einem Kitsune nicht selbstverständlich niederschlug. Seine Bernsteinaugen funkelten kurz auf, als er Takara genauer musterte und Kōhei fiel auf, dass sich Vater und Sohn in dieser Hinsicht nicht unähnlich waren – beide konnten sie mit einem Blick den Eindruck erwecken, einem Stoff und Fleisch gleichermaßen von den Knochen zu schälen. „Takara“, wandte er sich zuerst an sie und seine tiefe Stimme klang gefährlich versöhnlich. „Hayato.“ Sie verzog keine Miene, ebenso wenig wie er, doch die Hitze, die über den Boden zu kriechen begann, ließ zumindest die jüngeren Kinder verstörte Blicke wechseln. Die wenigsten von ihnen hatten in ihrem kurzen Leben ihren Vater mehr als ein paar Stunden zu Gesicht bekommen. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, wenn sein Zorn allmählich Form annahm und wann man sich besser anschickte, seiner Drohung nachzugeben. Kōhei hingegen schon. Er hatte einmal den falschen Moment abgepasst, vor vielen Jahren, als er die überdeutlichen Zeichen seines Herrn noch nicht zu dechiffrieren verstanden hatte. Sein damaliger Vorgesetzter hatte ihn gesandt, um eine Nachricht zu überbringen und Kōhei hatte den Fürsten mit schlechter Laune angetroffen, die Zweideutigkeit seiner Fragen nicht gleich verstanden und ehe er auch nur die Möglichkeit hatte, zu begreifen, was geschah, war der Fürst über ihm gewesen. Hatte ihm mit dem Schaft des Yari den Unterkiefer zertrümmert, Platzwunden geschlagen, mehrere Rippen gebrochen und die Milz angerissen. Kōheis Hände waren schlimm verbrannt, als er versucht hatte, die Kohlenpfanne, in die der Fürst ihn hinabdrücken wollte, von seinem Gesicht fernzuhalten und schließlich war er grob auf den Rücken geworfen worden. Hayato hatte mit diesem tödlichen Blick in den Augen über ihm gestanden und die verängstigten Diener angewiesen, endlich einen seiner Heiler herbeizuschaffen, wenn sie nicht mit dem Jungen tauschen wollten. Von dem Tag an hatte Kōhei gelernt, die Launen seines Herrn zu lesen. Er bezweifelte, dass Takara mit ihrer Art bisher von dieser Seite ihres Mannes verschont geblieben war, doch wie auch immer er ihr ihre Aufsässigkeit vergolten hatte, es hatte sie nicht gebrochen. „Was verschafft mir die Ehre Eurer Anwesenheit?“, fragte er immer noch gefährlich sanft. Doch sie erwiderte seine stille Drohung mit einem Lächeln. „Eure Überraschung wundert mich. Es war Euch doch sicher bewusst, dass ich mit meinem Sohn zurückkehren würde, wenn ich mich bereits weigerte, ohne ihn fortzugehen.“ Kōhei konnte sehen, dass seinem Herrn eine scharfe Entgegnung auf der Zunge lag, doch er unterband sie, sicherlich auch, weil so viele Augen auf ihn gerichtet waren. Augen, wie die seiner übrigen Frauen, die die Rückkehr ihrer Konkurrentin alles andere als begrüßten. Natürlich war Takara nicht beliebt: Ihre widerspenstige Art rief entweder Eifersucht ob ihrer Kühnheit oder Abscheu gegenüber ihrer Haltung hervor. Des Weiteren hatte sie nur ein Kind, welches zu allem Überfluss nun auch noch einen höheren Anspruch vertrat als ihre zahlreichen Sprösslinge. Dass die Damen darüber alles andere als versöhnlich gestimmt waren, lag auf der Hand. Lediglich in Emikos Blick war mehr zu lesen als reine Verachtung. Harus Mutter betrachtete sowohl Takara als auch Saburō mit einem sonderbar anmutenden Mitgefühl. Die zurückhaltende Kitsune mit dem herbstroten Haar war bereits mit Hayato verheiratet gewesen, bevor dieser den Großteil seiner männlichen Verwandtschaft ins Grab gebracht und seine Cousine Jun geheiratet hatte, um sich selbst zum Fürsten des Südens zu erheben. Im Gegensatz zu den anderen Damen, allesamt Töchter gehobener Familien, zu bittersüßer Höflichkeit erzogen, vermochte sie ihre Gefühle nicht hinter einer Maske zu verstecken. Sie war eine ansehnliche, wenngleich nicht auffallend hübsche Frau, die einen warmen Umgang mit ihren Kindern pflegte und wenig mit Personen außerhalb der Familie sprach. Dennoch war sie stets freundlich, nickte Wachen und Dienern dankend zu, wenn diese lediglich ihre selbstverständlichen Aufgaben verrichteten und wandelte viele Stunden durch die weitläufigen Gärten. Nun sah sie mager und mitgenommen aus. Ihre Haut war fahl geworden, die Züge ausgezehrt. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie unter dem Verlust ihres Erstgeborenen litt. Indes sie still und mit vor sich ineinander verschränkten Händen dastand, durchmaß ihr Ehemann festen Schrittes den Raum, was seine Kinder dazu bewog, abermals die Stirn an den Boden zu legen. Auch Kōhei und die übrigen verneigten sich vor ihm. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen kam er vor Takara zum Stehen. „Hätte ich geahnt, wie zahm du zu mir zurückkehren würdest, wenn es um seinetwillen geschieht, hätte ich ihn eher kommen lassen“, hauchte er ihr ins Gesicht und ehe sie antworten konnte, hatte er sie an ihrer Halskette an sich herangerissen und eine Hand in ihren Nacken geschoben. Seine Klauen spielten an ihrer Kehle, ritzten sie, bis ein dünnes Rinnsal von Blut in ihren Ausschnitt hinabrann. „Viel eher. Dann hätte dich jemand den Anstand lehren können, den es Bedarf, um sich nicht wie eine billige Hure zu kleiden.“ Er bleckte die Zähne. „Du gehörst mir. Jedes Haar und jedes Bisschen deiner Haut, dein Schoß und selbst dieser Bengel, den du mir damit gegeben hast, gehören mir. Dein Vater hat mit dir seinen Frieden erkauft und ich gedenke nicht, meinen Besitz mit irgendjemandem zu teilen. Wenn ich dich noch einmal so sehe, sorge ich dafür, dass niemand dich je wieder freiwillig ansehen wird. Hast du mich verstanden?“ Sie antwortete nicht. Ihre blauen Augen funkelten ihn mit der größtmöglichen Abneigung an, doch er begann zu knurren, drückte ihr allmählich die Luft ab. „Mach mich nicht unnötig wütend, Takara. Du weißt, es ist jetzt schon schlimm genug. Also nochmal: Hast du mich verstanden?“ „Ja.“ Seine Klaue hinterließ eine blutige Spur, wo er über ihre Unterlippe strich. Dann ließ er sie los, musterte sie einen Moment und wandte sich an zwei nahestehende Wachen. „Meine Frau hat sich verletzt. Lasst ihr ein Bad ein, damit sie sich von der Reise erholen kann und besorgt ihr angemessene Kleidung. Verbrennt diese. Anschließend bringt sie in meine Gemächer.“ Er sah sie an und seine Augen funkelten belustigt. „Ihr überraschender Besucht hat uns leider nicht die Zeit gelassen, die ihren entsprechend herzurichten, aber nach all den Jahren haben wir ohnehin einiges nachzuholen.“ Takara verzog lediglich das Gesicht zu einem schiefen Lächeln und nahm ihm damit jeden möglichen Triumph. Doch er war fertig mit ihr; hielt einen Moment inne und betrachtete das junge Mädchen, das an der Seite seiner Frau stand und mit großen, grauen Augen furchtsam zu ihm aufsah. „Dein Name, Kind?“ Sie verneigte sich tief vor ihm. Ein wenig zu hastig für Kōheis Geschmack. „H-Hiromi, mein Fürst“, antwortete sie etwas zittrig. Er ließ sie nicht aus den Augen, musterte sie eingehend, als sie den Blick wieder hob und sprach doch nur mit den Wachen: „Geleitet auch unseren werten Gast. Das große Zimmer im nördlichen Trakt wäre angemessen.“ Kōhei verspannte sich bin in den letzten Muskel, indes Takara nicht im Mindesten verängstigt das Mädchen bei der Hand nahm und vor dem Fürsten auf dem Absatz Kehrt machte. Ihr letzter Blick galt ihrem Sohn, dann stolzierte sie erhobenen Hauptes vor den Wachen davon, die ihr im knappen Abstand folgten. Der nördliche Trakt... Kōheis Magen verkrampfte schmerzhaft und ein unangenehmes Rauschen in seinen Ohren kündete davon, dass sein Blutdruck empfindlich gestiegen war. Das war nicht etwa ein Teil des Palastes, in dem Hayato willkommene Gäste unterzubringen pflegte. Es war ein eher kühler Ort, in dem die Sommerhitze selbst den Ziervögeln erträglich schien, aber in erster Linie war er ein gut zu bewachender Massivbau. Das große Zimmer versprach einigen Komfort mit eleganten Möbeln, feinen Stoffen und einem eigenen Bad, es blieb aber dennoch das Gemach einer besseren Gefangenen, verriegelbar und fensterlos, dem zu entkommen kaum möglich war. Er hatte oft genug daran Wache stehen müssen. Tags wie nachts. Jahrelang. Außer Stande ihr zu geben, was sie wirklich wollte – und selbst im Rahmen seiner Möglichkeiten hatte er bitterlich versagt. Wann waren sie dazu übergegangen, dass sie es gewesen war, die ihn aufmunternd anlächelte und ihm gut zusprach, als sei er es, der des Rückhaltes bedurfte? Er hatte ihr stets nur die Hälfte dessen zu sagen gewagt, was wirklich geschah, aus Angst, sie könne an der Wahrheit endgültig zerbrechen, doch sie hatte es geahnt. Musste es geahnt haben. An dem Tag, als er ihr hatte mitteilen müssen, dass der Junge verschwunden war, hatte sie gelächelt. Nach all den Jahren zwischen Resignation und unrealistischen Hoffnungen hatte sie lediglich gelächelt. Ganz als sei es von Beginn an nur eine Frage der Zeit gewesen. Es wird ihm doch nichts geschehen, nicht wahr? Du achtest auf meinen Jungen. Versagt. All die Jahre unendlich versagt. Die tiefe Stimme des Fürsten holte ihn unsanft zurück in die Wirklichkeit. „Saburō.“ Eine kalte, erkennende Begrüßung. Wenn die Behandlung, die sein Vater seiner Begleitung hatte zuteil werden lassen, Saburōs Unmut erregt hatte, ließ er es sich nicht anmerken – und Kōhei war sich recht sicher, dass ihm diese beiden Frauen nicht vollkommen gleichgültig waren. Etwas Unangenehmes nagte an ihm, wenn er näher darüber nachdachte, doch Kōhei wollte nicht aufgehen, was es war, das ihn an alledem beunruhigte. „Vater.“ Saburō kopierte den Tonfall des Fürsten zur Perfektion und erwiderten seinen Blick stumpf. „Ihr habt nach mir verlangt.“ Saburō war kleiner und schmaler als sein Vater. Von seiner Mutter hatte er die anmutige Statur der Silberfüchse Awajis geerbt und wirkte filigran und ansehnlich, wo sein Vater eindrucksvoll und scharf wie eine Klinge erschien. Doch so anders Saburō auch im Vergleich zum Fürsten und all seinen Halbgeschwistern anmutete, war er doch der Sohn seines Vaters: Es waren nicht nur die flammenden Augen leuchtenden Bernsteins, sondern viel mehr die Art, wie sie sich umkreisten, ohne sich wirklich zu bewegen. Sie taxierten einander wie lauernde Raubtiere, jederzeit bereit, dem anderen im nächsten Augenblick die Kehle herauszureißen. Entschlossen, präzise, tödlich. Und doch schien Kōhei als sei ihnen dieser Umstand nicht allzu bewusst. „Ihr seid spät“, entschied der Fürst harsch. „Das wird nicht wieder vorkommen.“ „Wie Ihr sagt, Vater“, erwiderte Saburō mit Grabesstimme, dann unterband er das gegenseitige Lauern auf so unorthodoxe Weise, dass es für den Fürsten einer Ohrfeige gleichen musste. „Ich war von Eurem persönlichen Ersuchen überrascht. Ich hatte das Gefühl, dass Ihr mich nach meinem letzten Besuch nur ungern wiedersehen würdet und auch sonst kein weiteres Interesse an mir hegt.“ Für einen Moment hatte der Saal das Atmen eingestellt. Es war ein Vorwurf, so überdeutlich und hart, dass er an Anklage grenzte. Statt Reue zu heucheln, hatte er eine Wahrheit ausgesprochen, die Hayato ohne offensichtliche Doppelzüngigkeit nicht abstreiten konnte und vielmehr noch: Er hatte ihm öffentlich Desinteresse unterstellt – über die vergangenen Vorkommnisse hinaus. Saburō hätte den dankbaren Sohn spielen und sich für die Unruhen entschuldigen können, die er vor einigen Jahrhunderten entfacht hatte, und vielleicht hätte der Fürst im Angesicht der Situation sogar Gnade gezeigt und diese Angelegenheit für erledigt erklärt; seinem Sohn im Zeichen der Versöhnung vergeben. Doch schien es nicht in Saburōs Absicht zu liegen, Frieden mit seinem Vater zu schließen und ein einziger, kurzer Blick hinter den Fürsten und in die Augen seiner übrigen Kinder bestätigte Kōhei darin, dass es ein Fehler gewesen sein mochte, Saburō mit der Übermacht der Familie einschüchtern zu wollen: Waren die Nachkommen des Fürsten bis gerade noch bestrebt gewesen, dieses unangenehme Zusammentreffen möglichst respektvoll und doch teilnahmslos hinter sich zu bringen, so wie sie es bei derlei Angelegenheiten stets zu tun pflegten, spiegelten ihre Mienen nun eine rege Aufmerksamkeit, wie Kōhei sie selten bei ihnen gesehen hatte – und sie galt ihrem Vater. Der lächelte matt. „Takara hat entschieden, den Hof zu verlassen und ich habe es ihr gewährt. Es ist kein Geheimnis, dass wir nie miteinander ausgekommen sind und es für alle Beteiligten die angenehmste Übereinkunft war. Aber ihr seid mir willkommen und ihr wäret es immer gewesen.“ Es fiel schwer, die Worte des Fürsten anzuzweifeln. Er liebte Takara nicht und sie verabscheute ihn. Das war tatsächlich kein Geheimnis und doch stand ebenfalls außer Frage, dass er sie und den Jungen bei einer unangekündigten Rückkehr ohne Umschweife wieder aufgenommen hätte. Aber es war nicht diese Art von Antwort, die Saburō provoziert hatte – und auch nicht die, die seine Halbgeschwister hatten hören wollen. Sie senkten erneut die Blicke. „So wie Ihr uns“, erwiderte Saburō in einem versöhnlichen Ton, der jedoch im Nachhinein sehr trocken klang. „Wünscht Ihr, Euch mit mir zu unterhalten?“ „Zu gegebener Zeit. Man wird dir deine Räumlichkeiten zeigen.“ Damit wandte sich der Fürst an Kōhei. „Ich erwarte Euch in meinem Arbeitszimmer. Es gibt dringende Angelegenheiten zu besprechen. Unschöne Angelegenheiten, so viel kann ich Euch versichern.“ Der General nickte gehorsam. Unschön, ja, aber etwas in der Stimme seines Herrn verriet ihm, dass es weder um sein Betragen noch um irgendeinen Fehler ging. Es war etwas geschehen. Etwas, das mit Saburōs Ankunft nichts zu tun hatte. Kōhei fluchte stumm in sich hinein. Wer oder was konnte sich denn noch gegen sie verschwören? ☾ „Ihr wollt... zu Yūsei?“ Minoru überhörte den Unglauben in der Stimme des Flohs und nickte knapp. Natürlich hatte Myōga recht, wenn er sagte, dass üble Gerüchte ungelegen kämen. Er hatte genug vom Palastpersonal aufgeschnappt, um zu wissen, dass sie ihm allein aufgrund des Verhaltens seiner Mutter misstrauten – und wenn er ehrlich war, wollte er es ihnen nicht einmal übel nehmen. Vorsicht war gut und wer von ihnen konnte sich schon sicher sein, dass Minoru nicht doch in die Vorstellungen und Pläne dieser Frau verwickelt war? Die Fürstinmutter hatte ihre Worte nicht umsonst gewählt, auch wenn sie sie zuletzt zurückgezogen hatte. Es waren Ansichten, die existierten. Ansichten, mit denen er umzugehen lernen müsste. Sie wussten nicht, wie sehr er seine Mutter verabscheute und er wäre der Letzte, der auf die Idee käme, die Gründe seines Hasses für jeden offenzulegen. All das war Tatsache. Doch würde ihm niemand vorwerfen, wenn er den Schneider aufsuchte und davon abgesehen würde er seine Handlungen auch nicht anhand der Reaktion jener ausrichten, die ihm eines Tages eventuell folgen sollten. Prüfend betrachtete Minoru die aufwendig geschnitzten Rahmen der schweren Eingangstür. Ineinandergreifende Ranken, in tiefem Waldgrün lackiert, und aus Liebe zum Detail mit den Schnitzarbeiten winziger Käfer verziert, die an ihnen emporkrabbelten. Aus dem Innern roch es so überwältigend nach Pflanzenextrakten und allerlei Unbekannten, dass es Minoru unwillkürlich schüttelte. Mit höflicher Milde klopfte er an die Tür, die noch unter seinen Fingerknöcheln mit einem derartigen Schub aufgestoßen wurde, dass das lackierte Holz an seiner Haut entlangschrappte. Deutlich zu aufmüpfig rammte der Kappa den zweiköpfigen Stab auf den Boden – Tock! – und erhob seine krächzende Stimme in mahnender Abfälligkeit: „Der erhabene Herr und Meister ist zugegen! Niederes Fußvolk -!“ Ein durchdringendes Knurren ließ ihn verstummen und während er aus Gewohnheit einen Blick hinter sich warf, bemerkte er zu spät, dass die Bedrohung unmittelbar vor ihm stand. Kreischend und mit einem sofortigen Schweißausbruch erkannte Jaken Minoru erst, als der ihn bereits am Kragen seines dunkelbraunen Suikan in die Luft hob und mit Mord in den goldenen Augen anfunkelte, dass er am liebsten in den nächstbesten Teich gekrochen wäre. „J-j-junger Herr! Ich wollte nicht – ich hätte nie - !“ Eine Klaue strich warnend über seinen zitternden Kehlkopf. Jaken quietschte panisch und wurde steif wie ein Brett. „Ich hatte dich gewarnt“, hob Minoru gefährlich leise an. „Du bist offensichtlich sehr vergesslich.“ Abwehrend hob der Kappa die grünen Hände und spreizte die drei Finger an jeder so weit, das man meinen könnte, er hoffe damit tatsächlich etwas zu bezwecken. Im nächsten Moment rettete ihn die tiefe Stimme des Fürsten vor länger anhaltenden Verletzungen – jedoch nicht vor einer sehr unsanften Landung auf den groben Pflastersteinen der Straße. Mit der Nase voran gestaltete sich das Bremsen äußerst schmerzhaft und er wagte es erst wieder zu atmen, als sich die Holztür zum Haus des Schneiders hinter diesem übellaunigen Welpen geschlossen hatte. Minoru donnerte die Tür ein wenig gröber gegen den Rahmen als er beabsichtigt hatte und durchmaß den Vorraum mit langen Schritten. Er wusste, warum er derartige Ansammlungen von Gerüchen nicht leiden konnte: Sie ließen ihn am helllichten Tag für die offensichtlichsten Dinge erblinden – selbst für die mittlerweile vertraute Witterung seines Vaters. Der Fürst stand in Yūseis weitläufigen Arbeitszimmer. In hohen Regalen waren Unmengen von Stoffen in den leuchtendsten Farben auf schmalen Rollen gelagert. An den Wänden hingen fertige Exemplare: Ansehnliche Yukata, verschiedenste Kimono, Hosen aus feinen Stoffen oder harten, anschmiegsamen Leder. Leinengewänder, Obi, Tücher. Ein großer Webstuhl nahm beinahe die gesamte Linke ein, zwei weitere kleine säumten die Wand vor Kopf und waren von Stoffbahnen überhängt worden. Yūsei saß an einem gewaltigen Tisch am Boden, hatte eine Nadel auf den Lippen und musterte den Fürsten vor sich nachdenklich, während seine Hände mit den krummen Klauen an einer Lederhose herumnestelten. Minoru verneigte sich vor seinem Vater, als er eintrat. „Guten Morgen, Herr. Yūsei-sama. Ich hoffe, ich störe Euch nicht.“ Er nickte auch dem Alten zu, indes Sesshōmaru seinem Sohn einen ebenso langen Blick zuwarf, wie Yūsei ihm zuteil werden ließ. „Was möchtest du?“ „Ich bin nicht Euretwegen hier“, antwortete Minoru vorsichtig. „Ich hatte nicht erwartet, Euch zu treffen.“ Sein Vater musterte ihn einen Augenblick stumm, dann wandte er sich wieder an den Veteranen: „Kann ich mit Euch rechnen?“ „Es ist viel verlangt, Sesshōmaru-sama.“ Die Nadel wippte bei jedem Wort auf seinen schmalen Lippen auf und ab. „In einer sehr kurzen Zeit. Ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. Aber wenn dieser Berserker noch einmal kopflos meine Arbeit in den Dreck tritt, werde ich ihn mit den blutigen Fetzen eigenhändig ersticken.“ Der Fürst nickte still. Dann machte er sich auf den Weg hinaus. „Sei pünktlich“, erinnerte er den Jungen im Vorbeigehen, dann war er verschwunden. Minoru unterdrückte ein verdrießliches Schnauben. Musste er ihn daran erinnern? War es nicht schlimm genug, dass es unausweichlich war, mit dieser Frau zu essen? Nun, sicherlich, für eine Frau war sie im Beisein eines Mannes erstaunlich herrisch. Das allein war interessant genug, dennoch sehnte er sich nichts lieber herbei, als eine versinkende Sonne, die davon kündete, dass das Mittagessen längst vorbei war. Yūsei betrachtete ihn in der Zwischenzeit aufmerksam: „Wie kann ich Euch helfen?“ „Das habt Ihr bereits“, versicherte Minoru, während er herantrat. Bei näherem Hinsehen, bemerkte er, dass er vergessen hatte wie unglaublich alt der Mann war. „Ich wollte Euch für Eure Mühen gestern danken.“ „Eine Selbstverständlichkeit. Ich hatte Euch gebeten, bei Bedarf zu mir zu kommen, junger Herr. Es ist mir eine Ehre.“ Er fischte sich die Nadel so geschickt von den Lippen, dass Minoru sich reumütig eingestehen musste, dass er es ihm bei diesen krummen Glieder gar nicht zugetraut hätte – dabei trug er die Arbeit dieser sicheren Hände am eigenen Leib. Der Alte steckte das spitze Werkzeug tief in das dunkelbraune Leder und legte die Hose zur Seite. „Ihr seht müde aus, wenn ich mir dieses Urteil erlauben darf. Eure Reise muss anstrengend gewesen sein. Erlaubt mir, Euch einen Tee zu reichen.“ „Macht Euch meinetwegen keine Umstände“, beschwor ihn Minoru, doch er lächelte nur, zeigte seine abgenutzten, vergilbten Zähne und angelte nach seinem Stock, um sich zu erheben. „Drachen. Eine unangenehme Sache“, murmelte er vor sich hin und Minoru war sich nicht sicher, ob er mit ihm sprach oder nur mit sich selbst. „Scheint, als sei der Frieden endgültig vorüber – wenn es je einen gegeben hat. Sie waren tot, müsst Ihr wissen. Euer Großvater hat den letzten Drachen vor über zweihundert Jahren an eine Felswand gebannt, nachdem wir ihre Truppen vernichtet hatten. Es hat auch ihm alles abverlangt und Euer Großvater war ein Daiyōkai, der mehr vorzuweisen hatte als rohe Gewalt. Dennoch ist er seinen Wunden erlegen. Ah, närrische Gerüchte. Er habe bei der Verteidigung dieser Menschenfrau die Reise ins Grab angetreten. Unfug. Ich kannte den Mann. Eine Festung voller tumber, kleiner Menschen hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Ob nun brennend oder schlafend. Gleich.“ Myōga rutsche unangenehm berührt auf Minorus Schulter herum und nickte stumm für sich selbst. „Soweit ich weiß ist Ryūkotsusei vor einigen Jahren freigekommen und wenige Augenblicke später durch Tessaiga gefallen. Der Bastardbengel war es. Der Vater dieser hundeohrigen Kinder von neulich, möchte ich wetten. Es war Balsam, das zu hören.“ Er hatte Minoru den Rücken zugewandt. Der Zopf aus schütteren, altersgrauen Haar schien in den vergangenen Monaten noch lichter geworden zu sein und jeder hätte auf den ersten Blick sehen können, dass es Yūsei allmählich überforderte mit seinem Alter und dem fehlenden Bein dieses große Haus und seine aufwendige Arbeit unter einen Hut zu bringen. Minoru fühlte sich schwerer, als er verstand, dass auch andere Leute ihn so betrachten mochten. Personen, die ihn noch zu seinen Zeiten als Krieger gekannt hatten und nun nicht mehr sahen als einen alten, gebrechlichen Einbeinigen. In seinem Fall würde man vielleicht noch den begnadeten Schneider bemerken, den Mann, auf dessen Arbeit man angewiesen war, wenn man Kleidung wünschte, die einen Kampf überstand – aber wie viele andere konnten mit derartigen Berufungen ihr Gesicht wahren? Vielleicht wurden kriegerische Yōkai auch deswegen selten so alt. Eine Hand auf den Stock gestützt bereitete er mit der anderen den Tee und brummte weiter vor sich hin. „In Eurem Alter in diese Angelegenheiten hineingezogen zu werden... . Es liegt keine Ehre darin, Siege durch diese Spielchen erringen zu wollen. Aber es ist einfach, das zu sagen, wenn man auf Seiten der größten Schlagkraft weilt. Wisst Ihr, wie viele Männer Euer Vater unter Waffen hat?“ „Nein“, antwortete Minoru wahrheitsgemäß. Beim Sortieren der Unterlagen nach seiner Ankunft, hatte er neben den unnötigen Informationen über Nahrungsmittelzulieferungen auch den ein oder anderen Bericht über Truppenstärken in den Händen gehalten, aber die waren sicherlich wenig aktuell, wenn sie noch aus der Zeit seines Großvaters stammten. Der Alte knurrte leise, doch es war keineswegs missbilligend. „Er tut wohl daran, Euch heraushalten zu wollen. Dennoch... es sind rund vierhundert. Vierhundert bewaffnete, ausgebildete Inuyōkai. Zu Zeiten der großen Schlachten, als sich die Verbündeten der freien Völker den Inu anschlossen, haben wir eine ganze Ebene mit Streitern zu füllen vermocht; die Invasoren vom Festland ebenso zurückgeschlagen wie die Panther oder Drachen.“ Er wandte sich um und betrachtete Minoru einen Moment still, der ihn aufmerksam ansah, dann lachte der Alte leise. „Es stimmt wohl: Alte Leute erzählen gern von längst vergangenen Zeiten. Ich will Euch nicht langweilen.“ Minoru schüttelte den Kopf: „Das tut Ihr keineswegs.“ In Wahrheit war es beschämend, dass er mit den Namen der offensichtlich wichtigsten Feinde nichts anzufangen wusste und vom vergangenen Krieg mit den Panthern nur durch Rin erfahren hatte. Es musste Aufzeichnungen zu diesen Ereignissen geben, wenn sie selbst Reislieferungen auf mehr als dreihundert Jahre zurückdatieren konnten – und er sollte sie dringend lesen. „Diese vierhundert Männer in Waffen... im Training mit Ryouichi habe ich kaum mehr als einen Bruchteil von ihnen gesehen.“ Yūsei brachte erst die Teekanne zum Tisch und schließlich die Porzellanschalen. Minoru unterband den Drang, ihm seine Hilfe anzubieten. Er hätte ihn lediglich in seinem Stolz gekränkt. Stattdessen ließ er sich ihm gegenüber an den Tisch sinken und nahm die Schale grünen Tees in die Hände, während Yūsei sich selbst einschenkte. „Ryouichi hat eine gute Hundertschaft unter seinem direkten Befehl. Damit ist die Festung hier in Shinano die am besten besetzte im ganzen Westen. Alle übrigen Männer verteilen sich auf den jeweiligen Sitz der Ratsmitglieder. Euer Onkel scheint mir die nächstgrößere Armee zu befehligen. Vielleicht auch Akio.“ Er tippte mit einer Klaue nachdenklich auf den Tisch und zog die Stirn kraus. „Vier oder fünf Dutzend, meine ich in Erinnerung zu haben.“ Minoru musste sich anstrengen nicht verdutzter zu schauen als unbedingt notwendig. Der Alte konnte unmöglich Inuyasha meinen. „Osamu. Der Bruder Eurer Mutter“, ließ Yūsei beiläufig fallen, wohl auch, um ihm seine eigene Unwissenheit nicht noch schwerer zu machen. „Aber auch ohne hundert Soldaten würde niemand ernstlich in Erwägung ziehen, uns offen anzugreifen. Niemand möchte Ryouichi und Eurem Vater auf demselben Schlachtfeld gegenüberstehen. Stattdessen spielen sie lieber an der Grenze Katz' und Maus, lassen siechende Drachen über das Land herfallen und stehlen unsere Kinder.“ Ein verbitterter Ausdruck legte sich über sein markantes Gesicht. Vor einigen Jahrtausenden war er sicher ein gutaussehender Mann gewesen. Groß, mit scharfen Zügen und wettergegerbter Haut, auf der die dezenten, schwarzen Dämonenmale entlang seiner hohen Wangenknochen nicht in fahlen Falten verschwanden. Nur seine Augen waren jung geblieben; glänzten wie schwärzester Onyx und je nach Lichteinfall wirkte es, als seien seine Pupillen in Wahrheit heller als die finstere Iris. „Kämpften sie ehrenhaft, stürben sie. Das lässt sie niederträchtig werden. Niederträchtige, heuchelnde Meuchelmörder, nicht besser als diese Menschen, die sich überall ausbreiten wie ein Sommer voller Heuschrecken. Man kann kaum Spucken ohne einen von ihnen zu treffen.“ „Sie siedeln nicht so tief im Gebirge“, merkte Minoru vorsichtig an. „Als ich in Eurem Alter war, siedelten sie freiwillig nicht einmal auf etwas, das man nur mit viel Zuspruch einen Hügel hätte nennen können. Sie blieben in den Ebenen nahe der Küste. Heute sind dort zwar ihre größten Städte, ihre Siedlungen haben sich jedoch einen Weg in die Wälder und Gebirge gebahnt und auch wenn ich es vielleicht nicht mehr erleben werde, werden sie irgendwann auch hierher kommen.“ Minoru wollte der Gedanke nicht wirklich behagen. „Der Fürst wird ihrer Ankunft sicher das entsprechende Maß an Aufmerksamkeit widmen.“ „Mit Sicherheit“, stimmte der Alte in beruhigenden Ton, der klang, als versuche er ein Kleinkind die Angst vor etwas nehmen, das unweigerlich dennoch geschehen würde. Er setzte die Schale an die Lippen und trank den Rest seines Tees als schütte er Sake seine Kehle hinab. Dann füllte er zunächst Minoru nach und anschließend sich selbst, bevor er das Thema fallen ließ. „Euer Kimono und die übrigen Sachen werden in Kürze sicherlich zu eng werden. Wenn es Euch recht ist, würde ich dieses Mal gern Maß nehmen und Euch Muster, Farbe und Schnitt wählen lassen. Denkt Ihr, das wäre möglich?“ „Sehr gern.“ Minoru legte erneut die Hände um das heiße Porzellan. „Wenn Ihr nicht zu viel zu tun habt.“ „Ah, für Euch habe ich immer Zeit. Wenn gewisse Personen ein wenig mehr auf sich achten würden, könnte ich mir auch überflüssige Arbeiten ersparen und mich um wichtigere Dinge kümmern.“ Den Blick von der Schale in seine Augen hebend starrte Minoru ihn an. Er hatte den Schneider für einen weisen, treuen Veteranen gehalten. Dass er jedoch so über den neuerlichen Auftrag seines Vaters sprach... Als Yūsei begriff, wie seine Worte aufzufassen waren, erblasste er um einige Nuancen und hustete fast seinen Tee zurück in die Schale. „Verzeiht! Ich habe natürlich nicht über Euren hohen Vater gesprochen! Er kam nicht seinetwegen hierher.“ Nun wollte die Erkenntnis erst recht nicht mehr in Minorus Geist eindringen. Für wen sonst sollte der Fürst einen Gefallen erbitten, wenn nicht für sich selbst? „Ryouichi“, murmelte Myōga leise. Doch das Alter hatte dem Schneider offensichtlich nicht das Gehör genommen. „Ja, in der Tat. Der Fürst kam, um mich zu bitten, neue Stücke für den Chūyō anzufertigen. Meine letzte Arbeit hat er an der Ostfront den Drachen zum Fraß vorgeworfen. Das scheint eine seiner ausgeprägteren Künste zu sein.“ Er verzog das Gesicht und murmelte etwas Unverständliches, das nur für ihn bestimmt schien. „Ich bitte abermals um Verzeihung. Es gehört sich nicht, vor Euch schlecht über Euren Lehrmeister zu sprechen. Der Generalleutnant ist ein ausgesprochen fähiger Mann, dessen Loyalität über allem steht. Es ist der Zorn, der aus mir spricht. Wenn man so alt ist, wie ich es bin, scheinen auch erwachsene Männer noch Jungen zu sein, die man bevormunden möchte. Dabei sind sie für meinen Rat längst noch tauber als sie es vor einigen hundert Jahren ohnehin schon waren.“ „Ihr habt ihn unterrichtet“, stellte Minoru fest. Ryouichi war neben seinem Vater der einzige, der ihn wie ein Kind behandelte und er würde es sich auch in zehntausend Jahren nicht nehmen lassen, ihm mit dem Holzschwert eins über den Kopf zu geben, wenn er es als passend empfand. Oh, nicht öffentlich natürlich, niemals öffentlich. Aber gepfeffert und gesalzen, wenn sonst niemand hinsah. Es lag nahe, dass die Dinge mit diesem Mann nicht anders standen. „Beide. Ihn und Euren Vater“, erwiderte Yūsei in einem Ton, der verlauten ließ, dass einer allein schon Nerven genug gekostet hätte. Dass er der Lehrer des Fürsten gewesen war, hatte Ryouichi erwähnt, jedoch nicht, dass auch er unter dem Veteranen trainiert hatte. „Mir war nicht klar, dass sie zusammen aufgewachsen sind.“ „Sie sind im gleichen Alter. Vielleicht durch unbedeutende ein- oder zweihundert Jahre getrennt. Euer Vater hätte ihn nicht zum Generalleutnant erwählt, wenn dem nicht so gewesen wäre.“ Minoru betrachtete die feinen Stücke von Blättern, die sich als Bodensatz in seiner Schale abgelegt hatten. Er war so blind gewesen. Bis vor ihrer Rückkehr am vergangenen Tag hatte der Fürst viel Wert darauf gelegt, jede Seele von ihm fernzuhalten – bis auf seinen einstigen Lehrmeister und seine rechte Hand. Personen, denen er unweigerlich bis zu einem gewissen Grad vertrauen musste, wenn er zuließ, dass Minoru sie ohne seine Aufsicht traf. Er verengte die Augen. Dieser gerissene Hund! Deswegen hatte er sich die neuen Kleider selbst bei Yūsei abholen sollen und auch nur aus diesem Grund durfte Ryouichi ihn so grob behandeln wie es ihm beliebte. Und man behauptete von ihm, er sei misstrauisch! „Junger Herr, habe ich etwas Falsches gesagt?“ „Nein.“ Ryouichi hatte es ihm schon vor Wochen vor die Füße geworfen. Du solltest beginnen, Fragen zu stellen. Der Fürst lässt zurzeit niemanden in deine Nähe, den er nicht als bedingungslos vertrauenswürdig einstuft. Myōga, Yūsei, sogar Jaken. Minoru knirschte leise mit den Zähnen. Wieder hatte Ryouichi sich ausgenommen. Es war ihm schon damals aufgefallen, doch hatte er mit seiner ersten Nachfrage unmittelbar auf Granit gebissen. In lauernder Ruhe musterte er den gebrechlichen Mann, sein schütteres Haar, die pechschwarzen Augen. „Warum vertraut er dem Chūyō?“ Bei der Wandlung, die das Gesicht des Alten durchmachte, war Minoru sich nun endgültig sicher, einen Nerv getroffen zu haben. Nicht nur Ryouichi wollte nicht darüber sprechen, sondern auch Yūsei schien sich mit einem Mal gar nicht mehr so wohl in seiner Haut zu fühlen. „Nun, wie bereits erwähnt sind sie gemeinsam aufgewachsen“, erklärte er in einem Ton, für dessen Beiläufigkeit man hätte applaudieren mögen. „Er weiß um sein Können und kennt ihn besser als alle anderen Angehörigen der Armee. Es lag nahe.“ Ja, das wohl, dachte Minoru bitter. Aber das ist nicht alles. Kapitel 38: Ein Leben hinzunehmen --------------------------------- Kaitos Atem ging stoßweise. Das neue Katana steckte einige Meter entfernt in der weichen Erde der Reisterrasse. Die dünne Haut über seinen Rippen spannte sich schmerzhaft und allmählich hatte er das Gefühl, der Brustkorb wolle ihm unter dem Druck bersten. Keuchend presste er eine Hand in seine Seite, versuchte das Brennen zu ersticken und konnte die Tränen dennoch nicht zurückhalten, als er sich vor Lachen am Boden krümmte. Inuyasha gab ein abfälliges Schnauben von sich, um seinen Unmut Luft zu machen, während er Tessaiga zurück in die Scheide gleiten ließ und das gewaltige Skelett in seinem Rücken weiterhin zu feinem Staub zerfiel. Wie erwartet ließ Kaitos Erheiterung dadurch jedoch nicht im Geringsten nach. „Du hättest dein Gesicht sehen soll! Das war unbezahlbar!“ Er rang sichtlich nach Atem. „'Konzentrier' dich auf das Wesentliche' – war das deine Lektion? Das Ding war riesig!“ „Hast du's langsam?“ „Nein!“ Inuyasha rollte genervt mit den Augen und schlug sich den Knochenstaub von der Kleidung, den das Skelett hinterlassen hatte. Dieses Fiasko würde ihn zumindest das kommende Jahrhundert verfolgen – und sein Sohn würde dafür sorgen, dass er sich alle paar Tage detailgetreu daran erinnerte. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern zum Dorf zurück, den Lohn einstreichen und hier verschwinden.“ Kaito setzte sich mit einem Ruck auf und ließ die Unterarme auf seinen Knien ruhen. Sein dunkelblauer Yukata war flächendeckend mit Erde verschmiert, gleichsam sein Haar, doch das schien ihn wenig zu stören. Wäre es kein knochentrockenes Skelett gewesen, hätte es ebenso gut Blut sein können. Er grinste unverschämt überlegen vor sich hin: „Ich sollte im Sinne deiner Gesundheit vielleicht mal mit Mama reden, damit sie dir den Nachtisch streicht. Sie sagt, von zu viel Süßigkeiten werden Hunde blind.“ Er hatte den Angriff seines Vaters kommen sehen, rollte unter ihm weg und brachte sich mit zwei leichtfüßigen Sprüngen auf dem zerfallenden Oberschenkelknochen in vermeintliche Sicherheit. Kaum einen Atemzug später hatte Inuyasha ihn mit voller Wucht wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, drückte ihn im Schatten des gewaltigen Knochens an den Schultern in den Schlamm der Terrasse und zog heuchlerisch fragend eine Braue hoch: „Eventuell sollte ich dir generell einige Mahlzeiten streichen. Du wirst übermütig – und langsam.“ Er nahm eine Hand von der Schulter und kniff seinem Sohn in die Wange; ignorierte das tiefe Grollen, das dem Jungen entwich. „Vielleicht hast du ein wenig zu viel auf den Rippen.“ Kaito schnappte nach seinem Finger, doch sein Vater zog ihn viel zu schnell zurück. „Langsam und hungrig“, erwiderte Inuyasha leichthin. „Ich sehe einen Zusammenhang.“ „Komm schon, geh runter!“, Kaito wand sich unter ihm, erntete jedoch nur ein müdes Lächeln, bevor sein Vater wieder ernster wurde, sich erhob und ihm aufhalf. „Woher wusstest du, dass es ein Gashadokuro ist?“, fragte Kaito schließlich und schlug sich einigen groben Dreck von der Hose, ehe er sein Katana einsammelte. „Hm?“ „Du sagtest, du rechnest mit etwas, das ebenso wenig lebendig ist wie Drachenleichen.“ „Ach so, das“, Inuyasha schleifte einen Mittelhandknochen mit sich und schulterte ihn. Das im Zerfall begriffene Skelettstück wog etwa so viel wie ein kleiner Baumstamm und würde den Weg bis zum Dorf lange genug überstehen, um als Beweis für ihre Arbeit zu dienen. Wie üblich den obligatorischen Kopf abzuliefern, wollte sich Inuyasha bei den gegebenen Ausmaßen lieber nicht aufhalsen. „Du hattest recht, dass man eine gewisse Größe benötigt, um die Bauern so zuzurichten. Normale Dämonen dieses Umfangs würde man aber sehen. Mit Miroku habe ich schon vor Jahren einen Gashadokuro weiter im Osten erledigt. Sie sind verflucht leise für ihre Größe und tauchen erst kurz vor dem Angriff auf. Wir vermuten, dass sie bis zu einem gewissen Grad unsichtbar werden oder mit irgendeiner Art von Barriere arbeiten.“ Er deutete über die Schulter hinweg ins Tal. „Außerdem ist die Senke gerodet. War sicher mal ein Schlachtfeld und diese Dinger setzen sich gern aus tausenden Skeletten von Menschen zusammen, die bei Krieg und Hunger gestorben sind.“ „Wundert mich, dass es dann nicht viel mehr von ihnen gibt“, murmelte Kaito und schloss zu seinem Vater auf. Der Kampf gegen dieses Monstrum war nicht sonderlich schwierig verlaufen, wenngleich es einer dieser Gegner gewesen war, bei dem man sich ohne Ausweichmanöver nur allzu schnell zerschmettert am Boden wiedergefunden hätte. Aber alles in allem war dieser Knochenhaufen schlicht zu behäbig und unkoordiniert, um ihnen gefährlich zu werden. Hatte dauernd ins Leere geschlagen, während man seine nächste Bewegung längst erahnen konnte und war Tessaiga, das unbeirrt einen Knochen nach dem anderen zerschmettert hatte, schutzlos ausgeliefert gewesen. Das dämonische Glimmen der Augenhöhlen war erloschen und die Knochen als gewaltige Überbleibsel vergangenen Lebens zum Erliegen gekommen. Nichts Spektakuläres. Die Abschlussverhandlungen im Dorf verliefen ruhig. Durch Mirokus Abwesenheit übernahm gezwungenermaßen Inuyasha die Verhandlungen und ging dabei deutlich weniger unverschämt vor als der Mönch, was darauf hinauslief, dass sie die vereinbarte Bezahlung nur unwesentlich nach oben drückten, wenn falsche Angaben vorlagen oder schlicht einstrichen, was ausgemacht gewesen war – in Mirokus Augen ein absoluter Frevel. Andererseits brauchten sie durch die reduzierte Gruppengröße mit ihrem Lohn nur eine Familie zu versorgen und mussten nicht wie üblich zwei vom selben Preisgeld durchfüttern. Inuyasha war außerdem dazu übergegangen, sich in leicht transportierbaren Gütern bezahlen zu lassen: Tägliche Verpflegung und Wertgegenstände wie Gold und Schmuck waren ihm lieber als die sperrigen Vorratsbehälter voller Reis, die sie sonst auf Mirokus Wagen geladen hatten. Umso erstaunter war Kaito, als er an diesem späten Nachmittag im Austausch gegen den gewaltigen Knochen – der in der Dorfbevölkerung für einigen Aufruhr sorgte – zwei Körbe Reis angenommen und ihm schließlich einen davon in die Arme gedrückt hatte. „Wir machen uns auf den Rückweg“, antwortete Inuyasha auf die ungestellte Frage, die sich auf dem Gesicht seines Sohnes abzeichnete, als sie das Dorf verlassen hatten. „Nicht für lange. Aber deine Mutter und die Mädchen können schlecht von dem Leben, was wir so mit uns herumschleppen – und ich könnte gut mal wieder ein, zwei ruhige Nächte im eigenen Bett vertragen.“ Er gähnte ungeniert, während er die Schultern kreisen ließ, um sie zu lockern: „Ich hoffe, das freut dich etwas.“ Kaito blieb lange still und als Inuyasha sich zu ihm wandte, ahnte er, dass er damit erneut das falsche Thema angesprochen hatte. Laut seufzend ging er näher an seinen Sohn heran und schlug ihm, etwas behindert durch den Korb, der unter seinem Arm klemmte, auf die Schulter. „Nun mach nicht wieder so ein Gesicht. Sie werden sich freuen, wenn wir wieder da sind.“ „Wer?“, schnappte Kaito. „Mama und die Mädchen? Ja. Der Rest? Wohl kaum.“ „Kaito -“ „Nein. Weißt du, wie es mich ankotzt, wie sie mich ansehen? Erst die Zwillinge und nun werden es immer mehr. Ihr haltet mich doch auch für gefährlich. Was soll ich da noch sagen? Sobald ich Zuhause bin, geht das wieder los. Ich finde es unerträglich, dass ich für diese dämlichen Kühe aus dem Dorf gejagt worden bin, aber jetzt für ein paar Tage zurückzugehen, klingt nicht unbedingt besser.“ Inuyasha brummte schlecht gelaunt: „Niemand hat dich verjagt. Und außerdem: Außerhalb oder innerhalb des Dorfes – viel andere Möglichkeiten werden dir wohl nicht bleiben.“ „Nein, eben! Das ist ja der Scheiß!“, gereizt bohrte er seine Klauen in die feinen Bambusverflechtungen des Korbes. „Und tu nicht so, als seist du mit mir weggegangen, weil du es als die beste Lösung für mich angesehen hast!“ „Es war die beste Lösung für alle.“ „Vor allem für Miroku und Sango, nicht wahr? Für sie und ihre Brut.“ „Du bist nicht gerecht.“ „Ich bin ein unkalkulierbares Risiko für die heile, heile Dorfgemeinschaft und zumindest zum Teil ein blutrünstiges Ungeheuer – gerecht zu sein stand nicht in den Anforderungen.“ Der Schlag, der ihn daraufhin am Hinterkopf traf, kam so unvorbereitet, dass Kaito für einen Moment tatsächlich die Worte fehlten. „Du bist kein Ungeheuer“, fuhr sein Vater ihn wütend an, „und du wirst diesem Gerede nicht Kleinbei geben! Glaubst du, mir sei es egal, dass die Mädchen, die ich von der Wiege an mit großgezogen habe, alles, was ich in den letzten Jahren als 'Familie' bezeichnet hätte, mit Füßen treten?“ Er schnaubte. „Ich weiß nicht, woher die Gören diesen Unsinn haben, nur dass ihre Eltern die Meinung nicht teilen. Wenn sie ihre Brut nicht in den Griff bekommen, ist das nicht mein Problem. Es sind ihre Kinder und sie sind in erster Linie ihnen verpflichtet – so wie ich euch. Ganz davon abgesehen, dass ich finde, dass du im recht bist – aber wehe du sagst deiner Mutter, dass ich das gesagt habe. Sie wird mir das Fell abziehen, wenn ich dir noch Rückendeckung gebe.“ „Du... was!?“ Inuyasha warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Dachtest du wirklich, ich klatsche ihnen Beifall, wenn sie euch so behandeln? Menschen und Dämonen – ich habe oft genug gesagt, dass wir zwischen beiden keinen Platz finden werden. Wir haben nur uns. Und dass ich aus 'uns' nun Mirokus Familie ausschließen muss, ist nicht gerade angenehm, aber notwendig. Deine Mutter hat den Schluss noch nicht gezogen. Sie weiß nicht, wie es ist, wenn man als Person zweiter oder dritter Klasse behandelt und für alles verantwortlich gemacht wird, das irgendwie schief läuft. Für sie ist die Lage noch zu retten und alles eine Frage von Verständigung. Ich sage dir aus eigener Erfahrung: Da ist nichts zu machen. Mit Miroku und Sango – ja, da kann alles wieder zum Alten kommen. Aber wer sich einmal in den Kopf gesetzt hat, dass du ein Unheil für die Welt bist, wird davon nicht mehr ablassen. Gewöhn' dich an den Gedanken, dass die Zwillinge dir nie wieder freundlich begegnen werden – und daran sie zu ignorieren.“ Kaito starrte seinen Vater mit offener Verwunderung an: „Aber warum sind wir dann gegangen, wenn du ihnen nicht nachgeben willst?“ Inuyasha ließ die Klauen der Linken in einem nachdenklichen Trippeln auf den Korb niederfahren. „Ich dachte, es würde dir helfen auf andere Gedanken zu kommen und dich davon abhalten, diese Gören in Stücke zu reißen. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass das keine Schwierigkeit für dich darstellen würde – nicht körperlich. Aber könntest du nachher damit leben, sie schwer verletzt oder ermordet zu haben? Sie provozieren es und verdienen eine Abreibung – aber nicht von dir, hast du verstanden? Du würdest damit nicht zurechtkommen und sie auch noch in ihrer Dummheit bestätigen. Wenn sich herumspricht, dass du Menschen angreifst – auch noch befreundete Menschen... glaub mir, Kaito, das ist kein Spaß. So werden wir geduldet. Aber wenn du kein Dorf mehr betreten kannst, ohne dass sie ein Kopfgeld auf dich aussetzen, bleibt dir keine Zuflucht und keine Heimat mehr. Yōkai können so leben. Sie tun es ständig. Aber wir? Ich glaube nicht, dass das etwas für dich ist. Also lass diese Ziegen tun, was sie wollen. Sie werden es sich irgendwann mit den falschen Leuten verscherzen – und so wie ich das sehe, wird das nicht einmal mehr lange dauern. Aber dann wäschst du deine Hände gefälligst in Unschuld.“ „Ich wünsche ihnen einiges an den Hals. Aber tot sehen will ich sie nicht“, versicherte Kaito. „Dachte ich mir.“ Inuyasha zuckte kurz mit den Ohren in Richtung eines Waldes, der die breite Straße säumte, und wandte den Kopf, ehe er beschloss, dass es sich lediglich um eine Gruppe Kaninchen handelte, die irgendwo im Unterholz Schutz suchte. „Ignorier' sie einfach.“ „Einfach?“ Kaito klang wenig überzeugt. Es war nicht gerade seine Stärke, Provokationen zu überhören. Insbesondere dann, wenn man sie unmittelbar an ihn herantrug. Inuyasha fing seinen zweifelnden Blick auf und warf bockig den Kopf zurück: „Keh! Selbst der halbwüchsige Pinscher von Sesshōmaru - wie auch immer er hieß -“ „Minoru.“ „Ja, irgendwie sowas – selbst dieser arrogante Wicht lässt sich nicht vom falschen Satz aufheizen.“ Kaito verzog das Gesicht zu einer schwer definierbaren Fratze, irgendwo zwischen Unglauben und Abscheu: „Du bringt den als Musterbeispiel an? Wirklich?“ Inuyasha brummte leise und kratzte sich mit der freien Hand verzweifelt im Nacken: „Ich möchte mir auch gerade die Zunge 'rausreißen... . Aber wo wir dabei sind: Ich weiß zwar immer noch nicht, warum dieser Bengel sich so für dich eingesetzt hat, aber ich rate dir jetzt im Guten, Kaito: Halte dich fern von ihnen. Inuyōkai stecken zu tief in allerlei Fehden. Wie viele Dämonen ich schon töten musste, nur weil mein Vater in grauer Vorzeit irgendeinen Streit mit ihnen hatte – man zählt zu schnell nicht mehr mit. Ich will nicht, dass man meine Kinder auch in Dinge hineinzieht, die mit euch nichts zu tun haben.“ „Andere scheinen bereits überzeugt, dass wir bis zum Hals drinstecken“, warf Kaito ein und sein Vater wandte sich gereizt zu ihm um, das Weiß seiner Fangzähne blitzend, als er sie bleckte. „Rin und ihr dummes Gerede von Einheit und Zusammenhalt. Als bedeuteten diese Worte einem Yōkai auch nur das Geringste!“ „Ich meine nicht unbedingt Rin. Wenn es nach den Drachen geht, kommt es nicht darauf an, wie viel Inu wir sind. Sie wollten uns gleichermaßen ans Leder.“ Inuyashas Miene verfinsterte sich sichtlich. „Drachen, mein Lieber“, meinte er trocken, „haben ohnehin 'n Schaden. Echsen im Allgemeinen und Drachen im Besonderen.“ Auf dem Rückweg zum Palast ließ Minoru sich bewusst Zeit. Die Sonne hatte während seines Besuches bei Yūsei ausreichend an Höhe gewonnen, um auch die letzten Schwaden des morgendlichen Nebels aus den Straßen zu vertreiben. Bedächtig strich sie über die Dächer, ließ das Stroh in einem milden Farbton aufleuchten und erwärmte die Steine, bis sie feinen Dunst in die kühle Luft entsandten. Minoru steckte die Hände in die ausfallenden Ärmel und ließ die messerscharfen Klauen auf den Unterarmen ruhen, als er einen Blick zurückwarf. Die Straße, die vor wenigen Wochen noch wie eine zart rosafarbene Schlange ihren Weg vom Haupttor zum Palast emporgezogen hatte, war von einem satten Grün der Blätter gesäumt und über alle Wehrkreise verteilt wandten sich nun die Magnolien mit ihren Blüten dem nahenden Sommer zu. Irgendwo durchbrach ein Schmied mit seinem Hammer die Stille und sobald man darauf achtete, war die ganze Stadt von Stimmen erfüllt. Nahe der Ostmauer weinte ein Kleinkind, während die etwas älteren sich zwischen den Gassen der Häuser umher hetzten und die streunenden Hunde einstweilen ihre Missbilligung mit einem leisen Schnauben kundtaten oder ihre Welpen den Kindern munter nachjagten. Von den Sandplätzen des Honmaru drang stählernes Klirren und eine Gruppe von Frauen, die die Wäsche in einem Innenhof über die Leinen warf, fluchte verhalten über das unmögliche Verhalten mancher Männer. „Stimmt etwas nicht, Minoru-sama?“, erkundigte sich Myōga vorsichtig, ein wenig verwundert darüber, dass er scheinbar grundlos innegehalten hatte. Doch der Junge schüttelte den Kopf: „Es ist nichts.“ Absolut nichts. Inu. Wenn er an Takerus Worte zurückdachte, an Nobus Äußerungen oder die tiefe Abscheu, die seine Mutter gegenüber dem kriegerischen Westen empfunden haben mochte, so schienen sie in Anbetracht dieser Eindrücke ferner von der Realität entfernt als er je geahnt hatte. Ja, sie legten viel Wert auf ihre militärische Stärke und Organisation, zogen mit einer Selbstverständlichkeit in den Kampf, dass es furchtsameren Völkern wohl Achtung wie Verwunderung abringen mochte und sicherlich waren sie auch schneller dazu bereit, das Schwert zu ziehen, als solche, die Konflikte zunächst mit Worten zu lösen suchten. Dennoch... wenn man diesen Morgen bedachte, der dahinflog wie tausende andere vor ihm, schien der Alltag nichts weiter als Alltag zu sein. Nicht mehr und nicht weniger von Stolz, Reizbarkeit und Kriegeswillen durchzogen als jeder andere Ort des Landes, den er bisher, wenn auch oft nur von Weitem, betrachtet hatte. Im Vergleich zu der angespannten Situation in Musashi schien es Minoru friedlich – und nicht einmal der fremde Geruch, den das Gefolge seiner Großmutter so schamlos verbreitete, vermochte etwas daran zu ändern. Wenn er darüber nachdachte, dass sie nach all dem Durcheinander wieder hier waren, stellte sich eine gewisse Erleichterung ein. Zurück im Westen. Vielleicht würde er sich eines Tages daran gewöhnen können. Irgendwann. Er wandte sich wieder bergan und schritt unter dem dichten Blattwerk des Weges entlang. Es mochte friedlich sein, aber die Schatten, die einige Ereignisse warfen, lagen dennoch über allem. Selbst Yūsei gab sich betroffen über die Intrigen, die anderenorts gewoben wurden und hatte dabei ähnliche Worte gefunden wie einst Nobu. Kriege durch Schein und Trug zu gewinnen war Wölfen wie Hunden zuwider und auch Kinder in die Angelegenheiten von Erwachsenen einzubeziehen stieß nicht auf allgemeine Anerkennung legitimer Taktik. Dennoch fürchtete jeder darum, selbst an diesen verwundbaren Stellen getroffen zu werden. Und wie sollte Minoru es abstreiten? Auch mit dem neuen Maß an Yōki, das ihm zur Verfügung stand und den lächerlich wenigen Grundlagen, die er von Nobu und Ryouichi gelernt hatte, wäre er im Ernstfall nicht in der Lage, sich gegen wahre Feinde zur Wehr zu setzen. Feinde, die im Speziellen nach seinem Leben trachteten und nicht etwa darauf abzielten, irgendeinem dahergelaufenen Jungen den Tag zu verkürzen. Es gab einen Unterschied darin gejagt zu werden oder Ziel zu sein. Doch so sehr die eine Fraktion das Verhalten der anderen auch verurteilte – ändern würde es nichts. Der Fürst tat wohl daran, die Leute genau auszusuchen, mit denen Minoru zusammentraf und er würde sich in dieser Hinsicht gern auf die Einschätzungen seines Vaters verlassen. Doch darüber hinaus blieb vieles unklar. Yūseis Reaktion auf eine einfache, direkte Frage war so offensichtlich ausweichend gewesen, dass es an Lächerlichkeit grenzte. Er war ein in Krieg und Leben erfahrener Mann. Es sah solchen Personen nicht gerade ähnlich, Regungen deutlich nach außen zu tragen. Dennoch hatte Minoru sich mit der ausweichenden Antwort augenscheinlich abgefunden – und auch wenn Yūsei sicherlich zu gerissen war, um nicht zu bemerken, dass Minoru mit der Aussage alles andere als zufriedengestellt gewesen war, hatte er bereitwillig ein völlig anderes Thema aufgegriffen, das Minoru ihm als Ausweg vor die Füße geworfen hatte. Ganz als sei er beruhigt genug, dass er keine weiteren Erklärungen von ihm einfordere. Gerne von anderen, aber bloß nicht von ihm. So hatten sie sich in seine Arbeit geflüchtet. Nutzen und Unnutzen ausladender Ärmel, die ideale Länge eines Obis und die Möglichkeit, Muster in die Textilien einzuarbeiten. Zugegeben, die Vorgänge an sich hätten Minoru auch im Detail interessiert, aber es gab Wichtigeres als die Feinheiten der Yuzen-Technik zum Färben von Stoffen. „Du weißt, dass das nun an dir hängen bleibt, nicht wahr?“ Myōga blinzelte, dann verschränkte er erbost die Arme. „Jeder Blinde hätte bemerkt, dass Ihr dieses Thema nicht so einfach fallen lassen würdet.“ Minoru lächelte schmal. „Warum dann so bockig?“ „Ich hatte gehofft, Ihr lasst Eure neuerliche Neugierde an jemand anderem aus! Ihr seid derjenige, der glaubt, dass nur das Jetzt zähle. Wenn Ihr wissen wollt, was früher geschehen ist, könnt Ihr auch gleich zu Eurem Vater marschieren und Euch nach dieser Zukunfts-Orakelei erkundigen.“ „Sei nicht albern, Myōga. Du berichtest sonst so freizügig über alles Erdenkliche – sei doch froh, dass ich mal genauer nachhake.“ Der Floh schnaubte: „Wenn Ihr Eure Nase dabei jedes Mal in derartige Dinge steckt, die Euch im Grunde nichts angehen, würde ich vorschlagen, Ihr kehrt zu Eurem gewöhnlichen Verhalten zurück und lauscht schweigend!“ Minoru hielt inne und betrachtete den zeternden Floh amüsiert. „Es interessiert mich.“ Er bemerkte, wie Myōga das Gesicht verzog. In Wahrheit hätte es Minoru keinen Deut gekümmert, worauf dieses Vertrauen nun beruhen mochte, wenn sie nicht alle so einen Wind um die Sache gemacht hätten. Aber unter den Umständen erschien es sinnvoller, zu wissen, zwischen welchen Positionen man stand. Ryouichi hatte ihm einen guten Rat mit auf den Weg geben wollen, als er ihm angeraten hatte, Fragen an vertrauenswürdige Personen zu stellen – auch wenn er damit sicherlich etwas anderes gemeint hatte. Auslegungssache. „Myōga.“ Mit einem Seufzen gab sich der Flohgeist geschlagen. „Es ist keine schöne Zeit nach der Ihr fragt“, murmelte er. „Ich verspreche, beim nächsten Mal nach angenehmeren Dingen zu fragen“, sagte Minoru leichthin und glaubte, bei seinem Berater einen Anflug von Aufmüpfigkeit festzustellen. Wäre er tausend Jahre jünger gewesen, hätte er ihm nun sicher die Zunge herausgestreckt. So war es unter seiner Würde. „Ryouichi kam vor etwa fünfhundert Jahren an den Hof. Mein Herr hat ihn in den Westen gebracht, um ihn mit Eurem Vater aufwachsen zu lassen. Sie wurden Yūsei, damals noch Generalleutnant, unterstellt, um eine fundierte, gemeinsame Ausbildung zu erhalten. Ich... nun ja, ich möchte mit aller gebührender Zurückhaltung behaupten, dass es... hilfreich war, Daisuke am Hof zu haben. Das Leben als Sohn des Taishōs ist einsam. Bedauerlicherweise. Insbesondere, wenn die Zeiten es nur den Wenigsten erlauben, eine Familie zu gründen – und selbst mit ausreichend Altersgenossen wird sich selten jemand auf Augenhöhe finden lassen. Jemand, der in der Lage ist, ein Freund zu sein, jemand, der Widerworte gibt. Daisuke war so jemand. Er stammt von einer Insel weit jenseits der Küste und ist unter unzähligen Geschwistern aufgewachsen. Er wusste, mit anderen umzugehen – Euer Vater nicht. Aber Widerworte am Hof waren nicht gewünscht.“ „Mein Vater?“, riet Minoru, der sich kaum vorstellen konnte, wie der Fürst Kritik seelenruhig hinnahm. „Oh nein“, Myōga klang mit einem Mal traurig. „Daisuke war niemand, den man hassen konnte, wenn er einem in die Parade fuhr, den morgendlichen Trainingskampf gewann oder irgendeinen Unsinn ausheckte – und nur Yūsei weiß, was er wirklich alles angestellt hat. Wider Erwarten hat Euer Vater ihm hin und wieder Gehör geschenkt und das allein war schon Wunder genug. Anderen hat das jedoch nicht gefallen. Inuyōkai, besonders die älteren Generationen, sind zähe, harte Biester – entschuldigt den Wortlaut. Sie hatten die Hoffnung ihrer zukünftigen Feldzüge in den Sohn gesetzt. Wo Euer Großvater umsichtig und manchmal sogar mild war, war Euer Vater stets kalt und verließ sich allein auf sein Kalkül. Sesshōmaru-sama hatte Ambitionen, die seinem Vater fremd waren und was der Vater in seinem Sohn abzumildern suchte, war anderen nur allzu recht. Für sie war Daisuke eine Bedrohung. Er hätte den Aufstieg ihres Kriegsherren verderben können, versteht Ihr?“ Minoru wurde mit einem Mal erstaunlich schlecht. Die Abneigung, die er gegen einen Rat zu empfinden begann, dessen Mitglieder längst verwest sein mochten, ließ sich schwer in Worte fassen. Er kannte seinen Vater noch nicht lange und was er bisher erlebt hatte, ließ ihn einen Mann sehen, der ihm im Verhalten ähnlicher war als alle anderen Personen, die er in seinem kurzen Leben getroffen hatte. Er hielt sich ebenso wenig mit vielen Worten auf, mied Nähe, wie Wölfe sie zuweilen schätzten, und legte Wert darauf, seine Belange für sich zu behalten. Allem Hörensagen nach war er ein expansiver Fürst ohne störende Skrupel, auch wenn er ihn so noch nicht erlebt hatte. Minoru verfuhr in vielen Situationen ähnlich, insbesondere mit Fremden, doch wäre ihm bei Takeru niemals eingefallen seine Neckereien unbeantwortet zu lassen oder die Freundlichkeit von Nobu auch dann noch mit eisiger Kälte zu beantworten, wenn er sich ihrer Ehrlichkeit sicher war. Seinen Vater jedoch hatte er nie lächeln sehen. Er war stets gefasst, ernst und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen – wenn man davon absah, dass er es offensichtlich nicht leiden konnte, wenn man sich ohne Erlaubnis durch die Wälder schlich und dabei nähere Verwandtschaft anschleppte. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Minoru aus, so als verstehe er eine bittere Wahrheit zum ersten Mal, deren Hinterfragen er sich gar nicht bewusst gewesen war. Er mochte seinem Vater ähnlich sein, aber es gab einen Abgrund, den keiner von ihnen jemals wirklich überwinden können würde – und auf eine unerwartete Weise schmerzte das. Er schauderte besinnend und Myōga sah besorgt zu ihm auf. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja“, gab er gefasst zurück. „Ich höre zu.“ „Es ist nicht die Aufgabe des Rates, sich in die Belange der fürstlichen Familie einzumischen. Lagebesprechungen, Kriegsräte, Diplomatie und das Zusammenhalten eines gewachsenen Volkes, das über den ganzen Westen verstreut lebt – das ist von hoher Bedeutung. Dennoch können Worte vieles vernichten. Daisuke zog sich allmählich von Eurem Vater zurück. Warum kann ich nicht genau sagen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es aus böswilligen Gründen geschah. Sie haben sich auseinandergelebt und auch wenn Daisuke am Hof blieb, so nahm er sein Training mit den übrigen Soldaten auf und mied Euren Vater. Ich weiß nicht, ob es ihn gestört hat. Es ist nicht einfach, den Fürsten zu verstehen und zu lesen. Es wäre möglich, dass es ihm gleichgültig war.“ Oder auch nicht. Minorus Ausdruck verfinsterte sich. „Was für Worte?“ Myōga schluckte und versuchte die seinen möglichst geschickt zurechtzulegen, bevor er antwortete: „Die Inu der Inseln haben andere Gebräuche, pflegen einen anderen Umgang. Es gab Gerüchte, dass Daisuke Euren Vater auf unangemessen vertraute Weise behandle. Dass er versuche ihn zu beeinflussen und ihm näher stehe, als es schicklich wäre. Ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll -“ „Danke, ich weiß sehr wohl, was du meinst“, unterbrach Minoru seine Formulierungsprobleme. „Ich halte es für Unsinn“, sagte Myōga ernst. „Ebenso wie mein Herr. Diese alten Hunde konnten Daisuke in der Nähe ihres vielversprechenden Fürstensohnes nicht ertragen. Um diese Bedrohung möglichst unauffällig zu beseitigen, kann man jede falsche Bewegung instrumentalisieren. Was Jahre darauf folgte war ein schwarzer Tag für uns alle. Es gibt keine Aufzeichnungen, in denen die Drachen nicht mit den Inu verfeindet waren und vermutlich keine Geschichte für Kinder, in denen es nicht diese schuppigen Echsen sind, die Säuglinge fressen, mutige Männer zerreißen und ihre Frauen schänden. Mein Herr war ein erhabener Mann, großmütig und stolz. Er besaß die seltene Gabe, zuzuhören ohne die Hand gleich an die Waffe zu legen – auch wenn er davon reichlich hatte. Als die Drachen kamen und einen Frieden vorschlugen, war er bereit, dem eine Chance zu geben. Sie verlangten einen Austausch von Geiseln, um den Pakt zu sichern und brachten einen kräftigen, jungen Mann gleich mit. Hübsch anzusehen und von hoher Geburt. Höchstselbst aus dem Nest von niemand geringerem als Shisuna, dem Bruder Ryūkotsuseis persönlich. Der Gegenwert, den sie damit forderten, war mehr als offenkundig.“ Myōga seufzte und rückte sich müde in Minorus Kleidung zurecht. „Sie wollten keinen Frieden. Sie wollten Euren Vater. Es war nicht einfach an ihn heranzukommen und mein Herr hätte die Angelegenheit nicht mehr ohne Weiteres begraben können. Ein bereits offen begrüßtes Friedensangebot unter den Umständen wieder auszuschlagen, wäre ein fataler Zug gewesen. Jeder im Saal, der auch nur den Verstand eines Esels besaß, wusste, dass es eine Falle war. Wohl ausgelegt und ohne politischen Eklat nicht lösbar.“ Minoru wurde mit einem Mal eiskalt, als er ahnte, worauf das hinauslief. „Daisuke hat jedwede Diskussion im Keim erstickt, ist vorgetreten und hat gesagt, er sei der Sohn von Arashi, Anführer der Inuyōkai von Sado, und es wäre ihm eine Ehre, sich als Pfand freiwillig für den Frieden zu melden. Den Gesandten blieb nichts weiter übrig, als das Angebot anzunehmen, wenn sie nicht auf der Stelle einen Krieg entfachen wollten, bei dem ihre Köpfe als erste gefallen wären. Sie haben Daisuke spüren lassen, dass er ihnen in die Parade gefahren ist. Sie töteten ihr Mündel in unserer Obhut – entweder das oder der Junge hat sich selbst umgebracht. Dann erklärten sie meinem Herrn den Krieg. Wir haben gewonnen, doch was wir von Daisuke in den Höhlen im Osten gefunden haben, war selbst durch Tenseiga kaum noch zu retten. Er hat jahrelang kein einziges Wort gesprochen und Euren Vater angesehen, als sei er ein Fremder oder Schlimmeres. Später wurde seine Passivität zu Unberechenbarkeit. Mal war er ruhig, dann legte er ganze Räume in Schutt und Asche und man konnte froh sein, wenn man rechtzeitig vor den einstürzenden Decken fliehen konnte. Yūsei hatte seinen Posten aufgrund der Verletzung, die ihm letztlich sein Bein gekostet hat, niederlegen müssen, und nahm den Jungen bei sich auf. Hat ihn einigermaßen wieder in gesunde Bahnen gelenkt bekommen. Nach dem Tod meines Meisters und seines neuen Generalleutnants wurde Euer Vater Taishō und er wählte ohne Umschweife Daisuke zu seiner rechten Hand, der sich zu der Zeit längst Ryouichi nannte. Ein grausamer Name, wenn Ihr mich fragt... es ausgerechnet an Drachen anzulehnen. Ich weiß nicht, wer darauf kam, ihn so zu nennen und warum er irgendwann nur noch darauf reagierte, aber das war nicht mehr zu ändern. Daisuke ist tot. Daran konnte auch Tenseiga nichts ändern. Was wir zurückbekommen haben ist ein mittlerweile nicht mehr ganz so seelenloser Abklatsch seiner selbst. Aber für Euren Vater wird es vermutlich niemanden geben, der sich sein Vertrauen mehr verdient hat.“ „Aber das ergibt doch keinen Sinn. Warum tun sich alle so schwer, darüber zu sprechen? Ryouichi stellt sich selbst außen vor, wenn er aufzählt, wem mein Vater vertraut, obwohl es offensichtlich ist, dass er zu diesem Kreis gehört und Yūsei hat so getan, als habe ich ihn gebeten, mir zu erklären, woraus Kinder gemacht werden.“ Myōga nestelte nachdenklich an seinem winzigen, olivgrünen Yukata herum und atmete innerlich erleichtert auf, dass ihm zumindest diese Unterhaltung erspart bleiben würde. „Nun... da kann ich auch nur raten – zumal Ryouichi ohnehin schwer einzuschätzen ist. Aber da er auch seinen Namen abgelegt hat, wäre es denkbar, dass er diese Ereignisse als einem früheren Leben zugehörig betrachtet. Ich war nicht dabei, als Sesshōmaru-sama ihn zum Generalleutnant erhoben hat, aber dem Hörensagen nach, war er überrascht und auch verunsichert, als die Wahl auf ihn fiel. Es muss zu Beginn große Wellen geschlagen haben, dass Euer Vater ausgerechnet einem Inu den Posten angetragen hat, der sich in den vorangegangenen Jahrhunderten eher dadurch ausgezeichnet hatte, die Festung in ihre Einzelteile zu zerlegen, wenn er die Fassung verlor. Aber in den fast zweihundert Jahren, in denen Euer Vater durch die Lande reiste, stand die Festung allein unter der Führung des Generalleutnants. Problemlos. Selbst die Ratsversammlungen hat er teilweise geleitet.“ Minoru bleckte die Zähne, stieß jedoch lediglich ein knappes Schnauben aus: „Hätte ich in dem Moment seine Möglichkeiten besessen, wäre der Rat vermutlich um einige Köpfe ärmer gewesen. Lebt noch einer dieser alten Säcke?“ Myōga zuckte bei der Wortwahl zusammen, fing sich aber recht schnell. „Ein oder zwei, schätze ich. Mein letztes Zusammentreffen ist lange her. Eine solche Reaktion liegt dem Generalleutnant jedoch fern. Er verwaltet lediglich. Ob einer seinen Kopf verliert, obliegt allein dem Taishō.“ Ein sanftes Lächeln huschte über Minorus Züge und scheuchte Myōga ein Schaudern über den Rücken. „Junger Herr, was Euch dieser kleine Einblick in die Vergangenheit jedoch vor allem verdeutlichen sollte: Auch wenn die Entscheidungsgewalt allein bei Eurem Vater liegt, wird der Rat nicht unbedeutend sein. Sesshōmaru-sama ist nicht sein Vater und wird im Ernstfall vermutlich konsequenter durchgreifen, als mein Herr es getan hat, aber ihr tätet wohl daran, diese Leute von Beginn an im Auge zu behalten und gegen eventuelle Manöver gefeit zu sein.“ „Das Schlimmste vom Anderen erwarten?“, hakte Minoru nach. „Keine Sorge, Myōga, das kann ich.“ „Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt“, murrte der Flohgeist leise. „Bitte beherzigt das.“ „Ich weiß deine Sorge zu schätzen.“ Dieses Mal war es der Floh, der verächtlich schnaubte, doch Minoru schüttelte den Kopf: „Es ist mein Ernst. Ich mag dir vorkommen wie ein taubes, störrisches Kind, das nichts auf deine Warnungen und Worte gibt, aber das ist nicht wahr. Gestern Abend habe ich versucht, mich zurückzunehmen, den Mund zu halten und meine Großmutter respektvoll zu behandeln. Vorwiegend, indem ich ihr möglichst wenig zugehört habe. Aber ich kann nicht jede Beleidigung und Anfeindung überhören – und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass wenn ich weiter schwiege, ich dastünde wie ein rückgratloses, scheues Kind. Das bin ich nicht. Schon lange nicht mehr. Und ich werde hier nicht mit einem Verhalten beginnen, das mich an mir selbst immer angewidert hat.“ Als ihm eine Schar von Hofdamen auf der Straße entgegenkam, verstummte Minoru, sobald sie in Hörweite waren und ging an ihnen vorüber, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, während sie ihm zu beiden Seiten des Weges auswichen und sich tief vor ihm verneigten. Als sie ihn für weit genug entfernt hielten, tuschelten sie leise miteinander und Minoru wartete, bis er sie nicht mehr hören konnte, bevor er sich wieder an Myōga wandte. „Es ist beruhigend, einen Floh im Ohr zu haben, der all das hier seit Jahrtausenden kennt. Ich bin dankbar für deine Hilfe und beherzige deinen Rat, auch wenn ich nicht alles davon umsetze.“ Eine ganze Weile war von Myōga nichts zu hören. Als Minoru sich ein wenig verwundert zu ihm umwandte, schniefte der kleine Dämon durchdringend und strich sich eine dicke Träne aus den Augen. „Was zur – hör auf damit!“ „Junger Herr...“ Völlig irritiert war Minoru stehen geblieben und starrte ihn an, indes der Floh sich auf seiner Schulter vor ihm verneigte, die Stirn an die weiße Seide seines Kimonos presste und unter Tränen leise Beteuerungen seiner Treue hauchte. Minorus Nackenhaare hatten sich währenddessen aufgerichtet, schließlich atmete er jedoch durch . „Ich weiß deine Treue zu schätzen“, meinte er ruhig, bevor sich ein gehässiger Zug in seine Mimik schlich. „Dann können wir ja nun zum Mittagessen gehen.“ Myōga riss urplötzlich den Kopf hoch und sah Minoru mit großen Augen an. „Nun... natürlich. Ich bin stets an Eurer Seite... jedoch – ich muss noch.. ich finde Euch später!“ „Myōga!“ Doch der sprang bereits mit langen Sätzen über den geschotterten Vorplatz und verschwand als kaum sichtbarer Punkt zwischen dem niedrigen Rhododendronbüschen am Wegesrand. Geschlagen schüttelte Minoru den Kopf und streckte sich ausgiebig, bevor er in den Palast ging. Wie sollte er es Myōga übel nehmen? Hätte man ihm die Wahl gelassen, er hätte sich vermutlich auch in die Vegetation geflüchtet. Aber der Wille des Fürsten war nun einmal Gesetz. Kapitel 39: das im Angesicht der Wirklichkeit --------------------------------------------- „- Euer ehrenwerter Großvater vermochte es, Hyōga zu töten und seinen Sohn am Baum der Zeitalter zu versiegeln. Über zwei Jahrhunderte hatte dieser Bann bestand – bis sein Halbblutsohn das Siegel brach und Menōmaru Zugriff auf jedwede Macht seiner Vorgänger ermöglichte. Eine solitäre Eigenheit der Mottendämonen, in der Tat. Sie gibt ihnen die Sicherheit, dass ihre Nachkommen unter allen erdenklichen Umständen über die Macht ihrer Vorväter verfügen können – etwas, das bei keinem anderen Volk garantiert und schon gar nicht ohne Eigenleistung erreichbar ist. Menōmaru fiel trotz alledem durch die Hand des Han'yō.“ Der alte Lehrmeister machte eine seiner seltenen Pausen und erwiderte Minorus scharfen Blick, als erwarte er eine Frage. Der Junge tauchte jedoch lediglich seinen Pinsel in die Tinte und vermerkte das Ereignis knapp in einer Zeitleiste, die er sich aufgrund der sprunghaften Erzählweise des Alten hatte zulegen müssen. Dennoch wurde er daraus nicht schlau. Menōmaru, Ryūkotsusei... sein Großvater bannte seine Widersacher, Inuyasha brach die Siegel mehr oder weniger aus Versehen und war anschließend gezwungen, sich der lästigen Gegner zu entledigen. War der Mann, den alle so hoch schätzten, nicht in der Lage gewesen, seine Gegner endgültig zu vernichten? Es war keine herausragende Denkleistung, vorauszusagen, dass diese Siegel nicht ewig halten würden und die alte Bedrohung eines Tages somit ebenso wüten würde, wie zuvor – ein wenig schlechter gelaunt vielleicht. Wenn alle ihn so sehr achteten, war er wahrscheinlich ein vorausschauender Mann gewesen und hatte gewusst, dass jemand gezwungen sein würde, hinter ihm aufzuräumen. So sehr Minoru dies im Hinblick auf den Kampf mit Ryūkotsusei auch nachvollziehen konnte, bei welchem bereits die Versiegelung den einstigen Inu no Taishō letztlich ins Grab gebracht hatte, so wenig Sinn ergab dies doch in Bezug auf Menōmaru. Warum eine Motte zweihundert Jahre lang versiegeln ohne ihr zwischendurch die Flügel auszureißen? Insbesondere dann, wenn ersichtlich war, dass sie sich im Falle einer Befreiung der Macht ihrer Vorfahren bedienen konnte. Ebenso hätte der verschiedene Taishō Sō'unga jederzeit selbst vernichten können, wenn es dessen nur Tenseiga und Tessaiga bedurfte, die sich für lange Zeit beide in seinem Besitz befunden hatten. Warum damit warten bis die eigenen, zerstrittenen Söhne jeweils eine der Waffen trugen? Warum all diese vielen und offenkundigen Risiken eingehen, wenn es doch ein Leichtes für ihn gewesen wäre, sie auszumerzen? „Die Inu bedienten sich eines diametralen Mechanismus, um die nächste Generation zu stabilisieren. Im Gegensatz zu Hyōgas Sippe wurden die Fähigkeiten der Vorväter nicht direkt übertragen, sondern primär auf ihre Existenz geprüft. Das Höllenschwert Sō'unga zu führen bedurfte eines willensstarken Anführers, der der Heimtücke und Niedertracht dieser Waffe nicht erlag. Unwürdige Dämonen wären ihr verfallen. Dies hat sich in all der Zeit jedoch nur einmal zugetragen, als der erste Sohn eines Eurer entfernten Vorfahren Sō'unga erhielt und seiner Manipulation nicht zu widerstehen vermochte. Er wurde von seinem jüngeren Bruder erschlagen, welcher der zerstörerischen Wut Einhalt gebot und Inu no Taishō wurde. Natürlich ist diese Tradition durch neuerliche Geschehnisse hinfällig geworden.“ Ebenfalls ein riskantes Spiel, wenn stimmte, was man über Sō'unga sagte: Eine wahrlich höllische Waffe, die dem Boden Armeen von willenlosen Untoten entreißen konnte und ihren Besitzer manipulierte. Es war für Minoru jedoch nach wie vor unverständlich, wie eine Waffe einen eigenen Willen besitzen konnte, der derart mächtig war, dass er Dämonen unterwarf. Es war schließlich nur geschärfter Karbonstahl – nicht mehr und nicht weniger. Aber das war keine Frage, die er diesem greisen Yōkai stellen wollte. Er wusste, an wen er sie ohne Weiteres hätte richten können, doch Tōtōsai wie auch sein Vater waren mehrere Tagesreisen entfernt. Der Fürst führte jenseits der westlichen Grenzen weiterhin Krieg gegen die Drachen und kam so selten nach Hause, dass Minoru sich nur schwerlich daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal im Palast gewesen war und ob sie dabei mehr als zwei Sätze ausgetauscht hatten. Er musste sich wohl oder übel mit der Anwesenheit seiner Großmutter begnügen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Abwesenheit des Fürsten zu nutzen, um die Ausbildung ihres Enkels persönlich zu arrangieren – und Minoru kam nicht umhin, dabei immer wieder über den Gedanken zu stolpern, dass sie diese Pläne bereits lange Jahre in der Hinterhand hielt: Seit geraumer Zeit verbrachte er den gesamten Vormittag mit einem Inu, der unmittelbar aus ihrem Gefolge stammte. Während der ersten drei Termine hatte er ohne Punkt und Komma über die „eminente Bedeutung der mathematischen Kunst für einen angehenden Feldherrn“ gesprochen, wobei er in jedem sechsten Satz mindestens ein Wort verschluckte. Er war ein recht kleiner Mann von einigen hundert Jahren, der nervöser wirkte als eine verängstigte Ratte. Vermutlich hätte er auch optische Ähnlichkeiten mit einer solchen aufgewiesen, doch jedes Mal, wenn Minoru auch nur den Blick zu ihm gehoben hatte, war er in eine Schockstarre verfallen, die sich nur sehr langsam wieder löste. Da dies die Zusammentreffen in eine noch unnötigere Länge zog, hatte Minoru bald davon abgesehen, seine Augen auf etwas anderes zu richten als das penibel polierte Holz vor ihm. Die ersten praktischen Aufgaben, die auf die endlose Existenzberechtigung der Mathematik gefolgt waren, hatte er jedoch relativ schnell gelöst, sodass sein Lehrer vollkommen verdutzt zurückgeblieben, ja wieder in einer Starre eingefroren war, die Minoru dazu veranlasst hatte, eine Wache auszuschicken, um jemanden zu holen, der sich um den Mann kümmern konnte – was ihm wiederum eine Rüge seiner Großmutter eingebracht hatte. Seither bekam er zu Beginn des Treffens einen ganzen Stapel Aufgaben und durfte gehen, sobald diese korrigiert worden waren. Mit der Zeit waren sie schwieriger geworden, doch sobald ihm ein Fehler unterlief, gab sich sein Gegenüber alle Mühe, den Grund dafür zu bereinigen. Es war fast angenehm mit ihm zu arbeiten und allmählich wagte Minoru zu behaupten, dass der Mann schnell von seinen Vorurteilen abgekommen war und ihn längst nicht mehr für so ungebildet und hinterhältig hielt wie zuvor. Das Mittagessen nahm er regelmäßig mit Chizuru ein, die auf eine gemeinsame Mahlzeit am Tag bestand. Selbstredend um sicherzugehen, dass ihr Enkel ausreichend versorgt war, um wenigstens noch ein wenig an Höhe zu gewinnen, bevor er in einigen Jahren langsamer altern würde und sie sich mit einem mickrigen Erben begnügen musste. Die Stunden mit ihr verstrichen meist sehr still. Sie sprach ihn selten an und erwartete auch nicht, dass er von sich aus eine Unterhaltung begann. Meist erkundigte sie sich lediglich wie die vergangenen Stunden verlaufen waren und berichtete dann knapp, was in den kommenden folgen würde, damit er sich mental darauf einstellen konnte. Es war eine beklemmende Stimmung, aber weniger unangenehm als befürchtet – obwohl Myōga dennoch jedes Mal wie vom Erdboden verschluckt schien. Vom frühen Nachmittag bis in die späten Abendstunden hinein, erwartete ihn eine Lektion in Geschichte – und so wie es aussah würden sie auch heute deutlich in die Nacht hinein zusammensitzen. Der Greis war kein Inu, dessen war sich Minoru sicher, aber er hatte auch keinen blassen Schimmer, zu welchem Volk er sonst gehören mochte. Sehr wahrscheinlich hatte Chizuru ihn irgendwoher anreisen lassen. „Vom Zeitpunkt seiner Herstellung durch einen unbekannten Waffenschmied bis zur Vernichtung durch Euren Vater und seinen Halbbruder vor weniger als einem halben Jahrhundert, war der Wille Sō'ungas zweimalig in der Lage, offen ans Licht zu treten – mit verheerenden Folgen: Schlachtfelder voller willenloser Leichen, offene Pforten zur Unterwelt und nutzloses, verbrauchtes Land. Und selbst wenn es den Geist seines Besitzers nicht völlig zu zerstören vermochte, war es unermüdlich auf der Suche nach Schwachpunkten, um seinen eigenen Willen durchzusetzen. Nährte den Unmut seines Meisters, um ihn zu korrumpieren, jedes noch so kleine Ärgernis vom Angesicht der Welt zu tilgen. Hass in seiner Reinform, der sich immer dann ein neues Ziel suchte, wenn das alte in Trümmern lag – und damit die Waffe, die den Inuyōkai am ehesten entspricht“, der Alte klang, als spräche er nur für sich. Er fuhr mit den brüchigen Nägeln durch seinen Bart. Weißes, drahtiges Haar, das so lang war, dass es beim Gehen vor seinen Füßen schleifte. „Hass in seiner Reinform entspricht den Inuyōkai am ehesten?“, wiederholte Minoru leise und veranlasste den Alten damit für einen Moment innezuhalten. Er musterte den Jungen ob der seltenen Unterbrechung und einige Züge um seine ebenso drahtigen Augenbrauen verhärteten sich. „Was ist es, das Euch daran aufhorchen lässt?“ „Der Zusammenhang ist mir nicht klar. Das Volk gilt als kriegerisch, dessen bin ich mir bewusst. Aber Hass?“ Der Alte nickte mehrfach langsam vor sich hin, bevor er wieder zu sprechen begann: „Die Quelle dämonischer Energien ist bei dem überwiegenden Teil der Dämonen deutlich naturgebunden. Sie entspringt den Seen, in denen sie leben, und den Wäldern, die sie durchstreifen. Damit sind sie vielen Kami nicht gänzlich unähnlich. Der Tod wäre für Götter wie auch für Dämonen unausweichlich, sobald diese Quelle versiegte. Doch auch wenn im ganzen Land die Seen und Meere austrocknen und Wälder wie Berge zu Asche werden, würden die Kinder Akayas unberührt bleiben. Inugami sind Rachegeister und seitdem sie die schmale Linie zum Dämon überschritten haben, gilt dasselbe auch für Inuyōkai. Ihr Quell ist intrinsischer Natur, ihr Yōki lebt von Zorn und dem Willen, den Gegner zu vernichten. Sō'unga war stets nur der Spiegel Akayas – und gleichsam die Inu selbst.“ Er strich abermals nachdenklich durch seinen Bart. „Hass und Leid sind schwerer zu zerstören als bloße Wälder.“ Minoru hielt einen Moment inne und ließ den Pinsel sinken. Es entsprach der Wahrheit, dass seine Aura immer dann gefährlich heiß aufbrannte, sobald ihn etwas über ein erträgliches Maß hinweg verärgerte. Es war sonderbar die eigene Natur aus diesem Blickwinkel zu betrachten; hatte er bisher doch immer geglaubt, diese Zusammenhänge seien gemeinhin nicht außergewöhnlich. Das allein warf ausreichend Fragen für eine ganze Stunde auf, doch Minoru hielt sich zurück diese an einen Yōkai zu richten, der offensichtlich nicht aus eigener Erfahrung sprechen konnte. Wenn sein Äußeres ihn nicht bereits ausreichend von jedem Hundedämon distanziert hätte, so wäre seine Wortwahl allein Bekenntnis genug gewesen. Was die übrigen Ungereimtheiten betraf, so enthielten seine Notizen weder etwas über Inugami noch Akaya, auch wenn Minoru sicher war, den Namen nicht zum ersten Mal zu hören. Doch die vergangenen Lehrstunden mahnten ihn, Erkundigungen zu gänzlich unbekannten Gebieten lieber an Myōga zu wenden: Während der letzten Monde war der Greis stundenlang mit seinen stumpfen, gelben Nägeln durch das weiße Gestrüpp seines Bartes gefahren und hatte in schier beliebiger Reihenfolge von vergangenen Schlachten, Verbindungen und allerlei Ereignissen gesprochen. Die ersten Wochen waren besonders frustrierend gewesen. Namen über Namen, Taten, Heiraten, daraus hervorgegangene Erben, wieder Namen und Daten bis Minoru glaubte, tatsächlich sehen zu können, wie sich alles vor seinen Augen zu einer dumpfen, grauen Masse formte. Die Treffen dauerten meist bis spät in die Nacht und auch heute war die Sonne schon längst hinter der Westmauer versunken. Sollte der Alte in diesem wirren Durcheinander, in das er stets mehr Kleinigkeiten einfließen ließ als nötig waren, eine Thematik gänzlich auslassen, dann war diese entweder nicht für das öffentliche Gespräch bestimmt oder als absolutes Grundwissen zu verstehen – und in beiden Fällen würde er mit Myōga gewisse Peinlichkeiten auf beiden Seiten umgehen. Allmählich hegte er Mitleid für den Flohgeist, der sich immer häufiger mit Gesprächen konfrontiert sah, die er lieber nicht hätte führen wollen. Aber letztlich war es Myōgas eigene Entscheidung gewesen, ihn zu begleiten – so wie es allein in seinen vielen Händen lag, ob er blieb. Der Alte wechselte das Thema, sprach über die Heian-Periode zwischen 794 und 1192, in welcher das Verlangen nach einer Miko einen jungen Mann für die Schliche niedriger Yōkai anfällig machte, die ihn schließlich in einem derart umfangreichen Maße befielen, dass sie mit ihm zu einem einzelnen Dämon verschmolzen, dessen einziger Wille es war, die einst Angebetete nach Herzenslust auszuweiden. Minoru hatte zwar bisher weder Gelegenheit noch Ambitionen gehabt, Interesse an irgendeinem Mädchen zu empfinden und als einziges Beispiel einer funktionierenden Partnerschaft Takerus Eltern vorzuweisen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass das nicht unbedingt den Weg harmonischer Zweisamkeit darstellte – zumal das Ergebnis des entstehenden Kampfes das Shikon no Tama war, ein Juwel, das für seine relativ kurze Existenz deutlich zu viel Ärger provoziert hatte. Dennoch war es offensichtlich ein beliebtes Muster der Partnerwahl, denn schon vor einer Weile hatten sie besprochen, dass über ein halbes Jahrtausend später ein anderer Sterblicher ebenfalls Verstand und Seele über Bord geworfen hatte, um der Priesterin näher zu kommen, die selbiges Juwel in Verwahrung hielt. Danach sprang er erneut von einem Thema zum anderen, berichtete wieder Bruchstücke bezüglich der Invasion der Mottendämonen vom Festland und der Grenzentstehungen im Nordwesten nach den Feldzügen gegen die Panther in Echigo und Uzen vor wenigen Jahren. Als er schließlich damit geendet und Minoru entlassen hatte, machte sich dieser auf den Weg zu seinem Zimmer und bog lautlos in den Ostflügel ab. Die Dienerschaft ließ die Regentüren bei Nacht weit geöffnet und auch die mit dünnem Papier bespannten Schiebetüren waren zur Seite geschoben worden. Der letzte Vogel in den Gärten war verstummt. Die hohen Laute der Fledermäuse und das beständige Zirpen der Zikaden erfüllten den Palast, ebenso wie die restliche Wärme des vergangenen Tages. Seit geraumer Zeit waren die Temperaturen auch in der Nacht kaum gesunken und die wenigen, heftigen Sommergewitter waren an der trockenen Oberfläche der Böden abgeprallt ohne an die Wurzeln der Pflanzen zu reichen. Das Gras war gelb geworden, der große Teich beträchtlich geschrumpft. Doch die Inu kümmerte die Hitze kaum. Während sich Hunde und Nager, die sich sonst ständig im Innern der Burgmauern herumtrieben, am Tage zurückzogen, spielten die Kinder ungehaltener denn je in der Mittagssonne und selbst Yūsei hatte seinen Webrahmen hinaus in den Garten bringen lassen. Yōkai und Feuer bildeten bis zu einem gewissen Grad eine Einheit, sodass die andauernde Wärme nicht nur die Gemüter erhellte, sondern auch das ein oder andere Leiden kurierte. Sogar Ryouichi war unter der Hitze wieder genesen und befand sich seit einiger Zeit erneut auf dem Schlachtfeld – wobei Rin an diesem Heilungsprozess nicht unbeteiligt gewesen war. Als Minoru das Gefühl hatte, dass niemand sonst in der Nähe war, reckte er sich ausgiebig auf dem Gang und gähnte. Rin war ebenso in der Festung zurückgelassen worden wie er. Sie besaß jedoch die Freiheit ihren gesamten Tagesablauf selbst zu bestimmen, während es für Minoru bereits eine organisatorische Herausforderung war, eine Weile auf den Wehrgängen zu sitzen und über die Mauern zu blicken. Bei Tageslicht hatte er den Ort schon wochenlang nicht betreten. Entweder er zwang sich am Morgen noch vor der Unterweisung in Mathematik vom Futon oder nahm sich die Zeit nach der Geschichtslektion, wobei ihm dabei meist die Augen zufielen, sobald er erst einmal auf der Mauer saß. Myōga schickte ihn dann zeternd auf sein Zimmer – immer darauf bedacht, zu betonen, dass auch das Wasser des Sotobori steinhart sein würde, wenn er darauf aufschlug. Der Ostflügel war zu dieser Stunde still und neben den Lauten der Tiere draußen, war Myōgas leiser Atem das einzige Geräusch. Der Flohgeist schlief schon seit geraumer Zeit in einer Falte seines Kragens und würde sich am Morgen sicher wieder dafür entschuldigen, dass er das Ende der Geschichtsstunde verpasst hatte. Nun, er war alt und das Alter forderte seinen Tribut. Je durchstrukturierter die Tage wurden, desto mehr kam Myōga zur Ruhe und allmählich wurde dadurch erst erkennbar, wie müde und erschöpft der alte Floh tatsächlich war. Es wäre kaum ergiebig ihn nun aus dem Schlaf zu reißen und Antworten zu verlangen. Auf ein oder zwei Nächte der Unwissenheit kam es nun auch nicht mehr an. Minoru atmete tief durch und hielt mit einem Mal inne. Eine mittlerweile allzu bekannte Witterung wurde durch den Garten hereingetragen, gefolgt von einer zurückgehaltenen, aber dennoch unverwechselbaren Aura. Mit zwei Schritten war Minoru über den Engawa und landete barfuß im kraftlosen Gras. Schon bevor er freie Sicht auf den Westflügel hatte, war die Lichtspiegelung aus den Räumlichkeiten des Fürsten deutlich auf dem glatten Wasser des Sees zu sehen. Er war zurückgekehrt. 狐 Am südlichen Hof war die Geburt eines Nachkommens des Herrschaftshauses bereits seit einigen Jahrhunderten zu einer gewissen Gewöhnlichkeit verkommen. Andere Völker mochten ihre lieben Sorgen mit der Sicherung ihrer Linie haben, warteten mit beinahe menschlicher Naivität auf friedlichere Zeiten oder verloren ihre Kinder an die Wirklichkeit. Wenn man den Meldungen Glauben schenken konnte, war sogar Hokkaidō seit einigen Jahren ohne Erben. Nobu war längst nicht mehr der Eroberer von einst und sein Sohn schon lange erwachsen gewesen. Es war surreal, dass er gefallen sein sollte. Aber worüber machte Kōhei sich Gedanken? Haru war ebenfalls kein kleiner Junge gewesen. Gleich wie gut ausgebildet und erfahren sie waren, der Tod lief stets an ihrer Seite. Dasselbe galt für Hayatos jüngste Tochter, die Jun in der vergangenen Nacht zur Welt gebracht hatte. Das dreiundvierzigste Kind des Fürsten und noch dazu ein Mädchen – es gab ausreichend Köpfe, die sich auf einem Tablett besser präsentieren ließen als der ihre. Somit war ihr lediglich das Desinteresses ihrer Feinde sicher – und letztlich auch das ihres Vaters. Nun wusste auch der Fürst des Südens, dass Mädchen nicht gänzlich unnütz waren und hatte einige seiner Töchter gewinnbringend an Ratsmitglieder verheiratet. Blut vermochte manche Männer deutlicher an ihre Treue zu erinnern als Worte. Manchmal war dafür nur jenes Blut vonnöten, das naturgemäß in den Adern der Kinder von ihrer Herkunft sang. An anderen Tagen jedoch, den schlechten Tagen, empfand der Fürst es als angemessener, einige dieser Adern zu öffnen, um einen gewissen Nachdruck zu verleihen – was ihm zweifelsohne dazu verhalf, sich Gehorsam und Treue seines Beraterstabes zu sichern. Kōhei saß wie gewohnt in der Nähe des Fürsten. Die Zeiten, in denen er zu feierlichen Anlässen stundenlang ungerührt an den langen Wänden des großen Saales Wache stehen musste, gehörten seit seiner Ernennung zum General der Vergangenheit an. Er hatte seine Männer für diesen Abend wohl überlegt gewählt und am Vortag ausruhen lassen. Die Zeichen standen allerorts auf Sturm und er wollte nicht den Kopf dafür hinhalten müssen, wenn etwas ausgerechnet bei einem derartigen Anlass schieflief. So viel Nichtigkeit der Fürst dieser Feier an sich auch beimaß, waren doch zu viele wichtige Personen eingeladen worden, um ein Risiko einzugehen. Oni und allerlei niederes Gewürm hatte sich vor Wochen in Richtung Nordosten in Bewegung gesetzt. Immer wieder durchquerten einzelne Dämonen oder kleinere Gruppen die Ländereien der Kitsune und auch wenn sie bisher kein Interesse an einem Kampf gezeigt hatten, was es doch ein sonderbares Phänomen, das Wachsamkeit verlangte. Wäre es ihm möglich gewesen, Kōhei hätte liebend gern eine Wache übernommen und den Saal oder noch besser die Tore des Hofes beaufsichtigt. Doch von diesem Tisch aus konnte er höchstens über die Manieren seiner Tischkameraden wachen – und die ließen mit zunehmenden Alkoholkonsum immer mehr zu wünschen übrig. Er selbst nippte nur der Höflichkeit halber an seinem Wein und versuchte zumindest Saburō im Auge zu behalten, auch wenn er ohnehin nicht das Geringste gegen ihn hätte unternehmen können. Der nun älteste Fürstensohn saß nah bei seinem Vater, auch wenn er offenkundig dazu in der Lage schien, allein durch seine Körperhaltung eine so eisige Barriere zu seinem Erzeuger aufzubauen, dass Kōhei annahm, sie müsse in der schwülen Sommerluft zu dampfen beginnen, sobald Saburō sie mit Worten festigte. Die Ratsmitglieder, die das Wort an ihn richteten, hatten deutlich mit seiner ihm eigenen Selbstverständlichkeit zu kämpfen und begingen einen gefährlichen Drahtseilakt, als sie sich darin übten, den teilweise sehr deutlichen Provokationen des Sohnes höflich zu begegnen, ohne den Zorn des Vaters zu wecken. Es war offensichtlich, dass Saburō um die Umstände wusste, mit der seine Familie geführt wurde. Trotzdem er fernab des Hofes aufgewachsen war, bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten, die Ratsmitglieder nach dem Befinden seiner jeweiligen Schwester zu fragen, wenn ihm der Sinn nach einer harmlosen Unterhaltung stand – nun, harmlos gemessen an seinem üblichen Verständnis einer Unterhaltung. Die Männer hingegen versuchten mit Mühe zu überspielen, wie pikiert sie waren, am Tisch ihres Herrn ausgerechnet um Auskunft bezüglich ihrer Frauen gebeten zu werden. Fürstentöchter hin oder her, sie hatten sie nicht im Rücken des Fürsten abseits des Tisches Platz nehmen lassen, um nun über sprechen zu müssen. Wölfe und gelegentlich auch Hunde mochten ihren Töchtern gar Waffen in die Hände legen, doch diese Umgangsformen galten im Süden als barbarisch und waren bereits vor vielen Jahrtausenden verschwunden. So war es für viele bereits eine Zumutung, dass sämtliche Töchter, einschließlich der unverheirateten, im selben Raum geduldet waren, während ein solches Ereignis begangen wurde. Wobei einige zu vergessen schienen, dass Frauen gemeinhin dafür vonnöten waren, Kinder zur Welt zu bringen, aufgrund deren Geburt man ein solches Fest feiern konnte. Aber wer wollte sich hier schon mit Kleinigkeiten aufhalten? Solche Zusammenhänge konnten der Wahrnehmung auch einmal entfliehen. Zumal selbstredend weder Mutter noch Säugling anwesend waren. Auch Hiromi war nirgendwo zu sehen und das wiederum schlug sich sehr unangenehm auf Kōheis Gemüt nieder, wenn er daran dachte, dass es ihr offensichtlich nicht erlaubt war, den Nordtrakt zu verlassen. Es war ausgeschlossen, dass ihr Gefährte ihr Fehlen nicht bemerkt hatte, doch er benahm sich nicht auffälliger als sonst auch; fragte nicht nach ihr und unterließ auch etwaige Seitenhiebe, die er seinem Vater bezüglich dieses Themas hätte versetzen können. Hätte Kōhei es nicht besser gewusst, hätte er angenommen, die schüchterne Silberfüchsin existiere nicht einmal. So ignorant Saburōs Verhalten ihr gegenüber damit auch erscheinen mochte, war die Konsequenz, mit der weder Vater noch Sohn die Sprache auf die junge Frau brachten, in gewisser Weise beruhigend. Kaum auszudenken, was passieren würde, wenn sie in dieser Situation einen öffentlichen Streit begannen. „Euer Interesse an den glücklichen Ehen der Gefolgsleute Eures Vaters ehrt uns alle zutiefst, Kōtaishi. Bedauerlich, dass uns die Anwesenheit Eurer Dame heute Abend verwehrt bleibt. Eine schüchterne Schönheit Awajis, ganz gewiss. Sie ist indisponiert, nehme ich an?“ Kōheis Schlund verkrampfte augenblicklich. Es gelang ihm gerade noch den Schluck Wein unauffällig herunterzuwürgen, bevor sein Schock für jedermann ersichtlich wurde. Der arme Kerl neben ihm hatte weniger Glück und verschluckte sich heftig. „Indisponiert, ja“, erwiderte Saburō trocken und entgegen aller Erwartungen ebenso wenig glücklich wie Kōhei, dass jemand dem Gespräch diese Wendung gegeben hatte – vermutlich jedoch mit der Ausnahme, dass es nicht Saburō war, der zwanghaft versuchte, die Mordgelüste zu unterdrücken, welche lauthals danach verlangten, dem erst kürzlich berufenen Ratsmitglied der Provinz Izumi für seine zum Himmel schreiende Dämlichkeit den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand einzuschlagen. Doch wenn Kōhei es recht bedachte, hätte dieser Narr Saburōs Auserwählte ebenso gut eine missgebildete Hure nennen können. Blieb nur die Hoffnung, dass der Kōtaishi dennoch nicht - „Offenkundig ebenso indisponiert wie Euer Taktgefühl, Taichi-dono. Es freut mich für Euch, dass es ausreicht, in regelmäßigen Abständen Luft in Eure Lungen zu befördern – zu schade für meinen Vater, dass es Euch damit gleichermaßen des Sprechens bemächtigt. Wenn er von Personen wie Euch beraten wird, wundert mich kaum, dass der Süden sprichwörtlich vor die Hunde geht.“ Die Situation jetzt noch herumzureißen, bedurfte entweder eines sehr skurrilen Scherzes oder dem Erbarmen der Zimmerdecke, die den versammelten Hof unter sich begrub. Selbst ein Großangriff irgendwelcher Yōkai wäre Kōhei nun äußerst gelegen gekommen. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Einen kurzen, stillen Moment, in dem Kōhei mehr denn je hoffte, irgendwo inmitten eines grausamen Albtraums gefangen zu sein. Er ging vorüber. Weder Diplomaten, Decken noch Oni rührten einen Finger und der letzte Funken Hoffnung starb mit dem vor Zorn rot anschwellenden Gesicht Taichis. „Du dreckiges Stück schwarzen Abschaums.“ „Ihr vergesst Euch“, mahnte Saburō warnend. „Wenn Ihr mich beleidigen wollt, dann solltet Ihr es subtiler versuchen oder lernen, mit der Antwort zu leben.“ „Man hätte dich gleich nach der Geburt-“ Siedendes Yōkis brandete über den Tisch hinweg, riss Speisen und Geschirr wie Papierdrachen durch den Raum und versengte die florale Dekoration bis zur Unkenntlichkeit. Kōhei war auf den Beinen gewesen, noch ehe die Energiewelle seinen Becher erfassen konnte und hielt den Blick in Erwartung von Anweisungen unverwandt auf seinen Herrn gerichtet. Die Wachen taten es ihm gleich. „Taishō.“ Das tiefe Grollen des Fürsten ließ auch das letzte Geräusch im Raum verstummen. „Jawohl, Herr.“ „Seid so freundlich und geleitet unseren Gast in seine Gemächer. Ich würde Euch bitten, den Nordtrakt einzurichten, aber wir wollen die Ruhe der Dame nicht unnötig stören. Findet etwas Entsprechendes für ihn bis ich Zeit und Lust habe, mich seiner anzunehmen.“ „Ja.“ Er wandte sich um und betrachtete Taichi, der offensichtlich erwartet hatte, man würde den verhassten Sohn für sein Benehmen maßregeln – was Saburōs Ansichten über dessen gesellschaftliches Geschick zu allem Überfluss bestätigte. Dann nickte er zwei seiner Wachen zu, darunter Jirō, der den schockierten Fuchs von seinem Platz hob als handle es sich um einen kleinen Jungen und nicht um einen Lord Izumis, dessen Rüstung allmählich etwas zu eng zu werden drohte. Sie hätten seine Anwesenheit bei dieser Eskorte nicht benötigt, doch Kōhei war nicht gerade traurig, diesem Fest für einige Minuten zu entkommen. Ein wenig langsamer als gewöhnlich führte er den Tross in die Gewölbe unterhalb des Palastes. Das panische Geschrei und die hochtreibenden Beteuerungen des Ratsmitglieds waren dabei eindeutig das kleinere Übel und eines, das Kōhei mit den Jahren auszublenden gelernt hatte. Auf dem Rückweg wandte sich Jirō vorsichtig an ihn. „Darf ich Euch fragen, was vorgefallen ist?“ „Er nahm offensichtlich an, Saburō-sama keinen Respekt schuldig zu sein“, antwortete Kōhei mit gesenkter Stimme. Dann sah er die beiden an. „Was auch immer ihr über ihn gehört haben mögt, ist vollkommen gleichgültig. Er ist Kōtaishi. Er ist Euer zukünftiger Herr. Alles andere ist nicht erwähnenswert. Vergesst das niemals. Habt ihr verstanden?“ Jirō betrachtete seine Füße beim Gehen, so wie er es immer tat, wenn er nachdachte. „Ja", er nickte schließlich und auch sein Kamerad stimmte mit ein. „Ganz wie Ihr es sagt.“ Noch bevor die Diener die Saaltüren für sie aufstießen, hatte Kōhei sich auf das Schlimmste eingestellt. Es war so totenstill im Raum, dass eine auf dem Tatami aufsetzende Feder unsäglichen Lärm verursacht hätte. Hayato stand seinem Sohn mitten im Saal gegenüber. Das dunkle Fell Saburōs war im Begriff sich wieder zu legen, als er es mit einem Handstreich selbst bändigte. „Wenn das Euer Wunsch ist. Ich würde allerdings eine privatere Atmosphäre vorziehen. Wenn-“ Die übrigen Anwesenden rührten sich augenblicklich als Hayato mit dem glatten Fell des Fuchsschwanzes harsch über den Tatami strich. Eine gute halbe Hundertschaft von jungen Kitsune erhob sich mit den Dienern und verließ gesenkten Kopfes den Saal. Kōhei suchte den Blick seines Herrn und fand darin wie erwartet den stummen Befehl, nicht zu weichen. Natürlich. Er fürchtete seinen Sohn nicht, aber er war nicht Narr genug, diesem Vorschlag mit gutmütigem Vertrauen zu begegnen. Wenn Saburō freiwillig die Bühne aufgab, die er durchaus hätte nutzen können, lag etwas im Argen. Andererseits hatte er seine Karten bereits jetzt gewinnbringend ausgespielt: Kōhei sah viele, die auf dem Weg zur Tür möglichst weit außen gingen, um weder Bruder noch Vater näher zu kommen als nötig. Aber da waren auch jene, die Saburō verstohlenen Blicke zukommen ließen. Aufmerksamkeit, Neugierde. Selbst wenn es sich dabei um die absolute Minderheit der Wenigen handelte, die Anteil am Geschehen nahmen, war es doch ein Grund zur Sorge. Saburō war letzten Endes ein Fremder und dennoch hatte er sich binnen kürzester Zeit den anderen angenähert. Doch Kōhei sah auch Sōsuke, das jüngere Abbild seines Vaters, der mit der leisen Drohung gebleckter Fänge an seinem Halbbruder vorüberschritt. Er würde die Ereignisse während seines Genpuku vor hunderten Jahren sicher nicht so schnell vergessen und Saburō auch die Schuld an diesem Abend geben. Doch der beachtete ihn nicht, auch wenn Kōhei sicher war, dass man diese offene Feindseligkeit nicht einmal übersehen konnte, wenn man mit Blindheit und Taubheit gleichermaßen geschlagen war. Hayato machte ebenfalls keine Anstalten, seinen Sohn zurechtzuweisen und kümmerte sich nicht um die Übrigen – bis eine seiner Töchter an ihm vorüberging, die er aus keinem ersichtlichen Grund am Arm packte und zu sich zog. Das Mädchen starrte erschrocken zu ihm auf, bevor sie sich eines Besseren besann und wieder die harten Matten zu ihren Füßen betrachtete, um weder den Fürsten noch ihren Bruder ansehen zu müssen. Akemi war Emikos Mädchen, etwa dreihundert Jahre alt, vielleicht ein wenig mehr. Ihre Mutter verharrte im Rahmen der Tür und sah sich sorgenvoll nach ihrer Tochter um. Erst als ihr Mann mahnend den Blick hob, wandte sie sich widerstrebend ab und schloss sich den anderen an. „Reden wir offen“, sagte Hayato ernst, als die Tür sich hinter der letzten Wache schloss. „Du hast recht. Dein erster Besuch hat überflüssigen Ärger provoziert. Im Gegensatz zu meinen Beratern will ich gar nicht wissen, wie du es fertiggebracht hast, kampferfahrene, vertraute Männer dazu zu bringen, sich gegenseitige abzuschlachten. Es reicht, dass du dazu in der Lage bist.“ Seine bernsteinfarbenen Augen musterten abermals seinen Sohn, als wolle er ein letztes Mal prüfen, mit wem er es zu tun hatte. „Das Erbe steht dir zu. Deswegen habe ich dich rufen lassen. Deswegen, und weil ich weiß, dass keiner der anderen sicher sein wird, wenn ich es dir trotzdem abspreche.“ Saburō lächelte in seiner gefährlichen, milden Art: „Das ist mir bewusst. Allerdings erschließt sich mir nicht, warum Ihr Euch meiner nicht entledigt und einen bequemeren Erben erwählt. Es sind gemäß Eurer Demonstration genügend vorhanden. Welchen Nutzen habe ich für Euch?“ „Ist es deine Art, vermeintliche Absichten anderer offen auszusprechen?“ Der Fürst klang wenig beeindruckt. Doch erneut lächelte Saburō lediglich dünn: „Ihr verlangtet nach einem offenen Gespräch. Das ist meine Art von Offenheit.“ Und was ist Eure?, schien er zu fragen, doch tat er es nicht. „Jeder deiner Brüder wäre dankbarer. Gehorsamer. Aber nicht sehr hilfreich, bei den Dingen, die kommen.“ „Fürchtet Ihr die Rache des Westens dermaßen, dass Ihr sogar bereit seid, mit mir zu verkehren?“ Nun hielt der Fürst zum ersten Mal tatsächlich erstaunt inne. Seine Hand schloss sich so fest, um das Gelenk seiner Tochter, dass das Mädchen vor Schmerz zusammenzuckte und auch Kōhei war, als habe man ihm gerade einen empfindlichen Dolchstoß versetzt. Wie sollte er seinem Fürsten erklären, dass sein Sohn bereits im Besitz dieses Wissens gewesen war, und nicht etwa er diese sensiblen Informationen hatte durchsickern lassen? „Beruhigt Euch. Es liegt nicht in meinem Interesse, dass die Inu den Süden dem Erdboden gleichmachen – und nichts anderes werden sie anstreben, nicht wahr? Mit Tōga-sama hätte man unter Umständen noch verhandeln können, aber sein Sohn... sagen wir, er verschwendet seinen Atem ungern an Worte.“ Nun war auch dem schwarzen Fuchs das Lächeln vergangen. „Ich bin nicht so blind wie einige Eurer Berater es zu sein scheinen – und noch viel weniger bin ich naiv genug, anzunehmen, mein Status sei auch dann noch sicher, wenn ich all die Aufgaben erledigt habe, wegen derer Ihr meine Anwesenheit ertragt.“ Etwas in der Miene des Fürsten änderte sich abrupt. Seine eben noch schockiert geweiteten Pupillen entspannten sich allmählich und der stumpfe Ausdruck seiner Bernsteinaugen wurde zu einem glimmenden Lodern, das Kōhei nur allzu gut kannte. Es war die Glut vor dem Windstoß, bevor die Flammen hochschlugen. Mit theatralischer Vorsicht brachte er Akemi zwischen sich und seinen Sohn, strich eine Falte ihres Obis glatt und legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. Saburō sah seiner Halbschwester in das mit dunklen Sommersprossen übersäte Gesicht und blickte anschließend wieder zu seinem Vater auf. „Nein“, sagte er ernst. „'Nein'?“, Hayato klang belustigt. „Du willst eine Versicherung. Hier hast du sie. Sie gehört dir.“ „Was soll ich mit ihr anfangen?“ Der Fürst lächelte matt. „Du bist zu schlau und zu alt, als dass ich dir diesen Sachverhalt erläutern müsste.“ Der Anblick der jungen Frau war schwer zu ertragen. Die Art, wie ihr Blick verzweifelt über Saburō huschte, wie sie ihn stumm um irgendeine Form von Hilfe anflehte ohne dass ihr Vater es bemerkte. „Ich habe eine Gefährtin.“ Hayato bleckte die Zähne. „Denkst du, ich ließe zu, dass ausgerechnet du noch eines dieser Schwarzen Luder ins Bett zerrst? Du kannst sie behalten. Das ist mir gleichgültig. Aber deinen Erben wirst du gefälligst mit ihr haben.“ „Hiromi ist schwanger“, erinnerte Saburō ihn trocken, doch sein Vater tippte mit der Klaue nur ungeduldig auf der Schulter seiner Tochter herum, die darunter allmählich in sich zusammenschrumpfte und nicht wagte, auch nur einen Ton von sich zu geben, auch wenn ihre haselbraunen Augen sich allmählich mit Tränen füllten. „Dann wollen wir hoffen, dass es ein Mädchen wird, nicht wahr?“ Hayato lächelte hämisch, dann stieß er Akemi grob zu seinem Sohn, der sie erstaunlicherweise abfing und ihr beruhigend eine Hand auf den Hinterkopf legte. Ihre Tränen rannen in seinen Kimono, färbten die dunkle Seide noch schwärzer und spätestens als sie weinend zusammenzubrechen drohte, traute Kōhei seinen Augen nicht, als dieser schwarze Bastard sie tröstend in die Arme nahm. Er wollte etwas sagen, doch Hayato unterbrach ihn augenblicklich: „Mach jetzt keinen Fehler, Junge. Eine angemessenere Zusicherung kannst du von mir nicht erwarten. Nimm sie, trage Sorge, dass ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden muss, die gesamte Erbfolge an kleine, schwarzhaarige Dämonen zu verschwenden und ich bin bereit, deine Leistungen entsprechend zu honorieren. Kōhei.“ „Ja, Herr?“ Der General straffte erneut die Schultern und gab sich alle Mühe, keinerlei Regung zu dieser neuerlichen Wendung aufkeimen zu lassen. Die Abneigung des Fürsten, die er gegenüber den schwarzen Vertretern seiner Art hegte, war so unbeschönigt wie unergründlich, aber sie hatte stets existiert. Dass er nun jedoch bereit war, Emikos Tochter an seinen ungeliebten Sohn zu vergeben, um seinen Einfluss auf diesem Weg zu bestärken, war sogar für ihn eine erschreckend vehemente Reaktion. „Während ich unserem ehemaligen Ratsmitglied seine Stellung verdeutliche, werdet Ihr dafür sorgen, dass mein Sohn tut, was von ihm erwartet wird. Da sein bedauernswertes Mauerblümchen von einer Gefährtin bereits guter Hoffnung ist, dürften für Euch keinerlei Probleme entstehen.“ Für einen kurzen Moment nahm Kōhei nichts anderes wahr, als den stolpernden Aussetzer seines Herzens und die absolute Stille, die sich in seinem Innern gähnen auftat. Unmöglich. Das konnte er nicht so gemeint haben, wie er es aufgefasst hatte. Niemals. Ein kurzer Blick zu Saburō schalt jedoch jeglichen Zweifel Lüge. Die Abscheu des Silberfuchses spiegelte sich erstmalig so ungeschönt in jeder Faser seines Körpers wider, dass es beinahe unbegreiflich schien, als er seinen Vater nicht augenblicklich in Stücke riss, sobald dieser sich dem General zuwandte. „Ach, und Kōhei: Es wäre äußerst bedauerlich, wenn Ihr mich in dieser Hinsicht enttäuschen würdet. Ich habe Euch bisher immer als recht angenehm empfunden – erspart mir also die Mühe, mich nach Ersatz umsehen zu müssen.“ Kapitel 40: auferlegter Pflichten und Feindseligkeit ---------------------------------------------------- Der Großteil der Laternen war bereits vor Stunden gelöscht worden und längst erkaltet. Die übrigen Flammen warfen spärliches Licht an die Wände der Kasernen, das im lauen Nachtwind gelegentlich flackerte. Erschöpft von diesem unsagbaren Abend wandelte Kōhei abwesend über den Innenhof der Festung. Jegliches Empfinden war ihm in den vergangenen Stunden abhanden gekommen und seither schien alles fernab vom Greifbaren; fühlte er sich gefangen zwischen Benommenheit und Abneigung, während sich der Weg zu seinem Quartier in unerträgliche Längen zog. Dieser Tag würde ihm noch lange zusetzen. Er hatte über die Jahre gelernt, viel hinzunehmen und zu ertragen aber das - . Akemi hatte nie den Unmut ihres Vaters erweckt, nichts getan, mit dem sich diese Behandlung rechtfertigen ließe und Saburō... nun, keine Maske, keine Spielerei. Dieses Mal war Kōhei sicher, dass er die Situation selbst verabscheut hatte. Sein Mitleid mit Akemi war überdeutlich gewesen und dennoch hatte er gehorcht. Bei dem bloßen Gedanken daran liefen Kōhei kalte Schauer über den Rücken. Als er vor der Tür zu seinem Quartier angelangt war, wusste er gar nicht mehr recht, welchen Weg er nun genommen haben mochte. Seine Füße fanden ihre Richtung nach all den Jahrhunderten von ganz allein und vielleicht war das nur gut so, wenn man den Schein von Funktionstüchtigkeit aufrecht erhalten wollte. Es wäre sicherlich schwierig zu erklären gewesen, wenn man ihm tags darauf im Heu der Stallungen gefunden hätte wie einen betrunkenen Frischling. Fröstelnd betrat er sein Zimmer und schob die schwere Holztür leise hinter sich zu, bevor er eine kleine Laterne mit Fuchsfeuer entzündete. Übermut und Machtgefühl, das die Jugend veranlasste, alltägliche Situationen mit Magie zu lösen, waren bei ihm längst erloschen, aber seine Nerven lagen eindeutig zu blank, um nun noch nach dem Feuerzeug zu tasten und ihm Funken entlocken zu wollen. Die smaragdgrüne Flamme schlang sich um den Docht und ging in ein gewöhnliches Rot über, das den Raum in ein warmes Licht hüllte – und über den ungebetenen Gast in der Zimmerecke strich. Wütend über seine eigene Unaufmerksamkeit fuhr Kōhei herum: „Willst du mir mal erzählen, was du hier zu suchen hast?“ Seine Stimme hätte scharf und mahnend klingen sollen, wirkte jedoch eher gereizt und ein wenig unerfreut. Shippō zuckte dennoch augenblicklich zusammen und zog die Knie noch ein wenig enger an den Oberkörper. Lange Linien trockener Tränen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, während er schweigend zu seinem Lehrer aufsah. Kōhei hätte ihm gern für die nächtliche Störung und das unerlaubte Eindringen das Fell über die Ohren gezogen, aber es war nicht seine Art, Launen an kleinen Kindern auszuleben. „Shippō, was treibst du hier?“, fragte er nun deutlich sanfter und ließ sich vor ihm auf die Knie gleiten, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Die Lippen des jungen Kitsune waren aufgeplatzt und ein tiefer Riss an seinem spitzen Ohr hatte die Haare großflächig mit Blut verklebt. „Ich... verzeiht mir, ich wusste nicht, wohin. Ich darf nicht mehr... ich meine, sie haben gesagt, dass ich nicht mehr zu ihnen darf.“ „Die anderen Kadetten?“ Er nickte. Kōhei strich sich sichtlich entnervt durch die Haare und betrachtete den Jungen. Das Letzte, was er nun brauchte, waren derartige Probleme unter den Kadetten, auch wenn er sie sicher bis zu einem gewissen Grad verschuldet hatte. Es war immer derselbe Ärger und er hatte es kommen sehen. Aber warum ausgerechnet, wenn er keinerlei klaren Gedanken fassen konnte? Für nichts und insbesondere nicht für die Reibereien unter Akademieabsolventen. Was war das schon im Vergleich zu den Spielen und Zwisten, die die Herrschaft trieb? Andererseits... die Abgründe dieser Welt waren kaum die Schuld der Jüngsten. Andere, härtere Männer mochten ihn auch belächeln, wenn sie wüssten, dass er Eindrücke wie die der vergangenen Stunden nicht einfach so herunterschlucken konnte. Und so sehr er die Kadetten auch um ihre nichtigen Probleme beneidete, wäre es kaum gerecht, ihre Sorgen als belanglos abzutun. Kōhei atmete tief durch und erhob sich wieder. „Steh auf, Junge. Du solltest etwas essen. Dabei lässt sich leichter reden.“ „Schickt Ihr... schickt Ihr mich fort?“ Kōhei warf ihm einen fragenden Blick zu und peitschte amüsiert mit den Schwänzen. „Damit sie dich nochmal verprügeln, weil du heulst wie ein kleines Mädchen? Ich kann mir Förderlicheres vorstellen. Es ist sicher auch nicht klug, wenn du hierbleibst, aber für ein Desaster wirst du dich entscheiden müssen.“ „Dann erlaubt Ihr mir - ?“ „Meinetwegen kannst du erst einmal bleiben. Es ist schließlich meine Schuld, dass du so aussiehst. Mein Schüler zu sein ist nicht einfach. Das haben andere auch schon bemerkt.“ Kōhei ließ beiläufig die Feuerstelle in seinem Quartier aufflammen und machte sich daran, eine einfache Nudelsuppe zu kochen, während Shippō ausnahmsweise kein Wort hervorbrachte. Der Junge war eigentlich nicht auf den Mund gefallen und es lag Kōhei zusätzlich schwer im Magen, dass der Kleine nun dafür zahlen musste, dass er ihn als Schüler gefordert hatte. Das weckte natürlich Missgunst und dass er ihn so bald mit auf Reisen genommen hatte, war nur zusätzlicher Nährboden für Neid gewesen. „Nun roll dich endlich auseinander. Du bist schließlich kein Igel.“ Er öffnete einen kleinen Beutel mit einer Kräutermischung, schüttete sie zu den Nudeln und füllte die fertige Suppe ab. Shippō war kaum auf den Beinen, als Kōhei ihm die dampfende Schale in die Hände drückte. „Kochen kann ich allerdings nicht. Also beschwer' dich gleich nicht.“ „Vielen Dank... .“ „Schon gut.“ Der General ließ sich am Feuer auf den Boden sinken und Shippō folgte seinem Beispiel. Mit Essen versorgt und von einem flackernden Feuer umgeben, entspannte er sich wie erwartet sichtlich, pustete sorgsam und schlürfte die heiße Suppe. Als sie seine Lippe berührte, zuckte er zusammen und verzog schmerzlich das Gesicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis er seine erste Schale geleert und Kōhei ihm ohne Rückfrage nachgefüllt hatte. „Esst Ihr nichts?“ „Ich habe keinen Appetit.“ Auch seine Arme waren von blauen Flecken und Schnitten überzogen. Allem Anschein nach hatte er einer ganzen Gruppe gegenübergestanden. „Es wird besser“, versprach Kōhei mit gesenkter Stimme. „Aber du musst selbst dafür sorgen, dass sie dich respektieren. Natürlich sehen dich die Kadetten, die mit dir von der Akademie gekommen sind, als Konkurrenz. Gib ihrem Neid keine unnötige Nahrung. Steh' für dich und deine Fähigkeiten ein. Ich kann dich vor ihnen nicht offen in Schutz nehmen, auch wenn ich gerne würde. Es würde nur deine Position schwächen. Verstehst du das?“ „Ja... natürlich. Ich sollte wohl auch nicht hier sein.“ „Man könnte behaupten, dass es geschicktere Wege gegeben hätte. Aber nun bist du eben hier – was mich zu der Frage bringt, wie du auf dieses schmale Brett gekommen bist.“ Shippō bemühte sich, die Nudeln schnell herunterzuschlucken, blieb dann jedoch einen Moment still, bevor er antwortete: „Jirō ist 'reingeplatzt. Hat wohl den Lärm gehört, den das alles veranstaltet hat. Hat sich aufgebaut und geknurrt und sie haben sich verzogen.“ „Jirō hat dich hergebracht?“, hakte Kōhei ruhig nach. Der Hüne war mit den anderen aus dem Palast geschickt worden und somit lange vor ihm in die Quartiere zurückgekehrt. Shippō nickte. „Jirō war Euer Schüler, nicht wahr? Er hat es mir erzählt. Dass niemand ihn leiden konnte und keiner ihn ernst genommen hat. Außer Euch.“ „Jirō war schon immer riesig und hatte Bärenkräfte. Physische.“ „Aber er taugt nicht zu Illusionszaubern und Gestaltwandlung. Hat er erwähnt. Sie wollten ihn entlassen. Bis Ihr ihn aufgenommen habt. Warum?“ „Er wollte hierbleiben. Und er hatte Potential“, ein Lächeln huschte über Kōheis Gesicht, als er an den schüchternen Riesen dachte, der Jirō einst gewesen war. Zwei Köpfe größer als seine Altersgenossen und doch stets nur ängstlich, etwas falsch zu machen. „Jirō kommt aus einer sehr großen Familie, so wie ich auch. Manchmal ist da für den ein oder anderen Sohn einfach kein Platz mehr. Sie haben ihn für stumpf und unbegabt gehalten und hierher geschickt, damit sie sich nicht weiter mit ihm herumplagen müssten. Hätte die Armee ihn abgewiesen, hätte er niemanden mehr gehabt. Er war zu jung und verunsichert, um allein zurechtzukommen. Es war nicht richtig, ihn aufzugeben.“ Jirō war in der Tat magisch unbegabt. Bereits als Kind hatte er kaum eine Form klar herstellen oder lange halten können und während sein damaliger Ausbilder ihn wegen Unwillens und Lustlosigkeit verurteilt hatte, hatte Kōhei beim Fürsten vorgesprochen und ein Umdenken gefordert. In seinen Augen musste nicht jeder Fuchs denselben Weg gehen, bekam jeder andere Vorzüge in die Wiege gelegt. Er war Kōheis erster Schüler geworden, lange bevor dieser zum General befördert und die gesamte Ausbildung ihm unterstellt worden war. Jirō war für einen Kitsune überaus loyal und kräftig, im Einzelkampf ein wahrer Berserker und hatte schon manch meisterhaften Hengeyōkai den Hals gerettet, wenn dessen Illusion im ungünstigsten Moment wie Rauch im Nichts verpuffte. Shunran wäre sicherlich besser beraten gewesen, jemanden wie ihn als Rückendeckung zu haben. „Andere hätten das nicht so gesehen“, warf Shippō vorsichtig ein. „Na, gut für Jirō, dass nicht alle wie andere sind, was?“, meinte Kōhei mild und erhob sich, um wenigstens die schweren Teile seiner Rüstung abzulegen. Dann zog er zwei Decken aus einem seiner Schränke hervor und breitete sie im sicheren Abstand zum Feuer auf dem Boden aus. „Ich habe keinen zweiten Futon, aber eine weitere Decke sollte es auch tun. Du kannst bis morgen früh bleiben. Danach musst du dir allerdings etwas anderes suchen – in deinem eigenen Interesse.“ Nachdenklich wandte er sich zu dem Jungen um. „Brauchst du noch Verbandsmaterial?“ Shippō leerte schlürfend seine Suppe und schüttelte den Kopf. „Jirō meinte, das heile alles so. Mit der Zeit. Eine Stelle hat er genäht, weil er meinte, dass Ihr da sicherlich keine Lust zu habt, wenn Ihr spät zurückkehrt.“ Kōhei hob vielsagend eine Braue. „Ist dem so? Wie nachsichtig von ihm.“ „Ich störe Euch... .“ „Es ist in Ordnung, Shippō. Leg dich schlafen – und versuch dir keine Gedanken zu machen. Es wird sich klären.“ Der Junge huschte umgehend zu seinem Nachtlager, während Kōhei die Lampe ausblies und sich auf seinem Bett niederließ. Vermutlich hätte ihn in dieser Nacht jedes kleinste Geräusch gestört, das von draußen hereindrang und unangemeldeter Besuch in seinen privaten Räumen, war nichts, das er für gewöhnlich guthieß. Aber so wenig er es auch gerade brauchen konnte, war es doch erschreckend herzerwärmend, dass Jirō die jungen Problemkinder zu ihm schleppte... vielleicht hatte er doch nicht auf allen Ebenen versagt. Auf eine Art musste er zugeben, dass Shippōs unerwartete Anwesenheit ihn zumindest in einem gewissen Maß in die Realität zurückgeholt und seinen Verstand auf andere Wege gelenkt hatte. Mit den eigenen Gedanken allein zu sein, war in den vergangenen Monaten schwer erträglich gewesen und würde auch nach heute Abend sicherlich nicht angenehmer. Vielleicht hatte er unbewusst auch deswegen einen Schüler gewählt, obwohl er kaum Zeit mit den Kadetten verbracht hatte. Nicht nur, weil Shippō vielversprechend war, sondern aus ganz banalen, selbstsüchtigen Gründen. ☾ Das Licht lockte die Insekten an. Aufgebracht liefen Käfer und Getier auf den Schiebetüren des Westflügels umher und drängten gegen die hellen Papierbezüge. So kurz vor Neumond, während der Mond eine schmale, dumpfe Silhouette am Nachthimmel war, dienten die Öllampen des Palastes als Lichtquelle. Das trockene Gras gab unter den Schritten schnell nach und selbst viele Stunden nach Sonnenuntergang waren die hellen Steine entlang des Westflügels noch warm. Minoru hatte kaum einen Fuß auf den Engawa gesetzt und den Blick gehoben, als er gerade noch den Kopf vor dem sirrenden Metall zurückreißen konnte. Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, unentschlossen, ob er angreifen oder rennen sollte, während sich Stahl bereits grausam endgültig an seine Kehle legte. „Du bist tot.“ In der Verkündung des Fürsten lag nicht einmal der Anflug einer wohl gemeinten Lektion. Kalt und schneidend hingen die Worte der Klinge gleich in der Abendluft und für einen Moment schien es, als hätten selbst die Zikaden das Singen verlernt. Minoru hatte Mühe, den Schreck zu überspielen, der ihm wie ein Messer in die Knochen gefahren war. „Ihr offensichtlich nicht“, presste er schließlich hervor, während er die Klinge entlang zu seinem Vater sah, der nicht den Hauch eines Willens zeigte, die Waffe zu senken, die unverändert auf der Kehle seines Sohnes ruhte. „Ich meine gehört zu haben, dass es nicht schneidet“, fügte dieser so stumpf wie möglich hinzu und führte probeweise einen Finger über Tenseigas Klinge, die im faden Licht der Lampen matter wirkte als gewöhnlich. Es war ein sonderbares Gefühl. Das Katana war tödlich scharf, doch als Minoru einen Blick auf seine Hand warf, war da nicht einmal die Andeutung einer Verletzung zu sehen. Ein warnendes Prickeln, mehr aber auch nicht. „Aufmerksam, aber langsam. Ehe du dich entschlossen hast, zu agieren, tanzt jeder Tölpel längst auf deinem Leichnam“, Sesshōmaru ließ Tenseiga zurück in die Scheide gleiten und musterte seinen Sohn, der sich den Nacken rieb um das unangenehme Gefühl zu vertreiben. „Es ist spät.“ Allmählich erinnerte sich Minoru daran, warum das letzte Gespräch mit dem Fürsten so lange zurücklag. Er hatte ihn im Falle seiner seltenen Anwesenheit nicht aufgesucht, weil er weder gewusst hätte, wie er sein Erscheinen hätte rechtfertigen sollen noch worüber er eigentlich sprechen wollte – und darauf hatte er auch weiterhin keine Antwort. Stattdessen gab er sich gehorsam: „Ist es Euch nicht recht, wenn ich mich zu dieser Zeit hier aufhalte?“ „Es kommt mir ausnahmsweise gelegen.“ Sesshōmaru wandte sich zurück in seine beleuchteten Gemächer, wo die Insekten mittlerweile begierig die Lampe umschwirrten und sich die Flügel verbrannten, sobald sie der Flamme zu nahe kamen. Auf dem dunklen Lacktisch häuften sich die Leichen. „Gelegen, Herr?“, Minoru folgte ihm mit einigem Abstand. „Seid Ihr meinetwegen verärgert?“ Es kam selten vor, dass der Fürst seine Anwesenheit in irgendeiner Form als nützlich empfand und Minoru hatte einige Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm dieser Umstand wurde, sobald er näher darüber nachdachte. Doch das gestaltete sich schwierig. Er konnte die Anspannung nicht einfach abstreifen wie eine zweite Haut und es war nicht davon auszugehen, dass dies dem Taishō auch nur einen Augenblick lang entging. „Sollte ich?“, erwiderte der trocken und ließ sich im Schneidersitz auf dem Tatami nieder, wo Reispapier und Öle zur Schwertpflege bereitstanden. Minoru schloss die Tür, die einen Nachtfalter mit ihrem Rahmen das Leben aushauchte. „Ich glaube nicht. Nein. Meine Anwesenheit kam mir bisher nur nicht nützlich vor.“ „Es gibt Angelegenheiten, die meine Aufmerksamkeit dringlicher erfordern“, kam es scharf zurück. „Entschuldigt bitte. So war es nicht gemeint.“ Der Taishō sagte eine Weile nichts, dann wies er Minoru an, sich ihm gegenüber niederzulassen. Als er erneut das Wort ergriff, hatte er das alte Thema fallen gelassen: „Du hast beim Zusammentreffen mit deiner Großmutter einen deutlichen Standpunkt vertreten, deine Ansprüche geltend zu machen.“ Verdutzt sah Minoru ihn an. Dieses Gespräch mit Chizuru lag Monate zurück, sodass er niemals damit gerechnet hätte, dass es nochmal zur Sprache käme. Er zog die Luft in die Lungen, erwiderte jedoch nichts. „Das war keine Übersprunghandlung“, stellte der Fürst fest. „Du wusstest, was du sagst.“ „Natürlich wusste ich, was ich sage“, gab Minoru leise zurück und setzte sich ein wenig beklemmt in den Schneidersitz. Es kam selten vor, dass dies nicht der Fall war. Gewiss, einige seiner Aussagen hätten unschöne Konsequenzen nach sich ziehen können, aber unüberlegt und voreilig waren auch diese nicht gewesen. Dennoch zupfte er unruhig an einer Falte in seinem Ärmel. Myōga hatte bereits versucht, dieses Gespräch mit ihm zu beginnen, es jedoch alsbald wieder aufgegeben. Die Sache war Minoru unangenehm. Er hatte nie Probleme damit gehabt, erlegte Beute vehement gegen dahergelaufene Wölfe zu verteidigen – doch dieses Reh hatte er sich damals hart erarbeitet und es gehörte dem Recht nach ihm. Auf das Erbe seines Vaters zu bestehen war eine ganz andere Sache mit viel weitreichenderem Ausmaß. Mit welchem Recht wagte er es, das Vermächtnis einer Reihe von Dämonen einzufordern, die ihm ohne jegliche Scheu jede Faser von den Knochen geschält hätten? Es war schwer abzuschätzen, was es wirklich bedeutete, Inu no Taishō zu sein. Allein daran zu denken, dass dieser Titel am Ende des Weges warten würde, mit allem, was daran hing, drehte ihm den Magen um – und sobald er sich dann bewusst machte, dass er allen Ernstes vor seinem Vater und dessen Mutter gesagt hatte, dass er diesen Anspruch auch nur in Betracht ziehe... dabei war er mit seiner Erklärung auch darüber weit hinausgeschossen. „Junge.“ Er seufzte abermals, wagte jedoch nicht, den Fürsten anzusehen, sondern betrachtete Insekten, die immer noch sehnsüchtig um die Flamme tanzten nur um Sekunden später versengt auf dem polierten Lack zu verenden. „Es lag nicht in meiner Absicht anmaßend zu sein, aber ich weiß, was von mir erwartet wird.“ Sesshōmaru musterte ihn streng: „Was erwarte ich von dir?“ „Es war offensichtlich, wie die Karten liegen, als ihr behauptetet, ich sei Euer Sohn.“ „Du bist mein Sohn, Minoru.“ „Ich weiß.“ Er schauderte unwillkürlich als der Flügel einer Motte in Flammen aufging und sie hörbar niederstürzte, um allmählich zu verkohlen. „Ihr habt mir damals freigestellt mit Euch zu gehen – zumindest habt Ihr das gesagt. Ihr könnt nach außen tragen, was Euch beliebt, aber es ist nicht schwierig zu erkennen, dass Ihr darum bemüht gewesen seid, mich nur zu einem unvermeidbaren Maß zu verschrecken. Ich kann nicht sagen, ob ich anders reagiert hätte, wenn ihr stattdessen die Wahrheit ausgesprochen hättet.“ „Ich habe dich niemals belogen.“ „Nein, Ihr wusstet, dass Euch das nicht mein Vertrauen eingebracht hätte. Aber die Wahrheit blieb dennoch unausgesprochen. Es stand mit frei, mit euch zu gehen, sofern es mich danach verlangte. Ich bin hier. Aber was gewesen wäre, wenn ich das Angebot ausgeschlagen hätte...“ Die Stimme seines Vaters nahm einen sonderbaren Unterton an: „Das werden wir wohl nie erfahren.“ Minoru rang sich ein Lächeln ab, das mehr sagte, als tausend Worte je vermochten: „Nein, das werden wir wohl nicht.“ Eine ganze Weile schwiegen sie sich an. Der Fürst ließ das Nuguigami in gleichmäßigen Bahnen über Tenseigas Klinge gleiten und reinigte sie vom groben Schmutz, während Minoru den Blick von der Lampe abwandte und ihm abwesend bei der Arbeit zusah. „Fürchtest du mich deshalb?“ Es brauchte einen Moment, die beiläufig fallen gelassene Frage zu verarbeiten und Minoru wurde erst bewusst, dass er tatsächlich eine Antwort erwartete, als der Fürst ein neues Stück Reispapier zu kneten begann und ihn aufmerksam ansah. „Nein“, entgegnete er ruhig. „Es wäre eine logische Entscheidung. Träte ich vor jeglichem Anspruch zurück, wäre der Schatten meiner Existenz ausreichend, um jemandem zu suggerieren, dass mein fiktiver Bruder jederzeit rechtmäßig ersetzbar wäre. Ihr könntet mich unmöglich leben lassen.“ Sein Vater klang wenig überzeugt: „Es wäre mir lieber, du hingst mehr an deinem Leben, als dessen Ende aufgrund einer logischen Entscheidung hinzunehmen.“ „Und welchen Sinn hätte das? An welches Ende der Welt sollte ich laufen, wo Ihr mich nicht finden würdet? Allein der Versuch wäre lächerlich.“ „Dein Selbstvertrauen lässt mal wieder zu wünschen übrig“, er reichte dem Jungen etwas Reispapier. „Mach dich nützlich.“ Dankbar wenigstens irgendetwas in den Händen zu haben, auf das er seine Aufmerksamkeit richten konnte, machte sich Minoru daran, das Material knetend von groben Partikeln zu befreien, die den Stahl lediglich zerkratzen würden. „Jede andere Annahme wäre anmaßend Euch gegenüber – und idiotisch. Ich ziehe es vor, realistisch zu bleiben.“ „Du solltest deinen Blick auf die Feinde außerhalb lenken – und nicht dort suchen, wo keine sind.“ „Ihr missversteht mich. Die letzte Person, die ich als Feind ansehen würde, wäret Ihr. Ich dachte, diese Fronten seien mittlerweile geklärt. Andererseits habt Ihr auch davon abgesehen, dieses Gespräch zu führen, bevor Eure hohe Mutter versuchen konnte, mich in der Luft zu zerreißen“, gab Minoru bitter zurück. „Ich hätte Euch auch damals keine anderen Antworten gegeben.“ Erschrocken sah er auf, als die Aura des Fürsten mahnend über ihn hinwegstrich und den Flohgeist an seinem Kragen japsend erwachen ließ. „Vorsicht, Minoru. Es würde dir nicht gut bekommen, mir mangelndes Vertrauen zu unterstellen.“ Könntet Ihr es denn bestreiten? Minoru war nicht so dumm, die Geduld seines Vaters unnötig zu strapazieren. Er wäre närrisch gewesen, anzunehmen, dass der Fürst ihn mehr wissen ließ als unbedingt nötig und er hatte kein Recht, sich deshalb zu beschweren. Es wäre ihm lediglich lieber gewesen, wenn offene Fragen unmittelbar an ihn gerichtet werden würden, bevor etwaige Dritte ihre Nasen in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen – und dazu zählte eben auch Chizuru. Er hatte sich während der vergangenen Monate mit der Fürstinmutter so weit wie möglich abgefunden, aber ganz wohl fühlte er sich in ihrer Nähe längst noch nicht. Was sie betraf hatte Myōga recht behalten: Sie erinnerte an eine lauernde Viper, die sich auf jede vorhandene Schwäche stürzen würde, sobald die Deckung fiel. „Du bist dir all dieser Zusammenhänge bewusst“, meinte der Taishō schließlich, während er mit einem kleinen Seidenbällchen das Kalksteinpuder auf dem Stahl verteilte, nur um dann abermals mit dem Reispapier über die Klinge zu putzen. „Dennoch scheint es, als fürchtetest du, mit dieser klaren Positionierung einen Fehler zu machen.“ „Einen Fehler würde ich es nicht unbedingt nennen. Es kommt mir allerdings sehr anmaßend vor.“ „Anmaßend“, wiederholte sein Vater, als müsse er den Sinn des Wortes in der Tiefe ergründen. „Wie muss ich das verstehen?“ „Ich empfinde es als anmaßend, etwas zu beanspruchen, das sich nicht in meinem Besitz befindet.“ „Du kannst nur beanspruchen, was dir nicht gehört, Junge. Das ist der Sinn von Beanspruchungen: Etwas einfordern, dass dir zusteht.“ „Ich habe nicht das Gefühl, dass es mir zusteht.“ Dieses Mal ließ Sesshōmaru das Schwert auf seine Knie sinken und musterte seinen Sohn mit einem Anflug von Unglauben: „Wie war das?“ „Ich finde es unrecht, einen Anspruch zu äußern, den ich mir nicht verdient habe. Ich habe nichts getan, dass mich zu diesem Anspruch berechtigt.“ Als sein Vater ihn lediglich ausdruckslos anstarrte, senkte er langsam den Blick. „Ich war besorgt, dass diese Anmaßung Unmut erwecken könnte.“ Es war nur der tiefen Selbstbeherrschung seines Vaters zu verdanken, dass Minoru nicht von einer versengenden Welle an Yōki überrollt wurde und wie eines der Insekten auf dem Tatami verkohlte. „Genug von diesem Unsinn“, entschied der Fürst hart. „Du wirst dir diese Zweifel aus dem Kopf schlagen und endlich wieder das Selbstbewusstsein an den Tag legen, das du vor einigen Monden hattest.“ „Das hier ist nicht dasselbe“, gab Minoru bestimmt zurück. „Ich bin ein fremdes Kind aus dem Süden, das unmittelbar Euch nachstehen soll und -“ Das leise Knurren seines Vaters ließ ihn verstummen. „Das hilflose Kind, das jahrelang in fremden Wäldern gejagt und überlebt hat, stört sich auf einmal daran, für etwas nicht geeignet zu sein – ist es das? Hast du dir damals auch den Kopf darüber zerbrochen, ob es angemessen ist, trotz deiner Unerfahrenheit und Jugend deinen Magen zu füllen, während erwachsene Daiyōkai in der Nähe leer ausgegangen sind? Dachtest du auch daran, zu sterben, weil jemand anderes deinen Tod als logische Konsequenz sah?“ Minoru biss die Zähnen zusammen und schluckte jede Erwiderung herunter – was Antwort genug war. „Nein, natürlich nicht. Du hast genommen, was du nehmen konntest. Würde mich wundern, wenn dir dabei auch nur die Bedeutung von „anmaßend“ in den Sinn gekommen wäre.“ Er wandte sich wieder Tenseiga zu. „Diese menschlichen Züge an dir gefallen mir nicht.“ Damit war das Thema für ihn beendet. Minoru saß ihm verspannt gegenüber und quetschte das Nuguigami fest in seiner Faust. Dann schnaubte er leise, fast gekränkt und sah zur Seite weg. Der Mann konnte sich auch nicht entscheiden, was er wollte. Einerseits forderte er Gehorsam ein, nur um an anderer Stelle herrschaftliches Verhalten zu verlangen. Menschlich – so ein Unsinn! Für eine Weile herrschte eiserne Stille. Sesshōmaru setzte seine Arbeit fort, benetzte Tenseiga nach der Reinigung mit einer hauchdünnen Schicht aus Nelkenöl und ließ es zurück in die Magnolienholzscheide gleiten. Etwas auf dem Metall blitzte sonderbar deutlich auf, als das Licht der Lampe sich im Öl spiegelte, und ließ die Oberfläche spröde wirken. Eine tiefe Kerbe zog sich durch die einst makellose Klinge und breitete sich mit feinen Rissen aus; wie eine brechende Eisschicht auf einem winterlichen See. Sesshōmaru legte die Waffe neben sich auf dem Boden ab und auch wenn Minoru die Frage unter den Nägeln brannte, so stellte er sie dennoch nicht. Nach dem Gespräch wollte er keine erneute Unterhaltung beginnen und wenn sein Vater nicht selbst davon begann, dann sollte es wohl ohnehin unerwähnt bleiben. Myōga hatte sich währenddessen nahe an Minorus Hals im Kragen niedergelassen und den Schock allmählich verarbeitet, der wohl jeden überkommen wäre, der unverhofft in den Gemächern des Fürsten von dessen Yōki geweckt worden war. Das hatte sich aber längst wieder zur Gänze gelegt. Erst eine ganze Weile später durchbrach der Taishō das Schweigen. „Wie gehen deine Lektionen voran?“ Minoru musterte seinen Vater und wandte dann erneut den Blick ab. Hätte es nicht so wenig zur Situation gepasst, wäre es amüsant gewesen, wie er die Taktik nutzte, derer sich auch Chizuru ständig bediente, wenn sie einen Grund suchte, ihren Enkel anzusprechen – und Minoru antwortete auf die mittlerweile gewohnte Weise: „Die Grundrechenarten waren mir bereits geläufig, aber Geometrie erschließt sich mir nicht recht.“ Er prüfte das Nuguigami, befand es für ausreichend geknetet und reichte es dem Fürsten. „Geschichte ist mit einem Zeitstrahl gut zu begreifen. Ich komme mir immerhin nicht mehr ganz so unwissend vor wie zu Anfang. Auch... auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass mir grundlegendes Wissen fehlt.“ „Dein Lehrer ist dafür da, diese Lücken zu schließen“, gab der Fürst schlicht zurück, während er das präparierte Material kritisch betrachtete und schließlich zu Bakusaiga griff. Minoru starrte ihn ungläubig an, als er ihm das wohl zerstörerischste Schwert reichte, das Japan derzeit zu bieten hatte. „Herr-“ „Nimm.“ Es war unangenehm, feststellen zu müssen, dass das beklemmende Gefühl in der Kehle sich nicht etwa herunterschlucken ließ, sondern noch zunahm, sobald er die Hände so vorsichtig um die Schwertscheide legte, als könne sie unter dem kleinsten Druck bersten. Die helle Rochenhaut, die in einem auffälligen Muster um Griff und Scheide gewickelt lag, fühlte sich unerwartet weich an. Minoru musste die Klinge nicht ziehen, um zu wissen, dass sich diese runenähnlichen Zeichen auch auf dem Stahl wiederfinden würden – und im Grunde war er auch gar nicht so scharf darauf, das Schwert aus seiner Umhüllung zu lösen, wie er es vielleicht hätte sein sollen. „Es ist nicht wie Sō'unga, nicht wahr?“, fragte er schließlich zögerlich. „Es wird nicht versuchen, mich zu unterwerfen.“ Der Fürst musterte zuerst das Schwert, dann seinen Sohn. „Ein interessanter Gedanke.“ „Wird es?“ „Ich weiß es nicht.“ Minoru hob eine Braue und sah ihn an, als hätte er einen fürchterlich schlechten Scherz gemacht: „Das ist hoffentlich nicht Euer Ernst.“ „Außer mir hat nie jemand Hand an Bakusaiga gelegt. Hätte ich mir allerdings einen amüsanten Abend mit viel Arbeit machen wollen, hätte ich dir Tōkijin gegeben.“ Er beobachtete Minoru nun so aufmerksam, dass der sich allmählich in die Enge gedrängt fühlte. „Du wirst doch wohl keine Angst haben?“ „Nur ein Narr hätte keine“, murrte Minoru leise, legte jedoch die Linke um den Griff und zog die Klinge ein Stück aus ihrer Halterung. Die kurze Berührung von Metall und Hüllmaterial klang melodisch, doch jede befürchtete Veränderung blieb aus. Da war kein leises, manipulatives Flüstern oder auch nur eine Andeutung von Gefahr. Das Schwert lag totenstill und angenehm schwer in seiner Hand. Ein wenig beruhigter löste Minoru es gänzlich aus der Scheide und legte diese sorgsam zur Seite. Der Karbonstahl war an einigen Stellen vom Blut dunkel gefärbt. Die Witterung von Fäulnis, die das Drachenblut mit sich brachte, war jedoch längst nicht so deutlich wie man befürchten mochte. „Hat der Alte wieder seine üblichen Schauergeschichten erzählt?“, erkundigte sich sein Vater spöttisch, den Blick immer noch auf Bakusaiga gerichtet. „Es ist ein Zeichen von Schwäche, sich von etwas kontrollieren zu lassen, das dazu gemacht ist, benutzt zu werden.“ „Für mich klang die Gefahr, die von dieser Waffe ausging, sehr real“, erwiderte Minoru leise, während er das Reispapier sorgsam auf die Klinge legte, die umgehend in einem hellen Türkisgrün zu glühen begann, als er den Stahl berührte. Einen Augenblick lang herrschte noch Stille, dann brach eine Macht explosionsartig ins Freie, erhitzte Luft und Metall gleichermaßen und breitete sich mit einer zerstörerischen Wut aus, die alles zu verschlingen drohte. Minoru zog scharf die Luft ein, als die Aura auf ihn niederstieß. In dem Moment als er damit rechnete, dass sie ihn zerreißen würde, verharrte sie nur wenige Zentimeter vor seinem geistigen Auge – wie ein gewaltiges Raubtier, dessen Kiefer unmittelbar vor seinem bloßen Gesicht aufeinanderschlugen, während der heiße Atem über seine Haut hinwegfuhr. Dann kehrte mit einem Schlag Ruhe ein. Minoru starrte auf Bakusaiga hinab, das vollkommen scheinheilig in seiner Hand lag und keinerlei Anstalten machte, irgendetwas von seinem Innenleben preiszugeben. Er hob den Blick zu seinem Vater, der ihn neugieriger musterte, als er es für möglich gehalten hätte. „Minoru-sama! Bitte! Geht es Euch gut?!“, Myōga hüpfte besorgt auf seiner Schulter herum und rief ihn nun schon zum wiederholten Male an. Dann sprang er aufgebracht vor den Fürsten auf den Tatami. „Wie könnt Ihr nur ein solches Risiko eingehen?! Bakusaiga ist alles andere als wohlwollend! Tenseiga oder Tessaiga, ja, aber das?! Es hätte ihn umbringen können! Ihr -!“ „Nein“, unterbrach Minoru ihn, bevor sein Vater noch auf die Idee kommen konnte, diese Unverschämtheit angemessen zu vergelten. „Ich glaube, es wird nicht unbedingt versuchen, mich zu töten – aber es macht auch kein Geheimnis daraus, dass es jederzeit die Möglichkeit dazu hätte.“ Sesshōmaru schob Myōga ungerührt zur Seite und betrachtete seinen Sohn mit einem beängstigend schmalen Lächeln, das den Flohgeist umgehend in die Flucht schlug. „Ihr habt vermutet, dass es mir nicht schaden würde.“ „Ich war mir sicher.“ Kapitel 41: in Finsternis versinkt. ----------------------------------- Regungslos lehnte Minoru an der Balustrade des überdachten Brückenkorridors aus dunklem Holz, der den Ostflügel mit einem Seitengebäude verband. Die Schiebetüren waren weit aufgestoßen worden und obwohl das Mittagessen schon lange abgetragen worden war, hing der Geruch von Fleisch immer noch in der gedrückten Luft. Eingebettet in einen natürlich gehaltenen Garten voller Schwarzkiefern sowie grünem und rotem Fächer-Ahorn, war dieser abseits vom Haupttrakt errichtete Komplex einst alleiniger Rückzugsort der Fürstin gewesen. In Ermangelung einer adäquaten Besetzung dieser Position, hatte die Fürstinmutter bereits kurz nach ihrer Ankunft diese Räumlichkeiten abermals bezogen. Selbstredend war bisher niemand auf die absurde Idee gekommen, Chizuru die Spitzfindigkeit dieses Schachzuges madig zu reden – am allerwenigsten ihr Sohn, der Machtspiele dieser Art in den meisten Fälle lediglich als ermüdend empfand. Es war der bislang heißeste Tag des Sommers. Selbst auf dem Palastplateau regte sich kein Windhauch, während sich die Hitze innerhalb der Festungsmauern der unteren Wehrkreise wie in einem Kessel staute. Temperaturen, die die streunenden Hunde japsend unter die Häuserböden trieben. Minoru schloss für einen Moment die Augen und zog die schwere, heiße Luft in seine Lungen, ehe er unschicklich die Ellen breiter auf der Balustrade auflagerte und ein Bein entlastete. „Junger Herr. Ihr solltet Eure Großmutter nicht in Sichtweite herausfordern“, mahnte Myōga ihn leise, während er sich auf seinem Unterarm niederließ. Minoru schlug matt lächelnd ein Auge auf und betrachtete den Floh: „Sie könnte auch dich sehen.“ Der alte Berater duckte sich tiefer in eine der Falten, die die ausladenden Ärmel seines Schützlings unvermeidbar schlugen, und stieß einen erstickenden Fluch aus. Warum musste der Junge auch hier seine Pause verbringen? Es sah ihm nicht ähnlich mehr Zeit als nötig in der Nähe seiner Großmutter zu verbringen – jedoch sah es ihm auch nicht ähnlich, so abwesend dreinzuschauen. Die Weigerung seines Vaters, ihn mit sich zu nehmen, war offen und hart gewesen und damit konnte nicht jeder gut umgehen. Myōga räusperte sich leise: „Es wäre das Einfachste, Euch dem Willen Eures Vaters zu beugen.“ Minoru stieß ein leises Knurren aus, das Myōga zunächst den Kopf einziehen ließ, dann seufzte er: „Habe ich das nicht längst? Ich bin hier und tue was man mir aufträgt, beklage mich nicht und werde in diesen elenden Mauern warten, wenn er das will. Ich habe versprochen, keine Last mehr für ihn zu sein und daran halte ich mich.“ „Das tut Ihr in der Tat. Ich muss zugeben, dass ich mich in dem Punkt in Euch getäuscht habe.“ „Du hast mehr Widerwillen erwartet?“, erkundigte sich Minoru halbherzig. „Sagen wir, ich bin anderes gewohnt.“ „Mein Großvater muss wohl eine wahre Plage gewesen sein. Insbesondere für dich.“ „Ihr habt ja keine Ahnung...“, brummte Myōga zunächst miesepetrig, doch dann wurde er still und starrte auf seine Hände herab. „Entschuldigt. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, seiner überdrüssig gewesen zu sein.“ „Warum sollte das jemand annehmen? Nicht zuletzt erträgst du mich nur seinetwegen.“ Der kleine Flohgeist zuckte sichtlich zusammen und starrte zu Minoru hinauf. „Das ist nicht wahr!“ „Doch, das ist es. Warum sonst solltest du dich auf deiner alten Tage mit meinen Launen herumschlagen, wenn nicht aus Loyalität ihm gegenüber?“ Es war keine Anklage und doch hätte Minoru ihn kaum schwerer treffen können. Der alte Floh warf einen Blick über die Balustrade in den Teich unter ihnen, der vom Frischwasserzulauf aus dem See in den zentralen Gärten gespeist wurde. Die Seerosen standen in voller Blüte und boten zumindest den wenigen, winzigen Fischen Schutz, die träge im klaren Wasser schwammen. Er kannte jeden Ort dieses Palastes seit so vielen Jahren... „Zu Anfang“, gab der Alte schließlich leise zu. „Ich bin seinetwegen zu Euch gekommen. Davon kann ich mich nicht freisprechen. Doch ich bleibe um Euretwillen.“ Seine winzigen Hände rangen eine Weile miteinander, als befürchte er eine Rüge oder bissige Bemerkung, doch Minoru schwieg, bis der Floh sich erneut gesammelt hatte und den Blick senkte. „Es ist bedauerlich, dass er Euch nicht kannte.“ „Ich weiß nicht, ob mich das nicht maßlos überfordert hätte. Ich bin mit dem Versuch bedient, meinen eigenen Vater zu verstehen.“ „Was er gestern zu Euch sagte...“, Myōga räusperte sich unangenehm berührt. „Er versteht Euch ebenso wenig. Sesshōmaru-sama hat sich nie gefragt, ob ihm etwas zusteht. Er wollte Tessaiga um jeden Preis. Viele Jahre lang hat er versucht, Inuyasha zu töten, obwohl der Wunsch meines Meisters deutlich war. Für ihn wäre nur natürlich, wenn Ihr ebenso handeln würdet – auch wenn es hieße, sich gegen seinen Willen zu stellen.“ „Er kann unmöglich wollen, dass ich ihm zuwider handle.“ „Natürlich nicht! Aber er ist ebenso wenig daran gewöhnt, Vater zu sein, wie Ihr es gewohnt seid, in dieser hohen Erwartungsposition zu stehen. Als Vater wird er niemals wollen, dass Ihr ihm die Stirn bietet, aber aus seiner Sicht wäre das eine logische Handlung, solange sie zielführend ist. Er hat erlebt, wohin Bescheidenheit und Nachsicht führen können und will sicher nicht, dass Ihr eines Tages daran zugrunde geht.“ Minoru blickte ungläubig auf den kleinen Dämon herab. „Als ob ich je auf die bescheuerte Idee kommen könnte -“ „Verleugnet Euch nicht selbst“, erwiderte dieser mahnend. „Ich könnte Euch ohne lange Überlegung einige Situationen nennen, in denen Ihr die Veranlagung für derartige Handlungen bereits mit Bravur dargelegt habt – und noch einige mehr, die Sesshōmaru-sama selbst betreffen. Aber darum geht es nicht. Ihr müsst Euch dem Fürsten beugen und gleichsam aufrecht stehen. Niemand mit nur einem Funken Verstand wird Euch darum beneiden, diesen schmalen Grat in seinem Schatten bestreiten zu müssen. Aber wie Ihr bereits erkannt habt, ist dies der einzige Weg für Euch.“ „Wie beruhigend“, seufzte Minoru und stieß sich schwermütig von der Balustrade ab, während Myōga geübt auf seiner Schulter landete. Der Flohgeist machte es sich in der weichen Seide bequem, während Minoru den Weg zurück zu seinen Unterrichtsräumen antrat. Nach einigen Augenblicken der Stille, wandte sich der kleine Berater schließlich erneut an seinen Schützling: „Lasst mich Euch noch einen guten Rat an die Hand geben, junger Herr. Dass Ihr keine Belohnung ohne eigene Leistung anstrebt, ist löblich. Zweifel und unangebrachte Bescheidenheit jedoch schlicht dumm. Er ist zu den Wölfen zurückgekehrt, um Euch nach Hause zu holen. Euch persönlich. Sesshōmaru-sama ist nicht sonderlich sentimental – sein Sohn zu sein, dürfte kaum ausreichen, um in seiner Nähe atmen zu dürfen.“ Er betrachtete Minoru mit Nachdruck. „Es sollte Euch schnellstens etwas Klügeres einfallen als die Entscheidungen des Fürsten durch Eure eigene Unsicherheit in Frage zu stellen. Bis Ihr das verstanden habt, wird er Euch sicherlich nicht erlauben, diesen Ort zu verlassen. Was will er dort draußen mit einem Jungen voller Zweifel und Misstrauen?“ „Ich misstraue ihm nicht“, widersprach Minoru bissig. „Nein, das nicht. Aber niemand wird Euch folgen, solange Ihr Euch selbst kein Vertrauen schenkt.“ Minoru brummte etwas, das sich schwer in Zustimmung oder Ablehnung einordnen ließ, sah jedoch davon ab, die Unterhaltung weiterzuführen. Im Innern des Palastes hatten Wände Ohren und mit Chizurus Hofdamen waren einige sehr hellhörige Exemplare hinzugekommen. Minoru konnte dankend darauf verzichten, in den nächsten Tagen eine Anstandspredigt der Fürstinmutter zu erhalten. Und dennoch blieb die Frage, was seinen Vater für eine einzelne Nacht zurück in den Palast getrieben hatte, während an den Ostgrenzen die Kämpfe tobten; ja, selbst Ryouichi wieder ausgerückt war. Die tiefen Risse in Tenseigas Klinge wollten Minoru dabei nicht aus dem Kopf. Stünde es schlecht um die Waffe, waren sie alle dem Abgrund ein ganzes Stück näher gerückt. 狐 Drachen. Kōhei war allein bei dem Gedanken an sie so schlecht geworden, dass ihm beinahe der Becher mit heißem Tee aus den Händen gefallen wäre, als der Fürst es ihm eröffnet hatte. Die ersten Berichte waren von Wasserdrachen ausgegangen, die aus ungeklärten Gründen ihr einzelgängerisches Leben an den Nagel gehängt hatten, um marodierend durch die Lande zu ziehen. Aber spätestens eine unmittelbare Nachricht aus dem Osten hatte jede Hoffnung zu Asche verbrannt. Es handelte sich eindeutig um jene Drachen, die vor über zweihundert Jahren im Krieg gegen die Inu ihr Leben gelassen hatten. Auferstanden aus dem Reich der Toten und wiedergekehrt, um Rache zu nehmen – und wie man sie kannte, würde diese auch im Tod des letzten Inus keine Erfüllung finden. Ryūkotsusei würde seiner üblichen Philosophie folgen und jeden trockenen Fleck Erde in Japan beanspruchen und unterwerfen. Er hatte nichts zu verlieren. Immerhin war er bereits tot. Bisher waren zwar noch keine Berichte eingegangen, die von dem Aufleben dieser herrischen Echse kündeten, doch Shisuna war gesichtet worden – und das war mindestens genauso schlimm. Unter dem Befehl dieses sandfarbenen Ungetüms suchten die Drachen bereits die Länder im Osten heim, fielen über große Teile der Ebenen her und setzten den Inu an den Grenzen der Panther zu. Die Menschen der dortigen Gebiete waren in Scharen geflohen und all jene, die es nicht schnell genug in sichere Ferne geschafft hatten, waren als Opfergaben für die wiederkehrenden Yōkai verbraucht worden. Niemand wusste genau, wie die Panther die Grenze zwischen Leben und Tod verwischten, zumal Kontakt zur Unterwelt für gewöhnlich eine Spezialität der Inu war. Doch es war bekannt, dass ihr Volk über diese Fähigkeit verfügte. Wer auch immer bei der Verteilung von neunfachem Leben Katzen den Zuschlag gegeben hatte, hätte dabei besser absichern sollen, dass diese übellaunigen Biester keine Chance hatten, diese Leben mit anderen zu teilen. Es war schlicht unmöglich so verzweifelt und dumm zu sein, ausgerechnet Drachen aus dem Tod zu erheben. Als sei die bisherige Lage nicht verzwickt genug gewesen! Der Fürst hatte versucht, den Westen in seinem unstillbaren Expansionsbestreben einzudämmen, hatte viel riskiert und viel verloren ohne eine sichtliche Besserung der Lage zu erreichen. Wenn die Zeit für sie gekommen war, würden die Inu erneut vorrücken und eines Tages würde kein neutraler Boden mehr zwischen ihnen und den südlichen Landen existieren – wenn sie darauf nun überhaupt noch Rücksicht nahmen. Der Osten verhielt sich wie ein nervöses Nest in die Ecke gedrängter Katzen und erlebte bereits wie es war, unmittelbarer Nachbar der Hunde zu sein. Die Wölfe konnten die Inu nicht ausstehen und im Gegenzug verhielt es sich sicherlich nicht anders, doch da war immer noch Rumoi no Nobu – und nur die Jikan allein wussten, wie sich dieses Monstrum von einem Ōkami im Ernstfall verhalten würde. Kōhei wollte lieber nicht wetten, dass es je einen Krieg geben würde, an dem der nicht teilhaben wollte – ob mit einem Auge oder nur einem Bein war dabei gänzlich irrelevant. Und nun fielen über dieses hinreichende Chaos auch noch Drachen her! Wenn die Inu während ihres Daseins eines richtig gemacht hatten, dann war es eindeutig die Vernichtung dieser Brut gewesen. Zu demselben Schluss kam auch Saburō. Jegliches Lächeln erstarb augenblicklich auf seinen Lippen, während sein Vater dem Rat und der Heerführung von den Neuigkeiten berichtete, die das Schreiben der Panther gen Süden getragen hatte. Er nahm sich ausnahmsweise zurück und lauschte lediglich den hitzigen Diskussionen des Rates, ebenso wie er jedem Wort Kōheis bezüglich des Heereszustandes aufmerksam folgte. Seine Miene ließ zu keinem Zeitpunkt feststellen, was er von dem Entschluss halten mochte, der vorsah, das Militär zu stärken und sich darüber hinaus nicht in fremde Kriege einzumischen. Aber es bedurfte nicht allzu viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass er Untätigkeit nicht für die klügste Lösung hielt. Generell schien er die meisten Entscheidungen seines Vaters zu missbilligen – und im Hinblick auf diese konnte er damit durchaus richtig liegen. Nun schienen auch die Scharen niederer Dämonen, die in den vergangenen Wochen das Land auf dem Weg nach Nordosten durchquert hatten, Sinn zu ergeben. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie sich den auferstandenen Kriegstreibern anschließen würden, wenn es bedeutete, dass sie damit der Vergeltung entgehen konnten, die Untätigkeit mit sich brachte. Opportunisten hatte es in jeder Schlacht gegeben und viele von ihnen wussten, dass sie auch im Dienst der Drachen für oder durch sie sterben konnten, doch das war einigen lieber als sich später auf der Seite der Verlierer wiederzufinden und ein Leben auf der Flucht zu führen. „Die Kitsune haben sich nie in die Fehden anderer eingemischt“, mahnte eines der Ratsmitglieder zu Kōheis Linken. „Weder als die Invasoren vom Festland kamen noch als Tadahisa seine Pantherdämonen aus dem Osten führte – und gleichsam waren wir uns vor zweihundert Jahren an diesem Tisch einig, dass der Krieg gegen die Drachen keine Ausnahme darstellt. Es gibt keinen Anlass von diesem Kurs abzuweichen.“ Kōhei warf einen knappen Blick auf den Mann, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem ganzen Raum zuteil werden ließ, um möglichst neutral zu wirken. Yasuo-dono hatte bereits sein halbes Leben lang den äußersten Westen Shikokus vertreten – die Region Iyo. Ein schlanker, auch im Alter noch recht ansehnlicher Mann, der sich jedoch stets als ambitionslos und zurückhaltend erwiesen hatte. Wie erwartet stimmten die drei übrigen Vertreter der Insel diesem in jeder Hinsicht zu und Kōhei nahm durchaus wahr, dass auch Saburō davon nicht sonderlich überrascht war. Shikoku war letzten Endes eine Insel und würde zuletzt fallen, während Izumi und Settsu im Osten des Reiches jeglichem Feind zuerst gegenüberstünden – vermutlich die einfachste Erklärung dafür, dass die beiden Verantwortlichen dieser Regionen die Nachricht deutlich schlechter aufgenommen hatten als die Übrigen: Der eine war unnatürlich blass, während sein junger Kollege beinahe verbissen ernst erschien. Geäußert hatte sich bisher keiner der beiden. Auch Fürst Hayato hatte, nachdem er die Nachricht aus dem Osten verkündet hatte, kein Wort mehr gesagt. Er saß im Schneidersitz, die Hände gelassen auf den Oberschenkeln ruhend, und lauschte wie üblich schweigend der Diskussion, die man schwerlich als solche bezeichnen konnte. Diese Sitzung würde nichts Neues hervorbringen. Shikoku hatte kein Interesse an einem Krieg und der Rest der Provinzen würde sich der vermeintlich sicheren Neutralität verschreiben, die die Kitsune bisher alle Krisen hatte überdauern lassen. „Ich verstehe, dass es für uns alle im ersten Moment eine Beunruhigung darstellen mag, dass die Drachen erwacht sind“, meinte ein anderer an, „doch sollten wir nicht aus den Augen verlieren, wer ihr wahres Ziel ist: Die Panther haben die Drachen des Westens wegen erweckt. Für Echigo, Uzen und die neuerliche Niederlage im Norden. Und es waren auch die Inu, die die Drachen ausgerottet haben. Ihre Aufmerksamkeit wird nicht uns gelten, ehe sie den Westen übernommen und jeden Hund niedergestreckt haben.“ „Sollte das aber in einigen Jahrhunderten eintreffen-“, hob jemand vorsichtig an, wurde aber prompt von seinem Vorredner unterbrochen. „Sesshōmaru hat, soweit wir wissen, Tenseiga von seinem Vater erhalten. Diese Waffe mag zwar damals ein schlechter Scherz des Taishōs gewesen sein, wird aber nun seinen Dienst tun. Es wäre unklug, sich nun für eine Partei zu bekennen. Beide sind expansiv und würden uns auf kurz oder lang zur Gefahr – sollen sie sich gegenseitig abschlachten und wir kümmern und zu gegebener Zeit um den Rest.“ „So betrachtet ist es für uns eher ein Glücksfall, dass der Westen nun wieder ein Gegengewicht erhalten hat“, pflichtete Yasuo dem Mann bei und nickte zufrieden. „Unsere Aufgabe ist es, nicht in diese Angelegenheit hineingezogen zu werden. Wir müssen uns aufbauen, solange sie miteinander beschäftigt sind, ohne dass eine der Fraktionen unsere wachsende Stärke als Bedrohung oder Hoffnung wahrnimmt.“ „Beziehungsweise dafür Sorgen, dass sie nicht bemerken, was wir wirklich vorhaben, nicht wahr?“, tönte es scharf von der Seite. Saburō hatte seinen leeren Becher abgestellt und betrachtete die Männer in der Runde nun offen. Die Atmosphäre schlug augenblicklich von zarter Einigkeit in Anspannung um, während er sprach und wurde annähernd panisch, als Hayato sich seinem Sohn zuwandte. Doch der Fürst sagte abermals nichts und Saburō fuhr ebenso schneidend fort: „Die Annahme, sie seien naiv genug, diesen Zug nicht vorherzusehen, ist lächerlich. Das Heer ist den Ausführungen des Generals zufolge ausreichend groß, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die wiederholten Anfragen des Ostens dürften auch dem Letzten beweisen, dass es längst wahrgenommen worden ist. Wenn der Süden sich verschanzt, um aufzurüsten, ohne dem Osten die angeforderte Hilfe zukommen zu lassen, werden wir die Konsequenzen tragen.“ „Uns abzustrafen würde verlangen, dass sie an zwei Fronten kämpfen. Nur ein Narr würde das in Erwägung ziehen!“, kam es harsch vom anderen Ende des Tisches. „Ihr habt natürlich recht, Yasuo-dono. Nur ein Narr würde das provozieren. Ebenso wie nur Narren akribisch darauf achten, in einem Krieg gegen den Norden Sesshōmarus Intervention offen zu provozieren – oder Drachen zurückzuwünschen. Das würden in der Tat nur Narren versuchen. Im Übrigen: Habt ihr ein Himmelsschwert oder jemanden, bei dem wir es uns vielleicht ausborgen könnten, wenn die Toten vor den Toren stehen? Wenn dem so wäre, wäre ich beinahe bereit, diesen Unsinn weiter zu verfolgen.“ Er warf Yasuo einen vielsagenden Blick zu, der den Alten verstummen ließ, und schenkte sich ungeniert Tee nach, ohne auf den Diener zu achten, der panisch nach vorn stolperte, nur um sich sofort wieder zurückzuziehen, als der Becher bereits ohne sein Zutun halb gefüllt war. „Wir haben keine Möglichkeit auch nur einen dieser Drachen zurück in die Unterwelt zu schicken – unabhängig von der Stärke unserer Armee. Wenn sie die Inu schlagen, steht Japan erneut unter der Herrschaft der Drachen. Ich bin zu jung, um zu wissen, was dies wirklich bedeutet – so wie sich auch sonst niemand mehr an eine Zeit erinnern kann, in der die Drachen die alleinige Macht innehielten. Dennoch kam vor zweihundert Jahren allgemeine Erleichterung auf, als die Inu sie vernichteten. Und ich meine mich zu erinnern, dass jemand einmal sagte, es sei der Verdienst der Hunde, dass diese Wesen endlich fort seien. Ich weiß bedauerlicherweise nicht mehr, wer das gewesen sein mag.“ Er sah zu seinem Vater hinüber, der ihm ein schmales und künstliches Lächeln schenkte. Kōhei senkte den Blick auf die feinen Muster im polierten Holz des Tisches und wägte ab: Es war in der Tat unwahrscheinlich, dass eine Aufrüstung unbemerkt vonstatten gehen würde. Die Inu hatten vermutlich keine Kapazitäten, um die sich aufbauende Bedrohung im Keim zu ersticken, solange sie mit den Drachen beschäftigt waren – wohingegen einige untote Drachen ausreichen würden, um den Süden zu vernichten. Es würde dauern, das ja, aber es würde sie nicht daran hindern, ihren eigentlichen Krieg weiterhin zu führen. Andererseits hinderte die Echsen auch nichts daran, den Süden hinten an zu stellen: Wenn die Inu erst einmal aus der Welt geschafft waren, konnten sie sich in aller Ruhe Fürst Hayatos „neutraler Aufrüstung“ zuwenden. „Ich gebe dem Kōtaishi recht“, bemerkte Ren ernst. Das neue, junge Gesicht der Provinz Izumi hatte erst kürzlich den bedauerlichen Taichi beerbt, der nach seiner unglücklichen Auseinandersetzung mit Saburō als für alle deutlich sichtbare Mahnung an den Palastmauern verrottete. „Sobald die Drachen sich gegen uns wenden, unabhängig davon wann sie es tun, sind wir verloren. Derzeit scheinen sie mir jedoch nicht feindlich gesinnt. Die Panther haben uns um Hilfe ersucht und die Chancen des Westens stehen ohnehin schlecht. Tenseiga ist eine einzelne Waffe gegen eine Schar untoter Dämonen. Er wird verlieren.“ „Eine einzelne Waffe, der nachgesagt wird, dass sie mit einem einzelnen Streich einhundert Untote vernichten und hundert Seelen ins Leben zurückrufen kann“, erwiderte Saburō ungerührt. „Ich nenne das einen Masseneffekt.“ „In der Tat. Aber wenn er dazu in der Lage wäre, hätte der Inu no Taishō sich dessen längst bedient“, kam es stumpf zurück. „Sesshōmaru kann nicht überall sein.“ Etwas an der Art, in die sich dieses Gespräch bewegte, bereitete Kōhei Unbehagen. Das war nicht der zu erwartende, übliche Verlauf einer Ratssitzung, die stets demselben Muster folgte. „Was schlagt Ihr also vor?“, Hayatos Klauen tippten mittlerweile ungeduldig auf den Lack vor ihm. Er liebte es nicht gerade, wenn jemand seine Schlussfolgerung zu lange in der Hinterhand behielt. „Es sind alles Mutmaßungen, die wir hier anstellen, aber liegt auf der Hand, dass die Drachen mit großer Wahrscheinlichkeit siegen werden. Wir sollten das bisher bestehende Wohlwollen pflegen und zurückmelden, dass wir uns rüsten, um ihnen zur Seite zu stehen. Das verschafft uns etwas Zeit. Es sollte unser Ziel sein, lebend aus diesem Krieg hervorzugehen. Das ist der sicherste Weg, den ich dafür sehe.“ „Es ist der sicherste Weg, sich versklaven zu lassen“, warf Saburō harsch ein. „Von einem Herrn, der niemals sterben wird.“ „Wir wissen nicht, was geschieht, wenn die Drachen gewinnen – nur, dass wir tot sein werden, wenn wir an diesem Sieg nicht beteiligt waren“, entgegnete Ren bestimmt. „Die Inu haben keinerlei Verbündete. Die Drachen wären mit uns deutlich in der Überzahl.“ „Das wäre alles für heute“, entschied Hayato ohne jegliche Vorwarnung und betrachtete die Ratsmitglieder der Reihe nach – Kōhei und seinen Sohn ließ er dabei aus. „Ihr dürft Euch entfernen.“ Während der Rat sich erhob und vor seinem Fürsten verneigte, um sich zu verabschieden, flog Kōheis Blick über Saburō, dessen Bernsteinaugen unmittelbar auf ihn gerichtet waren und ihn zu versengen drohten. Sie hatten seit der eskalierten Feier vor einigen Wochen nicht mehr miteinander gesprochen und es war Kōhei nach den Ereignissen überaus unangenehm, dem Erben des Südens in die Augen zu sehen. Er wusste nicht, was der Silberfuchs zu bezwecken suchte, aber die Art, wie das fordernde Funkeln mit einem Wimpernschlag erlosch, als der Fürst sich ihnen zuwandte, war hinreichend, um zu wissen, dass es ihm nicht gefallen würde. Saburōs Aufmerksamkeit wandte sich augenblicklich seinem Vater zu: „Es wäre Wahnsinn, auch nur in Erwägung zu ziehen -“ „Genug davon“, unterbrach dieser ihn streng. „Ich habe dich nicht hergeholt, um mich an deiner infantilen Weisheit zu laben. Du hast andere Qualitäten und es wird höchste Zeit, dass du tust, wozu du taugst.“ Langsam fuhr Saburō mit den dunklen Klauen durch das dichte Fell an seiner Schulter und striegelte die feinen, schwarzen Härchen glatt, während er seinen Vater lauernd musterte: „Interessant. Kommen wir also nun zu den Aufgaben, für deren Erfüllung Ihr mich ertragt?“ „Ich ertrage deine Arroganz aus diversen Gründen.“ „Ich bin gerührt, Eurer Geduld wert zu sein, Vater“, säuselte er höhnisch. „Worum geht es hier also?“ „Um den Westen.“ Saburō lächelte matt: „Um den Westen oder Euer misslungenes Intrigenspiel?“ Die Augen des Fürsten wurden gefährlich klein und der Blick, der Kōhei streifte, ließ ihn beinahe zusammenzucken. „Euren General trifft keine Schuld“, merkte Saburō beiläufig an, während er den Tee auf dem Tisch drehte, bis ein feiner Strudel die Kräuterpartikel abwärts riss. „Es sind ausreichend Lücken vorhanden, und gerade in einer solchen Angelegenheit – ein riskantes Unterfangen. So ein kleiner Hund wirft große Fragen auf und wer möchte schon gebissen werden, wo der Vater ein so unleidliches Gemüt hat? Ich nehme an, Ihr habt ihn daher aus dem Palast bringen lassen – von wo aus er Euch folglich dummerweise entwischt ist. Warum hat ihn niemand zurückgeholt? Es wäre doch wohl keine Herausforderung gewesen, ein ausgerissenes Kind aufzusammeln.“ „Kōhei.“ Der Fürst machte eine abfällige Handbewegung, um seinem General das Wort zu erteilen. „Die Entscheidung fiel gegen den Versuch, ihn zurück nach Hause zu zwingen. Die Berater waren sich einig, dass er ohnehin nicht lange in den Wäldern überleben könne, wenn er nicht zeitnah von allein zurückkehrte und dass eine Suche zu viel Aufmerksamkeit erregen würde.“ Der junge Silberfuchs musste nichts sagen, um auszudrücken, wie viel er von dieser Beratung hielt und meinte stumpf: „Tot ist er jedenfalls nicht.“ „Nein. Als ich Minoru zufällig fand, stand er bereits unter dem Schutz des Taishōs.“ „Er kennt Euch demnach?“, fragte Saburō ruhig. „Er hielt mich lange Zeit für seinen Vater.“ Nun sah auch Saburō absonderlich überrascht aus: „Euch?“ „Kinder glauben oft, was man ihnen erzählt“, erwiderte Kōhei ausweichend, doch die Härte, die daraufhin in Saburōs Augen trat war beinahe noch sonderbarer als die Überraschung, die sie zuvor ausgedrückt hatten. „Das tun sie“, bestätigte er gefährlich glatt. „Demnach weiß aber auch der Inu no Taishō davon.“ Kōhei war nach Seufzen zumute, aber er kämpfte das Verlangen herunter, sich derart gehen zu lassen: „Davon ist auszugehen.“ Saburō lachte herb auf. „Welches Kind versuchen wir hier aus dem Brunnen zu ziehen? Sesshōmaru ist kein Narr. Er weiß längst, wem er diese öffentliche Demütigung zu verdanken hat.“ Sein Blick glitt zum Fürsten, dessen Züge nichts preisgaben. „Auch das ist anzunehmen“, bestätigte Kōhei abermals. „Dennoch war er bisher nicht hier und nun hat er andere Prioritäten.“ „Ein Vorbild, dem zu folgen wäre“, sagte Hayato ernst und wandte sich an seinen Sohn. „Priorität haben die nächsten Jahrhunderte. Unabhängig vom Für und Wider der Koalition mit den Panthern muss dieser Hof gesichert werden.“ Saburō lächelte schmal: „Da bin ich ausnahmsweise Eurer Meinung.“ Der Fürst überging den eigentümlich süffisanten Unterton in diesem Zugeständnis, den er nur schwer überhört haben konnte, und ließ ein ebenso dünnes Lächeln über seine Miene huschen: „Hin und wieder ist der kleinste gemeinsame Nenner, der einzige, dem es bedarf.“ „Was wünscht Ihr also?“ „Du wirst besagte Lücken schließen“, antwortete der Fürst. „Es dürfte dir nicht schwer fallen, Personen verschwinden zu lassen, ohne dass es auf dich zurückfällt.“ Dieses Mal unterblieb jeder noch so spitzfindige Kommentar. Das einzige, dass sich auf Saburōs Miene abzeichnete, war kühle Kalkulation – und das war deutlich unheimlicher als sein übliches Gemüt. „Kōhei weiß um jeden Beteiligten und genießt mein vollstes Vertrauen“, fuhr Hayato schließlich fort. „Er wird dir helfen.“ Kōheis Blick fand den des dunklen Erben: Kalt, voller Genugtuung und ein wenig belustigt. Dem General lief es schaudernd den Rücken hinab. ☾ „Die Entscheidung eures Urgroßvaters, hier sesshaft zu werden, wurde wahrlich nicht von allen Stämmen mit getragen, aber sie haben sich schlussendlich dem Willen des Taishōs gebeugt. Dem Hörensagen nach, war er kein Mann, dem man gern widersprach – wobei sie das alle nicht waren“, Myōga räusperte sich. „Natürlich gab es auch solche, die dem Vorhaben zustimmten. Die Inu der Insel Sado, zu denen auch Ryouichi gehört, sind stets ortsständig gewesen. Auf dem kleinen Fleckchen Erde gibt es kaum genug Platz, um sich allzu weit von der Siedlung zu entfernen, bevor man mit beiden Beinen im Wasser steht. Und auch für die Familie Eurer Mutter erwies es sich durch die Totenwache als sinnvoller, niedergelassen zu sein.“ Minoru hätte an dieser Stelle gern nachgehakt, doch verlangsamte er stattdessen seine Schritte und ließ die Hand wieder sinken, mit der er gerade die Tür zum Unterrichtsraum hatte aufschieben wollen. Etwas stimmte nicht. Eine schwer greifbare Anspannung lag in der Luft, so als habe sich unbemerkt ein Sommergewitter zusammengebraut, das allmählich über den Tatami kroch. Myōga fuhr mit gleichbleibender Tonlage unbeirrt fort: „Natürlich brachte der Herrschaftssitz der Familie Eures Vaters nicht die Ruhe, die andere damit erhielten. Immerhin galt es weiterhin den gesamten Westen zu beanspruchen und nicht nur diese Mauern zu verteidigen.“ Woran wir hiermit wohl vollkommen gescheitert wären, dachte Minoru bitter, als die stehende Sommerhitze aus dem Raum vor ihm eine süßliche Note vernehmen ließ, die er nur allzu gut kannte. Verwesung neigte dazu, just in dem Moment einzusetzen, in dem die Körperfunktionen zum Erliegen gekommen waren – insbesondere bei diesen Temperaturen. Das Ergebnis war ein unverwechselbarer Geruch, der sich irgendwo zwischen penetranter Blumenwiese und abstoßendem Körpergestank ansiedelte. Nicht unangenehm, aber eindeutig zu stark. In der Hoffnung, Chizuru noch in ihren Räumlichkeiten anzutreffen, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte den Weg zurück. Doch er kam nicht weit. Zeitgleich mit dem tosenden Bellen streunender Hunde, das zum Palast hinauf schallte, wurden hinter ihm Türen aufgerissen. Fauchen mischte sich mit Gebell und Soldaten riefen allerorts den Alarm aus, bis sie von einem lauten, metallischen Brüllen übertönt wurden. Minoru rutschte aus vollem Lauf um eine Flurecke, den panischen Flohgeist auf der Schulter. Er nahm noch wahr, wie auch der Palast zum Leben erwachte, Geschrei auf den Gängen laut wurde und weitere Türen aufgerissen wurden – dann splitterte das Holz. Tatami wurden vom Boden gerissen, Balken entzwei gebrochen und Papierschirme zerfetzt. Der Widerhall des Knalles erreichte den Honmaru erst, als Großteile des Palastes in sich zusammengestürzt waren. Geistesgegenwärtig den Körper möglichst nah an den Boden gepresst, war Minoru den meisten Geschossen entkommen und nur unter leichtem Schutt begraben. Er rollte auf den Rücken, trat einen abgebrochenen Türrahmen über sich zur Seite und kroch hustend einige Meter voran. Die brennende Mischung aus Rauch und Holzmehl aus den Augen reibend, sah er zum Dach empor, an dessen Stelle ein klaffendes Loch den Blick auf einen trüben Mittagshimmel freigab. Das Dachgestell und die Schindeln, die nicht mit der Druckwelle fortgefegt worden waren, hatten sich auf die geschundenen Reisstrohmatten ergossen und nun erst dämmerte Minoru allmählich, dass er inmitten der scharfen Tonscherben kniete und sich die Handflächen aufschnitt. Er fühlte sich benommen und durch die Mangel gedreht. Seine Sinne vollends auf den Kopf gestellt. Die Sicht war eingeschränkt, alles roch nach Staub, Rauch und einem sich ausbreitenden Schwelbrand und das lästige Fiepen in seinen Ohren legte sich nur langsam. Ansonsten war es eigentümlich still. Mühevoll rappelte Minoru sich auf und sah sich nach Myōga um, doch von dem Flohgeist fehlte jede Spur. „Myōga?“ Mehr als ein Flüstern wagte er nicht hervorzubringen, doch als sich zu seiner Rechten tatsächlich etwas bewegte, fuhr er instinktiv zusammen. Halb unter einem Haufen scharfer Schindeln begraben, rührte sich stöhnend ein nur leicht gerüsteter Pantherkrieger. Die pelzigen Beine waren mehrfach gebrochen. Knochen stachen in abnormalen Winkeln aus der Haut hervor und die Atmung des Dämons ging flach. Minoru stieß ein tiefes Knurren aus, als der Geruch von Katzenblut ihm so unverfroren ins Gesicht spuckte und seine übrigen Sinne sich allmählich erholten. Die Stille im Palast war nichts als Schein gewesen. Keifende Männer, klirrender Stahl und verzweifelte Rufe klangen aus scheinbar allen Richtungen heran. Ein hohes Kreischen erstarb abrupt; abgehakt. Schnelle Schritte in der Nähe erinnerten den jungen Erben daran, dass es vermutlich keine glanzvolle Idee war, auf dem Gang zu stehen und einem Mondkalb gleich den verletzten Feind anzustarren. Den angeschlagenen Kreislauf verfluchend, schlüpfte er durch eine zerstörte Wand, in der Hoffnung, im Nebenraum mehr Sicherheit zu finden. Stattdessen fühlte er sich, als sei er gerade aus einem Walddickicht auf eine offene Lichtung gefallen: Der einstige Flur, der entlang des Festsaales verlief, welcher nach Belieben durch Aufziehen von Schiebetüren erweitert werden konnte, war nun ein Teil der großen Fläche. Die Türrahmen und Holzverkleidungen lagen überall am Boden verteilt und was von den Papierbezügen noch übrig war, pappte in groteskem Hohn an dem, was sich einst gegenüberliegende Wand hätte schimpfen können. Das Dach schien hier immerhin weniger in Mitleidenschaft gezogen als noch einen Raum weiter, doch war es äußerst unbehaglich auf einer derart freien Fläche zu stehen. Erneut orientierte sich Minoru in Richtung Fürstinnenkomplex, rannte barfuß über den nun rauen Tatami und bog etwas übereifrig weiter ins Palastinnere ab. Natürlich hätte er in den Garten laufen und versuchen können, über die Mauern einen Weg aus den Kämpfen zu nehmen. Aber der Weg dorthin war ein langer Sprint auf freiem Gelände und die Steinwände steil und hoch. Dahinter eine weite, offene Fläche. Mauern schienen eine gute Idee, solange die Bedrohung tatsächlich vor ihnen verblieb. So allerdings... In der Nähe der Küche verlangsamte er seine Schritte. Ein Schaben von Holz und Stein drang von nicht allzu fern heran, verstummte für ein paar Sekunden und begann dann unter einem wütenden Knurren erneut. Minoru spannte die Schultern an und bereitete sich auf ein unangenehmes Zusammentreffen mit den Panthern vor, als eine Kinderstimme erklang: „Gleich, Eiji! Ich glaube, er hat sich bewegt. Versuchs nochmal!“ Minoru verdrehte die Augen .So unbedarft dämlich konnten in solchen Momenten vermutlich tatsächlich nur Kinder sein. Er trat um die Ecke und blickte in die geschockten Gesichter der beiden Jungen, die erst vor wenigen Monaten die halbe Küche zerlegt hatten. Das Dach über ihnen hing gefährlich locker in seinen Verankerungen und dort, wo der eine von ihnen am Boden lag, war es bereits anteilig heruntergekommen. Der Kleine lag auf dem Rücken und versuchte verzweifelt, sich von einem schweren Balken zu befreien, der ihn von der Hüfte abwärts unter sich begraben hatte. Verbissen wand er sich von einer Seite zur nächsten und knurrte vor Schmerz und Frustration, während sein Freund, das schwarze Haar von all dem Staub fast grau, verzweifelt den Balken umklammert hielt, ohne ihn auch nur im Geringsten zu stützen, und Minoru anstarrte, als habe er einen Geist gesehen. Dann erwachte er wieder zum Leben: „Kōtaishi!“ Der gab ihm mit einem Zischen zu verstehen, dass er den Mund halten solle, was den Jungen in seiner Aufregung nicht wirklich erreichte. „Bitte, Eiji steckt fest! Ich kann nicht-“ „Wenn du nicht gleich still bist, steck' ich dich auch unter den verfluchten Balken“, fauchte Minoru leise und betrachtete das massive Dachstück einen Moment lang skeptisch, bevor er selbst versuchte, es hochzudrücken. Kaum verwunderlich, dass die Kinder es nicht hatten bewegen können. Sie waren kaum halb so groß wie er und auch für ihn war dieses Stück Holz, verkeilt und schwer wie es war, nur mühsam zu bändigen. Er hatte den Balken ausreichend weit angehoben, dass man den Jungen darunter hätte befreien können, als eine vorbeiziehende Aura ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Die Jungen hatten es auch bemerkt und starrten beide wie vom Donner gerührt zur Decke empor. Ein heftiger Windzug rüttelte erneut am Dach, ließ das Gebälk gequält ächzen und zog den deutlichen Geruch von Feuer mit sich. „Was war das?“, verlangte der Schwarzhaarige neben ihm zu wissen, dessen Namen er immer noch nicht kannte. „Ich weiß es nicht“, gab Minoru leise zurück. Und ich will es vielleicht auch gar nicht. Für einen Moment hatte er es für einen Drachen gehalten, aber der abstoßende Geruch, den diese Biester neulich verbreitet hatten, fehlte gänzlich. Eines war jedoch sicher: Irgendwo im Palast brannte es – und das machte es nicht unbedingt einfacher. Wenn Menschen Kaninchen jagten, dann räucherten sie gern ihre Bauten aus und ein dumpfes Gefühl verriet Minoru, dass es sich hier ähnlich verhielt. Er unterdrückte ein weiteres Schaudern und stieß den Kleinen mit dem Fuß an. „Aufwachen, Junge. Hilf deinem Freund 'raus.“ Als Eiji allen Widrigkeiten zum Trotze befreit war, lag er japsend vor Anstrengung auf dem Rücken und sah die Umstehenden mit großen, goldenen Augen an. Sein Bein schien in einem recht guten Zustand zu sein. Was Minoru jedoch Sorgen bereitete, war die Hüfte. Rins geübter Blick hätte sicherlich gleich eine genauere Art der Verletzung diagnostizieren können, aber dass die rechte Hüfte in Trümmern lag, konnte auch jedes Kind sehen – wohl auch der Grund, warum Eijis schwarzhaariger Freund mit jedem Moment blasser wurde. „Wird er wieder laufen können?“ Minoru seufzte leise und hätte ihm gern gesagt, dass er keine Ahnung hatte, wie es um ihn bestellt war oder war genau überhaupt passierte, aber wenn er es genauer bedachte, war es wohl nicht gerade das, was die Kinder in dem Moment ausgerechnet von ihm hören wollten. Stattdessen meinte er knapp: „Jedenfalls nicht in den nächsten paar Minuten“, und hob Eiji vom Boden auf. So viel zu seinem Plan, sich selbst an der Seite seiner Großmutter zu verkriechen. Nun hatte er zwei Kindern an den Hacken, von denen eines nicht laufen konnte und das andere versuchte, seine Angst mit dauerndem Geplapper zu überspielen. Wo steckte Myōga, wenn er ein wenig Rückendeckung brauchte? Der Panther war vermutlich nicht allein in den Palast gekommen und Minoru war nicht allzu scharf darauf, dessen Kumpanen über den Weg zu laufen. „Komm hierher, Kleiner“, pfiff er den Jungen zurück, während er durch die Gänge irrte, um einen Platz zu finden, der gut einsehbar, nicht einsturzgefährdet und zudem so gelegen war, dass sie bei Gefahr doch nach draußen hätten fliehen können – alles in allem ein paar zu viele Ansprüche an dieses Trümmerfeld. Das aufgebrachte Kind kehrte mit nervösem Blick zu ihm zurück, nachdem er beinahe um eine Ecke vorgestürmt war und sah kurz zu seinem Freund auf, der sich in Minorus Armen möglichst nicht zu bewegen versuchte. „Warum habt Ihr keine Angst?“, verlangte er schließlich mit einem missmutigen Schnauben zu wissen – und Minoru beschloss, dass dieses unangebrachte Benehmen durchaus hätte von ihm kommen können. Es stimmte nicht ganz, dass er keine Angst hatte, aber er war es auch gewohnt, der Gejagte zu sein. Zwar war dies kein natürliches Terrain, aber die Situation unterschied sich nicht sonderlich von einer Reihe an Ereignissen, die er oft genug miterlebt hatte. Die zwei hingegen waren innerhalb dieser Mauern aufgewachsen und die einzige Angst, erwischt zu werden, die sie kannten, rührte von verbotenen Streichen oder dem Versteckspiel mit Freunden. „Ich mache mir Sorgen“, konstatierte Minoru leise und eine Spur zu kühl. „Worum?“ Darum, dass ein kleiner Junge uns alle ins Verderben reitet. „Genug jetzt. Sei still und bleib neben mir, wo ich dich sehen kann.“ Es kostete einige Anstrengung, jedwedem Geräusch möglichst weiträumig auszuweichen. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass es sich bei den Personen um verbündete Soldaten handelte und die Leichen, über die sie teilweise steigen mussten – mal im Kampf und mal durch Mobiliar verstorben – bestätigten das. Doch Minoru wollte kein Risiko eingehen. Die Katzen waren erschreckend leise vorgegangen und hatten seinen Lehrer sicher nicht nur zur allgemeinen Belustigung getötet. Entweder sie hatten Minoru allein in den Unterrichtsräumen erwischen wollen, wozu sie seine Aufmerksamkeit eindeutig unterschätzt hatten oder das hier diente einem anderen Zweck. Als sie schließlich an einer Außenecke des Palastes ankamen, wurde Minoru beim Anblick des sommerlichen Gartens beinahe schlecht. All das Grün sah im warmen Sonnenlicht verlockend friedfertig aus. Der Rauch hatte sich allmählich gelegt und von den Kämpfen in den vorderen Wehrkreisen war hier, am hintersten Ende des Honmaru, wenig zu hören. Es wirkte alles ein wenig zu schön und sicher, um wahr zu sein. Hinter ihnen kraxelte erneut jemand deutlich hörbar über einen Haufen Schutt. Minoru blieb wie angewurzelt stehen und konnte spüren, wie sich seine Nackenhaare vor Entsetzen aufstellten. Unmöglich, dass er auf diesen billigen Trick hereingefallen war. Er wollte gerade nach der Schulter des Jungen neben sich greifen, als der bereits los sprintete, um sich in den Garten zu flüchten. „Nein! Warte!“ Das Kind drehte sich noch auf dem Engawa um, um ihn mit fragenden Blick anzusehen, als der Drache auf ihn niederstieß. Lackierte Holzbretter wie Kindsknochen gaben dem Kiefer unter einem entsetzlichen Knacken gleichermaßen nach. Der hoch gesetzte Boden des Palastes knarzte und bebte, während sich der Drache mit dem Kopf voran in den Gang schob und dabei auch die letzten Blutspuren unter sich begrub. Eiji, eben noch dem Schock verfallen, begann mit einem Mal panisch zu schreien und rammte Minoru die Klauen in den Oberarm, der fluchend ein paar Schritte zurück ging, um Abstand zwischen sich und den onyxfarbenen Drachen zu bringen. Dessen Schuppen rissen auch die letzten intakten Papierbezüge von den Seitenwänden. Die grauen Lippen der Maske verzogen sich zu einem triumphalen Lächeln: „Der neue Westen scheint mir noch im Babyfell zu stecken.“ Die Augen des eigentlichen Drachenkopfes hielten ihn unaufhörlich fixiert, während die der sprechenden Maske amüsiert gen Decke sahen. „Bedauerlich. Ich hatte mir mehr Unterhaltung erhofft. Andererseits war die alte Hexe auch nicht mehr das, was sie mal war.“ Kapitel 42: Es obliegt uns allein --------------------------------- Die warme Nachtluft schmeckte nach Schweiß und Sommerhitze. Menschen säumten auch nach Sonnenuntergang die Straßen und Gassen sowie den zentralen Dorfplatz und sammelten sich am über allem gelegenen Schrein. Wie verlorene Schiffchen trieben sie von einem Gespräch zum anderen oder dümpelten voll trüber Stimmung auf der Stelle. Was ein Jahrhundert voller Bürgerkriege nicht vermocht hatte, schafften Drachen binnen Monaten: Seit dem letzten Halbmond vor gut zwei Wochen flohen Bauern aus den höheren Lagen in die Ebenen. Verließen Höfe, Vieh und Felder, um ihre nackte Haut zu retten. „Versprechen kann ich nichts, aber es sollte möglich sein, wenigstens ein paar der Flüchtlinge im Tempel unterzubringen. Die Hilfsgüter haben die Ältesten schließlich auch zur Verfügung gestellt.“ Bosatsu zog zum wiederholten Male am Kragen seines Kesas, um sich Abkühlung zu verschaffen. Doch die Hitze war auch bei Nacht noch zu unnachgiebig für einen Menschen und staute sich zudem innerhalb der engen, überfüllten Straßen. Mirokus einziger Sohn war bereits vor Jahren dem väterlichen Erbe seiner Familie gefolgt und Mönch geworden, wie schon viele Generationen vor ihm. Sein Orden lag gut vier Tagesmärsche südwestlich von Musashi und ohne Kaitos drängend verfasstes Schreiben wäre er der Situation in seiner alten Heimat kaum gewahr geworden. „Oder sie sehen ihre Pflicht damit als getan an“, erwiderte Kaito trocken, während er abermals einen prüfenden Blick zum entfernten Waldrand hinübergleiten ließ. Sie waren dort draußen, daran bestand kein Zweifel. Sobald man sich dem Unterholz näherte, krochen unkontrollierte Nuancen Yōki wie lästige Mückenschwärme über die bloße Haut. Schwache Wesen einfacher Gestalt, doch ausreichend, um eine Gruppe Menschen hinzuschlachten. Sie folgten ihnen wie Mäuse dem Speck und mit jedem ankommenden Flüchtling schienen ihre Reihen dichter zu werden. Im Verborgenen der Wälder wimmelte es bereits von ihnen, während sich das übrige Leben im Dorf zusammenpferchte und der Handel beinahe zum Erliegen gekommen war. Die wenigen Waren, die durch den Geleitschutz von Inuyashas und Mirokus Familien Musashi erreichten, waren kaum der Rede wert und auch die Lieferung des Mönchsordens, die Bosatsu auf Kaitos Bitte hin herangeschafft hatte, war in dieser Hinsicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn sich nicht bald etwas änderte, würden sie noch vor der kommenden Ernte hungern – und wie die bei dieser anhaltenden Hitze aussehen würde, blieb vorsichtig abzuwarten. Der einzige Vorteil, den ein so harter Sommer barg, bestand in diesen Tagen darin, dass die sonst hüfthohe Grasfläche, die über einige Kilometer bis an den Waldrand heranreichte, so trocken und vergilbt war, dass sie kaum die Schuhe bedeckte. Nicht einmal eine einfache Schlange hätte sich bei dieser Vegetation unbemerkt an das Dorf heranschlängeln können – zumindest nicht bei Tage. Kaito brummte und schloss für einen Moment angestrengt die Augen. Das rege Treiben störte und das Licht der hell erleuchteten Häuser erschwerte die Sicht in dieser mondlosen Nacht. Er konnte es sich nicht leisten, einen Fehler zu machen. Nicht heute. Er war damit aufgewachsen, dass das Dämonenblut seines Vaters in den mondlosen Nächten den Dienst versagte und er zu einem Menschen wurde. Als Kaito noch klein gewesen war, hatte sein Vater ihn in diesen Stunden zur Seite genommen und Geschichten über die Abenteuer erzählt, die einst die Gruppe zusammengeschweißt hatten: Der Halbdämonen Naraku, die Shinchinintai, Sō'ungas Untergang, die Insel Hōrai, das Mädchen und der böse Wolf und viele andere. Er hatte diese Abende geliebt und sie herbeigesehnt. Doch seitdem er zu alt geworden war, um mit großen, staunenden Augen zu seinem Vater aufzusehen und schließlich in seinem Schoß einzuschlafen, ging er ihm bei Neumond lieber aus dem Weg. Inuyasha gab sich während dieser schwachen Tage insbesondere seinem Sohn gegenüber zusehends gereizt. Kaito war alt genug seine eigenen Schlachten zu schlagen, älter sogar als seine Eltern es während ihrer Reisen gewesen waren, und es missfiel Inuyasha offenbar, in solchen Nächten im Schatten seines Sohnes zu stehen. Bis zu einem gewissen Grad konnte Kaito das nachvollziehen. Gleich zweimal im Monat schwand seine eigene dämonische Aura und ließ ihn wehrlos zurück bis der Morgen graute. Es gab kaum etwas Grausigeres, als die sonst so scharfen Sinne einzubüßen und sich für die Zeit einem kleinen Kind gleich auf jemand anderen verlassen zu müssen – und er wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, wenn dieser Jemand der eigene Nachwuchs war, den man lieber sicher Zuhause wüsste. Doch Unwillen half nicht. Bei Neumond war Inuyasha als gewöhnlicher Mensch keine verlässliche Hilfe und auch Tessaiga schickte sich in diesen Nächten nicht an, mehr zu sein als eine alte, rostige Klinge. „Ich werde dem Abt schreiben und um weitere Hilfe bitten“, erklärte Bosatsu, sobald Kaito nicht mehr in die Ferne starrte und sich stattdessen angestrengt die Augen rieb. „Solange ich auf Antwort warte, habt ihr sicher den ein oder anderen Bedarf an helfenden Händen.“ „Braucht man dich nicht im Kloster?“ Der junge Mönch fuhr verlegen mit der Hand durch seinen Nacken. „Die Überfälle scheinen sich auf den Osten zu beschränken und in den Ebenen kommen die Flüchtlinge deutlich besser voran. Damit bleiben die meisten wohl hier hängen. Von den östlichen Orden haben wir allerdings seit einer ganzen Weile schon nichts mehr gehört... .“ Er hielt inne und Kaito bedachte seinen Freund mit einem mitfühlenden Blick, während sie ihren Weg am Dorfrand entlang fortsetzten. Es dauerte einen Moment, bis Bosatsu sich von dem Gedanken an seine verlorenen Ordensbrüder lösen konnte. „Ich sollte damit besser umgehen können, das weiß ich. Aber es liegt mir einfach nicht. Wir sollten diesen Krieg schnell beenden. Es ist das eine, wenn Dämonen Menschen nachstellen, aber wenn sie Krieg gegen sie führen...“ „Ich würde das nicht als Krieg bezeichnen“, brummte Kaito und sah aus den Augenwinkeln zu einer Ansammlung geflüchteter Familien, denen nichts als die Kleidung an ihrem Leibern geblieben war. Die Frauen hielten ihre Kinder in ihrer Nähe, pressten sie wenn möglich an sich, um im Falle eines Angriffs vorbereitet zu sein – seit Tagen. Die älteren Generationen waren kaum vertreten. Flucht lohnte sich nur für jene, deren Füße sie ausreichend weit tragen konnten. So blieben die Alten zurück, wissend, was auf sie warten würde – und ebenso spiegelte die Situation in Musashi nur einen Splitter der Wahrheit. Das wahre Chaos lag im Osten. „Zum Krieg gehören zwei. Inu und Drachen, das mag ein Krieg sein. Dies hier ist ein Schlachtfest.“ Es war längst kein Geheimnis mehr, dass der Panther-Clan die Fähigkeit besaß, die Lebenden zu opfern, um die Toten ins Diesseits zurückzurufen. Auch Kagome war einst nur knapp dem Schicksal entgangen, im Austausch für einen längst verrotteten General der Katzen zu sterben. Mit den spirituellen Kräften einer Miko hatte sie ein begehrtes Ziel geboten, das viele gewöhnliche Menschenleben ersetzte. Selbiges galt für einige Mönche. In Anbetracht der stetig wachsenden Zahl von Drachen wollte Kaito lieber nicht darüber nachdenken, wie viele Bauern es wohl brauchen mochte, um auch nur eine der Echsen den Übertritt aus dem Jenseits zu gewähren – insbesondere, da sie mit jedem Zusammentreffen lebendiger wirkten. Selbst bei tiefen Verletzungen, die sie ihnen selten genug zufügen konnten, war kein Verwesungsgeruch mehr wahrnehmbar. Sie waren immer noch auferstandene Tote, aber wie oft man sie auch attackierte, sie starben nicht. Ihre Körperteile strebten zurück an ihren Platz und auch Feuer war unfähig sie zu zerstören. Mit anderen Worten: Der Kampf war aussichtslos. Noch vor einigen Monaten war Rins Predigt von Zusammenhalt und Vertrauen auf heftigen Widerstand gestoßen; auch seinerseits. Mittlerweile dachte er an diesen Abend mit gemischten Gefühlen zurück. Es war bedenklich, wie sehr sich die Stimmung seither gewandelt hatte. Waren am Anfang noch alle überzeugt gewesen, dass Musashi in Sicherheit sei und man sich nur Sorgen um andere Dörfer machen müsse, wusste man mittlerweile, dass man den Moment der Intervention verpasst hatte. Die meisten Dörfer im Osten waren den Drachen und Panthern zum Opfer gefallen und bisher hatte sich kein wirksames Mittel gegen diese Dämonen aufgetan, indes Musashi mit seinen steigenden Bevölkerungszahlen und der Nähe zum Osten unweigerlich in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte. Die Situation war verrannt. Jeder versuchte, Schadensbegrenzung zu betreiben, während das eigentliche Problem sie nach und nach einkreiste. Wie lange konnte das Dorf unbehelligt überstehen, wenn der Osten ausgebrannt war? Wie lange konnte es in sich bestehen, ohne dass ein Großteil der Bevölkerung verhungerte? Inuyasha, Sango und Miroku hatten mehrfach zugestanden, aktuell keine Lösung zu haben. Sesshōmarus Name war einige Male gefallen. Aber eher im Stillen. Nie im Ernst. Es war bekannt, dass der Inu no Taishō im Osten Krieg führte. Mit einer Truppenstärke, die keiner ihm zugetraut hatte. Nun, im Grunde hätte es auch niemanden gewundert, hätte er das Schlachtfeld im Alleingang betreten. Keiner sah ihn als Anführer ganzer Truppen, geschweige denn, dass einem der Erwachsenen bekannt gewesen wäre, dass er solche überhaupt besaß. Aber Kaito und Honoka wussten es besser. Sie hatten eine Nacht beim Generalleutnant dieser Armee verbracht, die Soldaten und Anlagen mit eigenen Augen gesehen. Anlagen, ausgelegt auf mehr Personal als tatsächlich dort im Dienst stand. Die Inu stellten eine handlungsfähige Kriegsmacht dar – und dennoch wog in diesem Krieg nur eine einzelne Waffe mehr als tausend Soldaten: Tenseiga. Das Schwert des Himmels, das mit einem Schlag einhundert Tote auf eine Weise wiederbeleben konnte, die auch den Panthern verwehrt blieb. Reiner, unverdorbener. Tenseiga sollte damit auch dazu fähig sein, einhundert dieser untoten Bestien zurück ins Jenseits zu befördern. Endgültig. Doch es schien, als sei diese Macht bisher nicht zu tragen gekommen – warum auch immer. Die Schlinge um Musashi zog sich mit jedem Tag enger und so sehr die Erwachsenen auch Durchhalteparolen predigten, wollte Kaito nicht daran glauben, dass alles sich so einfach zum Guten wenden würde. Sie waren handlungunsfähig, machtlos und auf ihre Weise damit auch ratlos. Inuyasha hatte viel auf die Hoffnung gesetzt, dass die Drachen wieder sterblich würden, wenn sie erst einmal ganz ins Leben zurückgekehrt waren. Ein Irrtum. Vielleicht hätten sie vor Jahren vehementer versucht, einen Ausweg zu finden. Hätten das Problem an der Wurzel gepackt. Doch bislang blieb es beim Auflesen der Scherben; beim Retten der fliehenden Massen in ein Dorf, das sich damit nur in den Mittelpunkt des Interesses rücken und selbst zersetzen würde. Eine taktische Sackgasse. Ein selbst geschaufeltes Grab. Kaito ließ den Gedanken fallen und wandte sich nachdenklich nach Nordwesten. Jenseits der verdorrten Wiesen und Felder lag der Wald dunkel und unergründlich unter dem schwachen Sternenlicht. Die Grenzen zwischen Baumkronen und Nachthimmel waren fließend; die Ruhe trügerisch. Es herrschte Windstille und dennoch war Kaito, als lege sich ein Hauch von Wärme über ihn. Das Gefühl trieb ihm Schauer über die Haut und fegte seinen Verstand frei von all den schwirrenden Gedanken. Er ließ Bosatsu am Dorfrand zurück und war mit einigen Sprüngen bereits über die Hausdächer auf den Aussichtsturm in der Mitte des belebten Dorfplatzes gelangt. Die meisten Flüchtlinge waren den Anblick eines Han'yōs nicht gewohnt und fuhren erschrocken zusammen oder schrien gar auf. Den alte Mann, der seit einigen Stunden im Aussichtsturm Wache hielt, ließ jedoch allein die böse Vorahnung erbleichen, als Kaito ihm wie aus dem Nichts gegenüberstand. Sekunden später dröhnte der alarmierende Gong durch die Ebene. Das gesamte Dorf geriet in Bewegung. Die Menge stob auseinander, Personen stürzten über ihre Füße und übereinander, drängten in die engen Gassen und warfen ängstliche Blicke in den Himmel oder auf das offene Feld. Männer bewaffneten sich mit Waffen und Werkzeug gleichermaßen und sammelten sich auf dem Dorfplatz zu Füßen des Turmes, als sie keinen Feind ausmachen konnten. Es war Honoka, die kurz darauf als erste an Kaitos Seite erschien. Ein wenig umständlicher als ihr Bruder überwand sie die zehn Höhenmeter, die die Plattform des Aussichtsturmes vom Erdboden trennten, und setzte neben ihm auf den Holzplanken auf. Ihre Hand fand seinen Rücken, krallte sich ob der Höhe in den blauen Stoff seines Hakamas, während sie seinem Blick zum Waldrand folgte. „Was hast du gehört?“ „Noch nichts“, Kaito legte einen Arm um ihre Hüfte, um ihr mehr Sicherheit zu geben. Höhe war nicht unbedingt ihre Stärke. „Es ist ein Gefühl. Eine Aura.“ „Die Wälder sind voll von Dämonen -“ „Für diese halben Portionen würde ich nicht Alarm schlagen lassen“, erwiderte er in einem Ton, der ihren Herzschlag in einen hastigen Rhythmus schickte und sie näher an ihn heranrücken ließ. Honoka hatte Angst. Sie war gefasster als die panischen Menschen zu ihren Füßen, aber dennoch fürchtete sie den nahenden Kampf von ganzem Herzen, während seines weiterhin demselben, dumpfen Takt folgte; seine Gedanken nur den Möglichkeiten galten. Aber was daran verwunderte ihn überhaupt? Während sie das Dorf nur äußerst selten verlassen und ihren einzig echten Kampf vor einigen Monaten bestritten hatte, brauchte es deutlich mehr als herannahende Dämonen, um ihn aus der Fassung zu bringen. Problematisch war jedoch die Masse an unkontrollierbaren Personen. Ganz gleich, was auf sie zukam: Sobald die Menschen auseinanderstoben, gar fluchtartig das Dorf verließen, wären die möglichen Fronten mannigfaltig und Opfer unausweichlich. Kaito ließ ein letztes Mal den Blick über die Ebene schweifen, dann sprang er mit seiner Schwester auf den festgetretenen Dorfplatz hinab, wo sich auch ihre Eltern unter die Bewaffneten gemischt hatten. Wenige Minuten später erzitterte der staubtrockene Boden zum wiederholten Mal. Die Dorfbevölkerung hielt für einen Moment den Atem an, während Kaito hörbar mit den Zähnen knirschte. Natürlich hatte der Dämon keinen anderen Weg gewählt – und zu allem Überfluss schien er nicht allein zu sein. Inuyasha hielt sich dicht neben seinem Sohn und lauschte mit seinem bedauernswert schwachen Gehör in die Finsternis hinein. In jeder anderen Nacht wäre seine Nähe beruhigend gewesen, hätte sein vertrauter Geruch und die ihn umgebende warme Aura Kaito daran erinnert, dass sie sicher waren, solange er nur an ihrer Seite blieb. Doch die eigentümlich fade Witterung, die nun von ihm ausging, das gänzlich fehlende Schwelen des allzu vertrauten Yōkis und Inuyashas eigener, stummer Ärger über seine Wehrlosigkeit, setzten Kaito zu. Er hatte keine Angst vor einem Kampf. Die hatte er bislang selten verspürt und vermisste dieses Gefühl auch nicht gerade. Doch allein die Sorge, eine falsche Entscheidung zu treffen und damit so viele Leben zu gefährden, wie das Dorf gerade beherbergte, schnürte ihm die Kehle zu. Natürlich war er nicht der Alleinverantwortliche für die bevorstehende Schlacht. Seine Mutter war mit Honoka zu gut vierzig Bogenschützen gestoßen, unter denen sich auch Saki und Mei befanden. Ihren Ältesten hatten Miroku und Sango mit in die Reihen der Nahkämpfer genommen, die sich bei Bedarf noch einmal aufteilen würden, um jene mit Wurfgeschossen, wie die Sutras es waren, in die hintere der beiden Frontreihen zu lassen. Bosatsu war derartige Situationen durch sein Leben im Kloster nicht gewohnt und sah dem nahenden Kampf dementsprechend blass entgegen. Immer wieder benetzte er seine Lippen mit der Zunge und sah sich so verstohlen und hilflos um, dass Kaito bereute, ihn zu einer so ungelegenen Zeit ins Dorf gebeten zu haben – gleich wie wichtig die gelieferten Güter auch gewesen sein mochten. Das einzig Gute war, dass niemand sonst wusste, dass diese Lieferung auf sein Erbitten hin vonstatten gegangen war. Andernfalls wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit jeder Kratzer, den sich der junge Mönch in dieser Nacht noch zuzog, ihm zur Last gelegt worden. Er biss sich auf die Unterlippe und verabscheute sich für diesen egozentrischen Gedanken. Gleich was mit Saki und Mei war – Bosatsu war sein Freund und er wollte natürlich nicht, dass man ihn in irgendeiner Form verletzte. Dennoch war da dieser stetig nagende Hintergedanke, dass man jedweden Fehler später bei ihm suchen würde. Entnervt rollte Kaito mit den Schultern. Er wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Niemand würde wirklich die Schuld allein bei ihm suchen, doch er tat sich schwer damit, das auch zu glauben. War es nicht schon wieder Aussage genug, dass Saki und Mei lieber bei den Bogenschützen Stellung bezogen hatten, statt wie üblich mit Yari und Speer zu kämpfen – oder bildete er sich auch das nur ein? Im Grunde war er froh, nicht viel mit ihnen zu tun haben zu müssen, dennoch hatte er dieses Gefühl allmählich satt – und überhaupt lenkte diese Uneinigkeit nur ab! Er fuhr sichtlich zusammen, als Inuyasha ihm eine Hand auf den Rücken legte und die Fingerspitzen mit Nachdruck in seine Schulter grub. „Konzentration“, sagte er ernst und ließ die Hand entspannt auf Kaitos Schulterblatt liegen, sobald er dessen Aufmerksamkeit hatte. „Wo streunerst du herum, huh?“ „Ich bin hier.“ Seinem Vater entfuhr ein abfälliges Schnauben, dann senkte er die Stimme: „Keh! Dein Kopf jedenfalls nicht. Es wundert mich immer wieder, wie wenig Angst du hast. Aber wenn du die Zeit, die andere mit Schlottern verbringen, mit Grübelei vollstopfst, würde ich es vorziehen, wenn du den Kopf in den Sand steckst.“ Er nahm den Biss aus seinen Worten, als er fortfuhr. „In der Gegenwart kannst du etwas ändern. Nicht in Gedankenschlössern. Die fressen nur Zeit und Nerven.“ Zur Antwort atmete Kaito tief durch und nickte. „Wir sind bisher aus Situationen herausgekommen, die schlimmer waren als diese hier.“ „Mit einer gewaltigen Ansammlung scheuer Hühner im Hintergrund? Ohne Tessaiga?“, erkundigte sich Kaito schnippisch und warf einen Blick auf die alte Magnolienholzscheide an der Seite seines Vaters, in der das Katana die heutige Nacht im Tiefschlaf verbringen würde. Ohne Yōki war das Erbe des großen Inu no Taishōs nichts als eine rostige, mit tiefen Kerben übersäte Klinge, die vermutlich gerade noch einen Apfel auf Anhieb entzweischneiden konnte. Keine Waffe, nach der man sich am Straßenrand umgedreht hätte und sicherlich keine Hilfe. „Wenn die Panik das Dorf auseinandertreibt, sind sie so gut wie tot.“ „Ich sagte, ‚wir‘“, erwiderte sein Vater kalt und ließ die Hand von seinem Rücken gleiten, um sich das nachtschwarze Haar aus dem Gesicht zu streichen. Kaito warf ihm einen ungläubigen Blick zu, ließ diese Aussage jedoch unkommentiert, während Inuyasha gedankenversunken Tessaigas schäbige Klinge aus der Magnolienholzscheide zog. „Zieh‘ es bis zum Sonnenaufgang hinaus, wenn es sein muss“, raunte er leise. Ihre gefährlichste Offensivwaffe bis zum Sonnenaufgang nutzlos und die einzige Defensive der violett schimmernde Schutzschild seiner aus reiner Gutherzigkeit überarbeiteten Mutter. Es gab miserable Momente für einen Dämonenüberfall – und es gab diesen. Die Sekunden verstrichen und die Anspannung kroch an ihm empor wie eine kalte Schlange. Wand sich an seinem Körper hinauf bis zu seiner Kehle und schnürte sie zu. Prüfend betrachtete er den Schutzschild, der in der Dunkelheit sanft flackerte und verstärkte den Griff um sein Katana, bis der Druck sämtliches Blut aus seiner Hand gepresst hatte. „Sie kommen näher“, warnte Kagome leise, die die dämonischen Auren ebenso wahrnahm wie ihr Sohn. Noch ehe sie ausgesprochen hatte, war das Bersten von Holz über die gesamte Ebene zu hören. Die Bäume gaben nach und schlugen ächzend im nahen Wald auf. Wieder bebte die Erde, donnerte nach, als ein schwerer Körper auf den Boden aufschlug und eine Mischung aus Knurren und Kreischen die Nacht erfüllte. Dann kamen sie in Sicht. Äste wurden in alle Richtungen davon geschleudert und eine Buche schwankte bedrohlich, als ein Ungetüm von einem Hund zwischen den Stämmen hervorbrach und unvermittelt auf die Siedlung zuhielt. Die schweren, weißen Pfoten rissen mit ihren Klauen Erdbrocken aus der Hügelneigung und schleuderten sie mitsamt der vertrockneten Grasnarbe davon. Die spitzen Ohren angelegt und mit gesträubtem Schwanz- und Nackenfell, preschte der Inuyōkai in die Senke. Die Hunde im Dorf spielten verrückt, sobald sie ihn bemerkten. Sprangen in ihre Ketten. Kläfften, heulten, jaulten ohrenbetäubend, feuerten die Panik der Menschen an, die im Angesicht des Dämons schreiend auseinanderstoben und in ihrer Angst übereinander stolperten. „Sesshōmaru!“, verkündete Sango überrascht. „Was will er hier?“ „Das ist der Welpe“, stellte Inuyasha barsch fest. Der Hund war zwar sicherlich doppelt so groß wie ein ausgewachsenes Rind, aber im Vergleich zum Inu no Taishō kaum mehr als ein Halbwüchsiger. „Minoru…“, Kaito hatte die Ohren angelegt und knurrte; verkrampfte bis ins in den letzten Muskel, während sich seine Gedanken überschlugen. Wie konnte es dieser abgebrochene Zwerg wagen, einen Angriff auf sein Dorf anzuführen?! Daiyōkai hin oder her! Es war ausgeschlossen, dass Sesshōmaru um die Schwäche seines Vaters wusste! Es sei denn – nein. Die Art mit der sein Vetter auf das Dorf zuhielt, ließ Kaito innehalten. Er hatte keine Erfahrungen mit Hunden, doch etwas an ihm wirkte nicht weniger panisch als die schreiende Menschenmenge, die zwischen den Gebäuden Schutz suchte. Just im selben Moment fiel auch der Widerstand der alten Buche, die bereits unter Minorus massigem Körper gelitten hatte, und gab das fahl glänzende Schuppenkleid eines gewaltigen Drachen frei. Minoru warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und versuchte, das Tempo noch einmal anzuziehen. Der Drache stieß ein hämisches Schnauben aus seinen Nüstern, als er die schutzlose Ansammlung von Menschen und Halbdämonen bemerkte, dann nahm er erneut die Verfolgung auf, zog mit seinem langen Körper wenige Zentimeter über dem Boden entlang und gewann auf der freien Fläche schnell an Geschwindigkeit. Ihre Chancen witternd strömten nun auch die niederen Dämonen einer Flut gleich aus dem Unterholz hervor und stürmten im Windschatten des Drachen sowie über die Flanken auf das Dorf zu. Die Bogenschützen eröffneten umgehend das Feuer auf sämtliche Ziele. Pfeile sirrten durch die Luft und ergossen sich auf die Heranstürmenden. Schreie verwundeter Dämonen gellten in den Nachthimmel hinauf, dessen Finsternis den dunklen Drachen nahezu gänzlich schluckte. Die wenigen Pfeile, die ihn erreichten, prallten an seinen glänzenden Schuppen ab wie Fliegen. Als einziger gut sichtbar kostete es Minoru alle Mühe, im rechten Moment einen Haken zu schlagen, um der stählernen Schneise zu entgehen, von der sich der Großteil der Geschosse nutzlos in die karge Wiese bohrte. „Lasst den Köter“, donnerte Inuyasha lauthals über die Menge hinweg. „Kagome! Lass ihn durch die Barriere!“ Sangos Stimme knallte wie eine Peitsche, während sie voranstürmte: „Zielt auf die Oni! Nahkämpfer an den Drachen!“ Wie befohlen ließ Kagome den frontalen Abschnitt ihres Schildes fallen. Kaito rollte mit den Schultern, zog sein Katana aus der Scheide und wollte gerade mit den anderen nach vorn sprinten, als ihn eine undefinierbare Aura aus den Reihen der Bogenschützen wie ein Eisregen überflutete. Atemlos warf er einen Blick zu seiner Schwester, die nicht minder schockiert in die Schützenreihe vor sich starrte. Etwas an dem Pfeil, den Saki dort soeben an die Sehne ihres Bogens legte, ließ Kaito instinktiv zurückweichen wie jedes vernünftige Lebewesen Abstand von den Flammen eines Großbrandes nehmen würde. Beim Anblick der schimmernden Spitze schien die Welt einen tiefen Atemzug zu tun. Das Grölen des Kampfes, das sich mit dem Adrenalin zu einem dumpfen Hintergrundrauschen formte, schwoll ab. Die langsam gespannte Ledersehne unter den schmalen Frauenfingern wie die Saiten eines Instrumentes... geübt… kontrolliert... Einatmen. Ein routiniert ausgedrehter Bogenarm, das sorgsam fixierte Ziel zwischen den Brustschuppen des schwarzen Drachen... Ausatmen. Ein abruptes Umschwenken der Waffe – und dann geschah alles auf einmal. Während der Pfeil von der Sehne schnellte, schlug Honoka der Dämonenjägerin ihren Bogen gegen den entblößten Hals und konnte doch nur mit ansehen, wie das Geschoss die Barriere ungehindert passierte und mit einem dumpfen Geräusch in die Brust des Hundes einschlug. Entgegen aller Erwartungen brachen Minoru augenblicklich die Beine weg. Eine Furche ziehend klappte der Inu zusammen, überschlug sich unheilvoll und blieb schließlich mitten auf der Fläche liegen. Kaito starrte einen Moment mit leerem Blick auf den regungslosen Hund. Aus den Augenwinkeln nahm er gedämpft war, wie Saki, Honoka und Mei von den umstehenden Bogenschützen auseinandergerissen wurden. Der Lärm, den sie damit verursachten, drang nicht mehr zu ihm vor. Seine Aufmerksamkeit galt dem Drachen, der ein donnerndes Grollen ausstieß, ehe er trotz der herannahenden Krieger an Geschwindigkeit zulegte – dann entriss Kaito seinem Vater die Schwertscheide, ehe dieser einen Ton des Unmuts hervorbringen konnte, ließ ihn mit der rostigen Waffe stehen und setzte durch den wieder erstarkenden Schutzschild hindurch zur Frontlinie. Die gellenden Schreie seiner Eltern flogen an ihm vorbei, während er mit Leichtigkeit Sango und die übrige erste Linie überholte, einigen entgegenkommenden Oni auswich und zu Minoru aufschloss. Der Staub, den der Drache aufwirbelte, schlug ihm ins Gesicht, als er über die Schnauze des Hundes hinwegsetzte und die Schwertscheide mit Wucht in den trockenen Boden rammte. Einen Atemzug später krachte die Echse ungebremst auf den Bannkreis, dass die Wucht des Aufpralls Kaito noch im Innern von den Füßen riss und gegen Minorus Kopf schleuderte. Fauchend zuckte der Drache zurück, ehe er kopflos nochmals auf sie niederfuhr. Seine Zähne, lang wie Männerarme, schabten knirschend über die unsichtbare Barriere, die die Magnolienholzscheide schützend über den beiden Jungen spannte. Der Bannkreis funkelte beim Aufschlag in einem grellen Blauviolett, die Schwertscheide in seinem Zentrum erzitterte – aber er hielt stand. In Kaitos Rücken regte sich der Inu. Weicher, weißer Pelz strich über die bloße Haut an seinem Nacken und jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken. Es bedurfte eines vollkommenen Idioten, um sich an der Seite eines verletzten, halbwüchsigen Daiyōkais innerhalb eines winzigen Bannkreises einzusperren. Kaito biss die Zähne aufeinander, bis es knirschte und verlagerte sein Gewicht sprungbereit auf die Beine – schuldig im Sinne der Anklage. Das Knurren, das hinter ihm kehliger zu werden drohte, wurde jäh übertönt. Der Knochenbumerang surrte laut über ihre Köpfe hinweg und traf den vor Wut speichelnden Drachen am beschuppten Hals. Dichter, schwarzer Qualm stieg von unzähligen Rauchbomben empor und presste sich in einer fahlen Wolke an die Kuppel des Bannkreises. Der Drache brüllte wütend und durchschlug blindlings den Rauch mit seinem Schwanz, während die Dorfbewohner ihn umstellten. Kaito zwang sich mühevoll den Kampf auszublenden und wandte sich zu Minoru um. Ein Ton der Erleichterung entfuhr ihm, als er sah, dass sich die monströse Gestalt des Hundes unter dem Bannkreis aufgelöst hatte. Zeitgleich jedoch drehte ihm das Elend den Magen um. Minorus lag zusammengerollt auf der Seite. Pfeile, die nicht tief genug durch sein Fell gedrungen waren, um in der Haut stecken zu bleiben, waren am Boden verteilt. Sein Atem ging zu flach und die burgunderfarbenen Muster seines Kimonos waren zwischen all dem Blut kaum noch zu erkennen. Es gab zahlreiche Wunden, die zu weit aufgerissen waren, um von den Pfeilen des Dorfes zu stammen. Der Drache hatte ihm ausreichend zugesetzt und Sakis Pfeil, der tief in seine rechte Schulter eingeschlagen war, das Übrige getan. Fluchtbereit ging Kaito an seiner Seite in die Hocke, rollte ihn grob auf den Rücken und riss sofort die Hände zurück, um einen etwaigen Angriff zu entgehen. Tiefes Rot hatte Minorus Augen durchsetzt, doch abgesehen von diesem Tanz am Abgrund der Verwandlung war sein Blick derart matt, dass Kaito sich sicher war, dass er ihn nicht einmal wirklich wahrnahm. „Meine Fresse, siehst du scheiße aus“, brummte er und betrachtete den Pfeil, der aus der rechten Schulter seines Vetters ragte, mit Skepsis. Er steckte bedenklich tief unmittelbar unterhalb seines Schlüsselbeines, war beim Sturz auf halber Länge abgebrochen und die bedrohliche Aura war nur noch verschwommen wahrnehmbar. Was blieb war ein mulmiges Gefühl, als Kaito sich dem Geschoss näherte. Einem Teil von ihm widerstrebte es bis zu einem Punkt, der an Ekel grenzte, dieses Ding überhaupt zu berühren. Als er es dennoch tat, stellten sich sämtliche Haare seines Körpers auf, während er sich zeitgleich fühlte, als versinke er metertief in schleimigem Morast. Er stieß ein wütendes Knurren aus, um das Gefühl zu vertreiben und zog beherzt an dem Holzschaft, der sich derart zwischen Muskulatur und Knochen verkeilt hatte, dass er sich kaum rührte. Der Han'yō knurrte genervt und stützte ein Knie auf Minorus blutdurchtränkter Brust ab, um ihn am Boden zu halten. Hier war Zärtlichkeit nicht das Mittel der Wahl. Für einen Moment taxierte er den Inu unter sich aufmerksam, dann riss er den Pfeil nach einer kurzen Drehbewegung mit aller Gewalt heraus. Ein hässliches Knacken begleitete das Geräusch zerreißenden Gewebes, als das Schlüsselbein brach. Mit einem schnellen Griff fing Kaito Minorus Hand am Gelenk ab, bevor der seinen Hals zerfetzen konnte. Dann war dieser auf einmal über ihm, hatte Kaito in einer einzigen Bewegung auf den Rücken geworfen und die messerscharfen Klauen in seine Schultern getrieben. Blut rann aus Minorus zahlreichen Wunden, klatschte Kaito heiß und klebrig ins Gesicht, während der Inu wütend knurrend über ihm kauerte, mit Augen von leuchtendem Rot. Er fletschte bis die langen Fangzähne deutlich sichtbar hervortraten. Die Konturen um Augen und Mundwinkel verzogen sich, die sonst so gradlinigen dunkelroten Abzeichen auf seinen Wangen erschienen verschwommen. Ein erneutes Knurren, wieder ein tödlicher Angriff auf den ungeschützten Hals. Kaito zwang seine Hände frei, während seine Schultern vor Schmerz brannten, riss sie hoch und um die Kehle des Dämons, hielt seine tödlichen Zähne mit Mühe auf Abstand und fluchte lauthals über seine eigene Dummheit und seinen Vetter, der zwischen Freund und Feind nicht zu unterscheiden wusste. „Hör auf, du Vollidiot! Ich will dir helfen! Minoru! Minoru, hör auf!“ Kaitos hörte seine eigene Stimme in den Ohren widerhallen, vermischt mit dem Geräusch vor Adrenalin rauschenden Blutes. Er biss die Zähne zusammen, versuchte sich zu befreien, fand aber nicht genug Schwung ohne die Kehle seines Gegenübers locker zu lassen. Der riss röchelnd die Krallen aus Kaitos Schultern – was diesem einen gellenden Schrei entlockte – nur um damit nach seinem Gesicht zu schlagen, das er nur deshalb verfehlte, weil Kaito einen Arm in den Weg bekam. Der blaue Stoff seines Hakamas gab nach wie Seidenpapier, verfärbte sich schlagartig dunkelviolett, als Haut und Muskel zerrissen. Er schluckte den Schrei mühevoll herunter. „Lass es, verdammte Scheiße! Du tust mir weh! Minoru! Bitte!“ Die Mordlust wich aus seinem Blick wie der röchelnde Atemzug seiner Lunge entfuhr. Minoru riss die Klauen zurück, als habe er sich gerade an ihm verbrannt und starrte ihn verständnislos an. Dann legte er die blutverklebten Hände über Kaitos, die weiterhin seine Kehle umschlungen hielten, und versuchte, den Griff zaghaft zu lockern. Kaito tat ihm den Gefallen und ließ die Arme kraftlos zu Boden fallen. Das stachelige Gras der Ebene bohrte sich in seinen zerrissenen Unterarm und ließ ihn schmerzlich das Gesicht verziehen. „… dafür bist du mir was schuldig, Hund. Nicht, weil ich dir gerade den Arsch gerettet habe, sondern weil du mich dafür zu Gulasch verarbeiten wolltest. Undankbarer Köter.“ Minoru sagte nichts. Sein Blick ruhte weiterhin verständnislos auf Kaito, als begreife er nicht, was er hier verloren hatte und vermutlich tat er das tatsächlich nicht. Ein lautes, eisernes Brüllen ließ sie beide zusammenfahren. Einem Sturzregen gleich brach der Lärm der Schlacht über ihnen herein. Zuvor ausgeblendet schien er nun umso tosender, gewaltiger und allumfassend. Der Geruch von Blut erfüllte die heiße Nachtluft, war mitsamt des wertvollen Lebens in den Boden eingesickert und als der Drache ein weiteres Mal seine Wut in den Himmel hinaufschrie, nur um einen Moment später erneut die Barriere anzugreifen, sah Kaito zum ersten Mal so etwas wie Angst in einem Yōkai. Minoru sprang augenblicklich zur Seite, rollte ein Stück und stob auf das Ende der durchscheinenden Kuppel zu. Kaito war sofort auf den Beinen, hechtete ihm nach und warf sich mit vollem Gewicht auf seinen Vetter, um ihn zu Boden zu pressen. Unmittelbar vor dem violetten Schimmer der Barriere schlugen sie gemeinsam auf der harten Erde auf. Der heiße Atem des Drachen brandete aus seinen Nüstern und ließ den Bannkreis wenige Zentimeter vor ihren Augen grau beschlagen. Der Unterkiefer des Ungetüms war in einem bedenklichen Winkel zur Seite verschoben, empfindlichere Schuppenbereiche dicht mit Pfeilen gespickt und eine klaffende Wunde auf seiner Schnauze gab den Blick auf die darunter liegenden, von Blut verklebten Nasengänge frei. „Fliegen unter dem Glas“, hob der Drache mit einem Knurren an, indes die sprechende Maske auf seiner Stirn allmählich die Geduld verlor. „Ich reiße euch jedes Glied einzeln aus, Inu. Eure Zeit ist abgelaufen. Euer lächerlicher Palast ausgebrannt. Wohin willst du schon laufen, kleiner Hund? Zu Knochen und Asche?“ Minoru, der sich eben erst kaum merklich aufgestützt hatte, zuckte sichtlich zusammen und wich zurück, während Kaito die Zähne bleckte und den schwarzen Blick des Drachen furchtlos erwiderte: „Große Worte für eine Echse, die seit Jahrhunderten nichts als Erde und Würmer zwischen den Zähnen hatte.“ Der Drache peitschte wütend mit dem Schwanz und öffnete das Maul nur einen Spalt breit. Ausreichend weit, um das helle Schimmern in seinem Rachen zu entblößen, in dem sich Yōki zu einer soliden Kugel formte. Kaito fluchte laut, sprang wieder auf und zog Minoru auf die Beine, um ihn zurück zur Magnolienholzscheide zu reißen, die tapfer den Schild aufrecht hielt. Dort angekommen ließ er sich erneut zu Boden fallen, umfasste das verzierte Holz und trieb es sicherheitshalber noch einmal tiefer in die Erde, ehe der Energieball auf die Kuppel aufschlug. Die Druckwelle riss die Grasnarbe davon, Schlug eine Schneise in die dichte Rauchwand und presste die Jungen innerhalb der erzitternden Barriere an den Boden. Die Energie des Angriffs ließ jedweden Grashalm im Umkreis von hundert Metern in Flammen aufgehen und erhitzte die ableitende Schwertscheide, dass es Kaito die Handflächen versengte. Von aufgewirbelter Erde bedeckt wagte er erst den Blick zu heben, als das Beben nachgelassen hatte. Das bläuliche Schimmern des Bannkreises über ihnen wirkte schwach und brüchig, aber er hielt. So verwunderlich das auch war, war gleichsam sicher, dass ein weiterer Angriff ihnen den Garaus machen würde. Kaitos Hand brannte und roch abstoßend nach garem Fleisch, als er sie mit zusammengebissenen Zähnen vom Holz losriss. Sie konnten unmöglich länger auf dem Präsentierteller herumsitzen. Über ihnen ertönte erneut das tiefe Grollen des Drachen, während Kaito seinen Vetter unter Schultern und Kniekehlen packte und vom Boden anhob. Minoru war erschreckend leicht, kaum schwerer als Honoka, und in Kaitos Armen auch nicht viel weniger zierlich. Ein leises Sirren hinter ihnen ließ Kaito jeden Muskel anspannen. Wenn der Drache sie ein weiteres Mal mit dieser Technik angriff, waren sie verloren. Ein wohl gesetzter Schlag mit Tessaiga hätte dem Biest diesen Angriff bis in alle Zeiten verleiden können, wenn ihm erst einmal das eigene Yōki durch das Bakuryūha seines Vaters um die Ohren geflogen wäre – aber das fiel aus gegebenen Gründen aus. Selbst wenn Kaito die Waffe geführt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, diese Technik zu benutzen. Er hatte schon seinen lieben Kummer mit der Windnarbe, die ihm alle Jubeljahre halbwegs gelungen von der Hand ging. Das Sirren wurde lauter, wurde zum Dröhnen – und brach jäh in ein metallisches Kreischen ab, als einer von Kagomes Pfeilen, einen violetten Schweif hinter sich herziehend, in den aufgerissenen Nasenrücken des Drachens einschlug. Kaito wartete keine Sekunde länger, rannte aus dem Bannkreis hinaus in die sich wieder verdichtenden Nebelschwaden, die ihm augenblicklich jedweden Sinn nahmen. Der Rauch trieb ihm die Tränen in die Augen und reizte seine Atemwege zu einem ständigen Husten. Er roch nichts als den beißenden Gestank von Ölen und Kräutern und rannte blindlings fast in einen Krieger des Dorfes hinein, der ihn glücklicherweise als Verbündeten erkannte. Der Weg war übersät mit gefallenen Dämonen. Verwirrte Yōkai preschten durch die Reihen der Menschen, fielen über die Kadaver ihrer Artgenossen oder machten sich über sie her. Kaito setzte über sie hinweg oder wich ihnen weiträumig aus und versuchte dabei die Orientierung nicht zu verlieren. Menschen kamen mit diesen vermaledeiten Rauchbomben besser zurecht und auch wenn er ihren Einsatz in einer solchen Situation nachvollziehen konnte, hasste er diese Methoden. Hasste es herumzuirren, wenn um ihn herum die Schlacht tobte. Doch das hier war seine Heimat. Er wusste, in welche Richtung er lief – auch ohne Witterung oder Sicht – und atmete tief den faden Geruch trockenen Unterholzes ein, als er den Waldrand erreichte. Es war ihre einzige Möglichkeit dem Kampf zu entkommen. Minoru ins Dorf zu bringen war hingegen ausgeschlossen. Der Drache würde ihm bei der ersten Gelegenheit folgen und alles auf seinem Weg vernichten. In der Nähe schwelte ein Brand. Durch die Trockenheit hatte das entzündete Gras das Feuer einer Welle gleich bis an den Wald getragen, wo es sich nun durch die Bäume fraß. Wie auch immer das hier ausgehen würde – die Folgen waren nun schon verheerend. Kaito sprang zur Seite, als er neben sich ein Zischen vernahm und trat dem Schlangendämon unverhohlen, wenn auch etwas ungeschickt, in das langgezogene Gesicht. Die mehrreihig besetzten Zähne splitterten und bevor sich das niedere Biest beschweren konnte, machte Kaito einige Sätze in den Wald hinein und hielt erst am Brunnen inne. Die Lichtung war weitläufig und gut einsehbar – für beide Seiten. Doch Kaito zog es vor, seinen Gegner zu sehen, bevor er sich dem trügerischen Schutz des Unterholzes hingab, wo jeder Busch einen Überraschungsangriff bergen konnte. Er setzte Minoru auf dem Boden ab. Der sackte plump wie ein Sack Reis ins Gras der Lichtung und blieb schwer atmend liegen. Die stille Hoffnung, den Kampf mit seiner Hilfe zu ihren Gunsten zu drehen, schwand mit jedem Moment mehr. Doch selbst wenn er anfänglich noch in der Lage gewesen war, das Dorf zu verteidigen, so hatte Saki dieser Aussicht endgültig ein Ende bereitet. Kaito biss mit einem Seufzen in den Stoff seiner weiten Ärmel und riss ein langes Stück heraus, das er notdürftig um Minorus Schulter band. Er war bei den Lektionen seiner Mutter zwar nicht unaufmerksam gewesen, doch so einfühlsam und geschickt wie die Frauen war er mit Verbänden dennoch nie geworden. Er scheiterte zweimal daran, den Fetzen ausreichend sicher an der Schulter zu befestigen und zog beim dritten Mal den Knoten so fest, dass Minoru aufschrie. „Na immerhin lebst du noch“, brummte Kaito genervt und rieb seine Hände am trockenen Gras, um einen Teil des klebrigen Blutes von den Händen abzustreifen. „Ich will nicht wissen, was Rin mit mir anstellt, wenn du unter meinen Händen das Zeitliche segnest – oder gar dein Alter! Dann kann ich mich gleich selbst ins Schwert werfen. Wo steckt der eigentlich schon wieder? Es sollte ihm doch wohl möglich sein, einen Drachen von dir fernzuhalten.“ Minoru erwiderte nichts. In seinem Kopf hämmerte es wie in einer Schmiede und seine Schulter fühlte sich an, als habe man ihm den Arm abgerissen. Er wandte sich um, um sich aufsetzen, doch Kaitos Hände hielten ihn bestimmt am Boden. „Bleib liegen“, murmelte er. „Im Wald wimmelt es von Yōkai. Für mich ist es leichter, einen starren Punkt zu verteidigen, als wenn du noch hier herumwankst. Also halt den Kopf unten und sei still.“ Minoru starrte seinen Vetter an. Kaitos Gesichts und Hals waren zerkratzt und auch sein Unterarm schwer zugerichtet worden; der dunkelblaue Stoff des darüberliegenden Hakama blutdurchtränkt. Und dennoch stammte das meiste Blut nicht von ihm. Ein Gemisch aus Witterungen diverser Yōkai, Menschen und Oni umgab ihn; dazu Drache und Minorus eigenes Blut. Er kam unmittelbar von einem Schlachtfeld, ramponiert und blutüberströmt und derart gefasst, dass Minoru sich ob seiner Panik vor dem Drachen aufrichtig schämte. „Was tust du hier?“ Kaito zog eine Braue hoch und musterte ihn, als habe er soeben die dämlichste Frage überhaupt gestellt. „Wonach sieht das für dich aus? Ich rette deinen eingebildeten Arsch, du Idiot! Du kannst mir später ausführlich danken.“ „Nachdem das Dorf dir dafür gedankt hat, dass wir nun endlich wissen, wo deine Treue liegt, hm?“, tönte eine Frauenstimme schnippisch aus dem Unterholz. Als Saki und Mei zwischen den Bäumen hervortraten, war Kaito augenblicklich auf den Beinen und stellte sich mit gezogener Waffe vor Minoru auf. „Was wollt ihr von ihm?“ Diese verflixten Rauchbomben! Er witterte sie nicht einmal, obwohl er die Zwillinge bereits sah! „Die wichtigere Frage ist doch, was du dir von ihm erhoffst, dass du das Dorf um seinetwillen im Stich lässt“, erwiderte Saki gelassen und drehte ihren Yari auffällig in der Hand. Ihre Stimme klang durch die Maske gedämpft, die sie gegen den Rauch trugen. „Meinst du, sie würden dich mit offenen Armen empfangen, nur weil du ihren kleinen Prinzen rettest? So funktioniert diese Welt nicht, Kaito. Du kannst nicht ändern, was du bist. Bei ihnen am allerwenigsten. Sie wittern den Menschen dreißig Meilen gegen den Wind.“ „Vielen Dank für die Unterweisung in dämonischer Hofpolitik, Saki“, schnappte Kaito gereizt. „Kannst du dir auch ausmalen, wie sie Angriffe werten, wenn ihnen Hilfe schon gleichgültig ist?“ „Du solltest im Dorf sein und deine Familie und Freunde beschützen“, erwiderte Mei niedergeschlagen, während sie ihren Blick über Kaito wandern ließ. Dieser schnaubte abfällig: „Dasselbe gilt für euch.“ „Genau das tun wir“, Saki senkte den Yari und bedeutete Kaito, zur Seite zu treten. „Sei vernünftig und geh aus dem Weg.“ „Ihr werdet das hier nicht überleben“, warnte Kaito leise. „Warum? Glaubst du, sein Vater wittere hier mehr als Rauch und Öle? Honoka wird kaum ausplaudern, was passiert ist. Und du sicherlich auch nicht. Wer würde dich dann noch im Dorf haben wollen, wo du ohnehin schon eher geduldet als gewollt bist?“ „Kaito –.“ „Du halt dich da raus!“, fauchte er Minoru an und umklammerte den gebundenen Griff seines Katanas, bis er die einzelnen Riemen in der ohnehin verbrannten Handfläche spürte. Saki wurde ungeduldig. „Nochmal: Geh zur Seite und überlass ihn uns!“ Kaito spuckte aus und knurrte tief. „Dann holt ihn euch doch.“ Das war nicht die Art von Kampf, die er erwartet hatte und keiner, den er zu führen wusste. Er hatte nicht vor, die beiden zu töten, konnte sie aber auch nicht behandeln wie in einem Übungskampf. Wie also zwei Dämonenjäger auf Abstand halten, die ihr Ziel ins Auge gefasst hatten? Ihre Kleidung aus schwarzem Dämonenleder verschmolz katzengleich mit der Dunkelheit, sobald sie sich bewegten, und lediglich die geschmiedeten Ränder der eng anliegenden Rüstungsstücke und Waffen glänzten vereinzelt auf. Kaito machte einen Schritt zurück, um näher an Minoru zu bleiben und fixierte die Bewegungen der Schwestern, die selbstverständlich versuchten, sie einzukreisen. Minoru hatte sich hinter ihm mit dem Rücken an den Brunnen gelehnt und beobachtete die jungen Frauen gleichermaßen. Kein Zweifel, dass er sie deutlich besser sah und auch eher dazu bereit war, sie in Stücke zu reißen, sobald sie ihm zu nah kamen. Aber weder wollte Kaito es darauf ankommen lassen, noch sah er Minoru in der Verfassung, sich tatsächlich allein zu verteidigen. Wie dumm konnten sie nur sein? Wenn der Inu no Taishō auch nur in Ansätzen erfuhr, was hier passierte, wäre der Drache ihr geringstes Problem. Der erste Vorstoß kam nur Augenblicke später. Kaito atmete tief aus, parierte Meis Schwerthieb hoch genug, um ihre Klinge an seiner entlangrutschen zu lassen und sie ihr aus der Hand zu drehen. Mit einem gezielten Tritt in den ungeschützten Magen schickte er sie zu Boden und konnte Sakis Yari gerade noch mit der Rückhand kontern. Die Lanze traf sein Katana zu nah an der Klingenspitze. Die lädierten Muskeln seines Unterarms brannten und brachten schwerlich den nötigen Gegendruck auf, um sie auszuhebeln. Verbissen hielt er gegen und überlegte angestrengt, wie er sie aus dieser Position loswerden sollte, ohne sie mit Yōki zu zerreißen, wie er es in der Regel getan hätte, als zu seiner Linken Mei erneut auf die Beine kam und das Wakizashi zog. Zeitgleich schoss etwas Weißes unmittelbar hinter ihm hervor und stieß auf Saki zu. Ohne jedwedes Geräusch verbiss sich Minoru in ihrem Oberschenkel und ließ erst los, als sie den Yari aufgab und mit einem Dolch nach seiner Kehle stach. Sie streifte ihn entlang der Schnauze, ehe er wieder hinter Kaito sprang und sich breit aufstellen musste, um nicht umzufallen. Dieser nutzte die Unsicherheit in Sakis Stand und Minorus Positionswechsel und riss sein Katana zur Seite. Der Yari fuhr krachend in die Erde und zwang Saki zu einem Ausgleichsschritt nach vorn, der ihr den Schmerz ins Gesicht und das Blut am Bein heruntertrieb. Kaito schlug mit Wucht in der Nähe ihrer Hände gegen die Lanze, was Saki endgültig entwaffnete und auch Mei abbremsen ließ. Sie waren zu durchschaubar. Die wichtigen Züge führte stets Saki aus, wohingegen ihre Schwester ohne sie verloren schien. Zu spät bemerkte Kaito jedoch die runden Kugeln zu seinen Füßen, die ihm beim bloßen Anblick die Kälte in die Knochen trieben. Instinktiv war ihm das Ausmaß der Gefahr bewusst, doch war er außer Stande sie wirklich zu begreifen. Er trat eine der Kugeln weit von sich, schrie Minoru an und wollte sich zu dem am Boden liegenden Hund umwenden, ihn und sich in Sicherheit bringen, als giftiges Gas und Rauch mit leisem Zischen aus den Kugeln strömte. Augenblicklich tanzte es auf seiner Haut wie loderndes Feuer, biss sich in seinen Atemwegen fest und ließ ihn taumeln. Kaito hielt die Luft an, zwang sich zur Ruhe und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Einen Fluchtweg zu finden. Seine Augen tränten und brannten, die gesamte Lichtung war erfüllt von Rauch, die Giftgaskugeln der Dämonenjäger über die gesamte Wiese verteilt. Warum musste es nur so dunkel sein? Wie hatte er ihnen derart in die Falle laufen können? Er machte einen Schritt nach vorn und taumelte zurück, stolperte über Minoru und schlug unglücklich gegen den morschen Bretterverschlag des Brunnens. Seine Muskeln zitterten unkontrollierbar, die Lunge verkrampfte mit jedem erzwungenen Atemzug. Er spürte, wie jemand seinen Kragen packte und ihn über den staubigen Boden zu zerren versuchte, ihn wiederholt beim Namen rief, anschrie und fluchte. Irgendwo in der Ferne. Das Klirren von Metall, erneutes Geschrei und schließlich eine Taubheit und erstickende Leere so schwarz wie der mondlose Nachthimmel selbst, der unerbittlich über alledem thronte. Kapitel 43: verklärenden Eindrücken ----------------------------------- Warme Luft und ein entferntes Summen drangen zu ihm vor. Mit jedem Atemzug spürte er das Stechen in seinen Knochen und die zittrigen Krämpfe, die seinen Körper schüttelten. Kaito versuchte, die Augen aufzuschlagen, wollte sich auf die Seite rollen, doch seine Muskeln gehorchten nicht. Das Summen klang mit jedem Moment abgehackter, wurde unterbrochen; mal heller, mal tiefer. Sein Verstand verarbeitete die Stimmen nur bruchstückhaft und jagte ihm stattdessen Schauer über den Rücken, als der wache Instinkt begriff, wie wehrlos er allen ausgeliefert war. Sein Magen verkrampfte, während Kaito sich erneut antrieb. Zur Bewegung, zur Gegenwehr, Eile, Kampf. Doch als hielte ihn manifestierte Schwärze wie klebriges Pech in seinem eigenen Selbst gefangen, hüllte sein nutzloser Körper ihn ein. Dieser zitterte und schauderte wie ein verängstigtes Kleinkind, verweigerte jedoch jeden Befehl, gleich wie verzweifelt er sein mochte. Kaito sträubte sich, schrie in die Stille hinein ohne auch nur den Mund zu öffnen oder einen Laut hervorzubringen. Dann endlich ließ sich seine Hand bewegen und schnellte empor. Ein schrilles Kreischen klirrte in seinen Ohren, während er sich im unermüdlichen Bestreben auf die Beine zu kommen im Dreck wand wie eine sterbende Schlange. „Tut etwas! Er stirbt! Bitte!“ „Bleib gefälligst weg von ihm!“ „Bitte!“ Eine raue Hand schloss sich würgend um seine Kehle und ließ seinen Hinterkopf schmerzhaft auf den Boden aufschlagen, fing seine herumirrenden Hände ab und presste sie über ihm in den Staub. Das Gewicht, das sich auf seine Hüften niederließ, machte weitere Gegenwehr aussichtslos. „Offenbar kann er schlucken. Gib ihm das Zeug.“ „Aber wenn er sich verschluckt -“ „Glaubst du, es ist besser, wenn er seine eigene Zunge frisst? Mach schon, Kind!“ Jemand presste ihm etwas an die Lippen, doch Kaito sträubte sich nach Leibeskräften, bis über ihm Flüche ausgestoßen wurden und man ihn dazu zwang eine Flüssigkeit zu trinken, die ihn würgen ließ. Er spuckte die Hälfte wieder aus. Erneut erklangen Flüche. Es schmeckte tödlich bitter. Beim zweiten Mal legten sich Hände über seinen Mund. „Schluck runter, Junge. Los.“ „Kaito, bitte. Das wird helfen. Wir wollen dir helfen.“ Er hustete heftig, als ein Teil des Gemisches in seine Luftröhre ran, schluckte mehr herunter, als sie ihm den dritten Becher einflößten und spürte nach einer Weile, wie ihm Tränen die Wangen herunterliefen. Er wollte nicht mehr. Nichts mehr. Sie sollten weggehen! Alle! Sein Körper zitterte weiterhin unkontrolliert. Tausende Nadelstiche schienen sich in seine Haut zu brennen und die Schemen vor ihm bewegten sich verschwommen zu grotesken Wesen. Es brauchte weitere zwei Becher und eine gefühlte Ewigkeit voller Widerstreben und Ängste, ehe er vor sich eine Person ausmachen konnte, dessen dunkelgrünes – ja, beinahe schwarzes Antlitz! - ihn lauernd fixierte. Kaito erstarrte vor Schreck, dann versuchte er das Wesen von sich herunter zu treten, ehe es ihm den Hals aufschlitzen mochte. Doch das ließ seine Kehle los und riss sich die lackierte Maske vom Gesicht. Schwefelgelb leuchteten die Augen des Generalleutnants, der ihn erneut und ernüchternd mühelos mit einer Hand am Boden hielt. „Alles in Ordnung, Junge“, raunte er. „Beruhige dich. Was wir dir gegeben haben war Senensal-Saft. Gegen eine Vergiftung, die du dir im Kampf zugezogen haben musst. Es war Gegengift. Beerensaft. Verstehst du, was ich sage?“ Kaito nickte langsam und Ryouichi ließ ihn gewähren, nahm die Hände von ihm und richtete sich auf. Dennoch blieb er mit vollem Gewicht auf Kaitos Hüften ruhen. Rin ließ sich neben dem Inu ins Gras fallen und sah Kaito aus rot verquollenen Augen an. Sie trug leichte Rüstung und ihre sonst so gut versteckten Messer offen zur Schau – zumindest einen Teil von ihnen. „Du lebst...“, erneut rannen ihr die Tränen über die Wange. „Ich dachte, wir hätten dich endgültig verloren. Du hast seit Stunden kein Lebenszeichen gezeigt... Tenseiga hat keine Diener der Unterwelt finden können, aber dein Herzschlag war für Sesshōmaru-sama fast gar nicht hörbar.“ „Es hatte aufgehört zu schlagen. Phasenweise“, korrigierte Ryouichi trocken. Er lehnte sich vor und tippte mit der Klaue auf ein Schmuckstück, das auf Kaitos Brust ruhte, ehe er sich erhob. „Du solltest dich bei Gelegenheit bei der Fürstinmutter für ihre Großzügigkeit bedanken.“ Kaito folgte seiner Geste mit fragendem Blick. Sein Oberkörper war mit einer getrockneten Kruste überzogen, die nach Erde und Kräutern roch. Um seinen Hals lag eine lange Perlenkette. Der Anhänger war ein in Gold gefasster, dunkler Stein, der in der prallen Mittagssonne funkelte wie der sternenbehangene Nachthimmel. „Der Meidou-Stein ruft Seelen in ihre Hüllen zurück. Mehr aber nicht. Nur Tenseiga kann dabei physische Wunden heilen oder Gift aus dem Körper waschen. Rin hat versucht, dich zu entgiften, bevor wir dich zurückgeholt haben. Aber dein Herz hat dennoch mehrfach versagen wollen. Du brauchst Ruhe. Aufregung wird das übrige Gift nur wieder in deinem Körper verteilen.“ Rin schüttelte eine Tonflasche und entkorkte sie, um sie Kaito zu reichen. „Jaken und A-Un haben so viele Beeren gesammelt, wie sie finden konnten. Sie suchen auch jetzt noch. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber du musst mehr von dem Saft nehmen. Bitte.“ Sie krabbelte dichter an ihn heran und richtete ihn auf, damit er trinken konnte. Als Kaito nach der Flasche griff, fasste er daneben und zitterte so sehr, dass der Inhalt überzuschwappen drohte. Rin half ihm, das Tongefäß ruhig zu halten und an den Mund zu führen. Er versuchte es zu leeren, setzte jedoch nach der Hälfte ab und brauchte eine Weile, ehe er den Rest zu trinken wagte. Schließlich sah er auf seine Hände. Sie zitterten wie die des Dorfältesten, dem ohne Hilfe alles Essen auf dem Weg zum Mund zu Boden fiel. Sobald er den Kopf auch nur im Mindesten drehte, begann seine Sicht zu flackern und in sich zu verschwimmen. Rin bemerkte sein Entsetzen und legte ihm eine Hand auf den Rücken. „Sicher wird es dauern, bis sich dein Körper erholt hat... . Aber du lebst! Das ist doch, worauf es ankommt.“ In den gelben Augen des Inus lag eine andere Wahrheit als in den mühevoll aufmunternden Worten der guten Seele an seiner Seite. Sie wussten nicht, ob er sich davon erholen konnte. Ryouichi, der gerade seinen Obi richtete, hatte seinen Gedanken erraten: „Als der Fürst dich gefunden hatte, hätte ich geschworen, dass du ohne Tenseiga verloren bist. Dennoch atmest du. Deine Chancen abzuschätzen wäre vermessen. Du bist zäh und stur. Das sollte dienlich sein.“ Kaito musterte ihn nachdenklich. Seine Rüstung war unauffällig dunkel und schmucklos. In seinem schwarzen Obi ruhten zwei Schwerter, von denen nur eines in einer verzierten Scheide steckte. Hinter ihm lehnte eine Lanze an einer knorrigen Eiche. Das Erscheinungsbild täuschte einen gewöhnlichen Soldaten vor, doch Kaito kannte den Mann; erkannte die sonderbar gelben Augen und die dunkelgrünen Zeichnungen, die sich wie Tränen über seine Wangen zogen. Der Generalleutnant des Westens. Was tat er hier? Sie waren doch nicht im Westen, oder? Kaito sah sich um und presste die Lider zusammen, sobald alles um ihn herum zu rotieren begann. Rin fuhr mit der Hand durch sein dunkles Haar und zog das blaue Band heraus, das seinen kurzen Zopf gehalten hatte. „Deiner Familie geht es gut. Sie suchen nach dir“, erklärte sie ungefragt und kämmte mit den Fingern durch die von Blut und Dreck verklebten Strähnen. „Es hat viele Tote gegeben, aber ich kannte kaum einen von ihnen. Ruh' dich noch etwas aus, dann bringen wir dich nach Hause.“ Stimmen holten Kaito aus dem Schlaf, als die Sonne ihren Zenit längst überschritten hatte. Er war erneut traumlos eingeschlafen, nachdem Rin ihn dazu genötigt hatte, zwei weitere Flaschen voller Beerensaft zu trinken. Dieses bittere Gesöff wirkte. Doch Wunder vollbrachte es nicht. Kaito fühlte sich immer noch wie gerädert und seine Knochen schmerzten als zersprängen in ihnen bei jeder Bewegung hunderte kleiner Eiskristalle. Dann vernahm er erneut die tiefen Stimmen und drehte den Kopf in ihre Richtung, was sein Körper umgehend mit dröhnendem Schmerz und verschwommenen Lichtern quittierte. Er brauchte einen Moment, ehe er das knisternde Lagerfeuer erkannte, an dem Rin weitere Beeren zu Saft zerkochte. Weiter Abseits stand die hochgewachsene Gestalt Ryouichis und unterhielt sich mit jemandem, dessen tiefe, teils rauchige Stimme nur einer Person gehören konnte. Sobald sich seine Sicht auf die beiden Dämonen klärte, wurde ihm mit einem Schlag übel. Es fiel Kaito noch schwer, Zusammenhänge zu verarbeiten, aber dass die Anwesenheit der beiden höchstrangigen Yōkais des Westens in den Ebenen nichts Gutes verhieß, würde er vermutlich noch mit einem gespaltenen Schädel begreifen können. Der Fürst tendierte dazu, alles im Alleingang in die Hand zu nehmen und im Westen war sicher etwas vorgefallen. Warum um Himmels Willen nahm er also seinen Stellvertreter mit mit? Warum waren sie zu zweit? Es brauchte eine Weile, bis er begriff. Vorsichtig stemmte sich Kaito auf die Unterarme. Die Wunden, die Minoru ihm in seiner Panik geschlagen hatte, brannten, als habe er sie soeben mit einem Messer neu geöffnet. Dann sah er sich um. A-Un graste unweit des Feuers und Jaken döste, den Kopfstab im Schoß, in der Nachmittagssonne. Minoru jedoch war nirgendwo zu sehen. Hatten sie ihn etwa nicht gefunden? Ausgeschlossen! Sie waren zusammen dort gewesen! Selbst wenn man ihn von dort verschleppt hätte, hätten diese Inu ihn finden müssen! Es bedurfte einiger Anläufe, bis Kaito Rins Namen verständlich über die Lippen brachte. Das Wort drang heiser und gebrochen aus ihm hervor und zog einen brennenden Schmerz nach sich, den sonst nur ein verschlucktes Reibeisen hätte erzeugen können. Sie sah sich verdutzt nach ihm um und begann sofort breit zu lächeln. „Kaito!“ „Wo ist Minoru?“ Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen und auch die Gespräche versiegten augenblicklich. Kaito wandte den Kopf möglichst vorsichtig zu den beiden Männern, die ihn aufmerksam musterten. Es lief ihm kalt den Rücken herunter. Seit seiner Geburt behandelte ihn sein Onkel wie fade Luft. Nun galt die Aufmerksamkeit dieser kalten, goldenen Augen einzig und allein ihm. Er bereute jeden Moment, in dem er sich als Kind gewünscht hatte, nicht Objekt der Ignoranz zu sein! Das war die falsche Frage gewesen. Eindeutig die falsche Frage! Der Idiot konnte nicht tot sein! Er durfte nicht! Sein eigener Herzschlag hämmerte in seinen Ohren. Das Blut, das durch seinen Körper schoss, ließ ihn schmerzlich das Gesicht verziehen, als das Gift frohlockend Organe erreichte, aus denen es sich längst verabschiedet hatte. Rin war sofort an seiner Seite. „Langsam. Entspann dich. Du bist in Sicherheit.“ Sie stützte ihn und reichte ihm erneut eine Flasche. „Wir hatten gehofft, du wüsstest, wo er ist. Honoka hat uns erzählt, dass du ihm mit dem Drachen beigestanden hast. Aber als Sesshōmaru-sama dich bei dem alten Brunnen gefunden hat, warst du allein. Dann hat der Drache ihn nicht erwischt?“ Kaito trank einen Schluck, um seinen Hals zu beruhigen und schüttelte schließlich den Kopf. Zumindest das hatte er verhindern können. Aber wahrscheinlich war das Schlachtfeld derart von Rauchbomben und dem Gestank von Eingeweiden verseucht, dass nicht einmal die Inu ausmachen konnten, was geschehen war. „Wo ist der Drache?“ „Er ist nach Osten geflohen, nachdem Tessaiga ihn mehrfach in Stücke gerissen hat. Bevor wir ankamen.“ Ryouichi war an das Feuer herangetreten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die Miene des Fürsten zu seiner Linken war zwar weitestgehend ausdruckslos, doch sein Yōki kroch derart heiß am Boden entlang, dass die ohnehin trockenen Gräser verschmorten: „Er war mit dir am Brunnen.“ In Kaitos Brust verkrampfte sich etwas. Sein eigener Vater war stets impulsiv, trug seine Launen offen zur Schau und explodierte bei Provokationen schnell. Zum Schutz seiner Familie hätte auch er gemordet – zur Not vielleicht sogar Unbeteiligte. Die Frage stellte sich bei seinem Bruder gar nicht. „Ja“, bestätigte Kaito möglichst fest. Mit dem Saft fiel das Sprechen leichter, doch es kostete Mühe, über die lodernde Wut nicht in Panik zu verfallen. „Der Rauch war zu dicht und bei der Energiekugel dieses Drachen ist uns fast der Bannkreis um die Ohren geflogen. Minoru war verletzt und die Echse war seinetwegen hier. Also bin ich mit ihm weg vom Drachen, auf die Lichtung.“ Er hielt inne. Jedes weitere Wort würde das gesamte Dorf verdammen. Dass die Bewohner Pfeile auf Minoru abgeschossen hatten, war vermutlich schon ausreichend. Was sonst noch geschehen war, würde nur die Krönung sein, die dafür sorgte, dass kein Mensch es für die nächsten Jahrhunderte wagen würde, in dieser Gegend zu siedeln. „Wo du gestorben bist.“ Es war das erste Mal, dass sein Onkel in einem neutralen Ton direkt mit ihm sprach und auf eine Reaktion zu warten schien. Kaito erwiderte seinen Blick und versuchte eine Wahrheit zu verarbeiten, die der Generalleutnant ihm bereits vor Stunden aufgetischt hatte. Doch da war sie an ihm vorbeigezogen – die Gewissheit, dass er tatsächlich an diesem Gift krepiert war. Dass sie alle Mühe gehabt hatten, ihn mit Tenseiga, diesem Stein und Gegengift wieder ins Leben zu holen. Sie hatten ihn ermordet und am Brunnen liegen lassen wie all die Yōkai, die sie in den Jahren niedergemacht hatten. Es fühlte sich unwirklich an, dass die Zwillinge ihn wirklich getötet haben sollten. Er hatte vieles von ihnen erwartet, ihren Hass erduldet und sich an den Ratschlag seines Vaters gehalten, nicht derjenige zu sein, der ihnen einen Denkzettel verpasste. War sanfter mit ihnen umgegangen, als er es in einem Trainingskampf je getan hätte, nur um sich nichts nachsagen lassen zu müssen – und sie hatten ihn ermordet. Vergiftet und auf dieser verseuchten Lichtung liegen lassen, als wäre er niemand. Als hätten sie sich nie gekannt. Kollateralschaden, entbehrliches Material. Eher geduldet als gewollt. Er schluckte schwer. Die Abneigung Fremder war ihm nicht neu, die Feindseligkeit der Zwillinge ebenso wenig, aber dennoch war da das Gefühl hintergangen worden zu sein. Verraten. Er war so naiv gewesen! Anzunehmen, dass es etwas bedeutete, unter ihnen aufgewachsen zu sein. Dass sie ihm nicht schaden würden, wenn er ihre Ängste nur nicht bestätigte. Treudummer Köter, der stets zu der Hand zurückkehrte, die ihn schlug. Weil er zahm war, sicherlich nicht gefährlich, Teil der Gemeinschaft, beherrscht, gut erzogen, harmlos. „Kaito...“, Rin strich ihm sanft die Tränen aus dem Gesicht und legte ihre Hand über seine, die vor Wut zitterte. „Was auch immer passiert ist, ich bin für dich da.“ Er knurrte und war überrascht, dass sie nicht zurückwich, sondern ihren Griff um seine Hand stattdessen umso fester zog. Er ließ sie gewähren, sah jedoch zum Taishō auf, der ihn weiterhin aufmerksam musterte. „Was mit ihm dort passiert ist, kann ich Euch nicht sagen. Er stand noch, als ich längst nichts mehr gesehen habe. Aber wenn Ihr mir versprecht, dass Ihr meiner Familie kein Leid zufügt, sage ich Euch, wer uns dort angegriffen hat.“ „Beleidige mich nicht, Junge. Du hättest mir jeden bereitwillig genannt – abgesehen von deiner kleinen Dorfgemeinschaft. Glaubst du, dein Verrat rettet sie noch?“ „Verrat? Ich?“, erwiderte er heiser. Sesshōmaru hätte ihm auch gleich ins Gesicht spucken können. Das wäre weniger erniedrigend gewesen. „Gehen wir jetzt so weit, dass man mir die Kehle durchschneiden kann, ohne dass ich mich wehren darf, nur weil ich kein Mensch bin? Mit diesen Giftbomben räuchert man Ratten aus! Ich bin draufgegangen, als ich deinen Sohn verteidigt habe und du wirfst mir Verrat vor?!“ „Hör auf zu winseln.“ Kaito zuckte zusammen und wandte sich um. Die Welt flackerte erneut vor seinen Augen auf und als die Konturen wieder Form annahmen, stand der Generalleutnant unmittelbar vor ihm. Rin schrie den Inu an, rief nach dem Fürsten und Kaito begriff erst, was los war, als kalter Stahl sich an seine Kehle schmiegte. „Was dachtest du denn? Dass es abträglich wäre, wenn er hier stirbt? Erwartest du nun Dankbarkeit? Narr! Dankbarkeit hat im Tod keinen Nutzen. Wir bringen dich nicht jedes Mal zurück, damit du für deine heroischen Handlungen Gegenleistungen einfordern kannst. Wenn du bereit bist, für jemanden zu sterben, dann sorg' dafür, dass er es wert ist. Wenn nicht, ist es deine Entscheidung. Dann will ich dich in seiner Nähe aber nie wieder sehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Sie starrten sich an, greller Schwefel und lodernder Bernstein, während Yōki durch das Metall kroch und auf Kaitos Haut prickelte wie winzige Nadelstiche. Er hatte Schwierigkeiten die Drohung und Zurechtweisung zu begreifen. War der Kerl vollkommen übergeschnappt? Sollte sich nun jeder von Minoru fern halten, der nicht bereit war, den Kopf für diesen Bengel hinzuhalten? Kein Wunder, dass der keine Freunde hatte! Das war doch absurd! Und dieser Inu erst recht! Gern hätte er ihn angeschrien. Doch dessen Stimme war trotz seiner Wut so sachlich, dass Kaito unweigerlich einen Narren aus sich gemacht hätte. Die Rettung sprang in zwei Sätzen von der Schulter des Fürsten und ließ sich auf dem Klingengrad des Schwertes nieder. „Es war nicht die Absicht des Jungen, sich über seinen Tod zu beklagen, Chūyō“, protestierte der winzige Floh ebenso ruhig. „Ich kenne ihn. Trotz seiner Jugend ist er kein leichtsinniger Narr. Wenn er Minoru geholfen hat, war er sich der Konsequenzen bewusst. Er weiß, dass jede Schlacht den Tod durch Feindeshand bedeuten kann. Jedoch von vermeintlichen Freunden verraten zu werden -“ „Wir verschwenden Zeit“, knurrte Kaito leise. Sein Kehlkopf tanzte bedrohlich nah über die Klingenspitze. Eine heiße, blutige Spur rann seinem Hals entlang auf die trockene Erde, während er aus den Augenwinkeln zu seinem Onkel sah. „Saki und Mei haben uns auf der Lichtung aufgelauert. Ich konnte sie in dem Rauch nicht wittern. Sie wollten, dass ich ihnen Minoru überlasse. Mein Fehler war, dass ich ihre Entschlossenheit unterschätzt habe. Ich war ein Idiot, die Anzeichen zu übersehen. Seit dem Beginn der Schlacht haben sie Jagd auf ihn gemacht. Die übrigen Dorfbewohner haben auf den Befehl meines Vaters hin umgehend das Feuer auf ihn eingestellt, während Sakis Pfeil Minoru nur dank Honoka nicht richtig getroffen hat. Dass sie überhaupt bei den Bogenschützen gewesen sind, kam mir komisch vor. Aber um die Position nur deswegen einzunehmen, hätten sie wissen müssen, was auf uns zukam. Das ergibt keinen Sinn. Egal. Es tut auch nichts zur Sache. Findet sie, dann findet Ihr vielleicht auch Euren Sohn.“ Als das Dorf in Sichtweite kam, war das Elend allgegenwärtig. Die Mittagshitze hatte das tote Fleisch zum Kochen gebracht. Gedärme und Leichen klebten am Boden, auf dem Scharen von Fliegen ihre schwarzen Rüssel in vertrocknetes Blut pressten. Der Gestank legte sich wie eine zweite, zähe Haut über alles. Häuser waren abgebrannt oder zusammengebrochen. In einigen glomm noch ein Rest von Glut. Der Kriegsschauplatz kündigte sich seit dem Morgen mit schweren, dunklen Rauchsäulen an, die von Scheiterhaufen inmitten des Dorfplatzes aufstiegen. Die wenigen Überlebenden, die nicht von den Geschehnissen der letzten Nacht gelähmt waren, schleppten Leichen auf alten Viehkarren, verbrannten die Yōkai oder schaufelten am Dorfrand Gräber in die trockene Erde, um ihresgleichen zu bestatten. Kaito, der auf A-Uns Rücken saß und damit den Generalleutnant neben sich um einige Köpfe überragte, wurde sichtlich blasser, gab sich jedoch Mühe alle Gefühle möglichst zu verbergen. Man mochte ihm beinahe glauben, dass all dies ihn kalt ließ. Doch wie hätte es das sollen? In einem Haus, dem nun eine ganze Wand fehlte und dessen Dachbalken in kleinen Rauchwolken gen Himmel dampften, hatte gestern noch eine ganze Familie gewohnt, deren Kinder täglich unter ohrenbetäubendem Lärm im Fluss badeten. Und in dem daneben eine alte Dame, die stets alle mit süßem Reiskuchen versorgte, weil sie sonst niemanden hatte, der sich über ihre Mühe freute. Wo sonst Feste gefeiert wurden, verbrannten Leichen; wo er einst gegangen war, lag Schutt und Blut und Asche. Es war etwas anderes, in fernen Dörfern Dämonen zu töten. Anders als den Tod vor der eigenen Haustür zu betrachten. Wie konnte eine Nacht nur solche Zerstörung hinterlassen? Wie ein Angriff nur so unpassend auf sie niedergehen? „Honoka hat mir versichert, dass es deiner Familie gut geht.“ Rin legte eine Hand an die grünen Schuppen des Longmas und sah zu Kaito auf. „Ein Dorf kann man wieder aufbauen.“ „Wir werden sehen“, erwiderter er finster und warf einen knappen Blick auf die Soldaten der Inu, die der Generalleutnant am Waldrand zu sich gerufen hatte. Gerüstete und bewaffnete Yōkai, die im Dickicht offenbar nur auf seine Befehle gewartet hatten und sie nun zu allen Seiten flankierten. Ryouichi hatte das Misstrauen bemerkt und schenkte ihm ein mattes Lächeln, das sich in der Maske verlor: „Du bist zu klug, um zu denken, dass die zehn Mann noch einen Unterschied machen.“ Kaito schnaubte: „Warum habt Ihr sie dann überhaupt kommen lassen, frage ich mich?“ „In deinem Interesse.“ Der Junge musterte den schwarzhaarigen Inu nachdenklich, doch dessen Maske lag so ungünstig an, dass neben der Mimik auch die Augen vollends verdeckt wurden. Keinerlei Hinweis auf seine Absichten. Doch als die Dorfbewohner die Dämonen bemerkten, wurde der Zweck der Soldaten deutlicher: Karren blieben mitten in den Straßen stehen, wo die Leichen von den Dielen rutschten. Mütter sammelten ihre schreienden Kinder ein und Männer eilten zu den Waffen, die jedoch unsicher in ihren Händen lagen. Wo der Schatten eines einzelnen Onis ausreichte, um Panik zu verbreiten, erstickten zehn Inu in Rüstung und Waffen jeden Heldenmut im Keim und retteten so vermutlich einige Leben vor dem Unmut des Fürsten. Dieser war selbst für Kaito offensichtlich. Es war schwer zu sagen, ob die Sorge um seinen Sohn oder die persönliche Beleidigung überwog, aber die kleinen Gesten bei distanzierter Miene und die Klauen, die immer wieder über Bakusaigas weißen Ledergriff strichen, sprachen Bände. Beide Beweggründe würden im Zweifelsfall dazu führen, dass von der Siedlung nicht viel übrig blieb. Kaito kannte die Geschichten. Sesshōmaru hatte mehr als einmal gegen seinen Vater verloren, doch das war beinahe zwanzig Jahre her. Zwanzig Jahre in denen der Dämon Schlachten geschlagen und Armeen geführt haben mochte. Der Taishō allein war ein hinreichendes Problem – mit dem Generalleutnant und zehn weiteren Soldaten jedoch würde auch die versammelte Schlagkraft der einst so erfolgreichen Gemeinschaft nicht viel Gegenwehr aufbringen können. Damit hing das Schicksal des Dorfes vom Wohlwollen eines Daiyōkai-Fürsten ab – man hätte sich auch gleich standesrechtlich erschießen lassen können. „Kaito! Mama, Papa! Er ist hier!!“ Zwischen den Dorfbewohnern bahnte sich Honoka einen Weg. Ihr mausgraues Haar blitzte zwischen ihren Reihen auf, während sie sich unter Armen hinweg duckte, Lücken suchte und schließlich über die freie Fläche auf sie zulief. Die Inu senkten umgehend die Speere, ehe Ryouichi beschwichtigend die Hand hob. „Lasst sie. Sie ist seine Schwester.“ „Kaito!“, Honoka kam erst bei Rin zum Stehen. „Vater sucht seit den Morgenstunden nach dir. Er ist eben erst zurückgekehrt. Geht es dir gut? Wo bist du gewesen? Du siehst schrecklich aus!“ „Es geht mir gut“, erwiderte er sanft und griff nach ihrer Hand, als sie sie nach ihm ausstreckte. Lügen kamen ihm normalerweise nicht so leicht über die Lippen, aber seiner kleinen Schwester wollte er nicht die schonungslose Wahrheit auftischen, solange es sich vermeiden ließ. Auch seiner Mutter nicht. Sie hätte ihn nie wieder aus den Augen gelassen. Mit seinem Vater würde er sprechen können und müssen. Im rechten Moment. Weniger umsichtig als Honoka es gewesen war, schob auch Inuyasha nun die Dorfbewohner auseinander und knurrte den einen oder anderen an, wenn er sich anschickte, die grobe Behandlung zu kommentieren. Dicht hinter ihm folgte neben Kaitos Mutter auch Sango, die immer noch kampfbereit gerüstet war, während sie ihre jüngste Tochter Shinju an der Hand führte. Beim Anblick der typischen Lederkleidung presste Kaito die Kiefer zusammen, bis er das Zittern seines Körpers in den Zähnen spüren konnte. Bevor er sich jedoch an den aufkommenden Gedanken festbeißen konnte, holte ihn eine Stimme neben ihm zurück in die Gegenwart. „Weißt du, wie lange ich schon nach dir suche?“ Kaito blinzelte zu seinem Vater hinab, der mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn zu ihm aufsah und die umstehenden Soldaten vollends ausblendete. „Seit den Morgenstunden“, erwiderte Kaito möglichst glatt und erntete dafür ein verächtliches Schnauben. Inuyasha hob seinen Sohn von A-Uns Rücken und zog ihn erschrocken an sich, als dessen Muskeln sich weigerten, sein Gewicht zu tragen. So viel zu dem Plan, seiner Mutter Unversehrtheit vorzugaukeln. An seinen Vater gelehnt schloss Kaito die Augen und atmete tief durch. Ihm war speiübel. Es war ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, sobald er in seiner Nähe war. Trügerisch und erniedrigend. Manchmal fühlte er sich derart Unselbstständig, dass es all sein Selbstwertgefühl in einem Rutsch den Bach hinuntertrieb. In seinem Alter waren seine Eltern bereits gegen rachsüchtige Halbdämonen zu Felde gezogen, hatten Sō'unga vernichtet und Ryūkotsusei geschlagen, während er sich von zwei Möchtegern-Taijiya ins Jenseits katapultieren ließ und anschließend nach Hause eskortiert werden musste. Wortwörtlich nicht in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen. Es war schlicht zum Kotzen! Würde er wenigstens ansatzweise über die Fähigkeiten seines Vaters verfügen, hätte Tessaiga auch diese Schlacht in kürzester Zeit entschieden! Aber auch wenn sich das Schwert auf eine Kooperation mit ihm eingelassen hätte, war es immer noch unfassbar schwer und ließ sich nur ganz selten dazu herab, eine Windnarbe anzudeuten. Wenn überhaupt. Vermutlich war er besser damit beraten, das Reptil mit Küchenmessern abzuwerfen, als die Hoffnung an das Dämonenschwert zu hängen. Im Grunde konnte sein Vater es auch gleich irgendwo verbuddeln, bevor er es ihm überließ. „Mehr Mut als Verstand“, knurrte Inuyasha leise und eher für sich, während er Kaito noch ein wenig fester in die Arme schloss. Der schluckte hörbar: „Tut mir leid.“ „Was ist passiert?“ Bevor Kaito wusste, wie er das Erlebte gefahrlos in Worte fassen sollte, schnaubte A-Un neben ihm und rief ihm ins Gedächtnis, was nun vorrangig war. „Ohne sie wäre ich nicht hier“, gestand er mit gesenkter Stimme und spürte, wie sein Vaters umgehend verkrampfte, sobald er den Blick zu seinem Bruder wandte. Sie schwiegen. Keiner hatte Absicht, das Wort zu ergreifen, auch wenn beide sicherlich genug zu sagen gehabt hätten. Wie üblich. Nur dass Kaito dieses Mal nicht darauf hoffen konnte, dass die Situation in üblich friedlicher Ignoranz verstrich. Nicht heute. Er sah zu Honoka, die über das gefährliche Funkeln im Blick ihres Bruders die Stirn runzelte. „Fehlt sonst noch jemand?“, fragte er scheinheilig. Sie nickte zaghaft: „Saki und Mei sind verschwunden. Vater ist von der Suche zurückgekommen, um zu sehen, ob ihr mittlerweile wieder Zuhause seid. Was-. “ Als Kagome ihre rauen Hände auf seinen Arm legte, fuhr Kaito zu ihr herum. Ihr besorgter Blick unterbrach seine Gedanken und drehte ihm den Magen um. Sie hatte bereits in den vergangenen Wochen unter der Last der Flüchtenden schwer abgebaut, doch nun wirkte sie hagerer denn je. Blass und ausgelaugt. Er lächelte ihr zu: „Kein Grund zur Sorge, Mama.“ „Du bist immer schon ein miserabler Lügner gewesen, Kaito“, murmelte sie und strich ihm über die Wange. „Sag, was passiert ist. Was machen all die Leute hier? Wo ist Minoru?“ Er überging ihre Frage. „Miroku und Bosatsu suchen die Zwillinge?“ „Mit Kohaku, ja. Dein Vater wollte sich ihnen gleich wieder anschließen.“ „Kohaku ist hier?“, meldete sich nun auch Rin zu Wort. Kagome nickte: „Er kam während der Schlacht hinzu. Ohne ihn und Kirara hätten die Dämonen uns bis zum Morgengrauen überrannt.“ Von dem Wortwechsel ermutigt, trat nun auch Sango näher heran. „Hast du die Mädchen gesehen?“, fragte sie und drückte Shinjus Hand ein wenig zu sehr. Die Kleine verzog schmerzhaft das Gesicht. „Habe ich“, erwiderte Kaito unterkühlt. „Ich bedaure, dass ich nicht weiß, wo sie nun sind.“ Früher hätte er sich die Mühe gemacht, tatsächlich Bedauern in seine Stimme zu zwingen. Um der Mutter Willen, die um ihre Kinder fürchtete. Doch er war des Mitgefühls überdrüssig und so war es kein Wunder, dass Sango über die deutlich süffisante Drohung erschrak und auch Kagome ihrem Sohn verwunderte Blicke zuwarf. Ehe sie ihn jedoch darauf ansprechen konnte, trat Sesshōmaru an den Generalleutnant heran: „Kümmert Euch um dieses Dorf und trefft mich dann wie besprochen.“ Ryouichi verneigte sich vor ihm. „Sehr wohl, Herr.“ „Wo genau willst du jetzt hin?“, verlangte Inuyasha zu wissen, doch sein Bruder war längst aufgestiegen und trieb in der heißen Sommerluft dem Wald entgegen. „He! Sesshōmaru!“ „Lass ihn“, zischte Kaito möglichst leise. „Je weiter er weg ist, desto besser.“ Es würde ihre Chancen deutlich verbessern. Die letzten Stunden hatten zwar gezeigt, dass der Generalleutnant in Sekundenbruchteilen zu einem unkalkulierbaren Risiko werden konnte, doch damit waren sie allemal besser bedient als mit einem nachweislich rachsüchtigen, reuelosen Daiyōkai. Auch wenn Kaito nicht darauf wetten wollte, dass sich die Fronten durch dessen Abwesenheit nun zwingend gewendet hatten. Wer in Sesshōmarus Nähe freie Luft atmen konnte und dabei noch offiziell hohe Posten belegte, war sicherlich nicht die Art Person, der man im Dunkeln allein begegnen wollte. Nur wie brachte er seinem impulsiven Vater auf die Schnelle bei, dass der Inu, der gerade Rin sanft hinter sich schob, keineswegs den üblicherweise eher harmlosen Begleitern seines Bruders entsprach? Besagter Dämon betrachtete die Dorfbewohner, dann wandte er sich an die Menge: „Ich bin Ryouichi. Generalleutnant des westlichen Heeres und Stellvertreter des Inu no Taishōs.“ „Was soll der Scheiß?“ Kaito stolperte kurz, als Inuyasha ihn in die Arme seiner Mutter übergab und sich dann vor seine Familie schob. „Stellt mein Bruder neuerdings Horden von Laufburschen ab, um mir zu drohen?“ „Papa-“ „Du sei still!“ Inuyasha ließ Ryouichi nicht aus den Augen, betrachtete dessen Maske, Rüstung und Waffen, musterte die Soldaten flüchtig und legte schließlich eine Hand an Tessaigas Griff. Kaito schloss die Augen und fluchte leise in sich hinein. Die Bauern, Schreiner und Schmiede des Dorfes mochte eine gewisse Anzahl von Dämonen ausreichend einschüchtern, aber seinen Vater würde auch eine ganze Armee nicht ohne Weiteres zur Kapitulation bringen. Erst recht nicht, wenn sie ihn reizten. Zur Antwort löste Ryouichi das eigene Schwert aus der Scheide. Die Klinge war von einem ungewöhnlich tiefen Schwarz und schluckte das Sonnenlicht statt es zu spiegeln. „Ich sehe, woher Euer Sohn sein Selbstvertrauen nimmt.“ Das war nur halb wahr. Sicherlich hatte Inuyashas direkte Art teilweise auf ihn abgefärbt, doch im Gegensatz zu seinem Vater preschte er selten in einen Kampf ohne zuvor die Folgen ausreichend abgewogen zu haben – auch wenn seine Eltern ihm diese Gedankengänge vermutlich abgesprochen hätten. Auch im Hinblick auf den Drachen war ihm der möglicherweise tödliche Ausgang bewusst gewesen – es ärgerte ihn viel mehr, dass ihm die eigentliche Gefahr in seiner Naivität entgangen war. Tessaigas rostiger Stahl flammte auf und entblößte den todbringenden Fangzahn. „Was willst du, Hund?“ „Seid Ihr verantwortlich für diese Menschen?“ Bevor sein Vater irgendeine schnippische Antwort geben konnte, fuhr Kaito dazwischen: „Jeder trifft hier seine eigenen Entscheidungen.“ Ryouichi schwieg für einen Moment, dann wandte er sich erneut an den kampfbereiten Halbdämon, der kaum drei Meter von ihm entfernt stand: „Die Zwillingsmädchen, die Ihr sucht, haben Jagd auf den Sohn des Fürsten gemacht. Ebenso wie sie ist er verschwunden. Sollten die Taijiya dem Jungen geschadet haben – .“ „Dafür dieser Aufstand?“, fragte Inuyasha spitz. „Drohungen und fadenscheinige Behauptungen? Weil die drei verschwunden sind, sollen die Mädchen nun die Schuld daran tragen? Euer Bengel hat den Drachen vor unsere Tore gebracht.“ „ – werden wir die Geisel entsprechend behandeln.“ „Geisel? Keh!“, Tessaigas Klinge reflektierte die Abendsonne, als Inuyasha den Griff um das Schwert festigte. „Für einen Spinner mit Theatermaske hast du ein viel zu großes Maul.“ Für einen Sekundenbruchteil war kaum mehr zu hören als das Aufeinandertreffen von singendem Stahl. Dann brach der Holzkarren unter Inuyashas Gewicht zusammen. Tessaiga wirbelte durch die Luft und blieb einsam mit der Klinge voran im blutigen Staub neben seinem Besitzer stecken, während sich Ryouichis Obsidianschwert an dessen Kehle schmiegte wie eine zweite Haut. „Mir mit Tessaiga zu drohen ist ein selten dämlicher Einfall, Inuyasha. Es ist schwerer und langsamer seitdem es erneut geschmiedet worden ist. Selbstverständlich könntest du mich damit töten – mit ausreichend Abstand. Nicht, wenn ich schon drei Meter vor dir stehe.“ Er trat dem Halbdämon mit Wucht auf das Handgelenk, als dieser sich nach dem nun stumpf erscheinenden Katana vortasten wollte. Das Geräusch berstender Knochen ging Kaito durch Mark und Bein, Honoka kreischte auf, doch jedweder Schmerzensschrei blieb aus. Inuyasha zischte lediglich wütend und biss die Zähne zusammen. „Bastard!“ „Oh bitte. Niemand mag schlechte Verlierer“, höhnte der Generalleutnant. Dann wandte er sich an die Soldaten. „Bringt mir das Taijiya-Mädchen!“ Umgehend kam Bewegung in die Gruppe. Sango hatte schneller zum Knochenbumerang gegriffen, als es den Inu lieb sein durfte. Die Dorfbewohner begannen zu schreien und auch Kagome tastete nach dem Bogen auf ihrem Rücken. Kaito griff ihr dazwischen, schob sie hinter sich und drehte sich etwas zu schnell zu den Dämonen um. Der Inu war nichts als ein Schemen in dunkler Rüstung als er sich vor ihm aufbaute und den Speer unmittelbar vor sein Gesicht hielt. „Versuch es“, knurrte Kaito tief. „Aber dich nehme ich mit.“ Unter lautem Surren zog der Knochenbumerang eine Schneise durch die übrigen Inu, versprengte sie, wendete knapp und kehrte verheerend zu ihnen zurück. Doch der Verlust ihrer Formation störte sie nicht im Geringsten. Sie ließen sie bereitwillig fallen, gingen von den neuen Positionen zum Angriff über und stießen zum Teil in die Menge vor, die panisch auseinander stob. Damit war Sangos einziger Fluchtweg dahin. Einer der Dorfbewohner hatte seine Waffe gehoben und war in Schockstarre versteinert, bis der Inu ihm mit dem hölzernen Ende der Lanze niederschlug und eine kleinere Gruppe mit einem tiefen Grollen vertrieb. Es waren keine überraschenden Züge. Genauso gut hätte man zwei Füchse in einen Hühnerstall jagen können – oder eben ein Rudel Hunde in einen verschreckten Sprung von Rehen. Sango schrie sie wütend an, hielt ihre Tochter eng bei sich und einen Inu nach dem anderen mit dem Schwert auf Abstand. Es war offensichtlich, dass sie den Befehl erhalten hatten, niemanden zu töten. Andernfalls wären sie vor ihrer Gegenwehr nicht ständig zurückgewichen. „Das reicht. Es gibt Wichtigeres als das hier“, entschied Ryouichi schließlich, zog auch Tessaiga aus dem Boden hervor und ließ Inuyasha dann liegen, als sei er ohne das Schwert nichts als ein weiterer Bauer auf diesem Feld. Kaito erstarrte und auch sein vor Wut kochender Vater verstummte, als Tessaiga in den Händen des Generalleutnant ruhig liegen blieb und keinerlei Anstalten machte, dem Inu die Handflächen zu versengen. Sesshōmaru hatte zwar stets Ansprüche auf das Schwert erhoben, war von Tessaiga jedoch ein ums andere Mal schmerzhaft abgewiesen worden. Ryouichi jedoch schien es durchaus zugeneigt. Der ließ sein eigenes Schwert in die Scheide gleiten, trat durch die Reihen seiner Männer hindurch und duckte sich unter einem Angriff der Dämonenjägerin her als sei sie eine blutige Anfängerin. Ihr nächster Schlag prallte kratzig an Tessaigas rostiger Klinge ab und auch den Dolch, den sie ihm ins Gesicht zu rammen versuchte, ratschte nur über den harten Lack der Maske, indes er ihr unentwegt näher kam. Ryouichi griff an ihr vorbei, nahm hin, dass sie ihm dabei mit der nächsten Bewegung den Dolch in den Unterarm schlug, während er sie an der Kehle packte. Dann warf er sie achtlos in die sich zerstreuende Menschenmenge. Shinju brach in ein helles Kreischen aus, als er sie einem Sack gleich über die Schulter warf und schlug auf seinen Rücken ein, zappelnd und strampelnd biss sie ihm in die Schulter. „Wie ich bereits zu erläutern versuchte: Wenn wir Minoru unbeschadet zurückbekommen, sorge ich dafür, dass die Kleine unverzüglich und unversehrt hierher zurückgebracht wird und es ihr bis dahin an nichts mangelt.“ „Und wenn nicht?!“, fauchte Inuyasha, der sich, ungeachtet seiner gebrochenen Hand, aufgerappelt hatte und schnaubend auf den Generalleutnant zuging, der umgehend von seinen Soldaten flankiert wurde. „Nun, das ist eine recht einfache Rechnung“, erwiderte der trocken und würdigte Inuyasha keines Blickes, während er an Kaito vorbei zu A-Un ging. „Ich stehe zu meinem Wort, gleich welchen Ausgang das hier nimmt. Sollte ich jedoch erfahren, dass die Gören hier sicheres Obdach erfahren, mache ich dieses Dorf dem Erdboden gleich.“ Kaito aber sah er an, nachdem er sich vor Rin auf A-Uns Rücken geschwungen hatte. Der Generalleutnant musste die Maske nicht vom Gesicht nehmen, um ihm das Gefühl zu geben, auf Leber und Nieren geprüft zu werden. Das Mädchen in seinem Schoß schrie nach seiner Mutter, versuchte sich aus den Klauen des Dämons zu befreien, der sich an alledem nicht störte. „Das hier waren wir dir nicht schuldig“, ein Teil der Härte war aus seiner Stimme gewichen. Sango versuchte im Hintergrund verzweifelt durch die Reihen der Yōkai zu brechen, Inuyasha an ihrer Seite, der sich einhändig jedoch nur schwerlich gegen die Übermacht behaupten konnte. „Nein“, erwiderte Kaito mit erzwungener Ruhe, der die Hände seiner Mutter stützend in seinem Rücken spürte. „Das weiß ich.“ „Gut.“ Für einen Moment erwartete Kaito, dass der Inu über diesen Aufruhr doch noch zur Waffe griff; sie in Stücke riss und dem Fürsten ihre Leichen präsentierte. Doch es war Tessaiga, das er ihm wortlos entgegenstreckte. Kapitel 44: die Ausweglosigkeit ------------------------------- Kōhei hatte die Reise in das Chūgoku-Gebirge etliche Male angetreten und selten länger als zwei Tage benötigt. Saburō schien sich jedoch in den Kopf gesetzt zu haben, die traute Zweisamkeit künstlich in die Länge zu ziehen und hatte sicherlich auch deswegen darauf bestanden, erneut die Pferde zu nehmen. Zwar waren die Tiere robust und schnell, wenn man sie nicht gerade im mäßigen Schritt durch die Landschaft trödeln ließ, doch gab es für versierte Kitsune deutlich effizientere Reisemöglichkeiten. Unauffälligere. Der amtierende Erbe des Südens verhielt sich jedoch, als befänden sie sich auf einem Freizeitausflug durch sein künftiges Reich, statt auf einem von seinem Vater angeordneten Mordauftrag. Er hielt bei nahezu jedem Menschendorf an und sprach mit den Bauern. Die warfen sich ein ums andere Mal bei seinem Anblick in den Staub. Natürlich sahen diese Narren nur, was Saburō sie glauben ließ: Einen stattlichen Mann mit dunklem, langen Zopf und dumpfen, braunen Augen, dessen schwarze Seidenkleider mehr Wert waren als all der Besitz, den die Landbevölkerung in einem kurzen, erbärmlichen Leben hätte anhäufen können. Kōhei würdigte diese Würmer keines Blickes und ritt achtlos an ihnen vorüber. Er hasste Menschen, das war weithin bekannt, aber auch seine Abneigung kannte Abstufungen. Bauern mochten nicht so einfältig sein, wie man ihnen nachsagte und erinnerten sich zuweilen an die Warnungen, die ihre Großmütter ihnen noch in die Wiege geflüstert hatten – ganz im Gegensatz zu diesem überheblichen Adel. Der schien tatsächlich zu glauben, der Boden unter seinen Füßen sei aus irgendwelchen abstrusen Gründen sein Eigentum, sodass dessen Durchquerung Katzbuckeln und Stiefellecken einforderte. Wie ein balzender Gockel war ein junger Daimyō vor einer guten Stunde vor ihnen aufmarschiert – bewaffnet mit flatternden Bannern und flankiert von fünf Soldaten. Kōhei war bereits die Galle hochgekommen, noch bevor dieser Narr den Mund aufgemacht hatte. Doch er konnte unmöglich nach Belieben mit diesem Abschaum verfahren, solange der Kōtaishi anwesend war – und der hatte sich erst eine ganze Weile am protzigen Gebärden erfreut, ehe er Kōhei mit einem unheilvollen Lächeln gebeten hatte, ihnen den Weg freizuräumen. Was daraufhin geschehen war, erheiterte Saburō noch immer. „Ihr habt Humor, Taishō. Wüsste ich nicht, dass Eure finstere Miene allein meiner Anwesenheit geschuldet ist, hätte ich Euch dieses Attribut längst abgesprochen.“ Mit zusammengebissenen Zähnen klopfte Kōhei seinem braunen Wallach den Hals. Das Weiße in den Augen des Tieres war immer noch deutlich zu sehen. Er mochte an die Anwesenheit von Dämonen gewöhnt sein, doch aufschlagendes Yōki und Fuchsfeuer in Form eines Hahnes, groß wie drei Männer, mit denen er die Menschen in rennende Fackeln verwandelt hatte, waren für das zarte Gemüt seines Pferdes ein wenig zu viel des Guten gewesen. „Ihr lasst Euch zu sehr von diesen armen Dingern reizen, Kōhei. Ihre Fürsten sind in den vergangenen Jahrzehnten während ihrer Kriege gefallen wie die Fliegen und jedes Mal von einem jüngeren, närrischeren Verwandten ersetzt worden. Die Generationswechsel sind zu häufig, um Weisheit in ihnen keimen zu lassen und ihr Blick nur noch auf ihre eigene Welt gerichtet, in der wir keinen Platz haben – und ihr könnt Euch nicht davon freisprechen, für die ein oder andere Neubesetzung verantwortlich zu sein.“ „Möglich“, knurrte der General. Die ein oder andere oder einige mehr. Abermals lobte er den Braunen, als der sich allmählich beruhigte. „Ich verstehe Euch nicht ganz. Ihr habt doch ein Herz für arme, minderbemittelte Wesen wie diesen Klepper. Habt Ihr da nichts mehr für die Menschen übrig? „Ich reite mein Pferd. Menschen taugen zu nichts dergleichen.“ Saburō Lächeln wurde tückisch: „Der ein oder andere würde Euch da nun widersprechen.“ Kōhei hielt inne, zählte stumm bis drei und schnaubte schließlich nur. „Obszönitäten stehen Euch nicht besonders.“ „Ich muss verpasst haben, als meine Mutter Euch zu meiner neuen Amme bestimmt hat. Sagt, findet Ihr es schwierig, meine Anstandsdame zu spielen und gleichzeitig den Befehlen meines Vaters Folge zu leisten und stumm dazustehen, während -“ „Genug!“ Kōhei fiel ihm so scharf ins Wort, dass er es umgehend bereute. Er durfte sich nicht von ihm derart provozieren lassen. Eine Tugend, die er möglichst schnell lernen sollte, denn jedes Gespräch mit diesem neuen Erben endete in Provokationen! Doch er war eben genau das: Der Erbe. Und als solcher konnte Saburō ihn ohne Weiteres für derartige Fehltritte töten lassen. „Verzeiht mir“, die Entschuldigung zwang sich Kōheis Hals empor als besitze sie Widerhaken. „Das stand mir nicht zu.“ Saburō musterte ihn stumm und ausdruckslos, während er seinen Rappen zu dem braunen Wallach aufschließen ließ. „Ich weiß nicht“, erwiderte er schließlich. „Neulich war auch nicht unbedingt meine glanzvollste Stunde. Vielleicht sollte ich mich bei Euch entschuldigen.“ Kōhei sah verdutzt zu ihm hinüber und erwartete ein typisch verschlagenen Gesichtsausdruck, fand jedoch nur eine versteinerte Miene. „Ihr habt Befehle befolgt, Kōtaishi. Nichts, wofür Ihr Euch verantwortlich machen müsstest.“ „So? Warum fühlt Ihr Euch dann so schlecht?“, erwiderte der mit dem Anflug eines erzwungenen Lächelns. War es ungerecht von Kōhei, Saburō den Besitz eines Gewissens abzusprechen? Vermutlich. Ein wenig hatte er erwartet, dass dieser Bastard von einem schwarzen Fuchs in der Lage war, derlei Geschehnisse abzustreifen, die Gefühle seiner armen Schwester mit Füßen zu treten und die Situation zu seinem Vorteil auszuschlachten. Das war es, was man von einem Yōkai ihrer Stellung erwartete, nicht wahr? Manchmal fragte sich Kōhei, wie er in die Position des Generals gerutscht sein konnte, wenn er zu solcherlei Kalkül nicht fähig war. Hayato schien stets ohne derlei schwache Gefühle auszukommen. Seinen Sohn dazu zu zwingen, die eigene Schwester zu vergewaltigen und seinen General dabei zusehen zu lassen, tat allerdings neue Abgründe auf. Auf absurde Weise erleichterte es Kōhei sein Dasein, Hayato wie auch Saburō als Geschöpfe einer anderen Sphäre anzusehen, in der Gefühle wie Schuld und Mitleid nicht existierten. Er fühlte sich sicherer, wenn er allein mit diesen niederen Empfindungen zu kämpfen hatte. Eine Führung die losgelöst von ihnen agierte, würde die besseren Entscheidungen für alle treffen. Eine Führung jedoch, die ebenso empfand wie er und dennoch der Grausamkeit den Vortritt ließ... . Er schauderte. „Ihr könnt mich nicht leiden, General, und habt meine Gegenwart zuvor bereits eher ertragen als genossen, aber seither vermeidet Ihr es, mir in die Augen zu sehen. Denkt Ihr, ich machte Euch dafür verantwortlich, dass Ihr daran teilhaben musstet? Die Drohungen meines Vaters Euch gegenüber waren unmissverständlich und wir wissen beide, dass er nicht zu leerem Geschwätz neigt. Oder ist es Abscheu mir gegenüber?“ War es das, was ihn besorgte? Dass Kōhei nach diesem Zwischenfall nun schlechter von ihm dachte als ohnehin schon? „Es steht mir nicht zu, Euch zu kritisieren. Ich bin General der südlichen Armee und Ihr der Erbe meines Herrn. Meine Loyalität bedarf keiner persönlichen Zuneigung.“ „Nein, Eure Loyalität gibt es umsonst“, sinnierte Saburō und betrachtete sein Gegenüber eindringlich. Kōhei erwiderte den Blick nur kurz und machte sich dann daran, Kletten aus der Mähne des Braunen zu zupfen. Als Kitsune war er im Angesicht von Tücke und Hinterhältigkeiten aufgewachsen und fragte sich dennoch ein ums andere Mal, wie dieser Silberfuchs es schaffte, stets die Ausstrahlung einer lauernden Viper zu bewahren. In seiner Gegenwart hatte Kōhei das Gefühl, auf heißen Kohlen zu tanzen. Auch der Fürst besaß ein solches Talent, doch hatte der dabei nichts Verschlagenes an sich, sondern vermittelte eher den Eindruck eines schwebenden Henkersbeiles. Unmittelbar zwischen diesen beiden Männern zu agieren war ein einziger Albtraum. „Solche Treue ist sehr untypisch für einen Kitsune und sicherlich einer der Gründe, aus denen mein Vater Euch so nah hält. Ihr beißt nicht einmal die Hand, die Euch schlägt. Und Ihr würdet keinen Moment zögern, mich zu töten, wenn er es verlangte.“ „Das ist richtig.“ „Demnach wollte er mit dieser Farce eines Auftrages tatsächlich nur meine Abwesenheit bei Hofe bezwecken“, Saburōs Blick verfinsterte sich schlagartig, als sei die Nachricht, dass sein Vater ihn nicht unmittelbar tot sehen wollte, nicht zwingend erleichternd. „Interessant.“ Kōhei jedoch ließ etwas anderes aufhorchen. „Was meint Ihr mit 'Farce'?“ „Ihr als General solltet taktisch ausreichend versiert sein, um zu bemerken, dass wir hier draußen keinen Zweck erfüllen, außer den, nicht bei Hofe anwesend zu sein.“ Er ließ die Zügel durch seine Hände gleiten, wobei die kurzen und durchscheinenden Nägel an seinen Händen deplatziert wirkten. Der Hengst kaute mit gestrecktem Hals desinteressiert an seinem Zaumzeug herum und verlangsamte seine Schritte. Missmutig folgte Kōhei und zügelte seinen Braunen, bis dieser mit gebührendem Sicherheitsabstand neben seinem Artgenossen hertrottete. „Ich möchte Euch nicht mit den Details dieser Annahme langweilen. Offiziell hat der Fürst Euch mir zur Seite gestellt, damit ihr mir in diesem sinnlosen Unterfangen helft. Ich nehme an, das hat Euch von Eurem Schweigen bezüglich des Westens entbunden.“ Langsam und schwer quetschte sich die Luft in Kōheis Lunge, als sich seine Kehle augenblicklich zuschnürte. Von Beginn der Reise an hatte er befürchtet, dass Saburō das Gespräch auf diese Ereignisse lenken würde und im Grunde war es ein Wunder, dass er seine Neugier bislang in Zaum hatte halten können. Dennoch hatte Kōhei stets gehofft, niemals mit jemandem darüber sprechen zu müssen. Insbesondere jedoch nicht mit diesem Jemand. Die manipulative Ader dieses Fuchses ging Hand in Hand mit einer Auffassungsgabe, die Kōhei tatsächlich Angst bereitete. Wie sonst hätte Saburō es damals vermocht, auf Sōsukes Genpuku derart großes Unheil anzurichten? Wenn dieser Bastard seine Gefühle zu Reika nur erahnte, konnte ihm das teuer zu stehen kommen. Er würde jedoch auch nicht den Fehler begehen, diesem Mann halbe Wahrheiten aufzutischen. Hayato hatte ihm in der Tat befohlen, Saburō gegenüber mit offenen Karten zu spielen – welchem Zweck das auch immer dienen mochte. Der hatte indes nicht vor, dieses Thema wieder fallen zu lassen: „Wisst Ihr, es ist mir schleierhaft, wie eine Inu aus dem Bett des einen Fürsten in den Kerker des anderen geraten konnte, ohne dass die Hunde umgehend in den Süden einmarschiert sind. Mein hoher Vater hasst meine Mutter mit ganzer Inbrunst und würde dennoch um seines Ansehens Willen für sie einen Krieg anzetteln.“ „Die Antwort ist absurd einfach“, erklärte Kōhei trocken. „Sie hat den Westen mit Sesshōmarus Zustimmung verlassen.“ Das Leder des Sattels knirschte, als der Kōtaishi sich ihm zuwandte: „Sie hat ihn darum gebeten?“ „Ja. Sie war zu dem Zeitpunkt bereits einige Jahre am westlichen Hof gewesen. Er hat sie niemals offiziell als Partnerin präsentiert, geschweige denn als Fürstin. Vielleicht hätte er ihr diese Stellung zugestanden, sobald er einen Erben bekommen hätte. Aber da lag das Problem als sie zu uns kam: Sie hat sein erstes Kind im Jahr zuvor verloren und war fest davon überzeugt, dass ihr dies nun erneut widerfahren war.“ Vom eigenen Verlust abgesehen war das ein gesellschaftliches Desaster: Der Wert hochgeborener Frauen bestand in ihrem Nachwuchs – ein Gedanke, mit dem sie aufgezogen wurden und der besonders dann galt, wenn der Partner politisches Gewicht hatte. Die Auserwählte des Inu no Taishōs zu sein war unter diesen Gesichtspunkten alles andere als wünschenswert oder gar romantisch. Sesshōmaru galt als pragmatisch und hatte sie sicherlich nicht ihrer zarten Figur oder des sanften Gemütes wegen ausgesucht. Dass man als Frau mit entsprechender Erziehung unter dem Maß an gesellschaftlichen Druck leicht zerbrach, war für Kōhei nicht verwunderlich. Zumal Ehen, wie sie die Menschen erst seit ein paar Jahrhunderten pflegten, nicht existierten. Ohne gemeinsames Kind war sie an seiner Seite unbedeutend wie jede andere Frau bei Hofe – mit dem Unterschied, dass sie für jeden anderen Mann selbst dann unantastbar blieb, wenn der Fürst ihrer vorzeitig überdrüssig würde. „Dennoch: Niemand bei klarem Verstand verlässt freiwillig einen Landesfürsten“, erwiderte Saburō mit Grabesstimme, die tiefer blicken ließ, als er beabsichtigt haben konnte. „Gleich welcher Schmerz dem vorausgegangen sein mag. Das ist schierer Wahnsinn.“ „Ich kann Euch nicht mit Sicherheit darlegen, aus welchem Antrieb sie um ihre Freigabe gebeten hat und dann nicht in ihr Elternhaus zurückgekehrt ist. Der Druck der Erwartungen sicherlich. Und falsche Ratgeber.“ „Alle Beweggründe einer Person zu kennen, ist unmöglich. Aber wenn einer einen vagen Einblick in diese Angelegenheiten hat, dann seid Ihr es. Immerhin habt Ihr ein Kind mit ihr aufgezogen.“ Kōhei stockte sichtlich, dann senkte er rasch den Blick. Doch Saburō war dies nicht entgangen. Er hob verblüfft die Brauen: „Das habt ihr nicht.“ „Nein, Kōtaishi“, antwortete der General langsam. „Ich fürchte, in dieser Hinsicht habt Ihr etwas falsch verstanden.“ Voll Unbehagen versuchte er die Zügel gleichmäßig wieder aufzunehmen. „Ich kannte Reika, das ist wahr. Ich habe hin und wieder die Bewachung ihrer Räumlichkeiten im Nordflügel übernommen und mit ihr gesprochen. Aber ihren Sohn habe ich nicht mit ihr aufgezogen, sondern mit ihrer Schwester. Wobei ich auch sagen muss, dass mein Beitrag verschwindend gering war.“ „Das höre ich zum ersten Mal.“ „Immerhin etwas, das nicht nach Außen gedrungen ist“, Kōhei warf den übrigen Zügel zerknirscht auf die andere Halsseite seines Pferdes. Dafür erntete er ein Schmunzeln: „Offenbar bleibt manchmal auch in einem Sieb etwas hängen.“ „Findet Ihr es nicht bedenklich, dass Ihr offensichtlich problemlos an diese Informationen gekommen seid?“ „Niemand hat behauptet, dass es problemlos war. Aber nein. Da ich weiß, welche Wege es genommen hat, bin ich keineswegs beunruhigt. Allerdings bringt Euch das nun eine unliebsame Aufgabe ein: Ich verlasse mich ungern auf Halbwissen.“ Kōhei hätte gern gewusst, durch welche Lücken diese Informationen nach Shōdoshima gesickert waren. Der Personenkreis, der bereit war, dafür sein Leben zu riskieren, war mit Sicherheit nicht besonders groß, ebenso wie die Zahl derjenigen, die überhaupt Kenntnis von diesen Angelegenheiten erlangt hatten. Die Schnittmenge bereitete ihm über diesen konkreten Fall hinaus Kopfzerbrechen. Der Fürst hatte zwar angeordnet, Saburō bei seiner Aufgabe zu unterstützen und damit auch die Erlaubnis gegeben, ihn in allen dafür relevanten Fragen aufzuklären, doch blieb ungewiss, welcher der hochrangigen Ratsmitglieder beabsichtigte, dem Fürsten zu schaden – und von wie vielen dieser Leute er bereits selbst verdächtigt wurde, weil er den meisten Kontakt zu Saburō aufgezwungen bekam. Dass er dabei kein Mitspracherecht hatte und diesem schwarzen Teufel lieber weiträumig aus dem Weg gegangen wäre, wenn es nicht seinen Befehlen widersprochen hätte, würde dabei niemanden kümmern. Am Ende zählte die Wahrnehmung – nicht die Wahrheit. „Reika, die Mutter des Jungen, kam vor etwa sechzehn Jahren mit einer Eskorte nach Süden, nachdem sie den westlichen Hof verlassen hatte“, begann er schließlich. „Nach Außen haben wir nie Stellung zum Westen bezogen und die Inu wie jeden anderen Gast empfangen – mit dem Unterschied, dass ich hinzugezogen wurde, falls die Situation aus dem Ruder geriete. Die Soldaten gehörten zum in Echizen beheimateten Clan unter der Führung von Osamu – dunkelrot emaillierte Rüstung und weiße Monde. Die zweitgrößte Armee nach der Hauptstreitmacht, aber selten außerhalb ihrer Burgmauern zu sehen. Sie begleiteten zwei Schwestern. Hochgeboren und dem Verhalten nach eindeutig eher Hofdamen denn Kriegerinnen. Der Jüngeren der beiden, Masuko, wurde eine Audienz mit Eurem Vater gewährt, welcher ich nicht beigewohnt habe. Im Anschluss empfing Euer Vater auch die ältere Schwester und brachte sie in den Nordflügel, den sie von da an nicht mehr verlassen durfte. Ich tötete ihre Eskorte und Masuko erhielt vom Fürsten eine Unterkunft im Chūgoku-Gebirge. Als Euer Vater mir einige Wochen später offenbarte, was es mit diesem merkwürdigen Vorgehen auf sich hatte, war längst ersichtlich, dass Reika schwanger war. Sie hat den Jungen im Herbst bekommen. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr wurde er zu seiner Tante in die Berge gebracht und ich beauftragt, dort gelegentlich nach dem Rechten zu sehen. Damit er keine Fragen stellte, sollten wir ihm erzählen, ich sei sein Vater. Masuko hat daraus eine schrecklich tragische Romanze gedichtet, die schlussendlich den Westen für ihr abgeschiedenes Leben verantwortlich gemacht hat. Minoru hat das geglaubt.“ „Masuko und mein hoher Vater haben sich sicherlich blendend verstanden“, das menschliches Erscheinungsbild mochte befremdlich wirken, doch der herablassende Tonfall war eindeutig der Saburōs. „Die eigene Schwester ausgeliefert, die Begleiter töten lassen, Volk und Fürsten verraten und einer Mutter ihr Kind entrissen – keine schlechte Bilanz am Ende des Tages. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass die harmonische Einsamkeit der Bergwelt das Echo wert wäre. Ebenso wenig der Kosten-Nutzen-Faktor für den Süden. Was hat sich mein Vater von dem ganzen Unsinn erhofft?“ „Minoru sollte später an den Hof kommen. Euer Vater ist überzeugt, dass es irgendwann zum Krieg mit dem Westen kommen wird. Er wollte den Jungen in der Hinterhand wissen, um ihn gegen Sesshōmaru zu verwenden. Der ist zwar zu gefühlskalt, als dass er sich um das Wohl eines unbekannten Sohnes geschert hätte, aber die öffentliche Demütigung hätte ihm schwer zugesetzt. Darüber hinaus hätte der Westen keinen legitimen Herrscher hervorbringen können, solange der älteste Sohn des Taishōs in unserer Gewalt war – und nach den Vorstellungen Eures Vater agierte.“ „Korrigiert mich, wenn ich mich irre, aber dieses Detail kümmert die Inu im Zweifel nicht.“ „Sie folgen nicht zwingend dem Nachkommen ihres Fürsten, sondern der Macht, das ist richtig. Aber Minorus Fall liegt etwas anders: Sesshōmaru hat Sō'unga und damit den Maßstab dessen vernichtet, was in den Augen seines Volkes einen akzeptablen Herrscher ausmacht – nämlich diese Waffe zu kontrollieren. Wie also seinen Nachfolger absichern? Er hat Reika nicht aus Zuneigung oder ihres vielversprechenden Charakters wegen gewählt – dafür war sie viel zu naiv. Sie war eine Daiyōkai aus dem einflussreichsten Haus nach dem westlichen Hof selbst. Einem Haus, das selten an Kriegen teilnimmt und dennoch über die zweitgrößte Armee und enormes, politisches Gewicht verfügt. Beide Familien führen ihre Abstammung unmittelbar auf Akaya zurück. Das Maß an dämonischen Energien ist dementsprechend groß und Minoru das einzig bekannte Ergebnis einer Verbindung dieser beiden Linien. Sofern er damit jemals umgehen kann, ist er der vielversprechendste Kandidat – und eine größere Gefahr als uns lieb sein dürfte.“ Saburō schwieg eine ganze Weile ließ dabei zu, dass sich der Rappe an der Vegetation des Wegesrandes bediente. Schnalzend nahm er die Zügel kürzer. „Wie ist er?“ „Ich kann Euch nicht folgen.“ Auch Kōhei zügelte seinen Wallach widerwillig. „Der Junge ist seit seiner Ankunft am westlichen Hof in aller Munde, aber nichts davon ist mehr als Geflüster. Ein erbarmungsloses Biest, das die Pantherdevas aufgerieben und Shunran das Gesicht zerfetzt hat. Ein animalischer Wilder ohne jedwede höfische Erziehung, von seiner Mutter geschickt, um die Dynastie zu Fall zu bringen.“ Die Falten zwischen Kōheis Brauen vertieften sich zusehends. Er hatte Minoru stets klar vor Augen. Jedoch nicht als den verwahrlosten Jungen, den er einige Monate zuvor getroffen hatte, sondern als eingeschüchterten, aufmerksamen Geist, der ihm immer mit einem Leuchten in den Augen begegnet war, das man mit bloßer Wiedersehensfreude nicht erklären konnte. Es war Hoffnung gewesen. Ein ums andere Mal hatte das Kind gehofft, dass sein Vater ihn vor dieser Frau beschützen würde. Bis Minoru ihn offen um Hilfe angefleht hatte, waren Jahre vergangen. Jahre in denen Kōhei bereits bemerkt hatte, was in dieser einsamen Berghütte vor sich gehen musste. Ein Kind war unmöglich aus eigenem Antrieb so still, vorsichtig und verschlossen. Er hatte nicht eingegriffen, auch nicht als Minoru ihn unter Tränen ersucht hatte. Fürst Hayato hatte es verboten und er hatte gehorcht, wie er es immer tat – gehorcht und Minorus Vertrauen, seine Offenheit und seine Sorgen dabei mit Füßen getreten. Es war schon nicht leicht, diesen Gedanken nachzusinnen. Umso schwerer fiel es ihm, die richtigen Worte zu finden, die sich vor Unbehagen nur halblaut aus der Kehle pressen ließen: „Ich kenne ihn nicht mehr. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er beinahe auf Wolfsland und in Begleitung von Sesshōmarus Menschenmädchen. Er war streitbar, abweisend und verwildert. Ich schätze, vier Jahre im Wald haben ihn verändert. Dennoch glaube ich nicht, dass man seine Vergangenheit abstreifen kann wie eine Schlange ihre Haut. Es wird etwas von dem Jungen übrig sein, den ich kannte. Und der war weder unerzogen noch erbarmungslos. Masuko hat ihn in Benimm, sowie Tanz und Gesang unterrichtet, wie es in ihrer Familie offenbar auch bei Männern Brauch ist. Er spielt gut Koto, wenn auch nicht unbedingt mit Freude, liest flüssiger und mit mehr Verständnis als manch Erwachsener und seine Schrift ist sogar mit der schwächeren Rechten eleganter und sicherer als meine es je sein wird. Sie hat ihm eingeschärft, dass Krieg und Kampf etwas Schlechtes seien, das allen Beteiligten schade. Eine Waffe hat er demnach niemals in der Hand gehalten. Ich musste meine später ablegen, wenn ich kam zu Besuch kam. Er ist keineswegs unerzogen und wenn er Shunran angegriffen hat, dann nicht grundlos.“ „Ihr habt ihn gern.“ Die Feststellung kam so prompt wie erwartet. „Ich weiß nicht, was er nun ist, aber damals war er nur ein bemitleidenswertes Kind inmitten politischer Gefechte. Er hat sich seine Eltern nicht aussuchen können.“ „Ihr seid erstaunlich offen. Mitleid könnte man Euch als Verrat auslegen.“ „Ich bin kein Narr, Kōtaishi. Ihr habt Gesinnungen von Männern durchschaut, die bessere Lügen spinnen als ich. Ja, ich habe den Jungen gern. Auf einer persönlichen Ebene. Wenn ich mich in Euch nicht täusche, wisst Ihr jedoch auch, wie es um meine Prioritäten bestellt ist.“ Das leichte Schmunzeln seiner Lippen wandelte sich zu einem wissenden Lächeln: „In der Tat. Das weiß ich. Erwidert er Eure Zuneigung?“ Mit einem Schlag wurde Kōheis Mund trocken wie Wüstensand. „Er hasst mich.“ „Hasst Euch? Was habt Ihr seiner Meinung nach getan?“ „Zu wenig. Masuko hat ihn wissen lassen, dass seine bloße Existenz ihr Leben zerstört hat – und so hat sie ihn auch behandelt. Er hat verzweifelt versucht, ihr zu gefallen. Perfekt für sie zu sein, in dem Glauben, dass es all die Probleme lösen würde, die seine vermeintliche Mutter so unglücklich und unausstehlich machten. Mit den Jahren hat er sich verschlossen und wurde stiller. Ich glaube, sie hat es sich endgültig mit ihm verdorben, als sie ihm verboten hat, in die einfache Form eines Hundes zu wechseln und vor seinen Augen einen räudigen, alten Köter geköpft hat, den er Zuhause aufnehmen wollte. Es hat mich beinahe eine Stunde guten Zuredens gekostet, bis er aufgehört hat zu schreien und zu weinen. Sie hat ihn geschlagen, als ich wieder fort war. Unabhängig von diesem Ereignis. Hat ihn tagelang unter dem Fußboden im Dunkeln eingesperrt, sobald sein Verhalten ihr missfiel. Ich wusste davon, auch bevor er es mir erzählt hat. Aber ich habe nichts gegen sie unternommen. Das wird er mir nicht verzeihen. Jetzt schon nicht. Wenn er erst erfährt, was sich wirklich zugetragen hat, wird er mich vernichten wollen.“ „Bevor Euer Ziehsohn Euch tötet, ist da noch ein betrogener Vater, über dessen Charakter wir uns nicht unterhalten müssen.“ Der herablassende Tonfall in Saburōs Stimme klang längst nicht so gehässig wie üblich. Er hob die Hand, als Kōhei etwas erwidern wollte und blieb lange Zeit still, ehe er sich besinnend durch das Gesicht fuhr und wieder das Wort ergriff. „Was geschah mit der Mutter? Meine Frau bewohnt ihre Gemächer im Nordflügel.“ „Euer Vater ließ sie töten.“ Es war ein wahrlich entnervtes Stöhnen, das dem südlichen Erben entfuhr: „Natürlich hat er das.“ Saburōs Verstand war stets wach und messerscharf, dessen war Kōhei sich mittlerweile sicher. Doch nun war ihm das Ausmaß des Problems, das sich in neuen Abgründen vor ihm auftat, anzusehen. Und natürlich änderte das vieles. Wenn er bislang davon ausgegangen war, dass es tatsächlich Minorus Mutter gewesen war, die ihren Fürsten mit der Hilfe des Südens verraten hatte, verschoben die neuen Einsichten die Beurteilung der Lage immens. Sie hatten nicht nur dem Fürsten seinen Sohn vorenthalten, sondern auch die Mutter seines Kindes und damit seine Gefährtin und Fürstin ihres Säuglings beraubt und hingerichtet – eine Wahrheit, die auch ihren Sohn empfindlich treffen könnte, wenn man bedachte, dass er sich lange Zeit die Zuneigung seiner Mutter ersehnt und sie nie erhalten hatte. Wenn Minoru nun erfuhr, wie man mit seiner wahren Mutter verfahren war, während er den Schikanen seiner verhassten Tante ausgeliefert gewesen war – nun, Kōhei wollte sich seine Reaktion lieber nicht ausmalen. Stattdessen sah er aus den Augenwinkeln zu Saburō, der ihn kaum noch beachtete. Der hielt den Blick starr auf den Nacken seines Pferdes fixiert und wirkte allgemein abwesend. Wieder fraß der Hengst an der Hecke, doch dieses Mal zog sein Reiter nur halbherzig am Zügel. „Wie lange ist sie schon tot?“ „Einige Monate.“ „Welch Zufall“, murmelte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Als er den Blick hob, schluckte Kōhei beim Anblick des bernsteinfarbenen Schimmers in den sonst so menschlichen Augen. „Wollt Ihr mir nicht die ganze Wahrheit sagen?“ Was hatte er erwartet? Dass Saburō die zeitlichen Überschneidungen nicht umgehend begriff? „Minoru war bereits jahrelang verschwunden. Die Suche war eingestellt worden, als man ihn innerhalb der südlichen Grenzen nicht hatte finden können, weil man befürchtete, zu viel Aufsehen zu erregen und Fragen aufzuwerfen. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie wusste, dass ihr Sohn außerhalb unserer Reichweite war und ihr Verhalten ihm nicht mehr Schaden konnte. Als sie die Wände ihrer Zellen niederriss, war ich im Osten zu Verhandlungen mit den Panthern einbestellt. Sie tötete ihre Wachen und jeden, der ihren Weg bis in den Garten kreuzte, wo Haru-sama sie schlussendlich gestellt hat. Sie hat ihn in Fetzen gerissen und Eurem Vater vor die Füße gespuckt.“ Saburōs Miene blieb ungerührt, als er den Grund für das Ableben seines Bruders und seine Einberufung an den Hof erfuhr. Wenn es ihn berührte, konnte er es gut verbergen. Doch vermutlich war es so, wie er bereits vor Wochen gesagt hatte: Er hatte Haru ebenso wenig gekannt wie all die anderen Halbgeschwister und Mitglieder seiner Familie. Er war der Fremde, der vom Tod einer Person erfuhr, deren Namen er kannte. Mehr aber auch nicht. Es waren nur die einzelnen Stränge dieser Ereignisse, die sein Interesse weckten, nicht aber die persönlichen Verwicklungen seiner Person – und zum ersten Mal kam es Kōhei in den Sinn, dass das nicht unbedingt von Nachteil sein musste. „Wie lange bis ins Chūgoku-Gebirge?“, fragte er schließlich und ließ seinen Blick über eine Menschensiedlung schweifen, die sich am Ufer des Flusses Saijo mit dem Rücken in den Berg lehnte. „In diesem Tempo?“, Kōhei sah hinauf zu den dicht bewaldeten Anhöhen des Kotobiki-Berges. Ihrem Ziel. „Einen halben Tagesritt.“ Saburō schwieg für eine Weile, schien das letzte Puzzleteil wohl überlegt zu ordnen und presste schließlich die Schenkel an den Hengst, der mit überrascht aufgestellten Ohren augenblicklich in einen leichten Trab verfiel. Dann lenkte er ihn in die Stadt hinab. „Ich danke Euch für Eure Offenheit, Taishō.“ „Ich befolge lediglich Befehle.“ „Auch die meinen, hoffe ich.“ Die Schärfe in Kōheis Worten war bewusst gewählt, als er dem forschenden Blick des Kōtaishis begegnete: „Solange Sie denen Eures Vaters nicht entgegenstehen.“ „Wir werden diese Nacht in der Stadt verbringen. Die Pferde werden morgen früh zurückbleiben. Wir gehen allein zu dieser Berghütte und wenn wir auf Masuko treffen, werdet Ihr Euch zurückhalten – ganz gleich, was passiert. Habt Ihr verstanden?“ „Euer Vater hat uns entsandt, um sie und weitere Lücken auszumerzen.“ „Mein Vater“, bemerkte Saburō nun deutlich gereizter, „hat einen Grund gesucht, mich vom Hof fernzuhalten. Ich könnte Euch nun in aller Ausführlichkeit darlegen, was ich von der Idee halte, den General einer Armee in drohenden Kriegszeiten fortzuschicken, um den ungeliebten Sohn zu bewachen, den man ausgesandt hat, um einige Leute mit losem Mundwerk zu töten – und auch wiederum darüber, wie weit unten diese Unternehmung auf meiner Prioritätenliste stünde. Doch ich will Euch nicht langweilen. Lasst es mich stattdessen kurz fassen: Was auch immer wir hier unternehmen, wird dem Süden vermutlich weder einen unmittelbaren Vorteil gegenüber dem drohenden Krieg im Osten verschaffen noch werden wir den Westen davon abbringen können, uns in naher Zukunft selbigen zu erklären. Glaubt Ihr, die Frau sei die undichte Stelle in diesem Chaos? Ich glaube, in der Hinsicht bin ich deutlich besser informiert als Ihr es seid. Der Tod dieser Frau bezweckt rein gar nichts. Darüber hinaus hat der Fürst Euch aufgetragen, mir zu Diensten zu sein. Also dient, wie Ihr es immer tut.“ ☾ Er hasste es. Hasste es, auf so etwas abgedroschenes wie Geiselnahme zurückgegriffen zu haben. Das Dorf niederzubrennen wäre sauberer gewesen. Es hätte ihm weniger Überwindung gekostet und ihn davor bewahrt, Tag für Tag dieses verängstige Kind ansehen zu müssen, das nicht einmal wagte, nach seinen Eltern zu verlangen. Aber dieses Verfahren hätte kaum dem entsprochen, was dieser Bengel sich mit seiner Bitte erhofft hatte. Das Mädchen als Pfand zu fordern, war der einzige Weg gewesen, keine Leben zu nehmen und dennoch eine Chance darauf zu haben, den Fürsten zufrieden zu stellen. Wobei Letzteres abzuwarten blieb. Ryouichi begab sich mit dieser Milde im Angesicht der Lage auf äußerst dünnes Eis. Nur Menschen wären sentimental genug, um ihretwillen davon abzusehen, den Erben des Westens und zukünftigen Anführer ganzer Heere zu verschonen. Nicht ein einziger Dämonenstamm hätte gezögert, ein dutzend ihrer Kinder zu opfern, um einen solchen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Im Grunde war die Kleine wertlos, doch Menschen vertraten einen grundlegend anderen Standpunkt. Unverständlich, aber in diesem Zusammenhang sehr hilfreich. Das musste er nun nur noch dem Fürsten verkaufen, der das Schicksal des Dorfes sicherlich bewusst in seine Hände gelegt hatte. Hätte Sesshōmaru sich der Angelegenheit selbst angenommen, wären die Gespräche kürzer und ohne Überlebende verlaufen. Er kannte den Fürsten nun ausreichend lang, um zu bemerken, dass Minorus Verbleib ihn nicht nur erzürnte. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Sie konnten keinen Krieg führen und gleichzeitig ein Kind suchen. Beides war unumgänglich. Hinzu kam, dass Tenseiga in den vergangenen Kämpfen schweren Schaden erlitten hatte und nun endgültig zu dem nutzlosen Stück Stahl geworden war, das der Fürst stets in ihm gesehen hatte. Stumpf für Leben und Tod. Hätte die Fürstinmutter ihnen nicht den Meidou-Stein für Minoru mitgegeben, wären sie nicht in der Lage gewesen, den Han'yō zu retten. Ryouichi zog den Verband nach, den Rin um seinen Unterarm gebunden hatte. Die Stichverletzung des Dolches heilte nur dürftig. Natürlich war er vergiftet gewesen. Ein Taijiya musste seine natürliche Unterlegenheit gegenüber seinem Gegner ausgleichen und Gift lag dabei stets nahe. Zu seinem Glück waren sie gerade recht geübt im Umgang mit Senensalbeeren, die sich auch zu einer Salbe verarbeiten ließen. Doch gegen die Hitze dieses Vulkans kamen auch diese nur schwerlich an. Drei Tage nach dem Zwischenfall hatte er mit einem vollständigen Abklingen der Giftwirkung gerechnet, doch ab und an tanzten die Schemen noch vor seinen Augen wie Nebelschwaden auf einer Morgenwiese. Nicht lebensbedrohlich, aber doch ein weiterer Tropfen auf in das längst überlaufende Fass. Er seufzte leise und stieg über einen schmalen Strom flüssiger Magma hinweg, die sich gemächlich ihren Weg in das Tal suchte. Die Festung mitsamt ihren Wehrkreisen zu großen Teilen niedergebrannt, Chizuru-sama schwer verletzt, Tenseiga unbrauchbar, der Erbe vermisst und eine Armee unsterblicher Drachen vor und jenseits westlicher Grenzen. Binnen Tagen war alles zusammengebrochen und es würde Zeit brauchen, es wieder zu ordnen. Viel Zeit. Doch sie tanzten nicht zum ersten Mal auf einem Scherbenhaufen. Was auch immer den vieräugigen Dämon einst dazu bewogen hatte, sich so weit in die Vulkanlandschaft vorzuwagen, hatte sein Ende besiegelt. Von Geröll bis zum Hals verschüttet, diente sein Skelett seit vielen Jahrtausenden als Wohnsitz des Schmieds, den der frühere Inu no Taishō stets mit einem schmalen Lächeln erwähnt hatte. Ein Großmeister, dessen Arbeit einige der überragendsten Schwerter des Landes hervorgebracht hatte. Ryouichi schritt durch das weit aufgerissene Maul hindurch, dessen Zähne ihm bis über die Knie reichten und fand die Glut der Esse erkaltet vor. Der Wohnraum war überschaubar und gähnend leer, obwohl der Geruch verbrannter Kohle deutlich in der Luft lag. Das konnte unmöglich aus der Umgebung stammen. Wo also war der Schmied? Ein Windhauch in seinem Rücken ließ ihn herumfahren, während er den Kopf bereits ergeben senkte. „Taishō.“ „Zerbrecht Euch nicht den Kopf über die Diskrepanz. Er ist wie üblich vor mir geflohen.“ Sesshōmaru trat an seine Seite und musterte gleichermaßen die gähnende Leere vor ihnen. „Habt Ihr-?“ „Nein, nichts“, die Stimme des Fürsten fiel um einige Oktaven in etwas, das verdächtig nach Resignation klang. „Keine Spur von ihm oder diesen Gören. Sie wissen, dass wir sie verfolgen.“ „Natürlich“, Ryouichi schnaubte leise. Sie wären noch dämlicher als er angenommen hatte, wenn sie nicht damit gerechnet hatten, dass der Westen sie dafür hetzen würde. Doch wo hatten sie Zuflucht gesucht? Sollten die Dämonenjäger Minoru an die Füchse oder den Osten ausgeliefert haben, würden sie ihn nicht ohne Weiteres zurückbekommen. Im Norden fanden die Zwillinge vermutlich keine Freunde, wenn sie den Sohn des Taishōs über die Grenze zerrten. Wölfe mochten ein wenig stumpf sein, doch sie vergaßen selten, wer für sie eingestanden war. „Dennoch müssten wir Spuren finden.“ „In der Tat. Stellt ein Dutzend ab. Lasst sie nach ihm suchen. Die südliche Grenze bleibt unangetastet. Ich will keine zusätzliche Front provozieren.“ „Die Drachen würden versuchen, uns mit seinem Wohlbefinden unter Druck zu setzen – denkt Ihr, die Füchse würden ebenso handeln?“ „Kitsune“, Sesshōmaru spuckte das Wort beinahe aus. „Sie hatten ihn ein Jahrzehnt lang und nichts verlauten lassen. Was denkt Ihr also, Chūyō?“ „Dass wir nach den Drachen ein paar neue Pelze gebrauchen könnten.“ Im Gegensatz zu den Panthern hatte sich der Süden niemals feindlich gezeigt. Aber was erwartete er auch von Füchsen? Es wurde Zeit, dass diese scheinheilige Dynastie endlich lernte, wie ein offener Krieg aussah. Hayato galt zwar als der erste Herrscher des Südens, der eine taugliche und loyale Armee aufgebaut hatte, doch derartige Behauptungen waren schnell aufgestellt. Vorangegangene Modelle waren bislang immer am Ernstfall gescheitert. Loyalität war für Füchse stets ein dehnbarer Begriff gewesen. Ihre Treue galt ihnen selbst. Letzten Endes waren sie klare Verfechter des Opportunismus, folgten dem, der ihnen am meisten versprach und mehr Sicherheit zu bieten schien. Sie hatten Hayato unterstützt, als es ihnen gelegen kam, und sie würden ihn fallen lassen, wenn sich eine andere Option bot – zumal Hayato nicht unbedingt viel Sympathie erweckte. Es grenzte an ein Wunder, dass sich das Gefüge so lange hielt. Doch nach Ryouichis Einschätzung war der dortige Generalleutnant nicht ganz unschuldig daran. Dennoch hatte der Süden im Moment keinerlei Priorität, solange sich nicht andeutete, dass Minoru dort war. Sie hatten ausreichend mit diesen schier unsterblichen Drachen zu tun, die immer wieder in ihr Land vorstießen und würden ohne Tenseiga dabei auch auf keinen grünen Zweig kommen. „Wie also finden wir den Schmied?“ „Wir warten“, erwiderte Sesshōmaru glatt und Ryouichi hoffte, dass der Greis sich darüber bewusst war, dass jede Minute des Wartens die Stimmung des Fürsten nicht unbedingt hob. „Wie seid Ihr mit dem Dorf verfahren? Und spart nicht den Teil aus, an dem Ihr Euch habt verwunden lassen.“ „Es ist nur ein Schnitt.“ „Vergiftet“, stellte der Fürst trocken fest. „Wir sind im Krieg und mein Generalleutnant lässt sich von einem zerstörten Dorf voller magerer Menschen bloßstellen. Was erlaubt Ihr Euch?“ „Ihr beleidigt mich. Ich habe Euch überlebt. Mehrmals. Was mich anbelangt, müsst Ihr Euch um meine Einsatzfähigkeit nicht sorgen“, entgegnete Ryouichi kühl. „Zu Eurer initialen Frage: Das Dorf steht noch. Die kleine Schwester der Zwillinge ist in Akios Feldlager, gemeinsam mit Rin.“ Der Fürst drehte sich zu ihm um und musterte ihn stumm, während Ryouichi lieber fortfuhr: „Eine Vernichtung der Siedlung hätte für uns keinen Mehrwert geboten. Nur Rache und Exempel. Wenn wir alles zerstören, das diesen Dämonenjägern wichtig ist, gibt es für sie nichts mehr zu befürchten. Ein Druckmittel ist wertvoller als ein zerstörtes Dorf voller Leichen.“ „Ausgerechnet Ihr nehmt Geiseln?“, es war tatsächlicher Unglaube, der sich da durch den Fürsten fraß. „Geiselnahme und Folter sind zweierlei. Das Kind wird sterben, sollten sie uns zuwider handeln. Aber angemessen. Sauber.“ „Ich hoffe, die Promenadenmischung meines Bruders hat Euch ausreichend für Euer entgegenkommen gedankt“, schoss es eisig zurück. Ryouichi winkte matt ab: „Ein kalkulierter Nebeneffekt.“ Es war in der Tat nicht Ryouichis primäres Ziel gewesen, Kaito nebst seiner Wiederbelebung nun auch noch mit der Unversehrtheit seiner Heimat zu beschenken. Dennoch war ein wenig Großzügigkeit hier nicht vor die Säue geworfen. Trotz des über die Generationen immer mehr verdünnten Dämonenblutes war er zäh und unter seinem jugendlichen Starrsinn sehr gescheit. Er hatte Ryouichi bereitwillig und subtil in die Hände gespielt, um Schaden von seiner Familie abzuwenden, und sich offenbar zu Minorus Gunsten einem ausgewachsenen Drachen gestellt und überlebt. Es war beinahe ein wenig bedauerlich, dass er das Licht der Welt als so eingeschränkte Lebensform erblickt hatte. Seine Herkunft galt für beide Seiten als Makel. Ryouichi wusste gut, wie sich solch unschöne Details auswirken konnten. Gelbe Augen galten in seinem Volk als schlechtes Omen, als Fluch. Bei genauerer Betrachtung nicht zu Unrecht. Es war ein Zeichen großer Macht - am Rande des Kontrollverlustes. Ohne die Masken, die auf Sado in der Öffentlichkeit stets die Gesichter verdeckten, hätte man ihn bereits als Kind ins Meer geworfen. Dass er die Insel lebend verlassen hatte, war einzig der Verschwiegenheit seiner engsten Familie geschuldet - und dem Besuch eines Fürsten. Er schüttelte den Gedanken ab und sah hinaus auf die dunkle Gesteinslandschaft, über der die Luft in der Hitze flimmerte. „Wenn er nicht kommt und Ihr Tenseiga nicht wiederherstellen könnt – .“ „Er wird kommen“, Sesshōmaru zog das verkratzte Schwert aus der Scheide und begutachtete es, als sehe er den Verschleiß zum ersten Mal, den die letzten Wochen dem Stahl abverlangt hatten. „Angenommen nicht. Was tun wir? Es wäre denkbar die Bewohner der Festung auf die Sitze der Ratsmitglieder zu verteilen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Drachen auch diese angreifen. Das Heer schlägt sich wie erwartet gut, doch ein Feind, der niemals stirbt...“, der Generalleutnant schüttelte den Kopf. Irgendwann wären sie ausgebrannt. „Es gibt durchaus einen Feind in diesem Krieg, der sterben kann“, sinnierte der Fürst und strich mit der Fingerkuppe über Tenseigas Klinge, erst sanft, dann mit Nachdruck und schließlich, als sie sich auch jetzt noch weigerte, ihm ins Fleisch zu schneiden, zog er seine Klauen über die Waffe. Ohrenbetäubend schrill kratzten sie über den Stahl. Sämtliche Muskeln des Generalleutnants verspannten sich, er biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, die Hände auf die Ohren zu pressen nur mit viel Mühe und Stolz. Es war grausig! Als schreie die Waffe in den Händen ihres Besitzers! Ein Blitzeinschlag bei wolkenfreien Himmel, untermalt von einem lauten Knall, entließ eine aus drei Augen stoisch dreinblickende Kuh inmitten des Gerölls. Ein Grashalm fiel ihr aus dem braunen Maul, als der Greis fluchend von ihrem Rücken sprang und mit einem Hammer in der Hand fuchtelnd den beiden Inu entgegen hechtete. „Ja, bist du denn des Wahnsinns?! Zur Hölle mit dir, Sesshōmaru! Es reicht! Hör sofort auf damit!“ Ryouichi trat dem Alten umgehend in den Weg, zog sein Schwert nur zur Hälfte aus der Scheide und blieb stumm, während der Schmied, dessen Wut in Form kleiner Rauchsäulen aus seinem zahnarmen Mund aufstieg, tatsächlich langsamer wurde und allmählich begriff, dass das vermutlich nicht die klügste Idee gewesen war. „Tōtōsai“, bemerkte der Fürst mit einer Spur Schadenfreude. Der Alte schien mit jeder Silbe seines Namens ein gutes Stück zu schrumpfen. Sein Blick huschte zu Ryouichi, blieb für einen kurzen Augenblick interessiert am mitternachtschwarzem Schwert hängen und glitt dann scheinheilig davon – auf der Suche nach potentiellen Fluchtwegen. „Ein Schritt zurück und ich töte dich.“ „Tōtōsai, du musst ihn anhören“, krächzte eine dünne Stimme. Der legte die Stirn in Falten und sah den winzigen Punkt auf Ryouichis Schulter an, als habe dieser ihn soeben persönlich beleidigt. „Ach, muss ich das?“, fragte er grätig und setzte an, in einem Anflug von Stolz zu Boden zu spucken. Das blieb ihm jedoch im Halse stecken, sobald die Fingerknöchel des Fürsten ihn knackend daran erinnerten, dass der Welpe des alten Taishōs die Klauen schon für weniger in die Gedärme rechtschaffender Leute geschlagen hatte. Statt dem Fürsten also offen zu zeigen, was er von dessen Anwesenheit in seinem Heim hielt, lugte er vorsichtig an dem anderen Inu vorbei, der vor ihm aufragte und musterte Sesshōmaru argwöhnisch. „Was verschafft mir die Ehre dieser Invasion? Welches Unheil soll ich diesmal schmieden? Ich dachte, mit Bakusaiga hättest du endlich mehr Waffen als Arme.“ Er stockte, als er begriff, wie unglücklich auch diese Formulierung war und zog lieber wieder den Kopf außer Sichtweite; Ryouichi als letzte Mauer zum sicheren Tode nutzend. Doch der ließ das Schwert wieder in die Scheide gleiten und trat zur Seite. „Du wirst Tenseiga in Stand setzen“, informierte Sesshōmaru den Schmied unterkühlt. „Tenseiga?“, der Alte blinzelte ungläubig. „Ganz sicher? Nicht eins der anderen? Besessenen. Tödlichen. Schneidenden.“ „Du hast verstanden.“ „Wozu? Damit du es am nächsten Stein zerschlagen kannst? Du hattest nie Verwendung für dieses Meisterstück.“ Myōga sprang mit einem Satz von Ryouichis Schulter auf den Boden zu Tōtōsais Füßen, ehe er jedoch den Mund aufmachen konnte, verzog der Schmied das Gesicht zu einer Grimasse: „Und was tust du bei ihnen? Wirst du auf deine alten Tage langsam lebensmüde?“ „Die Drachen sind zurück, Tōtōsai!“ Die beiden Greise schwiegen. Es war unschwer zu erkennen, dass sie gewisse Erinnerungen teilten, an die sie nur ungern zurückdachten. Vergangene Schlachten an der Seite ihres verstorbenen Meisters – oder eher in dessen sicherem Schatten. Schließlich kratzte Tōtōsai mit seinen langen, gelben Nägeln nachdenklich über seinen kahlen Kopf. „Das ist ein Problem.“ Kapitel 45: wie Schicksal predigen ---------------------------------- „Was verschafft mir die Ehre Eures hohen Besuches, Kōtaishi?“ Masukos süßliche Stimme förderte Kōheis Abneigung mit jedem neuen Satz. So war es immer schon gewesen. Es hatte ihm ohnehin nie nach einer Partnerin verlangt, aber sollte sie eines Tages die letzte Frau der Welt sein, würde er den Dingen liebend gern ihren Lauf lassen und sich in sein eigenes Schwert stürzen, bevor er sie auch nur mit der Zange berührte. Die Sonne war erst im Begriff über bewaldeten Berghänge zu kriechen, während sie bereits in mehrere Lagen feiner Seide gekleidet an dem kleinen Lacktisch saß, als erwarte sie jeden Tag solch ,hohen Besuch' wie den Erben eines ganzen Reiches. Neben ihr wirkte Saburō in seinem mitternachtschwarzen Kimono mit den feinen, herbstlichen Ranken bestenfalls wie ein mittelklassiger Soldat auf Fronturlaub. Goldener Brokat zierte die oberste Lage ihrer Kleidung und griff die Farbe ihrer Augen auf, während die darunterliegenden, schlichten Seidenstoffe das Apricot der schmalen Wellenlinien auf ihren Wangen wiederspiegelten. Selbst ihre langen Nägel, die betont langsam über das Porzellan der Teekanne strichen, schimmerten im selben Farbton sommerreifer Früchte, während sie Saburōs Tasse füllte. Der Erbe des Südens lächelte matt und zog den Tee näher an sich heran, wobei er tunlichst darauf achtete, die von Natur aus schwarzen Klauen melodisch-sanft auf der Töpferware tanzen zu lassen. Ihre höfische Eleganz, mit der sie sich mühelos in jedem Palast des Landes hätte behaupten können, war nichts im Vergleich zu der Selbstverständlichkeit, mit der Saburō Räume und Personen einzunehmen pflegte und gemessen dem Fall, dass er in der Regel dazu neigte, jede Auffälligkeit direkt zu benennen, wäre Kōhei eigentlich lieber gewesen, er hätte ihr die verdammten Klauen gleich in den Hals gerammt, statt ein Gespräch zu beginnen – aber was machte er sich vor? Saburō würde sich eine solche Unterhaltung nicht einmal im Beisein seines Vaters entgehen lassen. „Ich fürchte, wir kommen mit unangenehmen Neuigkeiten für Euch“, meinte der Erbe des Südens schließlich. „Euer Schützling ist an den westlichen Hof zurückgekehrt und für uns unerreichbar. Außerdem scheint es in den Reihen meines hohen Vaters einen Verräter zu geben. Ihr seid hier nicht mehr sicher.“ Kōhei lehnte mit verschränkten Armen an der Wand – eine legere Haltung, die er sich Masuko gegenüber erlauben würde, solange es ihm beliebte – und musterte Saburō aus den Augenwinkeln. Nicht mehr sicher? Nun, wenn man davon ausging, dass sie ihr längst den Kopf von den Schultern getrennt haben sollten, war das eine frivole Untertreibung. Masuko gab sich wie erwartet erschüttert: „Wie schrecklich! Aber Euer Vater wird doch sicher ausreichend Maßnahmen anstreben, die Person zu finden und zu bestrafen?“ „Gewiss. Wir nehmen Verrat sehr ernst“, Saburōs Unterton war so subtil, dass Kōhei mehrfach überlegen musste, ob er ihn tatsächlich wahrgenommen hatte. „Nichtsdestotrotz könnt Ihr nicht hier verweilen. Mein Vater hat Euch für Euer Vertrauen und Eure Verdienste einst Sicherheit versprochen. Ich bin hier, um Eure Unversehrtheit sicherzustellen.“ „Wie muss ich mir das vorstellen?“, fragte sie zweifelnd und nahm ihren Fächer vom Tisch. Den Tee ließ sie unangetastet. „Ich weiß, es wird Euch schmerzen, dieses Haus zu verlassen, das Ihr allen Widrigkeiten zum Trotze in einem tadellosen Zustand haltet, aber der Junge kennt den Weg hierher – und wer weiß, wer noch. Meine hohe Mutter hat mich nach dem Tod meines Bruder an den Hof begleitet. Unsere Residenz wird seither nur vom nötigsten Dienstpersonal bewohnt. Vorwiegend ältere Damen und Krieger zu Eurem Schutz, die Eure Anwesenheit nicht hinterfragen werden. Ich möchte Euch bitten, dort einzukehren und – sofern es Euch beliebt – die Instandhaltung für meine Mutter zu überwachen, solange sie bei Hofe verweilt.“ „Eine Bitte oder eine Order?“, hakte sie gefährlich aufmerksam nach. Saburō lächelte versöhnlich: „Eine dringliche Bitte in unser aller Interesse, Masuko-sama. Ich würde nicht wagen, eine redliche Dame derart grob zu befehligen.“ Es war schwer zu übersehen, wie sehr Masuko der Gedanke gefiel, diesen Bretterverschlag, den sie seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten ihr Heim nannte, gegen eine herrschaftliche Bleibe einzutauschen. Sie schlug ihren Fächer aus dem Handgelenk auf. Goldverzierte Pfirsichbäume überzogen die bespannte Seide, mit der sie sich betont gelangweilt Luft zufächerte. Der Widerspruch in diesem Traumgeflecht war ihr jedoch nicht entgangen:„Euer Vater war bemüht, möglichst wenige Personen einzuweihen – und dennoch ist nun Wort von meiner Anwesenheit nach außen gelangt. Haltet Ihr es für klug, dass ich mich wieder in Gesellschaft begebe?“ „Eure Anwesenheit ist, soweit ich es beurteilen kann, noch nicht publik geworden.“ Kōhei stellte missmutig fest, dass diese Feststellung zurecht das Maß aller Dinge war. Wenn Saburō von einem Gerücht noch nicht Wind bekommen hatte, so war es noch ein wohl gehütetes Geheimnis – wenn man davon absah, dass Minoru sehr wohl wusste, wo sich seine vermeintliche Mutter befand. Das konnte ihr durchaus zum Verhängnis werden und das wussten sie alle, auch wenn Saburō es nun nochmals explizit betonen musste: „Dennoch kennt der Junge Euren Aufenthaltsort und dessen Vater wird bei Bedarf schneller hier sein, als unsere Truppen sein Eindringen bemerken könnten. Er sinnt ohnehin auf Krieg. Dass er ihn damit unweigerlich auslösen würde, kümmert ihn sicher wenig im Vergleich zu Eurem Kopf.“ Sie strich sich eine einzelne Strähne schneeweißen Haares sittsam hinter die spitzen Ohren und senkte den Blick auf ihren Tee. Ein Außenstehender hätte vermutlich sogar Mitleid für sie empfinden mögen, wie sie die Vorstellung, dass man danach trachten könnte, ihren schlanken Hals vom Rumpf zu trennen, mit sichtlichem Unwohlsein aufnahm – wenn man davon absah, dass dieser Gedanke ihr seit zwanzig Jahren so vertraut sein sollte wie die aufgehende Morgensonne. Niemand spuckte Sesshōmaru derart unverfroren ins Gesicht und kam mit einer Rüge davon. Wenn er sie in die Finger bekam, wäre ihr Tod vermutlich ihre geringste Sorge. Auch Saburō nahm den betroffenen Ausdruck mit Interesse auf und lehnte sich ein Stück weit zu ihr vor: „Darf ich Euch in dieser Hinsicht eine persönliche Frage stellen?“ Sie sah zu ihm auf und blinzelte sichtlich verwirrt in seine bernsteinfarbenen Augen. „Kōtaishi?“ „Wozu das alles?“ „Das geht Euch nichts an.“ Er hob ob der scharfen Stimme die Brauen und bedachte sie umgehend mit einem gefährlich seidigen Lächeln: „Es war offensichtlich, dass diese Frage einen Nerv treffen würde.“ Sie lief auf der Stelle puterrot an – ein Zustand, der, wie Kōhei nur zu gut wusste, bei ihr sowohl Scham als auch Wut bedeuten konnte, abhängig davon, welchen Tonfall sie danach anschlug. Doch Saburō ließ sie gar nicht dazu kommen, lehnte sich selbstgefällig wieder zurück und nippte wissend an seiner Tasse: „Also doch Rache.“ Es wäre doch sehr übertrieben gewesen, ihn für diese Eingebung zu bewundern. ,Rache' war immer die korrekte Antwort, sofern jemand nach dem Motiv eines Inus fragte. Ebenso wie bei den Kitsune unterm Strich nicht selten Schadenfreude einen sehr hohen Stellenwert einnahm. „Ich habe mich bereits ausführlich mit Eurem Vater unterhalten“, blockte sie erneut, wenn auch deutlich höflicher als zuvor. „Mein Vater schenkt Frauen nicht mehr Gehör, als er für eine grobe Einschätzung als nötig erachtet – ganz zum Leidwesen seiner Gemahlinnen. Mich hingegen interessiert sehr, was Euch zu diesem Extrem getrieben hat.“ „Ihr versteht Euch wohl nicht besonders gut mit Eurem Vater, nicht wahr?“, über Masukos Lippen huschte ein vernichtendes Grinsen, welches sie prompt hinter dem Fächer verbarg, ganz als habe sie das innerste Dunkel in Saburōs Seele nach außen gekehrt, statt lediglich bemerkt zu haben, was ohnehin alle wussten, die Vater und Sohn in einem Raum erlebt hatten. Als er nicht sofort antwortete legte sie den Kopf genüsslich etwas schief, wobei das offene Haar über ihre Schulter glitt. „Ist Euch die Frage zu persönlich?“ Der schwarze Fuchs überging die Gehässigkeit und ließ den Blick fallen, als würde der Zwist mit seinem Vater ihn in irgendeiner Weise berühren: „Meine Mutter hätte mich im Kindbett erdrosseln können. Ich bin ein ewiges Andenken an den Mann, der ihre Familie abgeschlachtet und ihre Heimat unterworfen hat – sie unterworfen hat. Ihr wisst, wie es ist, einem Kind in die Augen zu sehen, das aus einer verhassten Verbindung entstanden ist – Abneigung wäre nur natürlich gewesen. Stattdessen hat sie für mich gesorgt, mich aufgezogen und ertragen. Mein Vater hat sich stets einen Dreck um uns geschert. Für ihn ist sie eine Trophäe, die er nach Belieben besteigen und unterdrücken kann. Er behandelt sie wie Vieh. Nein, ich verstehe mich nicht besonders gut mit meinem Vater. War Euch die Antwort persönlich genug?“ Die Stille des Raumes ließ den morgendlichen Vogelgesang mit der Lautstärke eines Schlachtrufes durch die Holzfassade dringen. Kōhei starrte seinen Rücken an, bemerkte, wie Masukos Blick den seinen traf, um sich zu versichern, dass sie beide dasselbe vernommen hatten. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Niemand sprach so offen über derart persönliche Angelegenheiten! Erst recht nicht bei Hofe und schon gar nicht über die ehrwürdige Familie des Hauses – ausgenommen von Saburō. Kōhei konnte mit Mühe ein entrüstetes Kopfschütteln vermeiden. Es war wirklich erstaunlich. Saburō war bekanntermaßen der einzige, der sein Gegenüber mit dessen eigenen Intentionen und unausgesprochenen Gedanken konfrontierte und es genoss, wie derjenige anschließend um Fassung rang oder vor Wut zu bersten drohte. Nie hatte jemand versucht, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und anscheinend war das auch nicht möglich. Er legte in eigenen Angelegenheiten dieselbe Offenheit an den Tag, die er anderen aufzwang – und hinterließ damit noch mehr Scherben. War es wirklich so einfach, diesen Fuchs zu begreifen? Indem man ihn ebenso dreist fragte, wie auch er anderen Salz in die Wunden streute? Vielleicht. Doch es war eine Sache zu fragen und eine andere, danach mit den Antworten leben zu müssen. „Entschuldigt... ich hätte Euch das nicht fragen dürfen. Das war unangemessen und geziemt sich nicht.“ „Oh, aber Ihr habt es getan und nun habt Ihr Eure Antwort.“ Sie war sichtlich bestrebt, etwas Angemessenes zu erwidern, doch gab es für eine solche Situation kein Protokoll. Ihre Lippen glätteten sich erneut, als sie den Versuch begrub. Ihre Rechte hielt den Fächer mittlerweile derart fest umschlossen, als hoffe sie, darin einen Ankerpunkt zu finden. „Warum interessiert es Euch?“, fragte Masuko schließlich, nachdem er sich mehrere Minuten geweigert hatte, das Gespräch wieder aufzunehmen. „Ich begreife es nicht. Ihr kommt aus einer einflussreichen Familie und lebt unterhalb jeden Standards in einer Berghütte, um das Kind Eurer Schwester aufzuziehen. Werdet durch den Jungen jeden Tag an sie erinnert, während Ihr für diesen Verrat Euren Kopf riskiert. Warum?“ „Weil dieses Leben trotz allem erfüllter ist als jenes, welches meine Schwester mir zurückließ. Ich lebe lieber vereinsamt auf einem Berg, als in Gesellschaft einer verdorrten Leiche unter der Erde.“ Sie sah an ihm vorbei zur Tür hinaus. Es verging eine Weile, in der er schwieg und ihr die Möglichkeit ließ, freiwillig fortzufahren. Dann endlich riss sie sich vom Anblick der morgendlichen Wiese los und musterte stattdessen den dunklen Kitsune vor sich: „Die Familie des Fürsten und meine sind zwei Seiten einer Münze; wie Drache und Phönix einer alten Dynastie. Unsere beider Linien lassen sich unmittelbar auf Akaya selbst zurückführen. War Euch das bewusst?“ „Ich wurde darüber in Kenntnis gesetzt. Das erklärt zumindest, warum Euer Fürst den Pfad des ewigen Junggesellen verlassen hat.“ Masuko war lediglich zu damenhaft und wohlerzogen, um nun abfällig zu schnauben. Stattdessen wurde ihr Tonfall empfindlich spitz: „Natürlich. Ob es um seine Fähigkeiten, seine Waffen oder seinen Nachwuchs geht: Er wird immer versuchen, nach mehr Stärke und Macht zu verlangen. Und in der Regel findet er dabei keine Grenzen. Ich habe viele Jungen aufwachsen sehen, darunter meinen jüngeren Bruder. Mächtig, fähig – aber alles in einem gewissen Rahmen. Sesshōmarus Sohn haben wir mit fünf Jahren Fuchskoralle umgelegt und er war dennoch in der Lage, die Form zu wandeln. Nur zu einem gewöhnlichen Straßenköter, ja, aber auch das sollte nicht möglich sein.“ „Beeindruckend“, erwiderte Saburō in einem Ton, der Kōhei wissen ließ, dass er nicht viel davon hielt, über dieses winzige Detail nicht bereits am Vortag aufgeklärt worden zu sein. „Jedenfalls bringt diese Abstammung noch mehr mit sich als nur Macht allein. Macht kommt stets nur mit Verantwortung, egal wie sehr man sich dagegen sträubt. So erbte der Vorfahr des Fürsten das Höllenschwert Sō'unga und übernahm die Führung über die Inu, während seine Schwester mit der Wache über Akayas Überreste betraut wurde.“ Hätte es Staub auf dem gepflegten Holzboden des Hauses gegeben, hätte man beobachten können, wie sich die Aura des Silberfuchses über den Untergrund schob, als dieser Name fiel. Doch Masuko schien es nicht zu bemerken. „Wir sind Schreinwächter – und es wäre an meiner Schwester gewesen, diese Aufgabe zu übernehmen. Reika ist als Älteste dafür aufgezogen worden, Akaya zu dienen wie unsere Mutter vor ihr. Als die Vorladung an den Hof kam, sollte ich dem Fürsten vorgestellt werden. Ich war die entbehrliche Tochter, nicht Reika. Es war ihr lediglich erlaubt, mich zu begleiten, weil meine Mutter eine Anstandsdame an meiner Seite verlangte und sie Reika einen einzigen Ausflug jenseits der Burgmauern zugestehen wollte. Das war ein Fehler. Vermutlich der größte, den wir je gemacht haben.“ „Er wollte Eure Schwester“, vermutete Saburō und trug dabei mit keiner Faser seines Körpers nach außen, was ihn derart verstörte, dass sein Yōki hinter seinem Rücken einem zischenden Natternnest glich. „Was Euch in die Lage brachte, sie ersetzen zu müssen.“ Masuko presste sichtlich verstimmt die Lippen zusammen, bis sie fast alle Farbe verloren: „Ja, der Fürst wollte sie. Vom ersten Moment an. Es war ihm gleich, dass sie überhaupt nicht zu ihm passte. Dass sie im Vergleich zu seiner hohen Mutter eine miserable Fürstin abgegeben hätte. Aber sie ist eine Daiyōkai – und mehr musste er nicht wissen. Mich hat er nicht einmal beachtet.“ Sie schlug den Fächer zu und legte beide Hände um das treue Accessoire, als wolle sie den letzten Rest Leben aus ihm herauspressen. „Mutter war außer sich. Er verlangte immerhin, dass sie freigab, was sie über Jahrhunderte hinweg herangezogen hatte. Dass sie mit Traditionen brach, die seit Tausenden von Jahren existierten. Aber mit dem Inu no Taishō verhandelt man nicht. Nicht mit diesem. Er schert sich nicht um Traditionen. Nur um die Erfüllung seines endlosen Strebens nach Herrschaft. Meine Mutter gab ihm offiziell nach. Nicht, dass er tatsächlich um Erlaubnis gebeten hätte. Nicht einmal gefordert. Jeder andere hätte nicht gewagt, meiner Familie Befehle zu geben – außer die Familie.“ „Und ich nehme an, Ihr habt alles daran gesetzt, nicht diesen Schrein bewachen zu müssen.“ „Ihn bewachen? Seid nicht albern, Kōtaishi. Ich bin eine Frau. Es ist die Aufgabe der Soldaten, die Festung zu verteidigen. Was denkt Ihr, ist sonst der Grund, dass die zweitgrößte Armee des Westens so gut wie niemals ihre Tore verlässt und wir dennoch die einflussreichste Familie neben der des Fürsten darstellen? Glaubt Ihr, wir Inu sind gewillt, eine untätige Armee allein aufgrund ihrer Größe zu respektieren?“ Sie lachte herb. „Nein, Kōtaishi. Mein Vater – oder mittlerweile mein Bruder – hat fünf dutzend Männer in Waffen. Männer, die stets am Hof verweilen. Nur wenn das, was sich hinter den Mauern befindet, für das gesamte Volk wichtiger ist als offener Krieg, wird solch scheinbare Untätigkeit respektiert.“ Elegant entließ Masuko den Fächer aus ihrem Würgegriff, um sich einen feinen Luftstrom zuzuarbeiten. Nun war Kōhei sich sicher, dass sie lediglich einen leichten Wärmehauch von dem Höllenfeuer bemerkte, das zu seinem Füßen schmorte. Wie schaffte es Saburō, sie von dem Ausbruch seiner Launen derart abzuriegeln, dass sie gänzlich auf sich selbst konzentriert fortfuhr? „Bis auf regelmäßige Feiern bei Hofe und gewisse öffentliche Fragestellungen hätte ich mein Dasein in den Katakomben dieser Festung gefristet und meine Tage damit zugebracht, einer Mumie aufzuwarten, die seit Jahrtausenden keine Klaue gekrümmt hat. Man hätte mir irgendwann einen Ehemann vorgesetzt, dem durch die Existenz meines Bruders jeglicher Einfluss auf das Heer verwehrt geblieben wäre. Er eine ansehnliche Galionsfigur ohne eine Stimme im Rat und ich dazu verdammt, meine zukünftige Tochter auf denselben unsinnigen Dienst vorzubereiten. Meine naive, treu-dumme Schwester war für dieses Leben wie geschaffen – bis sie sich von diesem stolzierenden Gockel schwängern ließ.“ „Eure Mutter hat Euch nicht umgehend zurückbeordert?“, erkundigte sich Saburō ungerührt. „Meine liebliche Schwester kam mit der Gesellschaft bei Hofe natürlich nicht zurecht und bat Mutter, mich vorerst nicht nach Hause zu holen. Da wir beide zur Sicherheit eine ähnliche Ausbildung genossen hatten, eilte meine Rückkehr nicht und Mutter war einverstanden. Und nachdem Reika das erste Kind verloren hatte und drohte, damit die ganze Familie zu blamieren, war ich an ihrer Seite natürlich unentbehrlich.“ „Wie passend für Euch“, erwiderte Saburō in seinem besten Höflingstonfall, der keinerlei Interpretationen neben der reinen Kernaussage zuließ. Masuko fiel eine Antwort daher sichtlich schwer. Sie rang sich schließlich ein vages Lächeln ab: „Auch ein schreckliches Unglück kann einen Lichtschein tragen.“ Kōhei hätte sie für diesen süffisanten Tonfall gerne auf der Stelle erdrosselt. Langsam, qualvoll und mit seinen eigenen, bloßen Händen. Reika hatte ihr vertraut, hatte dieses Biest geliebt und bis zum Schluss kein schlechtes Wort über sie verloren, während Masuko Freundlichkeit und Vertrauen ausgeschlachtet hatte wie eine fette Mastgans. Er hörte seine eigene Stimme, bevor sein Verstand ihm eines Besseren belehren konnte: „Ein Unglück geschieht von allein. Mit Hilfestellung bezeichnet man es in dem Fall gemeinhein als ,Mord'.“ Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie zu ihm aufsah: „Wie kannst du es wagen -“ Saburō ließ eine Klaue geräuschvoll auf den Lack des Tisches aufschlagen und bedachte die Dame vor ihm mit einer für seine Verhältnisse erschreckend ausdruckslosen Miene, während seine Aura Kōhei die Haut zu versengen drohte: „Ich muss Euch bitten, dem General den nötigen Respekt zu erweisen. Mir ist bewusst, dass Eure Beziehung zu ihm vor dem Jungen einen gewissen Anschein wahren musste, aber er ist nicht Euer einstiger Geliebter, sondern die rechte Hand meines Vaters. Ich erlaube nicht, dass Ihr ihn derart vertraulich behandelt.“ Sie starrte Saburō an, als habe der sie soeben auf offener Straße geohrfeigt und obwohl Kōhei wusste, dass sein Mangel an Selbstbeherrschung ein Nachspiel haben würde, war es wie Balsam für seine Seele, dass jemand dieser Schlange in die Parade fuhr – auch wenn es ausgerechnet Saburō war. „Ich danke Euch für Eure Offenheit und Gastfreundschaft, Masuko-sama“, sagte der schließlich, als sie keine Erwiderung fand, die sie ihm gefahrlos an den Kopf schmeißen konnte. Dann leerte er den Rest seines Tees in einem Zug und erhob sich. „In den kommenden Tagen werden meine Männer Euch abholen und sicher nach Shōdoshima geleiten. Packt doch bitte Eure Habseligkeiten zusammen, damit sie sich ihrer annehmen können. Die Insel Shōdo hat ein ausgezeichnetes Klima und ansehnliche Strände. Genießt den Ortswechsel.“ Er war zur Tür hinaus, ehe sie auch nur ein Wort des Protests vorbringen konnte. Kōhei folgte ihm umgehend, verschwendete keinen weiteren Augenblick an diese Frau und musste sich eilen, Saburō nicht zu verlieren, der sich unlängst in eine Flamme reiner Energie aufgelöst hatte. Vor dem heutigen Morgen hätte Kōhei all seinen Besitz darauf verwettet, dass das Yōki des Erben die Farbe einer mitternächtlichen Wolke annehmen würde, doch Saburō hatte ihn eines Besseren belehrt. Es war flüssiger Bernstein. Selbst bei Tageslicht loderte es weithin sichtbar auf, ehe die flammende Kugel aufstieg und einen langen Schweif hinter sich herzog. Kōhei fluchte stumm in sich hinein und tat es ihm gleich, gab die enge Beschaffenheit seines Körpers auf und setzte ihm hastig nach. Auf der Schwelle des Gasthauses manifestierte er sich und wedelte den letzten Hauch smaragdgrüner Aura mit der Hand fort, bevor er die Räumlichkeiten betrat, in denen sie über Nacht eingekehrt waren. Er wollte gerade den Anschein dumpfen, menschlichen Aussehens über sich fallen lassen, als er Saburō inmitten des Raumes erblickte – den pechschwarzen Schweif unruhig über den Boden schlagend. Der Erbe des Südens schwieg. Er begutachtete Kōhei, als betrachte er ihn zum ersten Mal. Die Konturen des Gesichtes eine hübsche, in Stein gemeißelte Maske seiner sonstigen Gelassenheit. Sein Schweigen und die Härte seines Blickes jagten Kōhei kalte Schauer über den Rücken und als schließlich ein vernichtendes Glühen in seine bernsteinfarbenen Augen trat, fühlte es sich an, als Schäle Saburō ihm das Fleisch von den Knochen. „Akaya“, wiederholte er tonlos den Namen. „Sie bewachen die Überreste dieses Ungeheuers aus grauer Vorzeit und wir sorgen uns um einen kleinen Jungen und seinen launischen Vater?“ Es war Kōhei stets schwer gefallen, dem Fürsten zu widersprechen, wenn er kurz vor einem Wutanfall stand. Jetzt dieselbe tödliche Energie in dessen Sohn zu spüren, ließ ihm die Kehle austrocknen und seine Stimme leiser werden: „Er ist tot, Kōtaishi. Seit Jahrtausenden.“ „Natürlich ist er tot!“, irgendwo im Gebäude zerbarst Geschirr, als eine arme Angestellte über das Donnern in seiner Stimme zusammenschrak. „Er ist ein gottverdammter Inugami, Kōhei! Ein toter Straßenköter, eine entlaufene Marionette der Menschen. Außer Kontrolle und wahnsinnig. Er war auch schon tot, als er die menschliche Zivilisation dieser Inseln binnen Tagen in Asche aufgehen ließ und seine Hunde sich an den Kadavern satt gefressen haben. Wenn seine Überreste erhalten sind, ist er handlungsfähig. Das ist der ganze, schlechte Witz an einem Inugami!“ Er schnaubte. „Hier sitze ich und mache mir Sorgen, dass mein Schwachkopf von Vater uns wegen eines Inuyōkais ins Verderben gerissen hat! Aber Ihr wisst längst, dass uns etwas viel Schlimmeres auflauert!“ „Ich-“ „Erzählt mir nicht, Euch wäre die Gefahr nicht bewusst“, unterbrach Saburō ihn scharf. „So dumm seid Ihr nicht. Dass der Inugami nicht zu Staub zerfallen ist, ist schlimm genug. Aber statt ihn als ruhende Bedrohung wahrzunehmen, fällt dem südlichen Hof nichts besseres ein, als den Spross seiner beiden Familienzweige der Mutter zu entreißen und ihn gegen sein eigenes Volk wenden zu wollen? Ihr seid der General meines Vaters. Es wäre Eure Aufgabe gewesen, ihn von diesem Wahnsinn abzuraten!“ „Ich..“, Kōhei bemerkte, wie unsicher er klang und das machte Saburō nur noch wütender. „Was 'ich'?! Fürchtet Ihr, ich sei wie er? Dass ich Euer Gesicht über einer glühenden Kohlenpfanne zum Schmelzen bringe, sobald mir danach ist?“ „Hört auf damit!“ „Womit? Ihr wisst das dem nicht so ist, sonst hättet Ihr nicht gewagt, das Wort gegenüber dieser Schlampe zu erheben, obwohl ich Euch ausdrücklich befohlen hatte, Euch zurückzuhalten!“ Kōhei schnaubte herablassend: „Euer Vater hat Euch befohlen, sie umzubringen.“ „Wollt Ihr wissen, was ich auf die Befehle meines Vaters gebe?“, er schlug mit dem Schweif eine Vase von ihrem Podest. Einst mit großer Kunstfertigkeit gemalte Landschaftsmotive zerbarsten in dutzende Einzelteile. „Wem würdet Ihr das Ding noch schmackhaft machen wollen?“, fragte er bissig und deutete auf die Überreste der Töpferei. Als Kōhei nicht antwortete wischte ein erneuter Hieb seines Schweifes einige Scherben über den Tatami. „Tot nützt sie uns gar nichts!“ Kōhei starrte auf den Scherbenhaufen und hob nur langsam den Blick zu Saburō, der sich wütend durch das kurze, schwarze Haar fuhr. Was tat er da bloß? Ihm musste klar sein, dass er dazu verpflichtet war, diesen Ausbruch, die Äußerungen und auch die Befehlsverweigerung dem Fürsten zu melden. Das würde Saburō den Kopf kosten. Und wenn nicht das, dann zumindest eine Strafe nach sich ziehen, an deren Ende von diesem verhältnismäßig jungen Fuchs nichts mehr übrig bliebe. Hayato würde ihn vernichten. Würde - Auf dem Flur waren eilende Schritte zu hören. Als die Betreiberin des Gasthauses den Türrahmen durchquerte, flog ihr Kopf bereits losgelöst durch den Raum und rollte im Halbkreis vor die Füße ihrer Begleiter, die dem Aufruhr hatten auf den Grund gehen wollen. Wenn Saburō zuvor blass gewesen war, nahmen die zwei Samurai im Angesicht der Kitsune nun die ungesunde Hautfarbe verwesender Leichen an. Kōhei hielt ihnen zu Gute, dass sie im Angesicht des Todes nicht zurückwichen, sondern ihre Schwerter auch dann noch umklammert hielten, als er ihnen ein kurzes Ende bereitete. Er riss gerade einen ihrer schäbigen Yukata auseinander, um seine Klauen vom stinkenden Menschenblut zu befreien, als Saburō den Kopf der Frau vom Boden hob und das faltige Gesicht der Inhaberin dieser Lokalität in seinen Händen eine groteske Wandlung durchmachte: Innerhalb weniger Sekunden waren die Falten geglättet, vormals dunkles Haar erstrahlte in einem eisigen Weiß, während goldene Augen und apricotfarbenen Wangenzeichnungen die Täuschung perfekt machten. Kōhei glitt der Stofffetzen aus den Händen. Nicht einmal er hätte angezweifelt, dass es sich bei diesem Kopf um Masukos handelte – und er hatte sie jahrelang ertragen müssen. Saburō drehte sein Werk auf der Suche nach Makeln prüfend in alle Richtungen, dann wandte er sich an Kōhei. „Wie Ihr sicherlich bemerkt haben werdet, liege ich in Eurer Hand.“ „Das tut ihr“, bestätigte der leise und hielt weiterhin den Blick auf den Kopf in den Händen des Mannes gerichtet, der offenbar vermochte, eine tiefere Magie zu weben als er es bislang bei irgendjemandem gesehen hatte. Es war eine Sache, die Augen zu täuschen, doch von diesem abgetrennten Körperteil ging eine Aura aus, die unmöglich menschlich war und Masukos Yōki erschreckend nah kam. „Aber wir wissen beide, dass dem ohnehin so gewesen wäre. Was also macht Euch so sicher, dass ich Eurem Vater nicht umgehend von diesen Vorgängen berichte?“ Saburō lächelte gequält – ein miserabler Abklatsch dessen, was sich sonst über seine Lippen schlich: „Gäbe es denn etwas?“ Mit verspannten Kiefern zwang Kōhei sich dazu, nicht lauthals zu fluchen. Doch ehe er diese versteckte Drohung abschmettern konnte, schüttelte Saburō kaum merklich den Kopf: „Ich bin mir keinesfalls sicher.“ Er ging an Kōhei vorüber und wickelte den Kopf in die übrige Kleidung eines toten Samurai. Und allmählich begriff der General: Saburō würde nicht um sein Stillschweigen flehen. Er würde nicht betteln oder ihm drohen. Der Wahnsinnige ließ ihm die Wahl! Knirschend presste er die Zähne aufeinander. Verdammter Bastard! Glaubte er tatsächlich, Kōhei würde das Vertrauen seines Fürsten grundlos ausnutzen, ihn hintergehen? Für den Sohn lügen, der sich seinem Vater offenkundig als Feind gegenüberstellte? Warum warf er ihm sein Leben derart achtlos vor die Füße? „Herr!“ Saburō fuhr herum als die Außentür aufgerissen wurde und ein Menschenjunge in den Raum gestolpert kam. Nur wenige Schritte hielt sein Gleichgewicht ihn auf den Beinen, bevor er vor dem Erben des Südens auf die Knie fiel und nach Luft rang. Seine Lunge pfiff bei jedem Atemzug bedenklich scharf in seiner Brust und während er sich die Hand auf das Herz presste, wurden die stumpfen Nägel zu scharfen, schwarzen Klauen, die menschlichen Ohren spitz und das dumpfe Braun seiner Augen zu einem schimmernden, grauen Nebel. Kōhei blickte verstört auf den Kitsune, der kaum älter sein konnte als Shippō und vehement versuchte, einen vollständigen Satz hervorzustoßen: „Herr... ich bitte... es tut mir... .“ Nur um wieder abzubrechen. „Himmel, Yuu, beruhige dich“, sagte Saburō mit einem mal so geduldig, als hätten vorangegangene Gespräche nie stattgefunden. Der Junge schluckte einige Male. Leckte sich über die Lippen und sah gehetzt zu seinem Herrn auf: „Eure Mutter schickt mich. Er hat sie getötet. Der Fürst, meine ich. Er hat Hiromi-sama gestern Abend hinrichten lassen.“ Kōhei sah augenblicklich zu Saburō, der alle Farbe verlor und kein Wort hervorbrachte. Das tiefe Schwarz von Haar und Kleidung ließ ihn noch blasser wirken, während er eine Hand hinter sich an die Wand legte, um Halt zu finden. Er rang um Fassung, schien Worte auf der Zunge zu haben, die er nicht auszusprechen wagte. Kōheis Magen verkrampfte sich bei seinem Anblick. Er konnte zu deutlich nachempfinden, wie die blanke Gewissheit sich durch sein Gegenüber fraß, dass Frau und Kind verloren waren. Dass sein eigener Vater sie in seiner Abwesenheit hingerichtet hatte. Und warum? Sicherlich nicht, weil Hayato gefürchtet hätte, es vor seinen Augen zu tun. Nein. Dafür kannte Kōhei seinen Fürsten mittlerweile zu gut. Er hatte Saburō fortgeschickt, um seinem Sohn den letzten Funken nagenden Zweifels zu lassen, dass er etwas hätte ausrichten können, wenn er nur dort gewesen wäre. Ein unsinniger Gedanke. Er wäre machtlos gewesen, sobald sein Vater den Befehl auch nur ausgesprochen hätte. Das war eine Tatsache. Doch wessen Verstand wollte die Wahrheit wissen, wenn erst einmal Selbstzweifel gesät waren und die Realität zerfraßen? Wie oft hatte er schon den Tag ihres Todes in Gedanken rekonstruiert – hätte er sie retten können? Hätte sie auch ihn getötet? Wäre er gezwungen gewesen, ihr ein Ende zu bereiten? Und – hätte er gekonnt? „Akemi?“, hauchte Saburō schließlich tonlos. „Meine Mutter?“ „Sie sind wohlauf. Eure hohe Mutter versucht vergeblich Akemi-sama zu beruhigen. Sie gibt sich die Schuld den Handlungen Eures Vaters... .“ Saburō verengte die Augen. „Woran er sicherlich nicht unschuldig ist.“ „Er hat unmissverständliche Andeutungen in ihrem Beisein gemacht, dass es auch um ihretwillen geschehe“, erwiderte Yuu und zog den Kopf ein, als Saburō sich laut fauchend von der Wand abstieß. Er ging einige Schritte durch den Raum und wendete sich dann wieder an den Jungen. „Ruh dich aus und schaff dann die Pferde an den Hof zurück. Schick zwei Männer in die Berge. Sie sollen die Inuyōkai in der Hütte südöstlich des Kotobiki-Gipfels ungesehen nach Shōdo bringen.“ Der Junge nickte und huschte aus dem Zimmer. Nachdem er verschwunden war, wandte Saburō sich an langsam an Kōhei: „Ich muss zurück. Umgehend.“ Dessen Stimme war so tonlos, wie er es in Anbetracht dieser Nachrichten vermochte: „Ihr könnt unmöglich wollen, dass ich meinen Fürsten hintergehe – ein Amt, das ihr selbst einmal bekleiden wollt. Was würde Euch versichern, dass ich nicht auch Euch nach Belieben in den Rücken fiele?“ „Von dieser Position betrachtet, ist das ein Problem, Taishō. Allerdings nur ein Luxusproblem: Es wird keine Zukunft geben, in der ich Euch für die Loyalität gegenüber meinem Vater auf die Schulter klopfen kann. Ich werde tot sein. Oder etwas in der Art. Je nachdem, wie es um seine Laune bestellt ist. Ich werde Euch nicht vorschreiben, was richtig oder falsch ist oder Euch für die eine oder andere Entscheidung heimsuchen. Ihr riskiert auch Euren Kopf, sobald ihr einen Schritt in die falsche Richtung macht. Aber das wisst Ihr längst. Ich muss nicht zum Chor predigen.“ „Ihr werft mir Euer Leben vor die Füße.“ „Es liegt da schon eine Weile. Genau genommen schon seitdem mein Vater Euch als meinen Wachhund auserkoren hat. Ein Wort von Euch hätte genügt – ob wahr oder nicht. Diese Situation kommt nur viel zu verfrüht.“ Kōheis Nackenhaare stellten sich allmählich auf: „Ihr glaubt hoffentlich nicht, dass ausreichend Zeit an Eurer Seite meine Meinung ändern könnte.“ „Nicht?“, Saburō zog in üblicher Manier eine Braue empor und lächelte schließlich so erschöpft, dass Kōhei glaubte, zum ersten Mal den Mann hinter der Fassade zu sehen. „Dann muss ich mich im Anlass dieser Unterhaltung getäuscht haben.“ Kōhei blinzelte verdutzt, ehe er begriff, dass er gerade eiskalt Schachmatt gesetzt worden war. Die Öllampen fingen in ihren Fassungen am hellerlichten Tag Feuer, als sein Yōki durch den Raum schlug. „Ich würde Euch manchmal zu gern selbst erwürgen!“ „Ja. Ich weiß. Das höre ich erstaunlich oft.“ Saburō betrachtete eine der Lampen und stieß sie mit zwei Fingern aus ihrer Wandhalterung. Der Tatami schwelte einen Moment in schwarzem Dunst, dann fraß sich das Feuer lichterloh voran. Saburō trat über die Flammen und ging an Kōhei vorüber. „Ich will Euch in dieser Entscheidung auch im eigenen Sinne wirklich nicht drängen – aber ich habe keine Zeit. Er würde jeden töten, um mich leiden zu sehen. Ich muss zurück.“ Kōhei starrte in das Flammenmeer, das er hinterlassen hatte und wandte sich schließlich fluchend um, als das Feuer nach seinem grünen Kimono leckte, während es die Menschen längst verschlang. Dieser verdammte Bastard! ☾ Erneut drehte Tōtōsai die Klinge in den Händen. Der Griff war makellos, doch vom Klingenrücken zogen tiefe Scharten an die Schneide heran. Kratzer gabelten und verliehen dem Metall den gesplitterten Eindruck eines zerbrochenen Eis. An der Spitze war ein kleines Stück herausgebrochen und hatte eine scharfkantige Lücke im Stahl hinterlassen, die die Haut einriss, sobald man sie berührte. Vermutlich die ersten Tropfen von Blut, die Tenseiga jemals gefordert hatte. Dem Schmied setzte der Zustand der Waffe sichtlich zu. Er kämpfte mit den Tränen, während er wie betäubt auf sein Handwerk herabstarrte. Man mochte beinahe Mitleid mit ihm haben – auch wenn der Fürst das anders sah. „Ich habe einen Krieg zu führen, alter Mann. Kannst du es reparieren oder nicht?“ „Wie können mir seine Söhne das antun?“, murmelte er halblaut und schielte zur Myōga, der neben ihm saß. „Erst Tessaiga und nun auch noch Tenseiga. Es war sicherer, als es seiner Aufmerksamkeit noch nicht wert war!“ Sesshōmaru wurde ungeduldig: „Tōtōsai.“ Der richtete seine gewaltigen Augen auf den Fürsten und wurde so ernst, wie er es vermutlich nur in geschäftlichen Dingen vermochte, die seine eisernen Kinder betrafen: „Es ist nicht so einfach, wie du denkst. Das ist kein billiger Metallschrott, wie man ihn an jeder Ecke kaufen kann. Es braucht mehr als eine Esse und etwas Kitt, um eine solche Waffe neu zu schmieden – und auf nichts anderes läuft das hier hinaus. Du hättest bei den ersten Rissen kommen sollen, statt zu warten, bis es beinahe auseinanderbricht.“ „Es hält dem einzigen Zweck nicht stand, für den es taugt.“ „Es ist nicht für den Krieg gedacht, du Narr! Es ist fast nicht möglich, aber du bist bösartig genug, auch für diese Waffe einen Krieg zu finden, in dem du sie zerstören kannst! Hätte der alte Hund mich bei der Erbverteilung nach meiner Meinung gefragt, hätte ich ihm gleich gesagt, dass es in deinen Händen verschwendet ist! Aber wer fragt mich schon? Ich bin ja nur der Schöpfer!“ Er schnaubte wütend und stieß dabei dicke Rauchwolken aus seinen Nasenlöchern aus, die sämtliche Haare auf ihrem Weg versengten. Ryouichi bemerkte aus den Augenwinkeln, wie der Fürst die Kiefer aufeinander presste und schwieg. Wenn es so weiter ging, würde sich der Schmied um Kopf und Kragen reden und Tenseigas auf ewig verloren sein. „Ich bin sicher, dass Tōga-sama ausreichend Gründe für diese Entscheidung hatte, die anzuzweifeln uns nicht zusteht“, sagte er ruhig und bemerkte, wie Sesshōmaru ihm vernichtende Blicke zuwarf. „Sicherlich habt Ihr es nicht mit der Absicht geschmiedet, gegen eine Armee untoter Drachen zu bestehen. Keiner konnte diesen Wahnsinn erahnen. Aber nun stehen wir vor dem Problem und müssen es irgendwie lösen – und Tenseiga ist das einzige Mittel, das uns dieser Plage wieder entledigen kann. Sie haben den Westen angegriffen, den Palast zerstört und scharen neben den Panthern unzählige Mitläufer um sich. Wir sind auf Eure Hilfe angewiesen.“ „Und du bist?“ „Ryouichi ist der Generalleutnant des Fürsten“, murmelte Myōga seinem Freund zu, der unlängst begonnen hatte, seine Ohren akribisch mit den Fingernägeln zu säubern. „Ah. Was ist mit diesem anderen Kerl? Der Unausstehliche mit den Opalaugen.“ Der Flohgeist räusperte sich angestrengt und versuchte vehement, die Antwort möglichst gedrückt zu halten: „Ich fürchte, auch Yūsei-sama ist gegen das Alter genauso wenig gefeit wie wir. Er ist schon vor Jahrzehnten in den Ruhestand gegangen.“ „Tze. Absehbar. Er hatte damals schon mehr Haare auf den Zähnen als auf dem Kopf.“ Myōga wurde kreidebleich und warf einen panischen Blick in Ryouichis Richtung. Der blieb jedoch entgegen aller Erwartungen gelassen: „Da habt ihr offensichtlich etwas gemeinsam.“ Tōtōsai stockte über den Witz und begutachtete den Generalleutnant, als nehme er seine Anwesenheit erstmalig wirklich wahr, studierte die dunkelgrüne Maske und das Schwert in seinem Obi: „Ich dachte, die Inu von Sado verlassen ihre Insel in der Regel nicht?“ „Ich bin die Ausnahme der Regel.“ Der Alte blieb still, maß ihn nachdenklichen Blickes und lehnte sich schließlich ein Stück zu ihm vor: „Darf ich Euer Schwert sehen?“ Erst als Sesshōmaru mit einem knappen Nicken eingewilligt hatte, reicht Ryouichi die Waffe über das knisternde Feuer. Der Schmied zog es mit geübter Hand aus der Scheide und hielt es nah an die Flammen, die im tiefen Schwarz der Klinge ohne jede Spiegelung verschwanden. „Außergewöhnlich“, bemerkte er mit einer Spur von Ehrfurcht. „Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viele Jahrtausende an Fehlversuchen es gebraucht hat, bis jemand in der Lage war, ein zerbrechliches Material wie Obsidian in eine taugliche Waffe zu schmieden? Man könnte gleichsam mit Glas arbeiten. Es ist über alle Maßen erhabene Handwerkskunst... Ihr kennt nicht zufällig das Geheimnis dahinter? “ Ryouichi lachte hell auf. „Nein, Schmied. Ich fürchte, auch auf Sado ist es kein Allgemeinwissen.“ „Ihr arbeitet es auch in diese Masken ein, nicht wahr?“ „Ihr seid sehr scharfsinnig.“ „Aus dem zerbrechlichsten Material das wohl widerstandsfähigste zu formen... irgendwie müssen sie es dichter schmieden... bis es kein Licht mehr spiegelt...“ „Wenn es Euch derart interessiert, werde ich gern versuchen, Euch eine Speerspitze oder einen Dolch zukommen zu lassen“, Ryouichi legte die Hände auf den Oberschenkeln ab und lehnte sich ebenfalls vor. „Zumindest wenn Ihr uns nun die Ehre erweisen würdet, auf das Anliegen meines Herrn zurückzukommen.“ Tōtōsai sah auf und blinzelte von einem Hundedämon zum anderen, als habe er vergessen, dass sie da waren. Dann kratzte er sich am Kopf, bis einige Altersschuppen herunter rieselten und studierte ausweichend die Innenwände des Skelettes. „Ach...Tenseiga, ja... . Ich könnte es reparieren. Natürlich. Man müsste sich nicht einmal Gedanken darum machen, dass er damit ganze Landstriche verwüstet...“ „Wie lange?“, Sesshōmaru tat sich sichtlich schwer im Angesicht der Lage Geduld an den Tag zu legen. „Oh nein, so einfach ist das nicht. Warum glaubt diese Familie ständig, diese Dinge fielen vom Himmel? Erwartet ihr, dass ich es zweimal im Feuer wende und die Sache damit gegessen ist?“ „Du hast Tessaiga neu geschmiedet“, warf Myōga empört ein. „Ich war selbst dabei!“ „Ja“, schnarrte der Schmied höhnisch. „Danach war es etliche Kilo schwerer und kaum zu handhaben. Was denkst du wohl, was bei Tenseiga alles schief gehen kann? Inuyashas Fangzahn war bereits dürftiges Ersatzmaterial für das Schwert – dabei funktionieren Inuyasha und Tessaiga auf einer Wellenlänge. Tenseiga und er hier hingegen... .“ Er warf einen knappen Blick auf Sesshōmaru und zuckte sichtlich zusammen, als er das tödliche Gewitter bemerkte, das in dessen goldenen Augen tobte. „Ich... ich meinte nur... Ihr werdet mir kaum widersprechen können, dass das Retten von Leben nicht zwingend Eure größte Stärke ist. Ihr mögt über die Jahre an den Aufgaben Eures Vaters gewachsen sein und Sorge und Leid auch für andere empfinden, aber zwischen Euch und dem Zweck dieser Waffe liegen Welten. Würde ich versuchen, Tenseiga mit Teilen Eures Körpers zu retten, würde ich es dabei vernichten.“ „Ich verstehe“, Myōga zupfte nachdenklich an seinem ergrauten Schnurrbart. „Du brauchst einen selbstlosen Charakter... jemanden wie Tōga-sama... .“ Tōtōsai winkte ab. „Bist du senil? 'Jemanden wie' wird es nicht geben. Der alte Hund hatte beides: Die Entschlossenheit und Stärke, seine Feinde zu töten, und Züge wie Verantwortungsbewusstsein und Milde, die es braucht, die Schwächeren zu schützen. Eigenes Leben und Macht nicht über alles zu setzen. Einen Dämon zu finden, der nur dem Letzteren entspricht, ist unmöglich. Vermutlich findet man auch bei den Menschen so jemanden nicht und das würde uns ohnehin nicht weiter bringen. Es braucht einen Yōkai. Derjenige muss kein Heiliger sein, aber er sollte den inneren Werten der Waffe eher entsprechen als ihr derzeitiger Besitzer. Sonst ist es nachher doch nur ein Haufen wertloser Stahl.“ Ryouichi bemerkte, wie der Fürst sich neben ihm sichtlich verspannte. Er konnte die Worte des Schmieds unmöglich als Beleidigung aufgefasst haben, entsprachen sie doch nur dem Selbstbild, das er ohnehin von sich hatte und schätzte. Die für Tenseiga erforderlichen Charakterzüge hatte er an seinem Vater zwar nie direkt verurteilt, das hätte er niemals gewagt, doch machte er sie für dessen frühen und unehrenhaften Tod verantwortlich. Zumindest dann, wenn er nicht gerade versuchte, diese Schuld auf Inuyasha abzuwälzen, den zu beschuldigen ihm offenkundig leichter fiel, als die Unfehlbarkeit seines hohen Vaters anzuzweifeln. Sein Zorn galt daher eher weniger Tōtōsais Einschätzung gegenüber seiner Person als vielmehr der Tatsache, dass sich Tenseigas Wiederherstellung schwieriger gestaltete als erhofft. Ryouichi sah ihn aus den Augenwinkeln an und schluckte. Die derzeitige Situation setzte dem Fürsten ungemein zu. In Krieg allein ging er auf. Er hatte niemals einen Kampf gescheut, nie an sich gezweifelt, wenn es um seine Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld ging. Doch diese Gegner starben nicht. Sein Sohn war spurlos verschwunden, vermutlich bereits tot. Seine Mutter schwer verletzt. Der Palast der Familie zerstört. Und nun hing alles an der Waffe, die er stets verachtet hatte. „Was ist mit Euch, Chūyō?“ Aus den Gedanken gerissen fuhr Ryouichi zu dem Flohgeist herum. „Was soll mit mir sein?“ „Es ist taktlos von mir, als Außenstehender darüber zu sprechen, aber im Angesicht der Umstände...“, der alte Flohgeist nestelte an seinem Ärmel herum. „Ich war bei meinem Meister, als er Euch in den Katakomben der Drachenfeste gefunden hat. Niemand wird sich je anmaßen, das, was Euch dort widerfahren ist, zu bemessen, doch hätte es den Rahmen der Loyalität bei den meisten gesprengt. Eure jedoch ist ungebrochen. Ihr seid selbst danach noch im Dienst verblieben, habt die Festung im Namen des Fürsten geführt und sie umgehend wieder abgetreten, als er zurückkehrte. Ihr nehmt sogar erneut den Kampf gegen diese Bestien auf, wenn man es von Euch verlangt. Ihr und der Fürst -“ „Ich diene, Myōga. Das ist alles.“ Es war ihm härter über die Lippen gekommen, als er es beabsichtigt hatte, doch zumindest schrumpfte der Flohgeist ein wenig zusammen und brachte seine Ausführung nicht zum Ende. Er wollte nicht mehr hören, wie andere sein Handeln einordneten. War die Spekulationen und das Gerede leid. War es leid, dass sich Bilder ungefragt in seinen Geist schlichen wie winzige Parasiten, sobald jemand diese Ereignisse auch nur andeutete. Nein, sie konnten sich nicht vorstellen, was passiert war. Und sie sollten es auch nicht. Es war seine Entscheidung gewesen und es war vergangen. Lange vergangen und wert, endlich vergessen zu werden. Er hatte keine Ruhm gewollt, kein Mitleid, keinen Dank. Nichts davon. All das zählte im Tode nicht. Und nur dessen war er sich sicher gewesen – sicher bis zu dem Moment, als Sesshōmarus Vater ihn des Todes entrissen hatte. Er hatte nie ahnen können, dass es nicht sein Ende sein würde. Und nun war es vorbei. Lag viele Jahrhunderte zurück und gehörte einem anderen, fernen Leben an, das mit dem Jetzt nichts mehr zu tun hatte. Absolut gar nichts! Nie wieder - „Chūyō.“ Er stockte, als der Fürst ihn ansprach und hatte einige Mühe, sich im Raum zurechtzufinden. Seine Hände legte er im Schoß zusammen, um das Zittern zu unterbinden, das sich in seine Nerven geschlichen hatte. Das hatte gerade noch gefehlt. „Du bist der Junge, den Tōga an die Drachen verloren hat“, folgerte Tōtōsai und seine ohnehin schon großen Augen nahmen noch an Umfang zu. „Er hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht, überhaupt auf diesen Handel eingegangen zu sein. Aber ich dachte, der Junge sei wahnsinnig geworden? Und auch der Name war lächerlich passend zu so viel Selbstaufgabe... wie war das noch gleich? Irgendwas mit 'Hilfe'.“ „Daisuke“, half Myōga ihm aus und blickte umgehend entschuldigend zum Generalleutnant. Der Name klang weiterhin falsch in seinen Ohren und auch dem Flohgeist schien er nur schleppend über die Lippen zu kommen. Sesshōmaru hatte ihn vor einigen Monden benutzt und sich gleichsam schwer getan, als sei der Name allein ausreichend, um all das wieder hervorzubringen, das längst in die Vergangenheit verbannt gehörte. „So heiße ich schon lange nicht mehr.“ Ryouichi hatte einige Mühe, seine Stimme zu festigen und sämtliche Gedanken aus seinem Verstand zu fegen, die mit dem Anlass ihres Besuches nichts zu tun hatten. „Sollte ich aber irgendwie dienlich sein können, nehmt von mir, was Ihr braucht.“ „In angemessenem Maße“, korrigierte der Fürst hart und sah Ryouichi warnend an. Dem stellten sich umgehend die Nackenhaare auf: „Du brauchst dieses Schwert, Sess!“ „Wag' es nicht, dich mir zu widersetzen!“ Die Flammen im Feuer loderten auf und schlugen unter dem peitschenden Yōki achtlos um sich, versengten Tōtōsai den Bart und zerfraßen einige kleinere Holzscheite in Sekundenbruchteilen zu Glut. „Es wird nicht funktionieren.“ Augenblicklich kehrte Ruhe ein. Die beiden Männer betrachteten den Schmied mehr oder weniger irritiert, während er beiläufig die Funken aus seinem Barthaar schnippte. „Wie auch immer er sich nun nennen mag, er ist derselbe wie damals. Heißt, er war bereits tot und weilt nur durch Tenseiga unter uns. Damit ist er für dieses Unterfangen wertlos.“ Sesshōmaru erkannte gleich den Kern der Problematik: „Gibt es eine Verbindung?“ „Natürlich. Gäbe es keine Verbindung zwischen Tenseiga und denen, die es rettet, könnte man sie vermutlich unendlich oft wiederbeleben“, schnarrte Tōtōsai, als müsse er gerade jemandem erklären, dass Feuer Luft zum Brennen benötigte. Der Fürst überging den Ton erstaunlich anstoßlos: „Was also, wenn Tenseiga gänzlich zerbricht?“ „Fraglich. Vielleicht stirbt er. Nichts, was man testen wollen würde.“ „Was schlussendlich bedeutet, dass wir es gar nicht mehr einsetzen können, wenn wir nicht alle gefährden wollen, die durch dieses Schwert noch leben“, folgerte Ryouichi und schob die Maske zurück, um sich mit der Hand durch das pechschwarze Haar zu fahren. „Ihr solltet es vermutlich besser nicht mehr bei Euch tragen. Jeder weiß, dass Ihr diese Waffe besitzt und die Drachen werden versuchen, sie um jeden Preis zu vernichten.“ „Tenseiga wird hier bleiben“, entschied der Fürst und musterte den Schmied. „Repariere es notdürftig, solange wir nach einem passenden Yōkai suchen.“ Tōtōsai, der eben noch fasziniert in Ryouichis Gesicht gestarrt hatte, fuhr aufgebracht herum: „Hier? Bist du wahnsinnig? Sie machen mir den Garaus, wenn sie hier auftauchen!“ „Werden sie nicht. Ihr behaltet nur die Waffe selbst und wir bestücken die Scheide mit einem einfachen Schwert aus dem Arsenal. Sie werden sich bereits jetzt fragen, warum Sesshōmaru-sama die Waffe nicht mehr benutzt, aber Euch kennen sie nicht. Solange sie glauben, dass er Tenseiga trägt, gehen wir kein zusätzliches Risiko ein. Dann ist es hier erst einmal sicher.“ „Ausgeschlossen –.“ „Tōga-sama hat stets nur Krieg geführt, wenn es unerlässlich war – und die Drachen hat er mit aller Macht verfolgt. Er wusste, wie gefährlich sie für das ganze Land waren. Wollt Ihr das Werk Eures Freundes mit Füßen treten?“ „Grah!“, Tōtōsai schlug mit der Faust auf den warmen Gesteinsboden. „Ist ja schon gut! Das ist ein ganz mieser Trick, Inu! Völlig unangebracht. Aber ich mache es. Ich behalte Tenseiga hier. Denkt nur nicht, dass ich mich von hier fort bewegen werde. Sicherlich nicht, solange untote Drachen durch die Gegend streifen! Ihr werdet mich mit Material versorgen – und mit allem, was ich sonst noch benötige. Egal, was ich verlange.“ „Was sicherlich nicht nur Schmiedematerial umfassen wird“, riet Myōga spitz. „Worauf du Gift nehmen kannst, Floh. Ich habe meinen Hals schon oft genug für Tōga riskiert – eingeschlossen der etlichen Male seit er tot ist. Ich werde zu alt für diese Spielchen.“ Sesshōmaru ließ die aufkochende Diskussion kalt: „Du bekommst, was du brauchst. Solltest du mich jedoch hintergehen oder warten lassen, streiche ich die Wände dieser Hütte mit deinem Innenleben.“ „Ganz ohne Morddrohung konnte das hier nicht enden, eh?“, gnarzte der Alte abfällig. „Ich werde tun, was ich kann. Aber wem ich nun einen Zahn ausreiße, ist allein meine Entscheidung. Eine Fehleinschätzung würde niemandem nützen.“ „Gut.“ „Das werden wir sehen“, murmelte Tōtōsai, dem man die Gewissheit, eine ziemlich dumme Entscheidung getroffen zu haben, deutlich im Gesicht ablesen konnte. Es hätte Ryouichi kaum gewundert, wenn er vor Verzweiflung in Tränen ausgebrochen wäre. Vor einigen Jahrtausenden hätte er es vielleicht noch aufregend gefunden und wäre mit Elan an die Arbeit gegangen, doch er schien müde. Ein wenig wie Yūsei, den er so offenkundig verschmähte. Sie hatten zu viele Kriege erlebt, zu viele Mitstreiter verloren. Der Schmied wandte sich an den einzigen, der ihm geblieben war: „Was ist mit dir, Floh?“ Der kleine Mann wich dem Blick aus. „Ich werde Sesshōmaru-sama begleiten.“ „In den Krieg?!“, Tōtōsai machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Schock zu verbergen. „Du? Du bist das feigste Insekt dieses Planeten. Warum solltest du das wollen?“ „Ich werde auf den Jungen warten...“, er rang mit seinen vielen Händen. Seine Stimme war dünn. „Wenn er zurückkommt und ich bin nicht da, wird er denken, ich hätte ihn bei der ersten Gelegenheit verlassen. Das kann ich ihm nicht antun.“ „Was für ein – Moment. Du begleitest doch wohl nicht diesen ausgemergelten Wildfang vom letzten Frühjahr? Ich dachte, der wäre mit seiner Einstellung längst tot! Für ein Versprechen zwischen die Fronten! Pah!“ „Er – ist – nicht – tot!“, fauchte der Flohgeist wütend und lief puterrot an. „Wir haben ihn nur noch nicht gefunden, verstanden? Sieh' zu, dass du Tenseiga in Stand setzt, alter Mann! Ich werde diesen Jungen nicht verlieren, mir egal, was es kostet!“ „Grundgütiger, Myōga!“, der Schmied fächerte ein wenig mit den Händen vor ihm herum. „Hol Luft. Du siehst schon aus wie eine vollgesogene Zecke. Außerdem bist du zu alt, dich wegen eines so jungen Hundes -.“ Er hielt inne als sei ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen und sah aus den Augenwinkeln zum Fürsten empor, dessen Aura wie ein Unwetter unter der Zimmerdecke zuckte und die ohnehin schon stickige Luft bedrohlich drückend werden ließ. „Oh, scheiße...“ „Lass mich nicht warten, Tōtōsai“, mahnte Sesshōmaru abermals. „Ich brauche diese Waffe.“ „Ich verstehe“, erwiderte der knapp. Offenbar hatte er begriffen. Damit ging der Fürst hinaus. Myōga folgte ihm auf dem Fuße und ließ sich wie selbstverständlich auf seiner Schulter nieder. Die feinen Haare des Fells mied er dabei weiträumig und warf einen letzten, fast entschuldigenden Blick zu seinem alten Freund, der ihm mit offenem Mund nachstarrte – sicherlich da er nicht fassen konnte, was er gerade erlebte, aber auch, weil er sich fragte, welche Frau wohl wahnsinnig genug sein mochte, sich mit dem Fürsten des Westens einzulassen. Ryouichi nahm sein Schwert aus dem Schoß des perplexen Greises und verabschiedete sich, ehe er dem Fürsten nachging, der draußen auf ihn wartete. Die trockenen Windböen außerhalb der Hütte waren durch die Sommersonne noch wärmer und wirbelten die dichte Vulkanasche auf. Im Haar und auf der hellen Kleidung des Fürsten war sie kaum zu sehen. „Ich will, dass Ihr nach Sado zurückkehrt.“ Es war, als hätte man Ryouichi ein Fass voll Eiswasser über den Rücken geschüttet. Er hatte den Tag gefürchtet, an dem er für den Fürsten nicht mehr tragbar war. An dem er wieder an den Ort geschickt werden würde, der niemals eine Zukunft für ihn bereitgehalten hatte und nicht als sein Grab werden würde. Im Grunde war es verwunderlich, dass dieser Zeitpunkt nicht schon vor Jahrhunderten gekommen war. Das machte ihn aber nicht weniger schmerzlich. „Wie Ihr wünscht, Herr.“ Er versuchte standhaft zu sein, doch klang er dennoch betrübt. Er hatte kein Recht, diese Entscheidung anzuzweifeln, hatte er doch seine Eignung oft genug selbst in Frage gestellt. Es war richtig so. Der Fürst konnte in diesen Zeiten niemanden gebrauchen, auf den er sich nicht in allen Situationen verlassen konnte. „Narr. Du missverstehst mich. Ich brauche dich auf Sado. Natürlich könnte ich Jaken schicken, aber sie würden ihn vermutlich auf einen Spieß stecken und über dem Feuer rösten, ehe er den Mund aufmachen kann. Die Krieger von Sado hören nur auf ihresgleichen. Wenn du Takanao bittest, dem Westen im Kampf beizustehen, werden sie dem Ruf folgen.“ „Ich war nicht mehr auf Sado, seit Ihr und Euer Vater mich damals mit an den Hof genommen habt. Das ist über fünfhundert Jahre her. Eine vollkommen andere Zeit. Ein ganz anderes Leben. Ihr überschätzt meinen Einfluss maßlos.“ „Genug davon! Fünfhundert Jahre und du fürchtest dich vor dir selbst wie am ersten Tag. Ich habe damals nicht begriffen, warum dein Volk seine eigene Stärke fürchtet und will es auch gar nicht. Wären sie der Vernunft zugänglich, würdest du sie führen. Niemand sonst!“ Er hielt inne, als er selbst bemerkte, dass er unangemessen laut geworden war und sprach erst nach einiger Zeit weiter, in der keiner der beiden sich auch nur rührte. „Aber nun bist du Generalleutnant des Westens und als solcher kehrst du nach Hause zurück. Nicht als Untergebener deines Bruders. Mach ihnen klar, dass uns ein Krieg bevorsteht, der auch ihr Ende sein wird, wenn wir ihn verlieren. Ich brauche diese Krieger. Jeden einzelnen.“ „Ich verstehe. Ich werde gehen“, versicherte Ryouichi. „Ich fürchte nur, dass sie auch mit einem Bindeglied schwer zu überzeugen sind. Sie haben die Insel seit Akayas Zeiten nie verlassen. Aber ich werde tun, was immer nötig ist, um sie dazu zu bringen.“ „Davon bin ich überzeugt.“ Sesshōmaru lächelte schmal genug, um dem Flohgeist auf seiner Schulter das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Der Fürst wusste sehr genau, wie weit Ryouichi für ihn gehen würde. Entweder die Inu Sados erklärten sich bereit, Ryouichis Ruf zu folgen oder ihre Schauergeschichten würden nach Jahrtausenden erneut wahr werden, wenn erst einmal ihr eigener Daiyōkai die Insel in Schutt und Asche gelegt hatte. „Denk an den Suchtrupp, bevor du aufbrichst und schick mir bei deiner Rückkehr umgehend einen Boten. Ich werde noch einmal selbst nach ihm suchen.“ Sesshōmaru strich mit der Hand durch seinen Nacken und versuchte die Muskeln zu lockern. Es war schwer zu übersehen, wie ihm die Situation zusetzte. Dass er nun die Inu über die Küstengrenze hinweg zusammenzog, verdeutlichte, wie nah sie am Abgrund standen. „Wir werden ihn finden“, versicherte Ryouichi. „Selbst wenn sie ihn getötet haben. Die Frage ist nur wann. Vielleicht solltet Ihr Euch einen Moment ausruhen und andere für Euch suchen lassen. Ihr seht müde aus.“ „Sei nicht albern. Es ist Hōnshu“, konstatierte der Fürst glatt. „Tot oder lebendig – wie lange kann es schon dauern?“ Kapitel 46: nicht blind zu folgen. ---------------------------------- Einige Stunden, länger hatte die Reise an den Hof nicht gedauert. Das war in mehrerer Hinsicht zu schnell gegangen. Die vergangenen Tage, in denen sie gemächlich durch den Wald gezockelt waren – die Zeitspanne hätte Kōhei gebraucht, um einen Ausweg aus diesem tödlichen Dilemma zu finden, das sich sein Opfer lediglich noch nicht ausgesucht hatte. Denn ob jemand sterben würde, das war längst nicht mehr Gegenstand irgendeiner Überlegung. Wobei Kōhei das dumpfe Gefühl beschlich, das man von ihm erwartete, dem unentschlossenen Gevatter Tod die nächste Beute schmackhaft zu machen wie einem Kleinkind das Gemüse – und Saburō warf sich mit derart offenen Augen in den Abgrund, das man es kaum mitansehen mochte. Die Geschwindigkeit hatte Kōhei nicht nur um seine wertvolle Bedenkzeit gebracht, die, wenn er ehrlich war, auch in einigen Jahren noch keine sinnvollen Ergebnisse geliefert hätte. Viel närrischer war die Menge an Energie, die dieses Unterfangen eingefordert hatte. Yōki war eine feine Sache, aber auch nicht unerschöpflich. Gerade Kitsune, die einen schmalen Pfad zwischen verehrtem Naturgeist und gefürchteten Dämon beschritten, waren Grenzen gesetzt, die man nur mit viel Selbstdisziplin, Fleiß und Erfahrung zu seinen Gunsten verschieben konnte – und selbstzerstörerische Dauersprints in Elementarform fielen eindeutig nicht darunter! Saburō schien hingegen geübter oder von Wut beflügelt, denn obwohl dieser wahnsinnige Noch-Erbe nur mit wenigen Sekunden Vorsprung abgereist war, hatte Kōhei ihn nicht einholen können. Er landete erst auf dem Palastvorplatz, als Saburō längst im Palast verschwunden war. Sobald er wieder Gestalt angenommen hatte, machte sein Körper deutlich, was er von einem derartigen Umgang hielt: Mit Hochdruck rauschte ihm das Blut durch die Ohren und seine Seite fühlte sich an, als habe ihm jemand einen Dolch in die Milz gejagt. Wie ein blutiger Anfänger! Die Wachen am Haupteingang rührten sich nicht, doch waren sie deswegen noch lange nicht blind und taub. Mühevoll versuchte der General seine übliche Leichtfüßigkeit aufrecht zu halten und nicht so auszusehen, wie seine Rekruten nach einem Strafmarsch. Das Gerede hätte ihm sonst die nächsten Jahrhunderte nachgehangen. Also Schritt halten, die Atmung in ruhige Bahnen zwingen, gelassen aussehen. Andererseits – warum noch um die Außenwirkung sorgen, wenn das Innenleben zu erkalten drohte? Je nach Laune des Fürsten und Wendung in diesem Chaos waren sie bereits verloren – Saburō ohnehin, nachdem er nun ausgelaugt und unvorbereitet mit wehenden Fahnen ins Verderben rannte. Am Liebsten hätte Kōhei diesen Bastard gepackt und geschüttelt, bis seine Zähne aufeinander schlugen und der Verstand wieder an die richtige Stelle rutschte! Was dachte er sich dabei, ihm diese Entscheidung vor die Füße zu werfen, als handle es sich um einen dreckigen Lappen? Leben präsentierte man auf einem Silbertablett mit viel Bitte und einer Garnitur aus Wehmut – nicht dahingespuckt wie ausgekotzt. Saburō mochte scharfzüngig und beunruhigend manipulativ sein, aber die Gemütssprünge des Fürsten waren nicht kalkulierbar, wenn man sie nicht am eigenen Leib erfahren hatte. Die Hinrichtung seiner Begleitung war dabei nichts als ein Auftakt und die Tatsache, dass die Leiche der Dame sie nicht am Haupttor angenagelt begrüßt hatte, eher schlechtes Vorzeichen als Entwarnung. Die Anspannung innerhalb der Festungsmauern war spürbar. Ein Zeichen, dass die Geschehnisse der letzten Nacht bewusst nicht hinter verschlossenen Türen gehalten worden waren. So war es Jirō der ihm als erster auf den Fluren den Weg abschnitt. Seine Augen huschten unruhig über die kreuzenden Gänge und ruhten schließlich auf seinem General. „Der Fürst -“ „Ich weiß.“ Er wollte vorübergehen, doch Jirō trat ihm entgegen. „Wenn ich mir anmaßen darf Euch einen Rat zu geben: Wartet, bis er nach Euch schickt.“ Kōhei schüttelte den Kopf und ging vorüber. Er bemerkte, wie der Riese sein Gewicht unbehaglich verlagerte. „Hat das Zeit bis nachher?“, erkundigte er sich nach dem Unausgesprochenen. „Ja. Aber es wird Euch interessieren.“ „Dann nachher.“ Der General ließ den Vertrauten stehen und beschleunigte seine Schritte durch die leergefegten Gänge. Bei rund vierzig direkten Nachkommen, einem guten Dutzend Wachen allein für den offiziell zugänglichen Bereich des Palastes und sicher doppelt so vielen Köpfen Dienerschaft war diese Leere verwunderlich. In der Regel herrschte hier reges Treiben – wenn sich nicht jeder seiner Haut wehrte und vor dem Gemüt des Fürsten in die nächste Versenkung duckte. Die Fusuma zum Empfangssaal standen offen, als Kōhei sich ihnen näherte. Saburō war unmittelbar hinter der Schwelle stehen geblieben und hatte ihm den Rücken zugewandt. Der eisernen Stille nach, die ihn umgab, war er allein. Kōhei trat bewusst lauter auf, während er sich ihm näherte – und erstarrte ebenfalls im Türrahmen. Manchmal verfluchte er die Akuratesse seiner Einschätzungen – auch wenn sein Vorstellungsvermögen der schlimmstmöglichen Szene die Wahrheit um mehrere Stufen unterbot. Hayato hatte die Kitsune nicht einfach hingerichtet. Er hatte sie ausgeweidet. Ihr Innenleben über mehrere Meter verteilt und sie in ihrem eigenen Blut auf dem Tatami der Empfangshalle verrecken lassen. Der Gestank war eine unerträgliche Mischung aus Verwesung und eingetrocknetem Körperinhalt. Scharen von Fliegen hatten sich seit dem Vorabend auf der Leiche versammelt und liefen über ihre in der Sommerhitze längst geschlüpften, sich windenden Nachkommen. Den hübschen Kopf des Mädchens hatte der Fürst jedoch nicht angerührt. Er steckte immer noch an ihrem schlanken Hals, unversehrt. Nicht geköpft. Der Hohn schrie jedem Zeugen ins Gesicht: Er hatte sie leiden lassen bis zum bitteren Ende. Bis ihr Leben sie verließ und die dunklen Augen nur Leere fanden. Wenn dies der Umgang mit einem unschuldigen Mädchen war, dessen einziges Vergehen die Liebe zum falschen Mann darstellte... Kōhei wurde zum ersten Mal in seinem Leben wirklich schlecht. Wo dunkle Augen eben noch fahl zur Decke gestarrt hatten, schimmerte dumpf ein schwacher Goldton, klebten weiße Strähnen im angetrockneten Blut. Nein. Das war nicht real. Das war sie nicht. Sie war längst nur noch Knochen. Er hatte sie nicht sterben sehen. Wusste nicht, wie sie ausgesehen haben mochte. Was er ihr angetan hatte. Saburōs Frau. Hiromi. Nicht Reika. Die verdrehte, unfertige Gestalt vor Saburōs Füßen nicht Minoru. „Du bist schon zurück?“, die Stimme des Fürsten ließ Kōheis Blut in den Adern gefrieren. Jegliches Gefühl stellte seine Existenz ein. Es war als habe man seinen Geist so leer gefegt wie die Gänge, bis er das Nichts in seiner Brust physisch spüren konnte. Unmittelbar hinter dem Brustbein. Wenn er einatmete, legte sich seine Lunge allein um diesen Abgrund. Er nahm wahr, wie Hayato an ihm vorbeischritt und begriff es doch nicht; als liefe das Leben an ihm vorbei, einfach ohne ihn weiter. „Sehnsucht? Deine Liebste hat sich ohne dich nicht besonders gut gehalten. Zäh, aber enttäuschend.“ Er blieb mit einigem Abstand zu seinem Sohn stehen und musterte dessen Züge, als wolle er nicht riskieren, irgendeine Nuance seiner Reaktion ungesehen verstreichen zu lassen. Er genoss es sichtlich, als ihm Abscheu wie Hass ungezügelt heiß entgegenschlugen. Dann fiel sein Blick auf das Bündel unter Saburōs Arm. „Was hast du mitgebracht?“ Der Silberfuchs ließ die Klauen über den Stoff gleiten, als streichle er den darunterliegenden Schädel. „Einen Fehler“, antwortete er ohne jedweden Klang in der Stimme und warf ihm den Kopf der Inu, die keine war, plump vor die Füße. Er rollte aus dem Stoff und blieb auf der Wange liegen, die Haut mittlerweile weiß von der Blutleere. Kōhei hatte erwartet, dass Saburō die Nerven verlieren würde, vor Wut und Hass und Entrüstung rasen; seinen Erzeuger verwünschend, jegliche Hemmung verlierend. Doch er war verstörend gefasst. Hier standen sich wahrlich zwei Bestien gegenüber, deren Abneigung füreinander jedes andere Gefühl überschattete. Aus der Kehle des Fürsten löste sich ein halbherziges Lachen: „Fehler? Ich erwürge dich mit den vertrockneten Eingeweiden deiner Hure, wann immer mir der Sinn danach steht – also wähle deine Drohungen weise.“ „Ich muss euch nicht drohen. Euer Ende ist geschrieben, seit Ihr Euch mit dieser Hexe eingelassen habt.“ Der Fürst stieg über den Kopf hinweg und packte seinen Sohn grob am Kiefer, zwang ihn die wenigen Zentimeter hinauf zu sehen, um die er ihn überragte. „Sie fürchten sich vor dir. Der Rat, die Soldaten, jeder närrische Diener. Weil du es wagst, mich herauszufordern. Weil deine kindischen Spielchen ihnen Überlegenheit und Verstand vorgaukeln. Possenreißer. Ich hätte dir als Säugling den Kopf abbeißen sollen. Das hätte deiner Mutter Gehorsam gelehrt. Stattdessen muss ich mich nun mit deiner Existenz und ihrem nächtlichen Unwillen herumplagen. Du hast nützliche Eigenschaften, die du mir angedeihen lassen wirst. Vielleicht sehe ich dann davon ab, dasselbe hier mit deiner Mutter zu tun. Du liebst deine Mama, nicht wahr? Dann sollte das ein Geschäft sein, das auch für deinen verdrehten Verstand deutlich genug formuliert ist.“ Er ließ Saburō los, nur um ihn im nächsten Moment mit der Schwertscheide zu Boden zu schlagen. Seine Lippe war aufgeplatzt, als er sich inmitten der Eingeweide wieder hochstemmte. Der Fürst trat währenddessen auf den am Boden liegenden Kopf, im Glauben, es sei seine einstige Verbündete, und drehte ihn mit einem verächtlichen Tritt. „Was meinen Untergang anbelangt, den du so sehr herbeisehnst, so wird er sich wohl auf unabsehbare Zeit verschieben: Sesshōmaru hat andere Sorgen als mich. Die Drachen haben seine Festung niedergebrannt, seine Mutter leider nur beinahe umgebracht und seinen Sohn in den Osten entführt, wo er allerdings nie angekommen ist. Es soll einen Zwischenfall in den Ebenen gegeben haben. Seither ist der Junge verschwunden – und da selbst die schnüffelnden Köter ihn bislang nicht finden konnten, vermutlich tot. Der Westen ist am Ende. Unsere Truppen sind an die Grenze verlegt. Es wird sich zeigen, in welche Richtung der Hund beißt, wenn man ihn in die Ecke drängt.“ Der Klang der Worte sickerte in Bruchteilen in seinen Verstand, doch das dumpfe Gefühl schirmte Kōhei von der Außenwelt ab. Sein Blick war weiterhin auf die Überreste der Frau gerichtet, in deren Innereien Saburō sich langsam wieder auf die Beine brachte. „Was ist mit dem Rest der Leiche, Kōhei?“ „Verbrannt.“ Es dauerte, bis er begriff, dass er angesprochen worden war und nochmal so lange, bis ihm bewusst wurde, dass das Wort seine Kehle von allein verlassen hatte. Er hob den Blick zu seinem Fürsten, mit gefasster aber leerer Stimme. „Ich bestand darauf, Euch Kopf und Rumpf zu bringen. Wir nahmen sie mit in das Gasthaus, in dem wir als menschliche Gäste untergekommen waren. Als jedoch ein Bote mit Nachrichten der hiesigen Geschehnisse kam, verlor Saburō-sama die Fassung.“ Er blickte erneut zu dem dunklen Fuchs hinüber und doch durch ihn hindurch. „Wir wurden enttarnt. Ich tötete zwei Samurai und brannte das Gasthaus nieder. Den Rumpf ließ ich auf den Befehl des Kōtaishis zurück. Er hätte die Rückreise verzögert. Wünscht Ihr, dass ich veranlasse, die verbliebenen Knochen zu Euch zu bringen?“ Der Fürst musterte ihn eine Weile, dann winkte er ab. „Lasst nur den Kopf in Salz konservieren. Mehr brauchen wir nicht. Ich habe Euch ohnehin zu viele Aufgaben jenseits Eurer Pflichten aufgebürdet. Die Männer geraten ohne Euch in Unruhe.“ „Ganz wie Ihr wünscht“, erwiderte der General folgsam und verneigte sich tief. Seine Männer waren es gewohnt, die Befehle direkt von ihm zu erhalten. Wahrscheinlich irritiert es sie, wenn nun jemand anderes an sie herangetreten war. Hatte der Fürst nicht etwas von einem Zwischenfall mit dem Westen gesagt? „Meine Unzulänglichkeit, die Truppe auf meine Abwesenheit vorzubereiten, ist unentschuldbar. Ich werde mich dieses Defizits schnellstmöglich annehmen.“ „Sobald es Euch möglich ist, werdet Ihr an den Grenzen zu ihnen stoßen. Bis dahin aber solltet Ihr Euch ausruhen. Ihr seht blass aus.“ „An den Grenzen“, wiederholte Kōhei bedeutungslos und überlegte fieberhaft, wie das ins Bild passen sollte. Dass der Fürst auf ihn zutrat, nahm er nur verschwommen wahr: „Ist Euch nicht wohl, General?“ „Der Rückweg war ein wenig -“, Kōhei griff hinter sich und hielt sich im Türrahmen fest. Der Boden schwankte bedrohlich. „Verzeiht.“ „Jirō!“, die Stimme des Fürsten knallte einer Peitsche gleich über die Flure. Dann wandte er sich an seinen Sohn. „Was hast du mit ihm angestellt?“ „Gar nichts!“ „Ist das deine Art von Rache?“ „Ich habe Euren teuren General nicht angerührt!“ Es war nur ein schwer verständliches Murmeln, das Kōhei noch zustande brachte. Dann verlor er gänzlich den Boden unter den Füßen. In der Ferne donnerte die Stimme des Fürsten, gellten Schreie durch den Palast, die Kōhei noch weiter fort trieben. Jirōs tiefe Stimme brummte beruhigend über ihm, während der Riese die unauffälligsten Wege wählte, um den General zu seinen Gemächern zu schaffen. „Ich lasse Eure Eskorte in Bereitschaft versetzen“, versicherte er. „Sobald Ihr Euch erholt habt, brechen wir auf.“ ☾ Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit er die Augen auf einem Federbett aufgeschlagen und betäubt von all diesem Lärm und Gestank in die Leere gestarrt hatte. Drei Jahre, die sich hingeschleppt hatten wie lange, nervenzehrende Jahrzehnte. Der Anfang war ein Albtraum gewesen. Er hatte sich die Krallen am Grunde des Brunnens blutig gekratzt. Hatte tagelang auf dem Rand gesessen und in die dunkle Tiefe gestarrt – bis zur Erschöpfung. Es gab kein Entkommen. Der Knochenfressende Brunnen kümmerte sich nicht um sein Toben. Regte sich nicht durch Flehen oder Warten. Zu akzeptieren, dass er machtlos war, dass weder Verzweiflung noch Verharren irgendetwas ändern würden, war schmerzlich gewesen. Bittere Resignation. Jeder Schritt voran, jede Annäherung an diese Welt, hatte sich wie eiskalter Verrat angefühlt. Gleich was er tat, es war entweder aussichtslos oder falsch – bis er verstanden hatte, dass dies die Ängste eines verzweifelten Kindes waren. Eines Kindes, das ein Urteil fürchtete. Sich selbst handlungsunfähig machte, weil es jede Entscheidung nach der Außenwirkung bemaß und nicht nach ihrer Effizienz. Es existierte keine höhere Macht, die tröstete, wenn man nur laut genug weinte und Erbarmen zeigte, sobald man es nur besonders intensiv wünschte. Hätte es sie jemals gegeben, hätte ein Blitzschlag seine Mutter auf offenem Feld geröstet. Hätte er sich damals diesem Irrglauben hingegeben, säße er immer noch in einer Holzhütte in den Bergen und müsste die Launen dieser Frau erdulden. Nur Handlung brachte Veränderung – und wenn er schon keinen Einfluss auf den Brunnen nehmen konnte, lag es doch an ihm, die Zeit sinnvoller zu nutzen. Es war möglich, voranzugehen, ohne das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Geschickt schlüpfte Minoru an einem Touristenpärchen vorbei, das den richtigen Winkel für ein Selfie suchte, und zog die Kapuze zum Schutz gegen den Nieselregen tiefer ins Gesicht. Selbst bei der Kälte lockte das Neujahr die Menschen bis tief in die Nacht auf die Straßen. Dicht wie Ameisen manövrierten die Massen über die Haupt- und Nebenstraßen. Was für ein dummes, naives Kind er doch gewesen war, sich vor dem Treiben jenseits des Honmaru zu fürchten. Ein Hochhaus voller Wohnungen beherbergte mehr Bewohner als die Festung seines Vaters je hätte fassen können. Über ein Jahr war vergangen, bevor Minoru sich in diese Menschenmengen gewagt hatte. Mittlerweile störte es ihn kaum noch. Längst nicht jedes unerwartete Geräusch beschleunigte seinen Herzschlag und inmitten des Gedränges bedurfte es mehr als einiger Mühe, um ihn nun noch aus seinen Gedanken hochschrecken zu lassen und seine Aufmerksamkeit zu erregen. An Silvester jedoch zog er es vor, sich weit vor Mitternacht zurückzuziehen. Die Böller und Raketen vermochten einige simplere Erscheinungen in Angst und Schrecken zu versetzen – ihm gingen sie in erster Linie gehörig auf die Nerven. Doch bis Mitternacht waren es noch viele Stunden und so ließ er sich abgestumpft in der Menge treiben. Dicht hinter ihm folgte ein silberner Schatten jedem seiner Schritte. Der gestromte Akita war längst nicht mehr der halbwüchsige Welpe, der sich in sein Leben geschmuggelt hatte. Sein kompakter Körper reichte Minoru bis an die Hüfte und auch der massige Kopf trug dazu bei, dass Passanten immer wieder vor Ichirou zurückwichen. Unnötig, wenn man bedachte, dass er Menschen abscheulich zugeneigt war und sich wahllos alles Dargebotene ins Maul schob, sobald Minoru nur einen Moment wegsah. Als Welpe ausgesetzt zu werden hatte offensichtlich nicht gereicht, um seinen unerschütterlichen Glauben mit etwas Skepsis zu segnen. „Beeil dich“, brummte Minoru schließlich, als der Hund abermals die Nase in den Wind reckte, um die Düfte verschiedener Imbissbuden zu prüfen. Mit einem verdrießlichen Schnauben setzte er sich wieder in Bewegung. Ohne ihn wäre er schneller in der Stadt gewesen, aber Ichirou blieb nur selten ohne anstrengende Diskussionen zurück. Abgesehen davon würde der Junge gnädiger gestimmt sein, wenn der Hund ihn abholte – und an einem Tag wie diesem, wo Familienkrisen um jede Ecke lauerten, war das wünschenswert. Sōma Higurashi war sechs Jahre alt, in eine adrette Schuluniform gekleidet und zog bei Minorus Anblick ein Gesicht, als sei soeben all das Leid seines jungen Lebens gesammelt über ihn hereingebrochen. Sogar Ichirou, der schwanzwedelnd auf ihn zutrabte, schien dieses Mal kein Trost zu sein. „Wo ist Papa?“, forderte er augenblicklich zu wissen und stampfte mit der Spitze seines Regenschirmes auf den Gehweg auf. „Er hat versprochen mich heute abzuholen! Er hat gesagt, er schafft das!“ „Wie du siehst, schafft er es nicht“, erwiderte Minoru glatt. Er hatte keine Muße, einen enttäuschten, kleinen Jungen zu trösten, der dazu neigte, derlei Gefühle in Widerwillen zu wandeln und es jedem entgegenzuschleudern, der ihm zu nahe kam. „Dann warte ich eben hier!“, murrte er und sah missmutig zu Ichirou, der ihm sanft die Nase an die Wange drückte. Der Junge war kaum größer als der Hund, schob jedoch die Schnauze weg, als handle es sich um ein Stofftier und nicht etwa um eine Reihe sehr effektiver Zähne. „Ichirou kann auf mich aufpassen. Du kannst gehen.“ Minoru musterte ihn und schob die Hände tiefer in die Taschen seiner Lederjacke. Er hasste es, wenn dieser Zwerg es sich herausnahm, ihn herumzukommandieren wie einen billigen Dienstboten. „Entlässt mich Eure Hoheit?“, fragte er scharf und sah herablassend auf das Kind herunter. Der blähte trotzig die Wangen auf, sagte jedoch nichts. Er kannte den Ton und wusste, dass er eine Grenze überschritten hatte. Mal wieder. „Schön. Warte. Aber außer mir wird dich heute niemand holen. Du findest zur Not bestimmt allein nach Hause. Die richtige S-Bahn, der Bus. Was soll schon schief gehen? Immerhin bist du schon Grundschüler. Und wenn alle Stricke reißen, fängt die Schule nach den Feiertagen wieder an. Schade um deine Geschenke, aber wir finden sicherlich ein Kind, das sie gerne nimmt.“ Damit ließ er den perplexen Jungen stehen, der seine Hand in das Fell des Hundes gekrallt hatte und fieberhaft über eine gute Erwiderung nachdachte. „Ach – und Ichirou bleibt selbstverständlich nicht bei dir“, fügte Minoru mit einem Blick über die Schulter hinzu. „Komm.“ Der Hund sah den Jungen aus tiefen, braunen Augen an, tappte von einer Pfote auf die andere und lief dann eilig zu Minoru. „Du kannst ihn doch nicht allein lassen“, knurrte er vorwurfsvoll, als er aufgeschlossen hatte. „Er wird sich verlaufen. Oder erfrieren. Menschenwelpen sind hilflos.“ Minoru ging unbeirrt weiter. „Lass mich bei ihm bleiben. Hörst du mir überhaupt zu? Mino!“ „Warte!“ Sōmas Rucksack wippte unbeholfen auf seinem Rücken umher, während er über den regennassen Asphalt eilte. Hitomi und ihr Sohn sahen im Wohnzimmer fern, während Minoru der Hausherrin in der Küche half. Keiko Higurashi war eine schlanke Frau um die siebzig, mit kurzem, grauen Haar und Lachfalten um Mund und Augen. Ihre beiden Kinder hatte sie nach dem Tod ihres Mannes allein großgezogen und nachdem ihr Vater vor einigen Jahren verstorben war, auch das Gelände des Shinto-Schreins eigenständig erhalten. Sie war schwer aus der Ruhe zu bringen, quittierte angespannte Situationen zumeist mit einem Lächeln und so konnte man ihr auch schwerlich Kleinigkeiten nachtragen – wie etwa die Tatsache, dass sie bei jeder Gelegenheit Essen in Ichirou hineinstopfte. „Hatten wir das nicht besprochen?“ Ichirou bemühte sich wenigstens, seine Schnauze unauffällig zu lecken. Sie kraulte den Akita zwischen den Ohren und scheuchte ihn freundlich aus der Küche hinaus. „Sei doch nicht so streng. Es ist Neujahr.“ „War es vorgestern nicht.“ „Jeder Tag ist ein besonderer Tag.“ Sie schmunzelte über sein unzufriedenes Brummeln und schob ihm eine gekochte Kastanie zu, die er beiläufig in den Mund steckte. „Es ist also doch Futterneid.“ „Keine Hundewitze vor dem Essen. Auf nüchternen Magen vertrage ich die nicht.“ Sie stockte: „Junger Mann, wann hast du bitte das letzte Mal gegessen?“ Bevor er sich eine ausweichende Antwort überlegen konnte, drang Sōtas Stimme aus dem Flur, der sich überschwänglich entschuldigte. Das Haus geriet in Bewegung. Sōma stürmte aus dem Wohnzimmer und auch Keiko wischte die Hände an ihrer Schürze ab, um ihren Sohn zu begrüßen – jedoch nicht ohne Minoru darauf hinzuweisen, dass sie von ihm mindestens einen zweiten Teller erwarte. Großmütter aller Arten schienen eine versorgende Ader zu teilen, die sich auf Nahrungsmittel fokussierte. Minoru blieb in der Küche und kümmerte sich um die köchelnde Suppe, bis der Sturm auf dem Gang abgeebbt war und Sōta von allein zu ihm kam. Er sah abgekämpft aus, mit dunklen Rändern unter den Augen, blass und nicht wirklich in Festtagsstimmung. Obwohl sie sich nicht länger um tobenden Krieg, die Ernte oder einen Dämonenangriff sorgen mussten, wirkten viele Menschen mehr von Sorge und Stress geplagt, als Minoru es vor fünfhundert Jahren wahrgenommen hatte. Aber das mochte ein verschobener Blickwinkel sein. Er hatte nicht viele Menschen gekannt und Sōta stand durch seine hohe Position in einer wichtigen Firma unter permanentem Druck. Nichtsdestotrotz war diese Zeit schnelllebiger, das bemerkte auch er. Was heute noch in Stein gemeißelt schien, war morgen schon vergessen. Geschriebenes und gesprochenes Wort wurden über Mobiltelefone gleichermaßen in Sekundenschnelle über Kontinente transportiert. JetLag, der Zustand, wenn die Reisegeschwindigkeit jede körperliche Anpassung an einen Ort überschritt. Solche ,Zeitreisen', die der Körper erst einmal begreifen musste, waren für den Verstand der Menschen Alltag. Essen gab es aus dem Kühlregal, Kinder aus Gläsern und Strom aus der Steckdose. „Es tut mir leid, dass du ihn heute Mittag holen musstest. Im Büro war die Hölle los. Ich konnte nicht eher weg. Hätte ich gewusst, dass es so läuft, hätte ich ihn heute nicht zum Zusatzunterricht geschickt. Aber du weißt ja -“ Minoru unterbrach ihn mit einem Zungenschnalzen: „Sōta. Der Tag an dem ein sechsjähriger Menschenjunge mir Kopfzerbrechen bereitet, wird vermutlich mein letzter sein. Es sollte dir jedoch Sorgen machen, dass er schon damit zu rechnen scheint, dass du Termine mit ihm nicht einhalten kannst.“ „Ich konnte nicht eher-“ „Das sagtest du bereits.“ Mit einem gedehnten Seufzer zog Sōta den Kühlschrank auf und nahm eine Limonade heraus. „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich kann schlecht einfach die Arbeit verlassen.“ Minoru sah ihn aus den Augenwinkeln an: „Du solltest es besser wissen, als einen zwanzigjährigen Yōkai um seine Meinung in Erziehungsfragen zu bitten. Frag' deine Mutter. Die hat dich immerhin auch irgendwie hinbekommen.“ Sōta lachte herb: „Warum klingt das bei dir, als sei ich das Problemkind? Meine Schwester hat im Mittelalter drei dämonische Kinder und du bist ein Yōkai.“ „Ich bin seit fast zehn Jahren erfolgreich selbstverziehend“, erwiderte Minoru ernst, während er Sōta einen Topf voller Suppe überreichte und ihn damit ins Esszimmer scheuchte. Die wenigen Monate bei seinem Vater zählten kaum und er würde sich nicht andichten lassen, von einer Menschenfrau auch nur ein bisschen erzogen worden zu sein. Sōtas Mutter war eine herzensgute Dame, die ihn schon halb zur Familie hatte rechnen wollen, bevor jemand festgestellt hatte, dass Inuyasha in der Tat sein Onkel war. Sie war überrascht gewesen, dass Inuyasha seinen Halbbruder nie erwähnt hatte. Minoru hingegen hatte es nicht gewundert. Auch sein Vater sprach kein Wort über Inuyasha, wenn es nicht aus abstrusesten Gründen erforderlich war – und dann nie in guten Tönen. Natürlich hatte die Familie ihn daraufhin ins Kreuzverhör genommen. Wie erging es Kagome und Inuyasha? War es friedlich geblieben, nachdem sie das Juwel vernichtet hatten? Hatten sie Kinder? Wohlauf und mit ebenso niedlichen Hundeohren? Und verheiratet waren sie dann doch sicherlich auch. Ein Haus? Gesundheit? Nach einer Weile hatte er diese Fragen bereitwillig beantwortet, auch wenn seine Aussagen über ihr Befinden nichts als bloße Spekulation waren. Immer, wenn sie ihn baten, über Kaito zu sprechen, wurde sein Mund trocken. Er hatte ihnen nicht eröffnet, wie seine letzten Stunden im Mittelalter ausgesehen hatten. Dass Kaito vor seinen Augen in einem dichten Giftnebel zusammengebrochen war, den seine einstigen Verbündeten selbst gezündet hatten. Es war das letzte Bild, das er aus seiner Zeit vor Augen hatte: Kaito sterbend am Boden, mit abflachender Atmung, während die beiden Taijiya sich ihm näherten. Dann war da nur noch ein gleißendes Licht und das Gefühl eines tiefen Falls. Das Nächste, an das er sich dann erinnerte, war das künstliche Flimmern einer Deckenlampe und Kagomes altes Federbett, in das ihre Mutter ihn gelegt hatte, nachdem sie am Brunnen des Schreins über einen leblosen Jungen gestolpert war. Sie hatte die Pfeilwunde an seiner rechten Schulter versorgt, die bis heute Probleme bereitete, und gutmütig in diesem sonderbaren Neuzeitdialekt auf ihn eingeredet, bis er wieder zu sich gekommen war. Wenn die Taijiya sich nicht vergangener Tage erinnert und ihn geschont hatten, war Kaito tot. Das war die bittere Wahrheit, die Minoru seither zur Seite schob. Als er sich von dem Drachen hatte lösen können, war er dem einzig bekannten Weg gefolgt, der ihm im Schock eingefallen war und in die Ebenen geflohen. Ein Spießrutenlauf, in dem nur die dichten Wälder verhinderten, dass das Reptil ihn erneut mit in die Luft nahm. Er hatte nicht darüber nachgedacht, ob ein Dorf voller Menschen in der Lage war, sich diesem Biest zu erwehren. Retrospektiv wunderte ihn, dass sein Onkel sich dem Drachen nicht entgegengestellt hatte. Die Gruppe hatte am See zwei der Echsen auf offenem Feld erlegt. Etwas an diesem Kampf leuchtete ihm nicht ein, aber wenn er ehrlich war, wusste er ohnehin nicht mehr, was alles geschehen war. Die Erinnerungen waren bruchstückhaft und trüb. Es war möglich, dass sie allesamt tot waren. Das ganze Dorf vernichtet in einer einzelnen Nacht, so wie sie auch die Festung seines Vaters binnen Stunden niedergebrannt hatten. Er hatte die Flammen gesehen, als er in den Klauen des Drachen in die Lüfte hinaufgetragen worden war. Schwere, rote Zungen, die die äußeren Wehrkreise zerfraßen und schwarze Rauchsäulen nährten. Für Kaitos Familie gab es einen Funken Hoffnung. Immerhin lebten die Higurashis auch fünfhundert Jahre später am selben Ort. Menschen, das wohl, aber derselbe Name. Wer mochte da an Zufall glauben? Sein eigenes Volk jedoch... „Minoru?“ Eine Berührung auf dem Schulterblatt ließ ihn herumfahren. Keiko sah ihn besorgt an. „Schätzchen, hast du mich nicht gehört? Wir können essen.“ „Entschuldige bitte. Ich komme schon.“ Sie hielt ihn an der Hand zurück, ungeachtet der Klauen, vor denen sie ohnehin nie zurückgeschreckt war: „Geht es dir gut?“ Er lächelte matt: „Natürlich. Ich war nur in Gedanken. Nichts besonderes.“ Der Abend verlief wie in den Jahren zuvor. Die Familie Higurashi war nicht nur seit Generation der Wache dieses Schreines verschrieben, sondern hatte auch an anderen Stellen die alten Wege beibehalten. So wurden zu Neujahr Osechi gereicht. Diese traditionellen Gerichte stammten aus einer Zeit ohne Kühlung und waren dementsprechend entweder gesüßt oder gesäuert, um sie auch über die Wintermonate haltbar zu machen. Vorab gab es Miso- und Zōni-Suppe mit Gemüsebeilage, später Thunfisch in Seetang und Süßkartoffelpüree mit Kastanien. Die Fischpaste, die man immer wieder auch auf diversen Surimi fand, ließ Minoru unangetastet. Etwas widerstrebte ihm bei dem Gedanken, Fisch zu pürieren und in Förmchen zu pressen. Im Anschluss an das Essen wurden die Karten herausgeholt. Alte und noch von Hand bemalte Hanafuda für mindestens zwölf Runden Koi-Koi, an deren Ende wieder einmal klar wurde, dass Hitomis Wagemut im Spiel von unverschämten Glück begleitet wurde. „Ich gebe mich hochoffiziell geschlagen“, Minoru legte die übrigen Karten vor sich auf den Tisch. „Nichts zu machen.“ „Ha!“, triumphierend lehnte sich die junge Frau zurück und sah Minoru neckisch an. „Wer kann schon behaupten einen Dämonenlord geschlagen zu haben?“ „Genau genommen-“ „Ruinier' mir nicht den Sieg, Minoru.“ „Es ist Glücksspiel“, erwiderte der, als schmälere das die Niederlage. „Auch wenn es bei dir eher an Eingebung grenzt.“ In einem früheren Leben hätte sie einen hervorragenden Kitsune abgegeben. Zufrieden nippte sie an ihrem Sake und sah sich in der Runde nach einem neuen Opfer um. „Ein Spiel schaffen wir vor Mitternacht noch. Freiwillige?“ Ihr Sohn ließ sich neben Minoru hinabsinken und linste verstohlen über die Tischkante. „Sōma.“ „Du gewinnst doch eh, Mama.“ „Papperlapapp. Was ist denn das für eine Einstellung? Setz dich vernünftig hin und lass uns spielen.“ „Und die Geschenke?“ „Später.“ Minoru schob dem Jungen die Karten hin und erhob sich. „Bevor es draußen gleich nicht mehr auszuhalten ist, gehe ich noch etwas Luft schnappen.“ Ichirou war sofort auf den Beinen, sprang aus dem Hundebett, das man ihm vor die Heizung gestellt hatte und tappte zur Tür. Auch Sōta stand auf und folgte ihnen. Unter dem Vordach des Hauses blieben sie stehen. Bindfäden von Regen rannen über die Dachrinne und ein kalter Nordwestwind fuhr um das Gebäude herum. Nur Ichirou störte sich nicht an dem Wetter und streunte über den Hofplatz.Wirklich winterlich war das dennoch nicht. Minoru hatte in den Wäldern Wochen voller Tiefschnee erlebt, in denen seine Pfoten nur selten den Waldboden gefunden hatten und jede Jagd mit einem Maul voll Schnee einherging. „Widerliches Wetter“, kommentierte auch Sōta. „Keine Augenweide jedenfalls“, Minoru lehnte sich mit dem Rücken an die Fassade und sah ihn die Nacht hinaus, bis Sōta ihm ein Päckchen vor die Nase hielt; in dunkelblaues Tuch geschlagen mit einer helleren Schleife. Am Brunnen standen bereits zwei Rucksäcke voller Geschenke, Briefe, Fotoalben und allerlei nützlichen Utensilien, die die Higurashis für ihre Liebsten in der Vergangenheit gepackt hatten. Für den Fall, dass der Brunnen sich eines Tages erbarmte. „Für Kagome oder die Kinder?“ „Weder noch. Es ist für dich.“ „Wir waren uns einig, dass wir uns nichts schenken.“ Sōta lachte: „Ein Geheimnis der menschlichen Psychologie: Solche Absprachen funktionieren nie. Sieh es doch als Dankeschön. Dafür wird keine Gegenleistung erwartet.“ „Wofür?“ „Du leistest meiner Mutter seit Jahren Gesellschaft, hilfst ihr beim Einkauf, im Haus und im Garten, holst meinen Sohn ab-“ „Als Ausgleich für Kost und Logie. Dieser dämliche Brunnen befindet sich nun einmal bedauerlicherweise auf eurem Grundstück und ich will niemandem etwas schuldig bleiben, weil ihr mich hier duldet und versorgt.“ „Das ist doch selbstverständlich. Du gehörst zur Familie.“ Mit Nachdruck hielt er ihm das Paket mit beiden Händen hin. „Nimm es bitte. Du musst es auch nicht gleich aufmachen. Menschen finden das unhöflich.“ „Ihr seid ein komisches Volk“, brummte Minoru und nahm ihm das eingewickelte Quadrat ab, das mühelos in seine Handfläche passte. „Ich versuche meine Schulden gering zu halten und ihr glaubt, es sei Freundlichkeit und beschenkt mich dafür.“ Zufrieden lächelnd beobachtete Sōta, wie es in Minorus Jackentasche verschwand. „Vermutlich sind wir das. Aber auch wenn deine Motivation zunächst ein reiner Ausgleich war, glaube ich doch, dass wir dir nicht gleichgültig sind. Zumindest nicht mehr.“ Mit ernster Miene betrachtete Minoru ihn. Sōta war Mitte dreißig und wie auch seine Mutter stets freundlich. Er war sportlich gebaut, wenngleich nicht besonders kräftig und ein Stück kleiner als Minoru, der durch das reichliche und leicht verfügbare Essen der letzten Jahre einige Wachstumsdefizite ausgeglichen hatte. Seine politischen Meinungen waren zumeist kritisch und in Diskussionen konnte er zuweilen energisch einen Standpunkt vertreten, solange das Thema niemanden am Tisch persönlich verletzte. Fürsorge war eine seiner Stärken, aber den humanitären Rahmen hätte er um seiner Familie Willen nicht verlassen. Minoru hätte sie alle binnen Minuten auslöschen können – und dies auch umgehend getan, wenn es ihn nur nach Hause gebracht hätte – während Sōta auch dann noch zögern würde, die Waffe gegen ihn zu erheben, wenn er den Kopf seines Sohnes im Maul zerquetschte. Nicht, weil ein Kampf ohnehin aussichtslos gewesen wäre. Es fehlte ihm schlicht der nötige Biss. „Ihr seid zu gutgläubig“, meinte Minoru schließlich. „Die Anwesenheit eines Dämons sollte euch nicht zu Geschenken bewegen. Jemand anderes hätte deine Mutter bei der ersten Begegnung getötet oder schlimmeres. Ihr solltet vorsichtiger sein. Gerade wenn dieser Brunnen irgendwann wieder funktioniert, wisst ihr nicht, was beim nächsten Mal herauskommt.“ „Du magst recht haben. Doch in deinem Fall war es mehr Segen als Fluch. Wir sind in deiner Gegenwart so sicher wie nirgends sonst. Ohne dich wäre Mama allein auf diesem riesigen Gelände. Eine wehrlose, alte Dame und ein unbeaufsichtigter Schrein – da kommen Leute auf dumme Gedanken.“ Manchmal lag die Annahme nah, dass sie schlicht verdrängten, was sie hätte verstören können. Und vermutlich war das der groteske Unterschied zu Rin. Einer, der sich Minoru bislang nicht aufgedrängt hatte. Sowohl Rin als auch Kagomes Familie waren absonderlich ruhig in Gegenwart von bestimmten Dämonen. Ganz als handle es sich um ein Exemplar ihrer eigenen Art, wenn man von einigen offensichtlichen Merkmalen absah. Man sprach dieselbe Sprache, aß zusammen. Menschen suchten Gemeinsamkeiten, um sich jemandem anzunähern. Sogar in ihren Katzen und Hunden taten sie das: Interpretierten menschliche Züge in ein Verhalten, das davon nicht weiter hätte entfernt sein können, weil sie die Perspektive des anderen nicht begriffen. Doch Rin wusste, was sie wirklich waren. Sie hatte den Fürsten töten sehen, wusste um die Selbstverständlichkeit, mit der ihm das von der Hand ging, die Ansprüche, die er stellte. Sie verdrängte nicht, sondern akzeptierte die Konsequenzen und Gefahren, die seine Nähe bereit hielt. Hätte sein Vater vor Rin einen Mann ausgeweidet, sie hätte vielleicht Mitleid mit dem Wurm verspürt, die Notwendigkeit in Frage gestellt, aber niemals Angst vor dem Daiyōkai an ihrer Seite entwickelt. Weil sie wusste, wozu er fähig war. Weil es ihrem Bild von ihm nicht entgegenstand. Käme Minoru jedoch tatsächlich in die missliche Lage, diese Familie einmal vor etwas oder jemandem verteidigen zu müssen, würden sie ihn nie wieder mit denselben vertraulichen Gesten bedenken wie bislang. Es war eine Frage von Wahrnehmung und Verleugnung; ein Weltbild, das beim Zusammenbruch eine gewaltige Kluft hinterlassen würde. Rin hingegen hatte dieses Trugbild nie gekannt oder schnell verworfen und selbiges galt sicherlich für Kagome. Es lag nicht in Minorus Absicht, ihre Familie zu verstören oder ihr gar zu schaden. Er sah keinen Sinn darin, Menschen oder anderen Lebensformen Leid zuzufügen, die von Anfang an gut zu ihm gewesen waren. Zumindest nicht, solange er keinen unmittelbaren Gewinn daraus zog. Und dann war da noch Kaito. Dank schloss nicht gerade ein, jemandes Großmutter und Onkel in Stücke zu reißen. Aber letztlich waren das nur Entschuldigungen. Wenn er ehrlich war, mochte er diese Menschen. Irgendwie. Auch wenn ihre Naivität selbstzerstörerische Züge aufwies. „Danke.“ „Ach, und Mama hat deine Kendō-Stunden für nächstes Jahr bezahlt.“ Es war das erste Mal seit Langem, dass ein Anflug dämonischer Aura durch die Luft wirbelte und den vom Dach fallenden Regen auf den Hofplatz schleuderte. Minorus Stimme wurde eisig und leiser: „Wie bitte?“ Auch wenn er das Yōki nicht bemerkt hatte, zuckte Sōta zusammen. „Das Dōjō rief an, weil du den Vertrag neulich gekündigt und Einzelunterricht im Vorfeld abgelehnt hast. Sie würden dich dort gern weiter unterrichten. Warum willst du sonst aufhören?“ „Es war meine Entscheidung, Sōta.“ „Nicht, wenn sie nur deshalb gefallen ist, weil du es dir nicht leisten kannst. Du willst dich ja nicht für deine Hilfe bezahlen -“ „Ich werde dir die Zusammenhänge nicht noch einmal vorbeten.“ Sōta verschränkte die Arme vor der Brust: „Schon klar. Du willst Menschen nichts schulden. Ums Verrecken nicht – aber das muss man doch nicht so wörtlich nehmen! Wir wünschen uns für dich von Herzen, dass du bald nach Hause zurückkehren kannst – und dort lange lebst. Oder hattest du andere Gründe?“ Minoru steckte die Hände in die Taschen und ließ sich mit dem Rücken gegen die Hauswand fallen, was seine rechte Schulter umgehend mit einem stechenden Schmerz quittierte. „Nein.“ Er hatte niemals Geld besessen, doch in dieser Zeit schien es essentiell. Zu Beginn hatte er Teile seiner Kleidung verkauft, die ihn aufgrund von Yūseis Handwerkskunst sehr lange über Wasser gehalten hatten. Doch drei Jahre in dieser Zeit waren teuer. Kleidung, Essen, Zugfahrten, Alltägliches. Die Kendo-Stunden hatten an seinen Ersparnissen gefressen und seitdem er Ichirou aufgenommen hatte, hatte auch der örtliche Tierarzt einiges gekostet. Allmählich wurde es eng. Für richtige Arbeit fehlten ihm ironischer Weise wichtige Dokumente, die ihn als Kind dieses Landes auswiesen. Die Stunden im Dojo hätte er sich im kommenden Jahr nicht leisten können. „Deine Argumente sind miserabel“, bemerkte er, als Sōta gerade wieder ins Haus gehen wollte. „Deine Mutter hätte mir auch einen Strickkurs finanziert.“ Mit einem hinterhältigen Grinsen ging Sōta zurück ins Haus. Sobald er verschwunden war, kehrte Ichirou unter das Vordach zurück und schüttelte das Wasser aus dem dichten Fell. Als eine verfrühte Silvesterrakete den Himmel in grelles Grün tauchte, sprang er fiepend gegen Minorus Bein, der ihm eine Hand zwischen die Ohren legte und sein nasses Fell streichelte. Wieder beruhigter, sah der Akita zu ihm auf. „Warum bist du wütend geworden?“ „Das hast du bemerkt?“ „Natürlich. Hast du dich mit Sōta gestritten?“ Minoru schüttelte den Kopf. „Sie sind freundlich zu mir. Aber auch wenn ich nicht glaube, dass sie dabei Hintergedanken haben, ist es mir unangenehm. Und ich mag nicht, wenn jemand über mich entscheidet.“ „Ich mag sie“, erwiderte er mit einem knappen Schwanzwedeln. „Ich weiß. Aber denk daran, dass die wenigsten sind wie sie. Menschen können grausam sein, Dämonen erst recht. Und die Schlimmsten behaupten zunächst, dir Gutes zu wollen.“ Eine weitere Rakete folgte der ersten und streute goldenen Regen vor die dunklen Wolken. „Das wird die halbe Nacht so weitergehen. Wir sollten zu Bett und darauf warten, dass es aufhört.“ Er ging um das Haus herum, klopfte noch einmal ans Wohnzimmerfenster und winkte knapp, bevor er Ichirou mit zum kleinen Brunnenhaus nahm, in dem er sein Lager aufgeschlagen hatte. Die Familie kannte es an Silvester nicht anders von ihm. Er konnte die lauten Raketen und Böller nicht ausstehen, die man traditionell nutzte, um das neue Jahr vor bösen Geistern zu schützen. Wobei der schwefelig-beißende Geruch vermutlich ausgereicht hätte, um jeden niederen Yōkai für die nächsten Wochen aus der Stadt zu treiben. Nur dass es dafür längst keinen Anlass mehr gab. In all der Zeit hatte ihn nicht die geringste Aura eines anderen Dämons gestreift. Nichts. Sie waren verschwunden. Und nicht nur hier – auch im Westen nichts als Menschen und Städte und Wälder und Landwirtschaft. Er war allein. Halbherzig rieb er Ichirou trocken, legte Jeans und Jacke zur Seite und rollte sich mit einer Jogginghose auf der alten Matratze zusammen, die er auf dem Grund des Brunnenhauses unterhalb der Treppe platziert hatte. Die Unterlage war angenehm weich und die Bettdecken rochen frisch nach gewaschener Wäsche und dem Fett des Weichspülers. Im Innern des Brunnenhauses blieb von dem Regen nur das beruhigende Prasseln auf dem Dach und ein gelegentliches Ruckeln des Windes an der Tür. Es war trocken, wenn auch kaum wärmer als draußen und der Brunnen keine zwei Meter von ihm entfernt. Keiko hatte ihm Kagomes Zimmer angeboten, immer wieder, doch er fühlte sich wohl in diesem Häuschen, das abseits des Wohnhauses lag und damit allein ihm gehörte. So nah am Brunnen blieb außerdem zu hoffen, dass er bemerkte, wenn die Pforte sich erneut öffnete. Die gepackten Rucksäcke standen griffbereit an das alte Holz gelehnt. Einer für Kagome und Inuyasha, der andere für ihre Kinder. Minoru betrachtete sie eine Weile, dann zog er seine Lederjacke heran und das kleine Paket aus der Tasche. Ichirou stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief, musterte die hübsche Verpackung ebenso wie Minoru und streckte schließlich die Nase vor, um daran zu schnuppern. „Was zum Essen?“ Minoru tippte ihm sanft mit dem Finger auf die Nase und lächelte in sich hinein. Wie typisch. Den ganzen Tag nur Futter im Kopf. „Wir teilen.“ Er löste die Schleife und band sie Ichirou an das Halsband, zu dem ihm die städtischen Gesetze verpflichteten. Etwas verdutzt beäugte der Akita das hellblaue Bändchen, dann ließ er zufrieden die Zunge heraushängen und beobachtete, wie der Inu die übrige Verpackung von dem weißen, flachen Kästchen entfernte, auf dem einige goldene Schnörkel den Namen des Herstellers verkündeten, den Minoru ohnehin nicht kannte. Als er den Deckel hob und die darin liegende Kette ansah, erstarrte er. Ichirou war sofort auf den Beinen. „Mino? Ist es gefährlich? Was ist es?“ Er schob sich an ihn heran und spähte selbst in das Kästchen. „Menschenschmuck.“ „Ja.“ Minoru nahm die fein gearbeitete Silberkette hervor. Der Anhänger war ein schlichter Sichelmond in der Größe einer Münze. Die polierte Seite zeigte eine abnehmende Formation, während man auf der Rückseite seinen Namen eingraviert hatte. In die Öse zur Kette war eine winzige '925' geprägt worden. Der Schmuck roch nach Mensch und Verpackung und Metall. Kein Hinweis auf dämonischen Ursprung wie etwa bei dem Fuchskorallen-Armband, das er immer noch bei sich trug. Er legte die Kette um seinen Hals und bekam nach einigen Versuchen auch den Verschluss zu. Kühl lag das Silber auf seiner Haut – und schnürte ihm die Kehle zu. Vor nicht allzu langer Zeit wäre ihm egal gewesen, wo er schlief. In welcher Zeit er sich aufhielt. Dieses Brunnenhaus war komfortabler als viele Ruheplätze, die er sich hatte suchen müssen. Die Menschen waren freundlich, das Leben in der Neuzeit ungewöhnlich annehmlich und Kriege selten. Es wäre leichter gewesen, das alte Leben zu vergessen. Hier am Schrein zu bleiben und die Jahre vergehen zu lassen, als wäre er niemand; ein verlorener Köter ohne Vergangenheit, ohne Verpflichtungen und ohne Zukunft. Denn das war er doch ohnehin, oder nicht? Fünfhundert Jahre nach seiner Zeit war von der Festung seines Vaters kaum noch etwas übrig. Grundmauern, so abgelegen, dass auch die aufdringlichsten Touristen sich nur selten dorthin verirrten. Menschen hatten jeden Winkel des Landes überflutet, den sie urbar machen konnten, respektierten nur sich selbst und ihr Streben nach mehr Wachstum und Fortschritt. Dämonen waren wie vom Erdboden verschluckt. Die Vergangenheit schien keine Zukunft zu haben. Wozu also zurückkehren? Und hatte er das nicht immer gewollt? Niemand sein. Tun, was er wollte, ohne all den Hunger und die Sorge, am nächsten Tag gefressen zu werden. Das lag nun vor ihm. Aber es war falsch. Es waren Gedanken aus einem völlig anderen Leben, die schemenhaft in das jetzige hineinragten. Relikte eines egozentrischen Kindes, das der Welt den Rücken zuwenden wollte; das Veränderungen ebenso fürchtete wie Verantwortung. In Wahrheit wollte er nichts lieber als diese neue Welt hinter sich lassen. Zurück in die Stille der tiefen Wälder, unwegsamen Gebirge und wenn nötig auch zu den Schlachtfeldern seiner Zeit. Es war nicht sein Wunsch, hier festzusitzen, und doch hatte sein Leben am gedeckten Tisch der Neuzeit einen faden Beigeschmack, wenn er daran dachte, dass die Drachen den Westen überfielen, seine Heimat zerstörten und seine Familie bedrohten, während hierzulande die meisten Schlachten am Bildschirm gefochten wurden. Er war mitnichten scharf auf einen Kampf. Die Anwesenheit eines Zwanzigjährigen hätte ohnehin keinen Unterschied bewirkt – Daiyōkai hin oder her. Doch das war nicht ausschlaggebend. Der Westen war sein Land. Seine Heimat. Um das zu begreifen hatte er es erst verlieren müssen; den Ort und all jene, die den Westen zu etwas gemacht hatten, nach dem er sich nun sehnte. Wäre Myōga bei ihm gewesen, wäre all das leichter zu ertragen; weniger surreal. Aber auch der würde ihm nur raten, Ruhe und einen klaren Kopf zu bewahren, Auswege zu suchen, die Hoffnung nicht zu verlieren. Leicht gesagt. Drei Jahre hatte es bei Kagome gedauert, bis der Brunnen sich ihrer erbarmt und eine einzelne Passage zugelassen hatte, nachdem er lange Zeit nach Belieben nutzbar gewesen war – allerdings nur für sie und Inuyasha. Danach fast zwanzig Jahre Stille. Ein launisches Ding dieser Brunnen aus dem Holz der gewaltigen Eiche, die draußen auf dem Gelände des Schreines einen neuen Jahreswechsel miterlebte. Nun, Minoru hatte Zeit. Aber auch jenseits des Brunnens tickten die Uhren weiter – und das war es, was ihm Sorge bereitete: Sie konnten längst tot sein. Alles was er kannte zerstört. Kaito seinetwegen ums Leben gekommen, der Palast niedergebrannt, die Inu vernichtet und die ganze Insel in den Klauen größenwahnsinniger Reptilienzombies. Vermutlich hielt man ihn selbst längst für tot oder – noch schlimmer – flüchtig. Auch denkbar war, dass die Drachen mit den Panthern dieselbe perfide Strategie anwandten und seinen Vater in dem Glauben ließen, ihn als Geisel zu halten. Wobei anzuzweifeln blieb, dass der Inu no Taishō ebenso sentimental agierte, wie Kōga und Ayame es getan hatten. Minoru konnte es sich nicht vorstellen und hoffte innigst, dass er in diesem Fall recht behielt. Er wollte nicht der Grund für die Ruinen der Neuzeit sein. Diese Ungewissheit und die schlechten Aussichten, die diese Welt fünfhundert Jahre später propagierte, schmerzten – und nicht nur seinen Kopf schien er bei diesen Überlegungen regelmäßig zu zermartern. Die tausend Nadelstiche, die sich in seiner Brust festsetzten, wurden von Jahr zu Jahr unerträglicher. Verdammtes Heimweh! Nass fuhr Ichirous Zunge über sein Gesicht. Der massige Hund drängte sich auf seinen Schoß, als habe er die überschaubaren Ausmaße einer Schmusekatze, und stupste fiepend mit der Nase in Minorus Gesicht herum. „Herrje, lass das Gesabber! Weißt du eigentlich wie schwer du bist?“ Er schob den Hund unsanft von sich herunter und wischte mit dem Handrücken durch sein Gesicht. „Was soll das?“ „Du sahst traurig aus.“ „Und mich unter dir zu begraben sollte mich aufmuntern?“ „Früher mochtest du das.“ „Da hast du auch noch keine vierzig Kilo gewogen.“ Unsicher, was er davon halten sollte, kratzte sich der Akita ausgiebig hinter dem Ohr. Minoru seufzte und hob die Bettdecke gerade weit genug, dass Ichirou darunter schlüpfen konnte. Das große Tier ließ sich kein zweites Mal bitten. Mit einem Satz war er auf der Matratze und legte sich der Länge nach an ihn heran. Minoru ließ den Kopf auf das Kissen fallen und vergrub eine Hand im gestromten Fell. Ichirou schloss die Augen und tat einen zufriedenen, tiefen Atemzug ehe er einschlief. Kapitel 47: Denn wir vergessen allzu oft ---------------------------------------- Als das Dōjō erneut an ihn herangetreten war, um ihm einen anderen Kurs anzubieten, hatte Minoru Kendō ad acta gelegt – nicht ohne Widerstand seitens seiner Gastfamilie, den er jedoch in einigen anstrengenden Diskussionen hatte zerschlagen können. Seine Durchsetzungsfähigkeit litt beachtlich, solange er seine Argumente nicht mit allerlei Drohungen spicken konnte. Es gehörte verboten, einen Daiyōkai in solch eine Lage zu bringen. Menschen diskutierten für ihr Leben gern und fanden die abstrusesten Umwege, um ihre Meinung zu begründen – eine Situation, die ihm außerhalb der Neuzeit vermutlich nicht mehr allzu oft begegnen würde. Gleichgestellte, mit denen man sich auf solche Gespräche einließ, gab es nicht allzu viele, nach unten wurde kommandiert und nach oben – nun, die Annahme, er könne seinen Vater mit guten Argumenten von einer Sache überzeugen war schlichtweg lachhaft. „Die unter Hand an den Mund, die obere näher an das Ohr. Dreh den Oberkörper in der Hüfte weiter zum Schwert.“ Minoru korrigierte die Haltung um wenige Millimeter und erntete ein zufriedenes Brummen seines Lehrmeisters – zumeist die einzige Form von Lob, die Lehrer aller Arten gewährten. Die neuen Schüler, die sich erst vor zwei Wochen dem Kurs angeschlossen hatten, versuchten es nachzuahmen. Die Niten Ichiryū, die 'eine Schule der zwei Himmel', war weitaus brutaler und offensiver als das streng reglementierte Kendō, das er vorher trainiert hatte. Man trug weder Rüstung noch Helm, nur einfache Baumwolloberteile und Hakama, und führte das Katana vorwiegend in einer Hand, um die zweite für das Wakizashi als Paradewaffe frei zu haben. Grundlegend ging es darum, dem Gegner die Klingenspitze in das ungeschützte Gesicht zu treiben. Misslang der Erstschlag oder hatte man das Gegenüber dazu gebracht, mit Kopf oder Körper auszuweichen, griffen andere Bewegungsabläufe, um sich seiner zu entledigen. Wer zurückwich galt als verloren und nur, wer seinen Gegner auch töten wollte, sollte die Waffe aus der Scheide lösen. Der Kampfstil ähnelte damit den Lektionen, die Ryouichi ihm in den wenigen Monaten bei Hof eingehämmert hatte – wobei man westlichen Hof gemeinhin auf die zweite Waffe verzichtete und weniger einer genauen Reihenfolge an Bewegungen nachging. Im Mittelalter war diese Technik dem einfachen Volk verwehrt geblieben, da es nur der Klasse der Samurai gestattet gewesen war, zwei Schwerter zu führen. In dieser Sporthalle fragte heute niemand mehr nach den familiären Verbindungen zu einstigen Samuraifamilien. Ebenso wie es verboten war, das Gelernte auf offener Straße anzuwenden. Die Menschen der Neuzeit neigten dazu, das Alte um der Tradition Willen zu bewahren. Die Praktiken des Mittelalters hochzuhalten war für das Überleben in dieser Epoche auch nicht relevant. Zu Zeiten des unter seinesgleichen legendären Shinmen Musashi Fujiwara no Genshin – bekannt als Miyamoto Musashi – hingegen schon. Der 1584 geborene Begründer der Niten Ichiryū war jünger als Minoru, zumindest dem Geburtsjahr nach, und unter Umständen aufgewachsen, die dem Inu nur allzu geläufig waren. Er hatte seine Heimat mit sechzehn Jahren verlassen, um eine Kriegerwallfahrt zu beginnen, deren einziger Zweck die Perfektion seiner Kampfkunst durch Herausforderung der vielversprechendsten Gegner gewesen war. Nebenbei hatte sich der gute Mann als Künstler und Autor verdingt – eine Kombination, die Menschen verwirrenderweise als zusammenhängend betrachteten – und durch seine Lehren einen Kampfstil publik gemacht, der aufgrund seiner Aggressivität nach dem zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte verboten worden war. Musashis Lehren über die Kriegskunst kamen denen der Yōkai so nah, dass man meinen mochte, er müsse von einem solchen herangezogen worden sein. Und wer wollte das schon ausschließen? Er hatte den offensiven Kampf verehrt, Gefühle wie Liebe und Lust von sich gewiesen und Tagträumerei sowie Beschäftigungen, die ihm seinem Ziel nicht näher brachten, verabscheut. Fokussiert auf Kampf und Perfektion; bestrebt, die eigene Grenze zu finden. Was für Menschen manisch wirken mochte, war für die Weltanschauung eines kriegerischen Daiyōkais selbstverständlich – zumindest, wenn man Ryouichi und Myōga glaubte. Minoru war vermutlich der einzige Inu, der nicht mit diesen Idealen aufgezogen worden war. Einige waren sicherlich erstrebenswert, wie etwa die Ablehnung fremder Mächte, andere hingegen konnte er nicht vertreten. ,Es gibt nichts außerhalb von dir, dass dich dazu bemächtigt, stärker, reicher, schneller oder klüger zu werden. Alles ist in dir.' Ein Zitat Musashis, das gleichsam seinem Vater hätte entspringen können. Von Tessaiga abgesehen, das er als sein Anrecht betrachtet hatte, war er diesem Vorsatz stets gefolgt. Das Shikon no Tama etwa, das von so vielen begehrt und umkämpft worden war, hatte ihn nie interessiert. Es widersprach seinem hohen Selbstbild, auf äußere Hilfsmittel angewiesen zu sein. Ein Gedankengang, den sich sicherlich nicht jeder Wald- und Wiesenyōkai erlauben konnte. Das innige Verlangen nach einer Odyssee für Perfektion und den nächsten rentablen Gegner ging Minoru jedoch vollends ab. Er konnte sich nicht vorstellen, Jahrhunderte oder auch nur Jahrzehnte seines Lebens damit zu verbringen, über Stock und Stein zu stapfen und dem nächstbesten Narren die Klauen ins Gesicht zu schlagen. Vermutlich jedoch verhielt es sich eher anders herum: Hatte man sich erst einmal einen Namen gemacht, krochen die Ruhmeifernden von allein aus ihren Löchern, um ihn zu ihren Ehren wieder auszulöschen. War es nicht Musashis Gegnern wie Shishido Baiken ebenso ergangen? Musashi hatte sie aufgesucht, sie geschlagen und sein Ansehen durch ihren Tod genährt. Nun waren sie nichts weiter als Namen auf einer Liste von Leichen, die sein Können bezeugten. Die eineinhalb Stunden des Kurses zogen sich aufgrund der Neuzugänge zäher dahin. Immer wieder marschierte der Altmeister um jeden herum, schob und drückte an dieser oder jener Hand, korrigierte die Fußstellungen und fuhr erst dann fort, wenn er zufrieden war. Auch wenn diese Schule Mobilität und Vorwärtsbewegungen predigte, wurde vergleichsweise viel Wert auf die Ausführung von Abläufen oder die passende Beugung von Armen und Beinen gelegt. Improvisation war unerwünscht und freie Kampfsimulation für den Ernstfall sehr selten. Da endeten die Paralleln zu westlichen Trainingsplätzen abrupt: Ryouichi warf seine Schüler nach den Grundlagen auf den Sandplatz und griff an. Später erläuterte er dann, wie man den ein oder anderen Bluterguss hätte vermeiden können – um Minuten später erneut auf die ohnehin schon schmerzende Stelle einzuschlagen. Man konnte ihm allerdings nicht vorwerfen, verroht mit seinen Schützlingen zu verfahren: Hätte er es darauf anlegen wollen, hätte jeder seiner Hiebe Knochen zerschmettert. Nach Ende des Trainings war Minoru der erste in den Umkleiden, faltete Hakama und Oberteil halbherzig zusammen und zog bereits den Gürtel durch die Jeans, als die Übrigen tratschend hereinströmten. Der junge Mann, der ihm am Ende in den Partnerübungen zugeteilt worden war, war der einzige, der keinen Gesprächspartner zu haben schien. Sein Blick streifte Minorus und ehe der sich demonstrativ hätte abwenden können, löste sich der Neue aus der Gruppe und steuerte geradewegs auf ihn zu. Na wunderbar. „Hey.“ Minoru stellte sich taub und streifte ein weißes T-Shirt über den Kopf. „Du warst gut. Kannst du – also, meinst du, wir könnten nächste Woche wieder zusammen üben?“ „Wir machen hier keine festen Paare.“ Minoru nahm seinen Rucksack aus dem Fach und schlug die Spinttür zu. Als er sich jedoch drehte, stand der Junge genau vor ihm – einen ganzen Kopf kleiner, die Unsicherheit an der Nasenspitze ablesbar. „Oh. Ach so.“ Er blickte ihm ins Gesicht und dann doch wieder auf den Boden, machte jedoch keine Anstalten, den Weg freizuräumen. Wieder einmal erinnerte sich Minoru, warum ihm so viel daran lag, die Umkleide möglichst schnell zu verlassen. Er seufzte, warf den Rucksack über die Schulter und sah abwartend auf ihn herab. „Ist noch was?“ Wieder druckste er herum, vermied es, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen und studierte stattdessen dessen in Mitleidenschaft gezogenen Chucks. Minoru atmete tief durch, schickte ein Stoßgebet für innere Ruhe ins Nichts und machte einen bestimmten Schritt nach vorn. Erwartungsgemäß wich der Junge zurück und drückte sich, Entschuldigungen murmelnd, an die Schrankwand, während der Inu an ihm vorbei rauschte und mit einem leisen Fluch das Dōjō verließ. Ichirou, der wie üblich unter dem Ahorn gewartet und ihn längst gehört hatte, legte verdutzt den Kopf schief und trabte dann an seine Seite. „Nicht dein Tag?“ „Frag' bloß nicht.“ Der Akita erfüllte den Wunsch und begann gleich mit einem anderen Thema. „Weißt du, was toll an kleinen Kindern ist?“, fragte er, stolz auf seine neu gewonnene Erkenntnis. „Ihre Hände. Die sind ganz süß.“ Irritiert sah Minoru auf ihn herab. „Kinderhände.“ Er hatte doch nicht wirklich seine Zähne - „Ja. Erwachsene nicht so. Die waschen sie vermutlich zu oft. Aber die Kinder, die bekommen dauernd klebriges Zeug. Wenn sie mich streicheln wollen, lecke ich sie ab – und sie freuen sich auch noch darüber. Die meisten zumindest.“ Ein entnervtes Stöhnen entfleuchte Minorus Kehle. Im Alter von fast drei Jahren galten Hunde gemeinhin als ausgewachsen, aber das hinderte Ichirou offensichtlich nicht daran, Sōma in vielerlei Hinsicht den Rang abzulaufen – zumal ein echter Hund oftmals einen sehr skurrilen Blickwinkel auf die Welt zu haben schien. „Hauptsache du bleibst vorsichtig. Menschen können widerlich sein und ich will nicht, dass sie dir etwas antun oder anhängen. Eine kleine Wunde auf der Haut ihrer Gören und wir bekommen Probleme, wenn die Eltern sich anstellen.“ „Das hast du schon erklärt.“ „Ich erinnere dich lieber. Wir können uns hier keinen Ärger erlauben.“ Und dafür gab es viele Quellen. Mit Mühe hatte er Ichirou ausgeredet, auf Provokationen anderer Hunde einzusteigen – so unverschämt sich einige Exemplare auch benehmen mochten. Zumeist reichten sie Minoru kaum bis zum Knie und waren der Meinung, die ganze Welt gehöre ihnen, da niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie eines Besseren zu belehren. Diese Aufgabe würden sie jedoch nicht übernehmen, denn Beißereien zogen in dieser Zeit oft Anzeigen nach sich und ein Akita, eine der größten Rassen, wurde dabei schnell die Schuld zugeschoben – allein aufgrund der größeren Zähne. Hinzu kam, dass die meisten Besitzer nicht in der Lage waren, das Verhalten ihres Vierbeiners auch nur im Grundsatz zu deuten. Ein warnendes Knurren des Akitas allein hatte schon eine ausreichende Anzahl an Hundebesitzern veranlasst, ihn zu beschimpfen und zu fordern, dass er seine vermeintliche Bestie an die Leine legen solle. Fehleinschätzungen, die ihm mittlerweile nur ein schmales Lächeln gebleckter Zähne entlockten. Ichirou war ein Lamm. Die Bestie hing am anderen Ende der Leine – aber das war bei fast allen Hunden der Fall. Neuzeitliche Hunde waren ohnehin einer der schockierenderen Eindrücke dieser Epoche gewesen. Die Higurashis hatten ihn aufgeklärt, dass es bereits vor zweitausend Jahren Privileg des chinesischen Kaisers gewesen sei, Möpse zu besitzen. Minoru waren in den ländlichen Regionen des feudalen Japan aber stets nur Hunden begegnet, die ihm selbst ähnlich sahen – mittelgroße, spitzähnliche Tiere aller Couleur, deren Wert nach ihrer Tauglichkeit für bestimmte Aufgaben bemessen wurde. Diese Zeit hingegen war weniger praktisch veranlagt. Ein Akita hatte unter anderem Stehohren zu besitzen und einem gewissen Farbschlag zu entsprechen: Keine Schecken; an Gesicht, Brust und Innenschenkeln bitte weiß gefärbt. Keiko hatte sich diesbezüglich schlau gemacht und hielt es für durchaus möglich, dass Ichirou deswegen ausgesetzt worden war. Weil sein rechtes Ohr einen Knick hatte und halb herabhing. Weil die verlangten weißen Areale in seinem Fell zum Teil genauso schwarz-silbern gestromt waren wie der Rest. Trotz des Aussetzens war er damit einer der glücklicheren Pechvögel. Andere Welpen, die den Ansprüchen nicht gerecht wurden, wurden zuweilen von ihren Menschen ertränkt, erschlagen, eingeschläfert oder anderweitig entsorgt. Das Aussehen war in den Vordergrund gerückt und neben der Tatsache, dass es Hunde nun in allen Größen und Formen zu geben schien, hatten sie an Wahrnehmung eingebüßt. Nur die wenigsten drehten sich nach Minoru um und waren vollends überfordert, sobald er sprach und sie jedes seiner Worte begriffen als sei er einer der ihren. Als Yōkai erkannte ihn jedoch kaum einer. Das hatten Menschen und Hunde gemeinsam. In der Regel. Zumindest teilweise hatte er sich den Menschen dieser Zeit angepasst. Er trug ihre Kleidung, Schuhe und oftmals kamen ihm Kapuzen zu Gute. Nun aber, im Hochsommer, trug er das weiße Haar zu einem hohen Knoten. Das verkürzte es optisch, aber wer genau hinsah, konnte ahnen, wie lang es tatsächlich sein musste. Er hatte versucht, es zu tönen, doch auch die dunkleren Farben hielten nicht. Die gut sichtbaren, roten Markierungen an Augen, Wangen und Handgelenken waren mit etwas Make-Up leicht vertuscht. Menschen hätten sie, ihrer Realität zuliebe, als Tatöwierungen eingeordnet, die in Japan noch alles andere als toleriert waren. Unter Passanten fiel er damit in der Stadt nicht weiter auf. Hin und wieder blieb jemand stehen und sah ihm nach, aber angesprochen wurde er nie. Man hielt ihn vielleicht für extravagant, den Cosplayer irgendeiner in die Jahre gekommenen Anime-Serie, aber sicherlich nicht für unmenschlich. Daran konnten nicht einmal die Krallen etwas ändern. Sie zu kürzen wäre einer Entwaffnung und Verstümmelung gleich gekommen. Er hackte sich schließlich auch nicht die Ohren ab und es gab manche Frau, die deutlich längere Kunstnägel in allen erdenklichen Farben trug. Im Dojo war das anders. Weißes Haar, bernsteinfarbene Augen, spitz endende Ohren, scharfe Klauen. Aus nächster Nähe kam das sonst so klare Realitätsverständnis der Menschen ins Schleudern. Aus demselben Keim war sicherlich auch die Annäherung des Neuen entsprungen. Empfindsamere Seelen spürten eventuell sogar, dass etwas an ihm nicht stimmte. Dass er nicht zu ihnen gehörte. Aber das traf auf die wenigsten zu. Immerhin handelte es sich um eine Spezies, die zuweilen ihren Nachwuchs in das Zoogehege ausgewachsener Berggorillas hielt, weil die Tierchen so possierlich menschlich wirkten. Kurz: Gefahrengespür war nicht unbedingt ihre größte Stärke. Und so ließen sie sich auch mit rational klingenden Erklärungen abspeisen. Die Haare? Eine genetische Laune der Natur. Lag in der Familie. Albinismus? Ja. Daher auch die Kontaktlinsen, damit er nicht ständig eine Brille gegen die Sonneneinstrahlung tragen müsse und warum dann nicht dieser Farbton? Braun hatte schließlich jeder. Scharade ganz ohne Illusion – der verdammte Fuchs wäre stolz auf ihn gewesen. Das warme Augustwetter ließ die Menschen aus den Häusern auf das wenige Grün schwärmen, das sie sich selbst gelassen hatten. Die Rasenflächen waren voller Picknickdecken, herumtollender Kinder und umherfliegender Geschosse für Mensch und Tier. Ichirou sah sehnsüchtig einer Frisbee nach und setzte seinen Bettelblick auf, als er sich wieder an Minoru wandte. „Später vielleicht. Wenn wir Zuhause-“ Ehe er enden konnte, sprang ein Ball an ihnen vorbei – und Ichirou hinterher, verfolgt von einem bellenden Fellflausch, dessen Vorderende nur durch die Laufrichtung identifizierbar war. Gut, ja, der Park war eine Scheißidee gewesen. „Ichirou! Zurück, sofort!“ Er kam umgehend. Natürlich mit dem zugesabberten Ball und vor Glück strahlend. Der kleinere Hund sprang aufgebracht herum, wollte ihm das Spielzeug aus dem Maul klauen und kam doch nicht hoch genug – nicht zuletzt, weil Ichirou den Hals überstreckte. Minoru zog ihm den Ball aus dem Maul und übergab ihn dem Kleinen. „Entschuldige. Manchmal vergisst er seine Manieren.“ Dem gerade noch freudigen Pekinesen fiel jegliche Mimik aus dem Gesicht. Er starrte Minoru geschockt an, der ihm den Ball vor die Füße legte und Ichirou am Halsband weiterzog. „Drei Jahre“, murmelte er. „Drei Jahre und du benimmst dich schlimmer als ein Welpe vor dem Zahnwechsel.“ „Ich wollte doch nur spielen! Er hätte mich mitmachen lassen!“ Minoru schnaubte, doch bevor er seine Litanei fortsetzen konnte, hielt ihn das Weinen eines Kindes auf, das gerade von seiner Mutter aufs Schärfste zurechtgewiesen wurde. Er hasste dieses Geräusch mehr als er jemals offen zugeben würde. Als trete man einem dutzend Katzen gleichzeitig auf den Schwanz. Manchmal entging ihm, dass er Ichirou übermäßig bevormundete und dabei vergaß, dass auch all seine Sorge um den Hund nicht unbedingt mit dessen Wohlbefinden gleichzusetzen war. Fast zwei Stunden hatte der Akita klaglos vor dem Dōjō auf ihn gewartet – und er dankte es ihm mit Unverständnis? „Wir spielen heute Nacht, wenn es kühler ist und die anderen zum Wasser gehen, um die Laternen zu zünden“, versicherte er und ließ das Halsband lockerer, strich ihm versöhnlich über den Rücken. „Versprochen.“ Dann würde es am Schrein auch ruhiger sein. Ichirou machte einen Satz und wedelte mit der gerade noch herabhängenden Rute. Im Gegensatz zu all den Festen, die die Menschen das Jahr hindurch feierten, war Obon, das Fest der Toten, auch den Dämonen geläufig. Die Auslegung jedoch variierte empfindlich. In den Augen der Menschen diente das Fest der Vereinigung mit verstorbenen Familienmitgliedern, deren Geister an diesen Tagen die Unterwelt und ihr Leiden verließen, um bei ihren Liebsten Trost zu suchen und schlussendlich wieder ins Jenseits geleitet zu werden. Für Yōkai war es jene Zeit im Jahr, an der die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits verschwamm. Da die Familienbande gemeinhin weniger von Liebe und Fürsorge geprägt waren und man für gewöhnlich den ein oder anderen Verwandten selbst ins Jenseits befördert hatte, war es eine Zeit erhöhter Wachsamkeit. Lichter, für die Heimkehr eines Vorfahren, stellte nur auf, wer mutig oder ausgesprochen verzweifelt war. Denn Verwandtschaft allein brachte nicht unbedingt Wohlwollen mit sich und nur die wenigsten Yōkai empfanden es als angemessen, von ihren Nachfahren aus der ewigen Ruhe gerissen zu werden, weil diese in irgendeiner Krise steckten. Dementsprechend hatte Minoru bislang davon abgesehen, in den Ruinen der westlichen Festung eine Laterne zu entzünden. Auch wenn er dort gewesen war; gezwungenermaßen: Obon wurde als Familienfest begangen, bei dem die Menschen an ihren Stammsitz zurückkehrten. Da das bei den Higurashis nun einmal der Schrein war, wimmelte es an jenen Tagen auf dem Gelände von entfernten Verwandten und familienfremden Shintoisten, die den eigentlich buddhistischen Feiertag auf ihre Weise begehen wollten. Mit Kendō in der Sommerpause und dem gesamten Schrein voller Menschen, hatte ihn wenig in Tokio gehalten. In diesem Jahr lagen die Dinge jedoch anders: Ichirou war in der vergangenen Woche an einem Magen-Darm-Virus erkrankt und hatte erst am Vortag aufgehört, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen, sodass Minoru ihn noch schonen wollte. Zudem fand das Training im neuen Kurs ungeachtet der Feiertage statt. So biss er dieses Jahr also erstmalig in den sauren Apfel und blieb in der Hauptstadt. Am Vorabend waren sie erst nach Mitternacht zurückgekehrt, um den Menschen aus dem Weg zu gehen, und auch heute nach dem Training waren sie ungesehen davongekommen und hatten seither einen ruhigen Nachmittag im Brunnenhäuschen verbracht. Die Verwandtschaft wusste zwar schon seit Jahren, dass der Sohn von Kagomes Schwager für ein Studium in Japan verweilte, zu Gesicht bekommen hatte ihn bislang aber noch niemand, war er doch für Obon immer nach Hause, ins angebliche Ausland verreist. Studium. So konnte man das Desaster auch bezeichnen. Minoru hatte jedes verfluchte Buch in der Stadtbibliothek gelesen, das auch nur im Entferntesten hilfreiche Informationen versprach. Sagen, Mythen, Kuriositäten, geschichtliche Abhandlungen. Diese Zeit war außergewöhnlich gut darin, eine Realität zu schaffen, die keine Abweichungen duldete. Dementsprechend erfolglos waren seine Nachforschungen ausgefallen. Es gab keinen Hinweis darauf, wie man diesen maroden Holzhaufen in eine Pforte zwischen den Epochen umfunktionierte. Rituale vieler Kulturen dieser Welt erforderten Blutopfer. Vermutlich nicht die schlechteste Idee für einen Brunnen, der sich „Knochenfresser“ schimpfte und einen Versuch wert, sobald er irgendwie an eine Ziege oder ein Schaf herankam. Tot und tiefgefroren waren die recht einfach zu beschaffen, aber lebendige Tiere zu erwerben gestaltete sich bislang schwierig. Zudem hatte der laute Gedanke, ihnen am Brunnen die Kehle durchzuschneiden, zu heftigem Protest der Higurashis geführt, den Minoru immer noch nicht begreifen konnte. Offensichtlich hatten Menschen kein Problem damit, Pakete aus dem Regal zu nehmen, während der Gedanke, die Nahrung selbst zu töten, sie auf mehreren Ebenen abstieß. Wo da die verdammte Logik lag, war ihm immer noch schleierhaft. Dem Brunnen jedenfalls mundeten abgepackte Knochen nicht: Lamm, Ziege, Schwein, Rind, Huhn, Wild – zu Ichirous Verzweiflung hatte Minoru alle erdenklichen Körperpartien verschiedenster Tiere hinabgeworfen, einschließlich der überfahrenen Katze des Nachbarn, und zum Teil sein eigenes Blut über diesem Mist verteilt. Natürlich erfolglos. Keinerlei Reaktion seitens des Brunnens und umso lautere Aufschreie Ichirous, der immer noch dem Oberschenkelknochen des Rindes nachtrauerte, ganz gleich wie oft Minoru ihm einschärfte, dass Knochen im Generellen nichts auf dem Speiseplan verloren hatten. Die Sonne war schon seit einer guten Stunde versunken und auch das spärliche Licht der Kerze versagte den Dienst und beleuchtete die Zeilen des Buches nur noch halbherzig. Ichirou schlief schon lange, den Kopf auf Minorus Bein gelegt, den restlichen Körper in grotesker Weise auf den Rücken gedreht. Als es an der Tür klopfte, sprang er jedoch augenblicklich auf und hätte knurrend alles umgerissen, wenn Minoru nicht längst die Kerze zur Seite geschoben und das Buch hochgehalten hätte. „Bist du da?“, drang Keikos Stimme dünn von der Tür her. „Ja, aber ich möchte wirklich nicht mitkommen.“ Die vielen Lichter auf dem nahegelegenen See waren zwar hübsch anzusehen, aber die Verabschiedung tausender Familiengeister musste er dennoch nicht miterleben. „In Ordnung. Habt noch eine gute Nacht.“ Minoru wartete, bis die vielen Stimmen verklungen waren und sie das Gelände für sich hatten. Dann warf er die Jacke über und löschte die Kerzenflamme. Die Nachtluft war angenehmer als am Tage, aber immer noch schwül und voller Abgase, die sich durch den Reiseverkehr der Feiertage und den Luftdruck dicht in der Stadt hielten. Neben der Tür hatte Keiko eine Laterne abgestellt, deren Flamme hinter dem orangefarbenen Papier flackerte. Als ob er es sich anders überlegen würde! Ärger über die fürsorgliche Ader dieser Frau war sinnlos. Unter Menschen sah man derlei gemeinhin als Freundlichkeit und weniger als Angriff auf die Selbstbestimmung des anderen. Er trug die Laterne von der Holzverkleidung des Brunnenhauses fort und stellte sie auf eine steinerne Bank in der Nähe. Ein Windstoß aus der falschen Richtung konnte ausreichen, um ein Lichtermeer der anderen Art zu entfachen und er hatte für die nächsten Jahre ausreichend brennende Gebäude gesehen. Ichirou tollte bereits mit seinem Ball über den Platz, als Minoru sich umwandte, um mit ihm zu spielen. Er hatte immer angenommen, Hunde besser zu verstehen als Menschen und das entsprach auch der Wahrheit, aber das bedeutete längst nicht, dass er alle Gedankengänge und Verhaltensweisen der Tiere nachvollziehen konnte. Das Verlangen, einen geworfenen Ball zurückzubringen, hatte sich ihm nie erschlossen, aber solange es den Akita glücklich machte, würde er diesen Unsinn alle paar Tage über sich ergehen lassen. Ein ums andere Mal preschte Ichirou über den Kies, überholte mehrfach den springenden Ball und brachte ihn zurück, während sie über das verlassene Geländes des Schreins spazierten. Die jetzt bebaute Fläche war einst dicht bewaldet gewesen. Vor vier Jahren hatte Minoru im Haus von Kaitos Familie auf dem Engawa gestanden und durch den Regen zu dieser Anhöhe hinauf gesehen, die nun mit steinernen Stufen begehbar gemacht worden war. Vom Haus war nichts geblieben. Eine dicke Asphaltdecke war unten an der Straße über den Grundriss gezogen, Pflaster auf dem Gehsteig verlegt, wo einst die Wäsche im Garten zum Trocknen gehangen hatte. Vier Jahre für ihn, fünfhundert für diesen Hügel. Das kleine Dorf in Musashi war Teil der größten Stadt der Welt geworden. Hatte den Wald bis tief in die Ebenen hinein verschlungen und war bis an das östliche Meer gewachsen. Eine Welt, die allein den Menschen gehörte – über Japan hinaus. Jedes urbare Tal war besiedelt worden. Die japanischen Wölfe hatte man ausgerottet; Takerus Stamm in einem bloßen Augenblick der Geschichte von Antlitz der Welt gefegt. Das Letzte, das in diesem Umbruch hätte überdauern sollen, waren Menschen. Und doch bewachten die Higurashis den Schrein, der bereits unter Kagomes Obhut gestanden hatte. Ein halbes Jahrtausend hatte sie nur dreihundert Meter von ihrem Familiensitz einen kaum nennenswerten Hügel hinaufgetrieben, während der Rest der Welt nicht wiederzuerkennen war. In Gedanken versunken warf Minoru den vor Sabber triefenden Ball von einer Hand in die andere. Es machte den Anschein, als hätte die Menschheit alle Gefahren in die Schranken gewiesen. Wilde Tiere wurden eingezäunt, weggesperrt oder getötet, gegen viele Krankheiten hatte man Heilmittel gefunden oder konnte sie von vorn herein unschädlich machen, über Dämonen sprach man eher scherzhaft oder gab ihnen die Schuld an kleinen Missgeschicken. Lebensmittel konnte man über Jahre konservieren und selbst die Haustiere waren zum Schutz von Öffentlichkeit und Besitz reglementiert worden. So sah man streunende Hunde in großen Städten äußerst selten. Abgesehen von den unbeugsamen Naturgewalten und ihren eigenen Artgenossen, waren die Menschen sicher, auch wenn sie oftmals das Gegenteil behaupteten. Die Informationsflut war auch schlicht überwältigend. Er erinnerte sich dunkel, dass Kōhei ihm einst Bilder in den Boden gemalt hatte. Karten, die verdeutlichten, dass Japan nichts als eine Inselgruppe vor der Küste eines viel größeren Festlandes war. Die Welt war gewaltig – so gewaltig, dass den Menschen zwischenzeitig ein ganzer Kontinent abhanden gekommen war – und jede Nachricht konnte sich binnen Sekunden über den Globus verteilen. Ein Terroranschlag am anderen Ende der Welt, ein grausamer Mord in einer entfernten Stadt, Erdbeben und Vulkanausbrüche, Flugzeugabstürze hunderte und tausende Tagesreisen entfernt. Auf eine Art war es beruhigend, dass das Mittelalter keine Fernseher gekannt hatte. Eine minutiösen Berichterstattung all der Schlachten um die Vorherrschaft im Land und die Abgründe menschlichen Daseins hätte sicher nicht zum allgemeinen Wohlgefühl beigetragen. Als Ichirou vor ihm erstarrte und sein ungeduldiges Brummen in ein Knurren abrutschte, hielt auch Minoru inne. Dem Akita stand das gestromte Fell in alle Himmelsrichtungen ab, während er einen Punkt hinter Minoru fixierte. Von dem sonst so verspielten Wesen war hinter den gefletschten Zähnen nichts zu erahnen. Dann preschte er los. Minoru ließ den Ball fallen, machte einen Satz nach vorn, der ihn mühelos vor den Hund brachte, und schnitt ihm den Weg ab. Der Akita bremste, rutschte in ihn hinein und schüttelte sich, während Minoru ihm mit ausgestreckter Hand bedeutete, hinter ihm zu bleiben. Er hatte einen närrischen Menschen erwartet, der die Feierlichkeiten am Fluss nutzte, um den ein oder anderen Wertgegenstand am Schrein abzugreifen. Stattdessen saß dort ein Hund vor der Bank. Der dünne Papierschirm der Obon-Laterne tauchte sein weißes Fell in ein warmes Orangerot, während er sie regungslos beobachtete. Dann wanderte sein Blick von Ichirou, welcher weiterhin die Zähne fletschte, zu Minoru, der dem Akita schließlich ins Halsband griff. „Gib Ruhe.“ Mit einem Schnauben setzte sich das gewaltige Tier hinter seinem Herrn auf die Hinterläufe und lehnte seine Schulter an Minorus Bein. Der legte eine Hand auf seinen Kopf und erwiderte den Blick des fremden Hundes. Sein Fell war schneeweiß, an den Seiten etwas länger und auch die Rute deutlich buschig über dem Rücken aufgerollt. Auf den ersten Blick ein typisch japanischer Spitz, doch mit jedem verstreichenden Moment stachen Abweichungen mehr hervor: Herabhängende Ohren, ungleich verteilte Felllänge, ein Ausdruck in den gelblichen Augen, der weit jenseits caniner Einfalt lag. Doch Minoru zögerte, den notwendigen Schluss aus diesem Anblick zu ziehen. Die vergangenen Jahre hatten deutlich gezeigt, dass ein Yōkai kein gewöhnlicher Anblick in dieser Epoche war und dem Hund, der sie abwartend und regungslos musterte, fehlte jedwede Aura. Als er sich jedoch von ihnen abwandte, wurde Minoru speiübel. Die Rute war nicht durch langes Fell aufgebauscht – es waren zwei! Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete er die Lampe hinter dem Dämon, deren Flamme unschuldig vor sich hinflackert. Mit Sicherheit hatte er niemanden aus dem Totenreich gerufen! Reichte es etwa aus, das verdammte Ding zu berühren? Der Daiyōkai verschwand mit einem Wimpernschlag und tauchte auf dem Absatz der steinernen Treppe wieder auf. Er warf einen Blick über die Schulter, als wolle er sichergehen, dass man ihn auch gesehen habe, dann trabte er die Stufen hinab. Ehe Minoru nur einen Schritt machen konnte, hatte Ichirou bereits sein Hosenbein im Maul. „Wir gehen nicht hinterher!“ Gröber als üblich griff er dem Akita zwischen die Zähne und befreite wortlos seine Kleidung, ehe er erneut perplex zu den Treppen hinüberstarrte. Er bezweifelte stark, dass es jemals jemanden in seiner Familie gegeben hatte, der sich mit Heimtücke abgab, wenn er auf der Stelle hätte töten können. War dieser Hund ihm tatsächlich nicht so feindlich gesonnen, wie er es von einem Dämonengeist erwartet hatte? Das ergab absolut keinen Sinn, solange das gerade nicht sein Vater gewesen war. Doch der wiederum hätte entgegen aller Vorsicht eher in seiner wahren Gestalt auf dem Hofplatz Panik verbreitet, statt sich in die enge Form eines gewöhnlichen Haushundes zu zwängen – zwei Ruten hin oder her. „Mino... lass uns bitte reingehen. Ich möchte nicht mehr spielen.“ „Geh rein und warte. Wenn ich bei Sonnenaufgang nicht zurück bin, gehst du zu Keiko. Sie wird sich um dich kümmern.“ „Mino! Nein!“ Ichirou sträubte das Fell, doch der Inu war längst an der Treppe angelangt und warf ihm einen mahnenden, letzten Blick zu, der keine Widerrede duldete. Kapitel 48: dass die Finsternis ------------------------------- Ganz gleich, wie schnell er durch die Gassen eilte, der weiße Hund war ihm stets ein Stück voraus; bog um die nächste Hausecke, als Minoru die Straße betrat und verschwand mitten auf einer Kreuzung, nur um Sekunden später am Ende der Straße zu erscheinen und ihn aus großen, gelben Augen anzustarren. Im Stadtpark, wenige Blocks entfernt, holte er ihn schließlich ein. Die Gestalt des Hundes ruhte vor dem Stamm eines mächtigen Kampferbaumes und wartete auf seine Ankunft. „Weshalb seid Ihr hier?“ Der Hund ließ ihn nicht aus den Augen, rührte sich nicht. „Du hast mich gerufen.“ Die Stimme war körperlos und schwang ohne jede Richtung durch die Luft, als ließe sie von den Winden tragen. Kein Yōki, keine Witterung. Es war die eine Sache einem erfahrenen Krieger gegenüberzustehen, aber noch eine ganz andere, ihn nicht lokalisieren zu können, während er nach Belieben auftauchen und verschwinden konnte. Diese Hilflosigkeit bereitete Minoru mehr Sorge, als die Tatsache, dass dieser Hund der Geist eines längst verstorbenen Verwandten sein musste. Eines Verwandten, der es offensichtlich darauf angelegt hatte, ihn zu treffen. Denn wer die Berührung einer Laterne als Einladung auffasste, musste wohl auf eine gewartet haben. Anders war jedenfalls nicht zu erklären, warum jemand auch nur einen Finger für ihn krumm machte, ohne dass er zuvor bettelnd im Staub herumgekrochen war. „Nicht wirklich.“ „Weshalb wünschst du in deine Epoche zurückzukehren?“ Argwöhnisch erwiderte Minoru den forschenden Blick und versuchte die Intention zu ergründen. Was für eine Art Frage sollte das denn nun sein? Ein Angebot? Eine Falle etwa? Oder doch nur banale Willensbestätigung? Die Notwendigkeit einer Begründung wäre ihm niemals in den Sinn gekommen und doch wartete der Hund regungslos auf seine Antwort. „Ihr fragt gerade nicht wirklich, warum ich hier nicht bleiben will.“ „Du hast mich richtig verstanden. Dein Leben verspricht Sicherheit, Überfluss. Der Weg zurück ist bar dieser Vorzüge. Offene Schlachten, Leid, Chaos. Ihn zu wagen, deinem Vater zu folgen, wird dich an die Front führen.“ „Ihm nicht zu folgen hat mich hierher geführt. Sicherheit und Überfluss, während meine Familie einen Krieg ausfechtet, in dem der Gegner nicht sterben kann.“ „Den du zu entscheiden gedenkst.“ Einen Moment lang zog Minoru die Luft tiefer in seine Lungen, atmete kontrolliert aus und nahm sich zurück. Das Gespräch war zu offen, die Provokationen zu rasch ineinander gesponnen. Wenn er sich nicht vorsah, würde man ihm bald jedes Wort im Munde herumdrehen. Bedenklich dünnes Eis in Anbetracht dessen, was hier vor ihm stand. „Ich bin weder blutrünstig noch vermessen. Ich werde keinen Gegner schlagen, der meinem Vater Sorge zu bereiten vermag. Wenn nun aber jedermann seine Untätigkeit darin begründen würde – wer würde dann noch zur Waffe greifen?“ „Zurückzukehren, um dein Leben in einer heroischen Minute vor den Feind zu werfen wird niemanden nützen. Es liegt kein Ruhm darin, den eigenen Stolz höher zu tragen als das Leben und Schlachten zu schlagen, die man nicht gewinnen kann. Niemand verschwendet Hochachtung an den gefallenen Narren.“ „Verwechselt meine Jugend nicht mit Torheit. Unkenntnis der eigenen Grenzen führt dazu, dass Jugend und Hochmut eng beieinander marschieren. Wäre ich mir der meinen jedoch nicht bewusst, hätte ich schon lange Jahre zuvor meinen Kopf eingebüßt.“ Das hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, die eigenen Fähigkeiten zu ergründen und zu bemessen, welche Gegner er vielleicht tatsächlich hätte schlagen können, aber dafür hatte er diese Zeit seines Lebens einigermaßen unbeschadet überstanden – wenn man davon absah, dass er bei seinem Ausflug gen Norden um Takerus Willen mehrfach hätte sterben können. „Ich teile Eure Auffassung“, versicherte er. „Doch die Situation ist eine andere. Es geht nicht um den Stolz des Einzelnen, um Ländereien oder eine kleine Fehde. Mein Großvater hat stets nur Krieg entfacht, wo Untätigkeit größere Übel hervorgebracht hätte und selbst er hat die Drachen bis zu seinem Tod erbarmungslos verfolgt. Dabei waren sie damals noch sterblich und ihre Kriege auf Yōkai beschränkt. Mittlerweile verbrennen sie alles Leben auf ihrem Weg als Zündfeuer für ihr widernatürliches Dasein. Wer nicht kämpft, wird dennoch sterben, sobald die Reihen der Krieger ausgedünnt sind. Narr und kurzsichtig ist, wer glaubt, der Kelch gehe ausgerechnet an ihm vorüber. Nein, dieser Krieg betrifft jeden einzelnen und jeder einzelne hat das Recht, sich diesem Schicksal zu erwehren.“ Natürlich wäre er in dieser Zeit sicher. Hier gab es keine Drachen – nicht einmal Kappa. Hier gab es nur Menschen und von ihnen geduldete Tiere. Wenn das hier die Zukunft seiner Epoche sein sollte, so würden sie versagen. Dann wäre der Weg zurück sein sicherer Tod. Ein Tod jedoch, der ihn nicht in selbstsüchtiger Tatenlosigkeit, während einer Entführung oder als Marionette seiner Mutter ereilen würde. „Ich mag nicht am westlichen Hof aufgezogen worden sein, aber einen Funken Ehrgefühl besitze ich noch.“ „Das habe ich nie angezweifelt“, erwiderte die Stimme versöhnlich, während der Hund sich auf die Hinterbeine niederließ. „Ein wenig impulsiv vielleicht, stur, unerfahren, übermäßig idealistisch und blockiert. Aber aufrichtig.“ Minoru gab sich Mühe, nicht allzu verdutzt zu blinzeln. Er hatte mit vielem gerechnet, jedoch nicht damit, dass die eigentliche Kontroverse binnen eines Atemzuges in Vergessenheit geriet und einer Bewertung seiner Person Platz einräumte. Dieses Urteil klang in einem freundlichen Tonfall noch vernichtender als Myōgas hysterische Anfälle es je vermocht hätten – da half auch der Befund seiner Aufrichtigkeit wenig. Auch Idioten waren aufrichtig, bevor man ihnen den Kopf abriss. Resigniert betrachtete Minoru den Dämon und schob die Hände in seine Jackentaschen. „Ist es wirklich so abwegig, dass ich zurück will?“ Er wüsste sicher besseres mit sich anzufangen als vier Jahre in der menschendichtesten Stadt der Welt einen Brunnen anzustarren, wenn dieser Brunnen nicht seinen einzigen Rückweg dargestellt hätte. Sollte dieser Dämon nur gekommen sein, um ihm seine Heimkehr auszureden, verschwendete er seinen Atem. „Aber nein. Wer bist du hier schon? Ein Inu unter Menschen, die den Dämon nicht sehen. Ein Mensch von Millionen. In dieser Zeit bist du bedeutungslos.“ Die Art und Weise wie sein Gegenüber durch die Abgründe seiner Motive sprang, ging Minoru gegen den Strich. Es war mehr als der bittere Beigeschmack einer forcierten Unterhaltung. Viel zu deutlich war die Absicht, seine Haltung auf Herz und Nieren zu prüfen. Er hatte sich in dieser Hinsicht mehr Offenheit von seinem Vater gewünscht – nicht jedoch von einem Fremden. „Bedeutung und Einfluss meiner Person sind nicht von Ort oder Zeit abhängig“, widersprach er schließlich unverbindlich. „Der Unterschied liegt allein in der Erwartungshaltung derer, die meinen Vater und den Westen fürchten oder respektieren. Dieser Kontext gibt mir scheinbare Bedeutung. Nicht ich selbst.“ „Das sagte ich.“ „Dann irrt Ihr, was meine Intention anbelangt. An meiner Person ändert weder Bedeutungslosigkeit noch Herkunft etwas. Ich bleibt Ich, ungeachtet der Rahmenbedingungen. Meine Heimkehr zielt nicht auf eine Verbesserung meiner Stellung ab. Es geht nicht um Macht, Einfluss oder kriechende Bedienstete. Ich fühle mich meiner Familie verpflichtet. Und wenn wir schon dabei sind, dass Ihr ergründen wollt, worin die Wahrheit liegt: Ich will nach Hause – ganz banal und egoistisch. Alles was damit zusammenhängt, sind Konsequenzen, derer ich mir durchaus bewusst bin.“ „Macht ist demnach eine Konsequenz.“ Beinahe vermochte Minoru, dem dünnen Sommereis unter ihm beim Knacken zuzuhören. Sein Vater hatte seinen Mangel an Ambitionen und Autoritätswillen bislang toleriert. Sicher in der Hoffnung, dass einen fernen Tages noch der Verstand Einzug hielt oder sein Charakter auf den Sohn abfärbe. Außer dem Fürsten selbst hatte jedoch niemand einen Grund, nachsichtig oder geduldig mit seiner Haltung zu verfahren. Er hatte sich zu weit vorgewagt, doch welcher Weg blieb ihm nun? Die Feststellung glaubhaft zu verneinen wagte Minoru nicht – dann wäre es auch mit der eben noch erwähnten Aufrichtigkeit nicht weit her gewesen. Zumal dieser Hund vermutlich schon ausreichend Lügen gehört haben mochte, um sie meilenweit gegen den Wind zu wittern. Schließlich stieß er die angehaltene Luft aus und verschränkte die Arme: „Das ist sie.“ „Für deine Position eine äußerst bizarre Einstellung.“ „Macht und Einfluss sind beide dann erstrebenswert, wenn sie einem Zweck dienen. Um sie lediglich zu besitzen, wie verstaubte Pokale, sind sie zu gefährlich. Dann will einem jeder halbgare Dämon ans Leder ohne dass man irgendeinen Nutzen daraus zieht.“ Der Hund legte interessiert den Kopf schief: „Welcher Nutzen schwebt dir vor?“ Allmählich wunderte es Minoru, dass sein Gegenüber angesichts dieser Aussagen nicht die Zähne fletschte, ja, nicht einmal im Mindesten schockiert wirkte. So als sei es ein einfaches Gedankenspiel und nicht etwa die Zukunft seines Hauses, die da gerade den Bach hinunter ging. Beinahe mochte er resigniert seufzen, doch er besann sich eines Besseren und zuckte kaum merklich mit den Schultern: „Wüsste ich das, wären sie ja erstrebenswert.“ Ein Lachen erfüllte die Nachtluft wie Sommerhitze, ließ jedoch das Blut des Jungen in den Adern erstarren. Was – machte er sich tatsächlich über ihn lustig? Unfassbar! Das war blanker Wahnsinn! Das amüsierte Grollen ebbte nur allmählich wieder ab und machte einer erheiterten Stimme Platz, die mit einem Mal nicht mehr so weit entfernt klang wie noch Sekunden zuvor: „Was sagt dein Vater dazu?“ Nun, lachen würde er mit Sicherheit nicht... Minoru ließ die Frage unangetastet und spannte aufmerksam die Muskeln an, als sich der Hund erhob. „Ich werde dir helfen.“ Verdutzt starrte er in die gelben Augen des vermeintlichen Tieres: „Trotzdem -?“ „'Trotzdem'?“ Es lag eine Endgültigkeit hinter der Frage, die keine Widerrede duldete und Minoru umgehend jeden zweifelnden Einwand herunterschlucken ließ. Der Hund erwiderte seinen Blick eine Spur zu lang, ganz als habe er ihm die Antwort längst vor die Füße geworfen. Dann wandte er sich ab und inspizierte den Boden entlang des Kampferstammes, ehe er sich erneut auf die Hinterläufe sinken ließ und ihn auffordernd ansah. „Versuch hier zu graben.“ Regungslos betrachtete Minoru den Grasfleck, als behalte dieser alle Weisheit ein, die es bedurfte, um zu begreifen, was gerade geschehen war. Graben. Erst erheiterten ihn Ansichten, die jeder andere als Schwäche gedeutet hätte und nun verlangte dieser Hundegeist, dass er in der Erde grub wie ein Tier? Fast war Minoru versucht zu glauben, er wolle sich lediglich einen amüsanten Abend außerhalb des Totenreiches machen, doch das war eine äußert menschliche Annahme, die dem schwarzen Humor eines Fuchses sehr nahe kam. Inu waren da pragmatischer in der Erniedrigung des anderen und würden nicht so viel Zeit auf einen einzelnen Witz verschwenden. Nun gut. Wenn sein Urahn ihm zu graben gebot, sollte das ihn am allerwenigsten abschrecken. Minoru zog den Reißverschluss auf und ließ die Jacke zu Boden gleiten. Moderne Materialien waren nach wenigen Gestaltwandlungen nicht zu mehr zu gebrauchen und sein Budget gab dieses Jahr keine neue mehr her. Er hielt einen Moment inne, lauschte. Der milde Wind strich durch die schwer mit Blättern beladenen Zweige des Kampferbaumes und bis auf ein Eichhörnchen, das eilends an einer Kastanie empor huschte, war niemand in der Nähe. Mit der Leichtigkeit einer Handbewegung gab er die menschliche Gestalt auf. Ein kurzes Schütteln, dann lief er zum Fuße des Baumes und stieß die Pfoten in den Grund. Der sommerliche Boden war ein widerspenstiges Gebilde aus trockener Erde, Sand und Steinen – alles unter der Hitze zu einer unzertrennbar harten Masse verklumpt. Allein die Grasnarbe herunter zu reißen verstaubte ihm Nase und Augen und färbte seine Vorderläufe mausgrau. Erst in der Tiefe von mehr als eineinhalb Metern stieß er auf Knochen. Eine mächtige Wurzel hatte sich über die Gebeine eines menschlichen Körpers geschoben wie in einer Umarmung; so innig, dass die Rippenknochen teilweise mit dem Holz verwachsen waren. Er wollte gerade die Zähne in den Knochen schlagen, um sie zur Seite zu zerren, als ein geräuschvolles Räuspern ihn innehalten ließ. Seine Kiefer schnappten leer aufeinander. Von Erde beinahe gänzlich schwarz hob er den Blick zum Rande des Loches empor und betrachtete den Geist über ihm. „Jemand den Ihr kanntet?“, erkundigte er sich matt. „Braucht es das, um dir einen respektvollen Umgang mit den Toten angedeihen zu lassen?“ „Es wäre hilfreich.“ Ebenso wie es hilfreich gewesen wäre, zu wissen, was er eigentlich suchen sollte. „Sie war – nun, sie war die Mutter meines Sohnes.“ „Eure Geliebte“, nahm Minoru ihm das Wort ab, das er zunächst zu vermeiden gesucht hatte. „So ist es.“ Einen Moment betrachtete Minoru ihn nachdenklich, stolperte sein Verstand den Fakten hinterher, die eine menschliche Leiche und einen Inuyōkai zu verknüpfen suchten. Dann spürte er, wie ihm die Kälte schlagartig durch die Pfoten fuhr. Hastig zog er sich aus dem Loch zurück und schüttelte die Erde nachdrücklich von seinem Pelz herunter. Die gelben Augen seines Gegenübers weiteten sich überrascht, scheinheilig: „Stimmt etwas nicht?“ „Ob etwas nicht stimmt?“, sein Nackenfell strebte gen Himmel wie ein widerborstiger Igel. „Ihr seid – wenn er erfährt, dass ich auf den Rippen seiner Großmutter herumbeißen wollte, dass ich sie ausgegraben habe –!“ Sein Großvater warf einen kritischen Blick in das Loch hinab. „Ausgegraben würde ich das nun nicht unbedingt nennen.“ „Wie könnt Ihr darüber scherzen?“ „Ich bin tot, Junge. Das erübrigt allerlei Konsequenzen, ist aber auf lange Sicht auch schrecklich eintönig. Wenn du dann fortfahren würdest?“ Zweifelnd betrachtete Minoru den einen Ahnen, über den er bereits ausreichend in Kenntnis gesetzt worden war – nur um festzustellen, dass alles Hörensagen ihn nicht auf die Wahrheit hätte vorbereiten können. Es war ihm stets unbegreiflich gewesen, wie Myōga gelegentlich über die Unbelehrbarkeit seines Meisters klagen konnte, während er im Bezug auf dessen Sohn nicht einmal einen kritischen Gedanken zu spinnen wagte, ohne darüber gleich in kalten Angstschweiß auszubrechen. Ein Mann, zu dem der Fürst aufsah, hatte in Minorus Augen eine noch unnahbarere, abgebrühtere Version seines Vaters sein müssen. Hart und über jeden Makel erhaben. Eher wie die Fürstinmutter. Stattdessen saß da ein über Grenzen hinweg gefürchteter Feldherr in Gestalt eines einfachen Hundes am Grab seiner menschlichen Geliebten und scherzte mit seinem dreckverschmierten Enkel wie Waschweiber an einem milden Sommermorgen. „Ich soll Eure Geliebte ausgraben“, wiederholte er so trocken wie der Staub zwischen seinen Zähnen, der ihn zumindest daran erinnerte, dass das hier real war und keinem abstrusen Hirngespinst entsprang. Die erhoffte Korrektur dieser Feststellung blieb aus. „Lediglich etwas, das mit ihr begraben liegt: Eine Perle.“ „Eine Perle“, monotonte Minoru dumpf. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Diskrepanz von Erwartungen und Realität in Einklang zu bringen – ein Zustand, den sein Großvater lediglich schürte, als er sich erhob und federnden Schrittes das Loch umrundete, um sich non-chalant an seine Seite zu stellen und mit ihm in das Grab zu sehen, wie andere Leute auf ein besonders hübsches Blumenbeet. „Meine Ruhestätte befindet sich in dieser Perle“, bemerkte er mit fester Stimme, die Minoru zurück auf den Boden der Tatsachen holte. „Inuyasha hat sie im Grab seiner Mutter beigesetzt. Er wird jedoch vermieden haben, auf ihre Gebeine zu stoßen.“ Minoru begriff, worauf er hinaus wollte, und ließ sich grummelnd zurück in die Kuhle gleiten. Wenn nicht gerade die Witterung dafür gesorgt hatte, dass etwas Kleines wie eine Perle beliebig weit in die Erde absackte, hatte er bereits zu tief gegraben oder aber – er betrachtete die Wurzel, dick wie der Arm eines Onis und schwarz wie die Nacht. Es brauchte einige Minuten, bis er sie ausreichend freigelegt hatte, doch dann wurde er fündig: Ebenso fest wie mit den sterblichen Überresten Izayois war die Wurzel des Kampferbaumes auch mit einem Glasgefäß verwachsen, von dem lediglich ein Bruchteil frei lag. Minoru betrachtete das Gebilde aus verschiedenen Winkeln. Die Splitter, die er sich in das Zahnfleisch treiben würde, waren ein denkbar geringer Preis für die Hoffnung, dass diese Unternehmung ihm der Heimat ein Stück näher brächte. Nur wie er an diesem armdicken Ungetüm ansetzen sollte, war ihm noch nicht recht klar. Testend schob er seine Zähne über die Wurzel und trieb sie tiefer hinein. Sobald das Holz unter seinem Biss faserte, spürte er gerade noch, wie fremdartiges Yōki daraus emporzüngelte, ehe es ihm einen Schlag versetzte, der ihn mit Wucht fortschleuderte. Eine Bahn dünnen Staubes wirbelte auf, wo sein Körper den Rasen streifte, ehe er sich um die eigene Achse warf und wieder auf die Pfoten kam – gerade rechtzeitig, um dem Schlag eines Astes auszuweichen, der auf ihn niederfuhr. Das Geäst riss die Grasnarbe entzwei und verteilte Erde wie Regen in der Luft, der hart auf Minoru niederprasselte. Außer Reichweite des wogenden Baumes stellte er wütend das Nackenfell ab und zwang seine Lungen zu atmen. Versuchte, die krampfenden Gliedmaßen zu entspannen und den flatternden Herzrhythmus zu beruhigen. Unwissend, worum es sich handelte, hatte er vor Jahren an einen Elektrozaun gegriffen, der einen Bullen zurückhalten sollte, und es sofort bereut – nun fühlte er sich, als habe er dieses Mal an einem geknabbert. Seine Knochen sangen wie von Millionen Ameisen beseelt und die Kopfschmerzen beeinträchtigten Sicht und Gehör, sodass er die hochgewachsene Gestalt des Inus zunächst nur verschwommen sah, während sie neben ihm Form annahm. Dass sein Großvater die Notwendigkeit sah, das Erscheinungsbild eines Hundes aufzugeben und mit dezent schwelender Aura an seiner Seite zu stehen, bereitete Minoru auf diversen Ebenen Sorge. Zum einen bedeutete dies, dass sich die Situation grundlegend anders entwickelte, als er es geplant hatte und zum anderen machte ihn ein humanoides Auftreten auf einschüchternde Weise realer. Im Regelfall hielt Minoru nicht viel davon das Maß an Respekt und Vorsicht von Äußerlichkeiten abhängig zu machen. Dennoch nahmen Haltung und Rüstung jedwedes Gefühl von Vertraulichkeit, die der weiße Hund zuvor noch wohlwollend vermittelt hatte und das Yōki tat ein Übriges: Ruhig durch die Gräser zu seinen Füßen streichend, war es kaum mehr als eine leise Mahnung an all jene Narren, die vergessen mochten, was hinter dem Schein lauerte – doch es kam Kaitos Aura in einer Art und Weise gleich, die Minoru ein Schaudern über den Rücken jagte. Rasch ließ auch Minoru von der Gestalt des Hundes ab und zwang sich auf die Beine, ehe er in Verlegenheit kam, seinen Großvater ungebührlich lange angesehen zu haben. Murrend rieb er sich Erde aus Augen und Gesicht und verwünschte seinen Kiefer, der unter der Berührung von Neuem zu kribbeln begann Sie standen gut zwanzig Meter vom Grab entfernt auf freier Fläche. Wo er eben noch gegraben hatte, regte sich das Erdreich und mitten in der gepflegten Rasenfläche des Parks klaffte eine dunkle Wunde. Die ehemalige Grasbedeckung baumelte in mehreren Metern Höhe in der Baumkrone des nun bei Windstille rege raschelnden Kampferbaumes. „Wirklich? Ein Baumgeist? Warum ist der mir noch nie aufgefallen?“, schnaubend zog Minoru einen kleinen Ast aus seinem Haar und schnippte ihn davon. Dieses Gemüse hatte ihn allen Ernstes angegriffen! „Weil er es so wollte. Die dämonischen Energien ruhen schwer wahrnehmbar am Kernholz. Ein Wesen, das unmöglich vor seinen Feinden davonlaufen und sich ihrer Angriffe nur begrenzt erwehren kann, muss sich anders behelfen.“ Tōga trat an seine Seite und fegte mit dem Handrücken ein wenig Dreck von der Schulter seines Enkels, der unter der Berührung gefror. Ein bedrohliches Rauschen fuhr durch die Krones des Kampfers bis in jedes Blatt hinein und schüttelte alles alte Geäst ab, das nicht mehr aus voller Kraft am Stamme hielt. Die Erde zu seinen Wurzeln zitterte, während die Rinde allmählich ein schartiges Gesicht formte. Ein bedrohliches, knarzendes Brummen wogte über den Rasen und schob eine aufsässig prickelnde Aura vor sich her. Die Hand seines Großvaters legte sich erneut auf Minorus Schulter und wurde zusehends schwerer, jederzeit bereit, ihn mit einer einzigen Bewegung in den sicheren Schatten des Daiyōkais zu werfen. Dann bewegte sich die Rinde und dunkle Blicken fielen aus schwarzen Astlöchern zu ihnen hinüber: „Wie könnt ihr es wagen? Meinen Schlaf derart hinterhältig zu stören! Mein Holz anfressen wie nur Ungeziefer es tut! Habt ihr keine Manieren? Die Ruhe der Toten zu meinen Wurzeln zu stören! Mir meine Schätze entreißen zu wollen! Welch ein Betragen!“ „Aufschneider“, Minoru bleckte die Zähne. Wie kopflos! Ein derart theatralisches Schauspiel aufzufahren, hätte der Kampfer im Angesicht von Menschen kaum gewagt. Doch bevor Minoru ihn auf diese Kleinigkeit hinweisen konnte, rumorte es erneut im Boden. Wurzeln schossen aus dem Erdreich hervor auf sie zu – und ein silbriger Schatten an ihnen vorüber. Noch ehe sein Großvater ihn hatte zurückreißen können, war Minoru Ichirou nachgehechtet und hatte den Hund zu Boden geworfen. Mit Mühe brachte er das schwere Tier unter sich, bevor die Wurzeln auf sie niederfuhren. Neben ihnen wurde die Grasnarbe zerrissen, Erde regnete auf sie herab und Steine flogen durch die Luft. Ein Knall, dann peitschte das Gehölz über Minorus Rücken, zerfetzte den billigen Stoff und fraß sich in sein Fleisch. Der gellende Aufschrei riss eine Welle von Yōki mit sich, die sämtliches Grün versengend über den Rasen fegte und heiß am Stamm des Baumes emporschlug. Verwünschungen gingen in Fluchen über, während der Kampfer hastig seine niederen Äste schüttelte, um die Funken abzuwerfen, die seinem Blattwerk nach dem Leben trachteten. Während der Schmerz einem Feuer gleich durch seinen Körper tobte, hievte Minoru sich knurrend auf die Knie und bemerkte aus den Augenwinkeln die ausgestreckte Hand, die er dankbar annahm. Tōga zog ihn am Unterarm zurück auf die Beine und betrachtete Ichirou ausdruckslos. Der drückte sich schuldbewusst winselnd am Boden herum, leckte seine Nase und deutete probeweise ein Schwanzwedeln an, das Minoru mit einem einzigen Blick zum Erliegen brachte. Dann wandte dieser sich zu dem Baum um, der soeben den letzten Glutherd gelöscht hatte, und bleckte die Zähne. „Du wirst dieses lächerliche Gehabe auf der Stelle unterlassen und herausgeben, was dir ohnehin nie gehört hat!“ „Sonst was?“ „'Sonst was'?“ Ein gefährlicher Rotschimmer legte sich über Minorus Augen. „Willst du mich daran hindern, es mir zu holen, Baum?“ Im Geäst raschelte es unbehaglich, während die Rinde die Lippen schmälerte: „Ich meinte natürlich: Was gibst du mir dafür?“ „Was ich dir dafür... - was ich dir dafür gebe?!?“ Diese Dreistigkeit! Niemals hatte ihn jemand dazu veranlasst, eines dieser unsäglichen Handelsabkommen einzugehen, und nun, da sein weltlicher Besitz dem der meisten Obdachlosen entsprach, war das erst recht aberwitzig. Er würde diesem Gewächs jede Wurzel einzeln in die glimmenden Astlöcher seiner Augen stecken! Doch es war Tōga, der Minoru eine Hand auf die Schulter legte und die Situation beruhigte, bevor der ohnehin in Mitleidenschaft gezogene Park gänzlich der Verwüstung anheimfiel: „Zeig' Nachsicht. Du willst die Aufmerksamkeit nicht und die Auseinandersetzung ist es auch nicht wert. Er hat sich sicher auch nur erschrocken.“ „Sie“, zischte es spitz aus der Borke. „Sie ist den Umgang mit anderen Yōkai sicherlich nicht gewohnt“, der Daiyōkai hob den Blick mahnend in Richtung des Kampfers. „Und weiß daher sicherlich nicht, wann es besser ist, den Mund zu halten.“ Minoru sog scharf die Luft ein, knirschte mit den Zähnen und besann sich dann eines besseren als der Aufforderung seines Großvaters zu widerstreben. „Was ich dir also gebe, fragst du? Was denkst du, was ich habe?“ Der Baum ließ sich jedoch nicht beirren und machte keinen Hehl daraus, dass sie sehr wohl wusste, wen sie vor sich hatte: „Was gibst du mir, wenn ich den Enkel des großen Daiyōkais des Westens zurück an seinen Wirkungsort bringe?“ „Ich habe keinen Besitz, den ich dir überlassen kann.“ Vielleicht waren Bäume so schwerfällig wie sie groß waren? „Was kann ein Wesen wie du von meiner Person schon wünschen?“ „Nur eines: Wenn ich dir helfe, wirst du das hier ändern. Das alles.“ Die Äste der Baumkrone reckten sich, als wolle sie einen größeren Bereich des Parks umspannen. „Den Park.“ Minoru zog eine Braue empor. „Was gefällt dir an dem Park nicht?“ „Nicht der Park!“, fauchte sie. „Alles. Die Stadt. Die Menschen. Jemand wie du hat die Macht dazu.“ „Jemand wie ich diskutiert gerade mit einem Baum.“ „Du bist durch die dichten Wälder vergangener Zeiten gestreift, durch Täler, so menschenleer wie das tiefe Erdreich. Glaubst du, dieser Ort hier sei sicher? Das haben auch andere geglaubt. Andere, die für Wege weichen mussten, für hohe Steingebäude und Wohnungen – und an mir werden nicht fröhlich ihre Kinder schaukeln, so viel kann ich dir verraten. Noch vor einigen Jahren habe ich andere wie mich gehört. Ihre Wurzeln reichten tief in die Erde hinein. Sie waren alt. Viel älter als ich es je werde. Aber sie sind verstummt. Ich bin allein hier, Inu, ganz allein... .“ „Ich kann dein Leid zum Teil nachempfinden. Fünfhundert Jahre sind für keinen von uns eine lange Zeit – und dennoch haben sie alles verändert. Du erwartest, dass ich zurückkehre und die Zukunft neu schreibe. Dass ich die Zivilisation der Menschen in ihren Grundfesten niederreiße.“ Er spürte den Blick seines Großvaters im Nacken, seine Präsenz, die sich wie ein Schatten über ihn schob. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich begreife die Gesetze der Zeit nur dürftig und wollte nie wissen, was die Zukunft bringt, aber gemäß dem Fall, dass ich zurückkehren kann und diesen Umsturz versuche, ist unser Gespräch dann nicht schon der Beweis meines Scheiterns?“ Der Baum blieb lange still, wiegte sanft hin und her als verspüre sie als einzige einen nächtlichen Wind, den sonst niemand wahrnahm. „Nun... ich weiß es nicht. Du kannst es dennoch versuchen.“ Die Kälte in seinem Nacken wurde stechend: „Minoru.“ Er sah über die Schulter zu Tōga, der ihm einen mahnenden Blick zuwarf, als fürchte er die Antwort, die er auf das Bitten dieses Baumgeistes äußern könne. „Ich verspreche nicht, was ich nicht beeinflussen kann“, erwiderte der schließlich an den Kampfer gewandt. „Weder dass es übermorgen regnen wird, noch dass ich im Falle meiner Rückkehr die Zeit verändern werde. Sei aber versichert, dass ich alles notwendige tue, um das Leben der meinen zu schützen. Vielleicht trage ich genau dadurch zu diesem Dilemma bei, vielleicht auch nicht. In meinem Verständnis von Kontinuität muss jedes Handeln unweigerlich auf dasselbe Ergebnis hinführen – selbst wenn man versucht, genau das zu vermeiden. Oder ich irre mich und Schicksal ist veränderbar.“ Er rieb sich erneut mit Nachdruck die Schläfen. „Ich weiß, warum ich mir darüber nie den Kopf zerbrechen wollte. Das ist alles fürchterlich verschachtelt und scheiße.“ „Zählst du mich dann zu den deinen?“ Huh? Wie war das? Er sollte seine Gunst an einen Baum binden, der auf fremden Besitz hockte wie der Drache auf dem Gold und dessen Schatz er sich auch mit einer einfachen Axt selbst hätte holen können? In Anbetracht dieser mageren Verhandlungsposition, die sie letztlich nur beziehen konnte, weil Tōga ihn zur Nachsicht anhielt, ein sehr anmaßender Gedanke. Und warum zum Donnerwetter wurde die Borke bei dem Gedanken gerade roter als sie sein sollte? „Du merkst schon, dass deine Verhandlungsposition recht dürftig ist, oder?“ Die sanfte Röte wich umgehend: „Du bist kaltherzig.“ „Ich bin nutzenorientiert und binde mein Wort nicht, wo ich nicht muss. Ich würde dich allerdings nicht gänzlich vergessen“, räumte er schließlich ein, so albern ihm der Gedanke auch vorkam, jemand könne auf seine Gunst bauen – zukünftiger Taishō hin oder her, das hier war einfach lachhaft und er musste zugeben, dass er weder verstand, was der Baumgeist sich von ihm erhoffte noch wie sie an eine so hochgegriffene Thematik gelangt waren. Sicher war jedoch, dass er keine zukunftsweisenden Unternehmungen plante, weil eine Pflanze ihn darum anhielt. „Mehr kann ich wohl nicht erwarten“, lenkte diese ein und schleuderte das Glas mit einem Wurzelschlag aus der gegrabenen Kuhle hervor. Minoru fing es beiläufig und ließ die Klauen über die dünne Erdschicht kratzen, die das Glas bedeckte, ehe er die Perle im Innern von einer Seite zur anderen rollen ließ; kaum größer als eine Erbse. Sie war pechschwarz und spiegelte den Lichteinfall ebenso wenig wie eine sadoanische Obsidianklinge. „Euer Grab.“ „In gewisser Weise. Sie war einst ein Tor zur Zwischenwelt, in welcher mein Körper ruht. Doch diese Perlen öffnen ihren Weg nicht beliebig oft. Dieser Pfad hier ist versiegt, die Perle jedoch längst nicht machtlos.“ „Der Baum macht gar nichts mehr.“ Minoru sah zu Ichirou herab und folgte seinem Blick hinüber zu dem Baum, der sämtliche Wurzeln in der schützenden Erde verborgen hatte und stumm und regungslos auf der verwüsteten Wiese stand. „Ist sie tot?“ „Nein. Bewusstlos im wahrsten Sinne des Begriffes. Ein solcher Dämon kann in jedem Baum erwachen, der tausend Jahreswechsel überdauert hat. Dieser Kampfer ist jedoch bedeutend jünger. Die Perle hat ihr eine Existenz jenseits ihrer eigenen Möglichkeiten gewährt. Sie wird wieder erwachen, wenn ihre Zeit gekommen ist.“ „Wenn sie dann noch steht.“ „Das vorausgesetzt.“ Tōga trat an seine Seite und schloss seine Hand über dem Glasgefäß. „Das Holz eines Baumgeistes besitzt Macht. Meine Schwertscheiden waren daraus gefertigt und auch dein Brunnen, der dir so viel Kummer bereitet, wurde aus dem Holz eines alten Baumes errichtet. Es ist anzunehmen, dass die Perle auch ihm neues Leben einzuhauchen vermag. Das ist nur eine Vermutung – aber es ist alles, was ich für dich tun kann.“ Minoru verneigte sich tief, auch wenn die aufgerissene Haut an seinem Rücken schmerzhaft protestierte und erneut Blut heiß an seiner Seite herunterrann. „Ihr seid zu gütig. Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll.“ „Bleib standhaft“, erwiderte Tōga und Minoru erstarrte, als sein Gegenüber ihm vertraulich eine Hand ins Haar legte und seine Strähnen mit messerscharfen Klauen durchfuhr. „Das genügt mir. Und hab' Nachsicht mit deinem Vater. Er wird sie brauchen." Kapitel 49: am Fuße des Leuchtturms ----------------------------------- „Kartoffeln, Rüben und Ingwer. Bitte sehr.“ Die junge Frau reichte eine Plastiktüte über den Tresen des Marktstandes und nahm das Geld entgegen. „Wo ist denn der niedliche Hund, den du sonst immer mitbringst?“ „Der hat Hausarrest.“ Das schmale Lächeln der Verkäuferin wurde breiter und sie hätte sichtbar gern die Unterhaltung weitergesponnen, hätte Minoru nicht das Wechselgeld vom Tresen gezogen und sich umgehend abgewandt. Dafür hasste er die Markttage. Dieses belanglose Gerede und dämliche Gekicher der Meschenweiber machte ihn noch krank. Zumal ihm in dieser Hinsicht wirklich nicht der Sinn nach Heiterkeit stand: Als Ichirou sich so unbedarft in einen aussichtlosen Kampf geworfen hatte, war Minoru ein Herzschlag abhanden gekommen. Es hatte nicht viel gefehlt und die Wurzeln des Baumdämonen hätten den Hund zerfetzt. Weil er unbedacht und planlos gehandelt hatte. Selbstlos, sicher, aber Selbstlosigkeit war nicht das, was Minoru von ihm erwartete, geschweige denn sehen wollte. Der Hund war nicht sein Untergebener, demnach verlangte er keinen absoluten Gehorsam, aber er musste sich auf ihn verlassen können und forderte ein gewisses Grundvertrauen in seine Entscheidungen. Die Standpauke war dementsprechend ausgefallen und weder durfte Ichirou das Schreingelände verlassen, noch hatte er es gewagt, in den vergangenen Tagen das Wort an Minoru zu richten, der ihn wiederum wie Luft behandelte. Minoru schloss zu Keiko auf und nahm ihr den schweren Einkaufskorb ab. Die alte Dame bedankte sich und tupfte zum wiederholten Mal mit einem Tuch den Schweiß von ihrer Stirn. Es war noch nicht Mittag, aber die Sonne brütete bereits unerbittlich über der Stadt. Stählerne Autolawinen quälten sich durch die Straßen. Wer ohne Klimaanlage fuhr, hatte die Fenster heruntergelassen und hoffte vergeblich auf angenehmen Wind, doch die Luft stand ebenso still wie der Verkehr. „Bist du nicht etwas streng?“ Sie hatte das Gespräch offensichtlich mitgehört. Minoru biss die Zähne zusammen und vermied es, Keiko anzusehen, die ihm unweigerlich einen ihrer forschenden Blicke zuwarf. „Nein.“ „Was auch immer vorgefallen ist – und ich tue mal so, als ob ich nicht ahnen würde, dass ihr etwas mit diesem verwüsteten Park zu tun habt, der in den Nachrichten war – er hat es sicher nicht getan, um dich zu ärgern.“ „Das ist unerheblich. Es war dumm.“ „Er ist jung. Und ich weiß, du willst ihn lediglich vor Schlimmerem bewahren, aber er leidet, wenn du ihm weiterhin die kalte Schulter zeigst. Hast du noch nie etwas dummes getan, von dem du dachtest, dass es richtig sei?“ Minoru fielen da auf Anhieb so einige Sachen ein, die sich sicherlich nicht zu seinen glänzendsten Stunden zählen ließen. Einen reißenden Fluss aufgrund eines Versprechens zu durchschwimmen und dabei halb zu ersaufen etwa. Oder sich für zwei Fremde über direkte Befehle hinwegzusetzen und sich in einen Kampf mit zwei Mönchen verstricken zu lassen. Gedehnt atmete er aus und Keiko tat ihm den Gefallen, nicht noch den Finger in die Wunde zu legen. „Sei nicht so hart zu ihm. Er braucht dich.“ Er gab ein Brummen von sich, das es ihm erlaubte, den Kampf als verloren einzuräumen ohne seine Würde dabei in Scherben zu hinterlassen. Sie gingen zu Fuß zurück. Eine anstrengender Anstieg für die alte Frau, die mehrfach rasten musste, ehe sie den Schrein erreicht hatten. Ichirou lag ausgestreckt im Schatten der gewaltigen Eiche und verfolgte ihre Ankunft aus halb geschlossenen Augen. Minoru stellte den Korb auf der Türschwelle ab und wandte sich zu ihm: „Irgendetwas neues?“ Irritiert ob der unerwarteten Ansprache hob der Akita den Kopf und schüttelte ihn schließlich wortlos, wie er es bei den Menschen gesehen hatte. „Zu dumm.“ „Es tut mir leid, dass dein Brunnen die Murmel nicht will.“ Seufzend ließ sich Minoru neben ihm an dem Stamm der alten Eiche herunterrutschen und winkelte ein Bein an. „Ist ja nichts neues, dass er nichts tut.“ Der Akita legte den Kopf zurück auf die Pfoten. „Es tut mir leid.“ „Ich weiß“, murmelte Minoru, wissend, dass er dieses Mal nicht von dem Brunnen sprach. „Alle sind nett hier. Aber sie sind nicht du. Ich wollte nicht, dass sie dir etwas antun. Der Baum oder der Hund. Ich wollte nicht ohne dich hier bleiben.“ Minoru schloss die Augen und zog die Luft tief in die Lungen, um das beklemmende Gefühl niederzukämpfen. „Chiro...“ „Wenn du gehst, wenn dein Brunnen wieder funktioniert, dann lass mich nicht hier.“ „Meine Zeit ist anders als diese. Du weißt nicht, worauf du dich einlässt.“ „Du hast genug erzählt.“ „Es gibt keinen Tierarzt, der deine Wunden versorgen oder deine Krankheiten behandeln kann. Mit Pech schlafen wir ständig draußen in der Kälte und hungern. Ich weiß nicht einmal, was mich dort erwartet. Ob meine Familie lebt oder alles niedergebrannt worden ist und wir nur über Leichen wandern.“ Der Hund hatte sich erhoben. „Das ist mir egal.“ „Das wäre es nicht, wenn du den Umfang begreifen könntest.“ „Magst du mich nicht mehr wegen dieser Parksache? Ist es deshalb?“ Minoru schnalzte mit der Zunge: „Dummerchen. Ich mache nur deshalb so einen Aufstand um deine Fehler, weil ich dich sicher wissen will. Den Atem würde ich mir sparen, wenn du mir gleichgültig wärst. Und hier wärst du sicherer. Auch ohne mich.“ Das Nackenfell des Hundes stellte sich augenblicklich auf: „Ich will aber nicht ohne dich! Warum sind Dämonen da nur genauso blind wie Menschen? Ich bin ein Hund, keine verdammte Katze, die dich für einen angnehmeren Dosenöffner verlässt. Wenn du mich nicht willst, hättest du damals einfach vorübergehen sollen statt mich mitzunehmen. Ich will sein, wo du bist – und wenn es das Ende der Welt ist und du seit Tagen nichts mehr zum Fressen hast, will und werde ich da sein. Also lass mich nicht zurück.“ Er war bereits nach wenigen Monaten größer gewesen als Minorus animalisches Erscheinungsbild. Ichirou überragte ihn in jener Form seither um mehr als eine Handlänge und wirkte mit aufgestelltem Fell noch eindrucksvoller und, wenn er es darauf anlegte, wirklich gefährlich. Minoru unterband sein Gebarden mit etwas, das ein Mensch mit einem knappen Lächeln verwechselt hätte. Der Hund zuckte beim Anblick seiner Zähne zurück und atmete durch, bis sich sein Fell ordnungsgemäß zurück an seinen Körper gelegt hatte. „Gut“, entschied Minoru knapp und wischte nachlässig einen Käfer von seinem Oberarm. Unsicher, ob das nun eine Anmerkung zu seinem Verhalten oder eine Zusage gewesen war, tappte Ichirou auf der Stelle und legte den Kopf schief. Minoru sah ihn einen Moment still an, dann zuckte er mit den Achseln. „Wenn es das ist, was du willst, dann bleib bei mir.“ Ein Sturm grau-gestromten Fells war über ihm, ehe er die Hände zur Abwehr hätte heben können. Der Akita begrub ihn unter sich, stapfte mit den Pfoten auf seinen Rippen und dem ungeschützten Leib herum und zog eine nasse Zunge über sein Gesicht, wo immer er an die Haut heranreichte. „Ichi- lass das! Runter!“ Der Hund gehorchte, ließ es sich jedoch nicht nehmen, übermütig um ihn herumzuspringen und ihn mit deutlichen Signalen zum Spielen aufzufordern. Minoru lag ausgestreckt auf dem Rücken und strich Sabber und einige Haare aus dem Gesicht, während er das Treiben über seinem Kopf mit einem Seufzer bedachte. Was der Hof zu seinem Gebahren sagen würde, konnte er sich in diversen Farben ausmalen, aber es kümmerte ihn nicht. Die waren weit weg. „Die vorderen Blumenbeete und das Gewächshaus. Danach können wir spielen.“ Als Minoru Tage später in den frühen Morgenstunden aus dem Tiefschlaf erwachte, war ihm nicht klar, was ihn geweckt hatte. Ichirou flezte ausgestreckt neben ihm und hatte den Kopf quer über seinen Hals gelegt. Das Gewicht des massigen Schädels drückte auf seinen Kehlkopf und hinterließ beim Schlucken eine ungewohnte Schwere, während das feine Fell bei jedem Atemzug des Hundes, an seiner Haut kitzelte. Halb verschlafen legte Minoru eine Hand in den dichten Pelz und entlockte dem schlafenden Ungetüm ein zufriedenes Brummen. Er roch nach frischer Erde und Dahlien. Überreste ihrer nachmittäglichen Gartenarbeit, die Keiko mit Kuchen und Hundekeksen versüßt hatte. Gedankenversunken ließ Minoru seine Krallen durch das Fell wandern und blinzelte zur Decke. Einem Menschen hätte der Raum wohl stockfinster anmuten mögen, doch Minoru nahm die feinen Muster der Morgensonne wahr, die sich mühsam durch die Ritzen in der Holzfassade des Brunnenhauses zwängten. Der Berufsverkehr hatte bereits begonnen und überzog die Stadt mit mechanischen Geräuschen und beißenden Gerüchen. Abgase und Zigarettenqualm mischten sich mit Deodorant und Parfüm, vergärenden Müll und dem süßlichen Duft, der aus verschiedenen Gärten drang. Doch da war noch etwas anderes. Ein frischer Strom, so gradlinig, als hätte er ein Autofenster ein Stück heruntergelassen und die vorbeiströmende Luft eingezogen. Ruckartig setzte er sich auf. Ichirou gab ein erschrockenes Jaulen von sich und rollte perplex auf die Seite, während Minoru mit einem Satz auf den Beinen war und in den Brunnen starrte. Gähnende Leere stieg aus der Finsternis empor, doch der Geruch war eindeutig der eines erwachenden Waldes. Prüfend fuhr er mit den Handflächen über da alte Holz und spürte dem verhaltenen Flackern dämonischer Energie nach, das den Balken belebte. Probeweise spannte er die Hände an und trieb die Krallen nur wenige Millimeter tief hinein, ehe das hervorschlagende Yōki ihn zurückzucken ließ. Seine bis zu den Ellen betäubt schwirrenden Nerven entlockten ihm ein ungewohnt breites Lächeln, das den Hund unwillkürlich zurückzucken ließ. „Mino...? Alles in Ordnung?“ Beinahe war er versucht, all das für einen gut gesponnenen Traum zu halten, doch das Singen des fremden Yōkis war zu eindringlich, zu real. Endlich! Besinnend stieß er sich vom Brunnenrand ab. Mit wenigen Handgriffen hatte er ein T-Shirt über den Kopf gestreift, seine Jogginghose gegen eine aus dunkelgrünem Stoff mit reichlich Taschen getauscht und seine Kunstlederjacke übergeworfen. Ichirou wich ihm weiträumig aus, als er auf einem Bein springen in die Chucks schlüpfte und notdürftig einen Knoten in die Schnürsenkel würgte. „Gehen wir?“ Minoru kontrollierte die Reißverschlüsse an den Rucksäcken und schulterte den ersten, während er aus dem anderen einen Brief herausfischte, der gut sichtbar in einer Seitentasche steckte. „Wenn der Brunnen uns beide durchlässt, dann gehen wir. Ja.“ „Jetzt gleich?“ „Sofort.“ Er schwang sich auf den Rand des Brunnens. Ichirou trat näher an ihn heran und schob die Schnauze auf seinen Oberschenkel. Ein leises Fiepen untermalte den herzzerreißenden Blick aus seinen dunklen Augen unnötig dramatisch. Der Luftzug nahm zu. Er verschlang die Gerüche der Neuzeit in einem Wirbel früher Morgenluft, klarer Bäche, dichter Wälder. Die vollkommene Dunkelheit in gut drei Metern Tiefe war nun mit grauen, heller werdenden Schlieren durchsetzt. Minoru packte Ichirou im Nacken und zog ihn zu sich hinauf. Das Tier lag schwer und breit auf seinem Schoß, suchte mit den Beinen trampelnd nach etwas mehr Halt. Minoru warf einen letzten Blick auf den Brief. Ein Brief, den er schon vor langer Zeit begonnen und immer wieder neu verfasst hatte. Für einen Moment wie diesen, an dem er sich unmöglich persönlich verabschieden würde. Ein Brief von Dank und guten Wünschen. Das Verschwinden der Rucksäcke hätte der Familie vermutlich Hinweis genug auf seinen Verbleib gegeben, doch er wollte sich absichern. Wollte dieses Mal nicht jene wortlos zurücklassen müssen, die ihm wichtig geworden waren. Sie würden es verstehen. Keiko insbesondere. Er warf das Schreiben hinter sich auf das dürftig gemachte Bett, dann schloss er die Arme enger um Ichirou und sprang. ☾ Der Hochsommer und jener vor vier Jahren hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die erbarmungslose Hitze und Trockenheit war ausgeblieben, Gräser und Kräuter dunkelgrün vom Saft und das Laub so deckend, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte. In der Stille des Waldes wirkte der Ruf einer einzelnen Amsel anmaßend laut. Erschrocken über das plötzliches Erscheinen der beiden, flog der Vogel aus der Hecke auf und zerschlug mit seinen Flügeln knackend kleinere Äste. Ichirou sah ihm misstrauisch nach, wandte sich jedoch schnell wieder ab. Aufgeregt sog er jeden neuen Geruch ein, schnupperte am Boden und streunte durch das morgennasse Gras, das ihm bis an den Rücken reichte. Als er jedoch die Nase rümpfte und einige Schritte zurück trat, ließ sich Minoru vom Brunnenrand gleiten und sammelte die Silberkette auf, die neben ihm im Gras gelandet war. Er hatte wohl daran getan, die Schwarze Perle in die Rundung des Halbmondes einsetzen zu lassen, den er zu Neujahr geschenkt bekommen hatte. Das kühle Gefühl, das die Perle auf seiner Haut hinterließ, beruhigte ihn weitaus mehr als der Gedanke, sie in irgendeiner Tasche verstaut zu haben. Während er den Schmuck wieder um seinen Hals legte, hielt er inne. Die Luft war klar, wie so häufig nach einer kühleren Nacht, doch etwas schwang schwerer in ihr mit und reizte die Sinne als atme man Essig in tiefen Zügen ein. Etwas, das er jenseits des Brunnens nicht wahrgenommen hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Minoru setzte nach vorn, hob den verdutzten Akita hoch und verließ die Lichtung eilends in das dichtere Unterholz. Erst an einem tieferen Stück des Flusses, der auch das Dorf versorgte, hielt er an, ließ die Rucksäcke fallen und setzte Ichirou am Ufer ab. „Was du gerochen hast, war Gift. Zumindest Reste davon. Wasch es ab.“ Er selbst stieg bereits in das Wasser und kniete nieder, sodass es ihm bis an die Brust reichte. Dann wusch er mit Nachdruck Gesicht und Arme ab, um das Make-Up zu entfernen, zog das Haarband aus dem Zopf und tauchte schließlich gänzlich unter, als Ichirou folgsam in den klaren Fluss wartete. Kühl fuhr die Strömung durch sein Haar, durchnässte den Stoff von Hose und T-Shirt und nahm hoffentlich einen Teil des Giftes mit. Zwar war der Geruch schal geworden, doch die Witterung von vier Jahren hatte nicht ausgereicht, um die Stoffe aus dem Boden zu waschen. In das unbehandelte Holz des Brunnens eingezogen und durch das Erdreich von den umstehenden Pflanzen aufgenommen, war es mit Sicherheit eine Henkersmahlzeit für jedes Tier, das sich auf diese Lichtung verirrte. Ein Toxin dieser Stärke herzustellen erforderte sicher einige Spitzfindigkeit, was, gemessen daran, wen sie damit hatten umbringen wollen, jedoch verschwendete Mühe gewesen war. Auch jetzt ängstigte es ihn wenig und der einzige Grund, warum er sich die Mühe machte, dieses Zeug abzuwaschen, war der Hund. In dem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob sie sich der Gifttoleranz ihres Gegners tatsächlich nicht bewusst gewesen waren oder schlicht mit einer unsagbar hohen Toxizität versucht hatten, diese zu übergehen. Viel hilft viel. Beides ließ den ganzen Versuch stümperhaft wirken. Denn ganz gleich wie er die Situation betrachtete, war doch unbestreitbar, dass die Zwillinge von all den Dämonen, die in jener Nacht ihr Heimatdorf angegriffen hatten, ausgerechnet ihn hatten töten wollen. So viel zur menschlichen Irrationalität. Er hatte mit ihnen gestritten, ja, aber konnten weibliche Menschen derart nachtragend sein, dass sie deswegen die Verteidigung ihres Dorfes aufgaben? Die Reaktion schien selbst ihm zu hochgestochen und er war ein verdammter Rachedämon. Ein Gutes hatten die Giftrückstände jedoch: Ihre Existenz bedeutete, dass der Brunnen ihn tatsächlich in seine Epoche zurückgebracht hatte. Bei diesem launischen Ding war das wahrscheinlich nicht so selbstverständlich, wie er sich stets eingeredet hatte. Bevor er aus dem Wasser stieg, half er Ichirou das Fell zu reinigen und wrang am Ufer schließlich Haare und Kleidung aus, ehe er die nasse Baumwolle wieder überstreifte und die hüftlangen Strähnen aus dem Kragen des Shirts zog. Der Akita schüttelte sich mehrmals kräftig und trottete dank dichter Unterwolle dennoch triefend neben ihm durch den Wald. Das Dorf lag unterhalb der Anhöhe in der Morgensonne, die die Siedlung in ein goldgelbes Licht tauchte. Es hätte idyllisch anmuten können, wenn man von den offensichtlichen Veränderungen absah: Mehr als die Hälfte der Gebäude war an anderer Stelle von Grund auf neu errichtet worden. Neben denen, die man wieder in Stand gesetzt hatte, waren viele niedergerissen oder fielen allmählich in sich zusammen. Verbrannte Balken zerstörter Gebäude hatte man neben neuen Stämmen in den dichten Wall eingelassen, der die geschrumpfte Siedlung einem Ring gleich umfasste. Das verkohlte Holz stank so abstoßend, dass allein der Geruch sicher den ein oder anderen Yōkai von einem Angriff absehen ließ. Vor dem Wall waren angespitzte Pfähle in schiefen Winkeln in den Boden getrieben worden, an denen vereinzelt Köpfe von Dämonen in der Sonne vertrockneten. Nur zu gern hätte Minoru gewusst, wessen grandioser Einfall das nun wieder gewesen war. Was unter Menschen vielleicht eine mahnende Warnung an Banditen oder Gesetzlose darstellte, wurde von Dämonen nicht zu Unrecht als Beleidigung und Herausforderung aufgefasst. Eine solche Nachricht konnte sich nur erlauben, wer in der Lage war, dem Zorn dieser Provokation stand zu halten – und so sehr die Verteidigungsmaßnahmen an diesem Dorf auch vorangetrieben worden waren, würden sie einem Angriff nicht lange abwehren. Für den Moment gewährten sie den Bewohnern jedoch vermutlich ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, ließen sie tagsüber innerhalb des Ringes freier atmen und nachts ruhiger schlafen. Außerhalb der hölzernen Barrikade regte sich nicht viel. Der Wald der Nordfront lag großflächig gerodet am Boden und alle hundert Meter ragten lange Pfähle aus dem hohen Gras, die einem Bogenschützen die Entfernung eines etwaigen Zieles anzeigten. Der Fluss war begradigt worden, um die großen Reisfelder zu versorgen, die zu dieser Jahreszeit trocken und voller reifer Ähren standen. Zum Teil waren sie schon geerntet; die abgeschnittenen Pflanzen in Bündeln über Holzgestelle gehangen, um die Ähren abzutrocknen. Die Gestelle waren über zwei Meter hoch und viele entlang des Feldes noch leer. Von Bauern bei der Arbeit jedoch keine Spur. Minoru biss die Zähne zusammen und zog die Rucksäcke mehr auf die linke Schulter. Das versprach ein feindseliger Botengang zu werden. Hätte Keiko ihn nicht darum gebeten, die Sachen bei ihrer Tochter abzuliefern, hätte er diesen Abstecher gern vermieden. Menschen der Neuzeit mochten aus Gründen ihres Weltverständnisses annehmen, dass eine humanoide Erscheinung den Menschen mache, doch hier wusste man, was ein Dämon war und schien nun begriffen zu haben, wie es um die Nahrungskette stand. Zumal ein Teil der Bevölkerung ohnehin seinen Kopf auf einen der Spieße wünschte und nicht klar war, ob sein impulsiver Onkel sich aufgrund des Schicksals seines Sohnes nun zu dieser Gruppe zählte. Ichirou dicht an seiner Seite näherte er sich dem Tor in einem möglichst großen Bogen und erstarrte, als ihn ein vertrauter Geruch umwehte. Er fuhr herum und erhaschte gerade noch einen Blick auf ein paar weißer Hundeohren, die sich ins hohe Gras duckten. Das Mädchen musste seine Aufmerksamkeit bemerkt haben, denn als er sich nicht von seiner Position abwandte, sprang es auf und hastete zwischen die Gestelle. „Yayoi, warte!“ Minoru folgte ihr langsamen Schrittes, um sie nicht unnötig zu ängstigen, und bückte sich unter einem Gestell trocknender Pflanzen hindurch, nur um auf der anderen Seite einem Pfeil ins Auge zu Blicken, der wenige Zentimeter vor seinem Gesicht schwebte. Gut, zugegeben, die Neuzeit hatte ihn einiges gekostet. Vor allem Aufmerksamkeit, Wahrnehmungsvermögen und das vorausschauende Denken, dass hinter jedem Baum eine Gefahr wartete. Ein sicherer Schütze hätte ihn längst ins Jenseits befördert, doch so blieb der zittrige Pfeil nichts weiter als eine freundliche Erinnerung daran, dass derlei Leichtsinn im Mittelalter nichts verloren hatte. Minoru hielt einen Moment inne, zählte missmutig bis drei, dann richtete er sich auf und sah mit erhobener Braue fragend auf Honoka herab, die mit jeden Zentimeter, den er sie überragte, blasser geworden war. „Einen herzlicheren Empfang hättest du dir nicht ausdenken können?“ „Minoru... .“ Endlich ließ sie die Waffe sinken, nur um ihm im nächsten Moment um den Hals zu fallen wie einem lang verschollenen Bruder. „Den Göttern sei Dank, du lebst...“ Sie gefror zur Salzsäule und ließ sich umgehend zurück auf die Füße fallen, als er entgegen aller Erwartungen eine einzelne Hand mit vorsichtigem Druck auf ihren Rücken legte. Sie stieß ihn von sich und sah mit einem Blick zu ihm auf, der unvermeidbar an ein wütendes Raubtier erinnert hätte, wenn sie nicht so puterrot angelaufen wäre. „Du lebst! Was hast du dir dabei gedacht einfach so jahrelang zu verschwinden?!“ Ichirou hatte die Zähne gebleckt, ließ sich aber abrupt ins Gras fallen, als Minoru es ihm mit einer knappen Handbewegung gebot. Abermals schubste Honoka ihn grob zurück und stach mit dem Zeigefinger unerbittlich auf seine Brust ein, bis er die trockenen Reisähren in seinem Nacken spürte. „Hast du eine Ahnung, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben? Was für ein Theater hier war, weil du nicht wieder aufgetaucht bist?!“ „Honoka.“ „Und dann stehst du hier, als wäre nie etwas gewesen! Umarmst einfach ein sittsames Mädchen-!“ „Honoka!“ „Was?!“ Er nickte zu dem kleinen Mädchen hinüber, das sich fest an eines der Holzgestelle klammerte und mit angsterfüllten, bernsteinfarbenen Augen zu ihrer Schwester aufsah. Von seinen drei Kindern sah Yayoi Inuyasha mit Abstand am ähnlichsten. Honoka blieb die Wut im Halse stecken. „Entschuldige, Yayoi...“, sie wandte sich von ihm ab und ging vor ihrer Schwester in die Hocke. „Das ist Minoru. Der Sohn von Onkel Sesshōmaru. Er ist ganz nett.“ „So?“ Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu und streckte eine Hand nach Yayoi aus. „Wir streiten gar nicht mehr, siehst du?“ Zögerlich griff die Kleine nach ihrer Hand, ließ Minoru jedoch nicht aus den Augen. Der warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu und stellte die Rucksäcke vor sich ab. Honoka richtete sich wieder auf und legte Yayoi eine Hand ins Haar. Die Kleine klammerte sich umgehend an das Bein ihrer großen Schwester und beäugte die Gepäckstücke sowie ihren Vetter misstrauisch. Auch Honoka blinzelte, als begreife sie nun erst, dass irgendetwas an ihm nicht stimmte. „Du warst auf der anderen Seite.“ „Eure Familie hat mich gebeten, euch das hier zu bringen“, erwiderte Minoru als erkläre dies alles. „Unsere -“, ihr gerötetes Gesicht war sichtlich blasser geworden. „Du hast sie getroffen? Ihnen von uns erzählt?“ „Sie haben mir kaum eine andere Wahl gelassen, insbesondere eure Großmutter war da sehr beharrlich.“ „Geht es ihnen gut? Sind sie glücklich? Denken sie an Mama?“ Minoru gab ein belustiges Schnauben von sich. Sie war Keiko in dieser Hinsicht so ähnlich, dass es fast an Lächerlichkeit grenzte. Etwas aufgewühlter vielleicht, fassungsloser, aber ebenso bewegt von der unbekannten Familie. Anders herum war das Honoka schon immer eigen gewesen. „Es geht ihnen gut. Aber du liest am besten in den Briefen, was sie euch zu sagen haben.“ „Briefe.“ „Briefe, Fotos.“ Er stieß einen der Rucksäcke mit dem Fuß an. „Sie denken an euch.“ „Du wirst nicht glauben, was mir das bedeutet“, hauchte sie tonlos. „Glauben und Verstehen sind zweierlei. Aber wenn es dich glücklich macht, war es ihre Mühe wohl wert.“ „Tausend Mal. Tausend Mal glücklich.“ In ihren Augen schimmerten erste Tränen und sie musste sich sichtlich zusammenreißen, um ihn einigermaßen gefasst anzusehen. „Mama wird außer sich sein vor Freude, wenn du ihr das erzählst. Sie werden so erleichtert sein, dich zu sehen! Wir haben uns alle schon das schlimmste ausgemalt.“ „Dich wohlauf zu sehen, erhellt mir den Tag, aber ich bin nicht besonders erpicht darauf, in eure sonderbare Festung zu marschieren, um mich mit deinen Eltern zu unterhalten. Ich war zu lange von Zuhause weg und sollte schnellstmöglich zurück.“ Sie lächelte frech und löste Yayoi von ihrem Bein, um sie hochzuheben, dann wurde ihr Ausdruck ernst. „Wir werden dich nicht lange aufhalten und niemand wird dich angreifen. Dafür haben andere gesorgt. Unter anderem deshalb solltest du mit meinen Eltern reden.“ Minoru wurde ein wenig mulmig zumute. „Mein Vater hat nach mir gesucht.“ „Er, der Generalleutnant und seine halbe Armee“, sie klang, als seien die Erinnerungen daran nicht unbedingt die besten. „Dass die Zwillinge dich umbringen wollten, hat er nicht allzu gut aufgenommen. Dein Verschwinden noch viel weniger.“ Er wusste aus eigener Erfahrung, wie unheimlich der Fürst werden konnte, wenn er erst einmal wütend war – dabei hatte er ihn bislang immer nur mild verärgert und eine richtungsweisende Abmahnung bekommen. Er beneidete niemandem um die Erfahrung, den wirklichen Unmut dieses Daiyōkais auf sich gezogen zu haben und sehr wahrscheinlich gab es auch nicht viele, die davon berichten konnten. Umso verwunderlicher war, dass diese Siedlung überhaupt noch existierte. Wenn er von dem Angriff der Zwillinge erfahren hatte, war unwahrscheinlich, dass er mit deren Tod zufrieden gegeben hatte. Selbst wenn sein Nachwuchs ihm vollends egal gewesen wäre, hätte sein Stolz ihm geboten, die Anwohner als Dünger in den Boden einzuarbeiten. Hätte er es noch weiter getrieben, hätte er auch seinen Bruder für den Zwischenfall verantwortlich machen können – auch wenn das einen gewissen Interpretationsspielraum erfordert hätte. Warum also hatte er in diesem Fall davon abgesehen? „Sie haben Kaito gefunden“, stellte Minoru schließlich fest. „Seinetwegen haben sie davon abgesehen, das Dorf zu zerstören.“ Honoka schluckte schwer und wich seinem Blick aus. Dann setzte sie Yayoi auf den Boden. „Lauf du doch schon mal vor und sag Mama, dass Minoru und ich gleich kommen, ja?“ Die Kleine trat etwas unentschlossen von einem Fuß auf den anderen und deutete schließlich auf Ichirou. „Darf ich das Hundchen mitnehmen?“ Der Akita sah zu Minoru auf und spitzte die Ohren „Darf ich?“ „Begleite sie ins Dorf zu ihren Eltern. Aber seid vorsichtig.“ Sie verließen gemeinsam das Reisfeld, um Kind und Hund im Auge behalten zu können, während sie durch das hohe Gras vorausliefen. „Also? Was wolltest du vor deiner Schwester nicht sagen?“ Honoka kaute auf ihrer Unterlippe herum und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie war ihrer Mutter in vielerlei Hinsicht ähnlicher geworden, seitdem sie sich zuletzt gesehen hatten und auch ihr sonst etwas verträumt-übermütiges Auftreten war von einer neuen Ernsthaftigkeit durchsetzt – zumindest wenn sie nicht gerade von ihrer Familie hörte. „Wir glauben auch, dass wir wegen Kaito vor Schlimmerem verschont geblieben sind. Deinem Vater war es wichtiger, dich und die Zwillinge zu finden, also hat er das Urteil dem Generalleutnant überlassen und der ist gemäßigter. Er hat meinem Vater die Hand zertrümmert, aber nicht einmal die Bauern umgebracht, die sich ihm entgegengestellt haben.“ „Tatsächlich.“ Das klang in Anbetracht der Lage etwas sehr harmlos. „Wo ist der Haken?“ Sie seufzte. „Er hat die kleine Schwester der Zwillinge als Geisel genommen, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Deswegen werden auch ihre Eltern dich nicht anrühren, ganz gleich, was gewesen ist. Sie wollen ihre Tochter zurück. Hätte das Dorf den Zwillingen Unterschlupf gewährt, hätte er nachgeholt, wovon er abgesehen hat.“ „Du weißt schon, dass ihr verdammt gut weggekommen seid?“ „Pff, sei mal nicht so eingebildet. Sie war erst sechs und hatte damit absolut nichts zu tun!“ „Wäre sie dir tot lieber gewesen?“, fragte er trocken und blieb stehen, damit sie ihn ansah. „Für die Kleine ist es sicher unschön, von ihrer Familie getrennt zu sein, aber wenn sie sie als Austausch für mich handeln wollen – was, wenn wir mal ehrlich sind, verdammt lächerlich ist –, dann werden sie sie gut behandeln. Du hast bei ihm übernachtet. Kam er dir da etwa grausam vor? Er pokert zu euren Gunsten ziemlich hoch.“ Was wiederum bedeutete, dass der Fürst diesem Mann mehr vertraute, als Minoru für möglich gehalten hatte. Ihm sein Leben anzuvertrauen war das eine, aber so weit zu gehen, die öffentliche Wahrnehmung in einem so prekären Fall zu riskieren, eine ganz andere. „Schon. Trotzdem tut es mir leid um sie. Es war unrecht.“ Als sie das Tor durchquerten, war der Geruch des verbrannten Holzes, das sie verbaut hatten, so beißend, dass Minoru das Gesicht verzog. Von Ichirou und Yayoi war mittlerweile nichts mehr zu sehen, dafür hefteten sich in Sekundenschnelle dutzende Augenpaare auf sie. Das geschäftige Treiben kam zeitweise zum Erliegen, während sie zunächst Minorus Kleidung und die Rucksäcke betrachteten als stamme er von einem anderen Stern, nur um zuletzt festzustellen, dass das Problem viel tiefer lag. Sie wichen vor ihm zurück wie sie es zuvor nicht getan hatten und tuschelten. Einige schickten ihre Kinder ins Haus, aber die große Panik blieb zum Glück aus. Auch die vereinzelten Schützen, die auf den Holzgerüsten an den Palisadenwänden saßen, unterbrachen ihr Frühstück nicht, ließen ihn jedoch auch nicht aus den Augen. Ohne Honoka wäre seine Ankunft sicher weniger friedfertig aufgenommen worden. „Hat er die Zwillinge gefunden?“ „Nicht, dass ich wüsste. Sie sind genauso verschwunden wie du. Sind sie vielleicht mit dir durch den Brunnen?“ „Nein, das hätte ich bemerkt.“ Aber solange sie ihm nicht gleich über den Weg liefen, sollten sie ihm erst einmal egal sein. Es gab genug Personen, die es nach ihrem Hals verlangte und ob sie nun noch ein paar Monate oder Jahre frische Luft atmeten, tat der Sache keinen Abbruch. Sie würden für diese Nacht bezahlen. Für den Versuch ihn zu töten, die Jahre, die er verloren und das, was sie Kaito angetan hatten – wie auch immer es ausgegangen sein mochte. Noch hatte er Hoffnung, dass der Han'yō nur einige Meter entfernt war, aber die Tatsache, dass Ryouichi ein derartiges Maß an Gnade hatte walten lassen, hinterließ einen faden Beigeschmack. Nachsicht und Gnade war nichts, was diesen Kriegern leicht von der Hand ging. Der Ausgleich von Schuld hingegen war etwas anderes. Doch Beistand im Kampf allein hätte diese Reaktion nicht herbeiführen können. Dabei zu sterben allerdings... Minoru nahm den Rucksack von seiner rechten Schulter und klemmte ihn unter den Arm. Auf Dauer zog das Gewicht den Riemen zu fest über die Narbe und das brennende Gefühl, das längst dort brodelte, ging ihm auf die Nerven. „Sag nicht, deine Schulter macht dir immer noch Ärger.“ Er stockte und bemerkte mit Grauen, dass sie die betroffene Stelle betrachtete, als könne sie durch den Stoff sehen. „Wie-“ „Ich stand in der Schützenreihe hinter ihnen, als sie den Pfeil aus dem Köcher gezogen haben. Er sah nicht auffällig aus, aber die Aura, die dieses Ding versprüht hat, war so widerwärtig, dass ich dachte, ich müsse mich gleich übergeben. Ich bin mit Taijiya-Waffen aufgewachsen, aber so etwas habe ich noch nie gesehen oder gespürt. Es war grauenhaft. Sie hat erst auf den Drachen gezielt und im letzten Moment auf dich umgeschwenkt. Ich wollte sie stoppen, aber ich fürchte, ich war zu langsam. Sie hat dich trotzdem getroffen.“ Minoru starrte sie an. „Wer?“ „Nun... Saki.“ Das durfte nicht wahr sein! Was zum Henker hatte er diesen Weibern bloß getan? Die gebrochenen Knochen waren anstandslos verheilt, so wie er es erwartet hatte, doch die Schusswunde war ein ganz anderes Problem. Haut und Muskel hatten sich nur unter Narbenbildung wieder zusammengezogen und ganz gleich wie lange er sich geschont hatte, die Narbe blieb berührungsempfindlich bis zu einem Punkt, an dem er schreien wollte, wenn ihn eines der Holzschwerter beim Training traf. Es hatte keinen Sinn ergeben. Er hatte schlimmere Verletzungen mit weniger Komplikationen davongetragen und sich stets gewundert, warum diese ihm so viel Kummer bereitete. Nun, zumindest wusste er jetzt, dass es sich nicht um einen Querschläger gehandelt hatte. Dieser Pfeil war für ihn bestimmt gewesen, ebenso wie die unsägliche Menge an Gift, mit dem sie ihre Umwelt verpestet hatten. Widerwärtiges, wertloses Jägerpack. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn sie ihn damit an anderer Stelle getroffen hätten. „Danke.“ Honoka ließ endlich von seiner Schulter ab und lächelte. „Dafür musst du mir nicht danken. Es hat ja offenbar nicht viel genützt.“ „Es war ausreichend“, erwiderte er und ihr Lächeln wurde noch etwas breiter. Dann wandte sie sich um und setzte über eine halbhohe Steinmauer hinweg, die einen gepflegten Garten voller Kräuter einfasste. Minoru runzelte die Stirn. Ihr neues Haus war weiter von der Anhöhe entfernt als er erwartet hatte, aber anders herum hatten sie ja auch noch einige Jahrhunderte Zeit, ihren Wohnsitz zu verrücken. Ichirou kam hinter dem Haus hervor und begrüßte ihn schwanzwedelnd, als hätten sie sich seit Tagen nicht gesehen. Im Gegensatz dazu hatte Inuyasha eine Miene aufgesetzt, die darauf hindeutete, dass vier Jahre Abstand ihm nicht lange genug gewesen waren. Er lehnte mit der Schulter an der Fassade und verschränkte die Arme vor der Brust; in dem schmalen Gang zum Hinterhof so präsent, dass seine Jüngste sich nicht hervorzwängen konnte und dazu gezwungen war, an seinem Bein vorbeizulinsen. „Ich rate dir, dass du niemandem jenseits des Brunnens auch nur ein Haar gekrümmt hast. Sie sind-“ „Außerordentlich nette Menschen“, unterbrach Minoru ihn grob. „Ich weiß.“ Er ließ die Rucksäcke zu Boden gleiten. „Dieser ist für eure Kinder. Und der für Kagome und dich.“ Der Halbdämon betrachtete die Lasten nachdenklich und richtete sich dann doch auf. „Die sind von Kagomes Mutter?“ „Auch.“ Inuyasha warf Minoru einen misstrauischen Blick zu: „Warum solltest du den Botenjungen für Menschen spielen?“ „Papa!“ „Erwischt“, erwiderte Minoru trocken. „Ich hab' das alles selbst geschrieben und verpackt, damit nicht auffällt, dass ich alle gleich am ersten Tag gefressen habe.“ Honoka schlug ihm gegen den Oberarm: „Minoru! Hört auf. Alle beide.“ „Du klingst mit jedem Tag mehr nach deiner Mutter“, brummte Inuyasha leise und schob das Bein noch etwas weiter raus, als Yayoi versuchte, sich doch einen Weg zu bahnen. Als das Gewicht des Kindes von seinem Bein verschwand, wurde er jedoch sichtlich blasser. Kagome hob die Kleine auf den Arm und sah mit einem vernichtenden Blick zu ihrem Ehemann empor: „Ach ja? Und wenn dem so wäre? Dann hättest du zwei wundervolle Frauen im Hause. Wolltest du das sagen?“ Inuyasha brummte irgendetwas Zustimmendes und gab den Durchgang für Kagome frei, als sie ihm mit einem Finger unter die Rippen stach. „Mach dich nicht so fett.“ Ihr Lächeln wurde breiter, als sie auf Minoru zuging. „Es ist so erleichternd, dich wohlauf zu sehen. Und dass es dir gut ergangen ist. Nachdem du verschwunden bist, hatten wir uns die grausigsten Dinge ausgemalt. Du bist wirklich durch den Brunnen gegangen... hast du... nun.. hast du meine Familie getroffen?“ „Habe ich und es geht ihnen gut. Aber das werden sie euch sicher ausführlich geschrieben haben. Ich kann mir vorstellen, dass du deswegen viele Fragen hast und ich will nicht unhöflich sein – aber ich sollte dringend zu meinem Vater. Ich war zu lange fort und ihr solltet das Mädchen zurückbekommen.“ Kagomes Miene verfinsterte sich schlagartig. „Davon weißt du schon, hm?“ „Honoka hat mich in das Gröbste eingeweiht. Es wäre für alle das Beste, wenn ich nicht noch mehr Zeit verliere.“ „Ganz deiner Meinung“, Inuyasha ragte hinter seiner Frau auf und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Pack uns etwas Proviant ein. Ich begleite ihn.“ „Du?“, sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihn verwundert an. „Bist du sicher, dass ihr euch nicht hinter der Dorfgrenze an die Kehle geht?“ „Wir werden uns schon einig“, der Han'yō biss die Zähne zusammen und sah zu Minoru. „Und ehe du aufmuckst: Das war kein Angebot. Ich bringe dich und fertig. Kein Wort, dass du nicht auf Hilfe angewiesen bist, bla bla. Ich riskiere nicht, dass dir auf dem Weg zu ihm noch jemand ein Bein abkaut.“ „Außerdem kannst du das Mädchen gleich mitnehmen“, lenkte Minoru ein. „Schon klar. Das erspart uns die aufwendige Eskorte.“ „Eben.“ Honoka schnaubte: „Ihr seid schräg. Sagt doch einfach - .“ „Honoka, Schatz, lass sie in dem Glauben“, ihre Mutter setzte Yayoi zu Ichirou auf den Boden und machte sich auf den Weg ins Haus. „Komm und hilf mir mit dem Essen. Inuyasha, gib Minoru doch etwas unauffälligeres zum Anziehen.“ Dann murmelte sie etwas von Lederjacken und dass man wohl froh sein könne, dass Schlaghosen noch nicht wieder „angesagt“ seien. Mehr Fragen als dieser modische Einwand warf jedoch die Tatsache auf, dass in der von Kräuterduft geschwängerten Luft eindeutig ein Hauch von Fuchs mitschwang. Kapitel 50: am dunkelsten klafft. --------------------------------- Es war schon vor Stunden Nacht geworden. Ein kräftiges Sommergewitter hatte sie am Abend bis auf die Knochen durchnässt und war mittlerweile fortgezogen. Die Feuchtigkeit war in die geliehene Kleidung gedrungen und erschwerte den dunkelblauen Stoff, der an den Schultern zu locker über Minorus schmalere Gestalt fiel. Weiter nordwestlich war der Himmel wolkenlos geblieben und wie in so vielen sternenklaren Nächten hatte sich die Tagestemperatur deutlich abgekühlt. Nebel säumte den Waldboden und stieg zwischen den Bäumen empor. Kaum mehr als hundert Meter Sicht. Ein Albtraum für jeden, der sich nur auf seine Augen verlassen konnte. Er glich seine Geschwindigkeit an, als Inuyasha zwischen einigen Fichten langsamer wurde und ihn musterte: „Bislang keine Überraschungen. Willst du rasten?“ „Nicht nötig. Aber wir können eine Weile gehen.“ Minoru setzte den Akita auf dem Waldboden ab und reckte sich. Vierzig Kilo waren für einen Yōkai eine tragbare Last, doch Ichirou bewegte sich immer wieder unbehaglich und schnupperte herum, während sie liefen. Ihn eine Weile allein gehen zu lassen, erleichterte Gemüt und Blase des Hundes gleichermaßen. Bislang war es ruhig geblieben. Einige Male war die Luft von schwachem Yōki erfüllt gewesen, doch die Dämonen hatten sich zurückgezogen, sobald sie ihnen zu nahe gekommen waren. Das allein war jedoch kein Garant für eine sichere Reise. Sorgsam zog Minoru den Obi um das Katana nach, das Inuyasha ihm wortlos überlassen hatte. Eine einfache, scharfe Stahlklinge, die ihn von dem Vorwurf befreite, seinen Neffen unbewaffnet in die Nacht geschickt zu haben – oder einfach eine gut gemeinte Leihgabe darstellte. Darüber hinaus trug er wenig bei sich. Die Neuzeit hatte er ablegt, Lederjacke und Stoffhose im Dorf zurückgelassen und lediglich einen Beutel mit Kleinigkeiten unter seinen Obi gesteckt, der unter anderem dem heiß gehassten Fuchskorallenarmband einen unschädlichen Lagerplatz bot. „Wie weit noch etwa?“, fragte er schließlich. Der Halbdämon sah dem Akita eine Weile nach, als könne er immer noch nicht fassen, dass der Sohn seines diabolischen Halbbruders ein Haustier mit sich herumschleppte, dann besann er sich: „Schwer zu sagen. Die Fronten bewegen sich in den letzten Monaten viel. Bis Sonnenaufgang eher nicht.“ Weniger als eine halbe Tagesreise entfernt. Die Drachen hatten sich also noch nicht bis in die Tiefen des Westens durchschlagen können. Das mochte wie ein gutes Zeichen klingen, war jedoch wertlos. Es ging ihnen nicht um Landgewinn. Eroberungen und Festungen interessierten sie nicht. Es war ein Vernichtungskrieg – und der wurde geführt, wo auch immer der Gegner stand. Die Nachricht einer wandernden Front trug unter dem Aspekt einen äußerst bitteren Beigeschmack. „Haben wir die Chance auf eine Patrouille deiner Leute zu treffen?“ Der Stoff lagt schwer auf seinen Schultern, als er mit den Achseln zuckte. Es war allerdings eine gute Frage. Natürlich wollten sie nicht auf dem Schlachtfeld zwischen Zähnen und Stahl aufkreuzen. Das war idiotisch. Ein Lager stellte ein aussichtsreiches Ziel dar, aber das zu finden würde sich schwierig gestalten. Niemand würde es offensichtlich aufschlagen lassen. Von einer Patrouille aufgegriffen zu werden, war ihre beste Chance – vorausgesetzt, sie war ihnen wohlgesonnen. „Das weißt du nicht?“, fragte sein Onkel ungläubig. „Ob sie Wachen aufstellen oder Patrouillen aussenden? Ich dachte, euch Hunden würde so etwas in die Wiege gelegt.“ „In der Regel“, erwiderte Minoru tonlos, ehe er Ichirou mit einem Fingerschnippen wieder zu sich rief, als dieser hinter einem Busch hatte verschwinden wollen. „Nur der zukünftige Leithund dieses Haufens nicht, eh? Ich hätte nicht gedacht, dass man bei Sesshōmaru aufwachsen kann und von derlei verschont bleibt. “ „Kann man wahrscheinlich auch nicht.“ Es war etwas, das sie offensichtlich gemeinsam hatten. Vom Moment ihrer Abreise an hatte Inuyasha stets gewusst, was er tat. Seine Schritte verursachten kaum einen Laut und jedes verdächtige Geräusch ließ seine Hundeohren einen Moment zucken, auch wenn er sich nicht unbedingt umwandte. So bewegte sich niemand, der sein Leben im Schutz eines Dorfes oder einer Gruppe verbracht hatte. Alte Gewohnheiten starben nicht – insbesondere solche, die einen lange Zeit am Leben erhalten hatten. Beinahe hätte Minoru sich nach seinen Beweggründen erkundigt, ehe sein Verstand den verirrten Impuls niederrang. Welche Möglichkeiten blieben wohl einem halbblütigen Jungen und seiner Mutter, wenn der dämonische Vater kurz nach seiner Geburt verstorben war? Eine Menschenfrau, welche Liebe sie auch immer für ihr Kind empfinden mochte, war schwerlich in der Lage, ein Halbblut vor der Welt zu beschützen – auch nicht vor ihrer. Menschen und Dämonen vereinte ihre Abneigung gegenüber Mischlingen, und wenngleich die Argumentation oftmals eine andere war, blieb am Ende doch beiderseits nur Missachtung und bestenfalls Ignoranz. Sein Onkel betrachtete ihn nicht minder grübelnd, aber auch er sah davon ab, das Gespräch weiter fortzusetzen. Stattdessen schob er die Hände in die ausfallenden Ärmel seines leuchtend roten Hitatare und wechselte das Thema. „Kommst du zurecht?“ „Wie muss ich das verstehen?“ „Vier Jahre in Kagomes Zeit. Nach einigen Stunden hatte ich schon das Gefühl, dass mir jemand Watte in die Ohren gestopft hat. Die ganzen Autos, Busse, Menschen – und erst dieser Gestank.“ Er schnupperte in seine Richtung. Vermutlich roch er immer noch einen Rest des Parfums, mit dem ihn ein Mitarbeiter der Drogerieabteilung eines Kaufhauses vergangenes Weihnachten überfallen hatte. Pfefferminzschokolade oder etwas ähnlich penetrantes. Er hätte den Mann am liebsten auf der Stelle ausgeweidet. Minoru seufzte niedergeschlagen. Er hatte nicht Unrecht. Die Neuzeit überflutete die Sinne mit Eindrücken, bis sie für Geräusche und Gerüche unempfindlicher waren. Es würde noch dauern, bis er dieselbe Sensibilität erlangt hatte, die ihm seit Jahren den Kopf auf dm Hals gehalten hatte. Doch er bemerkte bereits jetzt, wie er die vermeintliche Stille mit jeder verstreichenden Stunde als weniger tief empfand. Es war als hätte die Neuzeit ihm einen anhaltenden Gehörsturz beschert, wie er sonst nur nach lauten Konzerten die Ohren verstopfte. „Watte trifft es“, räumte er schließlich ein und erntete dafür ein Naserümpfen. „Ich kapier' nicht, wie du das geschafft hast. Das Ding hat Jahrzehnte keinen Mucks getan und dann schickt es dich nach Tokyo. Kein Wunder, dass dich keiner finden konnte. Zu wittern, dass du den Ort nie verlassen hast, wäre ja ein Leichtes gewesen. Aber du musstest ja die gesamte Umgebung verpesten.“ Minoru blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. „Wie bitte?“ „Du weißt genau, wovon ich rede. Dein Alter schafft das auch spielend. Hat fast das Gerippe von unserem alten Herrn zersetzt mit seiner Giftsabber.“ „Ihr denkt allen Ernstes, das sei ich gewesen?“, das Entsetzen erreichte ausnahmsweise seine Stimme und ließ seinen Onkel gleichsam abbremsen. „Zum Mitschreiben, Inuyasha: Ich besitze eine gewisse Giftresistenz. Angeblich habe ich auch mal einen Mönch umgebracht. Aber ich wüsste nicht, wie ich eine ganzes Areal derart in Mitleidenschaft ziehen sollte, dass man vier Jahre später noch keinen Fuß darauf setzen will. Das waren eure teuren Dämonenjägerinnen, die mich umbringen wollten -“ „Dich? Das ist doch schwachsinnig. Die Wahrscheinlichkeit, dass dich Gift umhauen könnte -“ „Hätte jemand sich die Mühe gemacht, ihnen das mitzuteilen, hätten sie vermutlich auch andere Wege gesucht, um mich loszuwerden, statt zwischen mir und Kaito die Rauchbomben zu zünden.“ Mit einem Mal nahm Inuyashas Haut die Blässe des zunehmenden Mondes an. „Er war dort?“ „Ja. Sie haben meinen Kopf gefordert und er hat ihn verwehrt. Es war ihnen egal, ob sie uns beide umbringen, solange ich verrecke. Ich weiß nicht, für wie bösartig du mich hältst, aber ich beiße nicht die Hand, die mich eben noch unter einem Drachen weggezogen hat.“ „Das ergibt doch keinen Sinn. Was hast du ihnen getan?“ Wütend schnaubte Minoru. „Wenn ich das wüsste, wäre ich ein ganzes Stück weiter! Warum denken alle ständig, ich hätte ein Interesse daran, mir Feinde zu machen? Die Zwillinge und ihr Ärger mit deinen Kindern interessieren mich nicht! Haben mich nicht interessiert.“ Er würde sicherlich keinen Moment verschwenden, wenn die Zwillinge die Dreistigkeit besäßen, ihm je wieder unter die Augen zu treten. Er sah zu Inuyasha auf, der immer noch verdächtig blass wirkte. „Honoka meinte, ihr hättet angenommen, dass der Generalleutnant das Dorf nur wegen Kaitos Einsatz mit schlimmerem verschont hat. Ich dachte, da sei das alles bekannt.“ Der Ton knirschender Zähne glich dem einer bremsenden Straßenbahn. „Jeder hat gesehen, dass er dir mit dem Drachen geholfen hat. Dass er auch am Brunnen bei dir war, wusste ich nicht. Davon hat er nie etwas gesagt und wie hätte ich das auch ahnen sollen? Das Gift hätte ihn doch - .“ Er hielt inne. Seine Miene verfinsterte sich und er schloss die Augen, als müsse er einen Gedanken verdrängen. „Ich bin so ein Idiot.“ Das Gefühl nagender Ungewissheit fiel von ihm ab wie Schnee von einer Frühjahrstanne. „Er lebt.“ „Natürlich lebt er“, raunzte Inuyasha grob, als könne der Gedanke allein seinem Sohn schaden. „Und er hat keinem erzählt, was passiert ist?“, ungläubig hob Minoru eine Braue. „Warum? Auch euer Dorffrieden muss Grenzen haben.“ Es war ein mahnender Blick, den Inuyasha ihm zuwarf, aber er war bestenfalls halbherzig. „Ich glaube, er hat es versucht“, räumte er schließlich ein. „Aber ich habe ihm nicht zugehört. Nicht wirklich. Als er sich erholt hatte, ist er ohne ein Wort fortgegangen. Angeblich streunt er an den Fronten umher und mischt sich in die Kämpfe ein. Aber nach Hause gekommen ist er seitdem nicht mehr.“ Er schwieg eine Weile und betrachtete Minoru schließlich mit verschränkten Armen. „Kannst du mir mal verraten, warum mein Sohn sein Leben für dich riskiert? Ich dachte, ihr könnt euch nicht leiden.“ „Es wäre mir neu, wenn er mich ausstehen könnte. Mich zu retten sollte euer Dorf schützen – und das hat es auch. Wir sind keine Freunde.“ „Keh. Ist wohl nicht gut genug für dich, was?“ Es wären Minoru sicherlich ein dutzend abfälliger Erwiderungen auf diese Bemerkung eingefallen, doch er behielt sie für sich. Kaitos Beweggründe waren ihm überlassen. Darüber zu diskutieren würde lediglich Streit provozieren, wenn Inuyasha seine Regungen so offen zur Schau stellte. Es war auffällig, wie schwer es seinem Onkel fiel, die Verbitterung über das Zerwürfnis mit seinem Sohn verstecken. Denn nichts geringeres würde es gewesen sein, wenn Kaito den Krieg seiner Familie vorzog. Wichtig war jedoch nur, dass er lebte. Wenngleich ein Wunder geschehen sein musste, um ihn aus dieser Todesfalle zu bergen. Sicherlich bestand die Möglichkeit, dass die Zwillinge nach Minorus Verschwinden Einsehen gezeigt und ihn aus der Gefahrenzone gerettet hatten. Vielleicht besaßen sie sogar ein Gegengift, für den Fall, dass etwas Unerwartetes geschah. Aber das war reine Spekulation. Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen. Wobei der nachsichtige Umgang des Generalleutnants mit diesem Dorf davon kündete, dass die Angelegenheit für Kaito nicht allzu gut ausgegangen war. Was auch immer sich zugetragen haben mochte, änderte nichts. Minoru musste nach Hause, das Mädchen zurück in das Dorf und die Zwillinge an den Haken. Sich in die Familienstreitigkeiten seines Onkels einzumischen hatte in diesem Zusammenhang keinen Mehrwert. Kaito war in der Lage, für sich selbst zu sorgen, und wenn er nun beschlossen hatte, das Dorf endgültig zu verlassen, war es allein seine Entscheidung. Immerhin war er schon lange kein Kind mehr. Es war nur ein Rascheln in den Ästen. Ein Vogel, der hastig über sie hinwegzog und Schutz in einer der großen Tannen suchten, deren Nadeln am Boden jeden Schritt erstickten. Es brauchte nur eine Handbewegung, um Ichirou wieder an Minorus Seite zu holen und während der Hund noch einen fragenden Blick aufsetzte, hatte Inuyasha in breiter Aufstellung bereits eine Hand an Tessaigas Griff gelegt. Der Nebel schlängelte sich um ihre Beine, so lautlos wie der übrige Wald. Nur der Rabe sträubte die Federn und hüpfte nervös im Geäst über ihren Köpfen umher. Dann brachen sie frontal aus dem Nebel hervor. Ein halbes Dutzend behaarter Kreaturen hangelte hastig am den umstehenden Bäumen entlang oder sprang auf allen Vieren über den Boden. Die Augen ihrer menschenähnlichen Gesichter reflektierten das Mondlicht wie Spiegel, als sie sich mit einem schrillen Kreischen auf die Hunde stürzten. Die Affendämonen waren schnell und ihre Arme lang. Der erste landete federnd auf Tessaigas Klingengrad und brüllte abermals zum Angriff, während er auf Inuyasha einhieb, der die Waffenspitze zu Boden fallen ließ, dem Feind entgegen ging und ihm mit einem einzigen Griff das Genick brach. Minoru hatte das Katana deutlich später aus der Scheide gerissen und dem erstbesten Affen den Schädel gespalten, um im Nachhieb einen weiteren zumindest die Hand abzuschlagen, die nach Ichirou griff. Kreischend wich der schwer verletzte Gegner zurück. Der Hund drückte sich zähnefletschend in Minorus Schatten herum und war mit gesträubtem Fell zu beeindruckender Größe herangewachsen. Gerade als Minoru ihn noch weiter in die Tannen drängen wollte, schoss der Akita an ihm vorbei, wich einem paar grabschender Hände aus und ging einem weiteren Affen anstandslos an die Kehle. Ein Schütteln, ein Knacken, dann ließ er den leblosen Körper des Dämons zu Boden fallen und machte zwei Sätze zurück an die Seite des Inus. Inuyasha hatte unterdessen zwei weiteren den Garaus gemacht, sodass sich der Letzte einhändig, aber drohend in die nächste Baumkrone verzog und kreischend mit Tannenzapfen nach ihnen warf. Minoru schlug ein Geschoss weg und knurrte, während Inuyasha schlicht gegen den Baum trat, der daraufhin bedrohlich wackelte. Der einhändige Affe klammerte sich mit den verbleibenden Klauen an den Stamm und schrie wütend in die Richtung aus der er gekommen war. Minoru begriff einen Sekundenbruchteil zu spät, dass der Boden unter ihm vibrierte und schob Ichirou mit dem Knie zur Seite, ehe er die Hand zur Faust ballte, mit schräg schlagenden Krallen wieder aufschnappen ließ und das Blut im letzten Moment in die Nebelwand schleuderte, aus der der Oni brüllend hervorbrach. Die gewaltigen, gelben Zähne ragten, vom Geifer überzogen, aus dem dunklen Gesicht hervor, als er sich schüttelte und die Keule in seiner Rechten kreisen ließ. Blut rann aus vielzähligen Wunden an Oberkörper und Schultern. Die gelben Augen glühten hasserfüllt. „Keh!“, Inuyasha hievte Tessaiga mit einer Hand vom Boden. „Sowas Hässliches hab' ich selten gesehen.“ Wenn der Oni von seinen Worten gekränkt war, konnte die Beleidigung seine Laune offensichtlich nicht weiter senken. Er warf den behornten Kopf einem Bullen gleich von einer Seite zur anderen und brüllte, bis sich sein Speichel meterweit verteilte. Unter dem ersten Hieb tauchte Minoru hindurch, machte einen Satz nach vorn, um das Ausholen des Riesen zu behindern und schlug mit dem Katana nach dem erstbesten auf Augenhöhe – seinem Knie. Das Gewebe gab widerspenstig nach. Ein sauberer Schlag mit einer schärferen Klinge hätte dem Oni ohne Weiteres das Bein gekostet, aber der Stahl war Menschenwerk vergangener Zeit und der geringe Abstand nicht nur für den Oni ein Problem. Der Dämon knickte zur Seite weg, machte einen Ausfallschritt, bei dem der Unterschenkel grotesk am verbleibenden Gelenk baumelte. Unzufrieden wich Minoru zurück und machte Inuyasha den Weg frei, der Tessaiga nach dem Kopf des Ungetüms schwang – und dabei erstarrte. Ein Speer flog über die Schulter des sich gerade aufbäumenden Riesen und bohrte sich zu Inuyashas Füßen in den Waldboden. Fluchend machte der einen Satz zurück, während auch der Oni einen Blick auf das Wurfgeschoss riskierte. Einen Wimpernschlag später durchbohrte das zweite seinen Hinterkopf. Die pechschwarze Speerspitze hatte den Schädel durchschlagen und glitzerte einen Moment vor Blut im Mondlicht, ehe das Ungetüm der Länge nach zu Boden ging. Die Erschütterung glich der eines gefällten Baumes. Wind kam auf, als sich im Nebel weitere Gestalten näherten und fegte die Tannennadeln in alle Himmelsrichtungen über den Boden: Tessaigas Aura wurde mit jeder Sekunde bedrohlicher. Der Wind nahm nicht nur zu, er schien auch erstmalig eine eigene Witterung zu besitzen. Entschieden griff Minoru nach dem Handgelenk seines Onkels und bedeutete ihm, die Waffe zu senken, während er sein eigenes Schwert demonstrativ zurück in die Scheide gleiten ließ. Die aufkommende Windnarbe verschwand so schnell wie sie gekommen war. Was blieb war Inuyashas angesäuerter Blick. „Was ist?“ Minoru konnte seinen Unmut verstehen, doch er war lange genug mit dem Generalleutnant und auch Myōga zusammen gewesen, um zu wissen, wie er ein Material einzuordnen hatte, dass den gewaltigen Schädelknochen eines Onis durchbohrte und so schwarz war, dass nur das darauf anhaftende, frische Blut Licht reflektierte. „Das sind Inuyōkai.“ Im selben Moment sprang jemand auf dem Rücken des gefällten Riesen und rammte einen Speer durch dessen Haut bis in das Herz, als sei ein zerfetztes Gehirn nicht Todesurteil genug. Eine weitere Gestalt landete unmittelbar vor Minoru, sah aber davon ab, mit seinem Kopf gleichermaßen zu verfahren und ließ die Speerspitze unmittelbar vor seinem Gesicht ruhen. Binnen Sekunden waren sie von allen Seiten umstellt. Masken, so unterschiedliche ihre Musterungen auch sein mochten, hatten allesamt ihre hohlen Blicke auf sie gerichtet; die Gesichter ihrer Träger vollends verborgen. Es waren fünf von ihnen, mit Speeren und einer Vielzahl anderer Waffen ausgestattet, die Klingen so schwarz wie der Einblick in ihre Masken. In Anbetracht der drohend erhobenen Speere verspannte sich Inuyasha, doch Minoru gab sein Handgelenk nicht frei, verstärkte seinen Griff. „Wir werden kein Abkommen brechen“, raunte er und hielt den Blick auf die Gestalt vor sich gerichtet, deren schwarzviolette Maske nichts preisgab. Die Inu der Insel Sado hinterließen selbst in ihrer Stille Unbehagen. Das Gesicht eines westlichen Kriegers war unter Dämonen ein gefürchteter Anblick, war es doch oft das letzte, das sie sahen. Doch Minoru sah lieber in kalte, wütende Augen voller Verachtung als in die Tiefen einer unbeweglichen Maske, die einer Handlung keine Mimik voranschickte. Es war Brauch auf der Insel das Gesicht zu verdecken. Immer. Selbst Ryouichi besaß seine noch. Nur ganz selten wurde im engsten Familienkreis auf diese Masken verzichtet – zumindest hatte Myōga das gemutmaßt, denn wer wollte es schon mit Sicherheit behaupten? Sado war abgelegen, unergründlich und eigenständig. Dass die Krieger ihre Heimat verlassen hatten, bedeutete, dass sie ihre jahrtausendelange Isolation aufgegeben hatten – erstmalig seit die Inugami die menschliche Zivilisation in Asche und Rauch hatten aufgehen lassen. „Der Westen steht zu Akayas Wort. Es wird keinen Kampf mit den Nachfahren unserer Verbündeten geben“, hob Minoru förmlich an und so schwer ihm dieses Gerede auch über die Lippen gehen mochte, war er sich doch sicher, dass Myōga gerade irgendwo vor Stolz platzte, dass seine Lektionen im höfischen Umgang nicht gänzlich vor die Säue geworfen worden waren. „Es steht dir nicht zu, das Wort in seinem Namen zu ergreifen“, knurrte es hinter ihnen. Minoru schnaubte hörbar, ungeachtet des Speeres, der immer noch vor seinen Augen schwebte. „Ich bin Minoru. Sohn des Inu no Taishōs und Erbe des Westens. Ich spreche für wen ich will, wann ich will.“ „Der Junge ist tot.“ „Gerede“, schnappte Minoru in dem kältesten Tonfall, den er zustande brachte. „Mein Vater würde mich nicht eher für tot erklären, bis man ihm meine Leiche vor die Füße wirft. Ich will zu ihm. Sofort.“ Natürlich. Minoru fühlte sich quicklebendig, aber es war nicht verwunderlich, dass einige ihn nach vier Jahren längst für tot und seinen Vater für realitätsfremd hielten, wo doch das Palastpersonal ihm schon zuvor Affektionen gegenüber einem fremden Balg vorgeworfen hatten – natürlich nur hinter vorgehaltener Hand und äußerst leise. „Die Inu Sados schulden dem Taishō keinerlei Gehorsam“, meldete sich eine Frauenstimme zu Wort und eine Gestalt mit petrolblauer Maske trat vor. „Ebensowenig seinem vermeintlichen Sohn.“ Minoru spürte, wie Ichirou von hinten gegen seine Beine drängte. Er legte ihm die Linke auf den Kopf. „Zumindest der Generalleutnant würde diese Aussage vehement abweisen. Ich schlage vor, Ihr überlasst meinem Vater oder seinem engeren Gefolge die Beurteilung meiner Aussage.“ Der Vorschlag entfachte eine Diskussion in einer Sprache, die Minoru nie zuvor gehört hatte. Im Ansatz erschien sie bekannt, aber es war unmöglich einzelne Wörter voneinander zu trennen, die hin und wieder von einem Zungenschnalzen und Knurren überlagert wurden. Inuyasha wurde sichtlich ungeduldig und tippte mit den Klauen auf Tessaigas Schwertgriff herum, was offenbar auch Anlass dazu gab, die Waffe in das Gespräch einzubinden. Der Name seines Großvaters fiel ein paar Male, dann wieder nur Wortfetzen. „Was ist los?... Ich dachte, sie freuen sich, dich zu sehen?“ Ichirou begann vorsichtig die Wunden an Minorus Hand zu lecken, wo er die eigenen Klauen durch das Fleisch gerissen hatte. „Du warst so lang weg... ich würde mich freuen, dich zu sehen, wenn du so lange weg warst. Müssen wir doch wieder gehen?“ „Nein, wir gehen nicht. Mach dir keine Sorgen.“ Mit einem Schlag herrschte eisiges Schweigen. Die Blicke hefteten sich auf den Akita, der die Aufmerksamkeit spürte und mit gebleckten Zähnen zurückwich. „Mino...“ „Wir nehmen ihn mit“, entschied die Frau hinter der Petrolmaske und stampfte mit dem Ende ihres Speeres auf den Boden auf, als ihr jemand widersprach. „Tötet das Halbblut.“ „Er ist mein Onkel“, Minoru bleckte die Zähne. Sein Yōki brandete auf und er nutzte die geringe Kontrolle, die er darüber besaß, um es mahnend über den Boden streichen zu lassen. „Wagt nicht, Hand an das Blut meines Großvaters zu legen. Er ist hier, um das Menschenmädchen, das meinetwegen von Ryouichi-sama als Geisel genommen worden ist, zurück zu ihren Eltern zu bringen und wird mich bis in das Lager begleiten, wenn das sein Wunsch ist.“ Er sah zu Inuyasha. „Es sei denn, du willst hier warten?“ „Bist du bescheuert? Damit sie dir die Kehle durchschneiden, sobald ich außer Sicht bin? Ganz sicher nicht.“ 狐 Der Vogel war eine äußerst bizarre Mischung aus Rotkehlchen, übertrieben aufgeplustertem Hahn und einem Greifvogel, den näher zu bestimmen wohl auch den besten Vogelkundler in den Wahnsinn getrieben hätte. Er öffnete den krummen Schnabel und stieß ein heiseres Krächzen aus, das sogleich unter lautem Gelächter erstickt wurde. Sogar die Krähe, die schon seit über zwei Stunden regungslos in der alten Eiche über ihnen saß, plusterte amüsiert das mitternachtschwarze Gefieder auf. „Fehlt nur noch eine abrupte Schockmauser.“ Kōhei schmunzelte und machte eine knappe Handbewegung, um die übrige Meute verstummen zu lassen. „Nicht so schadenfroh, Männer. Das Chaos außen vor gelassen: Was hat er richtig gemacht?“ „Er hat sich ganz verwandelt.“ „Korrekt. Ein vollständige, anhaltende Verwandlung nach drei Tagen. Das ist gut. Wirklich gut. Woran kann er arbeiten?“ „Sich mal für einen Geier entscheiden?“, schnarrte ein rothaariger, junger Kitsune mit Sommersprossen. Ein anderer schaute nachdenklicher drein: „An der Aufregung. Er war zu nervös.“ Anerkennend nickte Kōhei. „Nervosität und Unsicherheit blockieren, sorgen für Unordnung. Die Angst, Fehler zu machen, führt häufig erst zu den Problemen. Deswegen übt ihr das bis Sonnenuntergang gemeinsam. Fehler in Übungen sind Fehler, die euch im Ernstfall nicht passieren. Deswegen betreiben wir den ganzen Spuk.“ Er machte einige Schritte zur Seite, ehe er sich umwandte und wich damit der Falle aus, die seine jungen Soldaten für ihn ausgelegt hatten. Seit Wochen bemühten sie sich, ihn hereinzulegen – als kenne er nicht mittlerweile jeden noch so erbarmungswürdigen Versuch. Ein entnervtes Stöhnen ging durch die Reihen und Kōhei warf ein schiefes Grinsen über seine Schulter. „Daran solltet ihr auch arbeiten.“ Dann winkte er Jirō heran und übergab ihm die Aufsicht über die Bande, während er den Übungsplatz hinter sich ließ. Inmitten der dichten Wälder um den Gipfel des Berges verschwamm sein smaragdgrüner Kimono im Sommerlaub – das war jedoch keinesfalls hinreichend, um den ungebetenen Besuch loszuwerden, der seine Absonderung als stille Einladung genutzt hatte, um ihn allein zu sprechen. Die Krähe flog dicht über seine Schulter hinweg und blieb auf einer gestürzten Buche sitzen, die den letzten Sturm nicht überstanden hatte. Die schwarzen Federn schimmerten in der untergehenden Sonne rötlich, verblassten jedoch angesichts des bernsteinfarbenen Loderns in den Augen des Tieres. Kōhei hielt inne und betrachtete den Vogel wortlos. Was wollte er hier? Der Erbe des Südens ließ die Gestalt des Vogels in einem warmen Aufblitzen fallen. Gelangweilt zupfte er eine letzte, einsame Feder aus seinem schwarzen Fellkragen und ließ sie nachlässig vom Wind hinforttragen, ehe er sich an Kōhei wandte. „Ich begreife nicht, aus welchem Grund mein Vater euch nicht längst eine seiner vielzähligen Töchter aufgezwungen hat. Ihr seid ein hervorragender Lehrer und bei Euren Soldaten teils beliebter als deren Eltern. Als Familienvater würdet Ihr ein passables Bild abgeben – wenn Ihr nicht immer noch Eurer westlichen Schönheit nachtrauern würdet.“ Kōhei verspannte sich augenblicklich. Da war es wieder. Das Gefühl von diesem Mann in Einzelteile zerlegt zu werden wie ein geschlachtetes Schwein. Jedes Wort war Hohn und Spott, Klinge und Salz. Diese Eigenart, alte Wunden bis zu den Adern neu aufzureißen, hatte Kōhei in den vergangenen Jahren nicht eine Sekunde vermisst. Im Gegenteil. Seine letzten Erfahrungen mit der Fürstenfamilie hatten es vermocht, ihm den Hof endgültig zu verleiden.Verbittert hob er den Blick. „Und Ihr? Wie steht es um Euer auferzwungenes Familienidyll?“ Saburō schenkte ihm die Andeutung eines schiefen Lächelns: „Oh? Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr je den Mut aufbringt, nach mir zu schnappen.“ Kōhei stieß ein Schnauben aus. Es sah ihm in der Tat nicht ähnlich, seinen Stand derart zu vernachlässigen und sich auf Augenhöhe mit dem Erben seines Herrn zu begeben. Lange hatte er sich gefragt, wie er ihm wohl gegenübertreten sollte, wenn sie erneut aufeinander trafen. Ihre gemeinsame Reise ins Chūgoku-Gebirge, die Ereignisse am südlichen Hof und Saburōs Verrat am Fürsten, den Kōhei zu allem Überfluss verdeckt hatte, hatten so viele Unklarheiten aufgeworfen und Barrieren niedergerissen, dass der General des Südens nicht zu sagen vermochte, wo sein Platz in diesem Chaos war und wo er sich selbst sah. Er wollte nicht sterben, so viel war sicher, aber mittlerweile wusste er nicht mehr, wie er das zwischen diesen beiden Wahnsinnigen bewerkstelligen sollte – und Saburō wäre nicht Saburō gewesen, wenn er zu der ohnehin verfahrenen Situation nicht noch etwas Groteske hätte hinzufügen können: Er ließ sich durch Kōheis Schmähung nicht etwa reizen, sondern lockerte stattdessen die gestrafften Schultern und fuhr sich mit der Hand durch den Nacken, als könne er die hohe Stellung eines Erben für jedermann sichtbar abstreifen. „Da Ihr die Offenheit besitzt zu fragen: Es ist genauso widerwärtig wie Ihr vermutet.“ Kōheis Mund wurde trocken, als ihm bewusst wurde, dass Saburō seine Anmaßung als Einladung aufgefasst haben mochte, Vertraulichkeiten auszutauschen – und die tatsächlich dankend annahm. Die Vermutung erhärtete sich dramatisch, als sich der Silberfuchs mit verschränkten Armen an die Buche lehnte, auf der er eben noch gesessen hatte und fortfuhr: „Meine Mutter habe ich seit Monaten nicht zu Gesicht bekommen. Seit Akemi wieder schwanger ist, darf sie zumindest unsere Gemächer im Beisein ihrer Mutter verlassen, um in den Gärten spazieren zu gehen, aber auch dann sind Palastwachen bei ihnen und er wird nicht müde, mich daran zu erinnern, dass sie mit ihr ebenso verfahren werden wie mit Hiromi, wenn ich auch nur einen falschen Atemzug tue. Auf den Ratsversammlungen führt er mich vor wie einen Welpen, dem er erfolgreich die Zunge herausgeschnitten hat und prahlt mit seiner bezaubernden, jüngsten Enkelin.“ Ein Nerv in Saburōs ansehnlichem Gesicht zuckte gefährlich, als er von seiner Tochter sprach. „Eine Drohung. Nichts weiter. Ich sehe meine Tochter nur von Weitem. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie versteht, wer ich bin.“ Aus der Ferne hatte Kōhei von der Geburt des Mädchens gehört und seine Glückwünsche anstandshalber über einen Boten vermitteln lassen. Die Weisung des Fürsten hielt ihn seit nunmehr vier Jahren an den Grenzen des Landes und befreite ihn von der Pflicht, den Herrschaften für derart gesellschaftliche Anlässe aufzuwarten. Er würde lieber die nächsten Jahrhunderte damit verbringen, die Grenzen zu bewachen, als nur einen Tag in diese Natterngrube zurückkehren zu müssen – insbesondere, wenn Saburōs bloße Anwesenheit ihn daran erinnerte, was er alles nicht vermisste. „Warum erzählt Ihr mir das?“ Saburō hob eine Braue. „Ich habe Eure Frage beantwortet.“ Stellt keine, wenn Ihr keine Antwort wollt, klang es unausgesprochen mit. „Ihr wisst, wie das gemeint war“, murmelte Kōhei, wütend über seine eigene Dummheit. Spätestens nach dem Gespräch mit Masuko hätte ihm bewusst sein müssen, dass sein Gegenüber dazu bereit war, derlei Fragen zu beantworten – vor allem, wenn es ihm zum Vorteil gereichte. „Wenn Ihr Mitleid wollt -“ „Ich brauche Euer Mitleid nicht. Mitleid bringt mich nicht weiter“, unterbrach der ihn und sammelte abwesend ein Haar von seinem Kimono. Erst jetzt bemerkte Kōhei, dass er ungewohnt hell gekleidet war. Ein Gewirr aus gestickten Blättern und Federn in der Farbe dunkler Eiche bedeckte einen sandbraunen Stoff, der ihm keinesfalls so schmeichelte wie seine übliche, mitternachtschwarze Garderobe mit den herbstlich-roten Ahornblättern. Mit objektivem Blick wirkte er hagerer als vor vier Jahren. Unter dem dünnen Kimonostoff zeichnete sich sein Schlüsselbein ab und die Wangenknochen spannten die blassen Züge seines Gesichtes einen Hauch zu stark. „Wieso dann?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir sind meilenweit weg vom Palast. Es nimmt ein wenig der Last, darüber zu sprechen. Und es schadet nicht, es Euch zu erzählen. Ihr habt ohnehin mehr gegen mich in der Hand als mir lieb ist – da kommt es auf ein, zwei Informationen auch nicht mehr an.“ „Ihr seid verrückt.“ Die Worte waren über Kōheis Lippen, ehe er darüber nachdenken konnte. „Ihr bringt uns beide noch ins Grab.“ Saburō lächelte matt. „Es gibt ein 'uns'?“ „Spart Euch die Scheinheiligkeit. Ihr habt mich in Euer Himmelfahrtkommando gezogen, als Ihr dem Fürsten diesen Schädel präsentiert habt! Als Ihr Euch geweigert habt, dieser … dieser -!“ „Hexe? Hure? Natter?“ „Frau.“ „Götter, seid Ihr langweilig.“ „Als Ihr Euch geweigert habt, ihr den Kopf von den Schultern zu schlagen!“ „Soweit ich mich erinnere, habe ich Euch nicht darum gebeten, mir zu helfen“, gab Saburō zu bedenken. „Es war Eure Entscheidung meinem Vater dieses Lügenmärchen aufzutischen. Ich danke Euch dafür. Außer Euch hätte er das niemandem so anstandslos abgekauft. Dass Ihr dabei zu Boden gegangen seid, hat sicherlich geholfen. Habt Ihr eigentlich mal einen Gedanken daran verschwendet, ob er Eure Mutter kannte? Das würde einiges erklären.“ „Seid Ihr etwa eifersüchtig?“, zischte Kōhei gefährlich leise und bereute die Frage, sobald sie seinen Mund verlassen hatte. Saburō musterte ihn, als müsse er sich erst darüber klar werden, was er von dem Gedanken hielt. Schließlich sog er die Abendluft geräuschvoll ein. „Vielleicht. Anders herum weiß ich, dass man niemandem um die Aufmerksamkeit dieses Mannes beneiden sollte. Er war aufgelöst, als Ihr zusammengebrochen seid. Er braucht Euch. Das wiederum hat mich fast den Kopf gekostet. Irrsinnigerweise dachte er wohl, ich hätte Euch Leid zugefügt. Er hat nicht verstanden, dass Ihr den Anblick seiner Abscheulichkeiten nicht ertragen habt. Ich hatte nicht damit gerechnet, Euch durch etwas anderes als eine Waffe zu Boden gehen zu sehen.“ Kōhei ballte die Fäuste. „Wenn Ihr mich verspotten wollt -“ „Mitnichten. Ihr habt Sie geliebt. Ihr liebt den Jungen. Das ist etwas, das er nie verstehen wird – oder verzeihen.“ Elender, besserwisserischer Bastard! Jede Sehne seines Körpers spannte sich schmerzhaft an, während das Blut durch seine Adern rauschte und so laut in seinen Ohren pochte wie seit der letzten Schlacht vor unzähligen Jahrzehnten nicht mehr. Er erwischte sich dabei, wie er Saburō taxierte und seine Schwächen abzuschätzen begann. Wie er sich fragte, was von all dem Lächeln, Possen und der Scharfzüngigkeit bliebe, wenn er erst einmal mit ihm fertig war. Er war nicht wegen seiner väterlichen Führungsqualitäten zum Kommandanten dieser Armeen gemacht worden und ein hungriger, uralter Teil von ihm wollte herausfinden, ob der Sohn des Fürsten einen würdigen Gegner abgab, während er ihn in Stücke riss. Ihn und seine unerträgliche Überheblichkeit. Nur mit viel Mühe fasste er sich wieder, suchte seine Stimme auf das Sprechen zu fokussieren und eine Haltung zu wahren, die zivilisiert wirkte. Erhaben und zurückhaltend. Seiner Stellung entsprechend. „Was zur Hölle wollt Ihr von mir?!“ Es war ihm nicht gelungen, die Unruhe aus der Stimme zu nehmen, die Abneigung und die Wut darüber, dass er sich erdreistet hatte, seine Fehler bloßzustellen. Ihn verletzlich zu machen. Wegen Reika und des Jungen. Saburō war nicht dumm genug, das Raubtier zu übersehen, das hinter den smaragdgrünen Augen lauerte. Offensichtlich wusste sogar er, dass es einen Punkt ohne Rückkehr gab. Dass er es sich auf immer mit ihm verderben würde, wenn er ihn nun mit der üblichen Schärfe anstachelte. Beschwichtigend hob er die Hände. „Kōhei. Ich drohe Euch nicht.“ „Das will ich Euch auch geraten haben“, knurrte Kōhei bitter und strich seinen Kimono glatt, der unter seiner schwelenden Aura Falten geworfen hatte. „Was also wollt Ihr hier?“ „Ich mieme den Botenjungen für Euch“, erwiderte Saburō. „Mein Vater hält Euch seit unserem gemeinsamen Abenteuer vom Hof und von mir fern – einen Abstand, um den ich Euch beneide –, aber Ratsversammlungen ohne den General abzuhalten ist schlicht dämlich.“ „Yuto vertritt mich in diesen Angelegenheiten.“ „Yuto ist ein unselbstständiger Narr. Er weiß um die Truppenstärken und kann besonders hübsch nicken, aber in Sachen Taktik, der Organisation des Heeres und politischen Entwicklungen hat er weniger Ahnung als mein Pferd. Jedes Notizblatt könnte ihn ersetzen.“ Er machte eine verwerfliche Handbewegung. „Ebenso den Großteil dieser senilen Böcke. Sie sind sicher passable Unterdrücker ihrer Provinzen, aber Entscheidungen für das Reich trifft kaum einer von ihnen. Insbesondere, wenn er selbst einen Nachteil daraus ziehen könnte oder etwas riskieren müsste.“ Es war nichts neues, dass die Produktivität der Sitzungen daran scheiterte, dass jeder seinen eigenen Interessen den Vorzug gab. Es lag nun einmal in der Natur eines Yōkais – und vielleicht auch der Menschen – erst einmal eine ganze Weile an sich zu denken, bevor der verstörende Gedanke fremder Existenzen und Bedürfnisse den Verstand belästigte. Fürst Hayato hatte jedoch ohnehin nie viel auf das Geplänkel des Rates gegeben und nutzte die regelmäßigen Treffen vorzugsweise dafür, die Provinzvertreter daran zu erinnern, wer ihr Herr war. Wenn er es besonders weit treiben wollte, bedachte er die unbedeutende Meinung des Einzelnen mit einem Hauch von Anerkennung – und lenkte damit für den Rest der darauf folgenden Wochen das Hauptaugenmerk der Ratsmitglieder darauf, wer von ihnen wohl am höchsten in der fürstlichen Gunst stand, während er ohnehin tat, was ihm beliebte. Saburō wusste das. Ausgeschlossen, dass er den Rat für etwas anderes hielt als eine reine Machtdemonstration seines Vaters. Doch er machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihm dieser Umstand missfiel. „Was ist so wichtig, dass ihr Euch persönlich zu mir bemüht?“, erkundigte Kōhei sich trocken, ehe sie sich in Schmähungen des Rates verloren. Die Miene seines Gegenübers wurde ernst. „West und Ost ziehen ihre Truppen zusammen. Innerhalb der nächsten Tage werden wir wissen, ob die Drachen und Panther unsere vierjährige Untätigkeit vergelten oder sich der Inu no Taishō gen Süden wendet. Die meisten würden wohl auf die Drachen setzen. Was bedauerlich ist, da unsere teure Hundedame dabei nicht im Geringsten von Vorteil wäre.“ „Sesshōmaru hat einen Weg gefunden, die Drachen zu töten?“ Inständig hoffte Kōhei, dass die Antwort nicht so ausfiel wie er befürchtete. Dass es keine reine Verzweiflungstat war, kein Frontalangriff, ehe sie ihn ehrlos überrannten und seine Ländereien in ein Schlachthaus verwandelten. Als Saburō nichts erwiderte, wurde die Hoffnung schal. „Er hat seinen Generalleutnant zu sich gerufen. Der Mann hat in seiner Abwesenheit über Jahrzehnte seinen Hof geführt. Seit Verschwinden des Jungen wird er als der einzig denkbare Nachfolger gehandelt.“ „Möglich, dass er genau diesen Eindruck beabsichtigt, der sich dabei aufdrängt.“ In Saburōs Mundwinkel schlich sich ein Schmunzeln: „Ihr habt mir wirklich gefehlt, General.“ „Ihr mir nicht.“ Das Schmunzeln wurde zu einem schiefen Grinsen, ehe es erstarb. „Möglich, dass er verzweifelt wirken will. Es sieht ihm zwar nicht ähnlich, mit dem Gegner zu spielen, aber genauso unwahrscheinlich ist es, dass ausgerechnet er seine Männer in einem letzten Aufbegehren verheizt. Nicht nach nur vier Jahren. Die Inu haben Biss – und mehr hinter ihren Mauern als Klingen und Bögen. Bedauerlicherweise weiß niemand im Rat von Akaya und sofern mein werter Vater begreift, auf was er sich damals eingelassen hat, kann er es ausgezeichnet verbergen. Sie sind lediglich alle beunruhigt, dass dieser Sadoaner an die Seite seines Herrn marschiert.“ „Was erwartet der Fürst, dass ich nun unternehme?“ „Ihr sollt einen Teil der Armee in die neutrale Zone überführen und mit ausgewählten Kriegern den Schlachthergang auf Feindgebiet verfolgen.“ „Um mich opportunistisch auf die Seite des Siegers zu schlagen.“ Kōhei war nach Schnauben zumute, aber er konnte sich gerade noch zusammenreißen. Saburōs Miene verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln: „Aber, aber Kōhei. Ihr werdet doch kein ehrbares Manöver erwarten. Dafür dient Ihr im falschen Heer.“ „Das ist mein Heer. Meine Männer sind ehrbar und loyal. Wir werden den Anweisungen des Fürsten Folge leisten. Wenn er von uns verlangt, die Initiative erst zu ergreifen, wenn der Ausgang absehbar ist, werden wir gehorchen. Ich muss allerdings meine Besorgnis anklingen lassen: Ein spätes Eingreifen wird den Osten aus meiner Sicht nicht zufriedenstellen.“ „Wie? Glaubt Ihr etwa, die Drachen werden nicht erfreut sein, wenn ihre lang angeforderte Verstärkung erst aus den Löchern kriecht, wenn man sie nicht mehr braucht?“, er lachte herb. „Möglich.“ Eher unausweichlich. Die Panther hatten sie anfangs wiederholt zum Kriegseintritt aufgefordert. Anschließend war noch einmal ein Schreiben an den Hof gebracht worden, das von Shisuna, dem sandfarbenen Scheusal, höchstselbst unterzeichnet worden war und keinen Zweifel daran gelassen hatte, was er davon hielt, dass man ihm nur Ausflüchte und halbherzige Zugeständnisse entgegenbrachte. Danach war es verdächtig ruhig geworden. Auch wenn die Drachen siegten, würde der Westen ihnen empfindlichen Schaden zufügen. Schäden, die die untoten Kreaturen nachweislich nur mit dem Leben anderer wieder auszumerzen vermochten. Der Osten war Berichten zufolge nun fast menschenleer, große Teile der neutralen Gebiete ebenfalls gebrandschatzt worden. Sie würden sich über die kläglichen Reste der Inu hermachen, um ihre Wunden zu tilgen – und sich dann gen Süden wenden. Nachdenklich betrachtete Kōhei die untergehende Sonne. „Der Westen ist unklarer. Sie haben uns nie um Beistand ersucht, das widerspricht ihrem Stolz. Vielleicht würden sie die Hilfe kommentarlos dulden, aber Sesshōmaru wiegt nicht den einen Beistand mit der anderen Schmähung auf. Er wird Vergeltung für seinen Sohn fordern. Für Reika, wenn er je die ganze Wahrheit erfährt. Er wird ungebetenen Kriegsbeistand niemals als Wiedergutmachung akzeptieren. Solche Schulden werden nur mit Blut beglichen.“ Kōhei verstummte, als er über die Bedeutung seiner eigenen Worte stolperte. Er sah zu Saburō. Der schwieg. Es war das erste Mal, dass der verdammte Silberfuchs nichts sagte, kein Lächeln andeutete. Seine Augen waren unergründlich tiefe Teiche flüssigen Bernsteins. Millionenjährige Gefängnisse bedeutungsloser Insekten. Insekten wie ihm, die in den höfischen Intrigen umhergeschoben wurden wie Figuren auf einem Spielbrett. Er hatte stets gewusst, dass die Verwicklungen mit dem Westen sein Ende bedeuten würden. „Deswegen seid Ihr hier“, sagte er schließlich bitter, „um einem Totem aufzuwarten. Ich hoffe, das Amüsement ist nach Eurem Geschmack.“ „Im Gegenteil, mein General. Ihr könnt nicht einfach sterben.“ Kapitel 51: Ich weiß, dass an dem Tag ------------------------------------- Die Sonne war aufgegangen, als sie das Lager erreichten, das verborgen in einer dicht bewaldeten Talsenke lag. Minoru hatte eine ähnliche Verteidigung erwartet wie auch Musashi sie errichtet hatte. Pfähle, Mauern, Bogenschützen, dahinter Unterkünfte. Doch nichts davon traf zu. Das gesamte Lager erstreckte sich über mehrere hundert Meter beidseits eines Flusses, der am tiefsten Punkt der Senke entlangfloss. Es gab keine klaren Grenzen, keinen Schutzwall, nicht einmal eine Brücke über den gut drei Meter breiten Fluss und nur wenige Zelte. Auf dem Weg hierher waren sie bereits einigen Wachen begegnet und auch wenn so gut wie jeder Inu eine Waffe an seiner Seite trug, so hatte man doch niemandem einen speziellen Posten zugeteilt. Vereinzelt waren Holzpallisaden errichtet worden, allerdings dienten sie willkürlich innerhalb des Lagers nicht dem unmittelbaren Schutz einer Gruppe. „Untersteh' dich“, knurrte Minoru, als seine ganz persönliche Begleitung ihn mit dem Speer zu einem schnelleren Gang antreiben wollte. Nur mit Nachdruck der Anführerin hatte der schwarzviolett maskierte Soldat die Waffe aus seinem Gesicht genommen und war dennoch mit seiner Bewachung beauftragt worden. Eine Aufgabe, die er offensichtlich äußerst ernst nahm, denn auf dem gesamten Weg zum Lager war ihm dieser nervige Kerl nicht von der Seite gewichen. Offenbar war das der Lauf der Dinge, wenn er auf irgendeine Weise abhanden kam: Ob Kappa oder Inu – irgendein Suchtrupp schliff ihn in unsichtbaren Ketten zu seinem Vater. Der einzige, den man unbehelligt gelassen hatte, war Ichirou, der seit Stunden selbstgefällig seine Beute mit sich schleppte. Der Affe sah mittlerweile recht rampuniert und zerbissen aus. Inuyasha entwickelte unterdessen vermutlich Mordgelüste für den Sadoaner, der ihm wie ein Schatten auf dem Fuße folgte und gerade erneut ein warnendes Knurren erntete, weil er zu nah an den Han'yō herangetreten war. Als seine Hand über Tessaigas Schwertscheide fuhr, trat Minoru geräuschvoll auf einen Ast und warf seinem Onkel einen mahnenden Blick zu. Der spuckte aus, ließ aber die Hand sinken. „Dieser Akaya und sein drecks Abkommen interessieren mich einen Scheiß“, zischte er wütend. „Wer soll das überhaupt sein?!“ Der Inu hinter ihm vergaß für einen Moment, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und schnaubte verächtlich. Was hatten sie erwartet? Dass ein halbblütiger Mann, der nicht einmal genug Verbindungen zu seiner dämonischen Familie besaß, um am wichtigsten Krieg der letzten hundert Jahre teilzunehmen, wusste, was vor mehreren tausend Jahreswechseln geschehen war? Wenn sie auch nur den Hauch einer Ahnung davon hätten, dass Minoru erst kürzlich von einem alten Lehrer, der nicht einmal ein Inu gewesen war und nun im Magen irgendeines Drachen ruhte, in diesen Belangen Unterweisung erhalten hatte, würde er sich vermutlich augenblicklich als Erbe disqualifizieren. „Er war einer der Inugami. So etwas wie der Stammvater unserer Familie“, Minoru überging Inuyashas herablassendes Schnauben, das wohl von Desinteresse künden sollte. „Es gab noch andere. Der Nichtangriffspakt mit ihnen ist uralt.“ „Dämlicher Blödsinn“, brummte sein Onkel genervt, schob die Hände in die weit ausfallenden Ärmel seines roten Suikans und beendete damit das Gespräch. Minoru ließ ihn gewähren und wandte sich wieder dem Lager zu, dessen Zentrum sie mittlerweile erreicht haben mussten. Es wimmelte von Inu unterschiedlichster Zugehörigkeit. Höfisches Schwarz und die in dunkelgrün gekleideten Soldaten seiner Großmutter, noch mehr Inu der Insel Sado, vereinzelte rote Rüstungen und weitere Embleme, die er nicht kannte. Darunter Kinder, junge Mädchen, Frauen ohne Stahl, Alte, Hunde. Es war eine Ansammlung, wie man sie von Wölfen erwartet hätte – wild, archaisch, jenseits der sonst klaren, westlichen Strukturen. Die vielen Familien ließen Minoru für einen Moment innehalten. War von der Festung wirklich gar nichts übrig? Und die Sitze der Ratsmitglieder, deren langatmige Berichte ihm unnütze Zahlen von Versorgungsgütern ins Gedächtnis gezwungen hatten? Schon beim Anblick der Sadoaner war ihm bewusst geworden, wie schlecht es tatsächlich um sie stehen musste. Doch das hier – diese Ansammlung verstreuter Reste – war ein schreiendes Zugeständnis zum Untergang. Die Frau unter Petrol warf ihren Gefangenen noch einen knappen Blick zu, dann gebot sie ihnen, ihr zu folgen und steuerte auf eines der Zelte zu, die man auf den weniger abschüssigen Flächen des Hanges an den Baumstämmen aufgespannt hatte. Aus dem Innern drang eine unbekannte Männerstimme aufgebracht durch die dünnen Zeltwände: „Was Ihr verlangt ist vollkommen ausgeschlossen. Ich habe Euch mehr Soldaten zur Verfügung gestellt, als in jedem anderen Krieg zuvor. Die Aufgabe unserer Streitmacht ist die Verteidigung Echizens. Seit tausenden von Jahren! Ich erwarte nicht, dass ausgerechnet Ihr zentralwestliche Kultur begreift.“ „Ganz im Gegenteil, Osamu-sama. Im Gegensatz zu Euch begreife ich, dass dieser Krieg nicht mit den vorangegangenen vergleichbar ist. Sado und der zentrale Westen haben zuletzt zu Beginn unserer Existenz zusammen gekämpft. Meine Leute sind hier – auf die Euren warte ich seit Monaten.“ Ohne weitere Meldung zog die Frau die Stoffbahnen zur Seite und betrat das Zelt, dessen Größe die vier darin sitzenden Männer zwang, ungewöhnlich dicht beisammen zu hocken. Einer von ihnen sah verbissen grummelnd auf und warf augenblicklich eine zweite Karte über die erste, auf der kleine Figuren die Truppenbewegungen nachstellten. Alle waren sie in schwere, wenngleich sehr individuelle Rüstungen gehüllt und musterten die Eindringlinge, die ihre Besprechung zu stören wagten. „Ohatsu.“ Die bekannte Stimme Ryouichis, die eben noch seinem Gegenüber fehlende Wahrnehmung vorgeworfen hatte, rutschte in milde Missgunst ab. „Du kommst unpassend.“ „Nicht grundlos“, erwiderte sie ungerührt. Ryouichis schwefelgelbe Augen huschten über Inuyasha und verweilten auf Minoru. Hätte er die Maske seines Volkes getragen, hätte seine Mimik nicht ausdrucksloser sein können. „Geht“, raunte er an die Ratsmitglieder gewandt. „Wir setzen das hier später fort.“ Ein Mann, dessen dunkelrote Rüstung an der linken Schulter mit einem Gewirr weißer Mondembleme verziert worden war, die in einem seltsamen Arrangement eine Art Vogel darstellen, erhob sich als erster. Er hatte eine Faust geballt, wandte sich schnaubend um und zwängte sich an einem deutlich älteren Inu vorbei, um als erster das Zelt zu verlassen – eine Welle seiner aufgebrachten Aura vor sich herschiebend. Minoru legte umgehend eine Hand an das Schwert, als er spürte, wie sie an seinem Beinen emporkroch und biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Nach all den Jahren seit er die Hütte in den Bergen verlassen hatte, ja selbst nach vier Jahren in der Neuzeit, in der er sich weitestgehend von den dortigen Geschehnissen distanziert hatte, löste diese Art von Yōki, so ähnlich es seinem eigenen auch sein mochte, eine Abneigung in ihm aus, die körperliche Züge annahm. Ihm war auf Schlag übel und jeder Muskel musste mit viel Mühe zur Entspannung überredet werden. Osamu hielt auf seiner Höhe inne und schien seine Anwesenheit mit einem ähnlich Unbehagen zu bemerken – als Minoru ihm jedoch aus den Augenwinkeln einen vernichtenden Blick zuwarf, lag in den Augen des Bruders seiner Mutter eine Verwunderung, die nicht größer hätte sein können. Als er bemerkte, dass die übrigen Ratsmitglieder darauf warteten, dass er den Weg räumte, ging er wortlos vorüber. Als der Letzte hinausgegangen war, schob Ohatsu Inuyasha und Minoru weiter in das Zelt hinein. Ichirou schlängelte sich an ihr vorbei und ließ seinen Affen selbstzufrieden neben Minorus Füße fallen. Ryouichi nahm davon keinerlei Notiz und begann die Karten zu sorgfältigen Rollen zu verarbeiten. Minoru schloss für einen Moment die Augen und atmete durch. Er kannte das, was nun folgen würde, zur Genüge. Der Generalleutnant und sein Vater kannten sich eindeutig zu lange. In Fällen der Ablehnung eines Anliegens oder einer Person neigten offenbar beide zu ähnlich desinteressierten Verhaltensweisen. Das war so lange erträglich, wie sie nicht entschieden, dem Gespräch ein schnelles Ende zu bereiten und ihr Gegenüber in die Unterwelt zu schicken. „Warum also störst du mich, Schwester?“ „Wir haben sie aufgegriffen, als wir die Affendämonen verfolgten. Er behauptet der Sohn deines Taishōs zu sein und verlangt seinen Vater zu sehen.“ Deines Taishōs. Nicht unseres. „So. Tut er das.“ Er ließ die Steine in eine kleine Kiste fallen. „Wie anmaßend von ihm.“ Wie erwartet. Aber wer würde schon vor dem Generalleutnant zurückweichen, wenn er den Taishō selbst in solchen Situationen überstanden hatte? „Die Ignoranzspielchen meines Vaters stehen Euch nicht gut zu Gesicht, Chūyō. Allerdings putzt er zu solchen Gelegenheiten Waffen. Karten hingegen sind nicht besonders einschüchternd.“ „Spielchen?“, Ryouichi hob eine Braue, sah ihn aber immer noch nicht an. „In diesen Belangen läge mir nichts ferner. Deine Rückkehr kommt allerdings unerwartet.“ „Diese Bürokratie muss Myōga vergessen haben, mich zu lehren. Erwartet Ihr in Zukunft einen Kurier, wenn ich mich erdreiste nach Hause zurückkehren zu wollen?“ Er schnaubte herablassend. „Ich habe nicht darum gebeten, vier Jahre lang auf einen Brunnen zu starren, unwissend, ob ich zu einem Friedhof heimkehren werde. Meine Abwesenheit war nicht meine Entscheidung – oder haltet Ihr mich für so grenzdebil, jahrelang zu verschwinden, nachdem er mich für wenige Stunden unangemeldeter Truppenentfernung fast erwürgt hat? Ich will ihn sprechen. Und händigt Inuyasha dieses Gör aus, das Ihr im Austausch für mich in seinem Dorf aufgesammelt habt – ich hoffe, Kaito war wenigstens annähernd dankbar für diesen Schachzug.“ Ryouichi erhob sich abrupt, was Inuyasha neben Minoru sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Er hatte jedoch kaum sein Gewicht in einen kampfbereiten Stand verlagert, als das Yōki des Generalleutnants heiß an den Zeltwänden entlangstrich. „Habe ich meinen Standpunkt bei unserer letzten Begegnung nicht deutlich gemacht?“ „Pah! Du also? Ohne diese lächerliche Maske bist du ja noch hässlicher“, der Han'yō knackte mit den Fingerknöcheln und grinste hämisch. „Ich habe schon andere erledigt. Lass den Jungen in Ruhe. Wenn ihr ihn nicht mehr wollt, nehme ich eben ihn und das Mädchen mit.“ An seinen Kampferfolgen mochte viel Wahrheit sein, doch den Generalleutnant konnte eine solche Drohung nicht einschüchtern, ebenso wie die Schmähung ihn nicht berührte. Er ließ Inuyasha unbeachtet, trat an Minoru heran und baute sich zu voller Größe auf. Eine Handbreit lag zwischen ihnen – sowohl an Nähe als auch an Höhe. Seinem Geruch haftete etwas schweres, süßliches an. Wie Honig mit einer feinen Note Zitronengras, übertüncht von der allgegenwärtigen, metallischen Witterung getrockneten Blutes. Er war ihm auch in den Trainingsstunden nie so nahe gekommen, doch Minoru weigerte sich, vor der einschüchternden Präsenz seines Lehrmeisters zurückzuweichen und hob stattdessen den Blick in die schwefelgelben Augen. „Seid ihr meiner überdrüssig? Ist es das? Wenn ich hier nicht mehr willkommen bin, dann-“ Er brach ab. Die Worte schmerzten physisch als schlügen sie unsichtbare Krallen in seine Kehle. Das wäre sein Todesurteil. Wenn sein Vater tatsächlich keine Verwendung mehr für ihn hatte oder ihm wegen seiner Abwesenheit misstraute, würde der ihn beseitigen lassen, ehe er zukünftigen Erben im Wege stand. Mühevoll schluckte er das Gefühl in seiner Kehle herunter. „Dann weiß ich auch nicht weiter. Erspart mir die Drohungen und Prüfung. Ihr wisst, wer ich bin.“ Der Ausdruck seines Gegenübers blieb hart. „Du weißt, warum wir vorsichtig sind.“ „Natürlich.“ Die Listen der Panther blieben dieselben. Bei den Wölfen hatten sie mit derlei Täuschungen einen partiellen Erfolg feiern können und auch wenn sie schlussendlich doch versagt hatten, hinterließen sie damit Chaos und Verwundbarkeit. Mit einer vorgegaukelten Rückkehr des verschollenen Erben das Lager auszuspionieren oder Unruhe auszulösen war ein Zug, der ihnen zuzutrauen war. Aber er war dieses Vortasten so leid. Ein vertrautes Gesicht zu sehen, auch nur den Generalleutnant sicher zu wissen, war, als könnten Jahre der Anspannung von ihm abfallen – wenn man ihm nur erlaubte, anzukommen. Wenn man ihm nicht mit jedem Atemzug sein Ende in Aussicht stellte, ihm Misstrauen und Drohungen entgegenbrachte. „Sagt mir, was Ihr als Beweis wünscht. Es ist mir beinahe egal.“ Ryouichi sah ihn lange an und schaute dann neben sich zu Boden, wo Ichirou genüsslich an dem Arm des Affens knabberte. Der Akita spürte den Blick und wedelte arglos mit dem Schwanz, als er zwischen den Inu hin- und hersah. „Niemals“, knurrte Minoru, als er begriff, worauf der Generalleutnant hinauswollte. „Nicht in tausend Jahren und für kein Reich der Welt. Soll mein Vater von mir halten, was er will. Ichirou gehört zu mir.“ Ryouichi hob eine Braue. „Dein Erbe ist dir nicht einmal einen Hund wert?“ „Es geht hier nicht um ein Erbe!“ „Streitet ihr gerade allen Ernstes um einen Köter?“, Inuyasha hatte sich vorgelehnt und betrachtete die beiden Inu ungläubig. „Es ist nur ein Hund. Was soll das Theater?“ „Halt dich da raus!“, fuhr Minoru ihn an und sah augenblicklich wieder zu Ryouichi, um ihn mit wütendem Blick anzufunkeln. Der hatte jedoch schon die Hand um seinen Nacken gelegt und ihn abrupt an sich gezogen. Er schloss Minoru in die Arme und quetschte ihm beinahe die Luft aus den Lungen. Honig und Blut und Asche. „Du stinkst nach Minze“, knurrte er versöhnlich an Minorus Ohr, als habe er einen ähnlichen Gedanken gehabt. Das Schmunzeln war sogar in seiner Stimme zu hören. „Er wird dich tagelang baden lassen.“ Es war als hätte jemand schwere Lasten von ihm gehoben und ihm gleichzeitig alle Kraft geraubt. Wortlos sank Minoru gegen ihn und atmete lang aus. Es war ihm egal, wie unangemessen das sein mochte. Ob Inuyasha und die Sadoanerin anwesend waren oder sonst wer. Das war es ihm bei Honoka bereits gewesen und bei Ryouichi erst recht. Vielleicht wurde er zu menschlich. Vielleicht hatten in die vergangenen Jahre verdorben und schwach gemacht, dass er derlei Nähe plötzlich duldete. Aber das kümmerte ihn jetzt gerade nicht. „Du wirst ja richtig anhänglich.“ „Sicher nicht von Dauer.“ Belustigt schnaubend gab Ryouichi ihn frei. „Was hat Euch überzeugt?“, fragte Minoru tonlos, während sein Lehrer sich offenbar weigerte, die Hände von seinen Schultern zu nehmen und seinen Schützling zu mustern, als habe er ihn nicht längst auf Herz und Nieren geprüft. „Einiges. Aber nur du selbst kommst auf die abstruse Idee, dass wir deiner überdrüssig werden könnten. Das kann sich kein noch so hinterlistiger Panther ausdenken.“ Er lachte, als Minoru das Gesicht verzog. Dann zupfte er an dem nassen Stoff. „Du brauchst neue Kleidung. Stahl. Ausgeschlossen, dass du ohne Rüstung herumläufst. Yūsei wird fluchen, dass er für dich nun ganze Stoffbahnen verwenden muss. Wie erwachsen du geworden bist...“ Inuyasha unterbrach die Unterhaltung brummend: „Euer Wiedersehen ist ja herzallerliebst. Wo ist Shinju?“ Ryouichi ließ eine Hand auf Minorus Schulter liegen und betrachtete den Halbdämon abschätzig, während er das Wort an die Soldatin wandte. „Ohatsu, such doch bitte das Mädchen. Eine Eskorte aus zwei Personen sollte reichen.“ „Behalt' deine Männer, Hund. Ich bin nicht auf deine Hilfe angewiesen.“ „Umso besser“, die Miene des Inus rutschte in undeutbare Gefilde. „Schließlich kommt es auf jeden Einzelnen an.“ Es war ein Vorwurf, den Inuyasha nur zu deutlich heraushörte – sicherlich auch, weil er schon mit dieser Einstellung gerechnet hatte und selbst darüber nachdachte, dass es nicht gut aussah, wenn Tessaigas Herr in einem Menschendorf in Musashi die Tür hinter sich schloss, während das Volk seines Vaters in einem fortwährenden Krieg um sein Überleben rang. Er biss die Zähne zusammen, ließ die Aussage jedoch unangetastet im Raum stehen, während die Frau mit der petrolfarbenen Maske das Zelt verließ. Mit einer Geste bedeutete der Generalleutnant auch Minoru, ihr zu folgen und wandte sich nochmals an Inuyasha: „Wartet hier. Man wird Euch das Mädchen bringen. Meine Absichten Euer Dorf betreffend bleiben bestehen. Solltet Ihr den Schwestern Obdach bieten, reiße ich es persönlich nieder.“ Inuyasha verschränkte die Arme vor der Brust. „Behalt' deine Drohungen für dich. Die Mädchen sind nicht nur euer Problem.“ Ryouichis Lächeln wurde schmaler. „Späte Einsicht ist vermutlich besser als gar keine.“ Damit schob er Minoru hinaus, der Inuyasha lediglich knapp zunicken konnte und dann schon im Freien auf dem Präsentierteller stand. Dutzende Augenpaare hefteten sich auf sie und warteten wohl, dass der Generalleutnant den vermeintlichen Panther-Illusionisten in Stücken über den Hang verteilte. Das Erstaunen war groß, als er stattdessen hinter Minoru aus dem Zelt trat und den Umstehenden einen mahnenden Blick zuwarf. Es war grotesk wie deutlich zu sehen war, wer von den Anwesenden unmittelbar unter dem Generalleutnant gedient hatte: Angehörige der Palastwache, ob nun gerüstet oder in Zivil gekleidet, lasen Ryouichi die Anweisung von den Augen ab und nahmen umgehend Haltung an. Die übrigen Umstehenden schienen die Situation erst zu begreifen, als das Aufsstellen der Yari einen einheitlich dumpfen Ton durch das Lager schickte. Sie besannen sich des Protokolls, legten die Hände an die Waffen und verbeugten sich umgehend. Ein Krieger der Inu kniete nicht. Weder vor der Fürstenfamilie noch vor dem Taishō selbst und schon gar nicht vor irgendjemand anderem. Wer sein Anliegen unterstreichen wollte, dem stand dies frei, doch kein Herr des Westens hatte bislang von seinen Männern verlangt, in den Staub zu gehen. Doch auch wenn der Westen von dem kriecherischen Gebarden absah, das manch ein Fürst seinen Untertanen abverlangte, bedeutete dass längst nicht, dass sie auf Respekt keinen Wert legten. Im Gegenteil. Missmutig bemerkte Minoru einige Männer in dunkelroter Rüstung deren Blicke immer wieder Ryouichi musterten, als misstrauten sie seinem Urteil zu sehr, um ihren Respekt an einen Fremden zu verschwenden. Dass es ausgerechnet Soldaten seines Onkels waren, ließ sie nicht gerade in Minorus Gunst steigen. Er ignorierte Ryouichis Hand in seinem Rücken, die ihm mit seichten Druck aus der Situation dirigieren wollte, fixierte die drei und blieb still. So abwegig ihm das Gehabe noch vor einiger Zeit vorgekommen war, wusste er doch, dass er sich außerhalb der Palastmauern und gerade zu Kriegszeiten keinen lapidaren Fehltritt erlauben durfte. Das hier war nicht die eingeschworenen Palastwache, die jedwedem Spross seines Vaters wohlwollend gegenüberstand. Es war ein politisches Spiel, in dem jedermann von dem Jungen gehört hatte, der aus dem Nirgendwo aufgetaucht war, um den Titel des Erben zu beanspruchen. Von seiner verräterischen Mutter ausgeschickt, um die Dynastie durch seine Inkompetenz zu Fall zu bringen. Ein wildes Tier ohne Rückhalt am Hofe, das jahrelang im Wald gehaust hatte. Barbarisch und unwürdig, diesen Weg zu gehen. Ein Narr, wer nicht begriff, dass ihn das gefährlicher machte als die behütet aufgewachsenen Söhne und Töchter der hohen Familien. Mit einem gelangweilten Blick beobachtete er die Soldaten, die seiner Aufmerksamkeit erst nach und nach Gewahr wurden und allmählich stockten. Der unterkühlte Ausdruck des Fürsten ging ihm erschreckend einfach von der Hand, während er die immer steifer werdenden Männer musterte, als überlege er sich, wie genau er ihnen das Fleisch von den Knochen schälen sollte. Es war auch wirklich ihr Pech, ausgerechnet seinem Onkel unterstellt zu sein, der dermaßen nach seiner Mutter stank, dass es ihm fast die Galle in den Hals trieb. Als auch die Palastwache seinem Blick folgte und die Männer ein wenig zu genau betrachtete, die mittlerweile immerhin Haltung angenommen hatten, neigten sie endlich die Häupter. Minoru gab dem Druck der Hand in seinem Rücken nach und ging wortlos vorüber. Die Menge teilte sich augenblicklich vor ihm und er hätte schwören können, dass Ryouichi hinter ihm gerade ein triumphierendes Grinsen aufgesetzt hatte, sobald sie den anderen den Rücken gekehrt hatten. „Also?“ „'Also?“ Minoru sah zum Generalleutnant auf, der neben ihm aufgeschlossen hatte und ihn aufmerksam betrachtete. „Verrätst du mir, wo du gesteckt hast? Vier Jahre lang hat dich niemand finden können und du siehst nicht danach aus, als seist du in der Zeit in einem Kerker verrottet.“ Der Frage würde er sich noch häufig stellen müssen und er war froh, dass er sie zuerst jemandem beantworten sollte, der ihm wohlgesonnen war. Skeptischere Personen hätten ihn lediglich für den schlechtesten Lügner der letzten tausend Jahre gehalten – Fuchseinfluss hin oder her. Man verließ eine grausame Gefangenschaft des Feindes nicht in neuer Kleidung, gut versorgt und ohne sichtbare Narben. Der Überfluss der Neuzeit hatte den Mangel vorangegangener Jahre sogar partiell ausmerzen können. Die hohe Statur des Fürsten würde er vermutlich nicht mehr erreichen und auch Kaitos Kimono war an den Schultern weiter geschnitten als es für seine Statur nötig gewesen wäre, doch damit war er immer noch größer geworden als die meisten und bei Weitem nicht mehr der hagere Junge, der seinem Vater nur widerwillig in den Westen gefolgt war. Wie man es auch betrachtete: Er wirkte nicht wie jemand, der gegen seinen Willen festgehalten worden war. „Jeder, der es wagt, das Wort an mich zu richten, wird mich in den kommenden Wochen danach fragen“, erwiderte er bitter, weil er nicht wusste, wo er beginnen sollte. „Gewiss. Aber nur ich werde unmittelbar mit dem Fürsten sprechen und das Vergnügen haben, ihn davon abzuhalten, gute Wachmänner in Stücke zu reißen, die es ein halbes Jahrzehnt verpasst haben, seinen Sohn zu finden.“ „Mein Vater ist nicht jähzornig genug, in Kriegszeiten brauchbare Soldaten zu verschwenden.“ Ryouichis Braue hob sich kaum merklich an. „Er ist nicht jähzornig. Will heißen, dass er sie nicht für jeden einzelnen Tag leiden lassen wird. Aber es wird kein schöner Anblick, so viel kann ich dir versprechen. Also – was meintest du damit, du hättest einen Brunnen angestarrt?“ „Kaito und ich wurden an einem Brunnen bei Musashi von den Taijiya-Zwillingen angegriffen.“ „Ja, wir haben den Bengel dort gefunden. Dich allerdings nicht.“ Minoru holte tief Luft. „Ich bin durch den Brunnen gefallen.“ „Auf dem Grund des Brunnens war -“ „Ich bin durch den Brunnen gefallen.“ Sobald er es laut aussprach, war es, als liefen vier Jahre Neuzeit an ihm vorbei. Vier Jahre Ungewissheit, vier Jahre Hoffnung. „Er ist ein Durchgang in eine andere Epoche, der offensichtlich nur alle Jubeljahre nach Lust und Laune öffnet. Kaitos Mutter ist auf diesem Weg hierher gekommen. Ihre Familie lebt noch auf der anderen Seite, in der anderen Zeit. Ich habe bei ihnen gelebt, in einer gewaltigen Menschenstadt, und versucht den Durchgang wieder zu öffnen. Ich konnte nicht zurück. Glaubt mir, ich habe es versucht, habe gehofft, dass dieses elende Stück Holz sich erbarmt und in der Zwischenzeit hier nicht alles zum Friedhof geworden ist. Es klingt irrsinnig und an den Haaren herbeigezogen und-“ „Ich glaube dir.“ Wie angewurzelt blieb Minoru stehen und wandte sich seinem Lehrer ungläubig zu: „Ihr lasst mich auf Kohlen laufen, ehe Ihr glaubt, wer ich bin – aber diese Geschichte nehmt Ihr mir ab, ohne mit der Wimper zu zucken?“ „Es erklärt, warum wir dich nicht finden konnten. Warum weder Spuren noch Witterung vom Brunnen weg führten, weshalb das Halbblut dort war und auch die sonderbaren Gerüche, die du an dir trägst. Wenn man nur einen Moment in Erwägung zieht, dass du die Wahrheit sagst.“ Er setzte den Weg fort, während er weitersprach und Minoru folgte ihm umgehend. „Und ich bin erleichtert. Du bist in Sicherheit gewesen. Es geht dir gut. Kannst du dir vorstellen, was für Szenarien wir uns ausgemalt haben? Die ersten Monate haben wir täglich auf den Boten gewartet, der deinen Kopf bringen würde. Als klar war, dass das nicht geschehen würde, kommt man auf andere Ideen...“ Er verzog schmerzlich das Gesicht. „Außer Euch wird mir das niemand so bedingungslos abnehmen.“ „Es geschehen abstrusere Dinge als das. Und außerdem -“, er lächelte schmal, „ist es nicht bedingungslos, wenn dein Vater dir glaubt.“ „Wohin führt Ihr mich?“ „Zum Schneider. Deine derzeitige Garderobe ist kaum eine passende Ausstattung, wohingegen Yūseis Stoffe vielen Rüstungen ebenbürtig sind.“ Rüstungen gleichzusetzen und ohne Zweifel eindrucksvoll, doch Minoru hatte sich eine andere Antwort erhofft. Wenn Ryouichi jedoch eine Ratssitzung in einem Feldlager leitete, war sein Vater kaum in der Nähe und für die kommende Zeit brauchte er tatsächlich strapazierfähige Ausrüstung, die nicht bei jedem Schwerthieb oder nach jeder Wandlung in Fetzen hing. Ihm waren auch die neuen Stoffe nicht entgangen, die sich eng an Ryouichis Körper schmiegten. Nachdem er seine vorherige Ausstattung im Kampf zunichte gemacht und der Fürst selbst beim gekränkten Schneider hatte vorstellig werden müssen, um für seinen Stellvertreter neue, standesgemäße Kleidung zu erhalten, hatte Minoru wetten wollen, dass Yūsei diesem aus Trotz etwas auf den Leib schneiderte, das auch in hundert Metern Entfernung noch lächerlich aussah. Stattdessen hatte er sich selbst übertroffen: Von einem tiefen Dunkelgrün und so genau angepasst, dass sich das Zusammenspiel der Muskeln bei jeder Bewegung deutlich unter dem Stoff abzeichnete, verliehen Hakama und Kimono ihm den Ausdruck eines tödlich geschmeidigen Raubtieres. Dem Goldton der floralen Muster gelang die schwierige Balance zwischen dem Dunkelgrün des Stoffes und dem sonderbaren Schwefelgelb seiner Augen. Gerade ausreichend hell für einen weichen Übergang. Für einen Unwissenden waren es die teuren Kleider eines gefährlichen Mannes. Wer jedoch zwischen den Zeilen zu lesen vermochte, begriff, dass Yūsei seinem ehemaligen Schüler Mahnung und Wertschätzung gleichermaßen vor Augen geführt und ihm seine Vergänglichkeit unverhohlen ins Gesicht gespuckt hatte. Durch die Erziehung seiner Mutter hatte sich Minoru ausreichend mit sinnlosem Geplänkel wie der Bedeutung diverser Blumen auseinandersetzen müssen, um zu verstehen, was die Camelien und Spinnenlilien ausdrücken sollten, die im samtig schimmernden Gold den langen Kimono bedeckten: Ehrenvoller Tod und Abschied. Als wolle er der klaren Botschaft seines Lehrmeisters mit Hohn begegnen hatte Ryouichi das Obergewand zur Antwort rechts über links gefaltet – eine Kleidungsordnung, die bei Menschen wie auch Dämonen für das Totenbett reserviert war. Es war ein grotesker Humor, den Minoru dem Generalleutnant nicht zugetraut hatte. „Solltet Ihr nicht zugegen sein, wenn man meinem Onkel das Mädchen übergibt?“ Ryouichi schnaubte leise und schloss am Ende des Trampelpfades an seine Seite auf. „Ich verschwende meine Zeit nicht an Narren“, knurrte er grimmig und Minoru hätte beinahe darauf wetten wollen, dass dieses Maß an Abneigung für beide seiner Onkel reichte. „Ich nehme an, du hast ihm erzählt, was mit seinem Sohn passiert ist.“ „In groben Zügen. Soweit ich es wusste.“ „Der Junge hat mehr Mut und Voraussicht als manch erfahrener Krieger, aber im privaten Umfeld kneift er den Schwanz ein wie ein verängstigter Welpe. Es war absehbar, dass er ihnen die Wahrheit verschweigt.“ „Das ist deren Problem. Nicht meines“, erwiderte Minoru glatt. „Ich begreife die Dynamik ihrer Gemeinschaft nicht und beabsichtige auch nicht, mich weiter damit auseinanderzusetzen als nötig. Kaito scheint ihnen den Rücken gekehrt zu haben und vermutlich ist das für ihn die beste Lösung. Habt Ihr ihn gesehen?“ „Zuletzt vor einigen Monaten. Er beteiligt sich nicht an den Schlachten und meidet unsere direkte Nähe, aber er fängt sehr effektiv kleinere Spähtrupps des Gegners ab. Wie Oni oder die Affen, denen ihr begegnet seid.“ Er sah mit schwer definierbarem Blick zu Ichirou, der während der vorangegangenen Unterhaltung den Arm des Affen zur Hälfte verspeist hatte. Minoru war bewusst, warum der Anblick dem Generalleutnant zu denken gab. Kein Hund wagte es, einen Yōkai zu fressen – auch nicht, wenn er ihn selbst umgebracht hatte. Doch Minoru hatte dem Akita dieses unbedeutende Detail bewusst nicht beigebracht. Es war unsinnig, ihm derlei Nahrungsquellen aus Ansprüchen zu verweigern, die sich nur mit der Zugehörigkeit zu einer Lebensform begründeten. Wenn er es selbst töten konnte, warum sollte er es dann nicht auch fressen dürfen? Ob nun Yōkai, Mensch oder Tier war dabei gänzlich unerheblich. Zumal ein Dämon sich kaum auf seine hohe Stellung berufen konnte, wenn er sich von einem gewöhnlichen Hund abschlachten ließ. Doch er war nicht hier, um sich über die Fressgewohnheiten des Hundes zu streiten. „Gut. Zu Yūsei also“, erwiderte Minoru schließlich, der insgeheim ein wenig Bedenken hatte, was der Veteran dazu sagen würde, dass die Erstausstattung, die er Minoru hatte zukommen lassen, bei irgendeinem verschrobenen Sammler antiquierter Waren in der Neuzeit gestrandet war, weil er sonst nichts hatte veräußern können als die Kleider an seinem Leib. „Anschließend?“ „Zum Schmied. Es ist Krieg. Du solltest dementsprechend auftreten.“ „Wann kann ich den Fürsten sprechen?“ „Dein Vater ist mit dem Großteil der Soldaten im Feld. Ich werde in einigen Tagen mit den hier versammelten Truppen und – so irgendein verdammter Gott denn Erbarmen mit mir hat – den Soldaten aus Echizen zu ihm stoßen und ihm von deiner Rückkehr berichten. Wenn ich vorab einen Kurier schickte, riskierte ich nur, einen Mann mehr zu verlieren.“ „Die Frauen und Kinder?“ „Schicke ich morgen bei Sonnenaufgang mit Osamu nach Echizen. Die Festung ist auch mit der halben Besatzung schwer einnehmbar und die sicherste Zuflucht, die wir bieten können.“ Missmutig sah Minoru zu ihm auf. „Ihr erwartet hoffentlich nicht, dass ich mich mit den Kindern, Frauen und Alten hinter hohen Mauern verstecke und auf bessere Zeiten warte. Das war beim letzten Mal schon eine bescheidene Idee und ist nun nichts als politischer Selbstmord. Mit Rüstung oder ohne: Niemand wird mir danach noch einen Funken Respekt gönnen – und Ihr wisst, dass sowohl meine Kindheit als auch die letzten vier Jahre meine Außenwahrnehmung nicht unbedingt gefestigt haben.“ „Respekt wird dir nichts nützen, wenn du deinen Kopf verloren hast. Und meinen gleich mit. Das ist kein Kampf für dich, Minoru.“ „Eure Besorgnis um meine Person blendet Euer Urteilsvermögen und das wisst Ihr. Verweigert mir niemals etwas aus emotionalen Beweggründen, bei dem Ihr sehr wohl wisst, dass die Logik es gebietet. Ich bin nicht gekommen, um mich wie ein Kind behandeln zu lassen, Chūyō.“ Ryouichi bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln. „Aber du bist -“ „Ich bin der Erbe des Westens. Nach Stammbaum und auf Wunsch meines Vaters – Papier und Worte. Sobald er fällt, bin ich nur noch der Sohn einer Abtrünnigen und Zögling eines Fuchses. Ein Niemand bestenfalls, ein Hindernis im schlechtesten. Wie Ihr bereits selbst hervorgehoben habt, existiert kein Höllenschwert, das meine Position festigen und meinen Anspruch legitimieren könnte. Ich muss es also selbst tun.“ „Indem du dich abschlachten lässt? Märtyrer geben miserable Fürsten ab, Minoru.“ Der musterte seinen Lehrer ernst. „Glaubt Ihr nicht, ich wüsste, wie größenwahnsinnig das klingt? Ich bin mir meiner Nichtigkeit bewusst. Blind bin ich jedoch nicht. Sado-Inu. Eure Bemühungen, meinen sturen Onkel dazu zu bewegen, seine Streitmacht an die Front zu verlegen. Die wenige Zivilbevölkerung auf dem Weg hinter sichere Mauern. Der Westen hat mit Sicherheit nicht die Oberhand und wenn wir verlieren, sterben wir alle. Ganz gleich, wie sehr Ihr mich nun schützen wollt.“ Er machte eine verwerfende Handbewegung. „Natürlich kann ich mich weder mit Euch, noch meinem Vater oder den erfahrenen Soldaten messen. Aber ich bin kein schutzbedürftiges, naives Kleinkind. Andernfalls wäre ich schon vor Jahren gefressen worden. Findet mir also eine angemessene Aufgabe. Bevor mein nicht einmal halbblütiger, kaum älterer Vetter mehr zu diesem Krieg beigetragen hat als ich. Das macht sich nicht gut in meinem ohnehin dürftigen Resumé.“ Ryouichi musterte ihn kritisch, sagte jedoch kein Wort. Er war ein wenig zu bemitleiden, dass die Entscheidung über das weitere Vorgehen in Abwesenheit des Fürsten nun bei ihm lag. Die Abwägung ob nun das Leben oder das Ansehen des Erben zu wahren sei, war sicher kein Vergnügen, wenngleich eine Frage, die sich objektiv gar nicht stellen dürfte. Auch Minoru nahm das Gespräch nicht wieder auf und sah stattdessen Ichirou nach. Der lief voraus und streunerte am Flussufer entlang, inspizierte eine Leine, die man über die ganze Breite des Flusses gespannt hatte. Stoffe verschiedener Farben waren an ihr aufgereiht und wurden in der Strömung des vorbeieilenden Gebirgswasser gesäubert. Ein nahegelegenes Zelt war von weiteren Stoffbahnen umgeben, die in der Sonne an den Ästen trockneten. Ein alter, krummer Mann mit nur einem Bein saß auf einem Baumstumpf und war bemüht, mit seinen knöchrigen Fingern den Riss in einem Yukata zu nähen. „Yūsei-sama!“, Minoru hob die Hand zum Gruß. „Es tut gut, Euch wohlauf zu sehen.“ Der Alte nahm einige Nadeln zwischen seinen Lippen weg, auf denen er abwesend herumgekaut hatte, und wollte gerade eine abfällige Bemerkung machen, als er sah, wer dort auf ihn zukam. Hastig räumte er sein Werk zur Seite, griff dabei in die Nadel und ließ fluchend den Stoff fallen. Dann angelte er nach seinen Krücken und raffte sich mühevoll auf. Vor Anstrengung zitternd vollführte er eine abgehackte Verbeugung und suchte Worte, ehe Ryouichi ihm die Aufgabe abnahm, den Gruß zu erwidern. „Wenn du ihn zu Tode erschrecken wolltest, war das sehr nah dran“, meinte er, als hätte es den vorangegangenen Disput nicht gegeben. Der Alte knurrte und warf seinem ehemaligen Schüler einen vernichtenden Blick zu: „Ich höre dich noch sehr gut, Junge.“ „Offenbar nicht gut genug, um meiner Bitte nachzukommen und an der Besprechung teilzunehmen.“ Yūsei, einstmals selbst Generalleutnant unter Tōga, verzog keine Miene: „Auch da habe ich dich gehört.“ Dann wandte er sich an Minoru. „Verzeiht. Der Chūyō neigt dazu, erfolgreich mehr Aufmerksamkeit einfordern, als ihm zusteht. Ich bin hocherfreut, Euch zu sehen. In einer außerordentlich guten Verfassung.“ Der Alte warf einen flüchtigen Seitenblick zu Ryouichi, der Bände sprach. Der Generalleutnant quittierte ihn sogleich mit einem Schnauben: „Er ist es.“ „Keine Zweifel?“ „Keine.“ Der Veteran betrachtete Minoru und senkte schließlich den Blick vor ihm: „Vergebt mir. Mein Pessimismus hatte mir diesen Tagtraum längst verboten.“ „Vielleicht überdenkt Ihr Eure Meinung noch einmal, wenn ich Euch erst gebeichtet habe, was mit der Kleidung passiert ist, die Ihr mir gegeben habt. Einige unangenehme Umstände haben mich dazu gebracht, sie zu veräußern. Ich wollte sie Euch ursprünglich zurückgeben, bevor ich um etwas Neues bitte.“ „Ihr beliebt zu scherzen. Der Verbleib meiner Arbeit könnte niemals meine Meinung über Euch beeinflussen“, beteuerte der Alte und ignorierte das verächtliche Husten des Generalleutnants. „Ihr bekommt natürlich umgehend, was immer Ihr wünscht – sofern ich es derzeit veranlassen kann. Erlaubt mir Maß zu nehmen. Die wenigen Stücke, die ich retten konnte, entsprechend zu ändern, wird nur einige Stunden dauern.“ Kapitel 52: an dem wir uns wiedersehen -------------------------------------- Dass die Änderungen nur wenige Stunden in Anspruch nahmen, mochte Minoru gern glauben. Doch die Art und Weise, wie sich der einbeinige Veteran mehrerer Kriege damit abgemüht hatte, auf dem unebenen Boden des Hanges um ihn herumzulaufen, um mit einem Band Maß zu nehmen, ließ Zweifel daran aufkommen, wie lange Yūsei diese Arbeit noch zu seiner eigenen Zufriedenheit ausüben konnte. Sicherlich war er ein hartes, entbehrungsreiches Leben gewöhnt und würde sich niemals darüber beschweren, zu alt oder gebrechlich für seine Arbeit zu werden, doch das Gefühl, zu nichts mehr nutze zu sein und sich selbst anzuzweifeln, war gravierender. Und davon war er nicht mehr weit entfernt. „Zu eng?“, fragte Ryouichi, der Minorus finstere Miene nicht so recht deuten konnte. Der schüttelte den Kopf und zog den Obi über dem schwarzen Brustpanzer noch etwas nach. Das Leder des Dōs lag ungewohnt eng an seiner Brust und erinnerte ihn unsinniger Weise an mittelalterliche Korsagen des Kontinents, die er in irgendwelchen Dokumentationen gesehen hatte – auch wenn der Vergleich sicher auf mehreren Ebenen hinkte. Die Tasseten, die seine Oberschenkel nur bis zur Hälfte bedeckten, waren gleichsam aus dem dunklen Leder anderer Yōkai gefertigt. Leichter, widerstandsfähiger und regenerativer als menschliche Materialien, wenn man wusste, das tote Gewebe durch die eigene Aura zu beeinflussen. Der Schmied hatte ihm zusätzlich Arm- und Beinschienen geben wollen, einen längeren Oberschenkelschutz und am liebsten noch eine Halsberge, aber er fühlte sich auch mit den wenigen Rüstungsteilen schon wie eine Schildkröte und hätte weitere Unbeweglichkeit im Falle eines Kampfes nur bereut. Lediglich eine Maßnahme war weitere Einschränkungen wert gewesen. „Erkläre mir doch bitte noch einmal, warum du nur den rechten Schulterschutz wolltest.“ „Weil ich es bevorzuge, die Linke frei nutzen zu können.“ Ryouichi rieb sich die Schläfen und schüttelte den Kopf. Er musste sich sichtlich zusammenreißen, nicht erneut darauf zu verweisen, dass zwei Arme zu behalten sehr wünschenswert war. Minoru war das nur recht. Er hätte ungern darauf verwiesen, dass die Argumentation dürftig war. Immerhin hatte Myōga erwähnt, dass der Fürst trotz der mit Stahl geschützten Linken denselbigen Arm zeitweilig verloren hatte. Und je länger sich der Generalleutnant an der ungerüsteten Linken festbiss, stolperte er wenigstens nicht darüber, dass sein Schüler einen guten Grund haben könnte, die Rechte zu schützen. Die vier beweglich überlappenden Stahlplatten, die mit dunklem Leder überzogen worden waren, würden einen Aufschlag besser abfedern als ein einzelnes Schmiedestück und umfassten seine Schulter bis zur Hälfte des Oberarmes. Ausreichend weit, um die empfindliche Narbe zu schützen. Für Minorus eher schlichten Geschmack war die treppenartig geschwungene Anordnung fast eine Spur zu auffällig, aber neben der oppulenten Rüstung seines Vaters würde dieser Hauch von Extravaganz nicht weiter auffallen. Andererseits konnte es unter Umständen förderlich sein, kein Mauerblümchendasein in seinem Schatten zu fristen. Wenn die Neuzeit ihn eines gelehrt hatte, dann dass der Eindruck mehr zählte, als ihm lieb war – und das galt sicherlich nicht nur für jene Epoche. Seit seiner Ankunft vor nicht einmal zwei Stunden hatte sich die Nachricht von seiner Rückkehr durch das Lager verbreitet wie ein Lauffeuer. Selbst die Wölfe hätten Tratsch nicht schneller unter die Leute bringen können. Wie erwartet stand er nun unter der ständig wertenden Beobachtung verstohlener Blicke. Die Kinder hingegen starrten ihm unbefangen nach und tuschelten so offensichtlich, als habe sich bislang niemand die Mühe gemacht, ihnen beizubringen, dass derlei ungesehen von Statten zu gehen hatte. Ichirou, der die Reste seines Affen auf Minorus Bitte hin für andere Hunde zurückgelassen hatte, empfand es zunächst als befremdlich, dass ihnen ein Haufen junger Dämonen nachstellte. Er arrangierte sich jedoch gewohnt schnell und setzte zwei Mädchen nach, die verschreckt Reißaus nahmen, als der Fürstensohn ihr Kichern mit einem Seitenblick bedachte. In dem Glauben, der Kōtaishi habe seinen Hund angewiesen, ihre Frechheit zu bestrafen, flohen sie in das steinige Kiesbett hinab und in den Fluss. Bellend setzte ihnen der Akita nach und blieb mit wedelnder Rute stehen, als das Wasser seine Pfoten benetzte. Eine Schar junger Kappa steckte die kahlen Köpfe unter der Wasseroberfläche empor und blickte sich irritiert nach dem Grund des Tumults um. Minoru bedachte die Szene mit einem verzweifelten Kopfschütteln und bemerkte erst dann den Jungen, der im Ufergeröll saß und Steine in den Fluss warf. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und nahm keinerlei Notiz von dem Trubel um ihn herum. Man musste schon mit Blindheit und Taubheit gleichermaßen geschlagen sein, um das Theater nicht zu bemerken – oder die Welt bewusst ausblenden. Es dauerte einen Moment, bis Minoru das braune Haar des Kindes und die am Boden liegenden Krücken zu einem sinnvollen Bild zusammengefügt hatte. Dann blieb er stehen. „Stimmt etwas nicht?“ Ryouichi folgte seinem Blick und runzelte die Stirn, als er nicht begriff. „Er hat den Angriff überlebt.“ „Wen meinst du?“ „Den Jungen am Ufer. Eiji. Der Drache hat seinen Freund gefressen und er ist zwischen dem Biest, mir und einigen Panthern ins Handgemenge geraten.“ „Ach er“, Ryouichis Stimmung sank hörbar. „Meine Tochter kannte die Jungen. Für diesen hier wäre es gnädiger gewesen, wenn der Schutt anstelle seiner Hüfte den Schädel zertrümmert hätte.“ „Er ist kaum älter als zehn.“ „Zwölf“, korrigierte Ryouichi trocken. „Kann ohne Krücken nicht laufen, geschweige denn kämpfen, und sitzt Jahr und Tag deprimiert herum. Sein Vater ist bei der Palastwache. Fähiger Mann. Aber mit seinem Sohn kann er nichts mehr anfangen.“ Die Palastwache war eine handverlesene Gemeinschaft, die nicht etwa aus Dekorationszwecken in der Nähe der Fürstenfamilie postiert wurde, sondern weil sie als die fähigsten Soldaten galten – was sie nicht davor bewahrt hatte, an jenem Tag vor vier Jahren zu versagen. Dennoch hätte Ryouichi es nicht deutlicher machen können: Männer bestimmter Positionen stellten Erwartungen an ihre Söhne. Hätte Minoru eine solch unglückliche Verletzung davongetragen, hätte sein Vater ihm ohne Zweifel nicht mit neuzeitlichem Rollstuhl und Pflegepersonal aufgewartet, sondern die Arbeit des Dachbalkens eigenhändig vollendet. Dieser Junge jedoch atmete noch und das nicht zuletzt, weil Minoru ihn unter diesem Schuttberg hervorgezogen und dabei sein eigenes Leben riskiert hatte. Nun von Missmut und Unbrauchbarkeit zu hören, ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Hatte er das Kind zu einem schlimmeren Schicksal verdammt als dessen Freund, der unbedarft in den Schlund des Drachen gestolpert war? Oberflächlich betrachtet mochte das zutreffen. Während der Vater des Jungen gegen Drachen ins Feld zog, konnte er sich ohne Hilfe nur schwerlich bewegen – und auch gemäß dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie aus diesem Krieg siegreich hervorgingen, würde er in hunderten von Jahren immer noch unbeteiligt sein. Ein nutzloser Fresser, der sich im Gegensatz zu Yūsei diesen Ruhestand nicht verdient hatte. Soweit Minoru den Westen bisher beurteilen konnte, hatte seine Mutter zumindest in einer Sache Recht behalten: Krieg gehörte für die Inu zum Alltag wie der Vogelgesang zum Morgen und Grillenzirpen zum Abend. Sie mochte ihre eigenen Absichten verfolgt haben, als sie ihm jegliches Kriegsspiel als verwerflich und abartig verboten hatte, aber zu guter Letzt hatte es auch dazu geführt, dass er einen anderen Blickwinkel auf die Welt besaß als dieser Junge. „Braucht Ihr mich bei der Forsetzung Eurer Besprechung?“ Ryouichi betrachtete ihn misstrauisch. „Absolut nicht. Osamu ist auch ohne deine offensichtliche Abneigung gegen ihn schon schwierig genug.“ „Gut. Dann sehe ich Euch später.“ Zum Unmut des Generalleutnants verließ Minoru den Trampelpfad und ging zum Fluss hinunter. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dich entlassen zu haben!“ Minoru zuckte mit den Achseln: „Ich habe ja auch nicht gefragt.“ Der Akita gab sich äußerst zufrieden, als er bemerkte, dass Minoru ihm gefolgt war – währenddessen diese Tatsache die beiden Mädchen in schiere Panik versetzte. Mit einer knappen Handbewegung rief er Ichirou vom Ufer zurück und wandte sich dann dem Jungen zu, der sich weiterhin weigerte, an der Umwelt teilzuhaben. Er hatte die runden Züge in mancher Hinsicht bereits abgelegt, wirkte aber immer noch kindlicher als Minoru es bei seiner Ankunft im Westen getan hatte. Das braune Haar war zu einem kurzen, ungepflegten Zopf in seinem Nacken zusammengefasst und seine Kleidung wider der Umstände sauber und glatt. Von dem Wildfang, der vor nicht allzu langer Zeit im Spiel noch die Palastküche zerlegt hatte, war jedoch nicht mehr viel übrig. Sein Blick war keineswegs leer, sondern starr und lodernd. „Eiji.“ Angesprochen wandte sich der Junge ihm langsam zu, betrachtete zunächst den Hund, der sich zu seinen Füßen in den Kies gesetzt hatte, dann Minoru. „Kōtaishi“, die Verwunderung in seine Miene konnte er nicht gänzlich herunterkämpfen. „Ihr lebt.“ „Du ebenso“, erwiderte Minoru und legte Ichirou eine Hand auf den Kopf. „Warum also so trübsinnig?“ Der Junge versteifte sichtlich und wandte den Blick ab. „Das fragt Ihr noch? Ihr hättet mich besser liegen lassen.“ „Selbst wenn ich das getan hätte, hättest du unter Umständen überlebt. Aber das ist Spekulation. Du warst dir in dem Moment jedenfalls sicher, dass du Leben wolltest – sonst hätte ich mir die Mühe gleich sparen können. Woher also dieser unsinnige Gedanke?“ Er schnaubte: „Hätte ich also darum gebeten, dass Ihr mich liegen lasst, hättet Ihr es getan?“ „Möglicherweise.“ Der Junge sah ihm geradewegs in die Augen: „Dann tötet mich jetzt.“ Das herbe Lachen, das Minoru entfuhr, ließ den Jungen zurückschrecken. „Nein, Eiji, so funktioniert das nicht. Willst du mir etwa die Schuld an deinem miserablen Zustand geben? Das ist undankbar.“ „Ich bin ein Krüppel!“, er nahm eine Krücke und warf sie Minoru vor die Füße – nur für den Fall, dass er dieses kleine Detail bislang übersehen hatte. Offenbar war er mit allen Mitteln darauf aus, sein Leben zu verwirken. „Ich kann ohne diese Stöcke nicht einmal gehen! Herumsitzen, das kann ich alleine und nichts anderes werde ich tun! Wofür sollte ich dankbar sein?“ Ichirou duckte sich, als Minoru ein durchdringendes Knurren ausstieß. Er hätte dem Jungen gern an den Kopf geworfen, dass sein toter, kleiner Freund für ihn sicher eher ein zerstörtes Bein als einen abgebissenen Schädel gewünscht hätte – sah aber davon ab, ihn daran zu erinnern, dass sie stattdessen die schlechtmöglichste Kombination beider Szenarien bekommen hatten. Eine Auseinandersetzung mit einem verzweifelten Zwölfjährigen war etwas anderes als einem Erwachsenen die Meinung um die Ohren zu pfeffern. Es blieb also nur Durchatmen, Herunterfahren, anders ansetzen. „Du wirst nie in einer Schlacht kämpfen oder die Ausbildung dazu erfahren. Aber die Welt besteht aus mehr als dem.“ „Für Euch doch nicht.“ „Nein, da hast du Recht. Ich habe keine Wahl. Du hingegen schon.“ Eiji musterte ihn, als habe er den Verstand verloren: „Ihr macht Euch über mich lustig.“ „Keineswegs. Wenn du mir erlaubst, zeige ich dir, was ich meine.“ Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Minoru, so etwas wie Interesse in seinem Ausdruck erkannt zu haben – dann entglitt er ihm wieder, wandte sich brummend ab und sah auf den Fluss. „Nein.“ Der Akita legte den Kopf schief und sah fragend zu Minoru empor, der abermals die Zähne knirschend aneinander rieb. Wie konnte auch so naiv annehmen, das Weltbild jüngster Kindheit mit einigem Zureden umzukrempeln? Hätte er sich in dem Alter von einem Erwachsenen von etwas abbringen lassen, nur weil dieser ihm irgendeinen Unsinn vor die Füße warf? Im Gegenteil. Wenn es nach seinem zwölfjährigen Ich gegangen wäre, würde er heute noch in Erdhöhlen schlafen und den Tag damit zubringen, irgendwelches Getier zu fressen, während andere Yōkai selbiges mit ihm planten. Um jeden Preis nicht das tun, was seine Mutter von ihm verlangt hätte. Erst später hatte er die Höflichkeit besessen, Leuten wie Nobu zuzuhören – und auch das nur, weil er schlecht hatte weglaufen können. Erwartete er gerade also wirklich, dass sich dieses Kind in seiner Verzweiflung und all seinen Gedanken und Sorgen anders verhielt? Dass er mit Vorschlägen und gutem Zureden auf einen grünen Zweig kam? Idiot. Er packte Eiji am Kragen, zog ihn auf die Beine und warf ihn über die Schulter, ehe der wusste, wie ihm geschah. Sogleich begann das Bündel sich zu winden. „Lasst mich sofort herunter!“ Minoru kümmerte sich nicht weiter um den fauchenden, strampelnden Jungen, wies Ichirou an, die Krücken mitzunehmen und stieg den Hang hinauf. Wenige Minuten später stieß er die Stoffbahn zur Seite, die den Zelteingang bedeckte. Yūsei sah erschrocken auf und musterte ihn überfragt. „Kōtaishi. Ich fürchte, ich benötige etwas mehr Zeit.“ „Deswegen bin ich nicht hier.“ Er ließ den Jungen achtlos zu Boden fallen. Der raffte sich fluchend in der zertretenen Erde des Eingangs auf und griff wütend nach seinen Krücken, sobald Ichirou sie abgelegt hatte. „Yūsei-sama, das ist Eiji. Eiji, ich darf dir den ehemaligen Generalleutnant meines Großvaters und langjährigen Schneider der Festung vorstellen.“ Alt betrachtete Jung, Jung beäugte Alt – und beide starrten sie ratlos zu Minoru, als die erwartete Erleuchtung ausblieb. „Kōtaishi?“ „Ihr habt nach einem Lehrling verlangt. Er ist störrisch, aber Ihr seid sicher Schlimmeres gewohnt. Wenn er nicht taugt, setzt ihn vor die Tür.“ Erneut protestierte Eiji, schnaubte erbost und wandte sich um. Während seine Behinderung sitzend kaum auffiel, konnte er sie auf Krücken nicht verbergen. Das rechte Bein war durch das zertrümmerte Becken und einen schief verheilten Oberschenkelbruch deutlich kürzer. Er war entgegen aller Aussagen sicherlich in der Lage, ohne Hilfsmittel zu gehen, allerdings nur äußerst ungelenk – was ihn nicht daran hinderte, das Zelt verlassen zu wollen. Minoru packte ihn am Kragen, kaum dass er Hand an den Stoff gelegt hatte, und warf ihn neben Yūsei zu Boden. Trockene Erde staubte auf. „Du wirst dich hier nützlich machen, bei der Arbeit helfen, und wenn du Glück hast, behält er dich länger als ein paar Stunden. Gib dir gefälligst Mühe – bevor ich mich gezwungen sehe, mir etwas Neues auszudenken.“ Er ließ die Drohung im Raum stehen und verließ ohne ein weiteres Wort das Zelt. Als der Generalleutnant des westlichen Heeres am Spätnachmittag in sein Zelt trat, bot sich ihm ein Anblick, den er nicht allzu schnell vergessen würde: Auf der Seite zusammengerollt hatte Minoru ihm den Rücken zugewandt und einen Arm um den massigen Hund gelegt. Trotzdem Ryouichi seine Aura höflicherweise offen zur Schau trug, schlief er in einer Seelenruhe, die manchem Toten Ehrfurcht abgerungen hätte. Der Akita hingegen hatte den Kopf schützend über Minorus Hals gelegt und starrte Ryouichi aus wachsamen, dunklen Augen an. Minoru erwachte, als das Knurren des Akitas auf seinem Kehlkopf vibrierte und griff ihm augenblicklich über den Fang. Der warme Honiggeruch des Generalleutnants lag in der Luft und sein Yōki hüllte ihn ein wie flüchtiger Nebel. „Lass ihn“, brummte Minoru verschlafen und ließ die Schnauze des Hundes los. „Er darf hier sein.“ „Wie großzügig von Euch, Kōtaishi.“ Ryouichis Stimme entbehrte ebenso wenig eines gewissen Spottes wie die ungewöhnlich respektvolle Ansprache, war es doch immerhin sein Zelt, in das Minoru sich für einige Stunden Schlaf zurückgezogen hatte. Seine letzte Nachtruhe war zwar keine zwei Tage her, dennoch kam es ihm vor, als sei er unendlich lange wach gewesen. Vielleicht auch eine absonderliche Form von Jetlag, auch wenn die Tages- und Nachtzeiten diesseits wie jenseits des Brunnens identisch schienen. Allmählich rollte Minoru auf den Rücken und setzte sich auf. Er hatte damit gerechnet, dass man ihn nur für eine Neuigkeit oder zumindest eine erneute Diskussion aus dem Schlaf riss, doch sein Lehrer sah stattdessen mit zusammengezogenen Brauen auf den Akita, der sich gelassen neben Minoru ausstreckte und einen tiefen, seufzenden Atemzug tat – Ryouichi jedoch nicht aus den Augen ließ. „Was willst du mit dem Hund?“, fragte der schließlich ohne den Blick von dem Tier abzuwenden. „Ichirou gehört zu mir“, erwiderte Minoru kühl, als beantworte das alle Fragen – was es dem Gesichtsausdruck des Generalleutnants zufolge ganz und gar nicht tat. „Menschen haben ihn verlassen, als er wenige Wochen alt war. Er lebt seitdem bei mir.“ „Er ist ein Hund.“ Es war zu erwarten gewesen, dass die großen Dämonen des Westens neben Menschen auch auf gewöhnliche Hunde herabsahen. Rin galt nicht umsonst als eine Laune seines Vaters, die auf kurz oder lang seinen Klauen zum Opfer fallen würde. Während Takerus Stamm mit den Wölfen eine Einheit bildete, wurden Hunde in den Palastmauern lediglich geduldet. Sie fühlten sich von den Inu angezogen, hatten die Festung mit ihnen verlassen und folgten dem Tross, weil sie hier Nahrungsreste fanden, doch den Inu zugehörig waren sie nicht. Der typische Stolz der Inuyōkai – und das obgleich es einst Hunde gewesen waren, die den Grundstein für ihre Existenz gelegt hatten. Minorus Züge wurden härter: „Ich hatte Euch nicht für überheblich gehalten, Chūyō. Muss ich Euch erinnern, dass es einigen Straßenhunden zu verdanken ist, dass wir heute hier stehen und auf Ihresgleichen herabsehen können?“ „Es freut mich zu hören, dass deine Geschichtsstunden bei diesem senilen Alten Früchte getragen haben, aber seine Anwesenheit kann dir schaden. Er ist schwach, jung und kaum ein geeigneter Begleiter für dich.“ „Genug!“, der scharfe Ton brachte ihm endlich Ryouichis Aufmerksamkeit ein, der ihn betrachtete und sicherlich auch das Yōki bemerkte, das zu seinen Füßen leise Wellen schlug. „Ihr nehmt Euch zu viel heraus. Dieser Hund ist meine Angelegenheit. Wenn er stirbt, mein Versäumnis.“ „Diese Sache mit dem Streuner muss dich damals schwer getroffen haben, wenn du diesem Fellbündel derart zugetan bist.“ Minoru wurde mit einem Schlag eiskalt. Seine Aura vollführte einen graduellen Stillstand als habe man sie eingefroren. Bilder eines struppigen, alten Hundes huschten durch seinen Geist, ehe er sich dessen verwehren konnte. Kōhei, den er um Hilfe hatte bitten wollen. Ein abgetrennter Kopf im hohen Gras. Er schauderte. Niemals hatte er jemandem von dem alten Hund erzählt, dem er als Kind in der Nähe der Berghütte begegnet war. Das Tier war bis auf die Knochen ausgemergelt gewesen, das braune Fell ungepflegt und verfloht. In seiner Not hätte er Hilfe bei jedermann gesucht und war umso erleichterter gewesen, auf Minoru zu treffen. Es waren nur wenige Tage, in denen der versucht hatte, diesem wandelnden Gerippe etwas Nahrung zu beschaffen. In denen er Essen von den Mahlzeiten abgezweigt und sogar seine erste, unaufmerksame Drossel im Wald erlegt hatte – als Hund. Der Streuner hatte ihm einen Grund gegeben, die eine Grenze zu überwinden, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte. Bis heute hatte er nicht verstanden, wie er aus dem menschenähnlichen Erscheinungsbild in den Körper eines winzigen, fellüberladenen Welpen gewechselt hatte und es als Kind auch nicht hinterfragt. Er war fest entschlossen gewesen, diesem neuen Freund ein Zuhause zu geben und zudem sicher, dass sein vermeintlicher Vater ihm diesen Wunsch nicht abschlagen würde. Dass zumindest Kōhei sehen würde, dass dieser Hund, der ihm doch gar nicht unähnlich war – ebenso ein Hund wie seine Mutter immerhin – nun einmal Hilfe brauchte. Kindliche Naivität. Ihre Freundschaft hatte kaum ein paar Tage gewährt. Bis seine Mutter es herausgefunden hatte. Bis sie dem Hund den Kopf abgeschlagen hatte. Minorus Mund war staubtrocken geworden. „Woher wisst Ihr davon?“ „Der Zeitdämon. Dein Vater hat es mir anvertraut.“ Jikan! Ein frostiger Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Vater hatte es gesehen. Das und sicher noch einiges mehr. Deswegen hatte Ryouichi Ichirous Tod gefordert. Weil jeder Panther den Befehl ausgeführt hätte – er jedoch nicht. Für einen kurzen Moment kam Reue in ihm auf, dass er sich den Informationen dieser Einblicke verweigert hatte, die der Zeitdämon seinem Vater geboten hatte. Doch sie verpuffte umgehend. Was auch immer sein Vater über seine Vergangenheit oder Zukunft in Erfahrung gebracht hatte, ließ sich nicht mehr ändern. Er hatte dieser Unternehmung zugestimmt und musste nun mit den Konsequenzen leben. Es behagte ihm zwar nicht, dass er nicht wusste, welche Teile seines vergangenen Lebens aufgedeckt worden waren, aber er konnte sich auch an kein Ereignis erinnern, dass er dem Fürsten zwangsläufig hätte vorenthalten wollen. Damit konfrontiert zu werden, war jedoch eine andere Sache. „Tut das nie wieder“, zischte er leise und erhob sich. „Dein Vater hat es mir nicht erzählt, um -“ „Ich weiß, warum er Euch vertraut“, fauchte Minoru und stellte die Nackenhaare ab. Ichirou war sogleich auf den Beinen. „Warum er mich ausgerechnet in Eure Hände gegeben hat. Warum er sich sogar mit derart sensiblen Informationen an Euch wendet, obwohl er weiß, dass ich es als Verrat ansehen könnte.“ Er machte einen Schritt auf Ryouichi zu. „Verwendet noch einmal derartige Informationen gegen mich und ich schwöre Euch, dass Ihr es sein werdet, der einen halbwüchsigen Daiyōkai bändigen muss.“ Der Generalleutnant zuckte zusammen, als hätte er ihm direkt ins Gesicht geschlagen. Minoru hatte beim besten Willen nicht damit gerechnet, dass seine Drohung mehr als ein fades Lächeln auf den Zügen seines Gegenübers hinterlassen würde. Doch die Angst, die durch Ryouichis helle Augen zuckte, war real. Sie war so greifbar, dass Minoru sie wittern konnte. Die Muskeln an seinen Schultern zitterten leicht, dann fuhr ihm ein Schauer sichtbar über den Rücken und er senkte den Blick. „Nichts, was ich tue, wird jemals gegen Euch gerichtet sein. Darauf habt Ihr mein Wort“, sagte er matt als koste das Sprechen allein mehr Kraft als ihm blieb. „Wissen auszuspielen, dass Euer Vater mir über Euch mitgeteilt hat... ich bin Euch zu nahe getreten. Vergebt mir.“ Dieses Mal waren es keine spöttischen Floskeln. Kein Test. Er ordnete sich so grundlegend unter, dass Minoru sich mit einem Mal derart weit entfernt vom ihm und allem fühlte, als stünden sie im Audienzsaal des Palastes und nicht in einem winzigen Zelt. Das Gefühl erwischte ihn hinterrücks und goss Eiswasser über seine Wut. „Chūyō...“ „Nein.“ Die Erwiderung kam kalt und als Ryouichi den Blick hob war er wieder ganz der Lehrer, Herr der Situation. Das Blatt hatte sich im vorübergehen eines Augenblickes gewendet. „Steh aufrecht. Nimm diesen mitleidigen Blick aus deinen Augen!“ Er baute sich vor Minoru auf und sah mahnend auf ihn herab. „Keinen Schritt zurück. Niemals.“ Dass er sich so schnell wieder fing, machte es Minoru leichter, den Anflug eines schlechten Gewissens herunterzukämpfen und erneut eine kühle Miene aufzusetzen. „Wollt Ihr nun meine Vergebung oder nicht?“ „Deinem Welpenblick nach zu urteilen habe ich die schon“, höhnte sein Gegenüber. „Oder tue ich dir nur leid? Willst du Rücksicht auf meine armen, toten Gefühle nehmen?“ Er schnalzte abfällig mit der Zunge. „Du willst deinen Platz im Westen beanspruchen? Dann mach' es konsequent oder sie werden dich in der Luft zerfetzen.“ „So konsequent wie Ihr gerade?“ Ryouichi verstummte, doch Minoru würde ihn mit diesem Kratzer in seiner Fassade sicherlich nicht so ungeschoren davonkommen lassen: „Warum setzt Euch das derart zu? Ich weiß um Euren Tod zu Gunsten meines Vaters. Das allein ändert nichts. Und er hat Euch sicherlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass ich nicht in der Lage bin, diese Form zu benutzen, geschweige denn zu kontrollieren.“ „Das ist für jedermann offensichtlich“, brummte Ryouichi und kreiste abfällig mit dem Finger vor seiner Schulterpartie in der Luft herum. „Dir fehlt das Fell dazu.“ „Wie bitte?“ „Wahre, kontrollierte Daiyōkai tragen einen Teil ihres Felles auch in dieser Erscheinung weiter. Die Aura wird zu allumfassend, um sich gänzlich zurückdrängen zu lassen, also nimmt sie Gestalt an. Du hast das Potential, aber nicht die Kontrolle. Was deine Drohung äußert real macht.“ Es war also für jedermann sichtbar, dass er ohne Hilfe nicht in der Lage war, sich in etwas anderes zu wandeln als einen gewöhnlichen Streuner. Er hatte es auch nie eigenständig versucht. Im Norden, als Wölfe und Panther ihn gleichermaßen angefallen hatten, hatte das rationale Denken für einen Moment ausgesetzt, doch sein Yōki war an der Fuchskoralle zurückgeworfen worden, dessen war er sich mittlerweile sicher. Danach hatte ihm sein Vater geholfen, die Grenze zu überwinden, doch weder hatte er den Übertritt ohne dessen Zutun geschafft noch konnte er sich an Anfang oder Ende dieser Unternehmung erinnern. Er wusste nicht einmal, wie er an jenem Abend zurück zum Palast gekommen war. Auch als die Drachen ihn entführt hatten, war der Übergang keine bewusste Entscheidung gewesen, sondern eine bloße Reaktion auf seine hochschlagende Todesangst, als das Biest ihn aus mehreren dutzend Metern Höhe hatte fallen lassen, um sich an seinen Schreien zu ergötzen. An den darauf folgenden Weg nach Musashi erinnerte er sich nur in Bruchstücken als beleuchte seine Erinnerung nur kurze Momente dieser Hetzjagd. Die ersten zusammenhängenden Bilder danach waren Kaito und er unter dem Schutzschild und der daran abprallende, verunstaltete Drache. Danach hatte er es nicht gewagt, diesen Schritt zu gehen. Nicht, dass er nicht darüber nachgedacht hätte. Die wenigen Stunden in seiner wahren Gestalt an der Seite seines Vater waren so real gewesen, wie kaum ein anderer Moment in seinem Leben. Als hätte man ihm erlaubt, endlich eine enge Hülle von sich zu streifen, die zuvor nur eine fade Version der Realität zu ihm durchgelassen hatte. Ein Leben voll Farbe und Weite nach einem Leben hinter einem grauen Schleier. Doch es war schwer absehbar, was er am Schrein und in Tokyo hätte anrichten können, wenn sein Verstand höchsten alle paar Minuten einen Funken Licht ins Dunkel brachte. „Ihr tragt kein Fell“, bemerkte er schließlich und betrachtete Ryouichis kunstvoll gestaltete Kleidung. „Nein. Wohl nicht“, das Lächeln, das Ryouichi ihm schenkte, war wieder so schwach wie seine Haltung es zuvor gewesen war. „Yūsei ist fertig. Wir sollten deine Sachen abholen.“ Die Sonne hatte ihren Höchststand schon lange verlassen und ließ den Fluss vor Yūseis Zelt in einem angenehm warmen Licht funkeln. Luft und Boden waren warm von der vergangenen Mittagshitze und kaum ein Wind regte sich in den umstehenden Bäumen, während Yūseis knöchrige Finger die Stoffbahnen in Eijis Armen ordneten als handle es sich bei dem Jungen um ein besonders schlecht gelauntes Regal. Ryouichi beäugte die Szene mit einer gewissen Skepsis. „Will ich wissen, wie das hier zustande kam?“ „Missfällt es Euch?“ Minoru trat aus dem Zelt heraus und band einen Knoten in das schwarze Kleidungsstück, um das er den Schneider gebeten hatte. Es bedeckte die gesamte Schulterpartie, ließ sich vor der Brust zusammenknoten und hatte eingelassene Schlitze, um die Ärmel an den Mittelfingern zu fixieren. Es erinnerte sehr an neuzeitliche Boleros, doch Yūsei hatte ihm versichert, dass es sich um die Ausrüstung eines Bogenschützens handelte, der die Arme vor der zurückschnellenden Sehne schützen müsse. Er hatte es dennoch gewollt. So hatte er die kurze Privatsphäre, die man ihm zur Anprobe des Hakamas gelassen hatte, nutzen können, um seine Narbe zu verdecken, ehe Yūsei ihm die übrige Kleidung übergab. „Dem Jungen scheint es zu missfallen“, bemerkte der Generalleutnant, der seinen Schüler prüfend musterte, während dieser an ihm vorbeiging. „Wie gut, dass wir den nicht um seine Meinung bitten.“ Eiji hatte die Unterhaltung sehr wohl verfolgt und warf Minoru einen vernichtenden Blick zu, den der ausdruckslos erwiderte. Wenn man nicht gerade einen Weg fand, sein Bein auf wundersame Weise zu heilen oder ihm den Kopf vom Rumpf teilte, würde nichts das Missfallen aus seiner Visage tilgen. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Aber das war es Wert, wenn er wenigstens etwas anderes zu tun hatte als sein Dasein zu verdammen und eines Tages vielleicht sogar einen Funken Sinn darin fand. Zumal Yūsei die Hilfe brauchen konnte und wohl kaum einer der anderen Jungen bereit gewesen wäre, Schwert gegen Nadel zu tauschen. „Ich hoffe jedoch, Ihr fühlt Euch von meiner Entscheidung nicht kränklich übergangen. Bei unserer ersten Begegnung erwähntet Ihr, einen Lehrling zu suchen.“ Yūsei entfaltete die dunkelrote Untergarderobe und wandte sich brummend zu Minoru um. „Wir werden sehen, ob er die Mühe wert ist.“ Ryouichi schmunzelte hinter dem Rücken des Veteranen schmal auf Eiji herab. „Er mag dich.“ Eijis Gesichtszüge wurden hart wie Obsidian und mindestens genauso finster. Hätten Blicke töten können, wäre der Generalleutnant gerade ein zweites Mal gestorben. Yūsei murmelte irgendetwas von hoffnungslosen Rotzbengeln, wobei unklar blieb, ob er damit nun den Stellvertreter des Fürsten oder seinen neuen Schützling wider Willen meinte. Wahrscheinlich ohnehin beide. Minoru hatte den dunkelroten Stoff noch nicht gänzlich über eine Schulter gezogen, als eine Frauenstimme erklang. „Vater, Ohatsu fragt, ob Ihr heute Abend-“ Kanae verstummte umgehend, als sie Minoru bemerkte, der innegehalten hatte und sie nicht minder überrascht betrachtete. Ihre fliederfarbenen Augen wanderten über sein Gesicht, herab zu seinem nur halb bekleideten Oberkörper und zurück nach oben. Als sich ihre Blicke erneut trafen, hatte ihre blasse Haut eine ungesund rote Färbung angenommen. Sie wollte sich gerade ihrer guten Kinderstube erinnern und war im Begriff, sich zu Boden zu werfen, als Ryouichi sie am Arm griff. Eine klauenbewehrte Hand in ihrem haselnussbraunen Haar, drückte er ihren Kopf an seine Brust und sah Minoru mit einem Ausdruck an, der Feuer und Mord versprach, wenn er sich dem Mädchen auch nur auf zehn Meter nähern würde. „Was möchte Ohatsu, Liebes?“ „Fragen ob Ihr ihr heute Abend Gesellschaft leistet“, antwortete sie etwas leiser als zuvor, legte aber eine Hand versöhnlich auf seine Brust. „Sie kennt meine Antwort.“ So wie er klang, war dem eine Aneinanderreihung von Ablehnungen vorausgegangen. Kanae wurde noch leiser. „Und ob ich Euch dann begleiten dürfte.“ „Du? Auf einer sadoanischen Kriegsfeier?“, er hob erstaunt die Brauen. „Garantiert nicht. Das geht nur eine kurze Zeit gut, ehe sie sich die Köpfe einschlagen.“ „Aber Naoko wird auch dort sein. Morgen ziehen wir nach Echizen und Ihr rückt bald aus. Nur diesen einen Abend. Bitte.“ Das Zähneknirschen des Generalleutnants war weithin gut hörbar. „Sag meiner Schwester, ich schaue vorbei und bringe dich mit. Und sag ihr auch, dass es das erste und letzte Mal ist, dass ich mich so hinterlistig erpressen lasse.“ Kanae hob den Kopf und sah Ryouichi ins Gesicht. „Seid Ihr sicher, dass ich das so sagen soll?“ Der seufzte gedehnt: „Nein, das mache ich besser selbst. Nun geh.“ Kanae hatte sich gerade umgewandt, als er sich nochmal zu ihr drehte. „Hast du deine Mutter um Erlaubnis gebeten?“ Das vorsichtige Lächeln, das ihre Lippen umspielte, sprach Bände. „Ich werde gleich zu Mutter gehen und ausrichten, dass Ihr einverstanden seid.“ Dann war sie weg. Yūsei warf einen Blick über die Schulter und betrachtete Ryouichi einen Moment, ehe er schnaubte: „Als Generalleutnant magst du eine gute Figur machen, aber als Vater bist du wirklich hoffnungslos.“ Kapitel 53: du ein anderer sein wirst. -------------------------------------- Mit Einbruch der Nacht hatten sich zunehmend Krieger in der Senke des Lagers versammelt, die meisten davon Sadoaner. Ihre Gesichter unter Masken verhüllt standen sie in kleinen Gruppen beisammen, unterhielten sich angeregt oder pflegten ihre Ausrüstung. Nur ein geringer Anteil der übrigen Truppen hatte sich den Insulanern angeschlossen, zwischen denen maskierte Kinder umherrannten wie Mäuse in einem Hühnerstall. Für sie waren im Kiesbett Feuer entzündet worden, über denen Fisch und Wild brieten – Nahrung, die die Erwachsenen nicht benötigten. Ryouichi hatte sich mit verschränkten Armen am Rand der Senke an eine große Erle gelehnt und beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung. Minoru fiel es schwer, seine ausdruckslose Miene genauer zu deuten, aber dass er keinerlei Ambitionen hatte, diesem Ereignis näher beizuwohnen, als die Aufsicht über seine Tochter es erforderte, war für jedermann deutlich. Kanae hatte sich zu einer Gruppe Sado-Inu gesellt, die offenbar hohes Ansehen genossen. Neben Minorus schwarzviolett maskiertem Aufseher von letzter Nacht war auch Ryouichis Schwester unter ihnen. Wer ihren Blick kreuzte, neigte den Kopf oder vollführten eine knappe Verbeugung ehe er das Gespräch suchte. Ohatsu, deren ozeanblauer Kimono mit petrolfarbener Wellenzeichnung exzellent zu ihrer Maske passte, nahm die Gesten reaktionslos an und sprach so formlos mit den ihr untergebenen Soldaten, dass die übrigen Truppenführer des Lagers mit Sicherheit eine verstaubte Niederschrift des westlichen Protokolls zurate gezogen hatten, um abzuschätzen, gegen wie viele Normen diese Frau binnen einer Nacht verstoßen konnte. Das allein brachte ihr Minorus Sympathie ein. Soeben hatte sie einen Arm um Kanaes Schulter gelegt, um ihr verschwörerisch zuzuflüstern. Es war auffällig, wie kontaktfreudig die Sadoaner aufeinander zugingen, sich umarmten, bei einem herben Witz deftig gegen die Schulter des anderen schlugen oder ihren Kindern über den Kopf strichen. Sie hoben sie unter den Armen hoch und warfen sie in die Luft, wenn es ihnen passte, nur um sie wieder zu fangen und mit einem Klaps fortzuschicken. Das war so absonderlich eng, dass es menschlich wirkte, erklärte aber Ryouichis Umgang mit Kanae am Nachmittag oder die offene Art, mit der er Minoru schließlich doch willkommen geheißen hatte. Er verweigerte ihre Gesellschaft, aber die Zugehörigkeit zu seinem Volk konnte er nicht gänzlich verbergen. „Es ergibt sich mir nicht“, wandte Minoru schließlich ein. „Dieser informelle Umgang und die Nähe zueinander – warum dann die Masken?“ Die Stille zu durchbrechen, kam einem Sakrileg gleich. Seit ihrer Ankunft am Rande der Senke hatte die Laune des Generalleutnants eine erneute Wendung erfahren und steuerte auf einen Gefrierpunkt zu. Es kostete ihn offenbar alle Selbstbeherrschung, seinem Volk nahe zu sein. Die Antwort fiel dementsprechend belanglos aus: „Kultur ist immer schwer mit wenigen Worten zu umgreifen.“ „Nehmt Euch bitte die Zeit. Myōga konnte mir im Bezug auf Sado keine hinreichenden Antworten geben.“ Die Miene des Generalleutnants blieb steinern. Es bedurfte nicht viel Empathie, um zu wissen, dass er kalkulierte, wie viel sein Schüler bereits wissen mochte – insbesondere über die vergangenen Geschehnisse seinen Tod betreffend. In Anbetracht der Lage war das nur gerecht. Immerhin konnte Minoru auch nur raten, was sein Vater im Treffen mit dem Zeitdämon in Erfahrung gebracht hatte und was davon an Ryouichi weitergegeben worden war. Zu welchem Schluss der auch immer gekommen sein mochte – er hielt den Blick auf Kanae gerichtet, lockerte aber beiläufig die Schultern, als versuche er allein damit die Anspannung abzustreifen, die seit dem Nachmittag über ihm lag. Dann atmete er hörbar durch: „Sado ist winzig und die hier Anwesenden nur ein Teil der dort lebenden Inu. Die anderen sind bereits in Echizen oder an der Front. Die Bevölkerungsdichte der Insel ist hoch. Es ist also bereits räumlich unmöglich, dieselbe Distanz zueinander zu wahren, die der Zentralwesten bevorzugt und zudem sind die meisten irgendwie miteinander verwandt oder verschwägert. Ohatsu ist meine Schwester, Takanao, der Anführer der Sado-Inu, einer meiner Halbbrüder. Ich kann einen Stein dort unten in die Menge werfen und treffe garantiert irgendeinen entfernten Vetter.“ Die Anwesenheit so vieler Familienmitglieder hätte Honoka sicherlich verzückt – Ryouichi hingegen schien ihre bloße Existenz ein Dorn im Auge zu sein. „Wenn du genau hinsiehst, wirst du feststellen, dass die Kinder nur zu gewissen Personen ein gutes Verhältnis haben und den meisten anderen aus dem Weg gehen. Die Enge führt zu Auseinandersetzungen, nicht zuletzt zu Konkurrenz. Die Masken sind ein Weg, Abstand zu halten und Privatsphäre zu wahren.“ „Konkurrenz worum?“ „Macht im Allgemeinen, Sozialstellung im Besonderen und allem voran die Frage, wer führt oder eines Tages führen wird. Das Übliche.“ Minoru schwieg für einen Moment. Er wollte vermeiden, Staub über Wunden aufzuwirbeln, die man lieber dem Vergessen überantwortete. Seine Situation war zwar keinesfalls vergleichbar mit einem grausamen Foltertod in Gefangenschaft, doch konnte er im Grundsatz nachvollziehen, dass es Erinnerungen gab, über die man nicht sprechen wollte. Ob Ryouichis Vergangenheit jenseits des Meeres jedoch ähnliche Spuren hinterlassen hatte, war unklar. „Warum seid Ihr dann in den Westen gegangen?“ Der Generalleutnant drehte sich zu ihm. Eine Schulter noch an den Baum gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt, musterte er seinen Schüler ausgiebig, ehe er eine kaum merklich die Brauen zusammenzog. „Worauf willst du hinaus?“ „Ihr seid der mächtigste Mann neben meinem Vater. Eine Einschätzung, die mir nicht obliegt, aber von Personen vorgenommen wurde, deren Urteil ich vertraue. Demzufolge gehört ihr zu den gefährlichsten Dämonen des Landes. Wollt Ihr mir nun weißmachen, dass dieser Takanao Euch in derlei Belangen voransteht? Die Führung zu übernehmen hätte ein Leichtes für Euch sein sollen.“ „Mir ist nicht klar, wie du ableiten willst, dass ich Takanao überlegen sei.“ „Ganz einfach“, Minoru strich eine einzelne Falte aus dem Stoff seines Ärmels. „Mein hoher Vater hätte Euch niemals als Trainingspartner akzeptiert, wenn es einen besseren gegeben hätte.“ Ryouichi lachte rauh: „Keine Lobpreisungen meiner Taten? Dass mein Titel nichts weiter als ein Resultat meines Todes ist – eine Wertschätzung aus Pflichtgefühl?“ Wie oft hatte man ihn darauf reduziert, dass er es gleich in dieser Form anführte? Hatte ihm vorgehalten, dass jegliches Vertrauen des Fürsten nur darauf beruhte, dass er sich einst sehenden Auges an seiner Stelle in eine Todesfalle begeben hatte? Als ob irgendjemand wahnsinnig genug wäre, einen solchen Handel in der Hoffnung einzugehen, wiederbelebt und als Generalleutnant eingesetzt zu werden. „Ich sprach bewusst nicht von Eurer heutigen Stellung. In Eurer Jugend war der Fürst Euch nichts schuldig. Wäret Ihr ihm damals nicht annähernd ebenbürtig gewesen, hätte er seine Zeit sicher nicht an Euch verschwendet.“ Wobei Minoru dennoch zu gern Mäuschen gespielt hätte, als man seinem Vater einst eröffnet hatte, er solle mit einem Sadoaner trainieren. Die Krieger in der Senke waren lauter geworden. Rhythmisches Klatschen und Johlen löste ernsthafte Gespräche ab und die Kinder nahmen zunehmend Abstand von den Erwachsenen. Wölfe hätten sich unter ihnen wohl gefühlt. Aber ein strikt westlich erzogener Erbe? Nein, wäre Ryouichi seinem Vater unterlegen gewesen, hätte er die ersten Wochen der kulturellen Kollision kaum an einem Stück überlebt. „Zweifelsohne gibt es Narren, die Euch den Posten als Generalleutnant neiden und ihre Weltanschauung danach auslegen. Ich glaube aber weder, dass Ihr jemals Ansehen für diese Entscheidung wolltet noch dass mein Vater sentimental genug ist, Euch aufgrund einer alten Schuld zu ernennen. Zumal Euer heutiger Titel, so hoch angesehen er auch sein mag, hinter dem zurücksteht, was Ihr stattdessen hättet sein können. Die Ratsmitglieder sind zuletzt immer dem Taishō verpflichtet, Sado nicht. Die Insel ist seit den Zeiten der Inugami eigenständig – und erinnert gern daran, wie ich bereits feststellen durfte. Ihr hattet die Abstammung und die Macht, die Herrschaft zu beanspruchen. Stattdessen führt Ihr als rechte Hand meines Vaters Befehle aus, seid den Ratsmitgliedern formell lediglich gleichgestellt und beobachtet das Treiben Eures eigenen Volkes wie ein Außenseiter.“ Sein Gesicht blieb starr. Regungslos lauschte Ryouichi den Ausführungen als hätten die Worte keinerlei Berührungspunkte mit seinem Leben. Es fiel Minoru ungeahnt schwer, dem leeren Blick seiner gelben Augen Stand zu halten. Es brauchte keine Maske, um diesen Inu undurchschaubar zu machen. Wenn er wollte, war er unlesbar. Emotionslos. Wie Tod. Es war der eine Moment, in dem Minoru begriff, dass er diesen Mann nicht kannte. Dass er für niemanden greifbar war. Ein Verbündeter mit Sicherheit, der ihn durch die Launen seines Vaters wie auch durch heikle Fragen manövrierte, der seiner Tochter mit Herzlichkeit begegnete, Han'yō bewirtete und mit Yūsei scherzte. Aber da war auch dieser Abgrund. Die Leere in seinen Augen, die Unbeständigkeit seiner Haltung, die morbiden Andeutungen, Myōgas Berichte von zerstörten Palastabschnitten... . Wenn beide Seiten dieser Münze einst noch viel ausgeprägter gewesen waren und er nun das auf Messers Schneide tanzende Zusammenspiel erlebte, ahnte Minoru, weshalb niemand offen über diese Angelegenheit sprechen wollte. Es war zu grausam, ihn nicht fassen zu können. Nicht zu wissen, war hiervon die wahre Maske und wie zerstört er wirklich war. Schließlich glomm ein Funke in seinem Blick als habe jemand ein winziges Feuer in all dem Gelb entfacht. Er hätte gleichsam lachen oder einem Wutausbruch anheim fallen können, wie eine Viper, die zwischen Züngeln und Beißen wankte. Als er sprach, war seine Stimme jedoch gefasst und wieder so vertraulich, wie Minoru es von ihm gewohnt war: „Ich hatte keine vielversprechende Zukunft auf Sado. Die Herrschaft war niemals für mich vorgesehen. Ich war ein Außenseiter, bevor ich die Insel verließ und bin es heute mehr denn je. Macht ist nicht immer ein Segen, Minoru. Für manche ist sie ein Fluch.“ „Ihr meint eine Bürde.“ „Nein. Einen Fluch.“ Er löste sich gänzlich von der Erle und griff in den Aufschlag seines Kimonos. Die Maske, die er hervorbrachte, war so dunkelgrün wie die Abzeichen, die sich wie schmale Narben von seinen Augenlidern bis zur Hälfte seiner Wangen zogen. Den Verlauf dieser Dämonenmale immitierte die Maske mit einem Einsatz aus ebenso schmal gefertigtem Obsidiangestein. Ryouichi drehte das Kulturgut in der Hand und überreichte es Minoru. Sie war dünn gefertigt und die dem Gesicht zugewandte Seite von dem mitternachtsschwarzem Vulkangestein ausgekleidet, das ebenso wie die aus ihm geschmiedeten Waffen alles Licht verschluckte. Dies war kein belangloser Gegenstand, den man wechselte wie Tabi. Es war ein auf die Person individuell angepasstes Kunstwerk, in dem nicht nur viel Handarbeit und Mühe sondern auch unbezahlbare Materialien steckten. „Der inoffizielle Nutzen dieser Masken, der, über den niemand sprechen will“, Ryouichi nahm sie wieder an sich und legte sie über das Gesicht. Sie schmiegte sich seinen scharfen Gesichtszügen eng an und hielt ohne jede Sicherung wie eine zweite Haut, allein durch seine Aura. „Sie verbergen die Augen.“ In der Tat schluckte die Obsidianauskleidung jeglichen Lichteinfall und erstickte das schwefelgelbe Lodern, das sich sonst umgehend aufdrängte. Verständnislos blinzelte Minoru und Ryouichi nahm das Kunstwerk wieder vom Gesicht, um es nachdenklich in den Händen zu drehen. „Die Inugami, die unter Akaya die Ketten der Menschen sprengten, dienten ursprünglich vier Menschenfamilien. Jede Familie hatte ihre eigene, grausame Methode, aus einem Straßenhund einen Rachegeist zu formen und die Inugami, die dadurch erschaffen wurden, zeichneten sich durch unterschiedliche Fähigkeiten aus. Kiro, mein Vorfahr, war die Krönung der hohen Ambitionen seiner Schöpfer. Ein Wesen, dessen bloße Existenz Angst verbreitete. Mächtig, brutal und von den wenigsten Beschwörern zu bändigen. Akaya setzte sich über die Einwände der übrigen Inugami hinweg und befreite ihn. Mein Vorfahr muss Eíndruck hinterlassen haben. Nachdem sie die menschliche Zivilisation ihrer Zeit in den Staub geworfen hatten, bat Kiro, mit seinen Anhängern nach Sado übersiedeln zu dürfen. Mehrere Kilometer Wasser zwischen ihn und andere zu bringen fand auch bei Akaya regen Anklang – und der hat sonst nie jemanden aus seinen Diensten entlassen.“ Er betrachtete die Maske eindringlich. „Kiros Unberechenbarkeit lag in seinem Wesen, aber auch in dem absoluten Kontrollverlust, sobald er seine menschliche Erscheinung verließ. Jeder Dämon fürchtet den Moment, wenn Yōki den Verstand unterwirft. Nicht einmal mit einem Han'yō würde ich mich dann anlegen wollen, geschweige denn mit einem Daiyōkai. Kontrollverlust und Daiyōkai gehen in meiner Familie Hand in Hand. Es kommt nur im Zusammenspiel und den Daiyōkai kann man mir nun einmal an den Augen ablesen.“ Er lächelte schmerzlich. „Meine Mutter und Schwester wussten es, aber hätten andere herausgefunden, was ich war, hätte ich mit viel Glück als unbewaffneter Dienstbursche leben dürfen. In der Regel wirft man Kinder wie mich ins Meer.“ Minoru wurde eiskalt. Die Angst, die am Nachmittag durch Ryouichi gefahren war, hatte nicht etwa mit ihm zu tun gehabt. Sie war seiner ureigenen Furcht vor sich selbst entsprungen. Eine Angst, die sein Volk dazu brachte, Kinder zu ermorden. Ihre eigenen Daiyōkai zu ertränken. „Das Gesicht zu verdecken, wenn man eine solche Gefahr ausmerzen will, ist Unsinn. Es wäre einfacher, die Kinder ausfindig zu machen, wenn es keine Masken gäbe“, sinnierte Ryouichi und klang dabei, als hadere er mit sich, ob die effektivere Lösung die angenehmere wäre. „Die Masken wurden für den Kampf entworfen, haben sich aber im Privaten durchgesetzt. So ist das mit Kultur manchmal. Bei der Partnerwahl oder vor Antritt eines Führungspostens müssen sie jedoch abgelegt werden. Sie hätten gesehen, was ich bin. Mein Vater muss es geahnt haben. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Aber er hat dafür gesorgt, dass ich an den westlichen Hof gebracht werde. In eine Festung mit mindestens drei Daiyōkai, die mich im Zweifelsfall zurückhalten könnten. Oder töten.“ „Ich hätte das heute Nachmittag nicht sagen dürfen.“ Die Worte waren aus Minoru hervorgeplatzt, ehe er genauer darüber nachgedacht hatte. Ryouichi hatte ihm bereits gezeigt, was er davon hielt, von einer ausgesprochenen Härte wieder Abstand zu nehmen und selbstverständlich hatte er mit dieser Lektion recht. Doch dieses Mal ging er nicht so vehement gegen ihn vor und schüttelte lediglich den Kopf: „Dein Mitleid macht es wirklich nicht besser, Junge. In dem Moment, als du mir so barsch mit deinem Kontrollverlust gedroht hast, wusste ich, dass du nicht wissen konntest, was ich bin.“ Er bemerkte Minorus verdutzten Blick und lächelte abermals. „Emotionale Schwachstellen auszunutzen passt nicht zu dir. Schon gar nicht, wenn du mir im selben Atemzug vorwirfst, genau das getan zu haben. Du hast bislang immer nur deine eigenen Grenzen aufgestellt. Meine übertreten würdest du deswegen nicht.“ „Wollt Ihr sagen, ich sei zögerlich? „Nein. Du lässt anderen nur den Freiraum, den du auch gern hättest. Das ist nicht zögerlich, es ist empathisch. Ebenso wie das Retten fremder Han'yō oder die Tatsache, dass du Lehrstellen an verkrüppelte Jungen vermittelst oder zurückschreckst, sobald eine Drohung Wirkung zeigt. Es ist nur eine Schwäche, wenn du zulässt, dass andere es ausnutzen.“ Minoru verschränkte die Arme vor der Brust und kaute auf der Innenseite seiner Wange herum: „Schwer vorstellbar, dass diese Annahme beim Fürsten auf Wohlklang trifft.“ Zu seinem Erstaunen setzte sich ein mildes Lächeln in den Mundwinkel seines Gegenübers. Sie beide wussten, dass er kaum Luftsprünge machen würde. „Interessant, dass du zu allererst befürchtest, es könne das Weltbild deines Vaters erschüttern. Was ist mit deinem?“ „Nun, meines wird kaum das des Westens widerspiegeln. Ich hatte gerade erst eine ausgiebige Diskussion über mein Machtverständnis und die Bedeutung von Ambitionen und bin froh, meinen Kopf noch auf den Schultern zu wissen. Ich brauche nicht allzu schnell eine Wiederholung.“ Ryouichi hob erstaunt die Brauen empor. „Wer-?“ Ehe er die Frage vollenden konnte, hatte Minoru seine Halskette unter dem Kragen hervorgezogen. Die schwarze Perle hatte sich mit Leichtigkeit in die Rundung des halbmondförmigen Anhängers hineindrücken lassen, den er zu Neujahr von den Higurashis geschenkt bekommen hatte. Seicht glomm das Schwarz des Schmuckstücks im Mondlicht und ließ dem Generalleutnant die Luft anhalten. Es schien nur fair, die Karten auf den Tisch zu legen, nachdem auch Ryouichi gerade so bereitwillig Rede und Antwort gestanden hatte. Als Nebeneffekt kam er vielleicht darum herum, seinem Vater zu erläutern, warum der Brunnen nun doch den Dienst wieder aufgenommen hatte. Das Letzte, was er wollte, war mit dem Fürsten über dessen Vater zu sprechen – und mit Glück trug nun einfach Ryouichi diese Information an ihn heran. „An Obon stand er plötzlich vor mir. Ich hätte niemals gewagt, einen meiner Vorfahren um Beistand anzurufen, aber er hat es offensichtlich darauf angelegt. Hat mich ins Kreuzverhör genommen und mich zur Perle geführt. Ohne sie säße ich sicher immer noch in der anderen Epoche fest.“ Ryouichi starrte in die Tiefen der Perlen, als versuche er zu ergründen, was in den schwarzen Abgründen verborgen lag. Wenn Minoru seinen Großvater richtig verstanden hatte, war es der ehemalige Eingang einer Grabstätte, welcher seine Funktion längst eingestellt hatte. Dann wandte der Generalleutnant jegliche Aufmerksamkeit seinem Schüler zu: „Tōga-sama, Inu no Taishō und Herr des Westens, hat dich eigenhändig aufgesucht, um dir seine Grabstätte zu übergeben und sich mit dir zu unterhalten? Und ich soll dir glauben, dass du das in einem Stück überlebt hast?“ Es war ein Test. Kein besonders guter, aber effektiv, wenn man wusste, wie weit die Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des ehemaligen Fürsten und dessen tatsächlichen Auftreten klaffte. „Er war äußerst amüsiert über meine Ansichten und ich fürchte, er hat es irgendwie genossen, dass sie nicht unbedingt mit denen meines Vaters übereinstimmen. Recht gehässig von ihm, wenn ich genau überlege...“ Minoru ließ die Kette wieder unter seiner Kleidung verschwinden und strich die weiße Spinnenseide glatt. Als er wieder aufsah, war der Blick seines Gegenübers unverwandt auf die Stelle gerichtet, an der der Anhänger auf seiner Brust ruhte. War er zuvor ein bereitwilliger Gesprächspartner gewesen, änderte sich seine Haltung nun schlagartig. Seine Augen wurden klarer, während er Minoru immer wieder mit prüfendem Blick musterte, als lausche er einem wichtigen Vortrag, den nur er hören konnte. Schließlich strich er nachdenklich mit der Hand über sein Kinn und verlagerte das Gewicht. „Ich frage mich, ob-“ Er hielt inne. In der Senke setzten Trommeln ein. Wie die Wellen eines unsichbaren Meeres schlug das Dröhnen durch den Wald und hallte in Minorus Brust wieder wie ein zweites, ungezähmtes Herz. Einige Krieger umkreisten sich mit gezogenen Speeren, in der Menge wurde es unruhig. Knurren mischte sich unter die Trommelklang, Pfiffe peitschten über die Kontrahenten und einstweilen ein helles, forderndes Bellen, das scheußlich in den Ohren kratzte. Minoru zuckte zurück, als sich die Aura des Generalleutnants neben ihm spürbar zusammenzog. Eine dunkle Kugel zentrierter Energie fegte in die Senke hinab, wo seine Gestalt am äußeren Rand der Menge erneut Form annahm und sich einen Weg durch die Feiernden bahnte. Minoru erhaschte einen kurzen Blick auf Kanae, die sich hinter dem violett maskierten Sadoaner in Sicherheit duckte, als unmittelbar vor ihr zwei Krieger aufeinander losgingen. Die Angst ins Gesicht geschrieben, verschwand sie in einem Gewirr aus Waffen, Zähnen und Klauen. Im nächsten Moment fegte eine Druckwelle über den Boden und ließ die Steine im Kiesbett glühen. Die Sadoaner wichen vor Ryouichi zurück, der einem Mann soeben den Arm bis auf die Knochen aufgerissen hatte. Seine Klauen waren blutüberzogen, als er den Soldaten am Kragen packte und mit einer Wucht auf den Boden warf, die dem hässlichen Knacken nach mindesten zwei Rippen gekostet hatte. Kanae schrie entsetzt auf, als der Sadoaner neben ihr im Kies landete, wurde jedoch von ihrem Wächter bestimmt aus dem Chaos herausgedrängt, während Ryouichi mit loderndem Blick herumfuhr. „Ich sagte keine Trommeln!“, seine Stimme donnerte durch die Senke wie ein Sommergewitter. „Keine Kämpfe!“ Irgendjemand war dumm genug, ihm zu widersprechen. Die Worte, vermischt mit Knurren und dem seltsamen Dialekt der Insel, verstand Minoru nicht, doch sein Aufschrei, als Ryouichi einen Speer aus der Menge griff und ihn ohne zu zögern in dessen Oberschenkel schleuderte, war international verständlich. „Wag' es ja nicht, mich über meine eigene Kultur belehren zu wollen, du elendes Stück Hundefleisch! Das hier ist nicht Sado! Das ist mein Lager, meine Regeln! Wenn noch jemand das dringende Bedürfnis verspürt, sich auf die Schlacht einzustimmen: Ich warte!“ Er ließ den Blick durch die Menge schweifen. Ohne Maske. Sie wichen vor ihm zurück. Wenn sie um die Bedeutung seiner vor Wut funkelnden, gelben Augen wussten, war es unmöglich, dass in den vergangenen Jahren nicht deutlich geworden war, mit was sie es zu tun hatten. Ihm jedoch unmittelbar gegenüberzustehen, von ihm herausgefordert zu werden – sie nahmen die Hände demonstrativ von den Waffen und zogen sich zurück. Eine Verlagerung des Gewichtes, einige eingezogene Köpfe, Stille. Ryouichi schnaubte, richtete sich auf und überblickte den Platz herrisch. „Flickt sie zusammen. Wer bis zur Schlacht auch nur das kleinste Handgemenge provoziert, dem reiße ich sämtliche Eingeweide 'raus. Spart euch das für die Drachen auf.“ Kanae war von dem Inu hangaufwärts gedrängt worden, wo Ohatsu ihr soeben fremdes Blut sorgsam von der Wange strich und leise mit ihr sprach. Minoru hatte sich einen Weg um das Geschehen gebahnt und wäre etwa zeitgleich mit seinem Lehrer bei den dreien angekommen, verlangsamte seine Schritte jedoch, als er den Ausdruck auf Ryouichis Gesicht bemerkte, der Unheil verkündete. Der Generalleutnant griff an Ohatsu vorbei, zog seine Tochter schützend an sich und legte einen Arm um ihren schmalen Rücken. Sie sah hastig zu ihm auf. „Es ist alles in Ordnung. Es geht mir gut.“ Das entlockte ihm zwar ein warmes Brummen, milderte jedoch keineswegs seine Laune. „Wolltest du nicht auf sie aufpassen?“ Seine Schwester spannte sich umgehend an: „Es geht ihr gut! Was du allerdings mit der Motivation der Männer angestellt hast-“ Er schnitt ihr das Wort mit einem klickenden Laut ab und legte die Hände auf Kanaes Schultern, wie er es zuvor bei Minoru getan hatte. „Geh ins Bett, Liebes. Naoko wird bei dir bleiben.“ Der violett maskierte Soldat erwachte unter dem Blick des Generalleutnants aus seiner Trance und zuckte kurz zusammen. „Ja, Onkel. Natürlich.“ Minorus Verstand stolperte über die weiche, weibliche Stimme, die unter der Maske hervordrang, ehe er bemerkte, dass er sie unverwandt anstarrte. Das war kein Mann! Sie hatte kaum weibliche Rundungen, war schmal und drahtig wie ein Junge und nur unwesentlich kleiner als er, aber die Stimme, der Name, die schmaleren Schultern- der Inu, der ihn vergangene Nacht abgeführt hatte wie einen Verbrecher, war eine Frau! „Kōtaishi“, Ryouichis Tonfall glich einem aufziehenden Gewitter. „Darf ich Euch bitten, sie zu begleiten?“ Minoru hatte Kanae und Naoko wortlos bis zu einer der Holzpalisaden gebracht, in deren Windschatten ein Schlaflager aufgeschlagen worden war. Sobald sie die Sichtweite des Generalleutnants verlassen hatten, war ein gereizter Ausdruck auf Kanaes Züge getreten, die unnachgiebig angetrocknetes Blut von ihrem Handrücken gekratzt und die Zähne derart fest zusammengebissen hatte, dass ein Muskel in ihrer Wange hervorgetreten war. Als sie sich Minorus Anwesenheit in Erinnerung gerufen hatte, war ihre Haltung schlagartig in höfische Muster gefallen und niemand hätte mehr sagen mögen, was in ihr vorging. Einen Ablenkungsversuch, als sie ihm dafür danken wollte, Eiji zu Yūsei in die Lehre geschickt zu haben, hatte Minoru kalt abblitzen lassen. Wenn sie in seiner Gegenwart nicht bereit war, vom Protokoll abzuweichen, würde er sich und seine Absichten nicht als Zentrum der Aufmerksamkeit opfern. Danach hatte er sich in Ryouichis Zelt im Zentrum des Lagers zurückgezogen und brütete, Ichirou kraulend, über einigen Landkarten. Als der Generalleutnant zurückkehrte, war es weit nach Mitternacht. Er betrachtete das Geschehen im Raum kritisch und fuhr sich mit den Klauen durch das schwarze Haar, das er im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden hatte. Er sah aus, als habe ihn soeben erst die Erkenntnis getroffen, dass er sein Lager in dieser Nacht nicht für sich allein haben würde. „Ich kann draußen schlafen“, bot Minoru an ohne aufzusehen. Ryouichi antwortete nicht. Er ließ sich in einen Schneidersitz sinken und beobachtete Minoru aus einer Ecke des Zeltes heraus. Der ließ sich durch die Anwesenheit nicht stören und widmete sich erneut dem Verlauf der Front, bis Ryouichi nach einer Weile doch die Stille brach: „Warum hast du den Jungen zu Yūsei gebracht?“ „Jetzt weiß ich, woher die abrupten Themenwechsel Eurer Tochter stammen.“ „Die beiden Jungen waren ihre Freunde. Es ist nicht verwunderlich, dass sie dich darauf anspricht.“ „Das meinte ich nicht.“ Der Akita streckte sich ausgiebig und rollte im Schlaf brummend auf die andere Seite. Minoru nahm die Hand aus seinem dichten Fell und rollte eine weitere Karte auseinander. „Mich wundert, dass Ihr mir nicht den Kopf abreist, weil ich impliziere, mit ihr gesprochen zu haben.“ „Es steht mir nicht an, dir zu verbieten, mit irgendjemandem zu sprechen“, erwiderte Ryouichi mit dunkler Stimme. „Dennoch lasst Ihr mich seit meiner Ankunft nicht aus den Augen und habt heute Nachmittag unmissverständlich gemacht, was Ihr von meiner Anwesenheit in der Nähe Eurer Tochter haltet.“ „Du warst halb nackt“, knurrte er. „Ein Fürstensohn, von Hals bis Taille unbekleidet, ist das letzte, was ein Mädchen sehen sollte. Sie ist jung – und du der fatalste Tagtraum, den sie haben könnte.“ Minoru ließ die Karte in seiner Hand sinken und musste ernstlich überlegen, ob er ihm für die Aussage nun dankbar sein oder das Tuschefass nach ihm werfen sollte. „Bin ich Euch etwa nicht gut genug?“ „Du bist gefährlich“, antwortete er ohne Umschweife. „Du bist mächtig, einflussreich. Dein Titel würde reichen, aber zu allem Überfluss bist du auch noch gutaussehend. Wenn die Öffentlichkeit das begriffen hat, werden die hohen Häuser sich darum reißen, dir eine ihrer Töchter ans Bein zu binden. Inu, Kitsune und andere gleichermaßen. Ich habe es bei deinem Vater erlebt und mit dir wird es sicher nicht anders, wenn nicht sogar noch schlimmer.“ „Wieso sollte es?“ „Weil du als Spross der beiden größten Familien dieses Volkes beide unmittelbar unter dir vereinen könntest. Shiro und Echizen. Weil bei Sesshōmaru schon lange vor den ersten Offerten weithin bekannt war, dass er kein Interesse an einer Verbindung hatte. Dass er keine politischen sondern rein expandierende Ziele verfolgte, die er nicht über Heirat sondern allein durch das Schwert erreichen wollte. Weil du nahbarer bist als dein Vater.“ Er machte eine Pause, sicher um Minoru die Möglichkeit zu geben, die letzte Aussage zu verwinden, dann fuhr er fort. „Kanae würde eine Verbindung mit dir nicht überleben. Ich weiß, sie ist gewandter und stärker als ich es wahrhaben will, aber zwischen den Ambitionen der hohen Töchter anderer Familien würde sie in Stücke gerissen wie Pergament in einem Orkan. Ich habe sie in militärischen Grundlagen unterrichtet – aber der Krieg, der um dich geführt werden wird, kennt diese Form von Waffen nicht.“ Minoru musste nicht viel darüber nachdenken, was der Generalleutnant damit wohl meinen mochte. Die Erinnerung an seine Mutter kratze mit samtenen Klauen an seinem Geist. Sie war wie geschaffen für diese Art von Krieg. War Chizuru als Fürstinmutter längst über jeden Zweifel erhaben und unantastbar, hatte seine Mutter stets den Eindruck vermittelt, jedes Hindernis auf ihre eigene, intrigante Weise aus dem Weg zu räumen. Es gab gewisse Parallelen zwischen den beiden Frauen, doch wo Chizuru mit einem schmalen Lächeln aufgrund ihrer sturmerprobten Stellung Widerstände niederriss, hätte die Unsicherheit seiner Mutter mit Sicherheit Leben gefordert. Sein Mund wurde trocken. „Ich verstehe.“ „Mach ihr keine Hoffnung.“ „Ich bin nicht an ihr interessiert. Auch an sonst niemandem. Es war Eure Ablehnung, die mich gestört hat.“ Auch er zog die Beine in einen Schneidersitz und musterte den Generalleutnant, der seinen Blick erwiderte, als ob es nun an ihm wäre, abzuwägen, ob dieses Desinteresse nun wiederum Kanae beleidigte. Minoru tat ihm den Gefallen und lenkte ein: „Sie ist ausgesprochen hübsch und mit Euch als Vater sicher nicht wehrlos. Fleißig. Ich weiß, dass sie Rin mit den Heilkräutern hilft und im Palast arbeitet. Eines Tages wird sie einen guten Mann finden, der Euren Vorstellungen entspricht und sie in eine weniger bedrohliche Lage bringt. Auch wenn es der Allgemeinheit sicher einen Stich versetzen wird, dass ich nicht ausgerechnet mit der Tochter der rechten Hand meines Vater ausgehe.“ „Sie ist nicht mein leibliches Kind, sondern die Tochter eines Mannes, der fiel, als sie kaum laufen konnte. Für sie bin ich ihr Vater, aber sie teilt keineswegs meine problematische... Veranlagung. Der Rat würde es dennoch weder gutheißen, wenn du dich mit der Tochter eines einfachen Soldaten abgäbest, noch mit einem Mädchen, das ausgerechnet von mir aufgezogen worden ist.“ „Der Rat kann mich mal“, entgegnete er unwirsch und legte die Karte endgültig auf den Tisch. „Sie können mich entweder fürchten oder mir Vorschriften machen. Beides geht nicht.“ „Das klingt absolutistischer als ich es von dir erwartet hatte.“ Ryouichi schmunzelte amüsiert. „Ich weiß nicht, zu was ich in einigen Jahren in der Lage sein werde. Wer ich bin, wenn mein Vater stirbt und ich die Herrschaft über den Westen beanspruchen muss. Aber was auch immer geschieht: Benutzen lasse ich mich nicht. Ich werde nicht nach außen den Fürsten spielen, um Entscheidungen zu legitimieren, die nicht meine sind, weil ein Rat mich meiner Herkunft wegen als Marionette eingesetzt hat. Entweder ich bin in der Lage, sie zu kontrollieren oder ich bin es nicht – dann bin ich aber auch nicht der Fürst des Westens.“ Wieder Stille. Das Lächeln war auf den Lippen des Generalleutnants abgestorben noch ehe es seine Augen erreicht hatte. Er betrachtete Minoru wie schon in der Senke nachdenklich und lehnte sich schließlich kaum merklich vor. „Du verstehst dich doch mit Tōtōsai, nicht wahr?“ Kapitel 54: Dass die Zeit ------------------------- „Du verstehst dich doch mit Tōtōsai, nicht wahr?“ „Warum klingt das so nach einer Falle, wenn Ihr es sagt?“ Unwohl versuchte Minoru zu ergründen, warum die Sprache nun ausgerechnet auf den greisen Schmied kam, konnte sich jedoch beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Ryouichi blieb ernst. „Er hat dir Kleidung gegeben.“ „Er hatte sicher ausreichend selbstsüchtige Gründe, das zu tun“, entgegnete Minoru glatt. „Aber kommt zum Punkt.“ „Ich denke, ich habe eine Aufgabe für dich. Der Schmied hat einige unbedeutende Gründe angeführt, dem Fürsten nicht gänzlich wohlgesonnen zu sein.“ „Ich nehme an, der Alte lässt sich nicht allzu gern bedrohen.“ Ein schmales Lächeln huschte über Ryouichis Gesicht. „Wir wissen beide, wie überzeugend dein Vater sein kann.“ „Und Ihr meint, ich könnte einen anderen Eindruck vermitteln – um was zu tun?“ „Um Tenseiga von ihm begutachten zu lassen.“ „Er verweigert es, die Waffe, die uns den Hals retten könnte, zu reparieren? Seine eigene Handarbeit?“ „Nun...“, Ryouichi stockte kurz. „Ja.“ Ungläubig hob Minoru eine Braue und musterte den Generalleutnant. Er hatte ihn für einen recht passablen Lügner gehalten. Diese Darbietung war jedoch bestenfalls mittelmäßig. Ebenso gut hätte man behaupten können, Yūsei kümmere sich nicht um den Verbleib seiner edelsten Stoffe, obwohl er Ryouichi bis heute Seitenhiebe für die vernichteten Gewänder versetzte. Dass er sich keine Mühe mit seiner faden Geschichte gab, war entweder dem geschuldet, dass Ryouichi ihn für selten dämlich hielt oder er schlicht annahm, dass Minoru seiner Anweisung trotz aller Widersprüche nachkommen würde. Womit er Unrecht hatte. Doch wenn das ein billiger Versuch werden sollte, ihn aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten, würde der Chūyō es bereuen. Bisweilen war Minoru aber gewillt, bei diesem Unfug mitzuspielen. „Nun. Dann werde ich wohl gehen.“ Verblüfft sah ihn sein Gegenüber an, während Minoru scheinbar gelangweilt eine Kerbe im Holz des Tisches mit seiner Kralle nachfuhr. „Ich erspare Euch die Frage, was an dieser Geschichte eher gelogen ist – dass er sich weigert, die Waffe Instand zu setzen oder dass er sie nie angesehen hat, nachdem sie geborsten war. Es würde wohl zu nichts führen und wenn Ihr mich schickt, werdet Ihr wohl einen Grund haben. Solltet Ihr allerdings nur darauf abzielen mich von meinem Vater und der Front fernzuhalten, finde ich einen Weg, es Euch zu vergelten.“ „Das wird nicht nötig sein. Du wolltest eine sinnvolle Aufgabe und ich gebe dir eine. Ich würde mir nicht anmaßen, dich derart hinters Licht zu führen. Wenn das Resultat wäre, dass du deinem engsten Beraterstab nicht mehr vertraust, würde ich wohl kaum etwas mit deinem kurzzeitigen Schutz gewinnen.“ Er hatte die wohlwollende Stimme einer Katze und den durchdringenden Blick einer Natter. „Wobei ich dir wiederum nicht abkaufe, dass du tatsächlich in den Kampf ziehen willst. Du warst immer zum Angriff bereit, wenn es erforderlich war, aber dass du aktiv einer Schlacht entgegenfieberst, wäre mir neu.“ „Ihr müsst mich missverstanden haben. Es ist kein Fiebern sondern Notwendigkeit. Sagt mir einen Moment, in dem das Bestreben aller nötiger gewesen ist als jetzt. Ich kann nicht untätig erscheinen. Das habe ich bereits erläutert.“ Ryouichi erhob sich und zog eines seiner Schwerter samt Scheide aus dem Obi hervor. Mit zusammengezogenen Brauen nahm Minoru die ihm dargebotene Waffe entgegen und ließ die Handfläche über das Hüllmaterial fahren. Die Scheide war wie üblich aus Magnolienholz gefertigt und mit grünlich-schwarzem Lack überzogen, der an vielen Stellen kleinere Kratzer und Scharten aufwies. Es war keine Zierscheide, die man zur Aufbewahrung der Waffen nutzte, sondern eine zweckdienliche für den Alltagsgebrauch. Geschickt zog Minoru das Katana ein Stück weit hervor und ließ seinen Blick über die zerklüftete Oberfläche der Klinge wandern. Die Kratzer, die er schon vor langer Zeit in den Räumlichkeiten seines Vaters bemerkt hatte, waren noch tiefer in den Stahl getrieben und verliehen der Waffe das Aussehen eines gesplitterten Spiegels, in dem er sich unzählige Male selbst entgegenblickte. Seine Finger fuhren über die Schneide, die trotz der vielen Schäden im Kerzenschein scharf schimmerte. Erst behutsam, dann mit Nachdruck, glaubte er ein fades Sirren an den Fingerkuppen zu spüren. Eine Wunde hinterließ die Waffe jedoch nicht. „Ihr habt es...“, er sah zu Ryouichi auf. „Warum?“ „Dein Vater hat es mir überlassen. Er sieht keinen Gewinn darin, unnützen Ballast zu tragen.“ Er hatte ihm die Waffe nicht nur überlassen – sie hatten die Schwertscheiden getauscht. Damit niemandem auffiel, dass der Westen seine wichtigste Waffe in diesem Krieg verloren hatte. Unnützen Ballast ablegen oder den Feind mit einem anderen Schwert täuschen waren zweierlei Dinge. Sie brauchten Tenseiga. Und auch wenn das immer noch nicht erklärte, warum der Schmied sich so dagegen stemmte, dieses Schwert herzurichten, war es wenigstens einen Versuch wert, ihn dazu zu bewegen. Minoru war mit einem Satz auf den Beinen. „Wenn Ihr erlaubt, breche ich gleich auf.“ Ryouichi erhob sich deutlich langsamer und streckte die Hand erneut nach der Waffe aus. Widerwillig gab Minoru sie ihm zurück und befürchtete schon, dass er ihn auf unabsehbare Zeit noch im Lager behalten wollte, als Ryouichi näher an ihn herantrat und ihm die Waffe in den Obi schob. Starr sah Minoru ihm in die Augen, die ihn aufmerksam taxierten und bei seinem Anblick dieses Mal von einem zaghaften Lächeln erfasst wurden. „Achte gut auf Tenseiga und fürchte dich nicht vor ihm. Sō'unga, Tōkijin, Bakusaiga – Schwerter können dich vernichten, wenn du es zulässt. Tenseiga ist anders. Es wird nicht versuchen, dich zu unterwerfen. Aber sei vorsichtig: Unsere Feinde wissen, was es kann und sie werden seinen Träger nicht leben lassen. Wenn du bei Tōtōsai Erfolg hast, sehen wir uns an der Front. Bring die Waffe zu deinem Vater und bleib dicht bei ihm. Wenn nicht, geh nach Echizen und bring Osamu dazu, auch die verbleibenden Truppen zu entsenden.“ Er sah an Minoru vorbei zu Ichirou, der sich allmählich auf die Beine hievte und verschlafen zu den beiden aufsah. „Oh. Und lass den da hier. Ich schicke ihn mit dem Tross nach Echizen. Kanae kann sich um ihn kümmern. Ein Vulkan ist kaum ein geeigneter Ort für einen Hund und du willst ihn sicher nicht auf dem Schlachtfeld haben.“ „Ja“, stimmte Minoru zu, ehe der Akita Protest anmelden konnte. „Ich wäre dankbar, wenn sie das tun könnte.“ „Gut. Ich packe dir noch einige Dinge ein, die du besser mitnehmen solltest. Geh doch schon mal hinaus. A-Un wartet.“ „A-Un?“, Minoru zog die Brauen zusammen. „Wann habt Ihr-?“ „Ich habe ihn kommen lassen, bevor ich meiner Schwester dargelegt habe, was ich davon halte, meine Kleine in Gefahr zu bringen, nur weil sie nicht begreifen will, dass man nicht jede zerbrochene Vase kitten kann.“ Versöhnlich schlug er Minoru auf die Schulter. „Ich wusste, du würdest umgehend aufbrechen wollen.“ Minoru starrte dem Generalleutnant fassungslos nach, während der scheinheilig in einer Zeltecke nach einem Beutel kramte. Hatte er eben nicht noch behauptet, dass er sich nicht benutzen lassen wolle? Das funktionierte ja wirklich hervorragend. A-Un glitt geräuschlos über die Berghänge, während unter ihnen die Wälder einem grünen Meer gleich dahinflossen. Zugegeben, diese Reisemöglichkeit war schnell und sicher, aber Minoru kam dennoch nicht umhin, den Sattel zu umklammern. Wer hier oben die Aussicht genießen konnte, war wahrlich mit einem starken Magen gesegnet. Die Satteltaschen, die Ryouichi beladen hatten, hingen unangetastet neben ihm und gaben gelegentlich ein metallisches Klirren von sich. Obsidian. Kleinere Klingen und Rohgestein. Welcher Teil der Geschichte um Tenseigas bestehend schlechten Zustand auch immer die Lüge sein mochte – an der mangelnden Kooperationsbereitschaft des Schmieds war offensichtlich ein Funken Wahrheit. Man bezahlte für gewöhnlich nicht für die Dienste eines Handwerksmeisters. Zumindest nicht auf einer so menschlichen Ebene wie dem Güteraustausch. Ein Schmied, Schneider oder auch andere Professionen, die nicht im unmittelbaren Dienst des jeweiligen Fürsten standen wie Yūsei es tat, stellten Bedingungen und Forderungen an ihr Gegenüber. Verbindlichkeiten, die man eingehen musste, wenn man etwas verlangte und die teils weit über die Beschaffung der Arbeitsmaterialien hinausgingen. Es war ein gefährlicher Handel, der einem schnell den Hals kosten konnte, wenn der Großmeister es nicht gut mit einem meinte. Immerhin führten diese gerissenen Dämonen mehr Verhandlungen als sie letztlich wirklich Handwerksstücke produzierten und das lag unter anderem daran, dass sie nur zu genau wussten, in welche finstere Grube sie ihre unliebsamen Kunden entsenden mussten, damit die auch ja nie wieder herauskrochen, um ihre neue Waffe einzufordern. Ob die Verhandlungen bezüglich Tenseiga schon begonnen hatten und Verbindlichkeiten bestanden, darauf war Ryouichi nicht eingegangen. Er hatte jedoch unmissverständlich klargemacht, dass das Obsidian für den Schmied bestimmt war und eine Aufmerksamkeit seinerseits darstellte, sofern der das Schwert nach bestem Gewissen reparierte – und nur dann. Das war kein Handel im engeren Sinne, sondern... Bestechung? Seit einer guten Stunde hatten sie die Waldgrenze hinter sich gelassen. Die Sonne drehte gerade vollends nach Süden, als auch die Erde unter ihnen begann die dunklen Schuppen des Longmas angenehm aufzuwärmen. Mit etwas Überwindung ließ Minoru die Hand über einen der Hälse gleiten und erntete dafür ein zufriedenes Schnauben beider Köpfe. Als das drachenähnliche Wesen dann auch noch wohlig schauderte, fand die Hand schnell den Weg zurück an den Sattel. Die Vulkanlandschaft des Ōu-Gebirges war in heißen Mittagsstunden noch beeindruckender als bei seinem letzten Besuch. Eine dicke Ascheschicht überzog den rissigen Boden, aus dem der Druck in zischenden Rauchschwaden entwich und Schwefelgeruch in die Luft schleuderte. Es war unwirtliches, weitläufiges Ödland, in dem sich bis auf gelegentliche Magmaströme nichts bewegte. Der Longma fand den Weg von allein und landete schließlich vor einem in den Berg ragenden Dämonenskelett, in dem der Schmied sein Lager eingerichtet hatte. Minoru glitt aus dem Sattel und lehnte sich umgehend an A-Uns Rücken. Der Boden unter ihm waberte wie eine dieser knartschbunten Luftburgen, die die Higurashis zu Kindergeburtstagen aufbauen ließen. A-Un drehte die Köpfe herum und schnaubte ihm amüsiert die Haare aus dem Gesicht, wobei der Großteil des Luftstoßes in seinem Zaumzeug verpuffte. „Sehr witzig“, beklagte sich Minoru halbherzig, klopfte ihm dann aber doch an die Schulter und richtete sich auf. Nicht einmal fünf Jahren waren seit seinem letzten Besuch vergangen und doch fühlte es sich an, als habe sich all das in einem anderen Leben ereignet. Der zahnbewehrte Skeletteingang, ja selbst das davor liegende dreiäugige Rind wirkte kleiner als er sie in Erinnerung hatte. Dem Yōkai hing ein Büschel verkohltes Gras aus dem offen stehenden Maul, während er Minoru und A-Un ansah als habe ihn soeben der Blitz getroffen. Im Innenraum der Behausung herrschte Dunkelheit. Das zentral gelegene Feuer war erloschen, stieß aber noch fauchend Rauch aus, wo Wasser eben erst auf Kohle getroffen war. Einzig die Esse brannte hinter einer Steinplatte und schickte spärliches Licht durch die Zuluftschlitze. Der eigentümliche Geruch nach kalter Asche hatte sich ausgebreitet und übertünchte alles. „Tōtōsai-sama?“ Minoru trat näher an das Feuer, ehe ihn ein verächtliches Schnauben innehalten ließ. „Deinen höfischen Scheiß kannst du dir sparen. Er verschwindet, sobald Kundschaft aufkreuzt.“ Minoru stockte. Die sich ausbreitende Aura war der seines Großvaters so ähnlich, dass es ihm ein Schaudern durch den Körper jagte. Viel schwächer, ja, aber im Kern gleich. Erst im nächsten Moment mischte sich etwas unter diese Ausstrahlung, das man wertneutral als 'unsauber' bezeichnet hätte. Mensch. „Kaito...“ „Drei Tage habe ich auf den alten Sack gewartet. Drei Tage! Und nun kommst du und verjagst ihn wieder. Konntest du nicht wann anders von den Toten auferstehen?“ Mit einer nachdrücklichen Handbewegung strich Kaito das Wasser aus seinem schwarzen Haar. Er war also zurück. Im ersten Moment hatte er dem Wind nicht glauben wollen. Bei all dem Schwefel auf diesem gottverlassenen Vulkan konnte man selbst dem Geruchssinn nur bedingt trauen. Der Schmied verfügte jedoch über einen sechsten Sinn, wenn es darum ging, Kundschaft aus dem Weg zu gehen. Für die Geschwindigkeit, mit der sich der Alte aus dem Staub gemacht hatte, mochte man ihm applaudieren. Senil war er dennoch: Kaito in der Hektik halb mit dem Wassereimer zu übergießen, obwohl seine Laune nach drei Tagen des Wartens ohnehin schon auf dem Tiefpunkt war, war sicherlich kein empfehlenswerter Schachzug für einen greisen Yōkai, der an seinem Leben hing. Anders herum hatte Tōtōsais Panikreaktion ihn beruhigt: Hätte seine Nase ihn in die Irre geführt, hätte er sich vermutlich Sorgen machen sollen, warum er ausgerechnet Minorus Geruch phantasierte. Der Inu sah unerwartet unversehrt aus. Erwachsen. Von dem hageren Jungen, der hinter seinem Alter mehrere Jahre zurückstand, war nichts mehr zu erkennen. Wenn er in Gefangenschaft gewesen war, dann wohl in der luxuriösesten, die man sich ausmalen konnte. Im Vergleich zu dieser makellos weißen Spinnenseide und den neuen Rüstungsstücken wirkte Kaito wie ein ramponierter Landstreicher. Der Dō aus schwarzem Leder, den sein Vetter mit einem dunkelroten Obi um seinen Oberkörper gezurrt hatte, roch noch nach Gerberölen und auch der Schutz an seiner rechten Schulter hatte nicht einen einzigen Kampf gesehen. Kaito tat einen Schluck aus seinem ledernen Trinkbeutel und bewegte den Rest der Flüssigkeit abwägend über die Zunge. Minoru hätte jede Möglichkeit gehabt, in diesem Aufzug arrogant und herrschaftlich zu wirken – wenn er nur nicht dreingeschaut hätte wie ein zu lange geprügelter Welpe. Nur zu gern hätte Kaito ihn für diese Nacht vor vier Jahren das Spatzenhirn aus seinem Schädel geschüttelt oder sein unverschämt sauberes Auftreten mitten im Krieg ein wenig der Situation angepasst, doch nicht einmal das gönnte dieser dämliche Köter ihm! Bei der winselnden Visage mochte man nicht einmal dosiert nachtreten. „Meine Fresse, starr mich nicht an wie eine verdammte Erscheinung. Was willst du?“ „Es ist eine Erleichterung, dich zu sehen.“ Kaito verschluckte sich an seinem eigenen Speichel. Würgend und hustend schmeckte er bereits seine letzte Mahlzeit ein zweites Mal in seinem Hals, während er sich kraftvoll auf die Brust schlug, um wieder zu Atem zu kommen. Ein kehliges Röcheln, einige Atemzüge und einen verständnislosen Blick später sah er zu seinem Vetter auf. „Hab' ich was verpasst? Seit wann sind wir zwei Freunde?“ „Sind wir?“ Ein schiefes Lächeln setzte sich in Kaitos Mundwinkel fest. Allein der Gedanke! Minoru mochte bei ihrer ersten Begegnung nicht den Eindruck hinterlassen haben, den er von einem Dämon seiner Abstammung erwartet hatte. Doch je älter er wurde, desto augenfälliger war auch, was unter der Haut lauerte. Seine Aura, die früher aufgewühlt um ihn getanzt war wie ein prasselndes Feuer, hatte sich auf die abstrahlende Hitze glühender Kohlen konzentriert und wogte bei jedem Atemzug mit einem ruhigen Flackern. Er war weit davon entfernt, sie vollends zu kontrollieren, aber bereits jetzt an einem Punkt, der Kaito immer verwehrt bleiben würde. Freunde. Von wegen. Minoru nahm den Ausdruck in Kaitos Miene mit Widerwillen wahr. Er begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte. Einen dummen, emotionalen Fehler. Die Eindrücke ihres letzten Zusammentreffens hatten ihn geblendet. Kaitos Hilfsbereitschaft, die Unsicherheit über seinen Verbleib und die Schuldgefühle. Hinzu kamen Keikos Fragen über ihren Enkel, die Minoru möglichst neutral oder positiv beantwortet hatte. Er hatte sich verleiten lassen, die Verachtung zu vergessen, die Kaito ihm seit ihrer ersten Begegnung entgegengebracht hatte. Das Gefühl vergessen, mit jedem Wort und jeder Tat ein Urteil zu bestätigen, dass der Han'yō längst über alle und jeden gefällt hatte. Es war nicht unmöglich, dass auch ein winziger Teil seines Vetters gehofft hatte, Minoru möge die Freundschaft einfach bestätigen. Doch für derlei hatte er keinen Sinn. Wenn Kaito lieber an vorgefertigten Meinungen festhielt, würde Minoru sich sicherlich als letzter in den Staub werfen und um Wohlwollen bitten – was jedoch nicht hieß, dass er das hier nun eskalieren lassen musste. „Wir haben eine gemeinsame Historie prekärer Situationen“, sagte er schließlich und lehnte sich an eine besonders breite Rippe des Hauses. „Ich zähle nicht, wer wem wie oft das Leben gerettet hat. Das ist unerheblich. Doch der Drache – meine Erinnerungen sind lückenhaft. Entsetzlich lückenhaft. Aber ich weiß, dass ich ohne deinen Einsatz in jener Nacht mehrmals gestorben wäre. Und bis vor einigen Stunden wusste ich nicht, ob du dieses Unterfangen überlebt hast oder nicht.“ „Was für dich keinen Unterschied gemacht hätte.“ „Rational sollte ich sagen, dass dein Handeln allein deine Entscheidung war und dein potentieller Tod damit nicht in meiner Verantwortung gelegen hätte“, Minoru kratze unruhig mit einer Klaue über die Rippe hinter sich. „Irrational jedoch-“ „Rational-“, fiel Kaito ihm ins Wort, „könntest du mich nicht einmal töten, wenn du es versuchst, Goldjunge. Ich bin rauheren Umgang gewöhnt als deine sicheren Mauern und Papas schützende Hand. Mit verwöhnten Palastbengeln wie dir wische ich den Boden.“ Palastbengel. Minoru brauchte einen Moment, um die Ohrfeige zu verarbeiten und seine Wut zu zügeln, die die Asche am Boden aufwirbelte und einen weiteren, das Grollen in seiner Kehle herunterzuwürgen und gleichgültig zu klingen. „Vielleicht. Ich habe kein Interesse, das herauszufinden.“ „Weil du Angst hast, dass ein nicht mal halbblütiger Junge dir das weichgespülte Welpenfell über die Ohren zieht?“ Die Hitze fegte die Kohlen staubtrocken. „Weil ich dankbar für deine Hilfe bin, du engstirniger Idiot – und froh, dass du lebst! Himmel noch eins, hör auf ständig so zu tun, als würde alle Welt dich verachten, nur weil du in Selbstmitleid versinkst!“ „Selbstmitleid?!“ Sobald Kaito auf die Beine sprang, fuhr sein Yōki unheilvoll an den alten Knochen entlang, die die Hütte zusammenhielten. „Du arrogantes Biest hast leicht reden, was? Vier Jahre lang haben die Soldaten Papas Liebling gesucht, während ein verdammter Krieg tobt! Kaum bist du wieder da, wirst du eingekleidet wie eine Puppe und hast nicht einmal einen Finger krumm gemacht, um dir die Rüstung zu verdienen, in die sie dich stecken! Dabei hättest du alle Mittel, die es braucht. Ich weiß nicht, ob es Feigheit oder Faulheit ist, aber bei der Vergabe von Potential weit vorn zu stehen und nachher als verwöhntes Muttersöhnchen herumzutänzeln, das ohne Papas Schutz nicht eine einzelne Nacht überlebt, ist eine verdammte Schande!“ Das Skelett erzitterte. Die Kohlen der Feuerstelle begannen zu glühen und spuckten Funken auf den ohnehin heißen Boden. Mit einem Satz war Minoru über sie hinweg und starrte Kaito in die Augen. Schluss mit Schuldgefühlen. Schluss mit Ignoranz. Mit Zurücknehmen und Ruhe. Früher hatte er sich einiges gefallen lassen. Weil er keinen erneuten Ärger mit seinem Vater provozieren wollte, weil Honoka oder Rin die Streitigkeiten geschlichtet oder unterbunden hatten. Aber hier war niemand außer ihnen. Niemand, der sie davon abhalten konnte, sich in Stücke zu reißen. Kaitos Hand fuhr sogleich an seinen Obi, wo sie ins Leere griff. Dass er keine Waffe trug, bedeutete längst nicht, dass er unbewaffnet war, aber es kürzte seinen Vorteil eindeutig. Minoru mochte den Umgang mit dem Katana nun ansatzweise beherrschen, aber dass er damit zu Kaitos Kampferfahrung aufgeschlossen hatte, war unwahrscheinlich. Ohne Schwert jedoch standen die Dinge anders. Kaito verspannte sich. Er war alles andere als dumm und sicherlich in der Lage, sich daran zu erinnern, dass Minoru ihm einst freiwillig sein Schwert überlassen und offen zugegeben hatte, damit nichts anfangen zu können – und was der Umkehrschluss bedeuten mochte. Der Blick des Han'yōs huschte zu den alten, abgenutzten Waffen, die der Schmied in seiner Behausung verteilt hatte wie andere Leute Dekoartikel und schließlich wieder zu Minoru und dem Schwert in dessen Obi. Sein Ausdruck wurde hämisch: „Feigling. Ich hoffe, einen unbewaffneten Han'yō anzugreifen schmeichelt deinem Ego.“ „Ruhst du dich gern auf deiner Existenz aus?“ Kaito schnaubte verächtlich. „Es mag deine Vorstellungskraft übersteigen, aber nicht jeder will so sein wie du.“ „Nicht jeder. Du schon.“ Die Wucht mit der sie auf auf dem Boden aufschlugen, ließ Staub und Asche aus der Decke rieseln. Knurrend und fletschend rollten sie umeinander, die Klauen in den Armen des anderen versenkt, über und über mit Asche bedeckt. Wie erwartet war Kaito breiter gebaut, schwerer und wusste das einzusetzen. Er hatte Minoru alsbald unter sich gebracht. Der zog gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite, ehe ein Schlag mit geballter Faust zumindest sein Jochbein zertrümmert hätte und stattdessen den Boden neben seinem Ohr bersten ließ. Schwefeldampf schoss aus dem Riss hervor und Kaito unmittelbar ins Gesicht. Fluchend zuckte er weit genug zurück, um Minoru ausreichend Freiraum zu geben. Der wollte ihn mit einem Tritt in die Magengrube rücklings von sich werfen, wurde jedoch mitgerissen, als Kaito seine Klauen erneut in seinem Arm versenkte. Fluchend landeten sie neben der Feuerstelle, rollten durch die Glut und warfen umstehende Waffenregale um wie Papierwände. Klappernd krachte ein ganzes Sammelsurium aus leeren Holzscheiden, alten Schwertern und Speerschäften zusammen und begrub sie unter sich. Kaito ließ sich davon nicht beirren, holte zu einem weiteren Schlag aus und schrie auf, als Minoru ihm in den Unterarm biss. Der nutzte die Gelegenheit, fing Kaitos Linke ein und donnerte schließlich beide Hände des Gegners über dessen Kopf auf eine der Schwertscheiden. „Das war dein Problem von Anfang an, nicht wahr?“, knurrte Minoru wütend und packte mit der übrigen Hand Kaitos Kehle. „Das ich bin, was du nicht sein kannst. Deswegen dieser ganze Terror – das ganze Gehabe über Voll-, Halb-, Vierteldämonen, Menschenblut und all den Mist! Dein Selbstmitleid geht mir auf die Nerven! Armer Kaito. Armer harmloser, handzahmer Halbdämon unter all den ängstlichen Menschen.“ Kaito bleckte die Zähne. Das Gold in seinen Augen nahm einen einen tieferen Glanz an. Hätte die Natur es ihm ermöglicht, er wäre just in diesem Moment ausgeklinkt und hätte jedweden klaren Gedanken über Bord geworfen, um seinen Gegner zu töten. Doch es blieb bei dunklerem Gold, kein Rotstich. Nur das offenkundige Eingeständnis, dass das hier kein harmloses Spiel war – und die Worte vernichtend. „Wem willst du etwas vormachen? Sie sehen, was du bist. Jeder tut das. Du würdest niemals die Menschen wählen. Wenn es eine Wahl gäbe, würdest du für keine Gemeinschaft der Welt deine Eigenständigkeit aufgeben und Schwäche und Hilflosigkeit wählen! Du bist mehr Dämon als dein Vater es je sein wird, ganz gleich was prozentuale Blutanteile sagen! Aber wer würde sich mit uns einlassen? Wir sind schließlich herablassende, egozentrische Kreaturen ohne Herz und Zusammenhalt, nicht wahr? Sag, ist es das, was du dir jeden Abend erzählst, damit es nicht so wehtut, irgendwo zwischen den Welten allein zu sein? Oder sind das Vorurteile, die sie dir eingeimpft haben, damit du ein braver Junge bist?“ „Verrate ich dir“, hauchte sein Gegenüber leise. Es war blanker Hohn, wie diese alte Aura erneut unter Kaitos geschundener Haut pulsierte. „Wenn du mir sagst, wie allein du wirklich bist.“ Die verbleibenden Regale und Vorräte krachten zusammen, als ein Beben das gesamte Haus ergriff. Es war ein kurzes Glimmen der Gebetsperlen an Kaitos Hals, das von drohendem Unheil kündete, ein Grollen in Minorus Kehle – das, und Kaitos Augen, die plötzlich an Minoru vorbei zur Raumdecke huschten, ehe das Skelett über ihnen zusammenbrach. Hustend und das weiße Haar grau von der Asche stieß Minoru einen Knochen zur Seite. Neben ihm ragte eine Rippe aus dem Boden. An ihr eine zerrissene Stoffbahn, die einst das Dach überspannt hatte und nun lustlos im Wind zappelte. A-Un hatte einen Kopf gehoben und betrachtete die Szene gleichmütig, während Mo-Mos ohnehin schon gewaltige Augen aus seinem Kopf zu fallen drohten. Das Beben hatte den Boden weiter reißen lassen. Der Schwefeldampf hing dicht in der Luft und brannte in den Augen. Dennoch war da der metallische Geruch von Blut – vielleicht war es aber auch nur zerborstenes Eisen. Nachlässig wischte Minoru mit dem Ärmel durch sein Gesicht. Einige Meter neben ihm brauchte es zwei Rippen und eine Menge Schutt, bis Kaito sich aufsetzte und ein Stück Kohle aus seinem Haar fischte. Er schnippte es Minoru an den Kopf. Inmitten der sich lichtenden Aschewolke stand ein vom Alter gebeugter Mann mit zitternder Unterlippe und geschwollener Halsschlagader, unfähig den Grad der Verwüstung zu erfassen, den sie angerichtet hatten. Minoru sah ausdruckslos zu ihm hinüber: „Er ist wieder da.“ „Das sehe ich selbst.“ „Das hat keine drei Tage gedauert.“ „Pff. Auf die Idee hätte ich auch kommen können.“ „Bist du aber nicht.“ Der Alte fuhr zu den beiden herum, als habe er eine Horde fetter Ratten in seinen Reisvorräten ertappt. Der gräuliche Ton seiner faltigen Haut war einem glühenden Rot gewichen – bebende Wut, die in heißen Schwaden aus seinen Nasenlöchern entfuhr wie der Schwefel aus dem Boden. „Ihr! Seid ihr vollkommen übergeschnappt?! Was denkt ihr verlausten Bengel eigentlich wer ihr seid?“ Er mochte alt sein, schmächtig und fast haarlos, aber die Wucht, mit der er seinen Schmiedehammer über ihre Häupter hinwegfahren ließ, war tödlich. Zeitgleich zogen sie die Köpfe unter dem Geschoss weg, das sich hinter ihnen in den massiven Berg grub. Während Minoru sich langsam erhob, war der Han'yō mit einem Satz auf den Beinen. „Bist du lebensmüde, Schmied?!“ Asche hatte sich in einem Haar mit Wasser und Blut vermischt, klebte die schwarzen Strähnen einzeln an den blauen Suikan und verlieh ihm einen wilden Ausdruck – nicht, dass die drohend erhobene Faust oder das Knacken angespannter Klauen missverständlich gewesen wären. Doch Tōtōsai kochte wortwörtlich vor Wut und ließ die Warnungen an sich vorüberziehen wie heiße Luft, während er zur Antwort einen Schwertgriff nach Kaito warf. „Lebensmüde?! Ich bin nur einer Sache müde und das ist diese Dynastie des Wahnsinns, die er aufgestellt hat! Verflucht sei dieser Hund! Ich hätte den Köter fortjagen sollen, als er seinem Welpenspeck noch nicht entwachsen war! Aber konnte ich ahnen, dass er mich über Generationen mit seiner undankbaren Brut verfolgen würden? Konnte ich? Nein!“ Er blähte die Wangen auf und erschnaubte einen kleinen Flächenbrand zu seinen Füßen. Hatte Kaito dem Alten eben noch für seine Fähigkeit gratulieren wollen, Kunden weiträumig aus dem Weg zu gehen, konnte Minoru dem Schmied nun einen gewissen Mut nicht absprechen. Ausgeschlossen, dass er ihre Auseinandersetzung mit einer harmlose Balgerei verwechselt hatte und umso bemerkenswerter, dass er wahnsinnig genug war, sich nun zwischen die Fronten zu stellen und eine dritte zu eröffnen. Wie gewagt von ihm! Bei Kaitos überschäumendem Temperament und Tōtōsais gerechtfertigtem Zorn war es nur eine Frage von Minuten, ehe aus Geschrei und bewusst zu hoch geworfenen Schmiedehammern Ernst wurde. Nichts, was die derzeitige Situation erlaubte. Minoru brauchte den Schmied und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, dass Kaitos Provokationen ihn hingerissen hatten, ihren Streit ausgerechnet an diesem Ort auszutragen. Als auf eine erneute Schmähung des Schmieds Kaitos Aura hochfuhr, beschloss er, es Tōtōsai gleichzutun und ihre Aufmerksamkeit voneinander zu lösen. „Hättet Ihr den Taishō einst abgewiesen, hätte Euer Ruf einigen sehr spektakulären Waffen entbehrt.“ Er fegte mit einer möglichst belanglosen Geste etwas Dreck von seinem Kimono und gab vor, die Miene des Alten nicht zu bemerken, dem die Wut entgleiste und in einen zutiefst sauertöpfischen Ausdruck abrutschte. Ehe er jedoch eine grätige Erwiderung über die Lippen brachte, die Kaito endgültig dazu brachte, alle Vernunft über Bord zu werfen, hob auch Minoru den Blick. „Allerdings ist Euer Zorn nur zu verständlich. Wir haben Euer Heim in ein Trümmerfeld verwandelt. Ich kann Euch versichern, dass das nicht gegen Euch gerichtet gewesen ist. Die Situation ist uns lediglich etwas... aus dem Ruder gelaufen. Selbstverständlich werden wir das Chaos beseitigen.“ „Selbstver... ständlich.“ Der Schmied wiederholte die Einschätzung, langsam, als müsse er prüfen, ob der Geschmack der Worte seine Zunge verätzen würde. Es war schwer zu sagen, welcher der beiden Minoru mit größerem Unverständnis anstarrte – die Sprache fand Kaito jedenfalls schneller wieder: „Bist du bescheuert?!“ „Vorausgesetzt natürlich, Tōtōsai erklärt sich bereit, unseren Gesuchen nachzukommen. Keiner von uns ist zum Plaudern hier.“ „Du glaubst doch nicht, dass ich diese Bruchbude wieder-“ Vollidiot! Minoru spürte, wie sein Puls wider besseren Wissens hochfuhr: „Wir haben Anliegen, die nur er erfüllen kann! Wenn wir die in diesem Leben noch erledigt wissen wollen, sollten wir verflixt nochmal etwas Reue zeigen und sein Lager wieder herrichten!“ „Willst du ihm danach vielleicht noch den Rücken kratzen?!“ „Schluss!“, Tōtōsai raufte das, was von seinem grauen Haarschopf übrig geblieben war und fluchte, als er die Überreste seines Heims bereits im nächsten Handgemenge in alle Winde verstreut sah. „Euch hält man ja im Kopf nicht aus! Du da – Haltung! Dieses unterwürfige Geplänkel ist ja widerlich! Und du, Inuyashas Bengel-“ „Mein Name ist Kaito.“ „Was glaubst du, würde deine Mutter sagen?“ Kaitos Stimme wurde gefährlich leise. „Drohst du mir etwa mit meiner Mutter, alter Mann?“ „Pah! Dir mit deinem Vater zu drohen wäre schließlich auch verschwendeter Atem“, gnarzte Tōtōsai, sah jedoch in Anbetracht der Lage davon ab, Kaito genauer darüber ins Bild zu setzen, welche Unzulänglichkeiten er dessen Vater zuschrieb. Der Han'yō schnaubte verächtlich: „Glaubst du, ich wüsste nicht, worauf das hier hinausläuft? Wir räumen auf und du kannst dich nicht mehr an deinen Teil der Abmachung erinnern. Ganz zufällig.“ „Und ihr? Für wie senil haltet ihr mich, Schadensbegrenzung als Bezahlung anbieten zu wollen?“, der Schmied spuckte aus. „Ich bin nicht die Wohlfahrt! Schon gar nicht für zwei halbgare Rotznasen wie euch.“ Minoru erwischte sich dabei, wie er angestrengt seine Schläfe massierte. „Niemand hat gesagt, dass Ihr für Eure Arbeit keinen Lohn erhaltet.“ „Ach nein?“, klang es aus beiden Richtungen in Tonfällen, die nicht unterschiedlicher hätten ausfallen können. „Nein.“ Unmöglich, dass Ryouichi dieses Theater hatte kommen sehen. Aber wenn man bedachte, wie schnell der Schmied bei seiner Ankunft verschwunden war, dämmerte Minoru allmählich, warum der Generalleutnant Vorsorge getroffen hatte. So weiträumig wie Tōtōsai Aufträgen aus dem Weg ging, gierte er jedenfalls nicht nach Arbeit. Nun, Minoru hatte nicht die letzten Jahre in der Neuzeit verbracht ohne das ein oder andere über Warenaustausch gelernt zu haben. Er wandte sich um, um A-Un herbeizurufen, als der ihn bereits mit der Nase anstieß. Tōtōsai bemerkte die Anwesenheit des beschuppten Dämons mit schwer übersehbarem Misstrauen. Sein Blick fuhr über Minoru, blieb an der unauffälligen Schwertscheide in seinem Obi hängen – und sprang schlagartig wieder zu seinem Gesicht hinauf. Die pochende Halsschlagader des Alten glättete sich allmählich, während er erneut die schmucklose Schwertscheide studierte – bis Minoru etwas aus den Satteltaschen nahm. Kaum hatte der die pechschwarze Speerspitze ins Licht der Mittagssonne gebracht, stand Tōtōsai neben ihm. Ungerührt lehnte sich Minoru ein Stück zurück, um seinen persönlichen Freiraum wiederzuerlangen und musste abgeneigt feststellen, dass der Schmied jeder seiner Bewegungen folgte wie eine Katze einer Lichtreflexion. „Faszinierend“, murmelte der Alte abwesend. Unter seiner ledrigen Haut traten die Adern seiner Hände besonders deutlich hervor, doch Minoru zog die Obsidianspitze vor seiner Nase weg, ehe seine Finger sich um das Objekt der Begierde schließen konnten. „Eine Aufmerksamkeit des Generalleutnants“, sagte Minoru schließlich im gedämpften Ton. „Er hat mich angewiesen, Euch den Inhalt der Taschen zu übergeben – sobald Ihr unseren Anliegen nachkommt. Aber bis dahin-“ Minoru ließ die Speerspitze zurück in die Satteltasche fallen und war ehrlich überrascht, dass der Schmied ihr nicht umgehend nachsprang. Dessen Blick klärte sich jedoch unerwartet schnell. Er fuhr mit der Spitze seiner Zunge über die trocken gewordenen Lippen und entblößte eine Reihe vergilbter, spitzer Zähne. „Abgemacht.“ „He, Alter! Vergisst du da nicht jemanden?“ Tōtōsai hatte den Anstand, zunächst um einige Zentimeter zu schrumpfen, als Kaito sich knurrend hinter ihm aufbaute. Dann aber begann er desinteressiert mit einem Fingernagel in seinem Ohr herumzupuhlen: „Komm später wieder, Junge. Ich habe Kundschaft.“ Kapitel 55: die wir gemeinsam hatten ------------------------------------ Während im Alter die Qual bestand, eine angemessene Form für die jeweilige Situation zu wählen, war es für die Jüngeren ein Erfolg, die Gestalt eines tatsächlich existierenden Vogels über ein paar Minuten zu erhalten. Ob es sich dabei um eine schnöde Heckenbraunelle handelte oder um einen Falken, war erst einmal irrelevant und häufig gingen die kleineren, einfach gefärbten Singvögel leichter von der Hand. Wenn es zum Fliegen kam, war jedoch alles Geflügel gleich frustrierend: Keiner, der versucht hatte, die neu geformten Körper aus eigener Physik heraus in die Luft zu befördern, hatte dieses Unterfangen ohne das ein oder andere ausgekugelte Gelenk überstanden. Natürlich hätte man sich mit etwas Spitzfindigkeit des Yōkis bedienen können, doch wo blieb da die Herausforderung? Ganz zu schweigen vom Unterhaltungsfaktor für alle anderen. Nichts ging über den Anblick einer Horde übermütiger Füchse, die sich bei einem zum Scheitern verurteilten Manöver aus den Baumkronen warfen wie frisch geschlüpfte Entenküken – und ebenso plump zu Boden fielen. Kōhei machte Saburō persönlich dafür verantwortlich, dass er dieses Spektakel gegen die unliebsame Zweisamkeit eintauschen musste, die der Fürstensohn ihm erneut aufzwang. Der Marschbefehl mochte von Hayato stammen, aber Kōhei hätte seine Truppen begleiten können, statt erneut Saburōs Nähe erdulden zu müssen. Die Krähe, die mehrere hundert Meter entfernt über einem Reisfeld dahinsegelte, hatte sich jedoch vehement geweigert, alleine oder mit dem Heer zu reisen und Kōhei angewiesen, den Befehl an Jirō zu übergeben. Nun wandelten seine erfahrenen Truppen wie auch die Kadetten durch die neutralen Zonen in Richtung Westen, während eine Kurodadrossel und eine Krähe die Vorhut bildeten. Regulär bevorzugte auch Kōhei Rabenvögel. Sie waren weit verbreitet, ausreichend groß, um nicht beiläufig von einem verzweifelt dummen Greifvogel attackiert zu werden und zogen weder in Menschendörfern noch weiten Wäldern Aufmerksamkeit auf sich – auch nicht, wenn sie zu zweit unterwegs waren. Ein Grund mehr, dieses Mal auf die obligatorische Krähe zu verzichten. Die Kurodadrossel mutete mit ihrem schwarzen Kopf, dem rötlichen Bauch und braunen Rücken vielleicht eine Spur zu extravagant für einen Kundschafter an, aber sie war unscheinbar im Vergleich zu manch anderem Vogel, dessen er sich während der Lehrstunden bediente und zeitgleich eine deutliche Abweisung an Saburō. Der hatte sich ungewöhnlich kommentarlos gefügt und blieb seit ihrem Abflug lediglich in Sichtweite. Das war sicherlich auch die klügere Wahl für sie beide. Widerwillig musste Kōhei eingestehen, dass die gemeinsamen Erlebnisse bei Hofe und im Chūgoku-Gebirge Mauern zwischen Saburō und ihm eingerissen hatten, die nicht einmal einen Haarriss hätten aufweisen dürfen: Er war dem Kōtaishi mehrfach ins Wort gefallen, hatte gelöste Antworten gegeben und für einen Moment wahrhaft überlegt, ihm das mitternächtliche Fell zu gerben. Dieser Fuchs trieb ihn nicht nur zur Weißglut, sondern auch zu freien Äußerungen und er war dumm genug, sich hinreißen zu lassen. Taichis Ableben nach seiner kurzen Bekanntschaft mit dem Erben hätte ihm eine Lehre sein sollen. Stattdessen ermutigte er den Fürstensohn zu vertraulichen Gesprächen und verstrickte sich mit jedem Zusammentreffen ein wenig mehr in Saburōs Geflecht aus halbwahren Intentionen, persönlichem Schicksal und Intrigen. Dabei müsste gerade Kōhei es besser wissen. Dutzenden Männern hatte er dabei zugesehen, wie sie auf dem persönlichen Schlachtfeld zwischen Verlangen und Pflicht ihrer zweifelhaften Suche nach dem rechten Weg erlegen waren. Seinem Nächsten Position, Weib oder Erfolg zu neiden, endete für gewöhnlich mit mindestens einer Leiche und wer sich in diesen Zeiten leistete, seine Loyalität mit Moral zu verseuchen, fiel noch schneller. Er hatte sich von alledem lange ferngehalten. Hatte ein Leben geführt, in dem er sich für Erfolg oder Versagen in der Ausführung seiner Befehle rechtfertigen musste, niemals jedoch für eine fragliche Haltung gegenüber den Entscheidungen und Bestrebungen seines Fürsten. Bis Reika gekommen war. Er konnte sich zu genau an den Moment erinnern, als aus der Gefangenen im Nordtrakt eine Frau mit Namen, Charakter und Geschichte geworden war. Als er zum ersten Mal in einem beiläufigen Gedanken entschieden hatte, dass das Vorgehen seines Herrn verwerflich und abstoßend war. Von da an hatte sich die Spirale abwärts gedreht. Seine Loyalität war nicht mehr ungebrochen; die Kluft zwischen Worten und Gefühlen breiter geworden. Er hatte sich hinreißen lassen den Jungen, ihren Jungen, ins Herz zu schließen und ihm Lektionen zu erteilen, die für seine vorgesehene Rolle in diesem politischen Spiel vollkommen unerheblich, ja sogar hinderlich waren. Ein einfacher Spielstein musste nicht wissen, dass Japan aus Inselgruppen innerhalb einer viel größeren Welt bestand, dass oder wie man Illusionen enttarnen konnte. Allein Masukos Präsenz hatte ihn daran gehindert, seiner vorgegaukelten Vaterrolle gänzlich zu verfallen. Als Minoru fortgelaufen war, hatte Kōhei nach ihm gesucht, seine Rückbeschaffung befürwortet und doch gehofft, ihm nicht zu begegnen. Wenn er ehrlich war, wäre es vor vier Jahren ein Leichtes gewesen, das Mädchen und den zweiköpfigen Dämon an seiner Seite zu töten und ihn nach Süden zu schaffen. Dass Minoru jedoch behauptet hatte, unter dem Schutz des Inu no Taishōs zu stehen, hatte ihn unvorbereitet getroffen. Im Rückblick jedoch war es nicht die Angst um die Offenlegung südlicher Intrigen gewesen, die ihm eiskalt über den Rücken gelaufen war, sondern das Unverständnis, wie der Junge darauf gekommen war, ausgerechnet das zu seiner Verteidigung vorzubringen. Ausgeschlossen, dass er die ganze Wahrheit wusste. Er hatte ihm lediglich etwas an den Kopf geworfen und damit ins Schwarze getroffen. Ein Schachzug, der Kōhei ein Lächeln entlockte, das er nicht einmal hätte fühlen dürfen. Und nun war da noch Saburō, der ihn seit ihrer ersten Begegnung immer tiefer in seine Ansichten und Machenschaften verstrickte und damit erneut Fragen aufgeworfen hatte, die sich kein loyaler Soldat erlauben durfte. Was kümmerte es Kōhei, wie der Fürst mit seinen Söhnen und deren Frauen verfuhr? Wen er mit wem verheiratete und warum? Es war schlicht nicht seine Aufgabe, sich über derlei den Kopf zu zerbrechen oder Meinungen zu bilden. Aber es stand ihm ebenso wenig zu, über den Anblick einer toten Frau die Fassung zu verlieren und seinen Fürsten zugunsten eines anderen zu belügen und dennoch hatte er es getan. Hatte außerdem seinen Herrn belogen. Ein Wort von Kōhei und der Fürst hätte Saburō in den halbtrockenen Innereien seiner Frau verbluten lassen. Dass der Silberfuchs noch lebte, war sein Werk. Ebenso wie er damit einen Schritt näher am Abgrund stand. Kōhei wusste, was am Ende lauerte. Dass es eine Frage der Zeit war, bis er am Grund der Spirale aufschlug oder sich im Netz erhängte, das Saburō für ihn sponn wie eine gewaltige, schwarze Spinne. Schaudernd stellte er die Federn auf und warf einen Seitenblick zur Krähe, nur um festzustellen, dass diese bedenklich nah über den Baumkronen dahinsegelte. Kōhei begutachtete die sporadischen Flügelschläge und ließ sich zu ihm zurückfallen. „Wir sollten rasten und erst im Morgengrauen den Biwa-See überfliegen, Kōtaishi. Das Heer liegt weit zurück und wird außerdem bald ein Nachtlager aufschlagen. In Kriegszeiten bin ich ungern zu weit von ihnen entfernt.“ „Wie fürsorglich von Euch“, erwiderte der spitz, wobei er offen ließ, ob er das Zugeständnis seiner Ermüdung durchschaut oder die Sorge um eine hundert Mann starke Armee für unsinnig befunden hatte. Dass Saburō jedoch in der Tat angeschlagen war, wurde spätestens nach der Landung deutlich. Er bemühte sich zwar um Haltung, konnte jedoch weder scharfe Atemzüge noch das Muskelzittern seiner Arme verbergen. In den vergangenen Jahren hatte er an Gewicht und Konstitution eingebüßt und wenn Kōhei genauer darüber nachdachte, war auch seine Zunge längst nicht mehr so scharf wie üblich. Zumindest hatte er bislang auf etwaige Fallstricke verzichtet und stattdessen Provokationen wie auch Themen in aller Offenheit präsentiert. Insgesamt war das in Saburōs Fall eher schlechtes Zeichen als wohltuende Besserung. Nicht dass Kōhei dem Drahtseilakt nachgetrauert hätte, bei welchem auf jede Antwort ein verstecktes Messer folgen konnte, doch wenn der bissige Köter des Nachbarn handzahm wurde, war man mit Vorsicht gut beraten. Kōhei erwischte sich bei dem Gedanken, dass er einen seiner Kadetten in einem solchen Fall ins Gebet genommen hätte. Shippō etwa war in den vergangenen Wochen immer abwesender und unzuverlässiger geworden. Er war den anderen seiner Altersklasse voraus und hatte damit ausreichend Zeit, sich den Kopf über andere Dinge als die Ausbildung zu zerbrechen. Als der Zustand sich verfestigt hatte, hatte Kōhei ihn zur Seite genommen, nur um festzustellen, dass die Gedanken seines Schülers um das Wohlergehen seines Heimatdorfes kreisten. Was hätte er anderes tun sollen, als den Jungen für eine Weile nach Hause zu schicken? Alles Mutmaßen und gute Zureden hätte den Überlegungen entsprochen, die Shippō ohnehin seit langem durch den Kopf spukten und Ungewissheit war dann am besten, wenn man sie begrub. In diesen Zeiten konnte er keinen abgelenkten Schüler an seiner Seite brauchen. Nun da sie einen Marschbefehl erhalten hatten schon gar nicht. Und doch hätte der General den zerstreuten Jungen liebend gern gegen diesen Bastard eingetauscht, der nur allzu genau wusste, dass Kōhei nicht so blind war, seinen Zustand zu übersehen. Im Regelfall hätte Kōheis unausgesprochenes Wissen um die Konstitution des Erben eine Steilvorlage für Sticheleien und Gespräche aller Art dargestellt. Doch da Saburō auch nach Sonnenuntergang noch schwieg und sich wortlos zur Ruhe gelegt hatte, fragte sich Kōhei mittlerweile ernstlich, ob seine unmissverständliche Distanzierung am Nachmittag den Fürstensohn gekränkt haben mochte – nur um den Gedanken sofort wieder zu verwerfen. Saburō war durchaus bewusst, dass Kōhei die Gesellschaft einer toten Ziege der seinen um ein Vielfaches vorgezogen hätte und war bislang nie müde geworden, ihn mit diesem Wissen zu konfrontieren. Er zog sein Amüsement aus solcher Ablehnung und wenn diese ihn jemals gekränkt hatte, dann hatte er es bislang meisterlich versteckt. Was auch immer Saburō dazu bewog, seine Stacheln in Schweigen zu hüllen, bescherte Kōhei eine ruhige Spätsommernacht, in der selbst die Grillen leise zirpten und die Mondspiegelung so regungslos auf dem entfernten Biwa-See lag, als habe man sie auf die Oberfläche gemalt. Er konnte jedoch kaum mehr als eine halbe Stunde eingenickt sein, als ihn ein Krächzen auffahren ließ. Er war schneller auf den Beinen als sein Fuchsfeuer den Waldboden in einem smaragdgrünen Flackern ausleuchten konnte und starrte für den Bruchteil einer Sekunde auf den Fürstensohn, der sich unweit seiner Füße giemend durch Moos und Äste wälzte, die sonst lodernden Augen panisch geweitet, und wie ein Wahnsinniger seinen Hals aufkratzte. Kōhei schwang sich über ihn, packte seine Handgelenke und rettete, was mitternachtschwarze Klauen von Haut und Adern übrig gelassen hatten. Geistesgegenwärtig versuchte er den Kopf zu fixieren, zu sehen, woran Saburō erstickte, während dessen Augen von geplatzten Gefäßen gerötet und die Lippen blau wie Frost geworden waren. Dann lag er schlagartig still und eben jener Frost fuhr durch Kōhei wie eine Welle eisigen Schocks. War ihm der Erbe seines Herren gerade sprichwörtlich unter den Händen gestorben? Unmöglich! Woran um Himmels Willen? Es war keine Sterbensseele in der Nähe, nicht einmal ein Hauch fremden Yōkis. Nichts! Fluchend presste Kōhei den Brustkorb des Silberfuchses nach unten, nur um irritiert festzustellen, dass die Luft sehr wohl ungehindert einen Weg aus den Lungen fand. Verdammter Bastard! Er riss am Kragen des Kimonos, wo das Blut den braunen Stoff schwarz gefärbt hatte und die durchtränkte Seide widerspenstiger war denn je. Schließlich zog er die Klinge seines Messers durch sämtliche Kleidungsschichten hinab bis zum Nabel, zerstückelte den Obi und schlang ihn mit dosiertem Druck um die sickernden Wunden am Hals. Wo Blut floss, war noch Leben und solange es nicht in Stößen sprudelte, hatte dieser Irre nur die oberflächlichen Venen erwischt. Erneut stieß er auf den Oberkörper nieder, mehrfach, zwang Luft in seine Lungen, während diverse Rippenbrüche den Brustkorb bei der Atmung in die falsche Richtung dehnten, und begann von vorne. Er hatte Shippō belächelt, als der ihm diese und andere Techniken beschrieben hatte, die eine Menschenfrau in seinem Dorf im Ernstfall praktizierte, aber er würde selbst Saburōs Leben nicht kampflos ans Jenseits abtreten. Saburōs im Besonderen! Nicht vorzustellen, was man denken würde, wenn der Erbe in seinem Beisein praktisch von allein das Zeitliche gesegnet hatte – nicht vorzustellen und damit für jeden anderen absoluter Humbug! Man würde ihm einen Mord andichten! Nicht weniger. Wonach sonst sollte das hier auch aussehen? „Komm schon, du eingebildeter Mistkerl, atme!“ Minuten zogen sich wie Stunden und je länger nichts geschah, desto energischer wurde Kōhei, bis er Saburō mit Sicherheit zwei weitere Rippen gebrochen hatte und ihn hemmungslos verwünschte. Dann endlich ein Zucken, ein fades Aufflackern, gefolgt von einem Husten und Röcheln, Keuchen und Spucken. Kōhei rutschte augenblicklich von Saburō herunter, der panisch nach Luft schnappte – die Hände erneut zum Hals hochschnellend. „Nein!“, fauchte Kōhei, als gebiete er einem kleinen Jungen, nicht in das glühende Feuer eines Schmiedeofens zu greifen und fing die Hände ab, bevor sie weiteren Schaden anrichteten. Saburō kämpfte kraftlos gegen den Griff, wälzte ächzend auf die Seite, nur um gequält stöhnend zurückzurollen. Seine Brust hob und senkte sich, als versuche er den Verlust des Atems der letzten Minuten schnellstmöglich auszugleichen. Kōhei biss die Zähne zusammen. Es brauchte einen Moment Konzentration, um die Schärfe aus der Stimme zu nehmen und einen weiteren, sich für einen angemessenen Umgang mit dem Fürstensohn zu entscheiden. „Bleibt ruhig. Ihr habt Euch schlimm zugerichtet. Ihr müsst Euch beruhigen, hört Ihr? Außer mir ist niemand hier.“ Behutsam ließ er eine Hand auf Saburōs Schulter ruhen und unterdrückte das Verlangen nach dem Sitz seiner provisorischen Halsbinde zu sehen, aus Sorge, er könne erneut in Panik geraten. Stattdessen gab er der Sittsamkeit Vorrang und wollte Hanjuban und Kimono über den Körper schlagen, nur um bei halber Verrichtung innezuhalten. Die hervortretenden Schlüsselbeine waren bereits unter dem Stoff sichtbar gewesen, doch die vielfachen Blutergüsse, halb verheilten Schnitte und alten Narben wären in jeder anderen Situation verborgen geblieben. Ganz zu schweigen von dem schwarzen Pelz, den Kōhei bislang für einen aufgesetzten Kragen gehalten hatte. Eine modischer Kunstgriff, der dem einst pechschwarzen Auftreten des Erben einen aristokratischen Anstrich verliehen hatte – und der nun bei jedem Atemzug mit flackernder Aura wenige Millimeter über seinem geschundenen Körper wogte. Kōhei verspannte sich sichtlich und legte den Stoff über ihm zusammen so gut es die zerschnittene Kleidung zuließ. Er war ein Narr gewesen, anderes anzunehmen. Das schiere Ausmaß seiner Macht war mit Verwandlung eines Menschenkopfes in Masukos Antlitz samt Yōki offensichtlich gewesen. Kein gewöhnlicher Dämon war in der Lage, eine solche Magie zu weben, geschweige denn anschließend eine mehrtägige Wegstrecke in Form konzentrierter Energie binnen Stunden zurückzulegen. Umso klarer wurde, warum Hayato sich von diesem schwer händelbaren Sprössling derart aus der Reserve locken ließ und ihn mit allen Mitteln unterzuordnen suchte. Kōhei kannte seinen Fürsten gut genug, um sich auszumalen, wo all die halb verheilten Verletzungen ihren Ursprung nahmen. Ihm mochte Hayato Ungehorsam und Verfehlungen ins Gesicht gebrannt und geschlagen haben, aber innerhalb der Familie galt es dieses zu wahren und offensichtlich schloss das ein, dass sichtbare Bereiche seines Sohnes zumindest augenscheinlich unversehrt bleiben mussten, während das Ende körperlicher Erniedrigung sicher nur der Anfang anderer Kontrolle war. Hatte Saburō nicht längst eingestanden, seine Tochter nie zu sehen? Dass Akemi gerade erst wieder erlaubt worden war, ihre Gemächer im Beisein seiner Mutter zu verlassen? Dass sie erneut ein Kind trug? Es bedurfte nicht viel Phantasie, dass der Fürst einiges für einen Daiyōkai in der Erbfolge gegeben hätte. Einen von der Pike aufgezogenen, gehorsamen Enkelsohn bestenfalls, der den eigenwilligen Vater überflüssig machte. Saburōs Glück war bislang gewesen, dass sein erstes Kind, ob nun Daiyōkai oder nicht, ein Mädchen geworden war und Hayato von Frauen im Generellen und von weiblichen Führungspersonen im Besonderen rein gar nichts hielt. Andernfalls hätte er die konstante Bedrohung durch seinen Sohn kaum länger geduldet. Der hatte sich indes beruhigt, atmete tiefer in die Lungen, auch wenn ihm der stechende Schmerz gebrochener Rippen deutlich anzusehen war. „Ich würde Euch anbieten, Euch aufzuhelfen. Aber es ist sicherlich klüger, wenn ihr zunächst liegenbleibt. Kann ich sonst etwas für Euch tun?“ Ein mildes Lächeln zuckte über die ausgetrockeneten Lippen. „Nun doch Mitleid, General?“ „Ihr erweckt gerade wenig anderes“, erwiderte Kōhei trocken, beruhigt, dass Saburō zumindest wieder nach sich selbst klang. „Und ich Narr nahm an, Angst zu wittern.“ Kōhei schnaubte durchdringend und zog sich ein Stück von ihm zurück. „Berechtigterweise. Niemand hätte mir geglaubt, dass nicht ich es war, der Euch im Schlaf erdrosselt hat – was auch immer stattdessen der Grund gewesen sein mag.“ Was war der Grund? „Ich glaube kaum, dass mir das gut bekommen wäre.“ „Im Gegenteil“, Saburō schlug die Augen auf und betrachtete Kōhei nachdenklich. Das Weiße in seinem Blick immer noch blutunterlaufen. „Mein Vater hätte Euch nicht nur augenblicklich verziehen, sondern einige Ehrungen vor die Füße geworfen. Sind wir ehrlich: Er hofft seit Jahren, dass Ihr mich tötet und ihn damit vor übler Nachrede bewahrt, mich aus Angst beseitigt zu haben.“ „Er kennt mich besser als das – und Ihr redet zu viel. Ruht Euch aus.“ „Er kennt Euch gar nicht“, murmelte Saburō, schlug aber gehorsam die Lider nieder. „Sonst hätte er niemals den Fehler gemacht, Euch in meine Nähe zu lassen.“ ☾ Es war zu einfach. Viel zu einfach. Wenn es nur einer Ansammlung von Steinen aus zügig abgekühlter Lava bedurfte, um den auf einem Vulkan siedelnden Schmied zur Kooperation zu bewegen, warum war die Angelegenheit dann nicht längst erledigt worden? Tenseiga mochte keinem irdischen Gegner Schaden zufügen, doch im Kampf gegen untote Drachen war es die wichtigste Waffe, die sie hatten. Vielleicht sogar ihre einzige Chance den Spuk zu beenden. Dennoch war es bereits geborsten gewesen, als Minoru seinen Vater zuletzt im Palast begegnet war. Nicht in demselben Ausmaß wie heute, wo die Klinge einem zerbrochenen Spiegel glich, aber bereits von Scharten durchzogen und mit herausgebrochenen Ecken versehen. Unvermittelt rammte Minoru die Rippe des Skeletthauses tiefer in die Vulkanerde und starrte auf den alten Knochen hinab. Der Fürst war in jener Nacht unerwartet von der Front zurückgekehrt und Minoru hatte sich bereits damals gefragt, was ihn dazu verleitet hatte, in einem nächtlichen Manöver seine Waffen zu pflegen statt mit ihnen Schädel zu spalten, wie er es üblicherweise gehalten hätte. Wenn er zu diesem Zeitpunkt bereits einen Reise zu Tōtōsai in Erwägung gezogen hatte – das Schwert nur hergerichtet hatte, um den Schmied gütig zu stimmen – dann lag Tenseiga bereits seit über vier Jahren in Trümmern. Was ging hier vor? Dass der Schmied wörtlich nach einer Bezahlung verlangt hatte, hatte alles über den Haufen geworfen, was Minoru über das Brauchtum dieser Zunft wusste. Allerdings war Tōtōsai mit Sicherheit bewusst, dass der Westen auf diese Waffe angewiesen war und so blieb nur abzuwarten, welche Abkommen er über das Obsidian hinaus fordern würde. Minoru biss die Zähne zusammen und sah zu Tōtōsai und Kaito hinüber, die sich vor dem Trümmerhaufen niedergelassen hatten und ein Schwert herumreichten. Kaito hatte auf seinem Vorrecht bestanden, auch wenn ihm erst später bewusst geworden war, dass er damit sein Anliegen in unmittelbarer Nähe seines Vetters vortragen musste. Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar gewesen – unbezahlbar und so unsinnig, dass Minoru demonstrativ mit den Augen gerollt und sich der Aufgabe zugewandt, die Hütte wieder aufzurichten. Der Schmied hortete nicht viel Tant in seinem Lager und so war das größte Problem das Aufstellen der eingestürzten Rippenpfeiler und die Asche, die alles überzog wie klumpender Schnee. „Hitatsura“, stellte Tōtōsai fest, als er das eingearbeitete Muster im Schwert betrachtete. Er drehte die Waffe in der Sonne, bis das Licht über die gebogene Klinge tanzte und die dunkle Hamonlinie betonte, die wie ein aufgewühltes Meer über den Stahl wogte. „Guter Abstand zur Schneide und ein feiner, blauer Schimmer im Mantelstahl. Eine außergewöhnliche Waffe, keine Frage. Wie ist sie in deinen Besitz gekommen?“ „Bei einem Auftrag. Der Atuikakura muss es verschluckt haben.“ Wie alles andere, was vor sein breites Maul getrieben war. Ein kleines Fischerdorf bei Sakata hatte seit Monaten nicht gewagt, Boote aufs Meer zu entsenden, nachdem von allen vorangegangenen lediglich Planken geblieben waren, die die Wellen zurück an Land geworfen hatten. Die Bezahlung war wegen und trotz ihrer Not gut gewesen, was unter anderem auch daran lag, dass Kaito sich nicht darauf verstand, Menschen bis auf das letzte Hemd auszuziehen wie ein gewisser Mönch es tat. Der Kampf auf einem Boot war zum Abgewöhnen gewesen. Glücklicherweise hatte er sich nicht dazu überreden lassen, den alten Fischer mitzunehmen, den ihm das Dorf als Kontrollinstanz und Navigator hatte mitschicken wollen. Als sei diese Nussschale nicht ohnehin schon beengt genug gewesen! Rückblickend hätte es ihm auch einige Schwierigkeiten bereitet, den Fischer unbeschadet wieder abzuliefern und erfahrungsgemäß reagierten Kunden nicht besonders gut auf das Ableben ihrer Angehörigen, obwohl sie nahezu immer das entbehrlichste Mitglied ihrer Gemeinschaft entsandten. Der Dämon hatte sich als gewaltige Seegurke erwiesen, die im Mündungsbereich des Mogami den Bodengrund nach Nahrung durchwühlt und dabei Boote als willkommene Erweiterung ihres Speiseplans aufgenommen hatte. Dass diese Boote dabei mit Fischern beladen gewesen waren, dürfte dieser Art Dämon ausnahmsweise recht egal gewesen sein. Atuikakura fraßen nicht unbedingt Menschen, aber eben altes Holz und die besten Tage der Fischerboote waren längst gezählt gewesen. Nach dem Kampf war er hinabgetaucht, um irgendeinen transportablen Körperteil als Beweis mit an Land zu nehmen und hatte das Schwert sowie einigen anderen Kram in den Eingeweiden gefunden. Keine Suche, an die er gern zurückdachte. „Hast du es geschmiedet?“ Der Alte schabte mit seiner krummen Klaue über die weiße Rochenhaut des Griffes und die wellenförmig gestalteten Zierelemente, die unter der dunkelblauen Seidenumwicklung lagen. Erst dann gab er ein verneinendes Brummen von sich. „Dieses Schwert ist älter als ich. Es wurde in einer Zeit geschaffen, in der Kriege seltener waren als sie es heute sind. Zu einer Zeit als man die rohen Mächte der Natur begreifen wollte. Das ist mitunter gehörig schief gegangen, aber in diesem Fall – ein Großmeisterhandwerk. Durch und durch gelungen. Es könnte ein wenig Pflege vertragen. Eine ausgiebige Reinigung, Nachschleifen, etwas Liebe. Aber für das Alter beachtlich gut erhalten und immer noch scharf.“ Mit dem Handrücken versetzte der Schmied dem Schwert einen geübten Hieb auf die metallische Zwinge, die die Klinge am Griff verankerte. Dann zog er den Stahl aus der Griffhülle und betrachtete die Signatur auf dem Nakago, dem Teil des Schwertes, der für gewöhnlich im Handstück verborgen blieb und oftmals mit Gravuren des Herstellers versehen war. „Ist es brauchbar?“ Der Kopf des Alten fuhr hoch: „Natürlich ist es brauchbar! Hörst du nicht zu?“ Kaito spürte, wie ein Nerv in seiner Wange zuckte. Er biss die Zähne zusammen, atmete zweimal durch, ehe er sich wieder vorlehnte und die Stimme senkte: „Ob es für mich benutzbar ist. Bekomm' doch nicht jedes Wort gleich in den falschen Hals.“ Die Züge des Schmied glätteten sich sichtlich. Der Alte mochte ein grätiger Geselle sein, der seinen verschrobenen Humor zumeist in den ungünstigsten Momenten entdeckte, doch er war ihnen in den vielen Jahren, in denen Kaito seinen Vater in das Ōu-Gebirge begleitet hatte, immer mit Anstand begegnet. Mehr als das. Was Kaito über den Kampf wusste, hatte er von seinem Vater gelernt, aber wenn es um die Herstellung von Waffen, die Pflege oder die Beurteilung ging, hatte er bereits als Kind an Tōtōsais Lippen gehangen und sich die hanebüchsten Geschichten auftischen lassen, für die sein Vater nicht mehr als ein abfälliges Schnauben übrig gehabt hatte. Doch er hatte ihre Gespräche nicht unterbunden und Kaito war sich früher zumindest sicher gewesen, dass sein Interesse Tōtōsai nicht verägerte oder störte. Sonst hätte er ihm sicherlich nicht erlaubt, bei dem ein oder anderen Schmiedevorgang über seine Schulter zu linsen und eine unendliche Flut an Fragen auszuschütten. Umso ärgerlicher, dass er drei Tage damit verbracht hatte, auf den Schmied zu warten, wo er es doch eigentlich eilig hatte, wieder zur Front zu kommen. Doch wenn er neutral betrachtete, konnte niemand Tōtōsai verdenken, dass er in diesen Zeiten den Kopf einzog und sich möglichst rar machte. Wenn die Inu nichts von ihm wollten, dann sicherlich die Panther oder schlimmeres – und wie der Alte immer wieder betonte, war er nicht bereit für jeden zu arbeiten und schon gar nicht alle Wünsche zu erfüllen. Er mochte eigentümlich sein, aber er war beim besten Willen nicht frei von Moral. „Es ist weder besessen noch verflucht, wenn das deine Frage beantwortet“, entgegnete Tōtōsai, bevor er ungläubig eine Braue hob. „Du hast es wirklich nicht ausprobiert?“ „Bin ich lebensmüde?“ Für einen Moment wurde es still. Tōtōsai kratzte etwas Schorf aus dem Nasenwinkel. Er betrachtete Kaito vom Scheitel bis zur Sohle. Dann warf er einen knappen Seitenblick auf die Überreste seiner Behausung in denen Minoru gerade eine weitere Rippe aufstellte und die alte, ledrige Plane zwischen den Knochen aufspannte. „Ist das eine ernstgemeinte Frage?“ Kaito schnaubte. „Bevor ich aus Versehen die Hölle heraufbeschwöre oder ganze Landstriche verwüste, nur weil irgendein Held eine wahnsinnige Waffe geschmiedet hat, lasse ich sie von dir begutachten. Tōkijin, Sō'unga – ich will nicht wissen, wie viele andere solcher Waffen noch im Umlauf sind.“ „Das ist erstaunlich weitsichtig von dir.“ „Ich tue jetzt mal so, als hätte ich den Unterton nicht gehört.“ Tōtōsai schenkte ihm ein schiefes Lächeln, das einer gewissen Anerkennung nicht entbehrte und Kaito fühlte sich mit einem Mal schwerer als es vielleicht nötig gewesen wäre. Er mochte den Schmied und außerhalb der Situation – fernab von der Wut auf Minoru und dem Adrenalin in seinem Blut – tat es ihm aufrichtig leid, dass seine Hütte ihrem Streit zum Opfer gefallen war. „Tōtōsai -“ „Du kannst das Schwert benutzen“, unterbrach der seine Entschuldigung und schrubbte mit dem Stoff seines Kimonos über die Signaturen auf dem Nakago. „Einer Waffe gefährlichen Willen einzuhauchen widersprach derzeit dem Ideal. Man wollte ein an Naturphänomene angelehntes Gesamtkunstwerk erschaffen. Erdbeben, Gewitter, Stürme. Dafür hat man eher auf seltene Naturstoffe zurückgegriffen als auf yōki-bindendes Material – was die Handhabung für heutige Begriffe etwas eigentümlich macht.“ Kaito nahm die ihm dargebotene Klinge entgegen und legte sie achtsam über die Knie, um die Signatur zu entziffern, die Tōtōsai mühevoll von einigem angetrockneten Schlamm befreit hatte, der sich vermutlich zu einem Großteil aus Seegurkeninnereien zusammensetzte. „'Shio'...“, er kratzte mit der Klaue durch die schwer lesbaren Schriftzeichen. „'kiri'?“ Als er wieder aufsah, nickte Tōtōsai nachdenklich und Kaito dämmerte, dass der Schmied wohlmöglich nicht mehr in der Lage war, diese winzigen Zeichen selbst zu entziffern, wenn seine jungen Augen bereits Schwierigkeiten damit hatten. „Das Schwert, das Gezeiten schneidet.“ Sein Gegenüber nickte nun bestimmter. „Ja, ich habe davon gehört. Seine Macht kommt und geht mit der Stärke der Gezeiten. Damit muss man umgehen und planen können. Vielen widersagt das.“ Gezeiten. Mondphasen. Kaito fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht, strich einige Aschereste von seiner Stirn und betrachtete die Waffe eingehend. Ausgerechnet Mondphasen. Wenn Tōtōsais Einschätzungen stimmten – was sie gemeinhin taten –, konnte er sich bei Neumond nicht auf das Schwert verlassen. Ausgerechnet dann, wenn sein Vater auf seine menschliche Natur zurückgeworfen wurde. Er seufzte leise. Was machte er sich eigentlich darüber noch Gedanken? Solange er nicht nach Hause zurückkehrte, war der Neumond irrelevant und sicher war Shiokiri dann immer noch mächtiger als gewöhnlicher Stahl. Er warf einen halbherzigen Blick an den wolkenfreien Himmel, wo der Mond schwer erkennbar im hellen Blau trieb – als hätte ausgerechnet er nicht gewusst, dass vor einigen Tagen zunehmender Halbmond gewesen war. Es ging auf Vollmond zu und mit etwas Training konnte er bis dahin vielleicht den Grundumgang mit der Waffe lernen. Von einem Katana auf ein längeres, stärker gebogenes Tachi umzusteigen war für ihn jedenfalls nicht besonders schwierig. Er hatte mit Tessaiga trainiert, so oft sein Vater es ihm erlaubt hatte. Techniken die Yōki erforderten wie die Windnarbe lagen ihm nicht besonders, aber der Fangzahn war ungleich länger und gebogener als jedes andere Schwert, das ihm bislang untergekommen war. „Ich danke dir. Das war sehr aufschlussreich.“ Der Alte betrachtete ihn eine Weile ausdruckslos, ehe er schließlich nickte und sich Minoru zuwandte. „He da, Inu. Komm her. Bringen wir das hinter uns. Je eher du hier verschwindest, desto besser.“ Minoru trat die Erde um den Knochen fest, den er gerade im Boden versenkt hatte und schlug die veraschten Handflächen aneinander ab. Er war mit dem Aufräumen längst nicht fertig geworden, aber wenn der Schmied meinte, dass dieser Teil der Abmachung erfüllt war, würde er ihm sicherlich nicht widersprechen. Gut möglich, dass der Alte sich wohler dabei fühlte, den Rest selbst zu erledigen, ehe er mehr Zeit als nötig in der Gesellschaft anderer verbrachte. Kaito setzte gerade sein Schwert zusammen, als Minoru sich vor dem Schmied und damit unmittelbar neben ihm niederkniete. Knurrend rutschte der Han'yō ein Stück zur Seite, machte jedoch keine Anstalten, das kommende Gespräch einer trauten Zweisamkeit zu überlassen. Da sein Anliegen erfüllt war, war seine Anwesenheit nur... nun was? Ausgleichende Gerechtigkeit? Minoru verkniff sich ein Seufzen und zog die Schwertscheide aus seinem Obi, in welcher Tenseiga ruhte. Als er die Waffe aus der schmucklosen Hülle löste, hielt Kaito neben ihm inne. „Scheiße. Was hast du denn damit angestellt? Ist das -“ „Tenseiga“, bestätigte Tōtōsai und zog es Minoru so abrupt aus den Händen als könne er der Klinge durch bloße Aufmerksamkeit weiteren Schaden zufügen. „Dieser Hund ist wahrlich erbarmungslos. Aber immerhin hat er sich an meinen Rat gehalten und Tenseiga vor weiterem Schaden bewahrt. Es fehlt nicht mehr fiel und dieses Meisterwerk bricht von allein.“ Minorus spitze Ohren zuckten: „Ihr wisst um den Zustand der Waffe.“ „Natürlich weiß ich es“, brummte Tōtōsai und fuhr eine tiefe Kerbe mit seiner alterskrummen Klaue nach. „Dieser unausstehliche Köter war hier und hat seine üblichen Morddrohungen ausgespuckt, um mich zur Reparatur zu zwingen. Hat die Waffe sogar eine Weile in meine Obhut gegeben, bis es mir zu brenzlich wurde und ich sie mit besten Grüßen seinem sadoanischen Schoßhund überlassen habe. Warum muss ich immer meinen Kopf hinhalten? Soll sich doch diese Ausgeburt an Selbstzerstörung für seinen Herrn umbringen lassen. Darin hat er immerhin schon ausreichend Übung.“ „Vorsicht Schmied“, Minoru bleckte warnend die Zähne. „Ihr vergesst, von wem Ihr sprecht.“ Tōtōsai erwiderte den Blick seiner bernsteinfarbenen Augen mit einem müden Zucken kaum vorhandener Augenbrauen. „Und nun schicken sie mir einen halbwüchsigen Welpen mit dem Temperament einer Schnappschildkröte und erwarten, dass ich für etwas Obsidian Wunder vollbringe, was?“ Noch bevor Minoru Zeit hatte, diesen Vergleich persönlich zu nehmen, lehnte sich Kaito neben ihm bedrohlich langsam zum Schmied vor: „Nur damit ich das richtig verstehe: Tenseiga sieht aus wie ein zerbrochenes Ei und du weigerst dich, es wieder herzurichten, weil dich die Inu nicht ausreichend bezahlen?“ Seine Stimme fiel in ein leises Zischen ab: „Hast du eine Ahnung, was da draußen los ist? Ganze Landstriche sind menschenleer! Ich schlage mich seit Jahren mit wiederkehrend denselben Reptilien und ihren unausstehlichen Gefolge herum, während die Lösung in deiner Gier liegt?!“ „Oh nein! Das lasse ich mir nicht unterstellen!“, fuhr Tōtōsai auf und gestikulierte mit Tenseiga wild vor Kaitos Nase herum. „Ich bin Waffenschmied, ein Meister meines Faches. Ich schmiede keine Suppenlöffel, verdammt noch eins! Die kannst selbst du mit etwas Hitze wieder in Form biegen, aber das hier doch nicht! Los, droht mir, knurrt, beißt! Lieber schmelze ich Tenseiga auf der Stelle ein, als mich weiterhin diesen Diskussionen auszusetzen. Ich habe die Problematik bereits hinreichend dargelegt und werde kein weiteres Wort an zwei Welpen verschwenden, die noch grüner sind als die letzten beiden Banausen!“ Minoru war sofort auf den Beinen, als der Schmied für sein Alter unerwartet schnell aufsprang und auf seinen Hammer zustürmte, der immer noch in der Felswand steckte. Er packte Tōtōsai am Oberarm, zog ihn zu sich herum, und riss den Kopf zur Seite, als ein tödlich heißer Feueratem knapp an seinem Ohr vorbeifuhr. „Ihr werdet es nicht einschmelzen!“, beharrte er ohne den Griff zu lockern. „Ich werde weder drohen noch beißen, aber ich werde nicht zulassen, dass Ihr unsere einzige Hoffnung ins Feuer werft!“ „Nein, es reicht!“ Der Schmied packte Minorus Handgelenk mit einem Griff, der an einen Schraubstock erinnerte und seine Finger binnen Sekunden taub werden ließ. „Tōgas Bestrebungen sind mit ihm gestorben, die Drachen wiedergekehrt. Hoffnung? Es gibt keinen Grund für Hoffnung, Junge, und ich bin zu alt mir das Gegenteil einzureden. Myōga hatte einen neuen Sinn gefunden und ist damit vor seinem Ende ebenso enttäuscht worden, wie so viele andere vor ihm. Ich werde meine verbleibenden Tage nicht mit Hoffen und Bangen zubringen wie er es getan hat. Die Drachen werden Japan zerstören? So sei es.“ Minoru riss seine Hand so abrupt zurück, dass der Schmied ihm hinterherstolperte und verwundert zu ihm aufsah. Ihm war kalt geworden. Als wären nicht nur die Finger seiner Linken blutleer, sondern gleichsam sein ganzer Körper gelähmt. „Was ist mit Myōga?“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Inu.“ Tōtōsai massierte mit Nachdruck seinen Oberarm, beäugte Minoru jedoch misstrauisch. „Warum?“ „Er ist –. Er hat mich begleitet, nachdem wir hier aufgebrochen sind. Bis die Drachen den Westen überfallen haben.“ Mit jedem Wort starrte der Schmied sein Gegenüber fassungsloser an und auch sein Kiefer hing mittlerweile weit genug unten, um die Reihe gelblicher Zähne preiszugeben, die sich noch in seinem altersschwachen Gebiss hielten. „Du bist dieser verwahrloste Bengel, der zu schwach war, ein lächerliches Fieber zu bändigen? Du?!“ „Spannend“, säuselte Kaito und lehnte sich interessiert vor – das Kinn in die Hand gestützt. „Erzähl' mir mehr.“ Minoru schnaubte leise. „Als hättest du nur Glanzstunden in deinem Leben gesammelt.“ „Nein. Aber mein Vater lacht mich dafür nur aus. Deiner auch? Oder ist das eher so ein-“, er räusperte sich, um den Tonfall des Fürsten annähernd perfekt nachzuahmen. „'Mach mir keine Schande oder ich töte dich!'“ „Halt die Fresse, Kaito.“ Unter dem herben Lachen seines Vetters wandte sich Minoru wieder an den Schmied. „Hätte ich nur eine Minute darüber nachgedacht, dass Ihr mich nach den Veränderungen der letzten Jahre nicht erkennt, hätte ich ausreichend Anstand besessen, mich vorzustellen. “ Ganz davon abgesehen, dass selbst ein Wiedererkennen nicht zwangsläufig seine Verbindung zum westlichen Fürstenhaus und damit den Besitz der Waffe erklärt hätte. Aber was half es nun noch, sich den Kopf über Versäumnisse zu zerbrechen? „Ihr erwähntet Myōga. Wo ist er?“ Die faltige Haut des Alten war aschfahl geworden, während er sichtlich nervös von einem Enkel seines alten Freundes zum nächsten blickte und unter der Erkenntnis immer kleiner wurde. Sein Kehlkopf rutschte beim Schlucken elendig langsam seinen Hals entlang. „Der Floh ist tot.“ Kapitel 56: für dich im Nebel liegt. ------------------------------------ „Er ist schon immer töricht gewesen. Ein Träumer. Ich habe ihm gesagt, dass es aussichtslos ist. Dass niemand lebendig verschwindet ohne dass die Inu ihn finden. Aber er wollte nicht zuhören. Tōgas früher Tod hat ihn zu viel gekostet. Uns alle. Und nochmals einen solchen Verlust zu durchleben war zu viel für sein Alter. Er hat sich geweigert, an deinen Tod zu glauben, solange man ihm keine Leiche vorlegen konnte. Bis zum Ende.“ Nach der Nachricht von Myōgas Ableben, waren Tōtōsais Worte nichts weiter als Abgesang, der um Minoru trieb wie Wellen um ein Schiff. Sie wogten um seinen Verstand, das ein oder andere scharf genug, um einen Stoß kalten Wassers über die Reling zu jagen, während der Großteil eine undefinierbare Masse blieb. Ohne Anfang, ohne Ende. Der Schmied, der ihn in abnormer Nähe umkreiste wie Aas, fortwährend in seinen Monolog vertieft, war kaum mehr als ein Schemen. Myōga hatte auf ihn gewartet und er war zu spät gekommen. Zu spät für ein Wiedersehen. Um Hoffnung und Vertrauen zu entlohnen. Zu spät für einen Abschied. Hätte er früher Einfluss auf den Brunnen nehmen können? An einem anderen Obon-Fest Jahre vorher um Hilfe bitten müssen? Möglicherweise. Er hätte sich verabschieden können, statt reumütig auf die letzte Unterhaltung zu blicken, die sie miteinander gehabt hatten. Eine Unterhaltung, in der er dem Flohgeist unterstellt hatte, sich seiner nur um Tōgas Willen anzunehmen. Noch nie im Leben hatte Minoru sich derart selbst verachtet. So machtlos gefühlt und so unsäglich dumm. Hatte er sich nicht tagein tagaus bewusst gemacht, dass sein Weg nach Hause eine Rückkehr zu Grabeserde und Knochen werden konnte? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich keine seiner Befürchtungen bestätigt. Sein Vater und Ryouichi waren wohlauf, das Dorf seines Onkels hatte sein Hilfegesuch halbwegs überstanden und selbst Kaito lebte. Wenn er sich all der möglichen Schrecken bewusst gewesen war, warum traf ihn eine einzelne Wahrheit mit einer solchen Härte? Einer Härte, die ihm den Atem raubte und nichts als ein beißendes Gefühl in seiner Kehle zurückließ, dass er nur mühsam herunterkämpfte. „Wie?“ „Oh, er ist hier gestorben. Gleich da vorn. In der Hütte, die ihr zerlegen musstet. Als der Sadoaner Tenseiga abgeholt hat, hat er den armen, alten Floh mitgebracht. Die Suche nach dir, die Schlachten des Fürsten und sicherlich auch Sesshōmarus unmittelbare Nähe selbst... sein altes Herz hat versagt. Einfach so aufgehört zu schlagen. Plopp.“ Wie eine Katze, die einem schlafenden Hund über die Pfoten schleicht, legte Tōtōsai die Hände behutsam an Minorus Oberarme. Seine langen Finger strichen spinnengleich über die feine Seide. „Bedauerlich, dass du nun erst kommst. Er war vernarrt in dich, Junge. Vielleicht hätte ihn das Wissen um dein Wohlergehen beruhigt. Zumindest wäre er friedlicher gestorben.“ „Tōtōsai, das reicht jetzt. Lass ihn in Ruhe“, zischte Kaito, der zu seinem Vetter aufgeschlossen hatte und die Zähne bleckte, während Minoru die Berührungen des Alten mit der Andeutung eines Stirnrunzelns wahrnahm und ihm schließlich in die großen, lauernden Kuhaugen blickte. „Nimm deine Hände von mir.“ Das Lächeln des Schmieds wurde abstrus breit, gelb und gierig. „Aber natürlich“, säuselte er selbstzufrieden, ließ ebenso vorsichtig von ihm ab, wie er sich genähert hatte – und strich im letzten Moment über Minorus Wange, ehe er augenblicklich aus der Gefahrenzone hechtete und den Inu perplex zurückließ. Der fuhr sich mit dem Handrücken durchs Gesicht und spürte ungläubig dem Gefühl von Feuchtigkeit auf bloßer Haut nach. Hatte er etwa -? „Hey. Entschuldige, was ich eben gesagt habe. Ich wusste nicht, dass er tot ist.“ Immer noch verwirrt wandte sich Minoru zu Kaito, der im angemessenen Höflichkeitsabstand herangetreten war und den direkten Blickkontakt mied. „Es tut mir leid, dass du ihn verloren hast.“ Minoru betrachtete Kaito schweigend. Hätte er nicht gerade eine neuzeitliche Reise voller menschlicher Anwandlungen hinter sich gebracht, hätte ihn das aufkommende Mitleid nun sicherlich den kläglichen Rest Selbstbeherrschung gestohlen. Doch die vergangenen Jahre hatten ihn gelehrt, dass Mitleid den Menschen keineswegs nur als Mittel diente, das Gegenüber herabzuwürdigen. Und so abweisend Kaito ihm gegenüber sonst verfuhr, war auch hier kein süffisanter Unterton zu hören. „Danke.“ Kaito, sichtlich verwirrt, dass sie darüber nicht aneinander geraten waren, hob nun doch den Blick. „Mir war nicht klar, dass der Floh dir etwas bedeutet. Wenn du allein sein willst, gehe ich.“ „Mit welchem Herzen hätte er mir auch was bedeuten sollen?“, erwiderte Minoru kraftlos. Ohne jeden Biss. Er rechnete damit, dass sein Vetter diese Wiederholung seiner eigenen Worte als Provokation auffassen und aus der Haut fahren würde. Stattdessen blieb der eine Weile stumm. „Wenn ich wütend bin, darf man mir manchmal nicht zuhören“, sagte er schließlich. „Vorsicht, Kaito, deine Menschlichkeit kommt durch. Man könnte meinen dein Mitleid lässt dich Fehler einräumen.“ Der knurrte angesäuert. „Nun werd' nicht gleich eingebildet. Sonst könnte man stattdessen annehmen, du seist nicht in der Lage, mit so etwas umzugehen.“ „Das bin ich auch nicht.“ Der Kopf seines Vetters schnellte ob der unerwarteten Wahrheit so abrupt herum, dass Minoru beinahe nach Lächeln zumute war. „Nicht gut jedenfalls. Ich behaupte, ich wurde im Vorfeld etwas abgehärtet. Oder weichgewaschen... wie du willst. Aber sei's drum. Danke. Ich weiß das zu schätzen.“ „Und du bist ganz sicher, dass sie dich nicht zwischendurch vertauscht haben, ja?“ „Ich-“ „He!“, gnarzte der Alte schließlich dazwischen und beide rissen die Köpfe zu ihm herum – Minoru im vagen Bewusstsein, dem Schmied für die Überschreitung gewisser Grenzen vor wenigen Augenblicken noch eine Reaktion schuldig geblieben zu sein und Kaito im Unglauben an den Wahn des Alten, die Aufmerksamkeit seines Vetters wieder auf sich zu ziehen, nachdem er ihm so bereitwillig den runzeligen Hintern gerettet hatte. „Hört auf zu tratschen und macht euch nützlich! Trockenes Zypressenholz, Quellwasser und rote Spinnenlilien. Na los, macht schon! Oder glaubt ihr so ein Schwert schmiedet sich von allein?“ 狐 Als Saburō lange nach Sonnenaufgang erwachte und auf die Schale mit Eintopf starrte, die ihm unvermittelt ins Gesicht gehalten wurde, hätte Kōhei viel dafür gegeben, den Gesichtsausdruck für die Nachwelt bewahren zu können. Nicht so sehr alles andere, denn Saburō sah weiterhin aus wie das erbarmungswürdige Elend persönlich. Wenigstens die Blutungen an seinem Hals waren unter der Wärme des Lagerfeuers zum Erliegen gekommen und auch der bläuliche Schimmer seiner Haut war gewichen. Ungläubig nahm der Fürstensohn den Eintopf entgegen. „Wann-?“ „Ich reise mit einem Haufen Akademieabsolventen. Essen aus dem Hut zu zaubern gehört zu meinen leichteren Übungen.“ Nachdem er die halbe Schale geleert hatte, schenkte Saburō ihm ein halbherziges Lächeln, das alles über die Komposition von Fisch und zerkochtem Reis aussagen mochte. Ehe er sich jedoch dem Seidenverband an seinem Hals zuwandte, verging auch nach dem Essen eine ganze Weile in Stille. Fahrig tastete er über die aufgeworfenen Wundränder der Krallenspuren, bevor er das von Kōhei bereitgestellte Wasser nutzte, um seinen Hals vom getrockneten Blut zu reinigen. Im Großen und Ganzen war Kōhei mit der Heilung der letzten Stunden zufrieden. Die Klauen hätten mehr Schaden anrichten können, doch Saburō war der Atemnot zu schnell erlegen, um während der Agonie wichtige Muskeln oder Gefäße zu durchtrennen. Ein paar Wunden waren tief genug, um im schlechtesten Fall Narben zu hinterlassen, doch alles in allem hatte er Glück gehabt. Dennoch legte sich beim Anblick der Wundfläche ein Schatten über Kōheis Miene, als er zwischen alledem im Schwinden begriffene Würgemale bemerkte. Saburō sah die Falten auf seiner Stirn und hielt inne, tastete erneut über seinen Hals. „Es verheilt gut“, wiegelte der General die Unsicherheit ab, die sein Ausdruck hervorgerufen haben musste. „Einen sauberen Seidenverband, etwas Spitzwegerich und Ruhe. Dann sollte Euch Eure Haut die grobe Behandlung vergeben.“ Und Schweigen. Schweigen war mit Sicherheit die beste Medizin für alle Beteiligten – Saburōs Hals eingeschlossen, wenn auch nicht vorrangig bedacht. Wobei dieses Mal fraglich war, ob die übliche Distanz sich nicht rächen würde. „Aber?“ „Ich begreife nicht, wie es überhaupt dazu gekommen ist. Und woher die Würgemale stammen.“ Saburō, der offenbar damit gerechnet hatte, dass Kōhei sich wie üblich desinteressiert gab, überkam zum ersten Mal so etwas wie Unbehagen, das Kōhei mit einer Mischung aus Genugtuung und böser Vorahnung wahrnahm. Er würde sich in dieser Situation nicht den Fallstricken von Fragen ergeben, die man für ihn sponn. Nicht, wenn die Gefahr bestand, dass sich das Drama in seinem Beisein wiederholte und er anschließend für den Tod des Erben verantwortlich gemacht werden konnte. Was der Fürst schlussendlich aus einem solchen Szenario machen würde, war wahrlich fraglich, doch Kōhei würde es noch in Jahrhunderten nachhängen, wenn er versäumte, den Fürstensohn am Leben zu halten, bis man ihm etwas anderes befahl. „Kugutsu.“ „Ein Puppenspiel? Geht das vielleicht auch etwas genauer? Und überspringt nicht den Teil, wo Ihr mir verkaufen wollt, Kugutsu schade seit neustem dem Anwender.“ Saburō gab ein kratziges Lachen von sich. „Fordernd, General.“ „Warum so ausweichend? Im Chūgoku habt Ihr mir Euer Schicksal noch achtlos vor die Füße geworfen.“ Die Miene des Silberfuchses verfinsterte sich, bis sie jeden Schimmer von Amüsement verloren hatte. „Es ist ein Puppenspiel“, versicherte er. „Im Grunde jedenfalls. Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin. Dass ich den Palast überhaupt verlassen habe und er darf es auch nicht erfahren. Deswegen reisen wir nicht mit dem Heer, dessen Gesellschaft Ihr so offenkundig nachtrauert. Es sind zu viele Augen, die mich sehen, zu viele Fragen, die aufkommen würden. Aber den Fürsten des Südens zu täuschen ist kein Kinderspiel. Eine Puppe aus Yōki und Kleie allein könnte ihn nicht eine Minute glauben machen, dass ich in seiner Nähe bin. Deswegen liegt außerdem eine Doppelgänger-Technik über dem Golem.“ Einen Hehl aus seinem Unglauben zu machen, war verschwendete Liebesmüh. Lange sagte Kōhei nichts, bevor er sich schließlich vorlehnte: „Ihr wollt mir weismachen, dass Ihr ein Kugutsu über mehrere Tagesreisen Fußmarsch aufrechthalten könnt. Dass ein Doppelgänger im südlichen Palast nicht bei jedwedem Schaden in Rauch verpufft wäre und erklärt mir immer noch nicht, woher diese Würgemale stammen.“ Das alles ergab wenig Sinn. Puppenspieler mussten gemeinhin in einer kräfte- und aufmerksamkeitszehrenden Verbindung zur Marionette bleiben, um deren Bewegungen nicht übermäßig hölzern und die Interaktion mit anderen natürlich wirken zu lassen. Ein Haufen nasser Erde war allein ebenso wenig zu glaubhaften Konversationen fähig wie ein Doppelgänger, der wenigstens in Ansätzen selbstständig handeln konnte. Dass Saburō in der Lage war, eine täuschend echte Version seiner selbst mit einem Doppelgänger zu projizieren, stand nach dem, was er mit dem Menschenkopf vollbracht hatte, außer Frage. Doch es gab Grenzen der Magie, die für jeden galten. So mächtig er auch sein mochte, auch sein Doppelgänger hätte sich bei einer Verletzung unmittelbar aufgelöst. Und beides, weder der Angriff auf Doppelgänger noch Kugutsu, hatten Auswirkungen auf den Anwender. Es war nur Blendwerk; vergängliche Ablenkungsmanöver und genau deswegen kaum verlässlich. Es sei denn - „Denkt nicht so geradeaus, nur weil ich es bin, General. Die Kombination aus beidem macht die Illusion belastbar. Der Doppelgänger löst sich wegen des Kugutsu nicht auf und das Puppenspiel wird durch die Illusion echter und selbstständiger. Die Methode ist ausgiebig geprüft. Als Kind habe ich meine Mutter damit in den Wahnsinn getrieben. Zumal es die meiste Zeit wenig Aufwand kostet, die Illusion aufrechtzuerhalten. Ich bin nicht mehr so viel in Gesellschaft wie früher und bei Besprechungen ist lediglich meine körperliche Präsenz gewünscht. Es fällt nicht auf, wenn ich mein Zimmer lange nicht verlasse und für Kleinigkeiten übernimmt meine Mutter.“ „Takara weiß, dass Ihr fortgegangen seid? Dass sie bei dem Versuch, Euch zu decken-“ „Ihr Leben riskiert? Sie ist meine Mutter, Kōhei, und mein Vater ein Scheusal. Glaubt Ihr wirklich, sie würde mich verraten, um sich ein Leben als seine Hure zu erhalten? Ihm zu Diensten, wenn ihm der Sinn danach steht, während ihre Familie für ihre Unterwerfung am Abgrund des Todes tanzen muss? Kaum.“ Er atmete tief durch, rollte die Schultern nach hinten und hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln. „Das Manöver hat einwandfrei funktioniert. Bis ihn gestern Abend etwas verärgert hat und er einem seiner Wutanfälle erlegen ist, die ich Euch wohl nicht näher erläutern muss. Er hat zwar nur die Puppe angegriffen, nicht mich, aber in diesem Fall ist das beinahe dasselbe. Alles hat seinen Preis. Die Funktion des Kugutsu kann ich auf diese Entfernung nur sicherstellen, wenn ich in die Verbindung investiere. Er kann mich potentiell töten, wenn er die Puppe vernichtet. Das ist der Haken daran.“ „Ihr seid wahnsinnig“, beschloss Kōhei rundheraus, ohne ein weiteres Mal darüber nachzudenken, dass das allem widersagte, was er sich im Umgang mit dem Erben seines Herrn vorgenommen hatte; wieder einmal. Nur ein Irrer würde eine solche Verbindung zu einem Gegenstand überhaupt in Erwägung ziehen, wobei man vermutlich schon am Verstand desjenigen Zweifeln musste, der sich derart gegen den Fürsten stellte. Diese Kombination diverser Techniken allein hätte manch armen Narren mit dem Tod begrüßt. Aber noch dazu die Entfernung – zum wiederholten Mal wanderte Kōheis Blick über den schwarzen Pelz an Saburōs Kragen. Was würde ihm all die Macht am Ende seiner Intrigen nützen, wenn sein Vater ihn niederstreckte? Zumal es lächerlich einfach war, eine Puppe zu zerstören, die kaum Gegenwehr leisten konnte. So ausgeklügelt die Technik auch war, es machte ihn verwundbar wie keine zweite. Lediglich dass Saburō noch vor ihm saß, legte nahe, dass Hayato von ihm abgelassen hatte und das Spiel trotz der nötigen Wiederbelebungsmaßnahmen vergangene Nacht noch nicht aufgeflogen war. Die Selbstbeherrschung des Fürsten war dürftig und angesichts einer solchen Täuschung hätte er seinem Sohn ein schnelles Ende bereitet und sich die grausamen Methoden für dessen Mutter und Tochter aufgehoben. „Wozu das alles? Um mir einen falschen Marschbefehl aufzutischen?“ „Der Marschbefehl ist keineswegs eine Lüge. Er sollte nur nicht durch mich überbracht werden.“ „Dann sagt mir, worum es hier geht. Wenn Euer Vater herausfindet, dass Ihr ihn mit einer Puppe zum Narren haltet, ist es Euer sicherer Tod.“ „Worum es immer ging: Den Süden. Wir werden untergehen, wenn meinem Vater weiterhin freie Hand gewährt wird. Er hat uns bereits mit dem Rücken an die Wand gestellt, nun verfüttert er uns an die Drachen. Ich habe keine Beweise, die ich Euch vorlegen kann, nur Vermutungen und gesunden Verstand. Aber kommt es Euch nicht auch absonderlich vor, dass uns der Osten nach vier Jahren immer noch nicht das Schwert an die Kehle gesetzt hat? Ihre Hilfegesuche haben wir mit halbherzigen Ausflüchten und Aufrüstung beantwortet – und sie tun nichts. Stattdessen Schweigen sie, spielen mit den Hunden Katz und Maus an den Grenzen und tun so, als seien wir nicht existent. Entweder überrennen sie uns mit aller Macht, wenn sie mit dem Westen fertig sind oder aber – nun, das könnt Ihr Euch selbst denken.“ „Oder der Fürst hat ein Abkommen mit den Drachen, das unser Verhalten billigt.“ Es war das erste Lächeln seit geraumer Zeit, das sich in die Mundwinkel des Erben schlich: „Ich sagte ja, ich vermisse Euch bei den Besprechungen. Ja, möglicherweise hat er ein Abkommen mit den Drachen, über das er niemanden in Kenntnis setzt. Das sähe ihm ähnlich. Aber was würde das bewirken? Eine schriftlich zugesicherte Loyalitätsbekundung meines Vaters ist das Papier nicht wert, auf dem sie verfasst wurde. Ebenso viel halte ich von Bündnissen mit Drachen. Das sind alles reine Luftschlösser, die sich nicht einmal die Mühe machen, solide zu wirken. Ich habe sämtliche Szenarien so lange durchgespielt, bis selbst ich es mir aufschreiben musste. Und das ernüchternde Fazit ist, dass selbst wenn keine der Parteien lügt – was so lächerlich unwahrscheinlich ist, dass ich mich selbst für den Gedanken auslachen will – die Drachen den Süden unter ihre Vorherrschaft stellen werden. Vielleicht nicht mit Krieg, dann aber durch ihre bloße, offenbar unsterbliche Existenz. Doch dazu müsste jemand erst einmal den Westen in die Knie zwingen.“ Kōhei betrachtete den Silberfuchs eine Weile, dann wandte er sich dem Feuer zu, das unter dem Suppentopf knisterte. 'Ein Herr, der niemals sterben wird', hatte Saburō die Drachen auf der ersten Besprechung genannt. Die Meinungen des Rates hatten wie erwartet zwischen Enthaltung und einem Bündnis mit der wahrscheinlichen Siegerseite geschwankt. Kōhei selbst war bislang immer zu demselben Schluss gekommen, den auch Saburō gezogen hatte: Siegten die Drachen, würden sie ganz Japan unterjochen – und das zeitnah. Dabei machte es keinen großen Unterschied, ob sich der Süden nach einem verlustreichen und aussichtslosen Kampf in den Staub warf oder für eine Weile vorgab im Bündnisverhältnis auf Augenhöhe zu existieren – eine Augenhöhe auf der sich sicherlich auch die Panther gewähnt hatten. Die waren nun nichts weiter als Fußvolk und so naiv wie überheblich, wenn sie wirklich gedacht hatten, mit der Totenerweckung der Drachen irgendwelche Sympathiepunkte einzuheimsen. Nein, wer heute vom Osten sprach, sprach von Drachen. Die einzige Chance des Südens, der Vorherrschaft der Echsen zu entgehen, war ein Sieg der Inu und der brachte andere Probleme mit sich: Auch wenn Sesshōmaru nach vier entbehrungsreichen Jahren die Eroberung hinter einem Wiederaufbau zurückstellen würde, war es nur eine Frage der Zeit, wann er seine Expansionspläne und Rachefeldzüge wieder aufnahm. Damit wären sie erneut auf dem altbekannten Status quo, der vor der Wiederkehr der Drachen geherrscht hatte: Einem unausstehlichen, äußerst nachtragenden Hund. „So weit waren wir schon mal“, entschied Kōhei schließlich. „Wir drehen uns stetig im Kreis. Nach einem Sieg gegen die Drachen könnte man versuchen, die Schwäche des Westens auszunutzen. Aber ihr Sieg ist ohnehin unwahrscheinlich und selbst wenn -“ „Dann wäre da immer noch Akaya, nicht wahr?“ Kōhei zischte leise. Immer wieder weigerte sich sein Verstand dieses Variable aus dem Raum von Legenden in die Wirklichkeit einzubeziehen. Es hätte bedeutet, sich einer Situation zu stellen, die jede Hoffnung zerschmetterte. Der Inugami mochte in Anbetracht untoter Drachen keinen Mehrwert haben – sonst hätte man ihn sicherlich mittlerweile auf den Plan gerufen –, aber dass er den Lebenden verheerenden Schaden zufügen konnte, hatte er im Laufe der Geschichte mindestens einmal bewiesen. Es blieb natürlich die Möglichkeit, dass ihn die Nöte seiner Nachkommenschaft nicht im Geringsten interessierten, aber darauf wollte nun wirklich niemand eine Strategie gründen. Allmählich begriff Kōhei, warum Saburō die Information über Akayas Fortbestand im Chūgoku-Gebirge derart aus der Fassung gebracht hatte. Die Lage des Südens war nicht einfach kritisch, sie war die Entscheidung zwischen zwei Abgründen. Die Frage war lediglich, ob man lieber zwischen Fell oder Schuppen zugrunde ging. Unruhig raffte sich Kōhei auf, verschränkte die Arme vor der Brust und begann mit schlagenden Schweifen durch das Lager zu streifen. Auf den ersten Blick erschien Fell als die angenehmere Variante. Mit dem Stolz der Inu konnte man kalkulieren und wenn man ihnen nicht gleich nach einem gemeinsamen Kampf gegen die Drachen in den Rücken fiel, würde genau dieser Stolz vermutlich dazu führen, dass sie von Akayas Beschwörung absahen und einen Krieg gegen den Süden nur aus eigener Kraft anstrebten. Das verschaffte Zeit. Sesshōmaru war allerdings ein Problem: Er hielt nichts von Bündnissen und es war nicht anzunehmen, dass sein bevorstehender Untergang seine Meinung ändern würde. Sicherlich konnten sie ohne seine Zustimmung eingreifen, aber Kōhei ahnte, dass dem Mann auch hier Stolz vor Verstand kam und er womöglich eher einen Zweifrontenkrieg gegen seine ungebetene Unterstützung beginnen würde als Hilfe anzunehmen. Vor allem solange es da noch diese eine Rechnung zu begleichen gab. Ernüchtert hielt er inne. „Es bleibt also dabei, den Sündenbock zu opfern.“ „Endlich sprechen wir dieselbe Sprache.“ Über Saburōs Züge lege sich eine gefährliche Niedertracht. „Wir müssen allerdings noch dringend an der Grammatik arbeiten: Es sind Sündenböcke und Ihr gehört nicht dazu. Ganz im Gegenteil: Ihr seid meine einzige Hoffnung, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.“ Da war sie. Jene offene Einladung zu Verrat, die Kōhei seit geraumer Zeit gewittert hatte. Andeutungen waren mit jeder erzwungenen Zusammenkunft ausreichend gefallen und Saburō hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Schlinge zu verbergen, die er allmählich um Kōheis Hals zugezogen hatte. „Ich wusste, es war ein Fehler, mit Euch zu reden.“ „Mit mir zu reden war die beste Entscheidung, die Ihr treffen konntet“, erwiderte der Schwarze bar jeden Lächelns, das Zweifel an seinen Worten genährt hätte. „Diese Unterhaltung ist überfällig, seitdem wir uns in Akashi begegnet sind. Wenngleich mir bewusst ist, dass Ihr mir damals zu feindselig gegenüberstandet, um mir Gehör zu schenken.“ „Und nun seid Ihr der Meinung, meine Einstellung habe sich in irgendeiner Form geändert.“ „Grundlegend“, erwiderte Saburō prompt und überging den abfälligen Ton der Aussage mit einer Selbstverständlichkeit, die Kōheis Spott dumm und kindisch wirken ließ. „Das ist lächerlich.“ „Oh, Ihr liebt mich nicht gerade.“ Die Brauen des Silberfuchses wanderten ein Stück in die Höhe, während er das Kinn auf die verschränkten Hände vor sich stützte und wissend zu Kōhei aufsah. „Ich kann Euch das Unbehagen ansehen; das Widerstreben, wenn ich in Eurer Nähe bin, das Wort an Euch wende und im schlimmsten Fall auch noch Antworten verlange. Weil Ihr mir nicht vertraut – was Euer gutes Recht ist – und ich die Dreistigkeit besitze, den Finger in Wunden und verbotene Gedanken zu legen. Weil ich Euch den Spiegel vorhalte und Ihr darin all die Dinge seht, die meinen Vater reizen könnten. Ihr habt gelernt seine Launen vorauszuahnen, den Kopf im rechten Moment einzuziehen, zu überleben... ein Talent, das mir offensichtlich abgeht und um dessen Notwendigkeit ich Euch auch nicht beneide. Bei diesem Drahtseilakt bin ich nicht nur unbequem, sondern gefährlich, und Bedrohungen liebt niemand. Aber Ihr habt keine Angst vor mir persönlich. Deswegen unterlaufen Euch schnippische Ausbrüche oder Drohungen wie gestern, als ich Euch auf Euren Jungen angesprochen habe. Eine Anmaßung, die ich begrüße. Es ist mir recht, wenn ich Euch unbequem bin, Ihr mich nicht leiden könnt und Euch mir gleichstellt. Ich nehme lieber Wut und Spott als Eure furchtsame Demut. Unterdrückung und Angst bilden keine sichere Basis. Weder für Herrschaft noch für Kooperation. Und manchmal braucht die keine Sympathie, sondern nur einen einzelnen gemeinsamen Nenner.“ Kōhei starrte ihn an. Was keinen Haarriss hätte aufweisen dürfen, lag nicht etwa nur als niedergerissene Mauer am Boden, sondern war in alle Winde zerstreut. Es gab keine Hierarchie mehr zwischen ihnen. Keine sichere Zone höfischer Floskeln und Gepflogenheiten. Nichts als freies Feld – und Kōhei ahnte bereits ehe Saburō erneut den Mund aufmachte, dass es von hier aus nur einen Weg gab: Nach unten. „Ich will ganz offen sein: Ihr habt zwei Probleme, Kōhei. Zwei Probleme, die Euch zu Fehlschlüssen führen und bei all Eurer Auffassungsgabe nicht klar sehen lassen: Angst vor meinem Vater und die absolute Verkennung des eigenen Wertes. Vor unserem Treffen, als ich noch allein auf Berichte angewiesen war, hatte ich Sorge, Machterhalt könne Euch zu viel bedeuten. Eine Position als General, rechte Hand des Fürsten, ein Sitz am Tisch des Rates, öffentliches Ansehen. Ich war erleichtert und entsetzt wie gleichgültig, ja sogar unbewusst Euch diese Umstände sind. Ihr seht Euch nicht als erhabenen Heerführer neben meinem Vater. Benehmt Euch auf den Ratsversammlungen wie ein Beisitzer, dem man nur aus reiner Güte erlaubt, dem Treffen der Obrigkeit beizuwohnen. Das Gehabe von Überlegenheit geht Euch gänzlich ab. Mit einem solchen Hoffnungsschimmer hatte ich nie gerechnet.“ „Was auch immer Ihr Euch über mich zurecht reimt, ist bedeutungslos. Ich bin es nicht, der Euch einsperrt wie Vieh und nach Belieben das Fleisch von den Knochen und Eure Rippen auseinanderreißt. Sorgt Euch um Euren Vater.“ „Mein Vater war nie das Problem. Seine Leute folgen ihm aus Furcht, Ihr folgt ihm aus Gründen, die sich mir darüber hinaus nicht erschließen. Er ist ein lästiger Platzhalter ohne Rückhalt. Erst recht seitdem meine Halbgeschwister sich gegen ihn gewandt haben. Er hat sich selbst ins Fleisch geschnitten, als er mich gezwungen hat, Akemi so ungebührlich zu behandeln. Ich hatte ihn für unbedacht gehalten, aber das übertraf all meine Erwartungen, auch wenn ich sehr wohl weiß, was er sich aus dieser Verbindung erhofft. Nein, General. Das wirkliche Problem seid immer Ihr gewesen.“ „Was für ein absoluter Unsinn.“ „Verkennung des eigenen Wertes“, wiederholte Saburō in einem so vorwurfsvollen Ton, dass man annehmen mochte, es kränke ihn persönlich. „Wessen Befehl folgt das Heer? Wem gehört ihre Treue? Behandelt der Fürst seine Akademieabsolventen wie die Kinder, die sie sind? Schlägt er sich die Nächte um die Ohren, um jeden von ihnen nur zum höchstmöglichen Preis an die Feinde zu opfern oder ist er damit beschäftigt, ihre seelischen und körperlichen Wunden zu lecken? Wem würden Jirō, Shippō und all die anderen wirklich folgen, wenn sie sich entscheiden müssten? Wenn ihr glaubt, sie sähen nicht, wer in ihrem Sinne handelt und wer der Fremde ist, seid Ihr so blind. Wir sind Kitsune, mein Freund. Überlasst den ehrenvollen Gehorsam dem Westen. Wenn Ihr gewollt hättet, wäre der Süden seit Jahrhunderten Euer.“ „Wagt es nicht, mich einer Revolte zu bezichtigen!“ „Ich wünschte, ich könnte!“, Saburō warf verzweifelt die Hände in die Luft. „Ich wünschte, Ihr hättet mehr Ambitionen, so viel Selbstvertrauen wie Selbstlosigkeit! Dann wären wir nicht in dieser ausweglosen Situation. Gestraft mit einem Fürsten, der nicht einmal eine Familie führen sollte, geschweige denn ein ganzes Reich! Aber ich könnte Euch den Süden auf einem Silbertablett präsentieren, von all meinen Ansprüchen zurücktreten und Euch öffentlich anflehen, seinen Platz einzunehmen und wüsste dennoch, was die Antwort wäre.“ „Nein.“ Laut stöhnend fiel der Silberfuchs ins Gras zurück, presste die Hände an die Schläfen und verzog angesichts des schmerzenden Körpers das Gesicht. „Manchmal hasse ich Euch. Hasse Euch so sehr, dass es mir die Kehle verbrennt.“ „Ratet Ihr mir als nächstes, stattdessen Euren Anspruch zu bestärken und die Armee an Eure Seite zu stellen über die ich angeblich so frei verfüge? Das wäre doch etwas platt, findet Ihr nicht?“ Saburō schnalzte abfällig mit der Zunge, machte sich aber nicht die Mühe, sich wieder aufzurichten, sondern starrte stattdessen geschlagen in den blauen Morgenhimmel. „Da sind wir noch lange nicht. Zunächst sollten wir und dringend klar werden, wie wir dieses Pseudoabkommen mit dem Osten nutzen, um die Drachen auszuschalten ohne die Inu dabei gleich Anlass zum nächsten Krieg zu geben. Wir brauchen ihre Einwilligung für einen Kriegseintritt an ihrer Seite – oder zumindest eine Akzeptanz im Nachhinein.“ „Ihr werdet weder das eine noch das andere erhalten.“ „Glaubt Ihr, ich habe das Leben dieser missratenen Hündin aus reiner Provokation verschont? Nicht weit hergeholt, wenn ich recht bedenke, aber nein.“ „Sesshōmaru wird Eure kleine Aufmerksamkeit nicht einmal dann eines Blickes würdigen, wenn Ihr Masuko ein Schleifchen um den Hals bindet.“ Saburō schnaubte. „Ich habe noch ein, zwei andere Geschenke für ihn, aber nein, natürlich wird er nicht. Der unerbittlicher Starrsinn dieses Mannes wird nur durch seinen Stolz übertroffen. Er wird niemals mit sich reden lassen, ehe die Kränkung beglichen ist. Aber um ihn geht es auch gar nicht. Es geht um den Jungen.“ Kōhei lachte heiser. „Um Minoru? Ihr scherzt. Er ist der Sohn seines Vaters.“ „Ja. Eben das“, erwiderte Saburō trocken. „Wie erbarmungslos und bestialisch kann er also schon sein?“ Kōhei schickte Dank in die Leere, dass Saburō weiterhin den Morgenhimmel studierte und nichts von dem Schlag mitbekam, den er ihm damit versetzt hatte. Sein Mund war so trocken geworden, dass er die Zunge pappend vom Gaumen lösen musste. „Wisst Ihr, wo er ist? Ist es das?“ Das brachte Saburō nun doch wieder auf die Beine. Er starrte Kōhei an, schien zu begreifen, was er mit seinen Überlegungen neben dem geplanten Seitenhieb noch angedeutet hatte und holte tief Luft, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein, entschuldigt. Weder bin ich für sein Verschwinden verantwortlich, noch weiß ich, wo er ist.“ „Dann sind all Eure Überlegungen hinfällig. Nur ein Narr würde nach vier Jahren noch hoffen, wenn nicht einmal die Inu ihn gefunden haben.“ „Dann kann ich einen Narren beruhigen.“ „Ihr sagtet -“ „Dass ich nicht weiß, wo er ist. Jedenfalls nicht genau. Ich habe nie behauptet, dass ich ihn für tot halte.“ Kapitel 57: Doch all das steht zurück ------------------------------------- Er mochte Minoru nicht für tot halten, doch eine fundierte Aussage über seinen Verbleib hatte auch Saburō nicht vorbringen können. Nicht einmal er, der seine Augen überall zu haben schien, konnte mehr als Hörensagen wiedergeben. Ein Drachenangriff auf ein unbedeutendes Dorf im Nirgendwo, ein halbwüchsiger Daiyōkai zwischen den Fronten, und ein Kampf irgendwo im Wald mit zwielichtiger Beteiligung von Hanyōs und menschlichem Abschaums. Die Berichte von Gift beunruhigten Kōhei, doch es gab nichts handfestes. Keine Leiche, keine Sichtungen, kein Zeichen, dass die Drachen ihn ergriffen hatten. Der Junge war gut darin, für Jahre unterzutauchen, das wusste Kōhei am besten, doch er bezweifelte, dass er sich der intensiven Suche des Westens lange hätte entziehen können. Unterm Strich also keine Gewissheit, außer der, dass Saburōs Ränke seinen Ziehsohn nicht in der Versenkung hatten verschwinden lassen – zumindest wenn man seinen Worten Glauben schenken konnte. Indes heilten Saburōs Wunden, aber es hätte einige Tage gebraucht, um ihn zu Kräften kommen zu lassen. Tage, die sie nicht hatten. Laut den Berichten ballten sich die Kriegsfronten zusammen wie ein aufziehendes Unwetter und das Heer benötigte gerade jetzt wachsame Augen, um einen Zusammenstoß mit anderen Truppen zu vermeiden. Dennoch. In dieser Verfassung war der Silberfuchs gelinde gesagt zu nichts nutze und das zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Kōhei wagte die Querung des Westens mit diesem Haufen Elend nicht einmal in Etappen in Erwägung zu ziehen. Er war diese Mischung aus zusätzlichem Ballast und lohnendem Ziel, die Ärger über Meilen hinweg anzog. Noch konnte Saburō unmöglich die Form wandeln und eine Flugstrecke von mehreren Stunden bewältigen – selbst wenn Kōhei die kürzeste Route in die Ebenen wählte, die vermutlich genau aus diesem Grund am strengsten überwacht wurde. Sie hatten also keine andere Wahl, als eine weitere Nacht am Ufer des Biwa-Sees zu lagern und am folgenden Morgen die Situation neu zu bewerten. Der Silberfuchs lag in der prallen Nachmittagssonne und machte dankenswerterweise den Eindruck, als plage ihn der Hauch eines schlechten Gewissens. Zumindest hatte er sich Kōheis Anordnungen, als nachdrückliche Ratschläge verpackt, nach kurzer Diskussion gebeugt und anschließend den Großteil des Tages geschwiegen. Dennoch hoffte Kōhei, dass diese Heimsuchung eines Erben aus der Hitze und dem umliegenden Land ausreichend Kraft schöpfte, um am kommenden Tag wieder zu seinem scharfzüngigen und großkotzigen Selbst zurückzufinden. Nicht, dass irgendjemand seiner Mentalität auch nur im Mindesten nachgetrauert hätte, aber spätestens morgen wäre ihre Armee an ihnen vorübergezogen und würde blindlings durch den Westen tappen – im Glauben, er spähe ihnen den Weg aus. Kōhei biss die Zähne zusammen und schob einige Äste in die Glut, um das Feuer am Leben zu halten. Saburō schlug bei dem Knistern ein Auge auf. „Wenn Ihr ausreichend wach seid und es erlaubt, würde ich Eure Bandagen wechseln“, bemerkte Kōhei, während Saburō ihn ausdruckslos betrachtete. „Man könnte meinen, Ihr wolltet einem kleinen Kind das Händchen halten, General. Euer Kind ist mehrere hundert Kopf stark. Verschlagene, kampferprobte Illusionisten, die Ihr selbst ausgebildet habt. Wo ist Euer Vertrauen in die Fähigkeiten Eurer Männer?“ Allein sein ungewöhnlich neutraler Tonfall hielt Kōheis Gemüt davon ab, erneut in irgendeine Richtung zu schwanken. Solange Saburō nicht spöttisch klang, konnte Kōhei sich einreden, die Stacheln des Igels seien weich. Zumindest, wenn er sich darum bemühte. Wenigstens war er nicht so töricht anzunehmen, die Sorge gelte ihm. „Meine Männer sind fähig und zuverlässig. Aber ich wäre ein miserabler Heerführer, wenn mich der Stolz für die Gefahren blind machte – oder für die Fähigkeiten meiner Gegner. Den Westen zu durchqueren war schon früher ein Himmelfahrtskommando gewesen. Nun mehrere hundert Mann durch seine Wälder zu führen, grenzte an Wahnsinn, wenn ich nicht um ihre Eignung wüsste.“ „Und dennoch könnt Ihr den Gedanken nicht ertragen, tatenlos die Hände in den Schoß zu legen.“ „Mit Verlaub, Kōtaishi. Wenn ich das könnte, wäre ich kaum der rechte Mann für den Posten.“ Er lächelte schmal: „Wie Ihr Euch an so hohen Idealen messen könnt, während Ihr anderen keine abverlangt, übersteigt meinen Horizont.“ „Ich werde mit Euch nicht erneut darüber sprechen.“ „Die fragwürdige Eignung meines Vaters?“, erkundigte sich Saburō ohne auch nur die Spur eines Flüsterns und Kōhei erwischte sich dabei, wie er sich flüchtig umsah, als könne der Fürst selbst aus einem nahegelegenen Brombeerstrauch erstehen und ihnen die Köpfe von den Schultern lösen. „Die fragwürdige Eignung meines Vaters?“, wiederholte Saburō in einem geheuchelten Flüsterton und riss damit gefährlich an Kōheis Nervenkostüm, das er eben noch gesichert glaubte. Weiche Stacheln, so ein Unsinn! Dieser Igel bestand aus Eisen, aus Gift und Salz und Spott. Bevor Kōhei sich jedoch in diese Unverfrorenheit hineinsteigern konnte, wurde Saburō erneut ernst: „Seid unbesorgt, General. Mir war bewusst, dass Ihr dieses Thema um jeden Preis begraben wollen würdet, sobald wir es einmal verlassen hatten. Ihr fürchtet ihn und ich kann es Euch nicht verdenken. Wahrlich nicht...“ Er schloss die Augen und atmete angestrengt, während er eine Hand auf seinem Brustkorb ruhen ließ. „Lasst mich nach Euren Wunden sehen“, insistierte Kōhei und kniete vor Saburō nieder, nachdem dieser sich umständlich, aber eisern schweigend aufgesetzt hatte. Der Verband aus sauberem Seidenstoff war fest gewickelt, um die kühlenden Lindenblätter zu halten, die Kōhei mit einer Paste aus Spitzwegerich und Ringelblume bestrichen hatte. Während er die Blätter von der aufgerissenen Haut nahm, spürte er, wie Saburōs Blick jede seiner Bewegungen verfolgte. „Ihr tätet wohl daran, meine Vorsicht nicht achtlos zu verwerfen.“ „Ihr haltet mich für kühner als ich bin, General. Kühner und dümmer. Ihr fürchtet meinen Vater, obgleich er wie ich um Euren Wert weiß und Euch dementsprechend zugetan ist. Was wäre ich, dem gegenüber ihm solche Zuneigung gänzlich abgeht, doch für ein Narr, dies nicht zu tun.“ „Dennoch seid Ihr hier“, bemerkte Kōhei und gab sich Mühe, es wertfrei klingen zu lassen. Er wagte kurz hinaufzusehen, doch Saburō schaute glasig über ihn hinweg zum See und schwieg. Erst als Kōhei die Wunden gereinigt und frische Lindenblätter mit der Paste bestrichen hatte, klarte sein Blick auf. „Ich habe Angst“, flüsterte er. „Um meine Mutter, meine Tochter, Akemi. Er wird sie töten, sobald ich ihm einen Grund biete. Töten und schlimmeres, das weiß ich. Wenn er erfährt, dass ich hier bin, mich ihm widersetzt habe – . Doch gehorsam zu verharren, nimmt uns allen nicht das Messer von der Kehle. Es legt die Waffe, die Verantwortung, lediglich von seiner Hand in meine. Zumindest wird er das so darstellen. Dass es mein Handeln war, das meine Familie verdammt hat. Als wäre ich die einzige Variable in einer Rechnung, die den Tod eines kleinen Mädchens und seiner Mutter rechtfertigt.“ Er hielt inne. Nach einer Weile schien er etwas hinzufügen zu wollen, sagte jedoch nichts. „So oder so. Dann wird es jetzt mein Handeln sein, das uns verdammt, nicht meine Untätigkeit. Ich kann nicht warten, bis er meiner nicht mehr bedarf. Mir läuft die Zeit davon, Kōhei und so vieles mehr. Die Ratssitzungen werden mit jedem Mal unerträglicher. Die Launen des Fürsten, die Drachen, Akemis Schwangerschaft – ich muss handeln, solange noch eine Chance besteht... und solange noch etwas von mir übrig ist. Dennoch – .“ Er brach erneut ab. Kōheis Finger verharrten einen Moment in der Paste aus Spitzwegerich und Ringelblumen. Er dachte an all die Blutergüsse und Narben, die den Körper des Erben bedeckten. Wie abgemagert und kränklich er war und er bemerkte, dass es ihm einen Stich versetzte. Saburōs Gesellschaft war ihm zuwider, seitdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Weil sie Unbehagen nicht nur versprach, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch Gefahr mit sich führte. Saburō war das längst bewusst. Ebenso wie er die Wahrheit vor Kōhei durchschaut hatte: Wäre Saburō nicht der Erbe des Südens gewesen, der sich mit jedem Atemzug seinem Vater verwehrte, so hätte Kōhei seine scharfe Zunge vermutlich amüsiert und sein wacher Verstand – nun, wer würde freiwillig auf den Mann verzichten, der die Schwächen seiner Gegner binnen Sekunden erkannte und maßgeschneiderte Fallstricke für sie sponn? Sicherlich, Kōhei lief Gefahr, dass er genau in diesem Moment Opfer eines solchen Strickes wurde, aber gemäß dem Fall, Saburō habe all dies nur inszeniert, um seinen Blickwinkel zu verschieben, sollte er für diese horrenden Mühen auch den Lohn einstreichen. Wenngleich Kōhei nicht wirklich glaubte, dass all das Scharade war. Dafür kannte er seinen Fürsten zu gut. Einst war er es gewesen, der mit gebrochenen Rippen, Brand- und Schnittwunden versehen worden war. Es war einfacher geworden, nachdem er Einsicht gezeigt und gelernt hatte, den Launen seines Herrn einen Schritt voraus zu sein. Einsicht... . Er sah zu Saburō auf und wusste, wie der es nennen würde: Gebrochen. „Ich fürchte, er hat Eure Schwäche gefunden“, sagte er schließlich nach langer Pause, indes er die tiefste Wunde direkt mit der Salbe betupfte. „Ihr könnt für Euch entscheiden, dass Euer Ziel Euer Leben wert ist. Aber das Eurer Tochter? Das ist schwieriger.“ „Das sollte es nicht sein“, erwiderte Saburō, den Blick weiterhin auf den See gerichtet. „Es sollte eine simple Abwägung sein. Ein Kind oder das Reich.“ Kōhei beendete sein Werk, räumte Paste wie verbliebene Blätter zur Seite und betrachtete Saburō schweigend, bis der ihn schließlich ansah. „Warum seid ihr zu mir gekommen, Kōtaishi? Weil ich der General bin, der Euch die Truppen Eures Vaters einbringen kann – oder ist es meine Absolution, die Ihr wollt?” Lange ruhten Saburōs Augen auf Kōhei, während der sich mühte, der Gewohnheit wegen nicht den Blick vor dem dunklen Bernstein zu senken. Als er jedoch eine Anwort schuldig blieb, erhob sich Kōhei. „Der Truppen ungeachtet – warum ich? Ich bin weder Euer Freund, noch kann ich Euch von irgendetwas freisprechen.“ Saburō wollte den Kopf schütteln, beendete die schmerzende Bewegung jedoch im Ansatz. Sein Blick fuhr gen Himmel und auch Kōhei sah stirnrunzelnd auf, als die Aura erneut aufkam. Schwach, kaum mehr als ein Leuchtkäfer vor dem Firmament einer Neumondnacht, aber dennoch war sie da. Flackerte, verschwand und kehrte zurück; trippelte über Kōheis Nerven wie eine lästige Fliege. Er verspannte sich. Die Region um den Biwa-See war neutraler Boden und so hätten sie hier nach Belieben lagern, leben oder jahrelang im Kreis wandern können, ohne einen politischen Eklat auszulösen. Doch davon abgesehen waren neutrale Regionen so gefährlich wie alle anderen. Mit einem subtileren Auftreten hätte es ein Späher sein mögen, so jedoch war es reine Provokation. Ein Triezen und Locken, das Kōhei unter anderen Bedingungen nur ein müdes Lächeln abverlangt hätte. Mit den Reichen im Krieg und Saburōs schlechtem Zustand schmeckte ihm diese Herausforderung gar nicht. „Gekommen, um zu bleiben“, stellte Saburō trocken fest, als die Anwesenheit erneut durch das dichte Geäst zog. „Tut ihnen den Gefallen und spielt mit.“ Kōhei zögerte einen Moment, gehorchte jedoch widerwillig, als Saburō den Befehl mit einem Blick untermauerte und erhob sich auf Adlerschwingen in die Luft. Bastard! Erst schüttete der Mistkerl sein Leid aus wie einen Eimer Waschwasser, nur um bei Bedarf auf längst eingerissene Hierarchien zurückzugreifen. Sicher kam er sich nun ach so entgegenkommend vor! Ein Befehl mochte Kōhei von der Verantwortung entbinden, wenn er nun in eine offensichtliche Falle stolperte, doch wer würde sich im Zweifelsfall um diese Feinheit scheren? Wütend stieg er über die Baumwipfel empor, wandte den Kopf einmal mehr als nötig von einer Seite zur nächsten und spähte mit den scharfen Augen in das Astwerk dutzende Meter unter ihm; spürte dem Flackern nach, das aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien und doch deutlicher geworden war. Dann bemerkte er die Aura über sich, nur Sekundenbruchteile ehe ein Schatten über ihn fiel, und stellte die Flügel in den Abwind. Der Falke schoss an ihm vorüber durch die Luft und touchierte die Baumkrone einer Ulme. Wenige Sekunden später stürzten zwei der Raubvögel aus dem Geäst hervor – das Yōki vollkommen identisch. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Er fischte den ersten Falken im vollen Flug aus der Luft und trieb die Adlerklauen zwischen die Federn des kleineren Vogels. Der Greifvogel verpuffte in seinem Griff zu einer Wolke aus Rauch und kreischenden Pilzen, die sich an sein Gefieder hefteten wie Kletten. Das Geschrei war ohrenbetäubend und derart schrill, dass Kōhei für einen Moment die Orientierung verlor. Der zweite Falke krachte in ihn hinein. Mitten in der Luft verknäulten sie sich zu einem Wust aus Federn und Klauen, Schnäbeln und Kreischen, bis Kōhei ihn zwischen die Äste einer Eiche schleuderte und die Pilzillusionen im Sturzflug mit smaragdgrünem Feuer niederbrannte. Unmittelbar über dem Waldboden ließ Kōhei alle Verwandlungen von sich abfallen und schnippte den letzten Pilz von seiner Schulter, der den Flammensturm überstanden hatte und nun herzzerreißend im Gras weinte. Saburō bedachte die bizarre Erscheinung mit einem kurzen Stirnrunzeln, dann faltete er die Hände unter dem Kinn und sah zu dem zerzausten Falken, der auf einem naheliegenden Ast landete und fragend den Kopf schief legte. Kōhei spürte, wie die Anspannung weiter in ihm kochte. Kriegslage, Marschbefehl, die vergangene Nacht – es nagte alles schlicht mehr an ihm, als er sich selbst eingestanden hatte. Nur mit Mühe bändigte er den Sturm, der sich in seinen Adern zusammenballte und mit jedem Hauch Adrenalin an der Oberfläche zu tanzen drohte. Als er sprach, war seine Stimme gefasst und angenehm neutral. Wenn er es auch nicht schaffte, das sonst so freigiebiges Schmunzeln auf seine Züge zu pressen. „Viel zu offene Provokation. Insbesondere in Anbetracht deiner Gegner. Ansonsten saubere Verwandlung und Verdopplung und ich mag die Pilze. Nicht besonders furchteinflößend, aber mit Unterhaltungswert.“ Shippō zog ein Gesicht wie nach drei Tagen Dauerregen und sprang auf den moosbedeckten Boden. „Ihr seht aber nicht besonders amüsiert aus. Ich hatte mir mehr erhofft.“ „Du kannst von Glück sprechen, dass dich niemand ernst genommen hat.“ Saburō hatte sich erhoben und erstickte das Jammern des Pilzes unter seinem Fuß, ehe Kōhei das Wort ergreifen konnte. Das war nicht gut. Diesen unterkühlten Tonfall hatte er bislang nur gegenüber Masuko angeschlagen und Kōhei hatte im Stillen gehofft, sich nie mit dieser gefährlichen Laune konfrontiert zu sehen – auch wenn sie sich nun gegen Shippō richete, der wie vom Donner gerührt dastand und den schwarzen Fuchs anstarrte. „Kōtaishi, der Junge-“ „Der Junge muss so taub sein wie er närrisch ist!“, zischte Saburō. „Eure Anweisungen bezüglich des Marsches waren hinreichend deutlich, General. Ihr reist allein. Das gilt auch für Euren Schüler.“ „Das waren sie und hätte Shippō sie vernommen, wäre er nun auch nicht hier. Aber der Junge hat die vergangenen Wochen mit meiner Erlaubnis bei seiner Familie verbracht. Er wusste nichts davon.“ Saburōs Haltung entspannte sich, wenngleich er immer noch verstimmt aussah. Mit den zuvor dargelegten Sorgen war jedoch wenig verwunderlich, dass er auf ungebetene Zeugen seiner Anwesenheit nicht mit dem üblichen Schalk reagierte. Offensichtlich war Kōhei nicht der einzige, den die Gesamtsituation etwas dünnhäutig zurückließ. Shippō schluckte. „Ver- Verzeihung. Wenn Ihr wünscht, dass ich abreise-“ „Nein“, unterbrach Saburō ihn harsch. „Du bleibst. Ich bin gespannt, wie du dich aus der Tatsache herauswinden willst, dass dir meine Anwesenheit entgangen ist – oder ob du wahnsinnig genug warst, uns beide zu provozieren.“ Da hatte er nicht unrecht, doch die Andeutung eines brüderlichen Schulterschlusses behagte Kōhei gar nicht. Auch Shippō war das 'uns' nicht entgangen, doch wenn er mehr Verwunderung für die Situation übrig hatte als den knappen Seitenblick an Kōhei, so ging der Unglauben in der Schelte unter, der er immer noch ausgesetzt war. „Nun?“ „Verzeiht. Ich... ich meine Ihr- … Ich habe Euch nicht erwartet und nicht gleich erkannt.“ Er schluckte, als er begriff, dass er sich damit vermutlich nur tiefer ins Elend stürzte und sah hilfesuchend zu Kōhei. „Wenn es Euch beliebt, Kōtaishi: Er ist mein Schüler. Sollte er Euch beleidigt haben, liegt die Verantwortung bei mir.“ Saburō schnaubte, dann winkte er den Jungen fort. „Essen und Feuerholz, Shippō. Mach dich nützlich.“ Selten hatte man jemand so hastig ins Unterholz stolpern sehen – und selten war der Ausdruck auf Saburōs Gesicht so schwer zu deuten gewesen. „'Wenn es Euch beliebt. Er ist mein Schüler. Die Verantwortung liegt bei mir'“, repetierte er mit trockenem Spott. „Was soll der Unsinn? Könntet Ihr wenigstens so tun, als würde Euch Euer Leben etwas bedeuten oder wollt Ihr mich in einen Streit zwingen, von dem wir beide wissen, dass ich ihn gerade nur schwerlich überstehen würde?“ „Im Gegenteil. Ich wollte Euch die Möglichkeit geben, den Streit zu beenden und Euer Gesicht zu wahren. Der Junge ist nicht am Hof aufgewachsen. Das Protokoll liegt ihm nicht. Er hätte Euch keine schön gekünstelte Entschuldigung vorbringen können, die ihn vor einer Strafe bewahrt hätte. Was hättet Ihr dann tun wollen? Ihn einfach von der Leine lassen oder wirklich züchtigen? Und wofür?“ Sein Gegenüber musterte ihn eindringlich, lange, dann seufzte er schließlich und ließ sich zurück auf den Baumstamm sinken, auf dem er den Nachmittag verbracht hatte und legte die Stirn in den Handflächen ab. „Mit einem halben Kind streiten! Erniedrigend, schlicht erniedrigend. Seit ich in seinem Alter war, habe ich mich nicht mehr so blind in eine unnötige Situation manövriert.“ „Das glaube ich Euch sogar ausnahmsweise.“ Kōhei überhörte das trockene Lachen. Jede Unverschämtheit, jede Stichelei, die aus diesem schier unerschöpflichen Quell an Abgründen hervorgesprudelt war, war wohl kalkuliert gewesen, das konnte man nicht bestreiten. Selbst als Fürst Hayato ihm Akemi aufgezwungen oder seine Partnerin ermordet hatte, war er auf seine Art gefasst gewesen. Ihn nun in einer vergleichsweise belanglosen Situation impulsiv zu erleben, war unerwartet und schien nicht ins Bild zu passen – zumindest wenn man nicht wusste, dass die Leben seiner Familie von seinem Geschick abhingen, eine Lehmpuppe hunderte Kilometer weiter südlich durch die Palastgänge zu schubsen. Davon, und von der Diskretion seiner gewählten Umgebung, zu der Shippō eindeutig nicht gehörte. Kōheis Kopf wäre die Luft nicht wert gewesen, die er einnahm, wenn er nicht gewusst hätte, dass das den Kadetten in eine sehr gefährliche Lage brachte. „Die Zeiten fressen an allen, Kōtaishi. Und ich möchte mir den Gedanken anmaßen, dass auch Ihr Grenzen habt. Ein Großteil Eurer Kraft und Nerven ist auf einen weit entfernten Punkt konzentriert, sonst wären die Verletzungen der letzten Nacht kaum der Rede wert. Womit ich Euch mitnichten beleidigen will. Die meisten hätte allein der Versuch eines solchen Kunststückes umgebracht. Ich selbst bin reizbarer als üblich und habe derlei nicht zu schultern. Solange wir unsere Lasten der Jugend jedoch vorenthalten, können wir kaum mit Verständnis oder angemessenem Verhalten rechnen.“ „Womit Ihr sagen wollt, dass ich die Finger von Eurem teuren Schüler lassen soll.“ „Ich sehe, Ihr versteht mich. Ich bin bereit, Euren Wünschen nach bestem Gewissen zu entsprechen. Sollte Shippō jedoch irgendein Unglück widerfahren -.“ „Kōhei, bitte. Ich bin reizbar und ja, vermutlich auch erschöpft, aber nicht grenzdebil. Beleidigt mich nicht, indem Ihr andeutet, ich wüsste nicht, mit welchen Mitteln ich mir einen Mann zum Feind machen kann. Und Eure Feindschaft ist das letzte, das ich brauchen kann. Gleich nach Eurem Tod. Wenn Ihr also die Güte hättet, nicht ständig für Eure Schützlinge in die Bresche zu springen? Die Verantwortung auf Euch zu nehmen – das ist Wahnsinn. Ich beginne mich zu fragen, wie Ihr meinen Vater überlebt habt, wenn Ihr mir so einen gedankenlosen Unfug an den Kopf werft.“ „Hatten wir nicht eben beschlossen, ihr kämt nicht nach Eurem Vater?“ Schweigend betrachteten sie einander, ehe Saburō sich geschlagen gab und mit einem halben Lächeln resigniert den Kopf schüttelte. „Vertraut Ihr ihm?“ „Würde es einen Unterschied machen?“ „Nicht unmittelbar. Aber es wäre hilfreich, um meine ewig mahlenden Gedanken zu beruhigen. Um mir einzureden, dass alles gerade nicht noch schlimmer geworden ist.“ Das wahrlich Unheimliche an alledem war jedoch, dass Kōhei erkannte, wie unberechenbar die Angst den Erben machte. Er stolperte über den Gedanken und biss die Zähne zusammen. Dachte er im Umkehrschluss also tatsächlich, das übrige Gebaren des schwarzen Unheils sämtlicher Ratsherren und Spinners unzähliger Netze sei voraussehbar? Narr. Diese Annahme hatte das Potential, ihm jederzeit den Hals zu brechen. ☾ Zähneknirschend versuchte Kaito das herausragende Bündel Zypressenholz tiefer in A-Uns Satteltaschen zu stopfen, während sich der Longma vom Boden abstieß und sie in den Himmel trug. „So ein Gierschlund! Dieser Sohn einer billigen-“ „Du wolltest das Holz auf 'ehrliche Weise' erwerben. Falls dir entgangen sein sollte, wie ihm beim Anblick eines Han'yōs die Mimik entgleist ist, hätte dir spätestens dieser herablassende Unterton zu denken geben müssen.“ Kaito schnaubte. Wider Erwarten waren sie schon bis in den späten Nachmittag unterwegs, um das Material zu beschaffen, nach dem der Schmied verlangt hatte. Quellwasser, Zypressenholz und Spinnenlilien klangen erst einmal nach lachhaft einfachen Besorgungen, wenn er gleichermaßen nach Stimmbändern eines stummen Tengu oder dem rechten, kleinen Zeh eines dunkelgrünen Oni hätte verlangen können. Doch der Teufel steckte auch hier im Detail: Längst nicht alles Zypressenholz war trocken genug und wenn es dem richtigen Grad der Feuchtigkeit entsprach, waren die Äste zu klein gewesen. Schlussendlich hatte Kaito aufgegeben und mit einem Händler um passendes Edelholz gefeilscht. Der hatte die Lieferung für eine Tempelanlage vorgesehen und darüber hinaus wenig für einen Mischling übrig gehabt, sodass ein kleines Bündel hellen Holzes Kaito den gesamten Verdienst der letzten Wochen gekostet hatte und ihm zum Dank mit seinem süßlichen Zitronenduft in der Nase stach. „Der Ton ist mir kaum entgangen.“ „Dann verstehe ich nicht, warum du dich von diesem Greis wie Dreck behandeln lässt.“ Die gepfefferte Erwiderung auf Kaitos Zunge wurde umgehend so schal wie zahlreiche andere an diesem Tag. Murrend schluckte er sie hinunter. Untertöne herauszuhören – insbesondere herablassende – beherrschte er seit frühester Kindheit. Jedoch entging ihm auch nicht, wenn jemand sich nach Leibeskräften mühte, Verletzungen zu überspielen – seien sie nun körperlicher oder auch tiefgreifender Natur. Seit sie von Tōtōtsai aufgebrochen waren, lag hinter Minorus Worten kein Biss mehr. Nur hohle, gähnende Leere und der Versuch, sich nicht gänzlich in Schweigen zurückzuziehen. Das allein war schon untypisch genug. Nun waren vier Jahre in ihrem Alter noch eine lange Zeit und konnten sicherlich den ein oder anderen Charakterzug verändern, der bei älteren Dämonen in Stein gemeißelt war, doch in diesem Fall war es nicht nötig, Jahre zurückzudenken. Stunden waren ausreichend. Der Tod des Flohgeistes hatte Minoru derart hart getroffen, dass Kaito sich ernstlich fragte, wie sein Vetter einen Krieg überstehen wollte, bei dem seine Mitstreiter scharenweise fielen – geschweige denn ein Volk führen, dessen Lebensinhalt aus Schlacht, Tod und Eroberung bestand. [Die Inu waren für den Kampf geschaffen, ausgebildet, erzogen. Das war zumindest die vorherrschende Stereotype, welche der Inu no Taishô bravurös verkörperte. Sein Sohn hingegen... – eine Falte auf Kaitos sonnengegerbter Stirn wurde unmerklich tiefer. Er hätte es erkennen müssen, als Minoru den Drachen nach Musashi geführt hatte; vor ihm geflohen war, um genau zu sein. Der Moment, als er unter dem hastig errichteten Bannkreis im Angesicht der Echse panisch in sein Verderben gelaufen wäre, hätte Kaito ihn nicht rechtzeitig zu Boden gerissen. Seine Rüstung, die keinerlei Scharten aufwies, sondern glänzte, als sei sie unlängst vom erst vom Schmiedeblock gefallen. Sogar das Schwert, das Minoru ihm schon Monate zuvor im Kampf überlassen hatte. Kaito hätte sich für seine Ignoranz gern selbst eine saftige Ohrfeige verpasst. Nie im Leben war der Dämon, der vor ihm auf dem Longma saß und mehr oder weniger offen um einen winzigen Floh trauerte, von Sesshômaru aufgezogen worden – ganz davon abgesehen, dass er die Klauen in das Sattelleder geschlagen hatte, als ob sein Leben davon abhinge. Die Unzulänglichkeiten eines Sohnes waren gänzlich anders zu bewerten als das Verhalten von Rin oder Jaken, die im öffentlichen Auge nichts als Anhang darstellten. Eine Laune. Menschen und Kappa waren keine Lebensformen, an die ein Daiyôkai wie Sesshômaru Ansprüche stellte. Sein Erbe hingegen war Teil seiner Reputation, Spiegel seiner Ambitionen. Seine Verantwortung und sein Nachlass. Nein, Minoru war nicht von seinem Vater aufgezogen worden und sehr wahrscheinlich nicht einmal bei Hofe – kein zum Herrschen erzogener Arrogant, der auf Leben und Schicksal anderer bestenfalls mit Kälte herabsah. Das war im Angesicht der Trauer klarer denn je, auch wenn es ausreichend Hinweise gegeben hatte. War Minoru nicht sogar für ihn eingestanden, als es zur ersten Auseinandersetzung mit den Zwillingen gekommen war? Und hatte er nicht bereits damals bedenklich nah am Kontrollverlust geschwankt, weil Inuyasha Myôga grob behandelt hatte? Myôga war nur ein Flohgeist gewesen und Kaito selbst konnte sich nur deshalb einen Halbdämon nennen, weil niemand sich die Mühe gemacht hatte, ein Wort für den geringen Blutanteil zu finden, den er sein Eigen nannte. Im Vergleich wirkten kleine Dämonen und Menschenmädchen beinahe relevant. Doch das hatte Minoru nicht gekümmert. Stattdessen vergoss er Tränen für einen Floh und hielt Kaito Vorträge über Selbstwertgefühl, als sei er das Problem.] Unzufrieden ließ er seinen Blick vom angespannten Rücken vor ihm über den langen, weißen Flechtzopf wandern. Er wurde das Gefühl nicht los, irgendetwas zu übersehen, das eigentlich auf der Hand lag; etwas, das sich ihm immerzu im letzten Moment entzog. Seine Mutter hatte ihm stets ein gewisses Talent bei der Einschätzung von Situationen nachgesagt, die er in ihren Augen viel zu oft nutzte, um seinem Gegenüber eins auszuwischen - womit sie vermutlich recht hatte -, doch was seinen Vetter anbelangte, fühlte er sich stets wie auf einem Auge blind und das wurmte ihn. Wurmte ihn so sehr, dass er erst dann bemerkte, dass er sich erneut an dem Zypressenholz zu schaffen gemacht hatte, als ein gepresstes Zischen vor ihm in ein Knurren überging. „Würdest du das bitte unterlassen?“ Minoru hatte seine Klauen ob der wackelnden Satteltaschen tiefer in das Leder geschlagen und die Beine eng an A-Uns Seiten gepresst. Mit einem süffisanten Grinsen, das sich in Sekundenbruchteilen in seinen Mundwinkeln festsetzte, zog Kaito sein angewinkeltes Knie enger an sich heran, während er das übrige Bein provokant gelassen in der Luft baumeln ließ. „Das ist ja drollig. Du hast Höhenangst.“ „Nein.“ „Und die Krallenspuren im Leder sind dann was genau?“ „Höhen sind mir gleichgültig“, beharrte Minoru. „Ich will nur nicht fallen.“ Die Art wie er leiser wurde, nahm Kaito erneut den letzten Funken Schadenfreude. Es hätte kaum schlimmer sein können, wenn er noch dazu geschaudert hätte wie ein unterkühlter Welpe. Angestrengt fuhr er mit der Hand durch sein rabenschwarzes Haar und strich die Hundeohren glatt an den Kopf. Das war ja nicht zum Aushalten! Als die Landschaft karger wurde und Schwefel den Geruch der Zypresse überlagerte, brach Minoru das anhaltende Schweigen und bestätigte abermals Kaitos Annahme, dass ihm am Morgen der Schutt ganz unglücklich am Kopf getroffen haben musste. „Noch rechne ich damit, dass er das Holz verbrennt und die Lilien an die Kuh verfüttert.“ „Ich hoffe für den alten Sack, dass das hier keine Beschäftigungstherapie war, um uns loszuwerden.“ „Ich begreife nicht, was seine Meinung geändert haben soll.“ Kaito schnaubte. „Das ist doch offensichtlich.“ „Erleuchte mich, wenn du ihn so leicht durchschaust.“ „Etwas weniger Kälte dürfte geholfen haben. Er und der Floh waren seit Jahrtausenden befreundet.“ Minoru schien die Antwort eine Weile abzuwägen, dann schüttelte er den Kopf. „Vielleicht hat das seine Einstellung mir gegenüber geändert. Aber es ist dennoch wahnwitzig, dass er sich im Vorfeld geweigert hat, gerade die Waffe zu reparieren, die uns eine reelle Chance gegen die Drachen bietet.“ „Dafür hat er hoffentlich eine gute Erklärung. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sein Dickschädel allein das Problem war. Oder Gier. Tief in seinem senilen Verstand ist er Idealist. Ebenso ein Träumer wie der Rest der Bande.“ „Und das weißt du?“ „Ja, das weiß ich. Sicher, er ist schwierig und grätig wie ein Fisch, aber er hat in seinem Leben zu viel für das Land getan, um es nun den Drachen zu überlassen. Da kann er melodramatisch faseln wie er will. Er hat Tenseiga eine Weile aufbewahrt, nicht wahr? Also war er bereit, etwas zu tun.“ „Hm“, unschlüssig rieb Minoru die Zähne aneinander. „Hoffen wir, dass du recht hast.“ Als sie sich der Hütte näherten, waren die Rippenwände wieder bespannt und ein Großteil des Chaos beseitigt. Insgesamt wirkte alles noch recht windschief, aber das machte bei den vielen Löchern und abgenutzten Stellen im aufgespannten Leder auch keinen Unterschied mehr. Eigentlich fügte es sich sogar ganz harmonisch ins Gesamtbild ein. Auch Minoru ließ den Blick schweifen, wenngleich seine Mimik nichts darüber verlauten ließ, was er von diesem Unterschlupf im Allgemeinen und ihren Bemühungen um dessen Untergang im Besonderen halten mochte. „Das muss ein komischer Haufen gewesen sein“, sagte er schließlich ohne jedwede Vorwarnung. Kaito gab ein fragendes Brummen von sich, machte sich aber nicht die Mühe, Minoru anzusehen und schlug stattdessen hartnäckigen Staub aus seinem blauen Suikan. Während sich die schweineteure Seidenkleidung seines Vetters beharrlich weigerte, Verunreinigungen zu dulden und noch jedes Staubkorn abperlen ließ, war seine weniger gnädig. „Tōtōsai, Myōga und unser Großvater: Idealisten, Träumer, Kriegsherren. Ich bemühe mich, aber die Kombination bleibt in meiner Vorstellung grotesk. Ich meine... schau ihn dir an.“ Tōtōsai hockte vor seinem Brennofen und kratzte die Schuppen von seinem kahlen Haupt, während er mit der anderen Hand geistesabwesend die Glut schürte. Kaito begegnete Minorus vielsagendem Ausdruck mit einer Geste der Ratlosigkeit. Diese Beziehung war schwierig, selbst wenn man außer Acht ließ, dass Inu nicht dafür bekannt waren, engere Kontakte außerhalb ihres Volkes zu knüpfen. Ihr Großvater war unter Feinden gefürchtet gewesen und dass Kaitos Vater seinen Erzeuger nie kennengelernt hatte, verlieh Tōgas Person etwas unnahbares, fast mystisches. Dieses Bild war schwer mit der Vorstellung vereinbar, dass er mit diesen Karikaturen an einem Feuer gesessen und ernsthafte Debatten über die Zukunft des Reiches geführt haben mochte. Fakt war, dass Floh und Schmied als altersgraues Gespann gut zusammengepasst hatten - der eine mit dem Kopf stets in der Vergangenheit, der andere kaum in der Lage seinen gegenwärtigen Gedanken länger als drei Wimpernschläge zu verfolgen. Es blieb zu debattieren, ob die Vorstellung ihres in die Tage gekommenen Großvaters in jenen senilen Reihen dem Schicksal eines frühen Todes vorzuziehen war. Nur mit Letzterem befeuerte man Legenden, aber der Tod war auch schrecklich endgültig. Kaito schulterte das Zypressenholz und versuchte den Gedanken an frühzeitige Tode so weit wie möglich fortzuschieben, erwischte sich jedoch dabei, wie er beim Eintreten den Schmied genauer betrachtete und beschloss, dass es ihm hunderte Male lieber gewesen wäre, diesem grotesken Triumvirat beizuwohnen als seinen Großvater so jung im Grab zu wissen. Tōga hatte Welten zusammengebracht, die bereits nebeneinander nur schwierig existierten, und seine Söhne mit dem heraufbeschworenen Sturm zurückgelassen. Hätte er die Möglichkeit gehabt, diese Wogen zu glätten, sähe heute einiges anders aus. „Ihr seid spät“, gnarzte der Schmied. „Holz auf den Stapel und Quellwasser in den Bottich. Zeig die Lilien.“ Er reckte eine spinnenhafte, altersfleckige Hand in die Luft, ohne die übergroßen Augen auch nur eine Sekunde von der Glut zu lösen. Im Innern der Hütte war es, als liefe man gegen eine Wand aus Hitze und stehender Luft. Kaito hatte Tōtōsai schon oft bei der Arbeit zugesehen, war dabei aber noch nie mit derart unerbittlichen Temperaturen konfrontiert worden. Widerwillig machte er einen Schritt zurück, als der Alte die Kohlen mit einem Eisenstab schürte und eine erneute Hitzewelle durch den Raum schickte - nur um festzustellen, dass sein Vetter unbeeindruckt nähertrat, um die grünen Stängel zu überreichen. Entweder er konnte das Unbehagen zur Perfektion überspielen oder Dämonen besaßen in der Tat eine Toleranz gegenüber Hitze, die er nie erreichen würde. Der Alte zog die Pflanzen umgehend zur Begutachtung heran und rümpfte kritisch die Nase. „Ziemlich erbärmlich.“ „Es ist August. Was habt Ihr erwartet?“ Nun hob Tōtōsai doch den Blick und betrachtete den westlichen Erben, als habe der gerade erklärt, den Sinn des Lebens unter einem Haufen Rinderdung gefunden zu haben. Kaito konnte das nur zu gut nachvollziehen: Was die Lilien anbelangte, so hatte sich Minoru als botanisch versiert erwiesen und mit Leichtigkeit irgendwelche blattlosen, grünen Stängel als Spinnenlilien identifiziert, die Kaito bestenfalls als abgeblühtes Unkraut bezeichnet hätte. Kaito hatte ihn lediglich mit erhobener Augenbraue angesehen und es seiner Mimik überlassen zu vermitteln, was er von den sonderbaren Anwandlungen seines Vetters hielt. Anschließend hatten sie Stunden damit zugebracht, winzige Blütenstände mit den Klauen aufzuschlitzen und darüber zu debattieren, ob die geringen Farbpartikel dieser oder jener Pflanze nun eher violett, zartrosa oder doch ausreichend rot waren. Am Ende war ein ganzen Bund von diesen Mistdingern zusammengekommen, der so kahl war, dass er im Zweifel nicht einmal seiner Mutter gefallen hätte - und der hatte Kaito als Kind jeden Kieselstein als besonderen Fund andrehen können. Tōtōsai schien ebenso wenig verzückt von seinem Strauß, der eher an unterernährten Spargel erinnerte, hatte aber zurecht mehr mit der Vorstellung zu kämpfen, dass Sesshōmarus Sohn ausreichend über Pflanzen wusste, um sich von seinem miesepetrigem Gemurmel nicht anstacheln zu lassen. Nachdenklich musterte er die Lilien und schielte dann mit einem Ausdruck zu Minoru empor, der an Scheinheiligkeit schwer zu überbieten war. „August?“ „Die meiste Zeit sind das eben schnöde Halme. Selbst die Blätter kommen erst nach der Blüte. Sagt mir jetzt bitte nicht, Ihr benötigt die Blätter. Es ist unmöglich-“ „Mit den Lilien ist alles in Ordnung“, fuhr Kaito dazwischen, ließ das Holzbündel auf einen harzigen Stapel in der Ecke fallen und sich gleich daneben. Hier war es aushaltbar. „Er ist lediglich fasziniert. Und das nicht von dem Grünzeug.“ „Ah“, erwiderte Minoru dunkel, während seine Stimme in etwas abrutschte, das Tōtōsais auflodernde Kühnheit in Eiswasser ertränkte. „Unterhalte ich Euch, Tōtōsai?“ Der Schmied stockte, bemerkte die Hitze, die an ihm emporkroch und jene dicke, graue Schicht am Boden aufwirbelte, die sich nach dem turbulenten Morgen erst vor einigen Stunden wieder gesetzt hatte. „Vielleicht arbeitet er schneller, wenn er unterhalten wird“, bemerkte Kaito und lehnte den Kopf an den Knochen hinter sich. Die umherfliegende Asche heftete sich mit einer Geschwindigkeit an seinen Suikan, die an Zuneigung grenzte. Immerhin war er sauber angekommen - halbwegs jedenfalls. „Ist dem so?“ Interessanterweise schrumpfte Tōtōsai im selben Maße wie der scheinbar gelangweilte Tonfall in Minorus Stimme zunahm. Der Alte warf einen knappen Seitenblick auf Kaito, der mehr als deutlich machte, dass er es allemal vorzog, wenn sie sich gegenseitig an die Kehle gingen. Kaito hingegen hatte wenig Mitleid. Wenn man mit Feuer spielte, war mit Verbrennungen zu rechnen. Minoru lehnte sich vor: „Wenn es tatsächlich etwas gibt, das zu Eurem Erfolg beitragen könnte, werde ich Euch gern zuhören. Solltet Ihr jedoch der Meinung sein, wertvolle Zeit mit Niedertracht vergeuden zu müssen, bin ich nicht mehr so handzahm. Versteht mich nicht falsch, Tōtōsai. Aber der Gedanke, dass Ihr hier Eure Späße treibt, während meine Leute dort draußen sterben - ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt, wenn Ihr versteht.“ Das aschfahle Anlitz des Schmieds gewann zwar keinerlei Farbe, aber er schaffte es dennoch, gefasst zu wirken. „Ich verstehe.“ „Dann vergessen wir das jetzt. Benötigt Ihr noch etwas?“ Die Augen des Alten waren unentwegt auf den Inu gerichtet. Die graduelle Entspannung seiner Muskeln, die Bedrohlichkeit, die aus seiner Haltung wich, als habe er eine zweite Haut abgelegt und seine ruhig fließende Aura - wie Ebbe nach dem Hochwasser. Tōtōsai studierte sein Gegenüber als ob sein Leben davon abhinge - eine valide Annahme, wenn man bedachte, dass seine Profession einschloss, höchstrangigen Dämonen den ein oder anderen „Wunsch“ auszuschlagen. „In der Tat.“ Das matte Lächeln, das sich schließlich in den runzeligen Mundwinkeln festsetzte, bereitete Kaito Unbehagen. „Dich.“ Kaito glaubte das Knirschen von Zähnen zu hören. „Inwiefern?“ „Setz dich.“ „Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr -.“ „Setz dich, Junge! Ich erkläre es dir, aber ich bin ein alter Mann mit einem steifen Genick und dieses Gespräch wird länger dauern. Also mach schon!“ Wortlos ließ sich Minoru in Staub und Asche nieder ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Seine Miene war wie in Granit gemeißelt und Kaito konnte nur erahnen, wie sehr es ihm widerstreben musste, Befehle auszuführen. Dennoch waltete er mit einer gewissen Höflichkeit. Ließ genug Abstand zu Tōtōsai und setzte sich so, dass dieser ihn mit Leichtigkeit im Auge behalten konnte, ohne ihm gegenüber sitzen zu müssen - womit er praktischerweise den direkten Fluchtweg des Schmieds blockierte. Das schien auch Tōtōsai aufgefallen zu sein, als er seinen Blick über Minorus Schulter hinweg zum Eingang seines Hauses schweifen ließ und sich schließlich dem Aufstochern der Glut widmete, als beunruhige ihn diese Tatsache nicht. „Warum man euch das Abschlachten in Kinderreimen lehrt, aber die Grundlagen der Waffenherstellung nicht einen einzigen Atemzug wert sind, übersteigt meinen Horizont. Und dann muss ich mich wieder mit übertriebenen Erwartungshaltungen herumschlagen und Unverschämtheiten erdulden, nur weil das Wissen bei der Klingenschärfe endet. Du!“ Er deutete mit einem Finger über die Feuerstelle unmittelbar zwischen Kaitos Augen, der trotz der Entfernung zusammenzuckte. „Ich hatte erwartet, dass du es begreifst. Ich habe wertvolle Zeit und Wissen wie Perlen vor die Säue geworfen, wenn dein Vater dich Mal um Mal bei mir abgeladen hat als wäre ich deine informelle Amme!“ Kaito starrte auf den knorrigen Finger. Hitze kroch von seiner Brust seinen Hals empor und nistete sich in seinem Gesicht ein wie ein Fieberschub. „Ich-“ „Versuch’ gar nicht, dich zu rechtfertigen! Ich kenne dein Temperament nur zu gut. Du bist schlauer als gut für dich wäre, aber eine kleine Provokation und - buff!“ Tōtōsai vollführte eine kleine Explosion mit den Händen. „Ganz der Vater! Kopf aus, Zähne zeigen! Was habe ich dir über heute morgen erst über Materialunterschiede heutiger und früherer Schwerter erklärt? Na?!“ Selten hatte Kaito sich derart bloßgestellt gefühlt. Hätte Tōtōsai schlicht sein Erinnerungsvermögen in Verruf gebracht, wäre er mit Sicherheit wütend geworden. Ihm jedoch Desinteresse vorzuwerfen, Zeitverschwendung, persönlich zu werden, ja, Enttäuschung anzudeuten - ! Wirr flogen seine Gedanken zum Vormittag zurück, versuchten panisch etwas sinnvolles zu Tage zu fördern, huschten ziellos durch Erinnerungen, in denen er kaum älter gewesen war als Yayoi heute und stolperten ein ums andere Mal über den anklagenden Ausdruck in Tōtōsais Gesicht. Wie sollte er klar denken, wenn ihm die Enttäuschung so unverhohlen entgegenschlug? Schließlich biss er die Zähne zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Hut ab. Der Mann mochte alt sein, aber er wusste sehr genau wie ihn treffen konnte. In ein mit Murren und Beleidigungen gespicktes Gemurmel vertieft, nahm der Schmied eine schmucklose Schwertscheide zur Hand und zog Tenseiga daraus hervor. Mit wenigen Griffen hatte er die zerborstene Klinge aus dem Handstück gelöst und bettete sie sorgsam wie einen schlafenden Säugling auf den glühenden Kohlen. Mit geübten Auge betrachtete er das Metall, auf dem die Hitze die spröden Scharten zum Glühen brachte, schob ein Stück Kohle näher heran, zog ein weiteres an anderer Stelle fort und sah erst wieder auf, als er mit dem Glutnest zufrieden war. „Die historische Schmiedekunst hat Naturstoffe benutzt“, sagte Kaito schließlich, als Tōtōsai offenbar immer noch auf eine Antwort wartete. „Heute verwendet man yōki-bindendes Material. In der Regel sind das Körperteile lebendiger Dämonen. Wie Zähne, Haare oder einzelne Gliedmaßen.“ Als der Alte fortfuhr, würdigte er die Aussage nicht einmal eines knappen Nickens. Zumindest aber sah er davon ab, Kaito weiterhin mit diesem vorwurfsvollen Ausdruck zu durchbohren: „Es ist nicht notwendig, ein Teil vom späteren Besitzer zu nehmen, aber die wirklich guten Werkstücke tun es. Sie harmonieren mit ihren Ursprung, kanalisieren die Aura besser und die Resonanz ist - nun, sagen wir schlicht, es ist wünschenswert. Aber es setzt auch Grenzen. Ich kann Attribute nicht entstehen lassen und auch wenn man gewisse Eigenschaften schleifen kann, müssen sie mehr als rudimentär vorhanden sein. Wäre mein Kunde ein herzenskalter Dämon aus den nördlichsten Schneewehen, dessen Yōki in erster Linie Erfrierungen anrichtet, könnte ich ihm alle Zähne einzeln rausreißen, ihn kahlrasieren und alle Finger einarbeiten - ich könnte kein Schwert schmieden, das Flammen spuckt.“ Er wendete die Klinge, begutachtete sie eingehend und fuhr dann erst fort. „Tessaiga und Tenseiga wurden aus dem Fangzahn deines - eures Großvaters erschaffen. Nach tagelangen Diskussionen wohlgemerkt. Seine Vorstellungen und meine Möglichkeiten gingen da doch etwas auseinander.“ Ein Lachen entrang sich Kaitos Kehle. „Du meinst, deinen Arbeitswillen?“ „Der Gierhals wollte zwei Schwerter! Zwei! Hast du eine Vorstellung, wie lange andere Dämonen mich damals ersuchen mussten, nur um meine Aufmerksamkeit zu erhalten, während er daherkam und mit einer Selbstverständlichkeit nach zwei Waffen verlangt hat, als gehöre das irgendwie zu unserer Freundschaft dazu, dass ich sein persönlicher Schmiedeofen bin? Hätte ich ihm gleich nachgegeben, hätte er nur Wochen später mit diesem schiefen Lächeln da gesessen und verlangt, dass ich Löffel und Messer für die Hofküche schmiede, die besonders hübsch auf den Tischen tanzen!“ Kaito hob eine Braue, woraufhin Tōtōsai zischend Rauch ausatmete. „Du glaubst, ich übertreibe? Oh, du hast ja keine Ahnung. Der große Inu no Taishō - er war schon in seiner Jugend schwer zur Vernunft zu überreden, wenn sein verdammter Dickschädel in irgendwelchen Wolken steckte. Als er später die Macht hatte, jeden Widerstand einfach zu ersticken… - Myōga war fast ein halbes Jahrtausend jünger als ich, wusstet ihr das? Ich habe ihm gesagt, dass der Versuch, diesem Hund Verstand einzubläuen, ihm noch den letzten Nerv kosten wird. Grau war er jedenfalls vor mir. Und dann stürzt sich der Floh auf seine letzten Tage nochmal in diesen Abgrund. Mit einem neuen, noch grüneren Welpen. Nostalgie und Wahnsinn, sage ich euch. Nostalgie und Wahnsinn.“ Mit leiser Sorge sah Kaito zu seinem Vetter und versuchte zu ergründen, ob ihm diese neuerliche Einschätzung seiner Beziehung zu Myōga oder die bloße Erinnerung an dessen Tod zusetzen mochte. Dessen Miene war jedoch so ausdrucklos wie üblich. Als er aber das Wort ergriff, schwang etwas mit, das stark nach Verteidigung klang. „Vielleicht hat ihn die Zeit an meiner Seite übermäßig gefordert. Das will ich nicht abstreiten. Aber es war seine Entscheidung und für die bin ich dankbar.“ Es war befriedigend zu sehen, dass auch Tōtōsai die grätigen Bemerkungen wie ein ganzer Fisch quer im Hals stecken blieben. So abstrus es auch anmuten mochte, es konnte doch niemand bezweifeln, dass dieser Flohgeist auf seine alten Tage so viel Wertschätzung erfahren hatte, dass es Minoru nicht einmal unangenehm war, den Verlust offen einzugestehen. Nach einer ebenso wenig angenehmen Stille, räusperte sich der Schmied: „Wie dem auch sei… Tōgas Aura ist mit den Fangzähnen in die Klingen eingearbeitet worden und auch wenn sie denselben Ursprung haben, besitzt jedes Schwert einen eigenen Charakter. Keine Waffe ist der vollkommene Spiegel seines Ursprungs. Es sind Splitter der Gesamtperson. Mit eigenem Willen, eigenen Fähigkeiten. Das ist die eigentliche Kunst. Stahl zu bearbeiten ist ein ehrenvolles Handwerk, aber mit Fleiß, Mühe und viel, viel Arbeit ist es erlernbar. Aber die mächtigsten Dämonen des Landes zu lesen, ihren Charakter, ihre Stärken und auch Schwächen zu begreifen, und in Stahl zu bannen - keine Zeit der Welt würde für diese Lektion reichen.“ Er stieß einen Feueratem aus, der Tenseigas Stahl heller glühen ließ, wo die Kohle trotz aller Sorgfalt weniger Hitze entwickelt hatte. „Eine umfassende Reparatur wie diese, erfordert jemanden, der dem Charakter der Waffe entspricht; dem Splitter des Ursprungs ähnelt. Dass ihr verwandt seid, ist zweitrangig. Dass du jedoch derart über einen unbedeutenden Flohgeist trauerst -“ Tōtōsai fischte mit langen Fingern die Phiole aus der Tasche, mit der er am Morgen Minorus Träne aufgefangen hatte, zerschlug sie am Rand des Kühlbeckens und warf sie samt Inhalt ins Wasser. „Mitgefühl, Junge. Etwas, das dein Vater nur schwer gelernt hat und bis heute nur spärlich zeigt. Mir ist bewusst, wie dringend ihr diese Klinge braucht. Aber das Zutun deines Vaters hätte Tenseiga vernichtet. Alle anderen waren nicht vollblütig oder verdankten ihr Leben dieser Waffe. Wenn ich versuche, sie neu zu schmieden, dann mit dir.“ „Wenn Ihr etwas von mir benötigt -“ „Oh, ich werde dir den ein oder anderen Zahn ziehen. Aber was ich wirklich brauche, bist du. Dein Charakter. Dein Wesen. Tōga kannte ich mein halbes Leben lang. Du hingegen tauchst als verwahrloster Bengel auf und kehrst als Fürstensohn zurück. Wer also bist du?“ Es war erstaunlich, wie blass jemand mit ohnehin weißem Haar noch werden konnte. „Ich wüsste nicht, wie ich Euch mein Wesen darlegen sollte.“ Tōtōsai musterte ihn eindringlich. „Mein lieber Junge, das wusste bisher noch niemand. Zu deinem Glück habe ich jahrtausendelange Erfahrung in derlei Dingen. Fang also einfach vorne an.“ „Ich verstehe nicht.“ „Vorne. Bei deiner Geburt oder an was auch immer du dich erinnerst. Deinem Vater. Deiner Mutter.“ Was er vorher für blass gehalten hatte, war kein Vergleich zu dem Anblick, der sich nun bot. Die dunklen Dämonenmale auf Minorus Wangen wirkten mehr denn je wie Blut, als sämtliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Sein Blick wurde sonderbar starr, während seine Hand abwesend über sein Handgelenk fuhr, als taste er nach etwas. „Nein.“ Tōtōsai hob den Blick und betrachtete ihn eingehend, dann zuckte er die Achseln und machte Anstalten, Tenseiga aus der Glut zu ziehen. „Wie du willst. Dann kommen wir nicht überein.“ Kaito war auf den Beinen, ehe er recht darüber nachgedacht hatte. Hätte Tōtōsai ihn zu solchen Gesprächen aufgefordert, hätte er in Minorus Anwesenheit nicht ein Wort gesagt - und er sollte verdammt sein, wenn diese Chance seinetwegen zu Grunde ging. „Wartet. Ich kann gehen. Dann könnt ihr zu zweit-“ „Du bleibst genau dort sitzen!“, fauchte der Schmied so giftig, dass Kaito augenblicklich zurück in den Staub rutschte. Dann wandte sich Tōtōsai erneut Minoru zu: „Tenseiga wird nur dann wieder ganz, wenn ich es auf dich abstimmen kann. Es mit dir in Resonanz bringe. Und dafür brauche ich mehr als Halbwahrheiten, Vermutungen und Schein. Es ist allein deine Entscheidung. Aber Deine Leute sterben immer noch da draußen, oder etwa nicht?“ Kapitel 58: hinter der Hoffnung ------------------------------- Die Forderungen des Schmieds waren wie eine unsichtbare Klinge, die sich gegen seinen Hals presste und ihm die Luft abschnürte. Minoru starrte in die Flammen. Seit Minuten hatte er kein Wort gesagt. Niemand hatte das, und allmählich wurde das Knacken der Kohlen so ohrenbetäubend, dass er sich zusammennehmen musste, um nicht aufzustehen und seinen letzten Hauch Würde in dieser abgelegenen Hütte zu vergessen, indem er hinausstürmte und Tōtōsai mit all seinem Gerede über Auren und Charakter zurückließ - und damit auch die eine Chance, den untoten Drachen effektiv entgegenzutreten. Welche Wahl hatte er also? Was waren schon unangenehme Stunden gegen die Vorteile, die diese Waffe ihnen bringen würde? Er wusste, dass seine Weigerung dumm war. Dumm und kindisch und unangebracht. Es waren nur Worte, die er verlangte. Wahre Worte über Jahre, die er lieber vergessen hätte, aber am Ende doch nur Worte. Niemand würde für diesen Handel sterben müssen, es drohte nicht einmal unmittelbare Gefahr. Im Grunde war es lächerlich, dass er sich derart anstellte, einen so geringen Preis zu zahlen. Doch allein der Gedanke an einzelne Momente; die Bilder, die sich dabei aufdrängten - Sein Mund war staubtrocken und je länger er schwieg, desto schwieriger schien es, die Stille zu durchbrechen und überhaupt irgendetwas zu sagen. Es vergingen weitere Minuten, in denen er in die Leere starrte und Kaito sich in seiner Ecke unbehaglich regte. Dann riss sich Tōtōsai mürrisch von seiner Arbeit los und wandte sich Minoru zu, der sich zwar genötigt fühlte, seinem Blick zu begegnen, es aber dennoch nicht tat. „Hmpf. Ich habe kein Interesse daran, alte Wunden aufzureißen oder zu schwafeln. Wenn ich etwas frage, dient das einem Zweck. Traust du mir nun oder nicht? Du sitzt noch hier, Junge, also überleg’ dir, wo du anfängst. Vielleicht wo du früher gelebt hast? Als das Menschenmädchen deines Vaters dich versorgt hat, war sie sicher, dass du nicht aus dem Westen kommst.“ Auf eine kindische Art war Minoru dankbar, dass der Schmied den Faden selbst wieder aufgenommen hatte und gemäßigter sprach; dass er ihm einen Anfang geboten hatte, auch wenn es ihm immer noch widerstrebte, sich darauf einzulassen. Doch wenn er nun nichts sagte, wäre der Moment verstrichen und die Stille zurück. Dann wäre die Möglichkeit dahin und nur seinetwegen würden andere sterben. Nur weil er zu widerspenstig gewesen war. Zu schwach. „Ich bin im Chūgōku-Gebirge aufgewachsen.“ „Was macht Sesshōmarus Sohn im Süden? Ich hatte deinem Vater zugetraut, dass er seinen Erben nicht öffentlich zeigt, bis er eine Schlacht schlagen könnte. Aber ihn außerhalb seines Einflussgebietes zu verstecken? Niemals.“ „Das kann ich nicht beantworten. Es gibt da Ungereimtheiten. Zwischen dem, was mir erzählt worden ist, und was tatsächlich geschehen sein wird.“ Achselzuckend prüfte Tōtōsai die Temperatur der Kohlen mit dem bloßen Finger: „Wir wollen eine Waffe schmieden. Wahrheitsfindung und Geschichtsschreibung überlassen wir anderen. Was also hat man dir erzählt?“ Minorus Blick folgte abwesend Tōtōsais Hand, die sich an verschiedenen Stellen auf die Glut legte. „Dass meine Mutter mit ihrem Leben im Westen unzufrieden war und mit einem Kitsune durchgebrannt ist. Dass sie nach Süden fliehen mussten, weil ihre Familie und der Hof den Blutsverrat nicht geduldet hätten - insbesondere meinetwegen nicht. Genauso wie sie meinetwegen nicht eher an den südlichen Hof gehen konnten, bis ich mir als Mischling einen Platz in der Gesellschaft meines Vater verdient hätte.“ In der Ecke des Raumes richtete sich Kaito langsam auf und zog ein Knie heran. Minoru ahnte, warum er ausgerechnet jetzt hellhörig wurde, vermied es jedoch, auch nur aus den Augenwinkeln zu ihm hinüberzusehen. Es war schlimm genug, dass er anwesend war. Ihm nun noch Beachtung zu schenken, seine Aufmerksamkeit anzuerkennen - das wäre zu viel gewesen. Tōtōsai reichte und dessen Miene war von Zweifel erfüllt: „Dein Vater, von dem du dachtest, es sei dieser Fuchs.“ „Ja.“ „Das ist lächerlich. So einiges davon. Als würde es Sesshōmaru kümmern, wenn eine Inu ihr Glück jenseits der Grenze suchte. Ich bezweifle, dass er überhaupt die Hälfte der Namen jener Frauen kennt, die ihm über die Jahrhunderte angeboten worden sind. Eine Frau jedoch, die seinen Erben trägt und dann durchbrennt? Ausgeschlossen.“ „Ich sagte Euch bereits, dass es widersprüchlich ist.“ Tōtōsai schüttelte den Kopf und es war mehr als deutlich, dass er die ein oder andere Meinung zu dieser Geschichte gehabt hätte, sich jedoch zurückhielt. „Das ist es, aber gut. Als Kind nimmt man alles hin und du warst kaum mehr als das, als du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist. Ich nehme an, davon wollten sie dich ursprünglich abhalten?“ „In den Westen zu gehen? Das war im Grunde auch nie mein Plan, sondern eine Verkettung von Missgeschicken, aber natürlich: Meine Mutter hat viel Wert darauf gelegt, mir zu vermitteln, was mich im Westen erwarten würde. Nämlich Krieg und Hass und Tod, weil die Inu niemals einen Mischling mit zweifelhafter Loyalität dulden und mich allein meiner Existenz wegen erschlagen würden. Ihr seht: Der Westen war ein denkbar reizloses Ziel.“ „Sie haben dich also nicht einfach gehen lassen.“ „Ich bin aus dem Gebirge geflohen, als ich klein war.“ Argwohn mischte sich in die Züge des Schmieds: „Klein.“ „Elf, vielleicht zwölf. So genau weiß ich das nicht mehr.“ Die großen, weißen Augen des Mannes blinzelten einmal, ein zweites Mal, dann schüttelte er verständnislos den Kopf. „Wie-?“ „Sagen wir, ich kann mich ganz gut am Leben halten.“ Kaito hatte den Unterarm auf seinem angezogenen Knie abgelegt und bleckte die Zähne: „Du hättest nach Stunden tot sein müssen. Nur ein Kampf -“ „’Am Leben halten’ schließt ein, dass man derlei aus dem Weg geht. Weiß, wann man etwas riskieren kann und wann nicht. Ich bin nicht zum Krieger erzogen worden. Alles andere als das. Aber wenn du darauf angewiesen bist, lernst du zumindest jagen - oder verhungerst.“ „Ein junger Inu kann unmöglich durch die Wälder spazieren, ohne aufzufallen“, knurrte Kaito. „Ein Hund schon. Meistens jedenfalls.“ Vermutlich zweifelte sein unerwünschter Zuhörer nicht gänzlich am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. In seinen Augen konnte schlicht niemand über Monate und Jahre umherwandern, ohne in einen Kampf zu geraten. Aber das war vermutlich dem geschuldet, dass er selbst gewiss sehr präsent und mit einer unverhohlenen Herausforderung durch die Welt ging, die er all jenen ins Gesicht spuckte, die seinen Weg kreuzten. Die Diskussionen hatte Minoru zur Genüge geführt - und es war beinahe aberwitzig, wie ähnlich Kaito und Takeru sich in diesen Belangen waren. „Du willst uns weismachen, dass du jahrelang nur Beeren und Hirsch gefressen hast und ohne Kampferfahrung allein überleben konntest?!“ „Mäuse und Kleinvieh“, korrigierte Minoru. „Beeren und selten das, was Menschenfelder hergeben.“ Kaito verzog angewidert das Gesicht. „Warum sollte jemand so leben wollen?“ Oh ja, sehr, sehr ähnlich. Tōtōsai, der den Abtausch bislang schweigend verfolgt hatte, gab ein zustimmendes Murren von sich: „Er hat nicht ganz Unrecht. Die Lebensumstände, das Risiko - warum?“ Warum. Hatte er gerade noch gedacht, die Situation sei vermutlich nicht so schlimm wie befürchtet, riss ihm die Frage den Boden unter den Füßen weg. Wie sollte er nur begreiflich machen, weshalb jedes Horrorszenario, dass sich andere ausmalen mochten, auch durch seinen Kopf gegangen war? Dass ihm in der ersten Zeit jedes Geräusch durch Mark und Bein gefahren war und jeder zu schnell fallende Schatten eine Panik ausgelöst hatte, die er bis zu dem Drachenangriff auf den Palast nicht wieder gespürt hatte? Er war beim besten Willen kein wagemutiger Ausreißer gewesen, wie es sich mutigere Personen wohl zuvor in der Phantasie zurechtgelegt hätten. Nein, er hatte gewusst, dass er Angst haben würde. Dass er vermutlich sterben würde. Und das war es ihm wert gewesen. Warum. „Minoru?“ Er zuckte zusammen, als er seinen Namen aus Tōtōsais Mund hörte und bemerkte das Brennen an seinem Handgelenk, wo ein dünnes Rinnsal Blut aus einem Schnitt hervortrat, den er sich vermutlich selbst geschlagen hatte. Missmutig betrachtete er die gereizte Haut, wo er abwesend ein Armband zu drehen versucht hatte, das seit Jahren versteckt und vergessen in seinen Taschen vegetierte. „Meine Mutter und ich sind nicht sonderlich gut ausgekommen.“ „Das muss die Untertreibung des Jahrtausends sein“, bemerkte Kaito, der den Blick nicht von dem Blut abwenden konnte, das zischend auf dem heißen Boden tropfte und einen metallischen Geruch unter den allgegenwärtigen Schwefel mischte. „Vielleicht.“ Tōtōsai ließ seinen Feueratem auf den Stahl niedergehen und unterbrach damit Kaito, der darüber nicht gerade begeistert schien und sich mit einem Zähneschnappen zurück an die Wand sinken ließ. Dankbar atmete Minoru durch und beobachtete Tōtōsai, wie er das Schwert abermals wendete und in Flammen hüllte. Hitze schlug durch den Raum und ballte sich unter dem Dach, ehe sie sich durch die unzähligen Löcher ins Freie entwand. Als nackte Klinge, ohne das Griffstück mit dem vertrauten Rautenmuster aus schwarzem Band über weißer Rochenhaut, war Tenseiga kaum zu erkennen. Die Scharten glühten weiterhin als schmale, weiße Linien in einem Fluss hell-orange leuchtendem Stahls, aber darüber hinaus hätte es jede Waffe von gleicher Länge sein mögen. Der Alte zog die Spinnenlilien heran und nahm ein kleines Messer zur Hand, um damit die Stängel der Länge nach aufzuschneiden und auszupressen. „Was meintest du damit, sie hätten dich nicht zum Krieger ausgebildet. Zu was dann?“ „Meine Ausbildung war eher höfischer Natur.“ „Was zumindest erklärt, warum du für einen verwahrlosten Streuner so ungewöhnlich eloquent warst. Du kannst lesen?“ „Lesen und schreiben.“ „Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Junge.“ Minoru biss für einen Moment die Zähne zusammen. „Lesen, schreiben und rechnen, rezitieren und singen. Umgangsformen und Benimm. Außerdem diverse Tänze und ich kann - na ja, konnte jedenfalls - Koto spielen. Abgesehen von den wissenschaftlichen Grundlagen also nichts, das einem den Hals rettet, wenn es darauf ankommt.“ „Du bist von einer Frau unterrichtet worden, so viel steht fest.“ Der Alte kratzte verlegen an seinem Kinnbart herum, während Kaito sichtlich damit zu kämpfen hatte, sein Lachen in der Faust zu ersticken. „Und, kannst du gut singen?“ „Wenn jeder falsche Ton dir einen Schnitt einbringt, lernst du sehr schnell sehr gut singen.“ Das Lachen verstummte. Kaito starrte ihn an, Scham und Unglauben zu gleichen Teilen in seiner Miene. Dann murmelte er eine Entschuldigung, die kaum leiser hätte sein können. „Ich will dein Mitleid nicht. Nur, dass du den Mund hältst.“ „Ich nehme an, sie war in allen Belangen so nachdrücklich?“, fragte Tōtōsai mit einem Tonfall, der durchklingen ließ, dass ihn derlei nach tausenden Lebensjahren und ausreichend Kunden längst nicht so sehr schockierte wie Kaito. „Sehr.“ „Was sagt dein Vater dazu?“ „Gar nichts. Wir haben nicht darüber gesprochen. Über nichts davon.“ Ruhe wurde zu offener Ratlosigkeit, als der Schmied sein Messer sinken ließ und ihn musterte: „Ihr habt nicht thematisiert, dass sie dich in den Süden entführt und über Jahre so behandelt hat? Dass dir jedwede militärische Ausbildung vorenthalten worden ist und du ganz offensichtlich bis heute darunter leidest?“ „Ich komme zurecht.“ Tōtōsai überging das: „Weiß er davon?“ „Von mir nicht. Aber vermutlich hat er einiges durch Jikan erfahren.“ Der Schmied blinzelte, dann fluchte er. „Der Bengel kann von Glück reden, dass sein Vater tot ist! Tōga hätte ihm das Fell über die tauben Ohren gezogen!“ „Da ist etwas, das ich nicht begreife“, hob Kaito an, ehe der Schmied einem Ausbruch anheim fallen konnte, der sowohl die Versäumnisse des Fürsten als auch Minorus Schwächen unziemlich breit getreten und damit vermutlich jede Aussicht auf eine Fortführung dieser Unterhaltung in weite Ferne gerückt hätte. „Wozu das alles? Wenn sie dir zuliebe fortgegangen ist, warum ist sie dann grausam gewesen? Um ihretwillen wird sie kaum gegangen sein. Du hättest sie im Handumdrehen zur mächtigsten Frau des Reiches gemacht. Zeig mir eine Inu, die das für eine Liebelei mit einem Fuchs aufgibt - wenn da überhaupt etwas dran ist. Hast du den Kerl überhaupt je gesehen?“ „Hinreichend. Er hat nicht mit uns zusammengelebt, weil er einen Posten als Soldat am südlichen Hof hatte, aber er kam oft vorbei.“ Kaitos Miene verfinsterte sich. „Ein südlicher Soldat? Kommt das nur mir komisch vor?“ Tōtōsai legte nun endgültig das Messer zur Seite und schob mit den dürren Knien durch den Staub, bis er sich Minoru zugewandt hatte: „Erzähl mir von ihm. War er auch grausam?“ Der Gedanke an den Mann, den er sein halbes Leben für seinen Vater gehalten hatte, versetzte ihm einen Stich, wenngleich gänzlich anders als die Erinnerung an seine Mutter. Eine aufwallende Wut wollte den Finger auf dieses oder jenes Ereignis legen und dem Kitsune an die Seite seiner Mutter schieben, scheiterte jedoch. Er besaß nicht genug Phantasie, um sich die beiden in irgendeiner Eintracht vorzustellen. Wenn die zwei je eine Beziehung geführt hatten, war sie schon in Minorus frühster Kindheit in Scherben gebrochen. Seine Mutter hatte den Mann mit Leidenschaft gehasst und alsbald schlecht über ihn und seinen zweifelhaften, schwachen Charakter gesprochen, sobald dieser zur Tür hinausgegangen war. Der Kitsune hingegen hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihm sogar zu gleichgültig war, um ihre Beleidigungen als Anstoß aufzufassen - was sie schlicht rasend gemacht hatte. Um ihretwillen war er demnach nie in die Berge gekommen und selbst wenn man Kaitos Andeutung folgen wollte, dass der südliche Hof involviert und er geschickt worden war, so hatte Minoru als Kind doch immer das Gefühl gehabt, Kōhei komme tatsächlich seinetwegen. Gerade in seinen frühesten Erinnerungen war die Anwesenheit des Fuchses immer etwas gewesen, auf das er hingefiebert hatte. Kōhei hatte ihn während seiner Besuche nach Möglichkeit viel mit nach draußen genommen und sich ständig neue Spiele ausgedacht. Er konnte Geschichten erzählen, die so verstrickt und übertrieben waren, dass sie nur gelogen sein konnten. Aber das hatte Minoru damals nie etwas ausgemacht. Zumal der Fuchs nur gelacht hatte, wenn ihm ein Widerspruch aufgefallen war. Wenn er nicht eben Luftschlösser erbaut hatte, war er in Erzählungen über die Welt vertieft gewesen, hatte Karten in den Boden gemalt, und Fragestellungen erklärt, die Minoru vor seiner Mutter nicht einmal erdacht hätte. Minoru konnte reiten, weil Kōhei es ihm auf diesem sonderbaren Pony beigebracht hatte, das die Anwesenheit von Dämonen nicht fürchtete, und Illusionen durchschauen, weil der Kitsune es zu einem ihrer Lieblingsspiele gemacht hatte. Nein, Kōhei war nicht grausam gewesen. In Wahrheit hatte er nichts getan - nichts, das Minoru geschadet hätte, aber eben auch nichts gegen seine Mutter. Auch die Besuche des Fuchses hatte die Frau ihm schließlich verleiden können. Zwar hatte sie vor Kōhei nicht gewagt, zu weit zu gehen, doch sobald er wieder fort gewesen war, hatte sie all ihre Wut gegen Minoru gerichtet und ihn in aller Ausführlichkeit spüren lassen, was ihr in den vergangenen Tagen und Wochen missfallen hatte - bis Minoru davor zurückgeschreckt war, sich auf Unternehmungen mit Kōhei einzulassen. Das hatte der sehr wohl bemerkt und schweigend hingenommen. Ebenso wie er selbst für Minorus direktes Flehen taub gewesen war. Minoru atmete tief durch. „Er war nicht wie sie. Aber geholfen hat er auch nicht.“ „Weil das vermutlich jenseits seiner Anweisung lag“, entschied Kaito und putzte grob etwas Asche von seinem Ärmel. „Willst du dich jetzt daran festbeißen, dass der südliche Fürst die Finger im Spiel hat?“ „Ist das nicht offensichtlich?“ Nachdenklich und mit einem Finger ausgiebig in seinem Ohr herumpuhlend, betrachtete Tōtōsai einem nach dem anderen, ehe er abwägend den Kopf neigte. „Kannst du dich an seine Uniform erinnern? Seinen Namen?“ „Meine Mutter hat ihm verboten in meiner Gegenwart Rüstung oder Waffe zu tragen. Aber sie hat ihn ständig beim Vornamen genannt. Er heißt Kōhei.“ Der Finger fiel dem Alten so rasch aus dem Gehörgang, wie der Name ihn getroffen haben musste. „Der Han’yō hat recht.“ „Woher wollt Ihr das wissen?“ „Weil Katō no Kōhei kein einfacher Soldat ist. Er ist oberster General der südlichen Armee.“ Minoru fühlte sich, als habe man ihm gerade erneut den Erdboden unter den Füßen weggerissen. „Kōhei? Niemals!“ Niemals war der Mann, der ihm einst Grimassen geschnitten und sich zur seiner Belustigung in allerlei Unfug verwandelt hatte, der hochangesehene General irgendeiner Armee und bekleidete damit denselben Rang wie der westliche Generalleutnant! Der Mann, der sich von seiner Mutter hatte herumkommandieren lassen. Ryouichi hätte den Fuchs in der Luft zerrissen! Tōtōsai kratzte sich mit Nachdruck an der Schläfe. „Schwarze Klauen, rote Haare, schrecklich grüne Augen, nicht? Ich kenne den Mann. Kein Kunde von mir - Gestaltwandler sind mir zu abgehoben -, aber Fürst Hayato nimmt ihn gern als Leibwache zu Veranstaltungen mit und zu Tōgas Zeiten gab es noch die ein oder andere Unterredung zwischen den Reichen. Er ist der einzige Rotfuchs mit schwarzen Klauen, der mir bekannt wäre. Niemand äußerst es laut, weil keiner seinen Unmut wecken will, aber in seiner Familie gab es unweigerlich einen Silberfuchs von Akashi - und das, noch bevor die Insel dem Festland eingegliedert wurde. Vermutlich irgendeine unangenehme Familiengeschichte. Wilde Romanze und Vergewaltigung liegen da nah beieinander. Aber was es auch immer gewesen ist: Es ist sicher ein Grund, warum der Mann zu den besten Illusionisten dieser Epoche gehört. Silberfüchse sind einfach besser darin als die übrigen.“ Minoru hob abwehrend die Hände. „Das will ich nicht glauben! Er hat sich von ihr nach Strich und Faden schikanieren lassen. Ein General lässt sich doch nicht so herabwürdigen, ohne sich zu widersetzen. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte-“ „Die Möglichkeit? Junge, dein vermeintlicher Vater hat auf neutralem Boden Streit mit einer westlichen Patrouille begonnen und fünf Mann im Alleingang angegriffen - darunter diesen Haudegen, der seitdem nur noch als Schneider dienen kann, weil seine kleine Auseinandersetzung mit Kōhei ihm das Bein gekostet hat.“ Fassungslos ließ Minoru die Hände sinken. Yūsei? Kōhei in Rüstung zu sehen, hatte ihn bei ihrem letzten Zusammentreffen bereits ausreichend aus der Bahn geworfen. Die Vorstellung jedoch, dass der Kitsune in der Lage sein sollte, einen solchen Kampf zu überleben und ausgerechnet den Mann zu verstümmeln, der sowohl Ryouichi als auch seinen Vater ausgebildet hatte; jenen Mann, der Jahrhunderte Generalleutnant unter Tōga gewesen war! „Seine Aura“, entgegnete Minoru schließlich, als könne der Einwand sein Weltbild zusammenkitten. „Ich habe ihn noch einmal getroffen, als ich mit Rin nach Norden gereist bin. Es war Zufall und er hatte nicht mit mir gerechnet. Dennoch war seine Aura wie sie immer gewesen ist: Eher gewöhnlich.“ „Es gibt Mittel und Wege, Auren zu kaschieren.“ „Fuchskoralle.“ Minorus Hand fuhr erneut zu seinem Handgelenk und fasste abermals ins Leere. „Aber das ist Unsinn. Vielleicht hat er sie getragen, wenn er in die Berge gekommen ist. Aber auf feindlichem Boden, während der gesamte Westen die Bewegungen der Panther verfolgt? Man muss wahnsinnig sein, um sich in einer solchen Situation selbst zu limitieren.“ „Fuchskoralle, ja“, bestätigte Tōtōsai, der über dieses Art von Wissen ebenso irritiert schien wie über die unlängst vorgebrachte Lektion in Pflanzenkunde. „Tōga war überzeugt, dass er davon Gebrauch macht und sie selbst bei Zusammenkünften der Landesherren trägt, um harmloser zu wirken. Wie üblich hat er recht behalten. Wer einen westlichen Spähtrupp in Scherben hinterlassen kann, scheitert nicht an einer Hofdame. Es sei denn, es widerspreche seinen Anweisungen. Wir müssen uns hier nichts vormachen: Kōhei tut nichts, das Fürst Hayato ihm nicht aufgetragen hätte. Und wenn dein Vater an dir auch nur die Witterung dieses Fuchses wahrgenommen hat, weiß er das ebenso.“ Kaitos Mundwinkel zuckten hämisch. „Also haben die Drachen auch noch die Dreistigkeit besessen, Sesshōmarus Rachefeldzug gegen den Süden zu verschieben? Das hebt doch die Aussicht auf Frieden gleich mal in ganz neue Höhen.“ Minoru würgte das dumpfe Gefühl hinunter, dass es verwerflich war, sich über Einzelheiten zu Kōheis Person mehr Gedanken zu machen, als über die Tatsache, dass der südliche Fürst im Hintergrund über sein Leben entschieden hatte. Vermutlich hätte es ihn treffen müssen, dass es ein Staatsgrenzen überschreitendes Komplett gegen seinen Vater gewesen war, ihn in jenen Bergen aufwachsen zu lassen - mit unnützen Lektionen beschäftigt und von einer niederträchtigen Verräterin mit Erniedrigungen und Fuchskoralle kleingehalten. Und auch Kaito lag mit Sicherheit richtig: Selbst wenn sie wider aller Wahrscheinlichkeit gegen die Drachen bestehen konnten, würde die nächste Armee der Mittagssonne entgegen marschieren. Dennoch. Die Gedanken an jene Zeit waren ohnehin schon so eingebrannt und belastet, dass diese Erkenntnis wie eine Randnotiz erschien. Finsternis ließ sich eben schlecht zu Schwärze addieren. Wenigstens ergab die Abneigung zwischen seinen sogenannten Eltern damit mehr Sinn und sicherlich noch vieles andere, an das er nun nicht denken wollte. Wenn Kōhei nicht einmal auf eigenes Bestreben zu ihnen gekommen war - Bevor er sich in dem Gedanken verlieren konnte, ob jedwede Freundlichkeit nichts als das aufgesetzte Schauspiel eines formvollendeten Täuschers gewesen war, hatte Tōtōsai ihn erneut ins Auge gefasst. „Bei unserer ersten Begegnung erschien absurd, dass ein so schwacher Junge wie du seine Form ändern konnte. Dein Yōki war derzeit erbärmlich genug, um einen Wundinfekt zuzulassen. Wir haben viel spekuliert, aber an Fuchskoralle hat keiner gedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass du dich mit einer solchen Einschränkung verwandeln konntest… wer sagtest du gleich, ist deine Mutter?“ „Ich habe gar nichts gesagt.“ „Wer ist deine Mutter, Junge?“ „Ich kenne ihren Namen nicht. Ich sehe ihr ähnlich und Ihre Familie stammt aus Echizen.“ „Ich werde jetzt keine Karte unter dem Schutt hervorwühlen.“ „Echizen ist äußerster Westen und grenzt ans Meer und die neutralen Gebiete zum Süden. Der Bruder meiner Mutter befehligt das Heer dort. Die zweitgrößte Streitmacht neben Shinano. Rote Rüstungen und weiße Mondembleme. Ihre Flagge zeigt einen -.“ „Phoenix.“ Tōtōsai war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Deine Mutter ist eine Grabwächterin. Verflucht sei dein Vater! Wenn man Schlimmes vermutet, kann man sicher sein, dass er es übertreffen wird!“ Kaito lehnte sich vor. „Was soll das heißen?“ „Dass er zusammengebracht hat, was seit Jahrtausenden aus gutem Grund getrennt war! So ein machtversessener, blinder Narr!“ Der Han’yō bedachte die ansteigende Lautstärke des Schmieds mit einem Stirnrunzeln und wandte sich Minoru zu. „Wovon redet er?“ „Ich habe keinen blassen Schimmer.“ Rauchwolken stoben aus Tōtōsais Nase, während er sich grob über den Kopf fuhr und die Finger in den spärlichen, grauen Zopf vergrub. „Keinen Schimmer?! Wusste Myōga davon? Hat er nie etwas dazu gesagt?“ „Er wollte, wenn ich mich recht erinnere. Aber wir wurden unterbrochen.“ Außerdem hatte er Myōga früh gebeten, ihm nicht ständig mit Familiengeschichten in den Ohren zu liegen, als all diese Verbindungen wie ein Sturzregen über ihn hereingebrochen waren. Ein Fehler, wenn er es rückblickend betrachtete - und mit Sicherheit nicht sein einziger. Der Alte entspannte sich ein wenig, murmelte etwas von ‘Myōga’ und ‘verblendeter Loyalität’, dann sammelte er seinen letzten Rest Fassung zusammen und wandte sich Kaito zu. „Inu sind keine Naturgeister, sondern menschengemacht. Die Menschen hatten Mittel und Wege aus einem Hund einen Rachedämon zu schaffen, der ihr Heim schützte oder ihre Feinde tötete. Das ging so lange gut, bis sich einer der Inugami gegen seine Herren aufgelehnt und mit anderen seiner Art eine ganze Zivilisation in den Staub geworfen hat.“ „Akaya.“ Minoru erinnerte sich an die Geschichtslektionen des Lehrers, den seine Großmutter für ihn einbestellt hatte. „Beide Linien meiner Familie führen sich auf ihn zurück. Aber es sind tausende Jahre dazwischen. Es ist doch nicht so, als hätte mein Vater mit seiner Schwester -“ „Weißt du, weshalb Akaya bis heute Angst auslöst?“ „Ich nehme stark an, das hat etwas mit dieser Zivilisation zu tun, die er dem Erdboden gleich gemacht hat.“ „Sō’unga wurde mit seiner Aura beseelt. Ein Stück seiner Selbst. Die manipulativste und blutrünstigste Waffe, die jemals geschmiedet worden ist. Euer Großvater hat zeitlebens versucht, sie zu zerstören. Nur deshalb kannten wir uns überhaupt - weil er einen Schmied gesucht hat, der ihm hilft, dieses Höllenschwert zu vernichten. Ich habe es gehalten. Ein paar Sekunden.“ Er schauderte, machte ein paar Mal den Mund auf, schloss ihn wieder und schüttelte schließlich den Kopf. „Wenn dieses Ding nur ein Bruchstück widergespiegelt hat, will ich mir den Dämon dahinter nicht einmal vorstellen. Und Akaya ist nicht etwa Geschichte. Inugami sind die Rachegeister toter Hunde. Während die eine Linie der Familie sein Schwert vererbt, wacht die andere seit Jahrtausenden über den Schrein einer mumifizierte Hundeleiche - und das sicher nicht zum Spaß. Die Frage ist also: Was hast du zu rezitieren gelernt, Junge?“ Kapitel 59: dass du nun frei bist. ---------------------------------- „Einen Inugami erwecken?“ Zuerst war es nur ein Kratzen im Hals, das sich schwerfällig seinen Weg bahnte, ein Schnauben, noch eines, dann konnte er das Lachen nicht mehr zurückhalten. Prustend biss er die Zähne aufeinander, während Tōtōsais altersgraue Haut die Farbe von Kreide annahm. Der Gedanke war so grotesk! So absurd! War der Alte senil oder hörte er schlicht nicht zu? „Ich bitte Euch! Wenn meine Mutter einen Fluch gekannt hätte, jemandem Schluckauf an den Hals zu wünschen, hätte sie ihn mir nicht beigebracht, geschweige denn das!“ Der Schmied räusperte sich ausgiebig, nachdem er seine entgleiste Mimik in geordnete Bahnen gelenkt hatte: „Das ändert nichts daran, dass du gefährlich bist.“ Die Spannung in Minorus Gesichtsmuskeln floss dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Es war sonderbar, dass sich neuerdings die Auffassung breit machte, er sei aus dem ein oder anderem Grund mit Vorsicht zu genießen - ob nun als Partner für die behütete Tochter oder als eigenständige Person. War er eigentlich der einzige, der diese Ansicht nicht teilte? Gewiss, einen solchen Eindruck zu vermitteln, war letztlich erforderlich, wenn er als Sohn seines Vaters auftrat. Nicht zuletzt deswegen hatte er die neue Ausrüstung gewählt und im Heerlager erstmalig den Respekt eingefordert, der ihm durch seine Geburt Zustand. Doch die Einsicht, dass die Rolle des Erben nun einmal zu seinem Leben gehörte, und tatsächlich als Bedrohung wahrgenommen zu werden, waren zweierlei Dinge. Er hatte bislang nicht viel getan, um diesen Anschein zu decken. Was zu tun wäre, wenn sich jemand nicht von dieser Fassade einschüchtern ließe, stand noch offen. Der Schmied betrachtete ihn eindringlich. „Wenn das jetzt Bescheidenheit ist, habe ich wirklich alles gesehen. Aber in deinem Fall wohl eher… Unsicherheit?“ „Und Ihr glaubt hoffentlich nicht, auf derartige Anmaßungen auch noch Antworten zu bekommen.“ „Behagt es dir nicht, wenn man dich als gefährlich bezeichnet?“ Minoru zog die schwefelige Luft tief in die Lungen und spürte ihrer Hitze nach, während er die Hände auf den Oberschenkeln ablegte. Da waren sie also wieder an diesem einen Punkt angekommen. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, dass Tōtōsai ein Freund seines Großvaters gewesen war und eine Vielzahl seiner Ideale teilte, wäre ihm spätestens nun die Parallele aufgefallen. Der Schmied war zwar längst nicht so provokant oder geschickt darin, seine Motive zu ergründen - und das hing sicherlich damit zusammen, dass er sich nur halb so viel Mühe gab, den Fokus des Gespräches zu lenken wie sein Großvater es getan hatte -, dennoch wollten sie beide offensichtlich auf dasselbe hinaus. „Ich sollte mich wohl damit abfinden, dass die Ansichten des Erben eines Großreiches für viele von besonderem Interesse sind. Lasst mich das also abkürzen und Euch das mühselige Herumstochern in den Abgründen meiner Ideale ersparen: Meine Herkunft hätte auch ohne meine Mutter zur Vorsicht geraten, aber bisweilen sehe ich mich nicht als Gefahr für andere. An den Drachen beißt sich selbst mein Vater seit vier Jahren die Zähne aus, meine Mutter ist unerreichbar und Kōhei nicht meine Kragenweite. Der Rest ist mir gleichgültig. Was Ihr seht und befürchtet, ist, was alle sehen: Ich bin der Sohn meines Vaters und damit allem voran eine Spiegelung all jener Angst und Ehrfurcht, die andere für ihn empfinden. Habt ihr mich etwa gefürchtet, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Wohl kaum. Eure Sorge hat also nichts mit mir zu tun.“ „Vollidiot“, knurrte Kaito von der Seite, ehe Tōtōsai eine ähnliche Erwiderung hervorbringen konnte. „Du kannst nicht mehr in einem Erdloch hocken und dich vor jeder Gefahr wegducken wie früher. Deine Aura verheißt auf mehrere hundert Meter Tod und Verderben, merkst du das nicht? Du solltest dankbar sein, früher dieses Korallendings getragen zu haben, sonst hätte dir jeder dahergelaufene Oni das Fell abgezogen, um damit vor seinen hirnlosen Kumpeln anzugeben. Natürlich stehst du in seinem Schatten und hattest eine beschissene Ausbildung, aber außer dir ist niemand so dumm, das Biest hinter dem Kind zu verleugnen.“ Minoru weigerte sich, ihn anzusehen und betrachtete stattdessen Tōtōsai, der immer noch den Mund geöffnet hatte, ihn jedoch alsbald schloss und sich geräuschvoll räusperte: „Was er gesagt hat.“ Nun wandte er sich doch seinem Vetter zu: „Ich leugne gar nichts.“ „Wie kann man so verflucht blind sein? Nur weil dir gerade die Lust fehlt, jemandem die Kehle herauszureißen, bist du doch nicht harmlos. Im Vergleich zu deinem Vater ist jeder ein Lamm, aber das kann doch nicht dein einziger Richtwert sein!“ „Er ist mein einziger Richtwert. Weil ich nicht seine Möglichkeiten, aber trotzdem dieselben Feinde habe. Wenn man mich jetzt noch öffentlich als Gefahr wahrnimmt-“ „Dann was? Das macht den Braten doch nicht mehr fett! Im Gegenteil. Wie überlebe ich wohl? Glaubst du nicht, dem ein oder anderen Dämon würde es gefallen, selbst das verwaschenste Blut aus Tōgas Linie an eine Wand zu schmieren? Niemand wird dich schonen, weil du einen auf handzahm machst. Lass sie vor dir in den Staub fallen, wo sie hingehören, verdammt!“ „Wo ist das kuschende Hundchen, das den Zwillingen Narrenfreiheit gelassen hat?“ Kaito bleckte die Zähne. „Gib mir zwei Minuten mit ihnen. Dann können die Narren ihre Freiheit haben.“ „Dein Dorf-“ „Scheiß auf das Dorf. Sie können die Überreste dieser Gören haben und damit ihre Felder düngen, wenn sie Bock drauf haben.“ Tōtōsai betrachtete Kaito mit einem Anflug von Unglauben, schwieg jedoch. Minorus Miene hingegen blieb ausdruckslos. Er hatte immer geahnt, dass in Kaito entgegen aller Blutanteile mehr Yōkai steckte als in dessen Vater. Spätestens seit Ryouichi von seiner Kriegsbeteiligung erzählt hatte, war er sicher gewesen. Die Zwillinge hatten nur deswegen überlebt, weil Kaito zu loyal war, um sich gegen die Freunde seiner Eltern zu wenden. Eine Loyalität, die offenbar ihre Grenzen erreicht hatte. „Außerdem geht es hier nicht um mich“, fügte Kaito hinzu, „sondern darum, dass du mich wahnsinnig machst!“ „Ich glaube kaum, dass das der Grund für dieses Gespräch ist.“ „Ach, verreck doch.“ „Sind wir jetzt wieder beim Neid angekommen, ja? Ich habe verdammt nochmal nicht darum gebeten, ‘bei der Verteilung von Potential ganz vorn zu stehen’, wie du es nennst und würde es auch nicht. Was hat es mir schon eingebracht? Eine Kindheit als politischer Spielstein. Geerbte Feinde, deren Namen ich nicht einmal kenne. Wie erstrebenswert Ansehen und Macht erscheinen muss, wenn man sich nicht um die Konsequenzen schert.“ „Wollen wir nochmal darüber sprechen, wer hier wohl in Selbstmitleid versinkt?“ „Das ist kein Selbstmitleid, das sind Fakten! Die Drachen im Palast, die Zwillinge - da ging es doch nicht um mich!“ „Oh, ich glaube, den Zwillingen ging es sehr wohl um dich.“ „Ach, dann muss man wohl zum Teil Mensch sein, um zu begreifen, was in diesen Spatzenhirnen vor sich geht?“ „Jungs.“ „Kannst du dir mal aussuchen, ob du auf alle Welt herabsiehst oder dem Druck deiner Situation nicht gewachsen bist?“ „Kannst du dir endlich aussuchen, ob du mich für arrogant oder schwach hältst?“ „Jungs!“ Tōtōsai drosch mit dem Hammer derart heftig auf den Amboss, dass der Ton in Minorus Knochen hinauf bis in die Zähne vibrierte. Fluchend presste er die Hände auf die Ohren und grub die Krallen in Kopfhaut, um den Schmerz zu bändigen, der durch seinen Schädel schoss. Kaito erging es keinen Deut besser - nur dass seine Flüche lauter und weniger verhalten ausfielen. Als Minoru sich zwang, zum Schmied zu sehen, klopfte der gerade in aller Seelenruhe auf seinem Ohr herum, als müsse er ein lästiges Piepen verscheuchen. „‘Schaff’ dir keine Kinder an’, hat man mir geraten. Warum hat keiner erwähnt, dass man dann auch alle Freunde aussortieren muss, die Kinder bekommen, wenn man nicht deren Brut hüten will? Aber hier sitzen wir nun.“ Er seufzte. „Wahrlich, der Floh hat sich geschickt aus der Affäre gezogen.“ „Was sollte das?!“ Kaito war bereits auf den Beinen und ebenso schnell wieder am Boden, als Tōtōsai erneut den Hammer zu heben drohte. „Es reicht, wenn ihr euch einmal am Tag umbringen wollt. Zumal ihr beide viel mehr davon hättet, aufeinander zu hören. Die Einschätzung über die Vielzahl der Feinde des westlichen Erben und die eingeschränkten Möglichkeiten der Jugend sind realistisch. Das musst du auch sein, wenn du so lange allein überlebt hast. Vermutlich war es dabei sogar hilfreich, dass du dich chronisch unterschätzt hast. Du hast mich jedoch missverstanden. Ich sagte, du seist gefährlich. Das ist etwas anderes als eine Gefahr zu sein.“ Minoru rieb sich immer noch mit einer Hand die Schläfe, um das Dröhnen zu vertreiben. „Wo ist der Unterschied?“ „Auch Tōga war gefährlich und musste es sein. Die Drachen hingegen sind eine Gefahr - für das Land, für die Stabilität, für den Frieden. Der Bengel hat recht, dass sie dich fürchten sollten. Das würde dir nicht schaden. Schon gar nicht mit deinen Ambitionen.“ „Meinen Ambitionen.“ „Wegen eines Versprechens zwischen eine dreiteilige Kriegsfront zu laufen. Eine Übung verlassen, um ein paar Halbdämonen zu helfen. Zwei Kinder in einem Palast beschützen, der von Drachen und Panthern überrannt wird - soll ich weitermachen? Das war nicht der Schatten deines Vaters oder ‘geerbte Feinde’. Das alles hast du dir eingebrockt.“ Minoru knirschte hörbar mit den Zähnen und wusste nur zu genau, woher diese ausführlichen Informationen stammen mochten. Tōtōsai las ihm den Unmut von den Augen ab und bestätigte seine Annahme: „Ich hatte Myōga hier und der hörte sich gern selbst reden - insbesondere über dich. Ich weiß außerdem um die Unterhaltung zwischen dir und Chizuru. Dass du dich der Gesamtsituation eher widerwillig gebeugt hast und dein Vater eine dürftige Hilfe gewesen ist. Der Vergleich zwischen dir und Tōga wurde oft genug gezogen und auch wenn ich längst nicht so viel von ihm in dir sehe wie Myōga es getan hat, sind da Ähnlichkeiten in euren Denkweisen und Handlungen: Er ist gestorben, weil er das Leben einer Menschenfrau und seines halbblütigen Sohnes über sein eigenes gesetzt hat. Das war kein kopfloser Fehler, sondern eine bewusste Entscheidung. Du teilst manche seiner Ideale, aber längst nicht seine Weitsicht. Wenn du in Lebensgefahr gerätst, dann weil du kopflos warst; die Konsequenzen nicht abgewogen hast. Was du tust, kostet, Junge. Wenn du nicht bald anfängst, diese überstürzte Selbstlosigkeit mit Macht aufzuwiegen, wirst du sterben. Jünger als er.“ Mit einem tiefen Atemzug ließ Minoru eine Hand durch seine Haare gleiten. Tōtōsais Argument war schlecht von der Hand zu weisen. Jede der genannten Entscheidungen hätte ihn töten können und einige hatten es sehr effizient versucht. Hatte er seinem Großvater nicht gesagt, Macht sei zu gefährlich, um sie ohne Zweck anzuhäufen? Nun, ein Zweck war das immer noch nicht. Eher eine dumme Angewohnheit. Aber wie kam es, dass seine Weigerung, nach Macht zu streben, Tōga derart amüsiert hatte, während Tōtōsai und Kaito beide den Fehler in der Logik erkannten? Weil Tōga sich nicht im Klaren gewesen war, was für närrische Entscheidungen sein Enkel bereits getroffen hatte? Weil er in erster Linie den Vergleich mit dem Fürsten gezogen hatte und die bloße Kluft Grund genug zur Erheiterung bot? Minoru wusste es nicht und so sehr er sich auch mühte, sein Verstand wollte keine klaren Schlüsse mehr zulassen. „Ich bin müde“, sagte er schließlich und ließ die Hände sinken. „Wird das hier noch lange so weitergehen? Ihr scheint ausreichend im Bilde, um mir Ratschläge zu geben. Das sollte doch genügen.“ „Es genügt. Mir fehlt allerdings noch eine Kleinigkeit.“ Der Schmied kramte nach etwas. „Ein Fangzahn ist mir bei dir zu heikel. Der Reißzahn sollte es tun.“ „Bezaubernd.“ Die überdimensionale Zange, die er hervorzog, hätte gewiss ein ungutes Gefühl hervorgerufen, wenn Minoru nicht mit einem Mal so unendlich erschöpft gewesen wäre. Zu erschöpft, um den Schmied darauf hinzuweisen, dass Fangzähne zwar beeindruckend wirken mochten, es aber die Reißzähne waren, die Muskeln durchtrennten und Knochen zermahlten. Der Alte wusste schon, was er tat. Seit Minoru nach draußen gegangen war, um seine seelischen und zahnbedingten Wunden zu lecken, hatte sich Kaito weiter von der Esse zurückgezogen und Shiokiri gewidmet. Tōtōsai war im Besitz von Utensilien und Pulvern, die den Reinigungsprozess um ein Vielfaches erleichterten und entgegen seiner sonst barschen Persönlichkeit war er hier freigiebig. Er hatte es stets begrüßt, wenn man Waffen pflegte und Shiokiris erbarmungswürdiger Zustand vergalt jeden Arbeitsschritt mit einer so deutlichen Verbesserung, dass der Schmied immer wieder zu ihm hinüber sah und zufrieden nickte oder ihm ein anderes Pulver hinüberwarf, das er mit Öl mischen und einarbeiten sollte. So ging es nun schon einige Stunden, in denen Tōtōsai das Unmögliche vollbracht und Tenseigas Mantelstahl vom flexibleren Kernstahl getrennt hatte, nur um anschließend mindestens zwei weitere Barren unterschiedlicher Güte aus den Anteilen herauszuarbeiten. Das war der Punkt, an dem Kaito keine Fragen mehr stellte und schlicht mit offenem Mund dasaß, während Tōtōsai die verschiedenen Schmelzpunkte im Gradbereich abzuwägen schien und die Klinge mit Zange, Meißel und Hammer zerlegte, wie manch anderer einen Fisch ausnehmen mochte. Ein Meister, wahrlich, und eine Handwerksfertigkeit, die das Vorstellungsvermögen eines menschlichen Zunftgenossen um Längen überstieg. Schließlich wischte sich sogar der Schmied den Schweiß von der Stirn, auch wenn dies sicher nichts mit der herrschenden Hitze zu tun hatte. Er zog das Zypressenholz heran und spaltete es in dünne Fasern, die er auf die Kohlen legte. Der Zitronengeruch des Holzes breitete sich mit dem Qualm in der Hütte aus. „Wirst du mit ihm gehen?“ „Ja. Einer muss schließlich dafür sorgen, dass Tenseiga auch heil ankommt.“ „Und danach?“ „Keine Ahnung. Die Drachen haben keinen Grund, ihre gesamten Truppen ins Feld zu führen. Nicht solange die Waage so deutlich in ihre Richtung neigt. Auch wenn wir überleben, wird der Krieg also kaum nach dieser einen Schlacht enden. Ich werde etwas zu tun finden, wenn es soweit ist.“ „Wieder Spähtrupps abfangen oder einzelne Panther töten?“ „Warum nicht? Das liegt mir.“ Tōtōsai legte einen Stahlbarren in das Nest aus Holzfasern und sah ihn an. „Seit wann siehst du deine Eltern nicht mehr?“ „Wie kommst du darauf, dass- ?“ „’Scheiß auf das Dorf’?“ Kaito rollte mit den Augen, dann zuckte er mit den Achseln. Was hatte er erwartet? Der Mann kannte ihn zu gut. „Eine Weile. Nach dem Drachenangriff habe ich mich erholt und bin gegangen. Stellte sich heraus, dass es nicht gut ankommt, wenn man einer Entführung untätig beiwohnt. Und da ich meinen Mund nicht halten kann, habe ich es mir mit meinen Eltern versaut, als ich die Entführung eines Mädchens als ‘kleineres Übel’ bezeichnet habe.“ „Ein hartes Urteil.“ „Die Wahrheit. Sesshōmaru hatte im Grunde schon den Befehl zur Vergeltung gegeben. Das Dorf war am Boden. Die Inu hätten auch den kläglichen Rest niedermachen können, wenn dieser Generalleutnant nicht eine sehr freie Deutung seiner Anordnung gewagt hätte.“ Tōtōsai seufzte. „Ich habe Inuyasha gesagt, dass das nicht ewig gut gehen würde. Das mit dir. Wäre es leicht, Han’yō bei Menschen unterzubringen, würde es doch jeder tun. Aber er wollte wie üblich nicht zuhören.“ „Es klappt besser als andernorts. Meine Eltern haben drei Kindern ohne viele Scherereien in einem Menschendorf aufziehen können, genießen ein gewisses Ansehen, haben ein Haus und es gibt genügend Landplagen, um alle durchzufüttern. Das ist mehr als man erwarten darf.“ Der Schmied betrachtete ihn eingehend, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, holte den Stahl aus dem Feuer und faltete ihn unter stetigen Hammerschlägen. Kaito hatte sich längst wieder seinem Schwert gewidmet, als Tōtōsai nach einer langen, vom Dröhnen des Schmiedehammers unterbrochenen Stille, wieder das Wort ergriff: „Oni, Spähtrupps und vereinzelte Panther. Befriedigt es dich, am Rande der Schlachtfelder die Reste aufzulesen wie eine Aaskrähe?“ „Versuchst du mit mir jetzt denselben unterschwelligen Quatsch wie eben? Sag, was du zu sagen hast oder lass es bleiben.“ „Ich zweifle an deinen Beweggründen. Wenn du nur dort bist, um Stahl in lebendes Fleisch zu rammen, wird es wohl genügen. Aber um wirklich einen Unterschied zu machen, ist es doch sehr dürftig.“ „Und weiter?“ Der Alte blinzelte. „Wie bitte?“ „Du fängst nicht mit meinen Eltern an, um dann an der Wahl meiner Gegner herumzumäkeln, wenn es keinen Hintergedanken gäbe. Und du kennst mich zu gut, um wirklich zu glauben, dass ich das nur mache, um jemandem eine blutige Nase zu verpassen. Ich sage es noch ein letztes Mal: Lass diesen verschachtelten Scheiß.“ „Du weißt längst, worauf ich hinaus will.“ „Ich bin schließlich nicht blöd. Aber ich weigere mich, dieses Gehampel mitzumachen, das du mit ihm abgezogen hast.“ „Schön, dann direkt: Deine Zeit unter den Menschen ist abgelaufen. Selbst das an Dämonen gewöhnte Umfeld deiner Eltern ist nun voll Abneigung und Angst. Mit der Jagd auf Dämonen kannst du ein Auskommen als besserer Kammerjäger haben, aber Rattendämonen auszuräuchern, wird dich ebenso wenig zufriedenstellen wie Oni abzuschlachten. Das ist unter deiner Würde.“ „Wie schön, dass du weißt, wo meine Würde endet.“ „Ich kenne deinesgleichen lang genug.“ „Deine Historie von Han’yō-Bekanntschaften muss enorm sein.“ „Inu.“ „Wie bitte?“ „Diese kleinen Fische niederzustrecken, fordert dich nicht und was dich nicht fordert, frustriert. Die richtigen Gegner - die, die es wert sind das Schwert zu ziehen - stellen sich anderen, während du aus der Entfernung deine Chancen kalkulierst und dich überlegen wähnst. Im Gegensatz zu Sesshōmarus Jungen genießt du den Kampf. So warst du schon immer. Dieses Auflesen von Resten passt nicht zu dir.“ Kaitos Kiefer mahlten missmutig, während er das Nelkenöl von der Klinge strich, um sauberes aufzutragen. Er hätte dem Schmied gern widersprochen, aber jede Entkräftung, die ihm in den Sinn kam, wäre eine Lüge gewesen. Seine Mutter mochte Nachsicht mit ihm haben - er genoss es tatsächlich. In den vergangenen Jahren hatte er die Nähe der Schlachten nur verlassen, um andernorts Kopfgelder einzustreichen. Im Gegensatz zu den Dämonen musste er gelegentlich essen - von dem widerlichen Beerensaft ganz zu schweigen, ohne den seine Hände bis heute zitterten, während sein Schädel zu bersten drohte. Wahrlich, nur ein paar Minuten allein mit den Zwillingen und sie würden all das bekommen, was sie ihm immer nachgesagt hatten und noch mehr. Abermals stolperte er über den Rachegedanken, wie jedes Mal, wenn er sich darin verlor. Seine Meinung zu vertreten, hatte die Kluft zu seinen Eltern bereits erweitert. Er wusste, dass er ihnen nie wieder unter die Augen treten konnte, wenn er Rache vor Vergebung setzte und die Kinder ihrer besten Freunde tötete. Dass das seine einzige Hemmschwelle war, sagte vermutlich genug über ihn aus, um Tōtōsais Beurteilung zu stützen - und das, worauf er hinaus wollte. Es würde leicht, ein Auskommen zu haben, solange es Dörfer gab, die von Dämonen geplagt waren. Aber er kannte den Ausdruck in den Mienen, wenn jemand wie er Arbeit annahm oder gar seinen Lohn verlangte. Es wäre ein Leben voller Undank und Ablehnung. Kein Dorf würde ihm erlauben zu bleiben und auch in Städten würde er auffallen. Angst trieb Menschen zu irrationalen Handlungen und Andersartigkeit schürte Angst besser als ins Feuer gegossenes Öl. Irgendwann würden man einen Dämonenjäger auf ihn ansetzen, den er vermutlich töten würde, nur um damit alles noch schlimmer zu machen. „Du hättest mich wohl nicht für Tenseiga brauchen können.“ „Natürlich nicht. Du bist kein Yōkai.“ „Darüber hinaus.“ „Euch jungen Hunden tut der Frieden wohl nicht gut, was? Diese ganzen Selbstzweifel, Unsicherheiten und die Erwartungen anderer. Keiner von euch beiden scheint zu wissen, wo sein Platz ist. Geschweige denn, wer er ist.“ Tōtōsai hob den Blick und betrachtete ihn eingehend. „Andererseits… vielleicht ist das die Jugend.“ „Zu lange her bei dir?“ „Nun werd’ nicht frech!“ Rauch stob aus den Nasenlöchern des Alten. „Wenn Tessaiga eines Tages dir gehört, vergisst du hoffentlich nicht, wozu ich es erdacht habe.“ „Mir?“ Kaito starrte ihn an, witterte jedoch die Falle hinter den Worten. „Worauf willst du hinaus?“ „Ich habe Tessaiga nicht geschmiedet, damit es als Wandschmuck Flugrost ansetzt. Die Inu haben immer Verwendung für gute Schwerter.“ Und Männer, die sie führen?, Kaito schnaubte. „Für gute Schwerter mit Stammbaum.“ Wenn das nicht der sagenumwobene Wink mit dem Zaunpfahl gewesen war! Sehr plump - und absolut schwachsinnig. Allein die Vorstellung, wie er sich in den Reihen der westlichen Armee einfügen sollte, scheiterte im Grundsatz. Ebenso gut hätte man einem Schaf Schuppen auf die dichte Wolle malen können, ehe man es zum Ersaufen ins Meer warf. Die Verachtung der Inu war nicht minder verletzend als die Angst und Abscheu, die die Menschen ihm entgegenbrachten. Obgleich er zugeben musste, dass er Verachtung besser ertrug. Die Inu sahen ihn nicht als Bedrohung und so musste er sich zumindest keine Sorgen machen, dass man ihm des Nachts auflauerte. Hätten sie ihn töten wollen, dann in aller Öffentlichkeit, mit der Waffe in der Hand. Immerhin wollte sich niemand nachsagen lassen müssen, den fairen Kampf mit einem nichtigen Han’yō gescheut zu haben. Dulden würden sie ihn deswegen noch lange nicht und Kaito verspürte auch keinerlei Drang, sich ihnen anzubiedern wie ein Streuner auf der Suche nach einem warmen Herd. „Der Großteil der Dämonen hat Vorurteile. Der Großteil der Menschen ebenso. Aber der Großteil ist nichtig, wenn der Fürstenjunge beschließt, dass er dich an seiner Seite will.“ „Warum sollte ich in den Westen gehen?“ „Soll ich an deinen Stolz oder an dein Verantwortungsbewusstsein appellieren? „Überrasch mich.“ „Du bist belanglos. All dein Talent und deine Ambitionen verlaufen im Sand. Deine Aussichten, einen Unterschied zu machen, sind verschwindend gering. Die wahren Entscheidungen werden an anderen Tischen getroffen. In den Räten der Fürsten und auf den großen Schlachtfeldern. Blut hat den Jungen da draußen in eine Machtposition gebracht. Du solltest ihn und deine Abstammung nutzen. Finde einen Platz, der dir mehr Handhabe gibt als Oni und Spähtrupps, Ratten und Gesindel.“ „Dass du mich für derart arrogant hältst, schmerzt.“ „Dann geht es doch nur darum, ein paar Köpfe zur eigenen Erheiterung rollen zu lassen? Unsinn, Junge. Du bist nicht halb so verletzt wie du sein willst und meine Einschätzung deckt kaum einen Bruchteil deines Geltungsdrangs.“ „Ich werde nicht Minorus kleine Kuriosität, damit ich in seinem Schatten atmen darf, wie Rin es bei seinem Vater tut.“ Tōtōsai betrachtete ihn äußerst skeptisch. „Bist du sicher, dass du genau diesen Vergleich ziehen willst? Ihr streitet euch zwar wie ein altes Ehepaar, aber ich dachte nicht, dass ihr… nun-“ „Götter, nein! Nein!“ Der Alte zuckte mit den Achseln. „Trotzdem ein schlechter Vergleich. Das Menschenkind hat sicher ihre Berechtigung. Aber bis auf ein paar verstaubte Gefühlsregungen zu wecken, trägt sie wenig zur Stabilität des Landes bei.“ „Was, abgesehen davon, dass du ihre Auswirkungen verkennst, bei mir natürlich ganz anders wäre.“ „Das wäre jedenfalls wünschenswert.“ „Oh ja, ich sehe ihn schon vor mir, wie dieser arrogante Köter ganz heiß auf meinen Rat und meine Gesellschaft ist und seinen ohnehin schwierigen Stand damit untergräbt, jemanden wie mich in seiner Nähe zu haben.“ „Auf mich wirkt er nicht arrogant. Der einzige von euch, der dem anderen die Abstammung vorhält, bist du.“ Kaito erstarrte. „Das ist nicht wahr!“ „Er ist mit einem Wolf befreundet, trauert um einen Flohgeist und dachte sein halbes Leben lang, man würde ihn aufgrund seiner Abstammung hinrichten. Seine Stellung bedeutet ihm weniger als sie sollte und dir bringt er mehr als genug Respekt entgegen.“ „Respekt?“ „Er lässt sich wohl kaum von jedem einen Vollidioten nennen und denkt über Kritik nach, die ihm derart beleidigend um die Ohren gehauen wird. Ihr streitet auf Augenhöhe, vielmehr noch, er lässt dir sogar die Oberhand und spuckt nicht alle zwei Minuten Morddrohungen aus. Das will in eurer Familie etwas heißen.“ Während sich der Schmied daran machte, den noch blutigen Reißzahn in einem Mörser zu zerstoßen, mahlten in Kaitos Verstand die Gedanken. Respekt. So weit er sich erinnern konnte, hatten sie seit ihrer ersten Begegnung neben schweigen und streiten wenig anderes getan. Auf kurz oder lang endeten ihre Zusammentreffen in Provokationen und Zähnefletschen. Eine Unterhaltung hatte es nie gegeben und wenn Kaito an eine positive Situation zurückdenken sollte, kamen ihm trotz allen Hasses bessere Erinnerungen mit den Zwillingen in den Sinn. Vermutlich, weil er Minoru erst kennengelernt hatte, als sein Leben ohnehin schon drohte, den Bach hinunterzugehen. Eine hatte es allerdings gegeben. Verdrießlich blickte Kaito auf das Schwert hinab. Mit dem Wissen um die Fuchskoralle ergab es plötzlich Sinn, weshalb Minoru sich für ihn eingesetzt hatte, als Kaitos Eltern ihm mit der Halskette davon abgehalten hatten, sich zu verteidigen. Es überraschte Kaito nicht, dass Minoru demnach lediglich etwas angeprangert hatte, das ihm selbst widerfahren war. Dieses Maß an Egozentrik musste man bei einem Dämon wohl oder übel erwarten, doch das tat der Sache keinen Abbruch, dass Kaito sich in dem Moment ausnahmsweise nicht allein gefühlt hatte. Minoru hatte den Widerspruch erkannt: Während den Zwilligen freie Hand bei Provokationen und Handgreiflichkeit gelassen worden war, hatte man ihm jede Gegenwehr untersagt - weil sie menschlich waren und er nicht. Doch davon abgesehen hatte Minoru seine Missachtung stets offen zur Schau getragen. Er hatte sich bei den Mönchen eingemischt und auch noch Dank erwartet, dabei hätte Kaito die Situation mit weniger Blutvergießen selbst regeln können. Auf der Reise nach Musashi und im Dorf selbst hatte er kaum eine Handvoll Sätze hervorgewürgt und sich sonst von jedermann zurückgezogen, der zu weit unter seiner Würde war, und im Angesicht des ersten Drachen, hatte er sein Schwert an Kaito abgetreten, nur um anzugeben und - Kaito stockte. Nicht um anzugeben. Sondern weil er im Umgang mit der Waffe nicht ausgebildet worden war. Hatte er nicht sogar behauptet, das Schwert abzugeben, weil Kaito damit besser umgehen könne? Und wenn all das, was wie Arroganz aussah, nichts weiter gewesen war als die Distanz eines Jungen, den man von mütterlich grausamer Erziehung in väterlich hohe Ansprüche samt Hofprotokoll gestoßen hatte? Kaito brauchte einige Minuten, um zu verarbeiten, dass er nicht fair gewesen war. Dass er sich selbst der Voreingenommenheit schuldig gemacht hatte, die er anderen stets vorwarf. Mit keinem Wort hatte Minoru ihm je seine Herkunft vorgehalten. Er hingegen hatte freigiebig Salz in offene Wunden gerieben, wo immer sie auch geboten worden waren. Hatte er nicht geahnt, dass es um seinen Vetter längst nicht so sorgenfrei bestellt war, wie er ihm ständig unterstellte? Palastbengel. Verwöhntes Muttersöhnchen. Kaito biss sich auf die Wange. Allein. Neben all den unsinnigen Beleidigungen, die geworfenen Steinen gleichkamen, war die Letzte der Dolch gewesen und vermutlich die einzig richtige Einschätzung. Minorus bloße Existenz provozierte ihn wahrlich ausreichend, um ein richtiger Arsch zu sein - und doch stritten sie noch miteinander, als sei die Meinung des anderen mehr als Vorurteil und Geringschätzung. „Gut, fein. Er mag mich respektieren, aber es wäre dumm von ihm, ein Halbblut in seiner Nähe zu halten. Allein weil er nicht am Hof aufgewachsen ist, wird sein Vater bei jeder Gelegenheit drohend hinter ihm stehen müssen, um die Zweifler daran zu erinnern, dass er sein legitimer Nachfolger ist. Er sollte seine Sorge um die Feinde von außen lieber ganz schnell nach innen richten und da passe ich nicht hinein.“ Tōtōsai deutete mit einer alterskrummen Kralle auf ihn. „Und deswegen, mein Lieber, braucht er dich. Nicht, weil ihm das nicht selbst bewusst wäre, sondern weil du es auch siehst. Ich kenne den Hof seit einigen Generationen und wir wandeln hier auf sehr dünnem Eis. Sobald er als Erbe in die Öffentlichkeit tritt, beginnt der Sturm. Dutzende werden sich um ihn reißen, versuchen, ihn zu formen, ihm ihre Töchter anpreisen; werden Einfluss auf ihn nehmen, seine Gunst gewinnen und seine Freunde ersetzen wollen. Ich habe das einmal gesehen und obwohl Sesshōmaru den Erwartungen voll entsprochen hat, war es grausig. Tōga war selbst derart beunruhigt, dass er nach Sado gesegelt ist, um einen Jungen herzuschaffen, der seinem Sohn etwas anderes als Schwerter, Mord und Blut vermittelt. Was denkst du also, wird dieses Reich mit einem Erben machen, der moralischer ist als sein Vater? Eigensinniger und potentiell weitaus mächtiger?“ Kaito konnte sich die Antwort an einer Hand abzählen, knurrte jedoch: „Warum sollte es mich kümmern, was mit ihm ist? Du irrst dich, wenn du denkst, wir wären Freunde und dass er mein Vetter ist, kümmert mich nicht.“ „Stolz und Verantwortungsbewusstsein, Kaito. Von Sentimentalitäten habe ich nie gesprochen.“ Der Alte lächelte schief, während er den Inhalt des Mörsers auf dem Mantelstahl verteilte. „Ich würde mir doch nicht anmaßen, derart menschlich zu argumentieren.“ Kaito zuckte zusammen und bleckte die Zähne. „Vorsicht, Schmied.“ Das Lächeln wurde breiter. „Du reitest dich nur tiefer hinein.“ Er hatte das dringende Bedürfnis, den Alten in seinem Kühlbottich zu ersäufen. Allerdings hätte allein der Versuch dessen Erheiterung ins Unermessliche gesteigert und weder gönnte Kaito ihm diesen Triumph noch wollte er solchen Impulsen nachgeben. Er schätzte Tōtōsai. Was er nicht schätzte, waren Anspielungen auf sein dämonisches Wesen. Nicht, weil er sie hätte von der Hand weisen können, sondern weil sie immer wieder aufs Neue jene Anschuldigungen zu bestätigen schienen, die Saki und Mei gegen ihn vorgebracht hatten. Anschuldigungen, die seine Schwester in den Westen und ihn in den Tod getrieben hatten. Tōtōsai musste sein Unbehagen bemerkt haben. Das Lächeln wich einer ernsten Miene, als er sämtliche Utensilien zur Seite legte und ihn ansah: „Es geht hier nicht um das Leidwesen eines jungen Inu. Es geht um den Erben einer militärischen Großmacht. Die großen Reiche sind ausschlaggebend für die Stabilität des gesamten Landes und beeinflussen das Leben von Dämonen und Menschen gleichermaßen. Den Zusammenhang sollte ich dir nach den Überfällen der Drachen auf menschliche Siedlungen und die Rekrutierung niederer Dämonen nicht mehr erläutern müssen: Westliche Menschendörfer sind deutlich besser davongekommen. Nicht weil Sesshōmaru sich um sie schert, sondern weil er keine untoten Echsen auf seinem Land will. Sie sind Nutznießer, aber immerhin lebendige. Die Entscheidungen des Fürsten sind bedeutsam. Und wie du schon bemerkt hast, wird das hier nicht der letzte Krieg bleiben. Auf der anderen Seite der Münze scheinen die Menschen ihre Auseinandersetzung zu beenden. Danach werden sie Wiederaufbau betreiben und sich ausbreiten wie sie es jedes Mal tun. Ihr Verhalten gegenüber den Dämonen ist heute schon respektloser als zu meiner Jugendzeit. Wer weiß, was die Zukunft bereit hält, wenn die Menschen ausnahmsweise geeint auftreten? Es wäre wünschenswert, Probleme und Herausforderungen auf eine Mauer treffen zu lassen und nicht auf Papiertüren. Dass jemand mit klarem Kopf und Weitsicht die Entscheidungen fällt, der nicht nur die unmittelbare Wirkung auf sich selbst oder seine tausend Mann in Waffen bedenkt, sondern das Gesamtbild im Auge behält. Du hast die Wahl: Du kannst weiter abseits gegen den Wind ankämpfen oder dich mit deinem Vetter ins Unwetter stellen und den Sturm beugen.“ Kaito betrachtete Tōtōsai. Die wachsamen Augen, das bewusst aufgesetzte Desinteresse und die dahinter lauernde Erwartung einer Reaktion, nun, da er all sein Pulver verschossen und das Anliegen dargebracht hatte, auf das er seit Stunden abzielte. „Das war doch nicht wirklich notwendig, oder? All das Gerede über die Seele der Waffe, die Feinabstimmung auf den Charakter. Das hat es nie gebraucht.“ Der Alte zuckte mit den Achseln. „Notwendig für was? Für Tenseiga? Oder damit ihr eure Fehde beendet? Du bist ein schlauer Junge, mach dir selbst einen Reim darauf.“ „Wenn er das je erfährt-!“ „Dann sag es ihm nicht.“ „Warum?“ „Weil mir der ach so harmlose Hund dann den Kopf abbeißen wird.“ „Nein, warum hast du ihn zu diesem Gespräch genötigt?“ „Aus demselben Grund, weshalb ich dich nicht habe gehen lassen: Ich bin die Feindschaft eurer Väter endgültig leid. Missgunst, Schuldzuweisungen, Neid - weißt du eigentlich, wie viel zusätzliche Arbeit mir das beschert hat? Ich werde meinen Lebensabend nicht damit zubringen, diesen Unfug in der nächsten Generation fortzuführen. Schon gar nicht ohne den Floh.“ Kaito schwieg, musterte erneut die ausgemergelten Züge des Alten, der abermals Gleichgültigkeit vorschützte und sich wieder dem Schwert zuwandte. Dann erhob er sich. Der Schmied blickte ihm nach, während er Shiokiri in die Schwertscheide schob und die Hütte wortlos verließ. Tōtōsai mochte die Lage dank seiner Erfahrung und Weitsicht gut einschätzen können. Einer Sache war er sich jedoch nicht bewusst: Dass der Auftakt bereits hinter ihnen lag und der Sturm längst begonnen hatte. Der Rat mochte noch nicht involviert sein, aber auch Tōtōsais Bestreben, Kaito an Minorus Seite zu drängen, war nichts anderes als Einflussnahme. Jeder würde versuchen den Erben zu lenken, zu umgarnen und wenn nötig zu unterdrücken, um seine Pläne durchzusetzen. Nach allem, was Kaito heute gehört hatte, würde sein Vetter dem kaum standhalten. Minoru war nicht schwach, keineswegs. Aber er war allein. Allein mit einer Flut von Erwartungen und Hoffnungen, die von allen Seiten an ihm zehrten, und ihn taub und blind für alle Anliegen zurücklassen würden - wenn sie ihn nicht schlussendlich zerrissen. Krieg allen Feinden, Friede um jeden Preis; schütze die Menschen, töte meine Feinde, achte dein Volk; sei mitfühlend, wenn es angebracht ist, sei gefährlich, wenn wir es wollen. Jeder. Kaito bleckte die Zähne. Warum dann nicht auch er? 狐 In der Dämmerung brieten zwei fette Kaninchen über einem Lagerfeuer und ein sichtlich angespannter Kadett warf dem Erben des Reiches verstohlene Blicke zu, die Saburō schließlich mit einem einnehmenden Lächeln beantwortete, welches Shippō die Haare zu Berge stehen ließ. Kōhei seufzte und schnippte vor dem Gesicht des Jungen mit den Fingern. Irritiert blinzelnd wandte sich Shippō ihm zu. „Wenn du genug gestarrt hast, hast du vielleicht einen Augenblick deiner geschätzten Aufmerksamkeit für mich übrig.“ „Ich... ja, sicherlich. Entschuldigung.“ „Gewährt“, bemerkte Saburō trocken. „Hast du beim Flug über den Westen irgendwelche Truppen gesehen? Auffällige Auren?“ „Nun ja, da waren schon die üblichen Dämonen in den Wäldern und eine menschliche Armee bei einer größeren Stadt, aber nichts ungewöhnliches. Es war ruhig. Truppen sind vermutlich alle auf wem Weg… woandershin.“ Kōheis Miene blieb ausdruckslos, während er seinen Schüler studierte. Woher wusste ausgerechnet er, der die letzten Wochen in irgendeinem abgelegenem Kuhdorf in den Ebenen verbracht hatte, von der bevorstehenden Schlacht? Saburōs Stimme wurde seidig: „Und dieses 'woanders' liegt nicht zufällig an der Frontlinie zum Osten?“ Unwohl rutschte der Junge auf dem Baumstamm umher, während er verstohlen zu Kōhei sah. Der erwiderte das Gesuch mit einem mahnenden Blick: „Der Kōtaishi redet mit dir, Junge.“ Höfisches Protokoll gebot, dass er seinem Vorgesetzten ohne Umschweife, und im Idealfall auch ohne Blickkontakt, jede Frage beantwortete und Befehle ohne Zögern ausführte - von Verbeugungen mal ganz abgesehen. Ja, sogar die banalen Grundlagen akzeptablen Benehmens hätten vorgesehen, dass er einer älteren Respektperson keine Antwort schuldig blieb oder sein Unbehagen so unverfroren zur Schau stellte. Hatte dieser Bengel in den paar Wochen Freizeit alles vergessen? Wäre die sonst so solide Mauer der Standesunterschiede nicht schon seit geraumer Zeit dem Verfall preisgegeben, hätte Kōhei in Anbetracht dieser Glanzleistung an Erziehung und Ausbildung nun einen mittelschweren Nervenzusammenbruch erlitten. „Ihr seid Eurem Schüler wahrlich in allen Aspekten ein Vorbild, General. Er spricht offensichtlich genauso ungern mit mir wie Ihr.“ Kōhei hob den Blick und betrachtete Saburō, der ihn mit einer solchen Verachtung ansah, dass man ihm die Darbietung beinahe abgekauft hätte - wäre da nicht das verräterische Zucken in seinem Mundwinkel gewesen, das darauf hindeutete, wie köstlich sich der Erbe amüsierte. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn Saburō diese Situation nicht zu Vollendung ausgeschlachtet hätte! Immerhin war somit sicher, dass er sich auf dem Weg der Besserung befand und Shippō konnte eine Lektion wahrlich gut vertragen. „Ich bitte um Verzeihung, Kōtaishi. Ich weiß nicht, was in den Jungen gefahren ist.“ „Ist das nicht offensichtlich oder seid Ihr Euch tatsächlich nicht darüber im Klaren, wie Eure offene Abneigung gegen meine Person Eure Untergebenen kompromittiert?“ Shippō wurde leichenblass. Er hatte schon mehrfach darüber geklagt, dem hochgestochenen Wortwechsel mancher Erwachsener nicht gänzlich gewachsen zu sein, doch Kōhei nahm an, dass diese Andeutung jede Verständnisbarriere durchbrochen hatte. „Ihr verwechselt Abneigung mit Respekt.“ „Ihr müsst mich für einen seltenen Narren halten. Der Junge ist Euer Schüler und wie Ihr bereits so deutlich herausgestellt habt, unterliegt er Eurer Verantwortung. Nennt mir einen Grund, warum ich diese überdeutliche Zurschaustellung Eurer Einflussnahme auf die Truppen ohne weiteres hinnehmen soll? Dieselbe Unverschämtheit gegenüber meinem Vater und nicht nur der Kadett würde seinen Kopf verlieren!“ Da hatte er trotz all der aufgesetzten Theatralik recht. Doch ehe Kōhei den Spuck beenden konnte, rutschte Shippō vom Baumstamm auf die Knie. „Es - es tut mir leid! Bitte! Ich wollte Euch nicht beleidigen! Eure Gegenwart ist nur - schweigen ist das eine, aber doch nicht sprechen! Kōhei hat nie etwas schlechtes über Euch gesagt!“ „Dennoch scheinst du der Auffassung, militärische Informationen an mich weiterzuleiten, sei ein Risiko, das mit dem General abgesprochen werden müsse! Das ist Hochverrat! Hat er dir das beigebracht?“ Shippō zuckte zusammen und krallte die Finger in den Boden. Er schien den Tränen nahe. „Nein!“ „Das reicht.“ Kōhei legte Shippō eine Hand auf die Schulter und drückte sacht zu, als er bemerkte, wie der Junge zitterte. „Er wird mir nichts tun, Shippō.“ Saburō schnalzte enttäuscht mit der Zunge. „Ihr seid schrecklich langweilig, General, habe ich Euch das schon einmal gesagt?“ „Mindestens einmal. Gefällt es Euch, meine Kadetten zu verschrecken?“ „Ich finde es faszinierend.“ „Faszinierend“, wiederholte Kōhei hohl. Der schwarze Fuchs zuckte mit den Achseln: „Ihr wart nicht ganz unschuldig, oder? Außerdem verrät mir ja irgendeiner dieser halbgaren Krieger vielleicht eines Tages, was ihnen die Angst in die Knochen treibt, sobald sie mich sehen. Ich kann mich nicht entsinnen, einen von ihnen vor heute auch nur scharf angesprochen zu haben. Was ist es also?“ Kōhei sah davon ab, den ersten Gedanken, der ihm durch den Kopf schoß, laut auszusprechen. Er war zu persönlich, zu abfällig und vor Shippō wollte er dies nicht wagen. Er gab sich Mühe, sein Gegenüber möglichst wertfrei zu betrachten. Seine Anschuldigungen im Bezug auf Shippōs Verhalten hatten Berechtigung. Davon konnte Kōhei sich nicht freisprechen. Aber warum alle vor dem Erben zurückwichen, war einfach: Weil er ein Daiyōkai war. Konnte Saburō das wirklich nicht sehen? Selbst wenn er der gutmütigste Mann unter der Sonne gewesen wäre, wäre man vor ihm zurückgewichen wie vor den Flammen eines Großbrandes. Die Jungen wussten nicht, was es war, aber sie spürten die Gefahr. Womit sie klüger waren als Kōhei selbst. Er hatte sein Unbehagen allein auf seine brenzlige Situation und Saburōs schwierigen Charakter zurückgeführt - was deswegen nicht weniger wahr war. Doch derlei kundzutun, wenn niemand sonst es aussprach, war töricht. Stattdessen sagte er: „Ihr pflegt den Ruf, der Euch vorauseilt.“ „Und welcher Ruf sollte das sein? Geht es immer noch um Sōsukes Genpuku? Die Feier war sterbenslangweilig.“ „Sterbenslangweilig, oh ja“, murmelte Shippō, der sich von Kōhei hatte aufhelfen lassen und nun mit einigem Abstand zu ihm wieder auf dem Baumstamm Platz nahm - offensichtlich gekränkt, dass man ihn derart vorgeführt hatte. Saburō nahm die plötzliche Kühnheit des Jungen mit einem gefährlichen Lächeln wahr. „Ich hatte kein Blut an meinen Händen.“ „Ihr habt sie aber auch nicht in Unschuld gewaschen.“ „Shippō!“ Kōhei starrte ihn fassungslos an. Der Kadett fuhr zusammen und sah zur Seite. „Verzeihung, Kōtaishi.“ Der grinste hämisch: „Sieh mal einer an! Je mehr du redest, desto interessanter wirst du. Die meisten halten es bedauerlicherweise anders herum.“ „Weshalb du dich jetzt verdammt nochmal zusammenreißen wirst“, zischte Kōhei. „Falls du das gerade falsch interpretiert haben solltest: Das war eine Warnung. Der Kōtaishi hat recht. Ich bin nur dein Lehrer und General. Du dienst der Fürstenfamilie, nicht mir und du solltest ihnen dein Höchstmaß an Respekt entgegenbringen. Wenn Fürst Hayato dieselben Vorwürfe fallen ließe, würde das nicht gut ausgehen. Für keinen von uns. Hast du mich verstanden?“ „Ja, Kōhei.“ „Versuch es nochmal.“ „Ja, Taishō.“ „Und jetzt raffst du den Rest Anstand zusammen und beantwortest ihm seine gottverdammte Frage!“ Shippō studierte eingehend die bratenden Kaninchenkadaver. „Ja, ich nehme an, sie sind auf dem Weg zur Ostfront. Die Inu ziehen dort ihre Truppen zusammen.“ Das schwarze Unheil zeigte erstmalig so etwas wie Erbarmen und beschränkte sich auf das Thema, statt den Jungen erneut in ein offenes Messer laufen zu lassen, von denen er sicher ausreichend zur Verfügung hatte: „Woher weißt du davon?“ „Freude von mir hatten Kontakt zum westlichen Heerlager und wollen sich nun selbst dem Krieg anschließen. Deswegen bin ich früher zurückgekehrt als geplant. Sie wollten, dass ich mit ihnen gehe wie damals, aber das kann ich schlecht machen. Wir haben darüber gestritten, dass ich die Zustimmung meines Vorgesetzten brauche und es ein politisches Problem wäre, wenn ich als Angehöriger eines höfischen Heeres in die Schlachten anderer involviert werde.“ Kōhei seufzte. „Ich sollte wohl dankbar sein, dass du da zumindest den Kopf angeschaltet hast.“ „Solche Sachen sind mir klar. Ich weiß nur nicht, wie ich-“, Shippō warf einen kurzen Blick auf Saburō und sah schnell wieder woandershin. „Wie ich mit alledem umgehen soll.“ Saburō lächelte matt: „Das ist eine häufige Klage. Solltest du das je herausfinden, wäre dein Lehrer sicher für jede Hilfe dankbar.“ Die schnippische Erwiderung, die Kōhei auf die Zunge kriechen wollte, schluckte er schnellstmöglich wieder hinunter, als der Silberfuchs sich ihm zuwandte: „Es macht mir nichts aus. Zumindest nicht, solange niemand sonst Zeuge dieses Verhaltens wird. Euer Schüler war nicht lange genug bei Hofe, um die Katzbuckelei angenommen zu haben, die Personen wie ihm eine Anleitung an die Hand gibt, mit jemandem wie mir gefahrlos zu verkehren.“ „Woran mancher Höfling ebenso scheitert“, murmelte Kōhei und Saburō vergalt es ihm mit einem erneuten Lächeln. „Er ist Euer Schüler und wird auf Gedeih und Verderb in Eurer Nähe sein. Lasst ihn also gewähren, damit ich mir nicht rund um die Uhr ansehen muss, wie er versucht über eine ohnehin zu dünne Eisfläche zu manövrieren. Ich ergötze mich am Scheitern anderer, aber das wäre zu viel des Guten. Außerdem ist es so viel unterhaltsamer. Ich meine… habt Ihr Euch wirklich nie über mich beklagt? Kein Wunder, dass Eure Zähne bei jeder Begegnung lauter knirschen, wenn Ihr den Frust so in Euch hinein fresst.“ Sein Blick wanderte von Kōhei zu dem Jungen und zurück. „Außerdem: ‘Kōhei’? Was muss ich anstellen, damit ich Euch beim Vornamen nennen darf?“ „Ihr seid der Erbe meines Herrn. Euch steht zu, was immer Ihr verlangt.“ „Nun, nicht alles, nicht wahr? Direkte Antworten Eures Schülers jedenfalls nicht.“ Kōhei knirschte mit den Zähnen und trieb Saburōs Lächeln zu unerhörter Süffisanz. Er hatte bereits geahnt, dass der Silberfuchs sich mit einer einfachen Lektion an einen Kadetten nicht zufrieden geben würde. Dass er jedoch eine Situation sponn, die all seine Theorien des Nachmittags binnen Sekunden stützte, war beängstigend - sowohl das Vorgehen als auch die Erkenntnis. Es war beschämend, sich eingestehen zu müssen, dass er das Offensichtliche bewusst verdrängt hatte. Shippō war erst wenige Jahre bei ihm und dennoch würde er Saburōs Anweisungen niemals ohne einen Seitenblick auf ihn ausführen. Andere unterstanden ihm seit Jahrhunderten. Wem folgte das Heer? Wem galt ihre Loyalität? Nicht Saburō - und genauso wenig seinem Vater, wenn Kōhei nur den Schneid besäße, der dafür nötig war. Dieser verdammte Bastard! Er hatte nicht einfach nur einen Jungen auf seinen Platz verwiesen, nein, er hatte einen General einen Realitätsabgleich zukommen lassen, der ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Wissend, dass seine Botschaft angekommen war, strich der fleischgewordene Untergang des Fürsten ein paar pechschwarzer Fellbüschel zurück in den Kragen, die sich bei seiner Darbietung künstlich aufgebauscht hatten und wirkte für einen Moment so erhaben wie eh und je - trotz der Verbände und schäbigen Kleidung. „Aber ich fürchte, Shippō und ich haben Euch von Eurem Gedankengang abgebracht. Weshalb interessierten Euch die westlichen Wälder noch gleich so sehr?“ Kapitel 60: Dass du lebst ------------------------- Kōhei hatte die extravagante Kurodadrossel in den Wind geschossen und die Gestalt eines heimischen Bergadlers angenommen, dem niemand einem zweiten Blick schenkte. Saburō hing in Form eines Spatzen zwischen seinen todbringenden Klauen und schlief mit einer Ruhe, die an Unverschämtheit grenzte. Unter ihnen erstreckten sich in endlosen Wäldern, Bergketten und Tälern die Westlande. Geographisch begann auf halber Strecke zwischen Biwa-See und Zentralebenen der Osten Japans. Doch die Gebietsbezeichnungen der Dämonen richteten sich nach den aktuellen Besatzern und nicht nach der Himmelsrichtung. Das Reich der Inu hatte zwar in Echizen begonnen, am westlichen Rand Zentraljapans, ragte heute jedoch weit in den geographischen Osten hinein. Dennoch war dieses Gebiet ‘der Westen’. So wie auch das heutige Reich der Füchse 'Westen' werden mochte, wenn sie nicht demnächst von untoten Schuppenbestien überrannt wurden oder sich wie durch ein Wunder beider Schicksalen erwehrten. Kartographie war eine jener Lektionen gewesen, die Kōhei Minoru nicht hätte beibringen müssen – vom Dürfen ganz zu schweigen. Es war ein schmaler Grat unter Masukos missbilligender Aufmerksamkeit gewesen, den Kōhei nur um Minorus Willen gewandert war. Hätte sich der Zorn dieser Hündin nur gegen ihn selbst gerichtet, hätte er auf ihre Meinung gepfiffen und die Unterweisungen des Jungen nach Belieben vorgenommen. Natürlich mit Rücksichtnahme auf die Anordnungen seines Fürsten, aber ganz sicher nicht im Einklang mit dieser pikierten Schreckschraube. Hätte sie doch toben und wüten sollen und mit allem werfen, wonach ihr der Sinn stand. Doch sie hätte all die Frustration unweigerlich an Minoru ausgelassen. Also lieber Kartographie, Arithmetik, Literatur, Allgemeinbildung. So verschult wie nötig, so unverfänglich wie möglich. Jeder Gedanke an Minoru versetzte ihm einen Stich, wie bereits bei der Besprechung der Route am Vorabend, als er die Karten für Shippō aufgezeichnet hatte. Kōhei zwang sich mühsam, die Vergangenheit ruhen zu lassen und seine Aufmerksamkeit auf das Land unter ihnen zu richten. Shippō flog ihnen als Späher voraus. Bisher gab es keinerlei Anzeichen größerer Truppenbewegungen. Die Bergketten waren sonnenbeschienen, die Täler dünn mit Menschen besiedelt und was die Wälder anging, waren sie wie andernorts auch: Dicht bewachsen und undurchdringlich, voller Getier und dem Yōki niederer Dämonen - viele Marschstunden unwegsamer und unwirtlicher Wildnis, die den Vorstoß ihrer Armeen verzögern würden. Doch immerhin war das Gelände ruhig. Die Aufmerksamkeit des Westens schien sich gänzlich auf die Frontlinien zu konzentrieren. Und warum auch nicht? Die Drachen hatten den Fürstensitz schon vor Jahren niedergebrannt. Die Demütigung hatte also längst stattgefunden – und mehr war es auch nicht gewesen: Wer glaubte, Sesshōmaru würde dem Schutz seines Palastes nachtrauern, kannte die Hunde nicht. Sie waren erst vor wenigen Jahrtausenden sesshaft geworden und gaben im Ernstfall ebenso wenig auf Festungsmauern wie auf Bodenverlust. Von einem Moment auf den nächsten wurden sie zu einem heimatlos vagabundierenden Schlachtenverbund; einer Meute, die kämpfte, wo sie stand und berüchtigt dafür war, Feinde zu hetzen und zu stellen. Wer glaubte, auf das Vakuum, das sie während solcher Hetzjagden hinterließen, Anspruch erheben zu können, glaubte vermutlich bei Ebbe auch, dem Meer Land abgewonnen zu haben. Strategisch waren sie damit für jeden Gegner ein Albtraum. Kōhei wäre ein Narr gewesen, wäre er der augenscheinlichen Stille nicht mit Misstrauen begegnet. Auch in friedlicheren Zeiten tat man gut daran, den Westen zu meiden und nun, da die Hunde in die Enge getrieben worden waren und Sesshōmaru persönliche Gründe hatte, seinen Kopf von den Schultern zu lösen, behagte es ihm erst recht nicht. Als sie auf den Chikuma stießen, der sich nahe seines Quellgebietes durch ein besiedeltes Tal schlängelte, folgte Kōhei dem Fluss stromaufwärts und überquerte die angrenzenden Gebirgszüge am Ende des Tals, bis auch der letzte Bergrücken überflogen war. Noch vor wenigen Jahrhunderten hatte der Anblick der weitläufigen Ebene Kōhei in Erstaunen versetzt. Von einen Moment zum nächsten endete das bewaldete Gebirge. Bis in weite Ferne erstreckten sich Dörfer und Felder, Wälder und Wiesen auf einem Boden, so glatt wie ein ruhiger See. Menschen, Vieh und Lärm füllten Straßen, die wie ein Wirrwarr aus Flüssen in alle Richtungen führten und am Horizont verliefen die Farben des Himmels weich ineinander. Der abrupte Übergang von Gebirge zu Ebenen war stets beeindruckend, aber heute überwog die Erleichterung, den Westen unbeschadet verlassen zu haben. Eine Erleichterung, die kaum mehr als eine halbe Stunde andauerte, als sie Shippō einholten. Der Junge stand auf einem Feldweg, umringt von einer Traube aus Personen und winkte so euphorisch in den Himmel, dass Kōhei prompt übel wurde. „Sensei! Saburō-sama! Hier drüben!“ Der Spatz in Kōheis Klauen erwachte und plusterte sich zu einer Kugel auf, aus deren Schnabel ein todbringendes Fauchen drang. Noch vor Abflug hatte Kōhei abgewogen, ob es klüger war, Shippō darin einzuweihen, dass Saburōs Abwesenheit am Hof nicht publik werden durfte - nun bereute er, sich dagegen entschieden zu haben. Der Junge war ein vielversprechendes Talent, aber in Sachen Diskretion und höfischen Grundlagen zu unbedarft. Ein Manko, welches auszumerzen mehr Zeit oder eine härtere Erziehung erfordert hätte. Von Letzteren hielt er wenig, aber wie es schien, würde Shippō nun unweigerlich mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert werden. Kōhei hatte Saburō ausreichend in der Hand, um seinen Schüler zu schützen, aber dessen Freunde - denn genau das waren sie offensichtlich - würde er nicht retten können, wenn das hier schief ging. Würde und wollte nicht. Der Adler landete in einem Sturm smaragdgrüner Flammen, aus denen Kōhei mit ausdrucksloser Miene hervortrat. Ehe er den Spatz greifen und zwischen die Stofflagen schieben konnte, mischte sich bernsteinfarbenes Feuer unter seines, als Saburō neben ihm Form annahm. „Kōtaishi, seid Ihr sicher-“ „Zwecklos. Sie haben eine Miko.“ Das stimmte. Die dunkelhaarige Menschenfrau mit den ungewöhnlich blauen Augen bedachte sie mit einem Lächeln, das keiner von ihnen erwiderte. Natürlich wäre es für sie alle besser gewesen, wenn Saburō als Spatz, Maus oder gottverdammte Spinne in Kōheis Kimono verschwunden wäre, doch Shippō hatte seine Anwesenheit in die Welt hinausgeschrien und spätestens die Miko hätte die Aura des Erben bemerkt. Es war jedoch nicht die Priesterin, die Kōheis Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern das Mädchen an ihrer Seite und der Mann, der sich vor sie schob. Es waren Han’yō und beiden haftete eine Aura an, die Kōhei vage bekannt vorkam. Verwaschen, wie der Geruch von Wasser im Schlamm schwindet, aber dennoch vorhanden. Er kam nur nicht darauf, in welchem Zusammenhang er diese Aura setzen sollte. „Guten Tag“, grüßte die Frau und lächelte auch dann noch, als Kōhei den Blick zu Shippō wandte. Der stolperte nun endlich über die fehlende Wärme im Ausdruck seines Lehrers und suchte sich zu erklären: „Das sind meine Freunde. Kagome, Inuyasha und ihre Tochter Honoka. Sie sind auch auf dem Weg zur Front. Ihr alle, das ist Katō no Kōhei, General des südlichen Heeres und mein Lehrer, und das ist -“ „Shippō“, unterbrach ihn Kōhei, ehe er sich noch herausnahm, Saburō vorzustellen. „Was soll das?“ Betreten zog der den Fuß über den Boden. „Ich habe sie zufällig gesehen und da wir nun aus dem Westen raus sind, dachte ich, wäre es in Ordnung, anzuhalten.“ „Was soll das heißen ‘aus dem Westen raus’?“, fuhr der Han’yō auf und legte eine Hand an sein Katana. Kōhei begutachtete ihn ausgiebig. Auf den ersten Blick war er der einzig wehrhafte Gegner. Sein Temperament war scheußlich, aber immerhin war damit keine Hinterlist zu erwarten. Das Mädchen schien ebenso unbedarft wie Shippō und was die Mutter anging, sorgte er sich wenig. Eine Priesterin konnte Dämonen übel zusetzen, aber bei Kitsune war die Linie zwischen Kami und Yōkai verwaschener als bei anderen Dämonen und sie wirkte zu freundlich, um im Ernstfall schnell genug zu handeln. Kein Wunder, dass Shippō in dieser Gesellschaft etwas weltfremd geraten war. Als niemand antwortete, verbreiterte der Halbdämon seinen Stand und zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide. „Arbeitet ihr mit den verfluchten Echsen zusammen oder warum schleicht ihr durch den Westen?“ Die Klinge war alt, schartig und verrostet, aber die Art wie er mit diesem Stück Altmetall eine Drohung hervorbrachte, ließ erahnen, dass mehr dahinter steckte. Wäre Saburō nicht derart angeschlagen gewesen, hätte Kōhei sich nicht die Mühe gemacht, auf diese Possen zu reagieren. So aber verlagerte er das Gewicht, hielt aber inne, als die Aura des Erben auf seiner Haut tanzte. Angeschlagen oder nicht - eine falsche Bewegung des Halbdämons und Saburō würde sie in Fetzen reißen. Es war jedoch Shippō, der zischte: „Natürlich nicht! Trotzdem können wir nicht einfach durch den Westen spazieren! Es gibt politische Spannungen. Grenzen. Wie oft soll ich dir das noch erklären?“ „’Politische Spannungen’, so ein Blödsinn! Was soll Sesshōmaru machen? Jemanden den Kopf abschlagen, weil er ungefragt an seinen Baum pisst? Als würde der noch Gründe brauchen, um unausstehlich zu sein.“ „Inuyasha!“ Die Priesterin sah ihn vorwurfsvoll an. Das kümmerte ihn jedoch wenig. „Und dann noch dieses Gerede, dass Shippō nicht mehr mit uns kommen kann, weil er irgendeinen politischen Schwachsinn auslöst! Sesshōmaru kennt ihn, auch wenn er immer so tun wird als ob nicht, und darüber hinaus kümmert ihn die kleine Made auch gar nicht.“ „Hey!“ Der Junge sah aus, als wolle er gleichzeitig vor Scham im Boden versinken und dem Halbdämonen an den Kragen gehen. Er tat jedoch nichts dergleichen und schrumpfte auf die Größe eines Käfers zusammen, sobald Saburō sich ihm mit aufgesetzter Freundlichkeit widmete: „Ich wusste gar nicht, dass du den Inu no Taishō persönlich kennst.“ „Ja“, sagte Kōhei. „Wie überaus spannend.“ Mit Genugtuung stellte er fest, dass der Junge sich noch mehr winden konnte. Wie gern hätte er ihn in diesem Moment geschüttelt, bis die Zähne unkontrollierbar aufeinander schlugen. Sein Unwohlsein war nichts im Vergleich zu dem Standgericht, das Saburō mit ihnen beiden abhalten würde. „’Kennen’ ist übertrieben“, verteidigte sich Shippō kleinlaut. „Vielleicht weiß er mich einzuordnen, aber meinen Namen kennt er sicher nicht. Außer mit Inuyasha redet er mit keinem von uns. Und selbst das ist eher… ich weiß nicht, was das genau ist. Jedenfalls keine brüderliche Nähe.“ „Scheiße.“ Kōhei war selbst derart vor den Kopf gestoßen, dass er Saburōs Fluch beinahe überhört hätte. Auf einen Schlag wusste er, woher er diese verdammte Aura kannte. Der Geruch von Magnolien und stahlblaue Stoffe sickerten in seine Erinnerung. Tōgas strenge Miene, die im Beisein seiner Vertrauten auftaute. Das schallende Gelächter des Wolfes an seiner Seite. Erfolglose Zusammenkünfte - Veranstaltungen, nach denen Fürst Hayato die Verbrüderung zwischen Inu und Dosanko immer mehr ein Dorn im Auge gewesen war. Sie isolierte ihn. Schon damals. Tōgas Interventionen in landesweite Ausschreitungen hatten den südlichen Fürsten gereizt. Der ambitionierte Erbe im Schatten des beliebten Vaters Befürchtungen befeuert. Zwar hatte Sesshōmaru nach dem Tod seines Vater alle Allianzen verloren, doch was hatte das genutzt? „Ich kann Euch beruhigen“, lenkte Kōhei ein und legte jede Feindseligkeit ab. „Ich habe keine Übereinkunft mit den Drachen. Dennoch würde Euer Bruder eine Reise durch seine Ländereien nicht billigen. Seine Grenzverläufe lassen mir jedoch keine andere Wahl.“ „Spar dir den höfischen Mist, Fuchs. Er und ich haben nichts miteinander zu schaffen.“ „Nun reicht es aber wirklich!“ Seine Frau schob sich an ihm vorbei und verbeugte sich vor Kōhei und Saburō. „Entschuldigt meinen Mann. Wir freuen uns, Euch nach Shippōs vielen Erzählungen auch persönlich kennenzulernen zu dürfen. Auch wenn die Umstände derzeit sehr angespannt sind. Wir sind ebenfalls auf dem Weg zur Front, um unsere Hilfe anzubieten. Oder eher: Um sie ungefragt einzubringen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte Kōhei und nutzte seine ausschweifende Übung, Abneigung herunterzuschlucken, um ein Lächeln zu erwidern. Hier waren sie also: Am Rande des Untergangs, konfrontiert mit der anderen Hälfte von Tōgas Nachkommenschaft, die zu töten ihnen den Hals brechen würde. Zu so viel Pech gehörte beinahe Talent. Über die letzten Stunden hatte sich Kōhei mit Saburō von Shippōs skurriler Familie Stück um Stück zurückfallen lassen, um nicht der Heimlichtuerei angeklagt zu werden. Der Köter traute ihnen nicht. Das Misstrauen gründete zwar allein in seinem Charakter, doch Kōhei wollte ihm keinen Anlass geben, ihnen persönlich abgeneigt zu sein. Zwar wäre auch eine Erläuterung der politischen Ränke sehr wahrscheinlich an seiner mauerdicken Ignoranz abgeprallt, aber warum das Risiko eingehen und es darauf ankommen lassen? Wenn die verrostete Waffe Tessaiga sein sollte, war ein Kampf nicht wünschenswert. Nicht, wenn er Shippō und Saburō heil aus der Situation bringen wollte. Deswegen hatte er gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich von der Priesterin in Gespräche verwickeln lassen. Sie und die Tochter waren gegenüber Fremden erschreckend zugänglich - wobei sie offenbar der Meinung waren, seine Verbindung zu Shippō mache Kōhei automatisch zu einem Freund der Familie. Erst als der Wind gegen Abend drehte und ihnen den Geruch der vorangehenden Gruppe unmittelbar ins Gesicht trieb, ergriff Saburō das Wort: „Können wir nochmal darüber sprechen, wie vertrauenswürdig dieser Junge ist? Und lügt mich nicht an, dass Ihr auch nur einen Schimmer von seinen Beziehungen hattet. Er ist Euch näher als all die anderen. Wie konnte Euch das entgehen?“ Kōhei biss die Zähne zusammen. „Das war ein Fehler. Zugegeben.“ „Ich will Euer zart gewachsenes Vertrauen in mich nicht im Nebel ersäufen, deswegen ganz offen: Das hier wirft Zweifel an seiner Loyalität und Diskretion auf, die ich mir nicht erlauben kann.“ Kōhei zog die Stirn kraus und sah Shippō nach, der mit dem Halbdämonen in einen Streit verwickelt war, der eher an spielende Kinder erinnerte. „Habt Dank für die Ehrlichkeit. Aber auch ich will Euch an unser vorangegangenes Gespräch erinnern. Shippō ist meine Verantwortung.“ „Ich schätze Euch. Sehr sogar. Ihr seid einer der fähigsten Männer, die mir je untergekommen sind und ich weiß, wie skrupellos Ihr mit Menschen und Feinden verfahrt. Aber ich sehe Euch nicht in der Lage, nach dem notwendigen Schlüssen zu handeln. Das ist Euer Manko, Kōhei. Euer Zwist zwischen Notwendigkeit und Gefühl. Ein Manko, das Euch im Allgemeinen mein Ansehen einbringt. In diesem Fall könnte Eure Zuneigung aber mein Untergang sein.“ „Diese Waffe ist im Kampf sicher nicht so rostig wie sie gerade vorgibt. Selbst wenn die Konsequenzen ihres Todes nicht unkalkulierbare wären, kann ich nicht garantieren, Euch in diesem Zustand-.“ „Ich rede nicht von diesem verwässerten Seitenarm der westlichen Monarchie, sondern von Eurem Schüler.“ Kōhei blieb stehen und wandte sich zu Saburō. „Ihr solltet Inari jeden Tag danken, dass ich bin wie ich bin. Sonst hättet Ihr nun nicht einmal die Chance, um Shippōs Loyalität zu bangen, sondern würdet längst auf irgendeinem Spieß verrotten.“ „Dessen bin ich mir bewusst.“ „Dann haltet Euch zurück!“ Saburō zuckte angesichts des harschen Tonfalls nicht einmal mit der Wimper. „Und reißt Euch zusammen! Gereizte Ausbrüche und Flüche! Von Euren Eigenheiten war mir Kalkül bislang eine der lieberen. Dass Ihr das nun vergesst, ist ein Umstand, an den ich mich nicht gewöhnen will!“ Die Augen des Silberfuchses hefteten sich auf ihn. Einige Sekunden sahen sie einander an, ehe Kōhei sich abwandte. Saburōs Gebarden und Worte waren seinem Vater so unähnlich wie es nur möglich war und doch waren da diese tiefen Seen glühenden Bernsteins, die Kōhei Schauer über den Rücken jagten und ihm in Erinnerung riefen, wer und was ihm gegenüberstand. „Verzeiht“, murmelte er. „Diese Reise, die Ungewissheit und all diese Zwischenfälle – ich vergesse mich.“ „Begraben wir diesen Selbstbetrug. Höfisches Benehmen ist ein guter Schild, aber im Ernstfall sind es doch nur Worte und wir sind beide über den Punkt hinweg, wo Worte uns vor dem anderen schützen.“ Saburō sah der Gruppe nach. „Der Junge bleibt. Ich kann ihn nicht töten und sehe keinen Gewinn darin, ihn fortzuschicken. Im Gegenteil. Er weiß zu viel und wie du richtig erkannt hast, ist das meinem mangelnden Kalkül geschuldet.“ Kōhei schauderte bei der distanzlosen Wortwahl. Die Annäherung behagte ihm nicht, auch wenn sie nur das widerspiegelte, was längst geschehen war. „Wir sollten bald einen guten Vorwand finden, und zu verabschieden, ohne dass Fragen aufkommen. Sesshōmarus Bruder ist ignorant genug, um nicht zu bemerken, wer Ihr seid.“ „Und wenn du dir abgewöhnen kannst, mich so herrschaftlich zu behandeln, bleibt er vielleicht auch blind. Wem sonst sollte der höchste General des Südens Respekt entgegenbringen, wenn nicht der Familie seines verfluchten Fürsten? Falls du es nicht bemerkt hast: Ich überlasse dir bereits das Reden.“ Kōhei knirschte mit den Zähnen. Ihm war schon aufgefallen, dass Saburō schwieg, um den Untergebenen zu markieren. „Einverstanden.“ „Du kannst dir einreden, dass du es nur der Tarnung wegen tust. Vielleicht beruhigt das deinen Schlaf, wenn du meine bisherigen Angebote schon so rüde ausschlägst.“ „Angebote?“, Kōhei schnaubte. „Auch das sind nur Worte. Gesellschaftlichen Stand kann man nicht nach Belieben ablegen. Wir werden dadurch nicht gleich und sollten es auch nicht sein.“ „Solche Weisheit kann nur von meinem Vater stammen.“ „Er regiert damit bislang ganz gut.“ „Er regiert. Von gut kann keine Rede sein. Außerdem hat er seinem Vetter wohl nicht erst aufgewartet, ehe er ihn in Stücke gehackt und den Süden an sich gerissen hat, oder? Fürst Hayato ist der Emporkömmling einer Seitenlinie, dessen Fehlentscheidungen und Grausamkeit aus seiner eigenen Unsicherheit hervorgehen. Wäre er so selbstbewusst wie er gern tut, hätte er all das nicht nötig.“ Als Kōhei etwas erwidern wollte, unterbrach ihn Saburō und nickte zu den anderen hinüber. Shippō hatte sich mit der Tochter zurückfallen lassen und ging nun zwischen ihnen und ihren Eltern. Ihm musste bewusst sein, dass der Wind die Worte somit immer noch zu Kōhei und dem Erben hinübertrug - zumindest wenn er Kōhei irgendwann einmal zugehört hatte. Doch seinen Blicken nach zu urteilen, ging es in erster Linie darum, ihre Eltern aus dem Gespräch herauszuhalten. „Hat dein Vater Kaito erwähnt, nachdem ich weg war?“ Sie wirkte irritiert. „Ja, wie kommst du darauf?“ „Ich dachte mir schon, dass er, wenn überhaupt, nur mit euch darüber redet. Geht es ihm gut?“ „Das weiß ich nicht. Papa ist nicht mehr so wütend auf ihn wie sonst. Ich hoffe, ihm ist nichts passiert.“ „Bestimmt nicht.“ „Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber ich hoffe, dass wir ihn treffen und es ihm gut geht. Wenn du ihn siehst, pass bitte auf ihn auf… und sag ihm, dass er uns fehlt.“ „Er wird mir ein Ohr abbeißen, wenn ich auch nur andeute, dass er Hilfe braucht.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Vermutlich. Aber dann wissen wir, dass es ihm gut geht.“ Die Art, wie er die Arme verschränkte, ein Seufzen unterdrückte - es war absonderlich, ihn mit diesem Mädchen sprechen zu sehen. Viel erwachsener als er üblicherweise in Kōheis Nähe auftrat. In der Armee wirkte er entgegen all seiner Begabungen unsicherer als nötig, beschwichtigte mit Lächeln und Späßen, wo Zähne und Klauen angebracht gewesen wären und erschien so deutlich jünger als er eigentlich war. Ihr gegenüber wirkte er autoritärer. Mehr wie ein älterer Bruder. „Mach dir keine Sorgen um ihn. Kaito ist zäh und zu schlau, um sich in eine missliche Lage zu bringen.“ „Ist er. Aber er ist auch allein dort draußen. Er war nicht im Heerlager bei den Inu. Das zumindest habe ich rausgehört. Er hat keine Verbündeten, Shippō. Wenn er verletzt wird, ist er auf sich gestellt.“ „Wenn ich ihn sehe, versuche ich mit ihm zu reden. Versprochen.“ Sie senkte die Stimme und warf einen kurzen Blick zurück, wo zwei Füchse so taten, als hörten sie nicht jedes Wort. „Warum wollt ihr jetzt plötzlich doch zur Front? Ich dachte, der Süden sei neutral.“ Kōhei verspannte sich bei den Worten und hoffte inständig, dass Shippō nicht wirklich so närrisch war, wie er sich in den vergangenen Tagen gebärdet hatte. „Ich bin nur Soldat, Honoka. Ich erfahre längst nicht alles, auch wenn ich mit dem General reise. Das ist auch nicht nötig. Die Optionen sind doch wohl für jeden offensichtlich. Es geht bei diesem Krieg nicht um Landesgrenzen. Wir müssen diese Drachen loswerden.“ „Das weißt du oder das glaubst du?“ „Da gibt es doch nicht wirklich zwei Seiten, die man diskutieren müsste. Zugegeben: Ich hatte meine Sorgen, dass wir tatsächlich die Hände in den Schoß legen, um es uns mit niemandem zu verscherzen. Aber wir haben über Jahre aufgerüstet und nun, wo sich die Fronten verdichten, sind wir hier. Kōhei-sama würde nie untätig bleiben, wenn er den Ausgang zum Besseren wenden könnte. Er ist die Integrität in Person und viel zu umsichtig. Wenn er Schaden von uns abwenden kann, dann tut er das.“ Kōhei spürte, wie jedes einzelne Wort sich einer tonnenschweren Last gleich auf seine Schultern legte und von dort quälend langsam auf sein Gewissen herabsackte. Den durchdringenden Blick Saburōs, der auf seinem ohnehin glühenden Gesicht brannte, hätte er nicht gebraucht. „Kein Wort“, raunte er, aber es kam heiserer als beabsichtigt. „Oh, keine Sorge. Du brauchst mich nicht, um daran zu ersticken.“ Wie recht der Bastard hatte. Dieser dumme, leichtgläubige, blind loyale - „Eins noch…“, Shippō sah nach vorn, um sich zu vergewissern, dass die Eltern des Mädchens sie nicht beachteten, bevor er fortfuhr. „Wie geht es Shinju?“ „Erstaunlich gut. Sie hat noch Schwierigkeiten, sich wieder im Dorf einzufinden. Aber Ryouichi-sama hat Wort gehalten und sie gut behandelt.“ „Das ist wohl das Mindeste, nachdem er ein unbeteiligtes Kind seinen Eltern entrissen hat.“ „Stimmt. Trotzdem wusste niemand, wie es ihr ergehen würde. Als Mensch unter Inu. Aber das hat Ryouichi-sama sie wohl nicht spüren lassen. Er war auch zu uns freundlich, als wir dort waren.“ „Sango und Miroku sind trotzdem nicht mitgekommen.“ „Sie wollten das Dorf nicht schutzlos zurücklassen und bei Shinju bleiben. Yayoi ist auch bei ihnen. Das sind genug Gründe, zurückzubleiben, ohne die Wahrheit auszusprechen, dass sie mit den Inu nichts zu tun haben wollen. Kohaku und Bosatsu sind auch nach Hause gekommen. Für den Fall der Fälle.“ Shippō atmete auf. „Also kein böses Blut? “ „Nein. Sonst wäre Yayoi kaum bei ihnen. Sango und Mama sind zu gut befreundet, um sich wegen etwas zu zerstreiten, auf das beide keinen Einfluss hatten. Schließlich ist Sango selbst von der Einstellung ihrer Töchter schockiert und Mama konnte nichts für Shinjus Entführung. Trotzdem ist es nun nochmal entspannter geworden… ich hoffe, dass sich damit alles wieder zum Guten wendet. Auch mit meinem Onkel. Nun wo Minoru heil zurück ist, hat er schließlich keinen Grund mehr, das Dorf zu bedrohen, oder?“ Kōhei spürte, wie die Hitze mit einem Schlag aus seinen Wangen wich. Als hätte ihm jemand einen Dolch mitten in die Brust getrieben, war jeder Atemzug ein kalter Schmerz, der durch seine Lungen fuhr und jemand anderem zu gehören schien. Es war Saburōs Hand, die ihn zurück in die Wirklichkeit holte. Die sich so lange um seinen Arm schloss, bis der Schmerz den Knochen erreichte. „Beruhige dich“, flüsterte der Silberfuchs mit gesenkter Stimme. „Er lebt.“ „Er lebt“, bestätigte Kōhei rauh. Das waren gute Nachrichten. Die ersten seit Langem. „He!“, schallte es von vorn, als Inuyasha sich umwandte. „Geh gefälligst vorn, wo ich dich sehen kann und lass die Griffel von meiner Tochter!“ „Papa!“ Das Mädchen rief puterrot an und Shippōs Fluchen nach zu urteilen, fühlte er sich nicht nur bloßgestellt, sondern gleichermaßen ungerecht behandelt. Kōhei hörte, wie Saburō neben ihm tief einatmete. „Sie sind lauter als unsere ganze Armee.“ „Übersteigertes Selbstbewusstsein ist selten leise.“ Auch die Priesterin massierte angestrengt ihre Schläfen, bevor sie den Nachzüglern entgegenging. „Vielleicht sollten wir hier rasten. Es wird bald dunkel und die nächste Stadt ist noch ein Stück entfernt. Ich habe genug Proviant für uns alle dabei. Ihr seid herzlich eingeladen, zu bleiben.“ Kōhei schickte seinen Dank ins Nichts. „Das ist ein sehr freundliches Angebot, aber wir müssen es leider ausschlagen. Dieser Fußweg war eine angenehme Abwechselung, aber ich fürchte, wir müssen in die Nacht reisen, um an unserem Lagerplatz anzukommen. Wir würden uns dann an dieser Stelle verabschieden.“ „Dann nehmt wenigstens etwas zum Essen mit, wenn wir Euch schon aufgehalten haben“, insistierte sie und nahm eine Tasche von ihrem Rücken, in der sie wild zu kramen begann. Es war ein sonderbares Ding, wie Kōhei es noch nie gesehen hatte und allmählich verstand er, dass all die sonderbaren Sachen, die Shippō erwähnt hatte, mit ihr zu tun hatten. Drahtesel. Suppen zum Aufbrühen. Süßigkeiten. Sie war schlau genug, den älteren Kitsune nichts aufzuzwingen, das sie ohnehin abgewiesen hätten und drückte stattdessen Shippō ein Büdel in die Hand, dessen Inhalt mit Sicherheit für alle ausreichte. Unerwartet berechnend von einer einfachen Menschenfrau. Dann verneigte sie sich vor Kōhei und der Höflichkeit wegen auch vor Saburō - nur um dann mit einem herzlichen Lächeln zu winken. „Es war uns eine Freude. Wenn Ihr mögt, kommt uns doch einmal besuchen. In schöneren Zeiten als diesen.“ Absonderlich. Dämonen in ein Dorf voller Menschen einzuladen. Fremde noch dazu. Übersteigertes Selbstbewusstsein in seiner Vollkommenheit. Allerdings konnte sich Kōhei nicht des Gedankens erwägen, dass selbst das eine willkommene Abwechslung zur derzeitigen Situation darstellen würde. Nicht, dass er Menschen neuerdings hätte leiden können. Wenn man von der eigenen Erheiterung absah, taugten sie zu wenig. Aber davon hätte er dringlichst etwas brauchen können. ☾ „Steh auf.“ Minoru betrachtete die Klinge, die wenige Zentimeter vor seinem Gesicht das Mondlicht reflektierte, und wandte sich wieder dem Feuer zu. Yōki wallte auf, peitschte die Flammen über den bratenden Hasen und Asche in sein Gesicht. Kalte Entschlossenheit, von der üblichen Cholerik keine Spur. „Steh auf.“ Seufzend hob er den Blick zu Kaito. „Was soll das?“ „Dasselbe könnte ich dich fragen. Sitzt hier wie ein selbstmitleidiges Häufchen Elend.“ Mit dem Handrücken schob Minoru das Schwert vor seiner Nase weg. Unbeirrt richtete Kaito die Waffe wieder auf ihn. Minoru runzelte die Stirn. „Manch einer würde das eine Beleidigung nennen.“ „Dann wehr’ dich.“ „Worum geht es hier? Den Streit eben? Gekränkten Stolz? Das ist lächerlich.“ Kaito zischte leise und schloss die Hand würgend um Shiokiris Griff. „Lächerlich ist nur dein fehlender Biss! Zum Mitschreiben: Myōga ist tot. Er war steinalt. Es ist nicht deine Schuld.“ Es war gnädig von Kaito, sich auf diesen Aspekt des Tages zu beschränken und nicht gleichermaßen seine familiäre Situation oder irgendeine andere Thematik mit der Kälte zu rationalisieren, die ihr zustand. Denn recht hatte er allemal: Weder war der Tod des Flohs seine Verfehlung noch war nun die Zeit, anderen Gedanken nachzuhängen. Sie hatten dringlichere, weltlichere Schlachten vor sich als jene, die im Geiste stattfanden oder sich in ferner Zukunft im Süden anbahnen könnten. Wenn sie die Drachen nicht überstanden, war auch die Zukunftsmusik verklungen und jeder emotionale Konflikt pure Zeitverschwendung. Dennoch ging Minoru die Tatsache nicht aus dem Kopf, dass Kōhei nicht irgendein bedeutungsloser Fußsoldat mit zweifelhaftem Frauengeschmack war. Er hatte angenommen, den Kitsune für seine Untätigkeit schon ausreichend zu verachten; zu hassen gar. Warum aber fühlte er sich dann, als habe man ihm einen Dolch in die Rippen gejagt? „Ich habe keinen Bedarf an Aufmunterung. Lass mich zufrieden.“ „Du hast Bedarf an vielem, Vetter. Andere werden sterben. Jüngere, Unbeteiligte, Fremde. Durch Eigenverschulden, dummen Zufall oder deine Fehler. Gewöhn’ dich also daran.“ Zweifelnd betrachtete Minoru sein Gegenüber. Man hätte annehmen sollen, dass Kaito zu dieser Sache schwieg, nachdem er zuvor noch an der Existenz dämonischer Gefühle im Allgemeinen gezweifelt hatte. „Habe ich was verpasst? Warst du nicht derjenige, der Distanz mit Arroganz gleichsetzt und eben noch der Meinung war, etwas weniger Kälte habe die Meinung des Schmieds geändert? Was willst du jetzt von mir?“ „Etwas weniger Kälte - kein Zusammenbruch deiner gesamten Haltung, verdammt. Erbärmlich, dass du dich von Tōtōsai so leicht manipulieren lässt, obwohl er er sich einmal Mühe gibt. Sein ganzes Getue heute morgen und die Gesprächsführung von eben. Du warst praktisch Butter in seinen Händen. Was ist bloß falsch mit dir?“ „Wenn ich das richtig sehe, hat er nicht nur mich ausgespielt.“ Kaitos Haltung entspannte sich. Er ließ die Waffe sinken. „Nun, immerhin ist es dir nicht entgangen.“ „Kaum. Aber er hat lange Loyalität bewiesen und ist eng mit der Familie verbunden. Außerdem hat er tot keinen Nutzen. Das alles weiß er selbst. Was hätte ich also tun sollen? Ihm weiter leere Drohungen an den Kopf werfen?“ Wie viel Wahrheit an den Behauptungen des Schmieds war, blieb unklar. Vielleicht brauchte er die Informationen für Tenseiga, vielleicht auch nicht. Ein großer Teil seiner Darbietung war sicherlich Neugier und das Ausspielen der Macht gewesen, die die Situation ihm verlieh. Fest stand jedoch, dass er Kaito nicht grundlos angewiesen hatte, zu bleiben und Minorus Geschichte zu hören. Minoru biss die Zähne zusammen und bereute es sofort, als die Wunde des gezogenen Reißzahnes ein Schmerzgewitter durch seinen Kopf jagte. Dass der Han’yō nun derart viel wusste und gegen ihn verwenden konnte, behagte ihm gar nicht. Ein paar Vorurteile beseitigt und ein ganzes, emotionales Waffenarsenal ausgehändigt - schlechter Tausch. Andererseits war da kein Spott in Kaitos Anklage. Zumindest noch nicht. Minoru nahm den Hasen vom Feuer, riss ihn entzwei und hielt Kaito beiläufig eine Hälfte hin. Nicht besonders höflich, aber daran würde er kaum Anstoß nehmen. Der beäugte ihn skeptisch, dann ließ er Shiokiri in die Scheide gleiten und zog Minoru mürrisch die Mahlzeit aus der Hand. Unwirsch nahm er in dier Asche Platz. „Stört es dich nicht, dich vor ihm derart nackt zu machen?“ „Ich hasse es. Aber irgendwie habe ich ein Talent, mich fortwährend für alles rechtfertigen zu müssen.“ „Du solltest dringend damit aufhören.“ „So wie jetzt?“ „Das ist was anderes.“ „Wenn du das sagst.“ Sie schwiegen. Kaito riss das Fleisch mit den Zähnen herunter. Der Hase war vom Sommer fett und mit Kräutern gefüllt. Nachdenklich zog er Shiso-Blätter und wilde Petersilie von dem Fleisch, schob sie in den Mund und hob anerkennend die Brauen. Den erneuten Kommentar über Botanik verkniff er sich. „Ist was dran an diesen Wächterkram?“ Minoru zuckte mit den Achseln. „Mein Lehrer für Geschichte hat nichts dergleichen gesagt, aber der war auch kein Inu. Myōga hat in unserem letzten Gespräch eine Totenwache erwähnt, wegen der die Familie meiner Mutter früher sesshaft geworden ist als die anderen.“ „Die zweitgrößte Streitmacht, eine Totenwache und einen Phönix zum Wappen? Die Drohung ist verdammt offensichtlich.“ Es dauerte einen Moment, bis Minoru die Bausteine geordnet hatte. Totenwache über einen Inugami und ein Zeichen der Wiedergeburt deuteten gewiss die Möglichkeit an, dieses Unheil erneut in die Welt zu rufen. Die Soldaten jedoch - er schüttelte den Kopf. „Eine untätige Streitmacht. Das passt nicht ins Bild.“ „Bitte was?“ „Wäre Tenseigas Reparatur gescheitert, hätte ich nach Echizen reisen und meinen Onkel dazu bewegen sollen, seine Truppen zu entsenden. Er war im Heerlager bei einer Besprechung mit Ryouichi und weigert sich standhaft, sein Heer zu mobilisieren. Sie haben darüber gestritten, dass die Truppen seit Jahrtausenden zur Verteidigung Echizens dienen und nichts sonst. Die sind jedenfalls keine Drohung.“ „Ziemlich lebensmüde, wenn dein Vater davon erfährt. Das heißt, das wäre es… .“ „Wenn Osamu einfach stur wäre. Was aber, wenn er mit seiner Weigerung im Recht ist? Ryouichi hat in Abwesenheit meines Vaters die Inu geführt. Er würde Ungehorsam nicht hinnehmen und seine Hoffnung abermals in Tenseiga setzen, wenn er Osamu einfach den Kopf abschlagen könnte. Sie lassen also zähneknirschend einen Großteil der Truppen in Echizen. Trotz allem ist das kein Heer für den Angriff. Dann ist das keine Drohung. Eher ein Schutzwall.“ Kaito kaute schweigend auf einem Knochen herum. Schließlich ließ er ihn zwischen den Reißzähnen bersten und schluckte die Splitter. „Nein. Ein verdammt gut bewachter Kerker - und Tōtōsai weiß das. Es war seine erste Sorge, als er erfahren hat, dass du aus dieser Linie stammst. Dass du diesen Inugami-“, er hielt inne und betrachtete Minoru finster. „Du warst es, der es ‘erwecken’ genannt hat.“ „Weil er genau das angedeutet hat: Dass ich etwas rezitieren gelernt habe, das gefährlich ist.“ „Und? Hast du?“ Minorus Gesichtsausdruck musste Kaito Antwort genug gewesen sein. Er ließ die Schultern sinken und atmete durch. „Gut. Also nicht. Trotzdem gefällt mir nicht, dass die Reise nach Echizen der Ersatzplan war." „Weil es nach letztem Ausweg riecht?“ „Woher soll ich das wissen? Du bist der mit Zugang zu Strategiebesprechungen.“ Mit einem matten Lächeln kugelte Minoru seiner Hasenhälfte die Hüfte aus. „Nein. Ich bin nur der Erbe. Soweit ich das bisher verstanden habe, besteht meine Pflicht darin, zu überleben und dabei eine gute Figur zu machen.“ „Eine gute Figur in der hintersten Reihe?“ Ein Muskel in Kaitos Mundwinkel zuckte. „Die wissen aber schon, dass ich kaum älter bin? Aber ich bin wohl nicht wichtig genug.“ Sein Lächeln wurde bitter. Nicht wie früher, als er Bitterkeit mit Spott überzogen hatte, um sie leichter herunterzuwürgen. Auch sein Sarkasmus hatte die letzten Jahre nicht unbeschadet überstanden. Das war verständlich, wenn man bedachte, dass er zwar das Risiko der anderen in den Kämpfen teilte, jedoch nicht den Respekt. „Dem Generalleutnant ist deine Beteiligung nicht entgangen. Allerdings würde er wohl auch sagen, dass dieses Risiko deine Entscheidung ist - eine Freiheit, die er mir nie zugesteht.“ „Ryouichi? Der ist auch etwas überempfindlich, wenn es um deine Sicherheit geht“, bemerkte Kaito trocken, dann plötzlich hielt er inne. Sein Blick wanderte über Minoru, ernst und gedankenverloren, schwang zur Seite und ruhte schließlich auf dem Feuer. „Stimmt etwas nicht?“ „Nein. Alles bestens.“ „Du bist ein miserabler Lügner.“ „Weiß ich.“ Schwerfällig raffte sich Kaito auf und legte eine Hand an Shiokiris Griff. „Macht aber nichts. Tote Gegner stellen keine Fragen. Deine Schwachpunkte machen mir da mehr Sorgen. Also beweg’ endlich deinen hochgeborenen Hintern und zieh den Stahl. Ich setzte keinen Fuß mit dir auf ein Schlachtfeld, wenn ich nicht weiß, wen ich im Kampf neben mir habe.“ „Wer sagt, dass das der Fall sein wird?“ „Das lässt sich nicht vermeiden. Du schuldest mir was für die Hilfe hier. Also wirst du mich mit zur Front nehmen. Auf A-Un. Das erspart mir unnötigen Marsch.“ „Gut.“ Wenn Kaito seine Schuldigkeit auf diese Weise einforderte, sollte es ihm recht sein. „Und damit du mir da nicht wegstirbst, ‘Kōtaishi’“, er zog Shiokiri mit einer Präzision, die vermuten ließ, dass er mit Schwertern dieser Länge ausreichend vertraut war, „zeigst du mir jetzt, wie schlecht du wirklich bist.“ Kaito brauchte nur wenige Minuten, um zu entscheiden, dass Minoru bei Weitem nicht so schlecht war, wie er sich darstellte. Seine Fußarbeit war tadellos, die Schläge kamen schnell und präzise und er ließ sich auch bei starker Bedrängnis nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Allerdings war er wenig intuitiv, seine Bewegungsabläufe mustergültig, makellos und damit vorhersehbar. Es wirkte wie ein einstudierter Tanz, in dem er eher reagierte als nach Führung zu streben. Stahl kratzte unmelodisch, als Shiokiris Parade an dem namenlosen Katana entlang glitt. „Für die gute Figur haben deine Tanzstunden schon mal geholfen“, bemerkte er schnippisch und sprang zurück, ehe Minoru ihm das Grinsen aus dem Gesicht schlagen konnte. Heißblütig konnte man ihn nicht gerade nennen. Seine Aura war für den Bruchteil einer Sekunde aufgeflackert - ein Gefühlsausbruch, den er gerade sicherlich verdammte - aber er blieb auf Abstand. Kalkulierte. „Bei der Sache mit dem Überleben bin ich mir aber nicht sicher. Du bist schrecklich durchschaubar. Und du nimmst mich nicht für voll.“ „Das ist nicht wahr.“ „Du kämpfst wie meine Schwester. Muss ich dir erst ins Gesicht spucken, damit du ernst machst?“ „Ernst? Das sind scharfe Waffen. Soll ich dir etwa den Kopf abschlagen?“ „Könntest du das denn?“ Minoru schnaubte. „Vermutlich nicht. Aber ich dachte, das hier sei eine Übung. Du brauchst den Versuch hoffentlich nicht, um zu wissen, dass ich mit Feinden anders verfahre.“ Kaitos Miene verlor an Glanz, als seine Erinnerung das Bild eines verendenden Mönchs Zutage förderte. Minoru mochte ihm im Schwertkampf unterlegen sein und jüngst durch Tōtōsais Spielchen und Myōgas Verlust verletzlich gewirkt haben, aber was das Töten anbelangte, war er nicht weniger hemmungslos als sein Vater. Das änderte jedoch nichts daran, dass er sich nun zurücknahm. Kaitos nächste Schlagserie ging unerbittlich nach vorn. Doch statt die Waffe zur Parade zu heben, ließ Minoru seine Angriffe ins Leere laufen. Er zog sein Katana erst nach einigen Ausfallschritten über eine Drehung, die ihn unter dem Schlag hinweg in Kaitos Nähe brachte - so nah, dass der zurückwich und Shiokiri senkrecht zur Parade führte, bevor Minorus Katana ihm der Hüfte bis zur Schulter aufschlitzen konnte. „Ha, das ist besser!“ Mit einem weiteren Hieb zwang er Minoru erneut auf Abstand. Wie erwartet war Shiokiris Länge ein Nachteil, wenn sein Gegner erst einmal zu nah an ihn herangekommen war. Für solche Momente gab es jedoch noch das deutlich kürzere Wakizashi oder seine Klauen. Bis dahin hatte er mit der großen Reichweite - wenn richtig ausgespielt - einen spürbaren Vorteil. Nun, es wurde Zeit, den Stahl über seine Erscheinung hinaus zu prüfen. Kaito lockerte das Handgelenk, spürte dem Gewicht der Waffe nach, der Balance. Dann verbreiterte er den Stand, hob das Schwert und schickte das Yōki über die Klinge. Die Lederbindungen des Griffs blieben kühl, als die Energie den Stahl durchsetze. Eine sanfte Vibration schwang durch die Waffe, sobald die Aura den Kernstahl erreichte, und schwappte einer Welle gleich über die gesamte Länge der Waffe und - Kaito griff um, als die fremde Aura auf ihn zuschoss. Der Geruch von Leder und kalten Winden kam in der schwefeligen Luft kaum durch. Sobald er die Witterung aufnahm, wusste er, dass es zu spät war. Er wollte gerade einen Fluch ausstoßen, als etwas Weißes an ihm vorbeipreschte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Minoru den Gegner im Sprung zu Boden riss. Ein Gewirr aus Braun und Weiß schlug in der Asche auf, wälzte über den Boden. Zähne schnappten aufeinander, fanden Pelz und Fleisch. So schnell wie es begonnen hatte, war es vorbei. Knurrend lag der Wolf am Boden, das braune Fell gesträubt, die grünen Augen wütend auf Kaito gerichtet. Minoru stand über ihm, hatte seine Kehle gepackt und presste ihn erbarmungslos in die Asche. Leises, drohendes Knurren des Hundes, ein Nachbeißen, gefolgt von einem Fiepen, dann wandte der Wolf den Blick von Kaito ab und entspannte sich. Minoru ließ von ihm ab, machte einen Satz zurück und landete in einem so fließenden Übergang auf zwei Beinen, dass Kaito nicht begreifen konnte, was er eigentlich gesehen hatte. Ein Schleier aus Weiß, der gleichermaßen Fell oder Kleidung hätte sein mögen. Der Übergang war viel zu schnell. Sein Vetter wischte sich über den Mund, leckte anschließend das Blut von seinem Handrücken und betrachtete den Wolf, den er mit Leichtigkeit hätte töten können. Den Kehlkopf zertrümmern, die Kehle herausreißen, das Genick brechen. Der Wolf war ihm in Sekundenbruchteilen ausgeliefert gewesen. So viel zum Thema „harmlos“. Brummend spuckte Wolf ein weißes Fellbüschel aus - das einzige, das er von Minoru zu fassen bekommen hatte - und wandelte sich zu Kaitos Überraschung zu einem jungen Mann. Kaum älter als sie, schlank, breitschultrig und sonnengebräunt. Der stieß ein wütendes Knurren aus: „Bist du bescheuert?!“ „Ah, gut“, bemerkte Minoru trocken. „Du hast mich also doch erkannt. Ich hatte schon Sorge du verwechselst mich mit einem hilfsbedürftigen Kleinkind. Warum sonst solltest du dich einmischen?“ Der Fremde packte in die Asche und schleuderte einen Stein in Minorus Richtung. „Du eingebildetes Stück Hundefleisch! Ist das alles, was ich nach all den Jahren kriege? Zähne und Abweisung?“ „’Nach all den Jahren’? Mein Beileid, Takeru. Vergeht die Zeit mit deinem Schwiegervater so langsam?“ Minoru lachte. Ein herbes, aber warmes Lachen, das Kaito irritiert blinzeln ließ. Dann streckte Minoru dem Wolf die Hand entgegen und half ihm auf die Beine. Dass sein Vetter einen halbverwilderten Wolfsdämonen kannte, hätte Kaito nach allen Erkenntnissen der vergangenen Nacht nicht mehr wundern sollen. Doch die pure Diskrepanz ihrer Erscheinungen war grotesk. Wenn Kaito seine eigene Kleidung für schlicht gehalten hatte, war die dieses Dämons bestenfalls rudimentär: Ein zerkratzter Brustpanzer über einem langärmeligen Hemd aus Naturfasern, Unterarmschienen, Katana und Wildlederhosen. Die bloßen Füße von Staub und Dreck schwarz. Minoru hingegen sah aus, als habe die Fürstinmutter ihm gerade noch persönlich einen Falte aus der Seide gestreichelt. Dennoch legte der Wolf die Arme wie selbstverständlich um ihn; zog ihn an sich als seien sie lang vermisste Brüder. Als Minoru die Geste erwiderte, hätte Kaito beinahe hysterisch gelacht. Doch sein Vetter machte sich kurz darauf los und brachte wieder angemessenen Abstand zwischen sie. Takeru jedoch hielt dessen Unterarm in einem eisernen Griff. Blut rann am Hals des Wolfes herab und sickerte in den dichten Pelz, der von seiner Schulter über den Rücken fiel. Er beachtete es nicht weiter und ließ seinen Blick über Minoru schweifen. Langsam. Distanzlos. Wiederholt rief sich Kaito in Erinnerung, dass die beiden einander offenbar kannten. Dass keine unmittelbare Gefahr von dem Wolf ausging. Doch die Art, wie er Minoru inspizierte; die aufgezwungene Nähe, die der ohne ersichtlichen Grund duldete… er bemerkte, wie sich seine Hand fester um Shiokiris Griff schloss. Schließlich ließ dieser Takeru den Stoff des Kimonos durch zwei Finger gleiten, fischte eines seiner dunklen Haare von dem makellosen Weiß und ließ es nachdenklich zu Boden fallen. Dann ein zweites. „Stattlich“, sagte der Ōkami schließlich, ehe Kaito die Situation endgültig als bedrohlich einstufen konnte. „Wie ein richtiger, schnöseliger Inu. Du siehst gut aus. Nicht nur die Kleidung… du weißt, was ich meine.“ „Weniger abgewetzt?“ „Weniger abgewetzt. Weniger mager. Und deine Aura - ich habe dich kaum erkannt. Allgemein besser eben. Der Westen scheint dir gut zu bekommen.“ Als Minoru nichts erwiderte, senkte der Wolf die Stimme: „Täuscht das?“ „Das es besser scheint?“ „Ja.“ „Ich weiß nicht.“ Takeru schwieg, betrachtete Minorus aufwendigen Obi, das Schwert darin und mit einem Mal sah er niedergeschlagen aus. „Ich hatte gehofft, du kommst zurück, wenn der Westen dir nicht zusagt. Zu mir. Oder Nobu. Er hätte Platz für dich. Er würde sich darum reißen.“ „Ich weiß.“ „Ach ja? Schon vor Jahren hieß es, du seist verschwunden. Warum bist du dann immer noch hier und nicht im Norden?“ „Du glaubst, ich sei weggelaufen?“ „Bist du nicht?“ „Nein.“ Nach einer Weile der Stille, stieß Minoru ein Schnaufen aus, das bei anderen wohl ein Lächeln geworden wäre. „Dachtest du wirklich, ich würde etwas so dummes tun? Allein der Versuch vor meinem Vater davonzulaufen ist töricht. Und ein sicheres Todesurteil.“ „Nobu hat etwas ähnliches gesagt. Dass niemand so lange westlichen Häschern ausweichen kann. Aber er kennt dich nicht wie ich.“ „Du überschätzt mich -“ „Nein. Wie üblich unterschätzt du dich. Wäre ich nicht gewesen, wärst du heute noch im Nantai. Etwas mehr abgewetzt und mager, aber sehr lebendig.“ „Egal. Ich hatte die Wahl und habe entschieden. Ich bin lange über den Punkt hinweg, mich nach einer anderen Realität zu sehnen.“ Ehe Takeru nachhaken konnte, knirschte Kaito hörbar mit den Zähnen: „Ich unterbreche eure - was auch immer das da ist - nur ungern, aber vielleicht könnten wir erst klären, was dieser Wolf hier treibt?“ Der fuhr herum. Von einem Moment auf den nächsten eher Furie als sentimentaler Anhang. „Das geht dich einen Dreck an!“ Eine Hand an der Waffe und die Muskeln drohend gespannt kam er auf Kaito zu. „Aber da wir gerade beim Klären sind, Han’yō: Ich weiß ja nicht, ob es jemandem wie dir bewusst ist, aber wenn du einen Übungskampf anleierst, steht nicht dir der erste Angriff mit Aura zu, sondern ihm!“ „Sagt wer?!“ „Die verdammte Höflichkeit!“ „Seit wann schert sich ein dahergelaufener Bettvorleger um Höflichkeit?!“ „Seit wann erlaubt man einem halben Köter-?“ „Genug.“ Die Endgültigkeit in Minorus Stimme ließ Takeru verstummen. „Kaito ist Familie. Was auch immer du gerade sagen wolltest, will ich nie aus deinem Mund hören.“ Verdutzt sah Kaito zu seinem Vetter. Der verzog zwar keine Miene, aber es war zu deutlich, dass er seinen Blick mied und stattdessen Takeru fixierte, der unschlüssig an seinem Schwertgriff spielte. „Familie, hm?“ Die grünen Augen des Wolfs hefteten sich erneut auf Kaito, taxierten ihn ausgiebig. Dann zuckte er mit den Achseln. „Wie du meinst.“ Zum Dank schenkte Kaito beiden die Andeutung gefletschter Zähne. Das würde ein Nachspiel haben, so viel war sicher. Dass die Verachtung des Ōkami so leicht auszubremsen war - insbesondere mit dieser Begründung - war zwar überraschend, änderte jedoch nichts daran, dass Minoru offenbar meinte, ihn vor etwaigen Anfeindungen schützen zu müssen. Als könnte er seine gesellschaftlichen Schlachten nicht mehr selbst ausfechten! Als wäre er auf die Gnade eines anderen angewiesen! „Darüber hinaus“, fuhr Minoru fort und seine Stimme hatte nun den üblich kühlen Klang, „hat mein Vetter nicht unrecht, wenn er deine Anwesenheit hinterfragt. Was also tust du hier?“ Takeru, der den Unterton nicht herausgehört hatte, zuckte mit den Achseln. „Was erledigen.“ „Du hast ihn nicht verstanden.“ Kaito trat näher an den Wolf heran. „Er will wissen, was du auf dieser Seite der Grenze verloren hast.“ „So ein Unsinn! Minoru würde nie-“ „Doch. Ziemlich genau das will ich wissen. Das ist westlicher Boden und du bist garantiert nicht allein.“ Takeru fuhr herum. Seine Miene eine unverhohlene Darstellung von Unglauben und Schock. „Mino, ich bin’s! Ich darf ja wohl durch den Westen laufen, wenn es mir passt!“ „Nein. Keineswegs.“ „Das kann nicht dein Ernst sein! Was soll das? Meine Familie hätte dich aufgenommen, wenn dein Vater nicht aufgetaucht wäre. Und selbst dann -! Du bist nicht wie sie!“ Im Gegensatz zu Takeru war Minorus Gesicht eine Maske. Wenn diese Anschuldigungen ihn berührten, konnte er es gut verbergen. „Ihr seid es gewesen, die aus der Grenzüberschreitung meines Vaters vor vier Jahren ein Machtspiel inszeniert haben. Eines, das er vermutlich nur meinetwegen ohne Blutvergießen erduldet hat. Und nun bist du hier, hunderte Kilometer von Zuhause entfernt auf westlichem Boden. Der vermutlich einzige Ōkami, den Nobu nicht aus den Augen lassen würde, nachdem du seiner Tochter schon einmal durchgebrannt bist. Du bist garantiert nicht allein. Also: Wo ist Nobu und wie viele marschieren mit ihm?“ „Warum sollte ich dir das sagen?“ Takerus Hand hatte sein Schwert noch nicht erreicht, da war Shiokiri bereits drohend auf ihn gerichtet. Er ignorierte die Waffe als existiere Kaito gar nicht, betrachtete den Fürstensohn und zögerte, als der sich nicht rührte. „Freunde tun so etwas nicht, Minoru.“ „Doch. Freunde tun genau das. Vertraust du mir noch oder nicht?“ Der Wolf spuckte aus. „Zweihundert. Südwestlich von hier. An der Grenze von Echigo zu den Ebenen.“ „Dann lauf zurück und sag Nobu, dass er zu weit nordöstlich ist. Der Generalleutnant wird sich zurückfallen lassen und die Front ins westliche Inland ziehen. In die Waldgebiete um das Takatsuma-Gebirge.“ „Für wie dumm hältst du mich? Niemand tritt freiwillig Boden ab.“ Minoru schnaubte. „Der Himmel bewahre uns vor so etwas banalem wie Strategie, wenn wir dem Feind auch frontal begegnen könnten.“ Überraschend einsichtig kaute der Wolf auf seiner Wange. „Na schön, ja… Nobu würde das wohl auch tun.“ In Minorus steinerner Maske hob sich eine Augenbraue. „Weiß Nobu schon, dass er die Mentalität seines zukünftigen Schwiegersohnes bereits seinen Ansprüchen angepasst hast?“ „Weiß dein Vater, dass er deinen Dickschädel noch unerträglicher gemacht hat?“ „Bisher nicht, nein.“ „Der Glückliche.“ „Es gibt einiges, das mein Vater nicht weiß. Aber zurück zu den Truppen: Ihr könntet zu uns stoßen. Haltet euch bis dahin bedeckt - vor Drachen und Inu. Ich wüsste einen Weg, Ryouichi wissen zu lassen, dass ihr meine Erlaubnis habt. Was die anderen Heerführer betrifft, fehlt mir aber der Einfluss.“ Als Takeru verschwörerisch lächelte, ließ Kaito ungläubig die Waffe sinken. Was war hier gerade passiert? Aus dem Mund jedes anderen wäre es nicht weniger gewesen als Verrat. Militärische Informationen des eigenen Volkes mit einem anderen teilen… doch das hier war der Erbe des Westens selbst. Konnte es da Verrat sein oder nannte man es schlicht Dummheit? Naivität? Beides passte nicht zu ihm. Als Minoru ihn ansah, war der Blick kurz und eine stumme Aufforderung zur Stille. Kaito knurrte, schwieg jedoch und beobachtete, wie Minoru seinem Freund einen Schlag an den Arm versetzte. „Mach schon. Wir reden, wenn wir diesen Scheiß überleben.“ Takeru grinste. „Mit dir ein paar Schlagen zu jagen, könnte den Ausflug sogar lohnenswert machen.“ „Es sind Drachen, Takeru. Und Krieg, keine Jagd - geschweige denn ein Ausflug.“ „Ach, Haarspalterei! Aber wie auch immer…wir sehen uns. Mino. Hundchen.“ Er sah sie beide an, ehe er zu Tōtōsais Hütte marschierte - eine Hand zum Abschied gehoben, die andere durch seinen Nacken reibend, während er ausgiebig gähnte. Kaito hätte ihm am liebsten auf der Stelle erwürgt. Als er weit genug weg war, fuhr Kaito zu seinem Vetter herum: „Bist du übergeschnappt, ihm die Truppenbewegungen vorzukauen?“ Den ließ seine Wut kalt. „Die Ōkami waren von Beginn an in diesen Konflikt verwickelt. Aber darüber hinaus: Findest du nicht, dass der Ausgang dieses Krieges jeden etwas angeht? Es ist ihr gutes Recht, sich zu beteiligen.“ „Kein Grund, zweihundert Mann freie Hand zu lassen!“ „Zweihundert Wölfe auf der Fährte unserer Feinde. Mein Vater wird mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn er davon erfährt, aber das kümmert mich nicht. Es geht hier um mehr als seinen Stolz. Und schließlich habe ich nicht um Unterstützung gebettelt - nur den Weg geräumt.“ Kaito wollte sich lieber nicht vorstellen, was der Fürst von dieser Entscheidung hielt, wenn er als Außenstehender schon über die Problematik stolperte. „Du vertraust diesem Kerl offensichtlich.“ „Takeru? Ja.“ „Weshalb?“ Minoru überging die Frage. „Du magst ihn nicht? Wie sonderbar. Ich dachte immer, dass ihr euch blendend verstehen müsstet.“ „Das hättest du wohl gern.“ Nachdenklich zog Minoru die Stirn kraus. „Eigentlich nicht. Das wäre furchtbar anstrengend.“ Kapitel 61: und eines Tages --------------------------- Bei Einbruch der Dunkelheit hatten sie unweit der Grenze zwischen West und Ost Rast gemacht. Der Boden war neutral, sicher war er deswegen nicht. Daher hatte Kōhei jedes Feuer untersagt und Flüsterton gefordert. So wimmelte es um sie herum von Zikaden und Getier, der Wald vor ihnen eine von Leuchtkäfern gesprenkelte Dunkelheit. Shippō war merklich dankbar, dass seine Standpauke aufgrund der gehobenen Vorsicht verschoben worden war und sein Lehrer dennoch nicht zu verstimmt wirkte. In Wahrheit waren Kōheis Gedanken zu zerrissen, um eine bestimmte Laune nach außen zu tragen oder gar die Fehltritte seines Schülers zu tadeln. Die Aussicht, dass Minoru wohlbehalten in die schützende Nähe seines Vaters zurückgekehrt war, ließ eine Schwere weichen, die sich über die Jahre von Ungewissheit über Zweifel zu einer vagen Hoffnung entwickelt hatte. Einer vagen Hoffnung, die schmerzhafter zu ertragen gewesen war als traurige Gewissheit es je vermocht hätte. Doch er lebte. Wo auch immer er gewesen sein mochte. Nicht im Süden jedenfalls, sonst hätte zumindest Saburō es gewusst. Als der die Hoffnung mit Vermutungen genährt hatte, war Kōhei noch versucht gewesen, ihm die üblichen Halbwahrheiten zu unterstellen, die er auch dem Fürsten auftischte. Davon musste er nun Abstand nehmen. Im Rahmen seines Wissens hatte der Erbe offenbar die Wahrheit gesagt. Nun, da Minoru lebend gesehen worden war, war zumindest diese Last von Kōhei genommen. Es oblag nun wieder seinem Vater, auf den Jungen zu achten und so wie er bislang das Überleben seines menschlichen Anhangs gesichert hatte, sollte es ein Leichtes für Sesshōmaru sein, seinen Erben aus dem drohenden Unheil herauszuhalten und in Sicherheit zu bringen. Nach Echizen etwa, wo die zweitgrößte Armee des Landes stationiert war. In die Heimat seiner Mutter. Dort würde ihm nichts geschehen - zumindest vorerst nicht. Denn abgesehen von diesem eher schon persönlichem Dilemma, hatte sich gar nichts zum Besseren gewendet. Im Gegenteil. Saburō saß seit ihrer Ankunft abseits an eine Fichte gelehnt und bewegte etwas in den Händen, das in der Dunkelheit schlecht auszumachen war. Die Begegnung mit den Fremden hatte seine ohnehin schon gespannten Nerven weiter strapaziert. Es bestand kein Anlass zu glauben, dass diese Eigenbrödler außer Shippō irgendeine Verbindung zum Süden hatten und ihn verraten konnten, selbst wenn sie ihn erkannt und die Situation verstanden hätten. Aber ab einem gewissen Punkt wurde der Druck zu groß, um Gefahren rein rational abzuwägen. Selbst für Saburō und insbesondere dann, wenn es um andere ging. Das verstand Kōhei nur zu gut. Als Shippō eingeschlafen war, ging er lautlos zu Saburō hinüber. Der sah nur kurz auf und widmete sich anschließend wieder seinem Werk, das, wie Kōhei nun aus der Nähe sah, ein Stück Lehm war. „Sagt mir bitte, dass Ihr nicht beabsichtigt, dem da auch Leben einzuhauchen.“ „Vergisst du unsere Vereinbarungen so schnell oder ist das Absicht?“ „Schön. Sag du mir bitte, dass du deine Aura nicht für noch eine Illusion verbrennst. Erhol dich lieber.“ Saburō seufzte. „Es ist nur Vorbereitung, nichts weiter. Und sei versichert: Eine kleine Illusion macht diesen Braten auch nicht fett. Der Kugutsu-Doppelgänger kostet genug.“ Und mit Sicherheit mehr mit jeder Wegstunde, die sie sich vom Süden entfernten. „Vorbereitungen wofür?“ „Eine Warnung.“ „An deine Mutter oder deine Frau?“ „Du wärst überrascht.“ „Das hatte ich befürchtet. Würdest du mich wenigstens einweihen, was passiert, wenn du diese Warnung an den Hof schickst?“ „Sie werden versuchen zu fliehen. Meine Mutter, Akemi und unsere Tochter.“ Kōhei betrachtete ihn stumm. Wenn Fürst Hayato bemerkte, dass auch nur eine seiner Geiseln untergetaucht war, würde er jeden Stein einzeln nach ihnen umdrehen lassen, um Saburō unter Kontrolle zu halten. Um ihm aufzuzeigen, wie sinnlos sein Widerstand war, würde er außerdem umso härter mit den Flüchtigen verfahren, wenn er sie in die Hände bekam. Bei dieser Suche würde er in Awaji beginnen, wo er den größten Rückhalt seines Sohnes vermutete und dabei unweigerlich über einen Gast stolpern, den er tot glaubte - nicht zuletzt, weil Kōhei sich für das Ableben Masukos verbürgt hatte. Spätestens dann würde auch für ihn die Luft sehr dünn werden. Nun war Saburō sicherlich nicht einfältig genug, um keine Vorkehrungen für eine derartige Situation getroffen zu haben. Nicht, weil die Lüge um Masukos Überleben für Saburō noch einen Unterschied gemacht hätte, sondern weil er diese verfluchte Hündin lebendig brauchte, um sie irgendwann mit einer übergroßen Schleife vor den Toren der Inu abzusetzen und zu hoffen, dass der aufkommende Westwind sich damit besänftigen ließ. So oder so: Sobald diese Nachricht gen Süden flog, wäre ein Stein losgetreten, der einen ganzen Berghang ins Rutschen bringen konnte, wenn er die falschen Felsen traf. Es blieb also nur die Hoffnung, den Sturz so sanft wie möglich zu gestalten. „Das ist ein teurer Tausch“, sagte Kōhei schließlich. „Du wirst keinen Fuß mehr an den Hof setzen können. Keinen Einfluss haben. Wenn du deinen Vater stürzen willst, dann aus dem Exil. Schlimmer noch: Auf der Flucht. Das mindert deine Chancen beträchtlich.“ „Es geht um meine Mutter, meine Frau und Kinder.“ „Du magst von der Herrschaft deines Vaters halten, was du willst, aber er hat dir eines voraus: Diese Sentimentalitäten kümmern ihn nicht.“ „Das weiß ich sehr wohl. Mich schon.“ „Und genau aus diesem Grund hast du bereits verloren. Weil du ein Idealist bist. Er nicht. Du willst zu viel in einem Spiel, das dir nicht erlaubt, rechts und links zu sehen, wenn dein Feind nur geradeaus schaut.“ Saburō betrachtete ihn eingehend. Dann legte er seinen Lehmklumpen zur Seite, der mittlerweile die Form eines spatzengroßen Vogels angenommen hatte, und faltete die Hände im Schoß. „Wenn du mir schon rätst, meine Familie zu opfern, dann führ deine Anmerkung ruhig aus.“ „Ich rate dir gar nichts. Du bist zu weitsichtig, um Hilfe bei der Erörterung deiner Schwächen zu benötigen. Unwahrscheinlich, dass ich dir etwas neues erzählen würde.“ „Unwahrscheinlich ist schlechter als das meiste und besser als manches. Derzeit würde ich einen Kniefall für Unwahrscheinlichkeiten geben.“ Kōhei betrachtete ihn in seinem abgewetzten Braun, den schwarzen Pelzkragen im extremen Kontrast zu seiner blassen Haut, der noch immer einige Liter Blut fehlten, um gesund zu wirken. Er war gefasster als in den vergangenen Tagen und doch schwappten da auch Abgründe über die niedergerissene Mauer zwischen ihnen, die Kōhei widersagten. „Verzweiflung steht dir noch weniger als Ärger.“ „Es tut mir leid, dass ich dein schlechtes Bild von mir mit jedem Tag ein wenig mehr zerstöre.“ „Solange dein Urteilsvermögen nicht auch den Bach heruntergeht und uns weiterhin vor dem Schwert bewahrt, kannst du meinetwegen so viele Tiefpunkte haben, wie du selbst erträgst.“ Der Silberfuchs schmunzelte. „Wie nachsichtig von dir. Aber da es nun ein ‘uns’ zu geben scheint: Kannst du anordnen, dass die Soldaten bei einer etwaigen Suche weder Masuko noch meine Familie finden? Es wäre auch in deinem Sinne, aber ich möchte dich dennoch darum bitten.“ Kaum hörbar knirschte Kōhei mit den Zähnen. Er hatte gewusst, dass die Entscheidung, seinen Fürsten zugunsten des Erben zu belügen, ihn eines Tages einholen würde. Dieses Manöver würde nur einen Teil der Konsequenzen ausbremsen. Zumindest aber den Teil, der Kōheis Loyalität in Zweifel zog. Das würde ihn nicht nur am Leben halten, sondern auch seine Stellung und seinen Einfluss sichern - beides Aspekte, die Saburō dringend brauchte. An dessen bodenlosem Fall in Ungnade, sollte seine Familie vom Hof fliehen, würde es nichts ändern. Wenn dieser Vogel flog, war ihm ein Leben in offener Opposition zum Fürsten gewiss. Ein Konflikt, der auf der Flucht schwer zu bewältigen war und sich ohne Armee nicht gewinnen ließ. Dennoch: Sein Risiko, sein Entschluss. Es war nicht an Kōhei, die Herangehensweise von Saburōs Verrat in Kritik zu bringen oder die Belastungsgrenze seines Idealismus zu ergründen. Er war im Stande seine eigenen Entscheidungen zu treffen und er wollte seine Familie nicht opfern. „Ja. Kann ich.“ „Danke. Abermals.“ „Ich bin ohnehin schon todgeweiht, wenn dein Vater die Zusammenhänge erkennt.“ „Da bin ich nicht sicher. Er hält viel von guten Waffen und du bist mehr Wert als manches Schwert.“ Selbst wenn das der Wahrheit entsprochen hätte, so doch ein Schwert mit dem ein oder anderen Makel. Einer Fissur oder einem hässlichen Kratzer, der dem Fürsten jedes Mal aufs neue ins Auge springen würde, wenn er ihn ansah und an den Betrug dachte, den Kōhei ihm angetragen hatte. Zu nützlich zum Wegwerfen, aber zu beschädigt zur vorgesehenen Nutzung. Umschmieden lag da nahe und allein bei dem Gedanken stieg eine Angst in Kōhei auf, die er lange vergessen glaubte: Dass der Fürst auf die Idee kommen könnte, sich seiner Loyalität aufs neue zu versichern; ihn daran zu erinnern wer sein Herr war und weshalb er sich niemals wieder widerspenstig oder ungehorsam hatte zeigen wollen. Und mit der Erinnerung kam das Flüstern. Die leise Einsicht, dass er lieber in den Tod gehen würde als das zu erdulden. Kōhei hatte die Wache übernommen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken und nun, wo sich manche Erinnerung in seinen Geist geschlichen hatte, fürchtete er, was der Traum für ihn bereithalten würde, wenn die wachen Stunden schon schwer erträglich waren. Zumindest Saburō war so einsichtig gewesen, sich hinzulegen ohne die Unterhaltung noch weiter auszureizen. Vom Schlaf war er jedoch trotz aller Zugeständnisse ebenso weit entfernt wie Kōhei. Sein Atem ging ruhig, aber nicht tief genug für einen Schlafenden und in der Stille der Nacht war auch sein Herzschlag zu schnell. Er beschleunigte sich, noch bevor Kōhei der Anwesenheit gewahr wurde, die den Nachthimmel durchsetzte. Es war kein Vergleich zu dem närrischen Falkenüberfall, den Shippō vollführt hatte und würde gewiss nicht mit drolligen Pilzen einhergehen. Die Luft schwirrte von Hitze und Aura wie die pralle Mittagssonne und trieb doch alle Wärme aus Kōheis Blut. Saburōs Miene war eine Maske. „Shisuna.“ Dieses Mal war es Kōhei der fluchte. Hastig zog er den Ärmel zurück, nahm zwei Fuchskorallenarmbänder vom Handgelenk und wollte sie Saburō geben. Der jedoch fing seine Hand ab. „Das Kugutsu. Ich kann nicht.“ „Er wird dich sehen.“ „Damit habe ich immer noch mehr Zeit als mit gehemmtem Yōki. Die Täuschung muss halten.“ Shippō, geweckt von der Aura, stolperte zu ihnen hinüber, doch Kōhei packte ihn und presste ihn hinter sich auf die Knie. „Kopf ins Gras. Kein Wort.“ Rasch streifte er den grauen Schmuck wieder über, da brach auch schon eine Gestalt durch die Wolken. Als die Himmelsschlange auf dem Boden aufsetzte, zitterte die Erde unter seinem Gewicht. Shisuna war gewaltig. Jede Kralle seiner Beine war so groß wie Kōheis Arm und die weizenhelle Mähne, die über den Rücken seines langen Körpers lief, ragte bis an die Kronen ausgewachsener Bäume heran. Der Wald war verstummt. Die Leuchtkäfer im Angesicht drohenden Unheils erloschen. Kōhei verneigte sich wie es am Hof der Drachen üblich war mit umschlossener Faust. Dieses Relikt aus ihrer chinesischen Heimat war keineswegs ein Muss, aber man war besser bedient, sich daran zu halten - insbesondere, wenn man sandfarbenen Schuppen gegenüber stand. Als Shisuna seine wahre Gestalt aufgab, schwirrte die Luft von der Hitze seiner Aura und ließ Kōhei den Atem stocken. Abermals verneigte er sich. Dieses Mal tiefer. Der Anblick eines ausgewachsenen Drachen war furchteinflößend, in menschlicher Erscheinung jedoch eine Seltenheit. Mehr noch als Kitsune schwankten Drachen zwischen Yōkai und Kami. Die Form der Himmelsschlange wurde allen in die Wiege gelegt. Der Kunstgriff war die menschliche Haut, nicht die Bestie - und in der Regel verzichteten sie darauf, außerhalb ihrer Residenzen ohne Schuppen aufzutreten. Dass Shisuna von diesem Grundsatz abwich, mochte gutes Zeichen oder Abgesang sein. Das war bei ihm schwer zu sagen. Angeblich hatte er schon als Kind eine für einen Drachen untypisch charmante Ausstrahlung besessen. Immer lächelnd, immer zuvorkommend - und von Geburt an tödlich. Wenn Ryukotsusei die Axt gewesen war - derb und in seinen Drohungen stets offen -, war Shisuna der mit Messern gespickte Kriegsfächer. Auch jetzt lächelte er. „Kōhei. Ihr kommt spät zum Fest.“ Eindeutig dünnes Eis. Wie gern hätte er Saburō nun den Vortritt gelassen. Auch wenn der Gedanke in Schadenfreude gründete, rechnete er dem Silberfuchs insgeheim hohe Chancen zu, den Drachen bei einem solchen Tanz ins Stolpern zu bringen. Doch so amüsant das auch gewesen wäre: Es waren Luftschlösser. Sie konnten froh sein, wenn Shisuna nicht begriff, wer der Mann war, der ihn Kōheis Schatten kniete. „Fürst Shisuna. Was verschafft mir die Ehre?“ Sein Gegenüber schwieg zunächst und begutachtete die beiden anderen. Er selbst war beängstigend schön anzusehen. Die Jahrtausende hatten ihn mit Narben gezeichnet, doch die schlugen sich in seinen edlen Zügen eher wie Zierrat nieder. Wie Kōhei erschien er als Mann mittleren Alters, obwohl der Drache viele Jahrhunderte mehr zählte als er. Das schwarze Haar hatte er zu einem Zopf gebunden und mit einer Haarnadel zu einem Knoten gesteckt. Das Schmuckstück war aus Perlmutt, entsprach jedoch dem Farbton seiner Hörner, die sich auch nun elegant über seinen Kopf schwangen. Auch die aufwendig gearbeitete Kleidung hatte er seiner wahren Gestalt angepasst - silbrige Stickereien und Perlmuttperlen auf sandfarbener Seide. „Ich bin in aufrichtiger Sorge“, sagte er schließlich. „Fürst Hayato hatte mir die Übersendung aller verfügbaren Truppen zugesichert und doch sehe ich nur Euch und nicht einmal eine Hand voll Soldaten. Seid Ihr bei der Westquerung aufgerieben worden?“ „Ihr schmeichelt mir, Fürst. Anzunehmen, ich könne aus einem Konflikt unbeschadet hervorgehen, der meine Armee getilgt hat, ehrt mich. Aber nein, nichts dergleichen. Das Heer ist in Marsch, wie Ihr verlangt habt. Die Westquerung erforderte eine Vorhut, die ich anführe.“ „Dann bin ich beruhigt. Wie viele unterstehen Euch?“ „Sieben Dutzend.“ Shisunas blaue Augen weiteten sich vor Verwunderung. „Das ist kaum mehr als die Palastgarde.“ „Mit Verlaub, Fürst: Ich bin Kommandant der Garde und überstelle diese wie befohlen. Die Truppen der übrigen Ratsmitglieder entziehen sich meiner Zuständigkeit.“ Verwunderung paarte sich mit dem Anflug von Schärfe und einem Zucken seines Mundwinkels, das ebenso schnell vergangen war. Shisuna glaubte kein Wort und was noch viel wichtiger war: Die vermutete Unstimmigkeit behagte ihm nicht. Interessant, wenn man bedachte, dass sie bislang sehr gut ohne die Truppen des Südens ausgekommen waren. Auch wenn er wusste, was zu sagen war, um diese Zweifel zu zerstreuen, wartete Kōhei. Weil es am Ranghöheren war, die Unterhaltung fortzusetzen und weil er Shisuna nicht damit reizen wollte, dass er glaubte, ihn lesen zu können. „Verzeiht, Kōhei. Manchmal vergesse ich, dass zwischen meinem Kenntnisstand zu Lebzeiten und dem heutigen Tage Dekaden liegen. Diese sich anbiedernden Katzen sind als Informanten nicht halb so nützlich wie sie sein müssten, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Ich wollte Euch nicht kränken. Hayato muss den Verstand verloren haben, jemanden wie Euch zum Kommandanten der Palastgarde zu degradieren. Ihr seid ihm als General so dienlich gewesen.“ „Ich danke Euch für die hohe Meinung, die Ihr mir gegenüber hegt, Fürst Shisuna. Zu meinem Glück hat mein Herr mich trotz all meiner Verfehlungen in der Position des Generals belassen. Jedoch fürchte ich, ist die Ordnung der südlichen Armee eine andere, als es Euch von Haus aus geläufig sein dürfte. Der Kommandant der Palastgarde ist zeitgleich der General der gesamten Truppen. Jedoch unterstehen die Truppen der Ratsmitglieder mir erst nach ausdrücklichem Befehl und nur für die Dauer der jeweiligen Schlacht. Andernfalls folgen sie ihren einzelnen Kommandanten, die von den Ratsmitgliedern eingesetzt werden. Fürst Hayato zieht diese Ordnung vor, um den Ratsmitgliedern Souveränität zu gewähren.“ So zumindest hatte Hayato es seinem Beraterstab verkauft und die meisten seiner hörigen Narren hatten ihm wie üblich aus der Hand gefressen. Was blieb ihnen auch übrig? In Wahrheit diente diese Regelung nur dazu, die Unsicherheit zu schüren, die mit dem Wissen oder auch nur der Vermutung einher ging, dass eine andere Region signifikant mehr Truppen unterhielt oder aushob - und jederzeit gegen ihre Nachbarn marschieren konnte. Nebenbei säte es Missgunst und Rivalität und hinderte etwaige Freigeister daran, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken - wie etwa den Hof selbst. Die Ratsmitglieder waren sich außerdem nicht darüber im Klaren, dass Kōhei unabhängig von einem direkten Dekret des Fürsten befugt und in der Lage war, die gesamten Truppen unter seinen Befehl zu stellen und nach seinem Belieben einzusetzen. Die Männer kannten ihn und insbesondere die Kommandanten der Heere hatte er zu Großteilen selbst ausgebildet. Hayato hatte stets darauf geachtet, dass nur solche Männer an hohe Postionen gelangten, die lange in der Palastwache gedient hatten und im Zweifelsfall dem südlichen Hof mehr zugetan waren als ihrem Provinzverwaltern - und sich bei der Auswahl ausschließlich auf Kōheis Rat verlassen. Saburō wusste das. Shisuna zum Glück nicht. „Gewiss hat mein Fürst es als sinnvoll erachtet, die Truppen getrennt marschieren zu lassen. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, so bin ich ihm dafür ausgesprochen dankbar. Sieben Dutzend ungesehen durch den Westen zu schleusen, war auch für mich ein schwieriges Unterfangen. Zumal mein Herr darauf bestand, dass ich auch die jungen Rekruten einbeziehe. Wenn wir uns erst an der verabredeten Front sammeln, umgehen wir hoffentlich, von den Inu bemerkt zu werden.“ „Und gewiss schätzt Ihr das Vorgehen Eures Fürsten am besten ein. Es wird sein, wie Ihr sagt. Immerhin waren meine Bedigungen an Hayato deutlich: Er schickt das gesamte Heer oder ich überziehe den Süden mit Fuchsgedärmen und verschenke seinen Pelz an meine Gemahlin.“ Offensichtlich hatte der Kriegsfächer mit seiner Erhebung in den Fürstenstand einige Eigenschaften der Axt übernommen. Allen Informationen nach war Ryukotsusei nicht ins Leben zurückgekehrt und so blieben von den drei Geschwistern nur Shisuna und Kezaka - was schlimm genug war. Gerüchten zufolge war Shisuna als einer der ersten aus dem Gelege geschlüpft und hatte sämtliche Geschwister getötet, bis auch Ryukotsusei die Schale durchbrochen und ihn daran gehindert hatte, den letzten Bruder gänzlich in Stücke zu reißen. Kezaka hatte seitdem im Schatten der anderen gelebt; verstümmelt, von Narben übersät und nicht ganz richtig im Kopf. Ob es nun Ryokotsuseis Gnade gewesen war, die an jenem Tag den einen Bruder vor dem anderen gerettet hatte, blieb zu bezweifeln. Der Gedanke mutete zu herzlich an. Vermutlich diente Kezaka nur der allgemeinen Erheiterung - oder als wehrloses Ziel für Shisunas Launen. „Ich würde mir niemals anmaßen, Euch zu belügen“, widersprach Kōhei, wohl wissend, dass er seine Truppenstärke mit ‘sieben Dutzend’ deutlich geringer dargestellt hatte als sie eigentlich war. „Das würde ich Euch nie unterstellen, Kōhei. Also lassen wir das unliebsame Thema und wenden uns den Feinden zu: Der Überraschungsmoment ist eine willkommene Aussicht. Ich will dennoch, dass ihr einen Teil Eurer Truppen offenbart. Allein schon, weil man Euch ohnehin bemerkt haben könnte. Lasst sie zum vereinbarten Schlachtfeld marschieren und sorgt dafür, dass Ihr von den Inu als ausreichende Bedrohung wahrgenommen werdet ohne Eure gesamte Schlagkraft zu offenbaren. Ich nehme an, das sollte kein Problem für Euch sein.“ „Gewiss nicht, Fürst. Aber -.“ „Seid versichert, dass Ihr keine Bedenken äußern könnt, die bislang nicht bedacht worden sind. Ihr wisst genauso wie ich, wie ermüdend diese losen Schlachtenverbunde der Inu sein können und ich habe dieses Schauspiel nun seit vier Jahren erduldet. Diese Brut erledigt man bestenfalls mit einem Streich und wenn sie sich so bereitwillig von allein sammeln, sollten wir ihnen den schnellen Tod schenken, den sie anstreben.“ Als Kōhei zögerte, lächelte Shisuna wieder mild. „Sorgt Euch nicht. Ja, ich nutze Euch auch als Ansporn, mehr Truppen zusammenzuziehen, aber Ihr seid keineswegs in übermäßiger Gefahr. Meine Männer werden dort sein. Sie werden fallen, aber auch das muss Euch nicht beunruhigen. So unausstehlich diese Fellbälle sind, haben die Katzen doch ein Gutes. Man muss sich nur an das Sterben gewöhnt haben. Beschäftigt die Inu, während wir regenerieren und wir erledigen den Rest.“ Kōhei beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, da alles, was er an Bedenken hätte vortragen können, nicht nur bedacht, sondern sehr wahrscheinlich auch eingepreist worden war - sämtliche tote Kitsune inklusive. „Eure Männer? Werdet Ihr sie nicht führen?“ Er lachte. „Nein, das überlasse ich Kezaka. Ich habe stets angenommen, mein geliebter Bruder sei nichts als Platzverschwendung. Sieht aus, als hätte ich ihm Unrecht getan. Wie sich herausgestellt hat, kann er besonders gut sterben. Also kann er mit der westlichen Meute spielen gehen, während ich mich dem Leithund widme.“ „Der Inu no Taishō ist nicht an der Front?“ „Er ist anderweitig beschäftigt. Die Prioritäten dieser Familie sind faszinierend simpel. Hätte mir Kezaka damals den Jungen geliefert, statt ihn über den Ebenen aus den Klauen zu verlieren wie einen nassen Fisch, hätten wir uns Jahre des Ärgers gespart. Bedauerlich. Den lang erwarteten Erben vor seinem Vater auszuweiden, nachdem wir seinen Palast niedergebrannt hatten, wäre zu schön gewesen. Das wird nicht ganz dasselbe, aber zweckdienlich ist besser als nichts. In jedem Fall soll der Taishō nicht Eure Sorge sein. Was bleibt sind seine Truppen.“ „Und der Generalleutnant.“ Gier blitzte in Shisunas Augen auf und sein Lächeln wurde warm. Fast vertraut. „Mein allerliebster Ryouichi. Es ist bedauerlich, dass ich nicht an seinem Untergang teilhaben kann. Aber man soll nicht gierig werden. Sesshōmaru ist Lohn genug. Außerdem ist Kezaka in der Lage, diesen speziellen Hund auch ohne mich handzuhaben. Doch wo wir gerade bei unserem geschätzten Taishō waren: Ich muss mich entschuldigen, sonst komme ich noch zu spät zu meiner Verabredung.“ Wieder verneigte sich Kōhei, wieder war das Lächeln des Fürsten eine Spur zu freundlich, ein wenig zu süß. Nach einer erneuten Hitzewelle der Verwandlung, die die trockene Fichte versengte, erhob sich der Drache in die Luft. Saburō trat neben Kōhei und sah dem sandbraun beschuppten Schwanz nach, wie er zwischen den Wolken verschwand. „Ich kann mir bildlich vorstellen, wie sie ‘den Rest erledigen’.“ Kōhei verzog keine Miene. „Er wird uns abschlachten, sobald er uns nicht mehr braucht.“ „Das wird er.“ Die Absicht war überdeutlich, aber warum es ihnen so unverfroren ins Gesicht spucken - am Vorabend der Schlacht? Während sie in den Nachthimmel starrten, war Shippō an sie herangetreten. Die Angst, die ihn im Angesicht des Drachen überkommen haben musste, schwand mit jedem Sekundenbruchteil im selben Maß, wie die Wut zunahm. In seinen Augen nicht nur Unglauben, sondern die tiefste Enttäuschung, die Kōhei seit langem gesehen hatte. Das traf ihn unerwartet hart. „Haben wir ernsthaft ein Abkommen mit den Drachen? Und was hat er da eben gemeint? Was ist ‘zweckdienlich’? Was, wenn er Rin hat?“ Was, wenn er Minoru hatte? Kōhei biss die Zähne zusammen. Das Messer war zurück und bohrte sich erneut in seine Brust, doch da war auch ein Flüstern. Ein rationaler Gedanke, der all den Horror zur Seite schob. Shisuna hatte sich über die versäumte Gelegenheit viel zu enttäuscht gezeigt. Hätte er nun, mit vier Jahren Verzögerung, den westlichen Erben gegen den Vater einsetzen können, wäre Vorfreude naheliegender gewesen. „Wer bitte ist Rin?“ „Seine Geliebte“, antwortete Saburō. „Zumindest nehme ich das an. Es ist schwer, da an verlässliche Informationen zu kommen. Seit Kriegsbeginn mehr denn je.“ Er sah zu Shippō. „Du kennst sie?“ „Sie ist eine Freundin.“ Natürlich. Wer eigentlich nicht? Wenn er genau darüber nachdachte, erinnerte sich Kōhei an eine junge Menschenfrau, die er in Minorus Begleitung vorgefunden hatte. Viel zu selbstsicher und unverfroren im Angesicht eines Yōkais, um sich der schützenden Hand ihres Herrn nicht allzu bewusst zu sein. Wenn sie in dieser Annahme nicht einfach nur anmaßend gewesen war, sondern tatsächlich vertreten hatte, was die Aufmerksamkeit ihres Fürsten zusicherte, war denkbar, dass Shisuna sie zum Ziel genommen hatte. Sesshōmarus närrische Reaktion hätte es dennoch nicht gerechtfertigt. „Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich mich in der derzeitigen Situation auch nur im entferntesten um einen Menschen schere. Wir haben andere Probleme, Shippō. Nur falls dir der Drache eben entgangen sein sollte.“ „Aber Sesshōmaru-.“ „Interessiert mich einen Dreck! Unsere ganze Armee marschiert ins Verderben - von allem anderen ganz zu schweigen! Wenn der Inu no Taishō meint, sich für einen Menschen oder sonst wen sehenden Auges in die Bresche werfen zu müssen, dann ist das sein Problem; seines, das seiner Männer, aber ganz sicher nicht meins!“ Shippō stieg jedoch nur die Zornesröte ins Gesicht: „Was hattet Ihr denn erwartet, als Ihr mit den Drachen paktiert habt? Kniefall und Dankbarkeit? Das ist doch dämlich!“ Ehe er fortfahren oder Kōhei etwas erwidern konnte, verstummte der Junge und sah sich verstohlen zu Saburō um. Dessen Aura flackerte über sie, als habe die Mittagssonne einen nächtlichen Ausflug gemacht. Ebenso schnell war sie wieder verflogen, doch Shippō machte sicherheitshalber einen Schritt zurück und als Kōhei das schwindende Rot in Saburōs Augen bemerkte, wusste er auch warum. Der Silberfuchs hatte sich allerdings mit einer Leichtigkeit unter Kontrolle, die nahelegte, dass Shippō gerade keinen nervösen Ausbruch des Erben erlebt, sondern eine sehr konkrete Drohung erhalten hatte. „Du wirst dich jetzt ein für alle Mal zusammenreißen, Shippō. Zu deinem Glück wird die Zuneigung des Generals für dich nur von seiner unangebrachten Nachsicht übertroffen. Also lass es mich für das naive Kind ausdrücken, das du offenbar bist: Wir sind im Krieg. Deine Freunde sind nur für sich selbst verantwortlich und können in ihrer Ignoranz Entscheidungen treffen, wie es ihnen beliebt. Wir, allen voran der General, jonglieren hier mit mehr Verantwortung und mit mehr Leben. Ohne die letzte Entscheidungsgewalt zu haben. Der Befehl liegt beim Fürsten, nicht bei uns. Dass seine Befehle uns ins Verderben führen, ist allerdings kein Geheimnis.“ Shippōs Augen waren riesig geworden und auch Kōhei starrte den Erben an. „So kannst du nicht vor dem Jungen sprechen!“ „Unwissenheit ist für einen jungen Soldaten in unserer Gesellschaft vermutlich mehr Schaden denn Sicherheit. Für uns und für ihn auch. Wir können nicht die Reaktion und die Überlegungen eines Mannes erwarten, wenn wir ihn wie ein Kleinkind behandeln. Absoluter Gehorsam würde das aufwiegen, aber wir wissen doch beide, dass er diesen nicht erbringen will und du dich weigerst, ihn einzufordern. Also sag ihm die Wahrheit und erspare uns weitere Probleme mit ihm. Ich habe wahrlich zu viel zu verlieren, als dass ich mich nebenbei mit Halbdämonen und den empörten Einwänden eines Halbwüchsigen herumzuschlagen könnte.“ Saburō setzte den Lehmvogel auf seine Handfläche. Er war so groß wie ein Spatz, mit winzigem Schnabel, Steinaugen und angedeuteten Federn in der samtbraunen Oberfläche. Auf seiner Brust prangte ein einziges Schriftzeichen, eingeritzt in den Lehm: Gefahr. „Bist du sicher?“, fragte Kōhei, sich vollends im Klaren darüber, welche Entscheidung er mehr hinterfragte. Saburō nickte und legte die andere Hand über den Vogel. „Die Han’yō wären nicht ins Gewicht gefallen. Shisuna allerdings… er erkennt einen Daiyōkai, wenn er ihn sieht. Selbst wenn er die Situation nicht begreift und mich nicht an meinen Vater verraten kann, wird er Vorkehrungen treffen lassen, mich auszuschalten. In dem Fall kann ich es mir nicht erlauben, an zwei Fronten zu kämpfen.“ Seufzend ließ er die Schultern sinken. „Diese Unwahrscheinlichkeit war wahrlich nicht nur schlechter als das meiste.“ Er hauchte in die Kuppel, die er schützend über dem Lehm geformt hatte. Mit langem, warmen Atem, als wolle er Kälte aus den Gliedern treiben. Ein Zwitschern und nervöses Geflatter waren zu hören. Als er die Hände öffnete, klammerte sich ein Rotkehlchen an seine Finger, sträubte die Federn und blickte sich trällernd um. Sobald es den Nachthimmel fand und einen Blick auf die Sterne geworfen hatte, flog es davon. ☾ Ein fachmännischer Blick hätte den Unterschied im Stahl vermutlich erkannt. Die neuen Verläufe der Hamon-Linie, den dunkleren Glanz des Mantelstahls. Für Minoru jedoch sah Tenseiga aus wie damals, als er es zum ersten Mal in den Händen seines Vaters gesehen hatte: Eine einfache Klinge, den Griff mit schwarzem Band umwickelt, das im Rautenmuster den Blick auf die darunterliegende Rochenhaut freigab. Aber vor allen anderen Dingen war es intakt. Keine herausgebrochenen Kanten oder Scharten, die den Stahl zerklüfteten. Eine einfache, glatte Klinge; noch warm von der Nähe des Schmiedefeuers. Tōtōsai wischte sich die Hände an einem dreckigen Tuch ab, das vermutlich keinen weiteren Schmutz aufnahm. „Es gehört dir.“ Minoru sah von der Waffe auf. „Es gehört meinem-“ „Tenseiga gehört dir. Respektiere es. Geh sorgsam damit um. Dein Vater hatte seine Chance und zieht es vor, Altmetall daraus zu machen. Ein weiteres Mal kann und werde ich es nicht retten. Auch Tenseiga kann nicht unendlich oft von den Toten auferstehen.“ Weiterer Protest wäre unsinnig gewesen. Auch wenn Minoru beim besten Willen nicht kühn genug war, seinem Vater auch nur die unbeliebteste Waffe streitig zu machen, ließ er Tenseiga in die Scheide gleiten und verneigte sich vor dem Schmied. „Ich danke Euch. Im Namen meines Vaters und des Westens. Nur Euretwegen gibt es eine Chance, die Drachen zu töten.“ Tōtōsai betrachtete ihn nachdenklich, warf sich den Lappen über die Schulter und schnaubte. „Der Floh hatte recht: Manchmal bist du der demütigste Inu, der mir je untergekommen ist. Du hast doch schon, was du wolltest. Warum dann noch so höflich?“ „Ehre, wem Ehre gebührt“, erwiderte Minoru und versuchte keinen Anstoß an der Feststellung seiner Demut zu nehmen, auch wenn es sicherlich so gemeint gewesen war. Er nahm A-Un die Satteltaschen ab und gab sie Tōtōsai. „Wie versprochen.“ Der schulterte auch diese und nickte knapp. „Willst du nicht reinsehen?“, fragte Kaito, der sich auf A-Uns Rücken schwang. „Weil er mich betrügen könnte? Unwahrscheinlich.“ „Wie du meinst.“ Er rückte zurück, als sich Minoru vor ihm in den Sattel zog. „Passt auf euch auf“, knurrte der Alte. Minoru betrachtete den Schmied und achtete darauf, dass sein Unglauben nicht durchschimmerte. War Tōtōsai unter all dem grätigen Geschnarre doch sentimental veranlagt? Kaito hingegen gab ein leises Knurren von sich, das annehmen ließ, dass er mehr herausgehört hatte als gesagt worden war. „Los jetzt. Wir verschwenden Zeit.“ A-Un wartete nicht einmal auf Minorus Zustimmung und erhob sich in die Morgenluft. Sie hatten den Vulkan hinter sich gelassen, noch bevor die Sonne gänzlich über die Berggipfel gekrochen war. Nun aber ergoss sie sich in all ihrer morgendlichen Wärme über die Ruinen menschlicher Siedlungen, die einst voller Leben gewesen waren. Während die Ebenen noch von Leben erfüllt waren, hatte der Krieg vor allem die entlegenen Bergregionen und den Osten getroffen. Doch das hier war Westen. Ein Randgebiet zwar, aber dennoch… Das Land wirkte wie ausgestorben und Minoru wollte nicht darauf wetten, dass man diese Toten wirklich jenen zurechnete, die sie auch verursacht hatten. Wenn überhaupt jemand entkommen war, um über Drachen und Panther zu berichten, war längst nicht gesagt, dass man ihnen glaubte und die Kriege der Menschen waren so vielzählig, dass es niemanden gewundert hätte, wenn sie auch hierfür verantwortlich gewesen wären. So oder so: Die Siedlungen waren niedergebrannt, die Felder brachliegend und keine Menschenseele wagte einen Blick aus den Ruinen, solange am Himmel etwas vorbeizog - vorausgesetzt, es lebte überhaupt noch etwas da unten. Minoru hatte die Karten gesehen, die sich verschiebenden Fronten und ahnte, was das bedeuten mochte:„Wenn es so weitergeht, wird bald nichts mehr übrig sein.“ Kaito seufzte. „Das tut es nicht. Die erklären dir wirklich gar nichts. Die meisten Dörfer im Nordosten sind schon vor deinem Verschwinden aufgerieben worden. Die Überlebenden haben sich zu tausenden in die Ebenen geflüchtet. Danach ist es ruhiger geworden.“ „Dann wollten die Drachen ihre Ländereien nur frei von Menschen wissen?“ Kaito schüttelte den Kopf. „Sicher auch, aber ich nehme an, ihr Bedarf an Leben war schlicht gestillt. Es ist Tausch. Kein besonders fairer, aber für diese Art von Wiederauferstehung werden Opfer verlangt. Die Panther schleusen Lebensenergie von Gefangenen in die Drachen. So etwas haben sie schon vor Jahren getan, als sie versucht haben, ihren Anführer zu erwecken - ging schief. Jedenfalls: Als die Echsen aufgehört haben, nach wandelnden Leichen zu stinken, ließen auch die Überfälle nach. Wir hatten kurz gehofft, dass sie wieder sterblich wären - kannst du vergessen. Töte sie und sie stehen nach einiger Zeit wieder auf. Es dauert eine Weile, aber sie setzen sich einfach wieder zusammen, die elenden Mistviecher.“ „Und wir gehen nicht einfach gegen die Panther vor, weil?“ „Man sie kaum noch zu Gesicht bekommt. Zumindest die Wichtigen nicht.“ „Wie lange?“ „Bis sie wieder aufstehen? Unterschiedlich. Manchmal Minuten, manchmal eine knappe Stunde oder länger. Ich vermute, es hängt von der Beschädigung ihrer Körper und ihrer Aura ab.“ „Du vermutest?“ „Nenn’ es Feldforschung.“ Minoru drehte sich zu ihm um. „Wie viele Drachen hast du bitte getötet?“ „Den ein oder anderen. Aber nahe der westlichen Truppen fallen genug ab.“ „Verstehe ich das richtig? Du hast dich zurückgelehnt, um zu sehen, wie lange so etwas dauert?“ Der Han’yō zuckte mit den Achseln. „Hey, wenn sie ohnehin auferstehen, kann man sich auch die Zeit nehmen, oder nicht?“ Die Vorstellung wie Kaito in irgendeiner Baumkrone saß, an einem Apfel kaute und die Regenerationsdauer eines untoten Drachen anhand des Sonnenstandes festmachte, während einzelne Leichenteile über den Boden schlurrten, war verstörend. „Das ist morbide.“ „Nein. Es nicht zu tun, ist fahrlässig. Und das weißt du. Warum sonst hättest du nach der Dauer gefragt? Hattest du mir nicht erzählen wollen, worin der Unterschied zwischen gedankenlosen Kampf und ‘am Leben bleiben’ liegt?“ Minoru seufzte und wandte den Blick wieder nach vorn. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Kaito jedes Wort gegen ihn verwendete, aber der Fall war schneller eingetreten als erhofft. Andererseits hatte er durchaus recht: Die Dauer ihrer Regeneration zu bestimmen war grundlegend. Warum also widerte ihn die Vorstellung derart an? „Du hast Angst vor ihnen.“ Das kam wie ein Schlag von hinten. Minoru umklammerte die Lederzügel bis Un unzufrieden mit dem Kopf schlug. „Willst du dich jetzt wirklich streiten?“ „Nein. Fakten sind keinen Streit wert. Ich habe dich vor dem Dorf gesehen, wie du unter der Barriere beinahe in den Tod gerannt bist, weil dieses Biest angegriffen hat. Mach mir also nichts vor.“ Als Minoru nichts erwiderte und stattdessen die Schultern sinken ließ, lehnte sich Kaito zu ihm vor. „Du erinnerst dich wirklich nicht, hm?“ „Das sagte ich doch. Es sind nur Bruchstücke.“ „Vielleicht besser so. Der Tag war so schon beschissen genug. Aber ehrlich gesagt, hat mich das gewundert. Bei unserer ersten Begegnung mit den Drachen warst du nicht so panisch.“ „Wie du schon sagst: Der Tag war beschissen genug.“ Widerwillig erinnerte sich Minoru an einen brennenden Palast in hunderten Meter Tiefe und einen Sturz, als der Drache ihn aus purem Amüsement hatte fallen lassen. Mehrfach. Er vertrieb die Erinnerung mit einem Schaudern. „Dachte ich mir schon. Das passte nicht zu dir. In jeder anderen Auseinandersetzung warst du kalkuliert und vorausschauend.“ Hatte er gerade wirklich etwas Positives hervorgehoben? Entweder das ganze Gerede hatte seinen Blickwinkel verschoben oder der Schwefel stieg ihm allmählich zu Kopf. „Willst du nach deiner kleinen Schwertübung immer noch im Kampf neben mir stehen, oder soll ich dich woanders absetzen?“ „Ach, du machst dich schlechter als du bist. Du bist nicht dein Vater, aber gewiss besser als manch anderer. Ich schätze, das reicht. Und im Ernstfall wirst du ohnehin kein Schwert brauchen. Du bist ein Daiyōkai. Deine Kiefer sind verdammt nochmal größer als die meisten ihrer Soldaten.“ „Nun… darauf würde ich keine Strategie gründen.“ Minoru versuchte das Unwohlsein herunterzukämpfen. „Ich sollte diesbezüglich wohl noch etwas klarstellen…“ „Spuck schon aus. Bist du kein Daiyōkai?“ „Technisch gesehen schon.“ Ungeduldig tappte Kaito mit den Klauen am Sattelleder. „ Ich behaupte, dass du in meinem Beisein mehr über dich offengelegt hast, als gegenüber irgendwem sonst. Also kannst du auch einfach dabei bleiben, mir die Wahrheit zu sagen.“ „Ich kann es nicht steuern.“ „Ach komm schon! Ich habe dich doch gesehen. Und du verwandelst dich ständig!“ „In einen gewöhnlichen Hund. Das ist etwas ganz anderes.“ „Was soll daran bitte anders sein? Das ist doch dasselbe in größer!“ Minoru wandte sich zu ihm um und erwiderte seinen Blick wortlos, bis Kaito schließlich seine Schläfe massierte und ein Bein auf A-Uns Rücken zog. „Schön. Dann erklär’s mir!“ „Das ist schlecht in Worte zu fassen… . Ein Hund ist leicht. Als würde man eine Stufe hinunter springen. Das andere ist… - ich habe es zweimal getan und nie bewusst. Einmal hat mein Vater mich gezwungen und das andere Mal war es nach dem Palastangriff. Ich weiß nicht einmal, wie ich es anfangen soll. Da ist keine Stufe. Kein Boden. Nur ein gähnender Abgrund, dessen Ende man nicht sieht. Es geht nicht. Ich kann das einfach nicht. Ich kann nicht… na ja…“ „Fallen?“ Minoru erstarrte. Seine Augen flogen über Kaito, der so gelassen auf A-Uns Rücken saß, als hätte er ein Bergmassiv unter den Füßen und nicht mehrere dutzend Meter leere Luft. War es so einfach? Der Han’yō verschränkte die Arme vor der Brust. „Hör zu. Wir sind da grundverschieden und ich bin vermutlich der Letzte, der dir in dieser Hinsicht Ratschläge geben sollte Aber ich weiß in Ansätzen, wovon du sprichst. Das Ding hier“ - er hakte eine Klaue unter seine Kette - „bewahrt mich davor in diesen Abgrund zu fallen. Nebenbei verhindert es auch, dass ich hineinspringen kann, aber das steht auf einem anderen Blatt. So oder so: Ein Schritt tiefer in meine Natur und mein Yōki würde meinen Geist zerfetzen, bevor ich auch nur halb unten bin. Andere Halbdämonen kommen ohne so eine Sicherheitsmaßnahme aus, aber unser Großvater war zu mächtig. Mächtig genug, um mir zwei Generationen später noch Probleme zu bereiten und Möglichkeiten zu bieten, wo anderes Blut längst versiegt wäre. Was am Grund ist? Ich sag dir, was da ist: Eine haushohe Bestie mit Zähnen lang wie mein Arm und rasiermesserscharfen Klauen. Das bist du. Nichts weiter. Und mit etwas Glück bist du in der Form stumm und ich muss mir dein Gejammer über dein ach so schweres Los nicht weiter anhören. Sind wir ehrlich: Was dich im Zaum hält, ist lediglich die Erziehung deiner Mutter und die Tatsache, dass du als jüngstes Mitglied eines elitären Kreises aus Ungeheuern der unterste in der Hackordnung bist, während dein Vater verdammt weit oben rangiert. Ich wäre schon vor dem Frühstück dreimal in den Abgrund gesprungen, nur um zu sehen, was passiert.“ Minoru hatte ihm reglos zugehört, das leere Gefühl in der Magengegend ein immer schwerer werdender Stein. Schließlich jedoch lächelte schief. „Sicherlich wärst du das.“ Der Vormittag verstrich langsam. Nach dem offenen Austausch über Unzulänglichkeiten und Gemütsunterschiede, war kaum ein Wort gesprochen worden. Das hatte schließlich dazu geführt, dass Kaito zu Minorus Entsetzen eingeschlafen war. Nicht, weil er ihm die Ruhe nach den vergangenen Tagen nicht gegönnt hätte - er selbst hatte vor der Jagd auf den Hasen selbst ein paar Stunden geschlafen -, doch wie man sich so unbesorgt rücklings ausstrecken konnte, zwar irgendwie im Sattel aber dennoch in keinster Weise gesichert, die Arme unter dem Kopf verschränkt und seelenruhig schlafend, überstieg sein Verständnis. Er war froh, als Kaito schließlich wieder aufwachte und sich nach einigem Recken zurück in die Senkrechte zog. Dort gähnte er ausgiebig, trank aus seinem Beutel und sah sich um. „Takatsuma-Gebirge, sagtest du? Wo sind wir jetzt?“ „Präfektur Shinano. Die Stadt da hinten sollte Nagano sein.“ Kaito nahm einen weiteren, tiefen Schluck Saft aus der Flasche, der streng nach bitteren Beeren roch und sah sich ausgiebig um. „Eins muss man dir lassen: Dein Orientierungssinn ist beängstigend. Warst du hier viel unterwegs?“ „Nein. Den Westen kenne ich kaum. Aber ich mich in Karten eindenken, wenn es sein muss.“ „Willst du ins Schlachtgebiet reinfliegen?“ „Rate mal.“ Kaito lachte auf. „Nein, willst du natürlich nicht.“ Dann wurde er still. Er schien einen Moment zu brauchen, um sich damit abzufinden, dass Minorus Entscheidungsfindung für ihn so offen lag wie kaum eine andere. Schließlich wurde er wieder ernst. „Dass wir bislang keinen ungebetenen Besuch hatten, ist kein Zufall, nicht wahr?“ „Nein. Wir hätten früher hier sein können, aber A-Un ist einige Umwege geflogen, um nah an den Städten zu bleiben. Besser es sehen uns hunderte Menschen als nur ein Drache.“ „Wenn wir nicht reinfliegen, such eine Stelle, wo wir ungestört diesen Gestank abwaschen können. Der Schwefel steckt mir immer noch in der Nase.“ Das war in der Tat überfällig. Minoru nahm die Zügel auf und A-Un schwenkte nach Nordwesten. „Es gibt einen See in der Nähe. Die Stadt ist etwas entfernt, aber es liegen Dörfer am Ufer. Von dort sind es fünfzehn, vielleicht zwanzig Kilometer bis zum Takatsuma.“ „Unwegsames Gelände, nehme ich an?“ „Gebirgswald. Aber es ist Mittag und der Boden trocken. Selbst mit kleineren Zwischenfällen sollte das nicht länger als eine, vielleicht eineinhalb Stunden dauern. Je nachdem, wann wir auf echten Widerstand stoßen.“ Er spürte, wie Kaito hinter ihm erneut ein Bein auf A-Uns Rücken zog, spürte seinen Blick im Nacken, der unter anhaltendem Schweigen stechend wurde. Als Minoru sich schließlich umwandte, sah er sah Andeutung eines Lächelns, das alles bedeuten mochte. „Was?“ Kaitos Lächeln wurde breiter. „Ich beginne zu begreifen, warum dieser Wolf der Meinung war, dass es mit dir unterhaltsam werden könnte.“ Der Weg durch das Gebirge war nicht nur unwegsam, sondern gespickt mit Dämonen, die sich zu anderen Zeiten nicht einmal aus ihren Verstecken gewagt hätten - geschweige denn in einen Kampf mit den Inu. Auf der halben Strecke waren sie einer Gruppe niederer Schlangendämonen, zwei Oni und einem Jorōgumo begegnet. Wobei letzterer die Gestalt einer hübschen Frau angenommen und wenig erfreut reagiert hatte, als weder Kaito noch Minoru auf diesen Trick hereingefallen waren. Zu Minorus Überraschung hatte Kaitos Hochgefühl damit dennoch einen Dämpfer erfahren. „Ich hasse Spinnen“, fluchte er, einen weiteren Faden Spinnenseide aus seinem Gesicht ziehend. „Hier tummelt sich auch wirklich jedes Gesindel.“ „Wir sind eben beliebt.“ „Normalerweise würde ich die Schuld deinem Vater zuschieben. Er ist nicht gerade für Charme und enge Bündnisse bekannt. Aber dieses niederen Fußabtreter sind nichts als Opportunisten.“ Minoru schob sein Katana in die Scheide. „Es ist nicht gerade schmeichelhaft, wenn der Rest des Landes von unserer Niederlage ausgeht.“ Weit hergeholt war es jedoch auch nicht und das wussten sie beide. Tenseiga verschaffte ihnen eine Chance, nicht mehr. Und auch das nur in den richtigen Händen. So sehr Tōtōsai auch darauf gepocht haben mochte, dass das Schwert nun einen neuen Besitzer hatte, wollte Minoru es doch schnellstmöglich in den Händen seines Vaters sehen. Mitten auf dem Schlachtfeld zu versuchen, seine Aura in der einzig wirksamen Waffe zu bündeln, wenn er nicht einmal in der Lage war, diese Energien im Alltag zu bändigen, war schlicht unvernünftig. Vor allem, wenn so viel auf dem Spiel stand. Sie setzten ihren Weg rasch fort. Minoru hätte es vorgezogen, dem Gebirge auf vier Pfoten zu begegnen, aber auch dies war unvernünftiges Neuland. Während es für Takeru selbstverständlich gewesen wäre, wortlos die Absicht eines Hundes zu erkennen, konnte Kaito weder Mimik noch Körperhaltung deuten und sie kannten sich nicht ausreichend, um zu erahnen, was der andere im Sinn hatte. Also hatte Minoru auf diese Komfortzone verzichtet. Sie liefen durch den Wald. Immer in Sichtweite des anderen. In der Ferne trafen Klingen auf Stahl und Fleisch und der metallische Geruch von Blut wurde allmählich stärker. Penibel achteten beide darauf, dass sie dem Geruch entgegenliefen, die Richtung änderten, sobald er mit drehendem Wind nachließ. Als sich die unverkennbare Witterung von Liebstöckel unter die anderen mischte, hielt Minoru abrupt inne. Kaito, der es kurz darauf bemerkt hatte, schloss zu ihm auf und setzte einen Blick auf, der mit Worten untermauert sicher erneut Minorus Wissen um Blumen und Suppenkräuter hinterfragt hätte. „Wildschweine“, flüsterte Minoru, der nun auch durch die deutlichere Aura bestätigt sah, dass es sich nicht um einfache Tiere handeln konnte. „Wildschweine riechen nach Liebstöckel?“ „Ja. Sehr hilfreich, um ihnen aus den Weg zu gehen.“ Kaito zog Shiokiri mit einer Leichtigkeit aus der Scheide, die die übermäßige Länge der Waffe vollends überspielte. Geübt und beinahe lautlos. „Heute nicht.“ Minoru nickte zustimmend, beließ das Katana jedoch im Obi. Sie näherten sich dem Geruch, der alle anderen bald gänzlich überdeckte. Es verwunderte nicht, dass diese Dämonen so weit im Abwind standen. Sie wussten um ihre Schwachstelle, ebenso wie Minoru wusste, dass sein Fell nur im Winter Tarnung bot. Im dichten Unterholz lagerten fünf Männer. Bewaffnet mit Naginata und Bögen, sah man ihnen den Keiler nur anhand kleiner Hauer an. Das war schlecht. Dämonen, die so menschlich erscheinen konnten, waren in dieser Zahl vermutlich ein Hindernis. Wie erwartet war Kaito anderer Meinung. Gerade hatte er mit einem Wink zu verstehen gegeben, dass er sich um die linke Flanke kümmern wolle, da war er auch schon hinter einem Wacholder verschwunden. Minoru gab den Pfoten Vorzug und pirschte durch das Unterholz. An den Boden gedrückt schob er sich näher an die Gruppe. Die verharrte reglos, die Pfeile im Anschlag, aber auf einen Punkt vor ihnen gerichtet, der so tief lag, dass es unweigerlich mehrere Meter in die Tiefe gehen musste. Kaito machte sogleich Gebrauch davon, als sie sich alarmiert zu ihm drehten, schlug den Ersten mit Shiokiri nieder und trat den nächsten noch während des allgemeinen Aufruhrs in die Senke. Minoru nutzte den Moment und räumte von der anderen Seite auf. Ging dem Letzten aus der Deckung an die Kehle und überließ es dem Blutverlust, den Rest zu erledigen, während er sich im Arm eines anderen verbiss, der gerade nach seiner Naginata greifen wollte. Pfeile mischten sich unter das Gemenge und Minoru wollte sich gerade dem Ursprung zuwenden, da gellten Schreie des zuvor gestürzten Keilers aus der Senke und erstarben ebenso abrupt. Die Pfeile wechselten ihr Ziel, strichen einen mit Knurren unterlegten Treffer ein und versiegten gänzlich, als eine Gruppe Inu aus der Senke kam und sich über die übrigen Schützen hermachte. Kaito hatte gerade den letzten Gegner enthauptet und in die Tiefe gestoßen, als sich die Inu näherten. Minoru legte das Fell ab, sobald er bemerkte, dass Kaito Shiokiris Griff angesichts eines warnenden Knurrens nur noch fester umklammerte. Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut aus dem Gesicht und betrachtete die Männer seines Vaters, die nun inne hielten und die knappste Verbeugung an den Tag legten, die man sich nur ausmalen konnte. So weit vom Geschehen entfernt hätte man mit mehr Höflichkeiten rechnen können, zumal sie eine Unterhaltung in Erwägung zogen. „Kōtaishi.“ Die Stimme war kalte Erkennntnis. Ein Mann mit aufwendig gearbeiteter Rüstung trat vor und verneigte sich abermals, was die anderen veranlasste, es noch tiefer zu erwidern. Sein Kimono war an der Schulter mit einem weißen Rautenmuster versehen und ansonsten vom schlichtesten Schwarz. Auch sein streng gebundenes Haar und seine Augen waren dunkel wie Pech. Jede Ähnlichkeit war allein aufgrund des Altersunterschiedes und der Haltung eine Anmaßung, doch die Augen erinnerten Minoru an Yûsei. Er war nicht bei den anderen gewesen, als Ryouichi die Beratung seinetwegen unterbrochen hatte. Dennoch kannte er die Schlichtheit der Rauten - aus Geschichtslektionen und dem Briefverkehr seines Vaters. Unendliche Listen an Reis-Lieferungen zu sortieren taugte am Ende doch zu etwas. „Akio-sama.“ „Ihr habt uns einen Hinterhalt erspart“, stellte das Ratsmitglied ohne Dank fest, warf einen knappen Blick auf Kaito und sah dann wieder zu Minoru. „Was tut Ihr hier?“ Kaito schnaubte hörbar. In der Tat war das eher eine Ansprache für einen ungehorsamen Jungen als den Erben seines Herrn - nichts, mit dem Minoru nicht gerechnet hätte. Nach allem, was er wusste, stand der Rat an Stolz und Ambitionen seinem Vater in nichts nach und Akios Berichte waren durch einen so schnörkellosen, gradlinigen Ton hervorgestochen, dass Minoru kaum Anbiederung erwarten konnte, wo sie selbst seinem Vater und dessen Vorgänger verwehrt geblieben war. Der Mann hielt sich einfach nicht mit Höflichkeiten auf. „Ich muss meinen Vater oder den Generalleutnant sprechen.“ „Ausgeschlossen. Im Frontgefecht -.“ Minoru zog Tenseiga aus der Scheide, die in ihrer Schlichtheit hervorragend in Akios Obi Platz gefunden hätte und sagte nichts. Das Ratsmitglied ließ seine Opalaugen über den Stahl wandern, dann blickte er Minoru an und nickte. „Wir eskortieren Euch.“ „Sehr zuvorkommend“, erwiderte Minoru mit einer Kälte, die von seinem Vater hätte kommen können. Akio, der Sarkasmus weder nutzte noch gewohnt war, ihm in dieser Form zu begegnen, brauchte einen Moment, um den Widerspruch zwischen Worten und Tonfall zu verarbeiten. Minoru jedoch fuhr fort. „Ihr habt Befehle, Ratsmitglied. Führt die aus. Mein Vetter und ich kommen allein zurecht.“ Es fiel Minoru nicht schwer, die Vorzüge einer Eskorte abzulehnen, weil es keine gab. Hier, am absoluten Rand der Schlacht, kamen sie zu zweit unauffälliger voran als ein ganzer Trupp es je vermocht hätte und im Getümmel von Klingen und Pfeilen weiter im Zentrum war die Mehrzahl weder ein Garant für Sicherheit noch beständig. Die Vorstellung, wie ein Pfeil durch die Kämpfenden voranzutreiben, um ans Ziel zu kommen, war absurd. Spätestens wenn sie ins Gemenge gezogen wurden, würde es schwierig genug sein, zu zweit zusammenzubleiben und davor brachte eine Eskorte nur unnötige Aufmerksamkeit - zumal von einem Ratsmitglied. Akio musste sich dieser Tatsachen bewusst sein. Demnach diente dieses Angebot einzig der Absicherung, alles in seiner Macht stehende getan zu haben, um den Sohn des Fürsten zu schützen - und ganz nebenbei dessen Schutzbedürftigkeit herauszustellen. Nachdem Minoru schon ungefragt die Wölfe ins Land geholt hatte, würde die Schelte sicher mehr als nachdrücklich ausfallen, wenn er seinen Vater zudem in die Lage brächte, Akio für die Demonstration solcher Inkompetenz auch noch zu Dank verpflichtet zu sein. „Wie Ihr wünscht“, schloss Akio, der offenbar zu viel Krieger war, um eine ermüdende Abfolge von Angeboten und Ablehnung folgen zu lassen. Er aber auch zu sehr Ratsmitglied, um sich gänzlich geschlagen zu geben. Er musterte Kaito mit einem Blick, der alles hätte bedeuten mögen, doch gewiss hatte Akio bei aller Abneigung nicht damit gerechnet, ein selbstzufriedenes Grinsen in den Mundwinkeln des Halbbluts vorzufinden. Die Miene blieb eisern, aber er winkte einen seinen Männer heran. Jung und nicht weniger streng als sein Herr. Sie sahen sich sogar ähnlich. „Wenn Ihr meine Eskorte ausschlagt, nehmt wenigstens meinen Sohn mit. Hisoka wird Euch zum Frontabschnitt des Generalleutnants führen und mir anschließend Meldung machen.“ Hisoka verneigte sich. „Kōtaishi. Es wäre mir eine Ehre.“ Die Absicht hinter diesem Schachzug war nun wirklich offensichtlich. Aber Minoru wollte den Mann nicht beleidigen, indem er ausgerechnet seinen Sohn abwies. Immerhin war Akio vermutlich noch eines der angenehmsten Ratsmitglieder. „Gut.“ Kapitel 62: vergeben kannst --------------------------- Kōhei lehnte mit verschränkten Armen an der verschmorten Fichte und starrte in die frühe Morgensonne. Er hatte in der Nacht nicht geschlafen. Vorgeblich, um Wache zu schieben, doch was nützte das noch? Sicher, Fürst Hayato hätte persönlich und mit Masukos falschem Schädel bewaffnet aus dem Brombeerdickicht springen und ihnen den Garaus machen können - doch das war nun wirklich absurd. Der Fürst verließ den Hof seit geraumer Zeit nur ungern, nahm selten bis nie an Schlachten teil und würde es sich nicht nehmen lassen, ein Exempel zu statuieren, wenn er von den Machenschaften seines ältesten Sohnes erfuhr. Öffentlichkeitswirksam, nicht an einem Waldrand im Nirgendwo. Nein, Shisuna hatte die Latte der Unmöglichkeiten schon sehr hoch angesetzt. Mit einem größeren Unheil rechnete wahrlich niemand mehr, aber an Schlaf war dennoch nicht zu denken. Nicht, wenn alles darauf hindeutete, dass die Drachen in wenigen Stunden West und Süd vernichten wollten. Kōhei hatte sich die Gesamtsituation erneut vor Augen geführt, als er Shippō in die Geschehnisse eingeweiht hatte: Saburōs Opposition zu seinem Vater und die verbotene Abwesenheit vom Hof, die er mit allen Mitteln zu kaschieren versucht hatte. Die Geiseln, die Fürst Hayato gegen ihn in der Hand hielt, sowie die Bedeutung des Vogels, den Saburō entsandt hatte. Außerdem den Marschbefehl, der vorsah, dass sie sich auf die Seite des Siegers schlagen sollten - eines Siegers, der ihnen in jedem Fall feindlich gesinnt sein würde. Denn die Drachen hatten ihre Absicht offen dargelegt und die Beziehungen zum Westen waren längst nicht so neutral wie stets behauptet wurde. Der Junge war schockiert gewesen. In erster Linie von seinem Fürsten, der ehrlose Befehle erteile und seinen Sohn ganz unmöglich behandle. Aber auch von Kōhei selbst, der für einen Despoten arbeite, der schwangere Frauen und Kleinkinder als Geiseln nahm. Pflicht und Dienst waren in Shippōs Augen keine stichhaltigen Argumente, dennoch war auch er geblieben. Stiller als üblich und mit einer Enttäuschung und Wut durchsetzt, dass Kōhei ihn lieber nicht ansehen wollte. Er hasste es, zu enttäuschen. Besonders auf diese Weise. Es wäre leichter gewesen, wenn Shippō ein südlicher Loyalist gewesen wäre. Einer dieser Jungen, für die der Dienst an Fürst und Heer alles war. Doch er war das Gegenteil: Zu frei aufgewachsen, um sich überhaupt um Befehlsketten und Pflicht zu scheren und zu fremd am Hof, um die Konsequenzen solchen Denkens zu fürchten. Das überraschte Kōhei nicht, aber es schmerzte. War es doch, als spiegle Shippō all die Zweifel und Vorwürfe, die ihn in dunkelsten Momenten selbst verfolgten. Personifizierter Selbsthass. Es war zum Davonlaufen. Angestrengt atmete er durch und sah erneut über die entfernten Felder. Es blieb zu hoffen, dass die Überstellung der Truppen mit einem neuen Befehl einher ging. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sein Fürst ihm neue, teils sogar gegenläufige Befehle zum Vorangegangenen erteilte. Sei es Taktik oder neue Erkenntnis. Auch Kōhei hatte noch in der Nacht, mit deutlichem Abstand zu Saburōs Vogel, eine Nachricht entsandt, die den Fürsten über das Zusammentreffen mit Shisuna und dessen Drohungen informierte. Sie würde niemals rechtzeitig ankommen, aber das war kein Grund diese Informationen unter den Tisch fallen zu lassen. Zumal sie ihm vielleicht den Hals retten konnten. Die formelle Übergabe der Befehlsgewalt ließ dieses Mal jedoch auf sich warten. So knapp vor der Schlacht hatte er sie bislang nur selten erhalten. Hatte der Fürst bereits erfahren, dass Saburō bei ihm war und entschieden, dass Kōhei damit jedwedes Vertrauen verloren hatte? „Geduld“, sagte Saburō, als habe er seine Gedanken gelesen. „Das Schreiben wird kommen. Du bist immerhin sein Liebling.“ Kōhei schloss die Augen und zählte stumm bis zehn, um nicht etwas sehr hässliches zu erwidern. „Keine Eifersucht“, versicherte der schwarze Fuchs, als er zu ihm aufgeschlossen hatte. „Ich habe darüber nachgedacht. Seine Zuneigung bedeutet mir so wenig wie dir. Wir fürchten beide nur den Moment, wenn wir keinem Zweck mehr dienen.“ „Der eine mehr, der andere weniger.“ Saburō sah ihn nicht an. „Da bin ich nicht sicher.“ Der Erbe verspannte sich, als ein vager Fleck am Horizont zu einem Vogel wurde - und stutzte, als es eine Drossel war, die flog, als habe sie in der Nacht mit drei Hauskatzen gerungen und nur knapp überlebt. „Hat mein Vater Humor, von dem ich nicht wusste?“ „Die ist von Jirō.“ Ein Stück vor Kōhei zerplusterte der Vogel in ein gutes Dutzend Federn und gleich zwei Rollen Bambuspapier, die ungezielt zu Boden trudelten. Kōhei hob die erste auf. Sie war nur mit einem Band zusammengebunden und in Jirōs grober Schrift und einzigartiger Orthografie verfasst. General. Inu nicht an front. verschoben? rücken in West vor u. warten auf euch. karte hinten. etwa beim markierten X. Nachricht vom Fürst kam gestern zu mir, ist für euch. Schicke sie weiter. Hochachtungsvoll, Jirō Die Rechtschreibung kümmerte Kōhei einen Dreck, solange Jirō so aufmerksam war, die Nachricht trotz seiner begrenzten Verwandlungsfähigkeiten über die Ebenen zu schicken statt mitten durch das Feindgebiet. So viel Voraussicht hatte er sich von ranghöheren Mitgliedern der Ratsarmeen manches Mal gewünscht. Saburō hatte die andere Nachricht aufgefangen und reichte sie ihm. Das Papier war hochwertiger und zeigte das ungebrochene Siegel des Südens. Fürst Hayato nahm also an, er reise mit der Armee. Kōhei atmete durch und brach das Siegel. Da ich davon ausgehe, dass Ihr inzwischen die Ebenen erreicht habt, erachte ich es als sicher, Euch zu kontaktieren. Ihr werdet Euch in der Schlacht auf Seiten des Ostens stellen. Ein Sieg der Inu ist in Anbetracht der speziellen Situation der Drachen nahezu ausgeschlossen. Fürst Shisunas Korrespondenz ist in ihrer Feindseligkeit überdeutlich und vollkommen unangemessen. Erwartet keine Freundlichkeit und er wird Euch nicht enttäuschen. Begegnet dem Osten mit allem gebührenden Respekt. Haltet Euch an die Panther. Ich vertraue auf Euer diplomatisches Geschick, um bestehende Zweifel und Anschuldigungen gewinnbringend zu zerstreuen. Gebt ihnen darüber hinaus keinen Grund, weniger als unsere absolute Unterstützung zu erwarten. Ich übergebe Euch hiermit die Befehlsgewalt über die Armeen der Ratsmitglieder. Truppen aus Izumi, Harima und Settsu erwarten Euch an der Front. Der Osten rechnet mit einer Stärke von zweihundert Mann. Ich zweifle nicht daran, dass Ihr auch diese Situation mit dem nötigen Feingefühl handhaben werdet. Eine Unterschrift verwendete er nur in Korrespondenz mit anderen Reichen, aber die schnörkellose, unauffällige Handschrift war Kōhei vertraut. Er wollte das Schreiben bereits wieder zusammenrollen, als er Tinte am unteren Rand bemerkte. Zögerlich strich er das eingerollte Ende glatt. Darüber hinaus entrichtet meinem Sohn meine Grüße und lasst ihn wissen, dass ich ihm in meiner Großzügigkeit - und um seine angeschlagene Konstitution wissend - drei Tage für die Rückreise an meine Seite zugestehe, bevor ich mich auch seiner anderen Lieblinge annehmen werde. Wenn er wenigstens eines seiner Kinder jemals lebendig in den Armen halten will, täte er gut daran sich zu beeilen. Er starrte auf das Papier und fühlte sich schrecklich leer. Betäubt von dem Wissen um den Schmerz, der folgen würde, und dem unglücklichen Los, dessen Überbringer zu sein, sah er langsam auf. Saburō erwiderte seinen Blick. Mit einer unnatürlichen Ruhe nahm er all den Horror auf, der sich auf Kōheis Zügen widerspiegeln musste und verzog selbst keine Miene. „Wer?“ „Das sagt er nicht eindeutig.“ „Wen hat er getötet, Kōhei?“ „Das Mädchen, fürchte ich.“ Es war schwer zu ertragen. Mitanzusehen, wie er um Fassung rang. Noch schlimmer, als er scheiterte und sich blinzelnd abwandte. „Mein aufrichtiges Beileid.“ Kōhei verneigte sich vor ihm und trat zurück. Shippō hatte sich auf seinem Lager aufgerichtet und musterte sie. Kōhei schüttelte den Kopf und wünschte, er könnte sich so offen von all der Last befreien wie Shippō, der aufsprang und einen Ast von sich trat, während Kōhei an seinen Gefühlen zu ersticken drohte. Schweigend dirigierte er den Jungen in den Wald, um Saburō Raum zu lassen. Was hätte er sonst schon tun können? Er konnte ihm genauso wenig den Schmerz nehmen wie er Shippōs Wut lindern konnte. Der hielt sich auf Abstand und sagte kein Wort. Kōhei wäre es lieber gewesen, wenn er ihn angeschrien hätte. Als Saburō zu ihnen aufschloss, wirkte er ausgezehrt und müde. Seine Augen waren gerötet, aber er gab sich Mühe, ruhig zu klingen. „Darf ich es sehen?“ Kōhei reichte ihm beide Papiere. Er las sie ohne jede Regung, las das Schreiben des Fürsten ein zweites Mal und schnippte schließlich mit den Fingern. Ein Hauch seiner Aura flammte kurz auf, verblasste sofort wieder und Kōhei wurde das Gefühl nicht los, dass gerade ein nun unnützes Rotkehlchen irgendwo auf dem Weg in den Süden in Flammen aufgegangen war. „Er weiß, dass ich hier bin. Er wird dich bestrafen, nicht töten. Dafür bist du zu wichtig. Aber du kannst besser lügen als ich. Bis zum Erhalt des Schreibens könntest du glaubhaft versichern, nichts von der Verfänglichkeit meiner Anwesenheit gewusst zu haben. Er hat mich schon vorher zu dir geschickt - warum hättest du es dieses Mal hinterfragen sollen?“ Die Schilderung traf Kōhei unvorbereitet. Er brauchte einen Moment um zu verarbeiten, dass Saburō zuerst ihn bedachte. Wirkte er wirklich so selbstsüchtig oder wollte Saburō nur die schmerzlichen Punkte überspielen? „Werdet - ich meine, wirst du gehen?“ „Wozu?“, Saburō rollte die Nachrichten zusammen. „Auf Akashi heißt es, Hayato könne ohne Yōki Illusionen schaffen. ‘Komm zurück, dann rettest du deine Familie’, ‘gehorche und du wirst Gnade finden’. ‘das Schicksal deiner Liebsten liegt in deiner Verantwortung.’ Alles Illusionen. Entweder man hat die Reste meiner Familie bereits in Sicherheit gebracht oder sie sind ohnehin verloren. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass er es bei einer Leiche belassen wird, bis ich zurück bin. Und wenn ich zurück bin, was dann?“ Er wäre tot oder schlimmeres, das wussten sie beide. Die Jahre hatten ihn körperlich gezeichnet. Wie lange, bis auch alles andere ausgezehrt und kränklich wirkte? „Ich würde diese Mauern nie wieder lebendig verlassen. Wenn ich gehorche, rette ich niemanden. In der Schlacht vielleicht schon.“ Er reichte Kōhei die Papierrollen. „Ich gehöre Euch, General. Verfahrt mit mir, wie Ihr wünscht.“ Kōheis schluckte. Saburō am Boden zu sehen, schnürte ihm die Kehle zu. Es passte nicht zu ihm. Ebenso wenig wie diese schäbige Kleidung, der gelöste Verband an seinem Hals oder die hervorstehenden Knochen. Nichts davon. Wäre er damals in dieser Verfassung vor Akashis Küste vom Pferd gestiegen, hätte Kôhei ihm keine Woche am südlichen Hof gegeben - und das war wohlwollend geschätzt. Manch einer war schneller unter dem Klima dort zusammengebrochen. Doch hier war er: Vier Jahre später und immer noch nicht gebrochen. Und dann verlangte er das? Nein. Augenhöhe war schlimm genug - aber keinesfalls darunter. „Machen wir uns nichts vor: Du taugst nicht zum Soldaten. Im Befolgen von Befehlen bist du miserabel.“ Saburō blieb einen Moment stumm. „Du willst mich nicht?“ „Seit wann kümmert dich das?“ Er zögerte, dann lächelte er matt. „Danke.“ Sasagamine war eine abgelegene Berglandschaft mit dichten Wäldern, Seen und Freiflächen. Während letztere so ruhig da lagen wie an jedem anderen Tag, war in den Wäldern schon vor Stunden die Hölle ausgebrochen. Kōhei schloss die Augen und atmete bewusst, spürte die Auren, die um sie herum flackerten und erstarben und verfolgte den Aufprall von Stahl und Klauen, Körpern und Erde. Der Geruch von Blut und Brand schwängerte die Luft. Es war eine der weitläufigsten Schlachten, die er je erlebt hatte und nicht zuletzt, weil es keine Koordination zu geben schien. Es gab keine Linien, keine klaren Grenzen - nur ein dichtes Durcheinander von Stahl, Fleisch und Blut. Gruppen und Einzelkämpfer die auf Sicht den nächsten Gegner auswählten, kämpften, weiterzogen. Kōhei ließ eines der frisch abgerissenen Blätter durch die Hand gleiten. Er rieb an der Oberfläche bis sie wächsern wurde und verstärkte ein weiteres Mal den Sichtschild um sie herum. Am Fuße der mächtigen Eiche, in der sie lagerten, rollte ein Brennendes Rad vorüber. Das Gesicht im Zentrum des Dämons zu einem hämischen Lachen verzogen, setzte es das Unterholz in Brand und versuchte, eine Gruppe Inu einzukreisen. Shippō starrte mit großen Augen zu dem entfachten Waldbrand hinab, den Kōhei durchaus wahrnahm - jedoch nur als eine von zig sekundären Sorgen. Die Eiche war hoch, der Sichtschutz stabil und wenn es allmählich warm wurde, konnten sie immer noch verschwinden. Es gab dringlichere Fragen als ein kleines Feuer. Kōhei das Blatt aus der Hand gleiten. Es trudelte gen Boden, doch ehe es die Flammen erreichte, leuchteten winzige Schriftzeichen grellgrün auf und das Blatt verwandelte sich in einen eilends davonfliegenden Zaunkönig. Saburō verfolgte das Geschehen ausdruckslos. Als jedoch kurz darauf ein unförmiger Spatz in Kōheis Hand plumpste und sogleich wieder zu einem Ahornblatt wurde, vertiefte sich eine Furche auf der Stirn des Erben. „Jirōs Stärken liegen in der Tat woanders.“ Kōhei, der schon dankbar war, dass ihm mittlerweile keine trudelnden Enten mehr gesandt wurden, überging den Kommentar und las die Nachricht. „Keine Drachen in Ost, Süd und Nord. Der Westbericht steht aus.“ „Gehen wir mal davon aus, dass der dasselbe Ergebnis bringt.“ Damit hatte Saburō vermutlich recht. Dutzende Arten von Dämonen waren versammelt. Clans, von denen Kōhei nicht gedacht hatte, sie jemals auf einem Schlachtfeld zu sehen, und solche, die ohnehin keine Schlägerei ausließen. Allein die Anzahl an Oni war beeindruckend. Doch was fehlte waren die großen Namen: Drachen, Wölfe, ja sogar Katzen. Gemäß dem Fall, dass sie sich nicht als Farnkraut tarnten oder hinter Sichtwällen und Federn verbargen wie die Kitsune, hatte Kōhei von ihnen noch nichts zu sehen bekommen. Die Inu mussten sich schrecklich einsam und unterfordert fühlen inmitten all dieser niederrangigen Fußsoldaten, die ihren Angriffen so schutzlos ausgeliefert waren wie Lämmer. Lämmer mit dem Selbstverständnis eines Bären immerhin, denn das wilde Clangemisch schien allen Ernstes der Ansicht, etwas ausrichten zu können und ging sogar mit einer Art Taktik gegen die Hunde vor, die vielleicht sogar Früchte hätte tragen können - wenn die Hunde nur mitgespielt hätten. Doch die waren in diesem Chaos in ihrem Element. Und zwar in einem Maße, das die koordinierten Gegnergruppen von jeder Information ihrer Verbündeten abschnitt. Ohne Überblick nahm diese zusammengewürfelte Allianz Erfolg an, wo Niedergang war. In einem Baum vier Meter über dem Geschehen und mit etwas Ausblick auf das Treiben, mochte man beinahe Mitleid mit ihnen haben. Es lag nicht besonders viel Ehre darin, verborgen von einem Sichtschutz über eine Schlacht zu urteilen, an der man eigentlich teilhaben sollte. Andersherum würden die Kitsune mit diesem Verhalten kaum jemanden überraschen. Den Tag an dem der Süden alle Illusionen und Verwandlungen einstellte und ‘ehrbar’ kämpfe, wie es West und Nord wohl proklamiert hätten, würde Kōhei nicht mehr erleben. Unter anderem, weil er es niemals befohlen hätte. Er sollte mit den Panthern kooperieren, aber wenn die sich nicht zeigten, konnte er auch getrost in der Eiche bleiben und seine Männer schonen. Irgendwo musste ein Haken sein. Ein Faden, den er bisher übersehen hatte. Das war ihm bereits am Vorabend bewusst geworden, nachdem Shisuna sie mit seiner Anwesenheit beehrt hatte. Die Nachricht des Fürsten war ebenso nicht ohne Unterton gewesen. Doch jeder klare Gedanke war in Saburōs persönlichen Sorgen und Shippōs Wutausbrüchen erstickt worden. Jetzt, am Rande der tobenden Schlacht, lag die Situation in all ihrer Absurdität vor ihm. Auch wenn er den Hof gern im weitesten Abstand zu sich wusste, bereute er, dass die Ratssitzungen der vergangenen Jahre ohne ihn stattgefunden hatten. Insbesondere, da er in der Regel das einzige Ratsmitglied war, das am Ende im Feld stand. Zwar erforderte das stumpfe Ausführen von Befehlen, das derzeit von ihm erwartet wurde, kein tiefgehendes Wissen, doch es hätte ihn ungemein beruhigt und wahrscheinlich auch seine Taktik beeinflusst, wenn die Lage nicht so undurchsichtig gewesen wäre. Fürst Shisunas Korrespondenz ist in ihrer Feindseligkeit überdeutlich… . Haltet Euch an die Panther. Der Fürst hatte geahnt, dass Shisuna ihnen drohen würde. Warum hatte er sie dann dennoch hierher gesandt, wo gleich mehrere unsterbliche Drachen nach ihren Leben trachteten? Kōhei war nicht naiv, was seinen Fürsten betraf. Er traute Hayato zu, seine Männer in den sicheren Tod zu schicken, um an anderer Stelle Vorteile einzustreichen. Jedoch vorzugsweise die Truppen der Ratsherren und nicht seine eigene Palastgarde. Dass er sie sandte und Kōhei angewiesen hatte, die Panther wie rohe Eier zu behandeln… er würde mit einem der Panther-Geschwister sprechen müssen, um die Lücken zu füllen. Vorher waren das alles nur vage Gedankengänge und Luftschlösser. Von Wenn und Könnte hatten sie in letzter Zeit eindeutig genug gehabt - auch wenn so einige davon nun verblasst waren. So schmerzlich Hayatos Nachricht auch gewesen sein mochte, hatte sie auch viele Eventualitäten ausgelöscht und gegen eine kalte Gewissheit getauscht. Hoffnungen zu begraben, schaffte unter Umständen auch Freiheit für bislang nur zögerlich bewanderte Pfade. Zumindest wenn man die Kraft fand, sich aus dem Tief zu erheben - und genau da war er noch nicht sicher. Saburō wirkte gefasst, aber er war ungewöhnlich in sich gekehrt. Noch vor einigen Jahren hatte Kōhei ihm den Besitz eines Gewissens zu gern abgesprochen. Um Saburō und seinen Vater in eine andere Sphäre zu erheben, in der es per Definition keine Grausamkeit gab, sondern nur rücksichtslose Entscheidungen zum Wohle aller. Der Gedanke, dass die Führung mit all dem Leid am Ende einen Zweck verfolgte, war beruhigend - mehr aber auch nicht. Heute wünschte er, dass Saburō ein wenig mehr dieser Dystopie der Skrupellosigkeit entsprach. Zu seinem eigenen Wohl und weil er als Daiyōkai in diesem Unterfangen ein Trumpf war. Wenn das gelang, würde er der Strafe des Fürsten mit der Gewissheit entgegentreten, das Leben seiner Männer geschützt zu haben. Denn einer Strafe würde er nicht mehr entgehen, dessen war er sich sicher. Saburō hatte das trotz aller Emotionen schneller durchschaut als er, dem erst nach einer Weile aufgefallen war, warum sich der Erbe so ausdrücklich bedankt hatte, obwohl er zuvor immer einen Dreck darauf gegeben hatte, ob Kōhei seine Gesellschaft gut hieß. Selbst wenn es Kōhei gelang, den Fürsten davon zu überzeugen, dass er Saburōs Anwesenheit schlicht nicht hinterfragt hatte, wäre das Argument spätestens nach Erhalt des Schreibens hinfällig. Der Fürst erwartete zwar nicht, dass Kōhei gelang, woran er selbst scheiterte - nämlich seinem Erben einen Befehl zu erteilen, der tatsächlich befolgt wurde - und hatte deshalb auch nur die Weitergabe einer Nachricht verlangt, doch er würde sehr wohl darauf reagieren, wenn Saburō dennoch in seiner Nähe blieb - in der Nähe des Bindegliedes zwischen Fürst und Armee. Hayato musste neuerdings schon sehr blind sein, wenn er nicht ahnte, warum Saburō so ein außerordentliches Interesse an der Gesellschaft seines Generals hegte. Und damit Kōhei auch ja lernte, dass diese Nähe für ihn keineswegs wünschenswert oder geduldet war, würde Hayato dafür Sorge tragen, dass er in Zukunft besser darauf achtete, mit wem er sich umgab - ob er dabei nun eine Wahl hatte oder nicht. Kinder fassten eben seltener ins Feuer, wenn sie sich einmal ordentlich verbrannt hatten. Doch auch das war Zukunftsmusik und damit eigentlich ein Luxus, den er sich gerade nicht geleistet hätte, wenn ein Teil seines Geistes nicht unablässig mit der Frage beschäftigt gewesen wäre, wie er nach der Schlacht zwischen Hayato und Saburō fortbestehen konnte. Das klobige Wort ‘Entscheidung’ drängte sich dabei immer wieder in den Vordergrund und er stopfte es ebenso grob in den hintersten Winkel seines Verstandes. Erst einmal mussten sie das hier überleben. Mit so wenigen Verlusten wie möglich. Wenn die Anwesenheit des Noch-Erben wenigstens dafür gut war, war es eine Strafe wert. Das musste man sich nur oft genug einreden. Blieb nur die Frage, wie er seine Truppen aus dem aufgesperrten Maul der Drachen ziehen sollte. Wo also steckten die vermaledeiten Katzen? „Saburō. Wie erholt fühlst du dich?“ Der dunkle Silberfuchs wandte seine Aufmerksamkeit vom Geschehen ab. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und Kōhei glaubte, Verwunderung in seinem Blick zu sehen, ehe er sie hinter einer ausdruckslosen Maske verschwinden ließ. „Wie kann ich dir behilflich sein?“ „Sieh dich für mich um.“ Es war unwahrscheinlich, dass die Panther einen Illusionisten hatten, der Saburōs Fähigkeiten überstieg. Ihr letzter Daiyōkai war seit Jahrhunderten tot und wenn er Shunran richtig einschätzte, hätte sie vielleicht gerade mit ihm selbst mithalten können - das hieß, bevor Minoru ihr das halbe Gesicht zerrissen und damit das räumliche Sehen genommen hatte. Der Silberfuchs schenkte ihm ein schiefes Lächeln, neigte den Kopf und erhob sich auf Rabenschwingen in die Luft. Kōhei spürte Shippōs Blick auf sich und weigerte sich eine Weile, darauf einzugehen, bis er schließlich doch den Kopf wandte. „Ja?“ „Was ist das zwischen Euch?“ „Wie bitte?“ „Seit wann seid Ihr und er so- ich meine… habt Ihr das nicht gesehen? Er amüsiert sich, dass Ihr ihn herumscheucht.“ „Natürlich tut er das.“ Bei Unsicherheit auf Humor zurückzugreifen, war naheliegend. Außerdem war es der sicherste Weg, die Situation zu entschärfen, die in jedem anderen Fall eine Anmaßung mit entsprechenden Konsequenzen gewesen wäre. Es war Saburōs Wunsch gewesen, sich auf Augenhöhe zu erniedrigen - am Tiefpunkt seiner Hoffnungen sogar darunter. Und bei aller Weitsicht, die der Erbe bisher an den Tag gelegt hatte, glaubte Kōhei dennoch, dass er sich an diese Konstellation erst einmal gewöhnen musste. Es kam sicher nicht häufig vor, dass er seinen Vornamen hörte. Shippō überzeugte das nicht. „Ich dachte, Ihr könntet ihn nicht ausstehen.“ Kōhei schwieg. Dass er seine Meinung gegenüber seinem Schüler so offen nach außen getragen hatte, war nichts als ein weiterer Beweis für sein Versagen als Lehrer. Eine Aura ließ ihn die Aufmerksamkeit in den Wald zurücklenken. Zu seiner Überraschung verließ auch Shippō seine Warte und landete vor ihm auf dem Ast, um besser sehen zu können. Als Kōhei die auffallend rote Kleidung des Han’yōs bemerkte, wusste er, woher Shippōs Interesse rührte -und dass er wohl daran getan hatte, keinen Kampf mit dem Halbblut anzuzetteln. Das unscheinbare Stück Altmetall war nun ein mannsgroßes Schwert in Form eines Reißzahns und pflügte meterweit durch Waldboden und Gegnergruppen. Das Brennende Rat zerbarst in glimmende Splitter, Feinde flohen und Feuerwände erstickten, wo das Yōki ihnen jegliche Energie entzog. Es war lange her, dass Kōhei Tessaiga im Einsatz gesehen hatte und auch wenn das da nicht Tōga war, musste er nicht unbedingt näher an diese Waffe heran als nötig. Er sah zu Shippō, der das Schwert und seinen Besitzer mit einem ganz anderen Ausdruck bedachte. „Wir sollten an ihrer Seite sein“, sagte der Junge. „Ich verstehe es immer noch nicht. Dann kann der Westen uns eben nicht leiden. Na und? Es ist Sesshōmaru. Der mag so ziemlich niemanden. Ist ja nicht so, als wäre das etwas persönliches.“ Kōhei biss sich auf die Zunge. Er hatte sich geweigert, seine Verbindung zu Minoru und dessen Geschichte mit dem Süden zu teilen. Es war eine gefährliche Wahrheit, die Hayato ausmerzen wollte. „Sagen wir einfach, es ist äußerst persönlich.“ „Dann sollten wir die Drachen in unserem eigenen Interesse angreifen. Niemand hat gesagt, dass wir dem Westen helfen müssen. Wir haben nur denselben Feind. Gegen Untote haben wir auch miese Chancen, gut, aber jetzt töten sie uns auch. Was hält uns also davon ab?“ Als er vor Shippō eine Darlegung von Pflicht und Befehlen begann, die es nötig machte, den Anweisungen von Fürst und Rat zu folgen, wurde dessen Miene mit jedem Wort ungläubiger. Kōhei wechselte den Ansatz. „Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass Fürst Hayato über Informationen verfügt, die wir nicht haben. Er hat sicher nicht umsonst darauf bestanden, dass wir ungeachtet der Drachen mit den Panthern verhandeln.“ „Blödsinn. Am Ende bleiben die Drachen unsterblich. Habt Ihr gehört, was die im Osten angerichtet haben? Ich bin vielleicht in vielem jung und unerfahren, aber so jemandem gibt man nicht die Hand.“ Kōhei hatte sich nicht träumen lassen, binnen eines Tages Shisuna in Menschengestalt zu überstehen und gleich darauf den Schulterschluss zwischen seinem Schüler und Saburō mitzuerleben. Wäre der Silberfuchs nun hier gewesen, hätte er dem Jungen vermutlich längst nicht als so lästig empfunden wie noch vor wenigen Tagen. Er schauderte. Das war nicht gut. Er konnte Saburō nicht einmal vorwerfen, den Jungen mit seinen Meinungen beeinflusst zu haben. Sie hatten kaum gesprochen und schon gar nicht über so verfängliche Themen. Es war Shippō selbst, dessen Moralvorstellungen und Verbindungen Überlegungen zu Tage förderten, die besser niemand laut vernahm. Aber brauchte es das wirklich noch? Kōhei sah auf das Halbblut, dessen Familie aufgeschlossen hatte. „Geh zu ihnen, wenn du möchtest.“ Verdutzt sah Shippō auf. „Auf einmal?“ „Vielleicht ist es das sicherste für dich“, erkannte Kōhei. „Ob es ein Danach gibt, kann ich nicht sagen, aber ich werde mich für einige Dinge verantworten müssen. Du warst zu nah an dem Kōtaishi und mir. Ich mag vor der endgültigen Konsequenz gefeit sein, aber du hast für den Fürsten keinen Wert. Für mich schon, und das macht es nur gefährlicher.“ „Er würde mich töten, um Euch zu verletzen?“ „Er würde dich sehr wahrscheinlich nicht suchen lassen. Schon gar nicht in den Ebenen. Das kostet zu viel Mühe für einen Akademieabsolventen, dessen Namen er nicht einmal kennt. Diese Leute können dich beschützen. Tessaiga ist mächtig und die bloße Andeutung einer Verbindung zum Westen dürfte ihm auch die letzte Lust nehmen, sich mit dir zu befassen.“ „Das ist Desertation.“ „Ich entlasse dich aus meinem Dienst und dem der Armee.“ „Das könnt Ihr?“ Kōhei hob vielsagend eine Braue. „Ich verstehe“, bemerkte Shippō trocken. „Es kümmert ihn wohl nicht, wer oder wie viele in seinem Himmelfahrtskommando sterben. Das überlässt er Euch.“ „Shippō.“ „Was? Ihr habt mich gerade entlassen. Ich kann über diesen Mann, der meinen Namen nicht kennt und mich töten lassen würde, sagen, was immer ich will. Ich bin ihm nichts schuldig.“ Kōhei betrachtete ihn, widersprach jedoch nicht. Es wäre dumm gewesen, mit ihm zu diskutieren, wenn er sich gerade entschlossen hatte, dem Süden den Rücken zu kehren. Das war sicherer für ihn. „Saburō-sama war nicht begeistert, als Ihr mir neulich eine Entlassung angedroht habt“, sagte Shippō, während er das Halbblut beobachtete. „Weil er Sorge hatte, dass ich jemandem erzähle, dass er bei Euch ist?“ „Ja.“ „Verstehe. Dann ist das wohl jetzt egal.“ Er klang verletzt. „Das sollte keine Strafe sein. Auch vorgestern nicht“, sagte Kōhei. „Ich habe mich dir gegenüber in den letzten Tagen unmöglich benommen. Gereizt und unaufmerksam. Das tut mir leid. Aber meine Nähe hat dich nicht nur das Wohlwollen deiner Kameraden gekostet, sondern dich auch in eine sehr gefährliche Lage gebracht. Ich will nicht, dass du meinetwegen zu Schaden kommst.“ Shippō sah auf und musterte ihn lange. Dann wandte er sich wieder dem Wald zu, wo seine Familie gerade weiterzog. Er jedoch rührte sich nicht. „Shippō-“ Bevor er fortfahren konnte, kehrte der Rabe zurück. Kōhei wartete, bis Saburō auf einem Ast neben ihm gelandet war und sich aufgerichtet hatte. An dessen Miene konnte er bereits ablesen, dass der nicht nur Farnkraut gefunden hatte. Saburō hatte mit seiner Einschätzung richtig gelegen. Wäre Kōhei selbst geflogen, wäre auch ihm die Illusion um den Maulbeerbusch aufgefallen, der keiner war. Sobald man selbst mit Illusionen arbeitete, kannte man die Schwachstellen. Doch dieses Werk hätte er auch ohne die minimale Windschiefe und Schnittfehler erkannt. Die Aura war für ihn so deutlich zu spüren, dass er nun sicher sein konnte, ihr überlegen zu sein. Dennoch verbeugte er sich knapp. Des guten Willens wegen und weil ihr Stand es gebot. „Es ist lange her.“ „Verehrtester General.“ Shunran ließ das umliegende Trugbild fallen, warf ein größeres über sie, das Kōhei lieber in einigen Metern Abstand nochmals abschirmte. Der ein oder andere Inu mochte im Kampf gegen Panther mit Illusionen rechnen und wenn dieser jemand Ryouichi sein sollte, war heute nicht der Tag, an dem Kōhei die Frage klären wollte, wer von ihnen dem anderen überlegen war. Sie hatte das bemerkt und zerknüllte ein Ahornblatt in ihren Händen, als wolle sie das Leben aus ihm herauspressen. Das entstellte Gesicht verzog sich noch ein Stück mehr. Wenn er darüber hinweg sah, dass Minoru einen Grund gehabt haben musste, um sie anzugreifen, hätte ihr Zustand Mitleid verlangt. Shunran war herausragend gewesen. Das bot viel Platz nach unten - und der Fall hatte sie nicht nur körperlich gezeichnet. Er konnte nachempfinden, wie beängstigend und erniedrigend es war, sich nicht mehr auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können. Er selbst hatte schon oft Verletzungen davongetragen, die sein räumliches Sehen eingeschränkt hatten. Zum Glück nur vorübergehend. Doch er hatte die Zeiten gehasst. Er verbeugte sich abermals, wollte sich entschuldigen, doch sie unterbrach ihn. „Nein, entschuldigt Euch nicht. Nicht Ihr. Meine Geschwister übertreffe ich immer noch, deswegen sprechen sie mir gut zu, aber Euch kann ich nichts vormachen. Ich bin defekt. Euch muss ich es nicht erklären.“ „Nein. Auch wenn ich protestiere, dass Ihr so hart mit Euch ins Gericht geht. Ihr seid immer noch besser als die meisten.“ „Der höflichste Fuchs des Landes. Das wird sich wohl nie ändern.“ Sie lächelte. Wieder einmal wurde Kōhei bewusst, dass sie die angenehmste der Geschwister war. Karan Temperament hatte sicher seinen Teil dazu beigetragen, dass sie ihr Ende zwischen den Kiefern von Rumoi no Nobu gefunden hatte. Wo sie hitzig gewesen war, war Tōran unterkühlt. Die Älteste der vier hatte Kōhei immer mit Abneigung bedacht, weil ihre jüngste Schwester ihn mit einer Wärme empfing, die sie sonst nur für die Familie vorbehielt. Es gab noch Shuran, Shunrans Zwillingsbruder, der in der Statur und Gemüt Jirō ähnelte - ein Baum von einem Krieger, der rohe Waffengewalt vorzog. Aber Kōhei konnte sich nicht erinnern, dass er ihn in all den Jahrhunderten mehr als zehn Sätze gesprochen hätte - womit er das absolute Gegenteil zu seiner Zwillingsschwester bildete. Shunran hatte auf jeder Veranstaltung Kōheis Nähe gesucht, als die Zusammenkünfte der Reiche noch häufiger gewesen waren. Die Ähnlichkeit ihrer Begabungen ermöglichte unverfängliche Gesprächsthemen und Anmerkungen, die sonst niemand verstand und das hatte sie stets genossen. Im Gegensatz zu den Füchsen hatten die Panther einen geringeren Kontingent an Illusionisten und kaum jemanden, der ihr darin gleich kam. Dass sie daher seine Gesellschaft suchte, hatte ihn nie verwundert. Allerdings war er auch nicht so weltfremd zu bemerken, dass ihre Aufmerksamkeit über die Jahre nicht ihren Fähigkeiten geschuldet war. „Ich bin sehr erleichtert, Euch zu sehen“, sagte sie. „Wir sind mit all den Yōkai in der Überzahl, aber das muss gegen Inu nichts heißen.“ Man hätte annehmen sollen, dass unsterbliche Drachen in der Hinterhand jede Sorge beschwichtigten, die irgendein Krieg aufwerfen konnte. Zumindest wenn man davon absah, dass diese Zeitgenossen auch zu ihren Verbündeten ein eher problematisches Verhältnis pflegten. Bislang hatte er sich ihr gegenüber stets zurückhaltend gezeigt, um keine falschen Erwartungen zu befeuern. In diesem Fall jedoch stand die Gewissheit höher als der formelle Anstand und wenn er ein tieferes Gespräch wagen konnte, dann mit ihr. „Ich weiß nichts über Eure Truppenstärke, aber ich kenne meine. Und auch wenn ich erahne, dass wir den Inu gemeinsam schwer zusetzen könnten, beruhigt mich das wenig, wenn wir alle am Ende der Gnade Shisunas ausgesetzt sind.“ Die Offenheit ließ sie sprachlos zurück. Shunran sah ihn mit großen Augen an, bis sie schließlich den Kopf schief legte. „Stellt Ihr Shisunas Wohlwollen in Frage?“ „Ich muss nicht in Frage stellen, was nachweislich nicht existiert.“ Sie seufzte. „Lasst mich raten: Er hat Euch eine Drohung geschickt?“ „Besser: Er kam persönlich.“ Ihre Miene verfinsterte sich. „Verfluchter Salamander. Wenn er nicht so nützlich wäre, würde ich ihn gern wieder in sein Grab befördern. Euch vor der Schlacht zu drohen - so ein jähzorniger Mistkerl. Für ihn zählen nur Drachen und auch das nur in Abstufungen. Wenn es nach ihm ginge, würde er alle anderen niedermachen. Aber er darf nicht.“ „’Darf’?“,wiederholte Kōhei ungläubig. „Ich glaube kaum, dass er um Erlaubnis fragen wird, bevor er uns am Ende der Schlacht mit zu den Leichen wirft.“ „Zu den Leichen? Aber nein!“ Sie lachte, als hätte er einen besonders pikierlichen Witz erzählt. „Macht Euch darüber keine Gedanken. Das zu entscheiden liegt nicht in seiner Macht.“ Kōhei war so perplex, dass er den Ausdruck der Überraschung nicht kaschieren konnte. „Tut es nicht?“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Das war absurd. Hätte jemand berichtet, die Drachen hätten einen Weg gefunden, die Sonne am Aufgehen zu hindern, hätte Kōhei es nicht unbedingt geglaubt, aber ausgeschlossen sicher auch nicht. Man wusste nie, was in diesen geschuppten Schädeln vor sich ging - weder was ihre Gedanken noch ihre Möglichkeiten betraf. Dass also etwas außerhalb ihres Einflusses liegen sollte… „Ihr wollt mir weiß machen, Ihr hättet Shisuna in der Hand? Ihr überfallt seit Jahren keine Menschendörfer mehr. Wenn ich das richtig deute, braucht er Euch und Eure Opferlämmer nicht mehr, um gegen den Tod gefeit zu sein. Ich respektiere den Versuch, aber mich mit dieser Finte in Sicherheit zu wiegen, ist doch sehr kühn.“ Sie blinzelte ungläubig. „Dachtet Ihr, wir seien so närrisch, einen Drachen aus dem Grab zu holen, ohne die Versicherung, dass er tut, was man ihm sagt? Das wäre doch schrecklich gefährlich, nicht?“ ‘Gefährlich’ war eine äußerst harmlose Umschreibung. Aber die Vorstellung, dass sie die Drachen kontrollierten - Shisuna kontrollierten! - war so abwegig, dass sie alle bisher die Dummheit der Katzen als bewiesen angesehen hatten, ohne auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit einer Absicherung zu verschwenden. „Unmöglich. Was habt Ihr-?“ Sie schüttelte den Kopf. Diese Art von Gespräch mochte sie billigen, eine Erklärung gab sie deswegen noch lange nicht. „Shisuna hält nichts von unserem Bündnis und es widert ihn an, dass er an unsere Vorstellung gebunden ist und Euch nichts anhaben kann. Er würde es sicher gern sehen, wenn Euch seine Drohung auffrisst oder zu Entscheidungen verleitet, die Euch angelastet werden - tote Füchse, während er seine Hände in Unschuld wäscht. Er ist wütend, dass Ihr Euch so spät an unsere Seite gestellt habt und würde es gern vergelten.“ „Nur er, ja?“ Sie sah ihn an, als habe er ihr soeben persönlichen Verrat vorgeworfen und legte eine Hand an seinen Arm. „Unterstellt mir keine Finten gegen Euch, Kōhei. Warum sollten wir Euch tot sehen wollen? Natürlich hätten wir uns die Hilfe früher erhofft. Aber es stand immer außer Frage, auf welcher Seite ihr kämpfen würdet. Fürst Hayato hasst den Westen. Er hat seine eigenen Bestrebungen gegen Sesshōmaru geführt, nicht wahr? Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ein verwahrloster Welpe meine Verwandlung durchschauen konnte. Die Illusion obendrein. Im Westen war er nicht und dort wäre er damit auch nicht in Berührung gekommen. Im Süden allerdings …“ Sie machte eine Pause und betrachtete ihn. Nicht, weil sie ahnte, dass ausgerechnet Kōhei dem „verwahrlosten Welpen“ alles beigebracht hatte, was vonnöten gewesen war, um ihr Gesicht zu zerfleischen, sondern weil sie wusste, dass Fürst Hayato ihn in vielerlei Belangen ins Vertrauen zog. „Verwandlungen und Illusionen haben wir reichlich. Es mangelt uns allerdings an Hunden. Selbst wenn er so verwahrlost war, wie Ihr sagt, wäre er bei Hofe wohl aufgefallen.“ Er hätte ihr gerade heraus ins Gesicht lügen können, aber für den Fall, dass sie die Beziehungen zum Osten erhalten mussten, war es klüger, eine Hintertür offen zu lassen. Sie war zu klug, das Ungesagte zu überhören, tat jedoch, als habe sie an seiner Aussage keinen Haken erkannt. Ein Ausgleich für die zurückgehaltenen Informationen, die auch sie hütete. „Es ist auch einerlei“, räumte sie schließlich ein und strich ihren Kimono glatt. „Wenn ich mit ihm fertig bin, wird niemanden mehr kümmern, wo er herkam.“ „Dafür müsstet Ihr ihn aber erst einmal haben“, erwiderte Kōhei. Dass sie Vergeltung üben wollte, hatte er erwartet. Allerdings war es etwas anderes, die Worte ausgesprochen zu hören. Mit dieser Leichtigkeit, dieser Vorfreude… er lockerte die Schultern, ehe seine Muskeln sich gänzlich verspannten. Sie lächelte süßlich und wedelte mit dem Ahornblatt in ihrer Hand. Erst jetzt erkannte Kōhei die Nachricht, die mit feinen Katzenklauen darauf eingeritzt worden war. „Ich habe ihn doch schon längst.“ ☾ Minoru trat aus dem Unterholz zu den anderen. Kaito riss gerade Shiokiri aus dem Fleisch eines gefallenen Oni und wich nur knapp der Keule eines weiteren Muskelberges aus, ehe Hisokas Naginata dem Gegner den Rücken durchbohrte. Hisoka mochte es als Ehre bezeichnet haben, Minoru zu begleiten, aber auch das war kaum mehr als eine von Pflicht untermauerte Floskel gewesen und Kaito hatte die sicher nicht mit einbezogen. Dennoch arbeiteten sie besser zusammen als erwartet. Was unterm Strich bedeutete, dass Hisoka seine Abneigung gegen den Halbdämon nach Bemühen verbarg und sich sogar dazu herabließ, ihm im Kampf beizustehen. Bonuspunkte, weil er es schweigend tat. Es war offensichtlich, dass sein Vater ihn nur mitgeschickt hatte, weil ein Halbblut die Nähe des Fürstensohnes einstrich, während die Ehre an seiner Familie vorbeizog. Hätte er geahnt, dass Kaito ihn beim Vornamen nannte, wäre Empörung noch eine verhaltene Reaktion gewesen. Minoru wischte die Klauen am Ärmel ab und zog mehrere Tengu-Federn aus seinen Haaren. Die einst weiße Seide war blutverschmiert und der geflochtene Zopf hing lose über seinen Rücken. Er spürte Hisokas Blick und sah auf. Umgehend widmete der sich seiner Naginata, wischte das Blut von der Klinge und setzte den Marsch fort. „Glückwunsch“, bemerkte Kaito leise, als Hisoka weit genug entfernt war. „Er hat hochoffiziell Angst vor dir.“ „Unsinn.“ Unsicherheit vielleicht, eine Menge Verachtung, aber mit Sicherheit keine Angst. Höfische Grundlagen gaben ihm einen trittsicheren Boden, doch es war ihm anzumerken, dass er nicht recht wusste, wie er mit ihnen umgehen sollte. Minoru war jünger als er - sicher um ein halbes Jahrhundert -, gab sich mit minderem Blut ab, zog sein Schwert nicht, wenn er es vermeiden konnte und war ihm dennoch formell überstellt. Kaito war in dieser Hinsicht anderer Meinung. „Er sieht nicht alle Tage, wie ein gewöhnlicher Hund einem Tengu die Flügel stutzt, ehe er ihm das Genick bricht. Oder wie ein Oni zu Boden kracht, nachdem man ihm die Kehle herausgerissen hat. Ich übrigens auch nicht.“ „Du missverstehst, wie sehr ich mich in seinen Augen erniedrige.“ „Ich missverstehe gar nichts und wenn er nur einen Schritt weiter denkt, hat er auch allen Grund sich einzunässen.“ „Es wird aber keinen Schritt weiter geben.“ Kaito grinste. „Das weiß er doch nicht.“ Minoru schüttelte seufzend den Kopf, musste aber feststellen, dass es eine angenehme Abwechslung war, wenn nach zwei Tagen mal jemand anderes als Zielscheibe für Kaitos Gehässigkeit diente. Sie folgten Hisoka durch den immer noch dichten Wald. Der kannte sich in dem Gebiet besser aus und sein Vorgehen ließ vermuten, dass er in der Vergangenheit häufiger Meldegänge erledigt hatte, bei denen er Feinden aus dem Weg gegangen war. Das war unter Inu nicht unbedingt üblich, aber ein guter Weg für ehrgeizige Väter, ihre Söhne früh in die Truppen aufzunehmen, ohne sie übermäßigem Kampfgeschehen auszusetzen. Die Zeiten hatte Hisoka mit Sicherheit längst hinter sich gelassen, aber alte Gewohnheiten starben eben langsam. Sie hatten auf ihrem Weg nur drei Gruppen von Gegner bekämpfen müssen und waren mindestens doppelt so vielen aus dem Weg gegangen. Ganz zu Kaitos Unmut, der wenig davon hielt, irgendjemanden am Leben zu lassen, der ihm kurz darauf wieder in den Rücken fallen konnte. Auch dass Minoru ‘nur den Botenjungen’ spielte und Tenseiga zu seinem Vater bringen wollte, passte ihm nicht. Er hätte es vorgezogen, die Drachen selbst ausfindig zu machen und die reparierte Waffe zu testen. Allerdings waren sie noch nicht dazu gekommen, sich über diesen Punkt zu streiten, denn von den Echsen fehlte bislang trotz ihrer Größe jede Spur - und das gefiel keinem von ihnen. Minoru war nicht erpicht darauf, einem Drachen zu begegnen, bevor sie Tenseiga abgeliefert hatten, doch ein Unheil, das man sah, war eines, das man einschätzen konnte. So blieb ihnen nichts weiter als zu hoffen, nicht von den Drachen überrascht zu werden, während sie sich einen Weg durch den Wald bahnten - und das zog sich in die Länge. Takeru hatte eine Jagd herbeigesehnt, aber das hier fühlte sich bereits jetzt stumpf an und vermittelte ihm weder Sinn noch Vorankommen. Kaito mochte darin aufgehen, aber je mehr sie so abschlachteten, desto eher wurde Minoru klar, dass Ryouichis Einschätzung zutraf: Er war zum Angriff bereit, wenn es nötig war, aber Genugtuung zog er nicht daraus. Nach dem Vermeiden von Auseinandersetzungen kam nur wieder der alte Pragmatismus. Keine Vorfreude, kein Hochgefühl. Nichts das tiefer griff. Vielleicht hatte der Generalleutnant ihn deswegen zu Tōtōsai geschickt: Weil er als Krieger so wenig taugte wie kein anderer Inu. Gerade richtig für ein Schwert, das gegen lebendiges Fleisch so nützlich war wie ein stählerner Knüppel. Er fuhr mit der Hand über Tenseigas Griff und schämte sich. Er wollte der Klinge nicht mit Missachtung begegnen. Tenseiga war in diesem Kampf mehr wert als jede noch so scharfe Waffe. Wichtiger als das Bakusaiga seines Vaters und all die mit Aura verwobenen Klingen der anderen zusammen. Doch nachdem man nun Parallelen zwischen ihm und der Klinge gezogen hatte, fiel es ihm schwer, dieselbe Hochachtung für Tenseiga zu empfinden, die ihm zuvor unbegreiflich gemacht hatte, warum sein Vater diese Waffe so sehr verachtete. Eine Gedanke traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, doch er schob ihn schnellstmöglich beiseite. „Kein guter Zeitpunkt, um Tagträumen nachzuhängen.“ Minoru fuhr zusammen. Kaito hatte angehalten und musterte ihn. „Alles in Ordnung?“ „Ja.“ Nein. Die Situation hatte ihn viel zu sehr im Griff. Die ständig urteilenden Augen; insbesondere Hisoka, der seinem Vater jeden Schritt melden würde. Das fortwährende Töten kleiner Gruppen. All die Gedanken, die durch seinen Kopf schossen… Kaito hatte recht. Es war nicht der richtige Moment, um sich von alledem einnehmen zu lassen. „Pause?“, fragte der. Minoru schüttelte den Kopf. Es mangelte ihm nicht an Erholung, sondern an Selbstdisziplin. Mühsam versuchte er Gedanken und Emotionen beiseite zu schieben, die seine Wahrnehmung trübten. Es dauerte eine Weile, bis ihm dies gelang und er erkannte, dass die Situation ihn überfordert hatte, seit sie auf die ersten Yōkai getroffen waren. Vermutlich schon vorher. „Was für einen scheiß Umweg ist das eigentlich?“, knurrte Kaito. „Wenn ich Abschaum töten wollte, müsste ich nicht an die Front marschieren.“ Damit hatte er nicht ganz unrecht. In den eigenen Gedanken zu kreisen hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Aber wie lange war es wirklich gewesen? Minoru warf einen Blick zur Sonne, die über ihnen auf das Blattwerk niederbrannte und den Zenit überschritten hatte. Nur neun streunende Gegnergruppen in einer guten Stunde - eine Stunde näher am Zentrum des Geschehens. Nachdenklich fuhr er mit der Zunge über die Zähne und schmeckte dem fremden Blut nach. Hatte er in der Neuzeit vergessen, wie wichtig es war, jetzt zu sein? Aufmerksam, misstrauisch, vorsichtig? Er zog einige Blätter vom Ast einer Eiche und ließ sie durch die Finger wandern, zupfte das Gewebe von den Blattadern und schob es sich in den Mund. Kauend lauschte er in den Wald. Der Schlachtenlärm kam unweigerlich näher. Klirrender Stahl, der Geruch von Rauch, Blut und verschiedenen Dämonen, verhaltener Vogelgesang. Die völlige Abwesenheit der Echsen bereitete ihm Unbehagen. Ebenso hatte er bei all der Vielfalt an Gegnern nicht eine einzige Katze gesehen. Es war als meide der Osten seinen eigenen Krieg. Keine Drachen, keine Panther. Keine Verbündeten und nicht eine einzige Leiche auf ihrem Weg. Immerzu Wald, dicht und unberührt. Genug Feindkontakt, um sie beschäftigt zu halten und abzustumpfen und doch… es war zu einfach. Vor lauter Luftschlössern und drohenden Drachen hatte er das Offensichtliche übersehen und den Blick für das kleinere Übel verloren: Panther-Illusionen. Als Hisoka vor ihnen langsamer wurde und die Richtung wechseln wollte, schnalzte Minoru mit der Zunge. Der Krieger fuhr zusammen und verengte Angesichts der gezogenen Waffe die Augen. Er nickte zu dem nahenden Trupp hinüber, als sei der Minorus Wahrnehmung entgangen. Dieser deutete jedoch mit der Spitze des Katana unmissverständlich auf die Dachse. Kaito nahm Shiokiri aus der Scheide, zögerte jedoch. „Warum auf einmal?“ „Keine Diskussion.“ Wenige Minuten später schritt Minoru durch eine Ansammlung von Leichen. Neben dem leblosen Körper eines Dachses ging er in die Hocke und legte eine Hand an die blasse Wange. Die Haut war noch warm, die Augen starrten schwarz in die Leere und spiegelten den blauen Sommerhimmel. Ungeniert strich er durch die klaffende Schnittwunde am Hals und durchtrennte beiläufig ein weiteres Gefäß. Als er sich erhob, waberte ein roter, warmer See in seiner Hand. Er schwenkte die Flüssigkeit in der Sommerhitze und leckte das erkaltete Blut von der Handfläche. Es war lau, noch unerwartet flüssig und schmeckte schal. Kein Wunder: Es gab vermutlich wenige, die aus dem Stehgreif Textur und Geschmack von erkaltetem Blut nachahmen konnten. Hisokas Miene schwankte zwischen Entsetzen und Ekel. Kaito jedoch trat näher an ihn heran. „Erklärst du mir das jetzt bitte?“ Minoru gebat ihm mit einer Hand zu warten. „Hisoka.“ Der Krieger beäugte ihn misstrauisch. „Kōtaishi?“ Vermutlich hätte man ihn eleganter prüfen können, aber Minoru verstand sich nicht auf gekünstelte Halbwahrheiten. „Sind die Truppen meines Onkels bereits eingetroffen?“ „Osamu-sama? Ich glaube nicht, dass Echizen ausrückt.“ „Der Generalleutnant hat es ihm befohlen, oder etwa nicht?“ „Befohlen? Kōtaishi, ich will Euch wahrlich nicht beleidigen, aber ich fürchte, selbst der Generalleutnant kann Echizen nicht-.“ „Schon gut.“ Ein Panther hätte vermutlich nicht so einfach auf familiäre Verbindungen und interne Zusammenhänge reagieren können. Kaito wurde ungeduldig. „Minoru. Spuck’s aus.“ „Du hattest recht. Wir sollten längst mitten in der Schlacht sein.“ Minoru wischte die Hände achtlos an der Seide ab, dann zog er erneut sein Katana. „Sie treiben uns wie eine Herde Kühe. Ein paar echte Gegner für Spurhalten und Beschäftigung, ein paar Illusionen, um uns umzulenken.“ „Bist du sicher?“ „Es ist ein Sichtwall. Geräuschdurchlässig. Ich weiß nur nicht, wo er beginnt.“ Aber nach Takerus Berichten von seiner Gefangennahme bei den Panthern und dem, was Kōhei ihm über Illusionen beigebracht hatte, wusste er sehr wohl, wessen Handschrift das hier war. Kapitel 63: wo Pflicht ---------------------- Mehrere Feuer fraßen sich durch den Wald. Sie labten sich am Dickicht wie ausgehungerte Hunde an einer Leiche und sandten Rauchschwaden gen Himmel, wo immer die Flammen auf sattes Grün trafen. In all dem Chaos war der Falke, der gradlinig über die Dämonen hinweg schoss, nichts weiter als ein weiterer Vogel, der den Waldbränden entflog. Das beklemmende Gefühl, das Kōhei den Hals zusammenschnürte, hatte jedoch nichts mit den Flammen zu tun. Zwanzig! Wie konnte man einen Zwanzigjährigen in diese Hölle schicken und dann nicht einmal anwesend sein, um sich zu versichern, dass sein Kopf auf den Schultern blieb? Einen Landeserben noch dazu, der allein aufgrund seiner Geburt das beliebteste Ziel gewesen wäre, selbst wenn er nicht zuvor einer Katze persönlichen Grund für Vergeltung gegeben hätte. Verflucht! Wenn Sesshōmaru sich tatsächlich wegen eines Menschen ins Verderben warf, während sein Sohn an der Front herumirrte, machte sich Shisuna hoffentlich einen äußerst amüsanten Morgen mit diesem vermaledeiten Köter! Shunran hatte keine Einzelheiten über Minorus Gefangennahme ausgeführt und Kōhei hatte wohlweislich auch nicht danach gefragt. Die Nachricht auf dem Ahornblatt, die von Beschäftigung und Illusion östlich ihrer Lagerstelle kündete, reichte ohnehin. Doch auch wenn Shunran nicht wissen konnte, dass er am Hof notgedrungen gelernt hatte, über Kopf und spiegelverkehrt zu lesen, war ihm ihr Umgang mit so sensiblen Informationen eine Spur zu lässig gewesen. Kōhei flog knapp über die Baumkronen und verharrte im Rüttelflug. Sein Blick huschte über die Waldfläche, dann tauchte er wieder in das Geäst. Er bemerkte den entgegenkommenden Vogel zu spät. Der Zusammenstoß riss ihn aus dem Flug und ließ einen Schreck durch seinen Körper fahren, der nur davon gemildert wurde, dass der Wust aus Federn um ihn herum schwarz und die Aura lodernd bernsteinfarben war. Die Last des größeren Raben schleuderte ihn zu Boden und noch ehe er den Sturz hätte abfedern können, hatte Saburō sie beide zurückverwandelt und ihn rücklings an eine Felswand geworfen. Sein Hinterkopf prallte gegen den Fels und Schiefer blätterte in seinen Kragen, als die Hand des Erben sich grob auf seinen Mund legte. Der Geruch von Lehm mischte sich mit der Hitze, die von Saburō ausging. Doch selbst die Energie, die Kōhei frontal entgegen schlug, war nichts im Vergleich zu der fremden Aura, die sich lodernd durch seine Eingeweide fraß und unter seiner Haut schwelte. Eisern griffen Klauen um seinen Kiefer und pressten ihn an die Wand, um das Keuchen zu ersticken, das in Schreie abrutschte. Dann riss Saburō ihm mit ärmelbedeckter Hand die Fuchskoralle vom Handgelenk und ließ die Armbänder zu Boden fallen. Augenblicklich flammte Kōheis Yōki auf und fegte über Saburōs Aura hinweg wie eine smaragdene Welle; ein Gegenfeuer, dass das Brennen tilgte und nichts als ein seichtes Prasseln zurückließ. Seit seiner Ausbildungszeit hatte niemand mehr gewagt, so tief in seine Aura vorzudringen, dass es seine Verwandlungen negierte und niemals hatte es sich so angefühlt! Saburōs Hand hielt ihn unablässig am Schiefer. Kōhei versuchte sich zu befreien, erstarrte jedoch, als er in dessen Miene eine Wut erkannte, die er seit seinem Ausbruch in der Herberge nicht mehr gesehen hatte. Mit zwei Fingern donnerte der Erbe ein Lindenblatt an den Fels neben Kōhei. Yōki schoss durch die Blattadern und ließ das Gewebe herbstrot glühen. Rauschend bahnte sich die Energie ihren Weg und strahlte dieselbe Hitze ab, die noch in Kōheis Fingerspitzen summte. Der bestehende Sichtschutz flimmerte kurz, als sich ein Geräuschwall in die Magie wob. Dann erst gab Saburō ihn frei. „Was-?“ „Still.“ Der Ton allein ließ Kōhei verstummen. Auch wenn man bei Hofe weiterhin darüber stritt, mit welcher Hinterlist er die Haltung gefestigter Männer brach, war seine Wut alles andere als subtil. Und so sehr Saburōs provokanter Charakter auch für zugeschnürte Kehlen sorgte, glaubte Kōhei allmählich, dass es ihm lieber war, den Tanz auf Messers Schneide zu wagen, als in Momenten wie diesen über Glasscherben zu gehen. Bis zu dem Punkt konnte man sich wenigstens nach Kräften einreden, lediglich Quell seiner Erheiterung zu sein. Ziel seines Unmuts hingegen… Seine Bernsteinaugen hielten Kōhei fixiert und zuckten auch dann nicht, als Schiefer auf sie herab rieselte und Stimmen über ihnen erklangen. „Sie sind da vorn abgestürzt.“ „Vielleicht hat er uns bemerkt und den Angriff nur vorgetäuscht.“ „Wenn er uns bemerkt hat, kann er überall und alles sein. Jedes verfluchte Grasbüschel.“ Zehn Meter über ihnen lagen zwei Pantherdämonen bäuchlings am Rand der Felswand und spähten in die Luft. Sie warteten auf ein Flirren, falsche Schatten, einen Bruch im Lichtfall - irgendetwas, das eine Illusion preisgeben könnte. Vergebens. „Und was machen wir jetzt?“ „Ich beichte den Fehlschlag und du sagst den anderen, sie sollen auf die Köter aufpassen.“ „Scheiß Füchse“, brummte der andere. Es folgte ein unangenehm nasales Geräusch. Dann ein Spucken. „Ich hab’ die schon immer gehasst. Eingebildete Kakerlaken.“ Kōhei wurde aschfahl, als die Spucke des Soldaten durch die Barriere fiel und Saburō direkt auf die Schulter klatschte. Die Miene des Silberfuchses blieb unverändert, als er den Blick langsam nach oben richtete, doch Kōhei konnte erkennen, wie ein rötlicher Schimmer den Bernstein durchsetzte und schluckte, als die Hitze um ihn herum fiebrig wurde. Einen Moment passierte gar nichts. Dann plötzlich brach über ihnen erst Verwirrung, dann Entsetzen aus und schließlich ein Kampf, der mit Kreischen und Fauchen einherging, als hätte man zwei räudige Kater in ein Sack geworfen und ordentlich geschüttelt. Erneut prasselten Schiefersplitter auf sie nieder, gefolgt von zwei völlig zerfetzten Panthersoldaten, deren rot leuchtende Augen in dem Moment die Farbe verloren, als ihre Körper auf dem Boden aufschlugen. Kōhei starrte sie an und wagte nicht, den Blick zurück zu Saburō zu wenden. Hatte er gerade wirklich-? „Erklär’ mir das“, sagte der mit einer Ruhe, unter der ein Sturm brodelte. „Erklär’ mir, warum ich dir ein halbes Dutzend Verfolger von den Fersen nehmen muss, während du kopflos durch den Wald fliegst.“ „Kōtaishi-“ „Oh nein. Komm mir nicht so.“ Eine schwarze Klaue bohrte sich in Kōheis Brust; gerade so tief, dass sie den Stoff nicht durchdrang. „Über Titel sind wir hinaus. Das Spiel beherrsche ich ohnehin besser als du. Wie wäre es zur Abwechselung mal mit der Wahrheit? Verantwortung. Verdammter Einsicht!“ „Ich übernehme-“ „Was zur Hölle machst du hier? Allein, ohne auch nur den leisesten Gedanken an Verfolger, geistesabwesend, planlos? Tot rettest du den Jungen auch nicht!“ Kōhei erstarrte. „Du hast das Gespräch belauscht.“ „Natürlich! Dachtest du, ich ließe dich mit Shunran allein? Sobald sie erfährt, dass ihr neues Spiegelbild dein Verdienst ist, wird sie aufhören, dir schöne Augen zu machen und sich stattdessen bemühen, deine auszukratzen.“ „Shunran will nichts von mir“, erwiderte Kōhei. Der Einwand war belanglos und vermutlich auch falsch. Er hätte Saburō wütender machen sollen, als er ohnehin schon war, doch der schnaubte nur. „Wenn du kleine, talentierte Fuchskatzen ‘nichts’ nennen willst, bitte sehr - es ist dein unerfülltes Liebesleben. Aber dass du blindlings ins Verderben läufst? Ohne auch nur daran zu denken, mich einzubeziehen? Und das, obwohl du ganz genau weißt, dass ich Frieden mit dem Westen will! Verflucht, ich würde deinem teuren Jungen nicht einmal etwas anhaben, wenn er für mich vollkommen irrelevant wäre!“ „Das machst du mir zum Vorwurf?“ „Bedauerlicherweise kann ich nur eine gewisse Anzahl von Worten pro Zeiteinheit an deinen Kopf werfen, aber ja, unter anderem das.“ Kōheis Angst geriet Angesichts dieses Irrsinns ins Stolpern. „Wir haben zweihundert Mann im Feld, Shisunas Intrigen im Nacken und gerade eine vage Hoffnung in Sicht, dass die Drachen uns nicht wie Schlachtvieh behandeln. Und was ist meine glorreiche Eingebung? Nach einem Welpen zu suchen, der vermutlich lieber ersticken würde, als meine Hilfe anzunehmen. Und du beschwerst dich, dass ich dich nicht eingeladen habe?“ „Ja.“ „Das ist - bescheuert! Der Fehler war, dass ich überhaupt darauf reagiert habe! Wenn wir auch nur den Bruchteil dessen glauben, was Shunran über die Drachen gesagt hat, ist es unverantwortlich-!“ „Kōhei, halt. Du denkst nicht klar.“ „Du kennst die Befehle! Die Panther sind hier und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Drachen auf den Plan treten und ich einen Angriff befehlen muss. Der Fürst weiß, dass die Drachen kontrolliert werden, sonst hätte er nicht Diplomatie um jeden Preis befohlen - und daran sollte ich mich auch halten, wenn ich meine Männer lebend hier herausbekommen will!“ „Es macht keinen Unterschied, ob die Drachen nur Waffe oder die Verantwortlichen sind!“ „Aber-“ „Keinen!“ Kōheis Rücken schrammte über die Wand. Er hatte die Klauen in die Wand geschlagen und war zusammengefahren wie ein gescholtenes Kind. Seit er von Akaya erfahren hatte, hatte Kōhei Saburō nicht mehr so wütend erlebt. Nein. Das hier war schlimmer. In der Herberge hatte die volle Länge des Raumes zwischen ihnen gelegen. Nun war da nichts als eine dünne Schicht aus Luft, schwer von der Aura einer Bestie, die eine ursprüngliche, instinktive Angst in Kōhei weckte. Es war das eine, zu wissen, was er war, und etwas ganz anderes, die rohen Ausmaße dieser Macht am eigenen Leib zu erfahren, wenn er sie an einem Punkt konzentrierte und sie nicht hunderte Kilometer entfernt für eine Scharade nutzte. Und dann waren da noch diese Augen… Saburōs griff nach ihm. Für einen Moment war Kōhei überzeugt, dass man ihn wiederholt gegen den Felsen schlagen würde. Stattdessen legten sich die Hände auf seine Schultern. „Kōhei.“ Widerstrebend wartete Kōhei, bis sich sein Blick geklärt hatte, dann sah er zu Saburō auf. In dessen Miene zeichnete sich Sorge. „Ich gebe zu, die Vorstellung kontrollierter Echsen ist auf einlullende Weise verlockend. Aber ich mag meine Drachen lieber tot als an der Kette und wir sind uns wohl einig, dass die in den Händen der Panther bestenfalls Bindfadenstärke hat. Heute sind wir Verbündete, morgen bestenfalls Diener.“ Er hatte recht. Aus lange Sicht änderte es nichts. Für den Moment jedoch… „Außerdem“, hob Saburō erneut an, „wenn das wirklich deine Einschätzung ist, dann verrate mir, warum ich dich eben aus dem Himmel reißen musste?“ „Weil-“, er hielt inne, versuchte Worte zu finden, die nicht so sehr nach Versagen und Unzurechnungsfähigkeit klangen, wenn sie ihm über die Lippen kamen. Doch sie schnürten ihm schon den Hals zu, als sie nichts als Gedankenfetzen in seinem Verstand waren. Saburō nahm ihm die Antwort ab. „Weil der Inu no Taishō nicht hier ist, um deinen Jungen zu beschützen. Weil du dich verantwortlich fühlst. Deswegen.“ „Hier sind dutzende Inu, die auf ihn Acht geben.“ „Das ist mir bewusst. Die Frage ist: Reicht dir diese Armee, um deinen Sohn zu beschützen?“ „Er ist nicht-“ „Nein. Aber das macht keinen Unterschied, oder?“ „Es sollte“, entgegnete er leise. „Ich habe kein Recht… ich als allerletzter.“ „Kein Recht? Kein Recht auf was? Meine Tochter hat kaum mit mir gesprochen. ‘Kōtaishi’- eine kleine Verbeugung. Nichts mehr. Ich war niemand für sie. Du hattest elf Jahre mit Minoru. Wenn ich mich fühle, als hätte man mir das Herz herausgerissen, steht dir das allemal zu.“ Zu einem früheren Zeitpunkt hätte Kōhei ihm vorgeworfen, die Leiche eines toten Mädchens gegen ihn zu verwenden. Aber das war vorher gewesen. Vor einer Reise, bei der jeder Tag einen neuen Tiefschlag gebracht hatte, der dem Erben merklich an den Nerven zerrte. Bis zum äußersten… Nein, Saburō instrumentalisierte kein Elend. Er verbarg es einfach nicht. Es war die schlichte Wahrheit - und die erwartete er auch von anderen. „Wenn er stirbt… obwohl ich von der Gefahr wusste und wusste, dass sein Vater nicht hier ist… ich habe ihn schon so oft im Stich gelassen. Du machst dir kein Bild davon, was diese Frau alles getan hat. Wie sie mit einem wehrlosen Kind umgesprungen ist… und ich habe nur zugesehen. Sicher, ich habe mit dem Fürsten gesprochen, aber sie wusste angeblich, wie man jemanden wie ihn handhaben muss. Ich sollte mich raushalten… einen Scheiß wusste sie.“ Er atmete tief in die Brust und kämpfte sämtliche Gefühle herunter, die mit den Erinnerungen kamen und schüttelte den Kopf. „Aber so sehr du das auch nachempfinden kannst… meine Pflichten liegen woanders.“ „Du denkst nicht klar“, wiederholte Saburō. „Das Heer-“ „Das Heer sitzt sicher in diversen Bäumen und wird keinen Finger krümmen, wenn du es nicht befiehlst. Du kannst sie abziehen, wenn es dir beliebt. Sie quer durch den Norden marschieren lassen und auf Hokkaido stationieren. Niemand würde dich in Frage stellen.“ „Ich will nicht behaupten, dass ich niemals die Grenzen meiner Befehle ausgelotet und uminterpretiert habe, wenn es die Schlacht erfordert hat. Aber ihnen direkt entgegen handeln? Unmöglich.“ „Das Heer, Minoru, mein Vater, ich - du reibst dich zwischen Verpflichtungen und Gefühl auf und klammerst dich aus Verzweiflung heute an Hoffnungen, die dir morgen alles nehmen. Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen. Und mit irgendwann meine ich bald.“ „Und am besten für etwas, das dir in die Hände spielt.“ Ein Bündnis mit dem Westen, die südlichen Truppen unter seinem Kommando. Zum ersten Mal ahnte Kōhei, dass Saburō ihn seit geraumer Zeit für beide Ziele ins Auge gefasst hatte. „Wie wäre es ausnahmsweise mal mit etwas, mit dem du leben kannst? Einer Entscheidung, die dich nicht über Jahre hinweg heimsucht.“ Milde lag in seiner Stimme, aber es wäre wohl nicht Saburō gewesen, wenn er eine Provokation unangetastet liegen gelassen hätte, statt sie gegen ihn zu richten. „Du wirst es nie allen recht machen. Einen Tod müssen wir sterben.“ „Der Tod kümmert mich nicht.“ „Das ist mir bewusst. Ich bemängele es jeden zweiten Tag, seitdem wir reisen.“ „Ich erwarte nicht, dass du es verstehst.“ „Du erwartest nicht… “, Saburōs Stimme stockte, wurde leiser, „dass ausgerechnet ich dich verstehe? Obwohl du wie alle anderen fürchtest, ich wüsste alles über jeden?“ Die Hände auf Kōheis Schultern verloren an Druck, als auch der letzte Funken Wut aus Saburōs Haltung wich. „Glaubst du, mir wäre das Ausmaß nicht bewusst? Dass ich einfach annehme, du hättest Angst vor ihm, weil Furcht alles ist, was er in seiner Nähe duldet?“ Er legte die Linke an Kōheis Wange. Der riss den Kopf zurück, stieß jedoch erneut gegen den Fels und biss die Zähne zusammen, als Saburōs Aura in seine Haut sickerte und die Illusion löste, die über die Jahrhunderte derart in Fleisch und Blut übergegangen war, dass Kōhei nicht einmal einen Gedanken an ihren Erhalt verschwendete. Er wusste nicht einmal mehr, wie sein Gesicht ohne die Täuschung aussah, aber das Gefühl, das Saburos Hand auf der verheilten Brandnarbe hinterließ, erinnerte ihn daran, dass sie noch da war. Immer noch. „Ich verstehe, warum du meine Nähe schlecht erträgst. Weshalb du mir nicht in die Augen sehen kannst und auch nur der Gedanke an Verrat zu viel verlangt ist… Ich hoffe, deine Abneigung nie durch Taten gefüttert zu haben. Ich bin nicht mein Vater.“ Er zog die Hand allmählich zurück und nahm zum ersten Mal seit Minuten Abstand von Kōhei. Nur einen Schritt, aber der war ausreichend, um dem sommerlichen Waldbrand in der Nähe kühl erscheinen zu lassen. „Aber mir ist auch klar, dass das eine magere Aussicht ist. Ich kenne dein Risiko und meine Chancen. Hinter mir steht der letzte Rest einer zerschlagenen Rebellion. Kaum mehr als achtzig Mann. Jungen und Großmütter eingerechnet. Außer Hoffnung habe ich wenig zu bieten.“ Kōhei fühlte sich wie leergefegt. Er hatte das Gefühl, der Situation mehr Reaktion schuldig zu sein, eine Erwiderung aufbringen zu müssen oder zumindest irgendetwas zu tun, außer dazustehen und Saburō wortlos anzustarren wie ein erschrockenes Reh. Aber da war nichts. Abgesehen davon, dass ihm unsagbar übel wurde. Als er sich nicht regte, nahm Saburō erneut den Faden auf: „Du kannst dir das Wohlwollen des Fürsten für die verbleibende Zeit des Südens vermutlich erhalten, wenn du ungeachtet aller Zweifel und Opfer tust, was er verlangt. Aber dann sollten wir uns an dieser Stelle trennen und du dich Heer und Befehlen zuwenden. Was Minoru anbelangt, werde ich mich seiner annehmen, wenn es das ist, was du willst.“ Kōhei blinzelte. „Wie bitte?“ Dass Saburō ihm die Sorge um Minoru abnehmen wollte, kam nicht nur unerwartet, es war auch dumm von ihm. „Jeder Schulterschluss mit dem Westen wird nur durch ihn möglich. Ich kann es mir nicht erlauben, dass er stirbt. Außerdem will ich nicht, dass er das Zünglein an der Waage ist, das dich von meinem Vater löst. Wenn du dich für meinen Weg entscheidest, dann weil du es willst. Weil du mir vertraust und es für das Richtige hältst. Nicht, weil du deinen Jungen retten wolltest. Egal, wie du dich entscheidest: Du hast nichts von mir zu befürchten.“ „Wenn deine Chancen so schlecht sind, sollte man meinen, dass du dir diesen Luxus nicht erlauben kannst.“ „Das sehe ich anders. Deine Loyalität ist mitnichten eine unnötige Annehmlichkeit. Hätte ich dich in meine Dienste zwingen wollen, hätte ich längst Wege gefunden. Aber das ist nicht meine Art. Ich umgebe mich nicht gern mit Leuten, denen ich nur mit vorgehaltener Klinge trauen kann.“ Nur mit Mühe konnte Kōhei verhindern, dass seine Miene entgleiste - vermutlich half, dass Unverständnis und Entsetzen keinen gemeinsamen Nenner fanden. „Dein Idealismus ist ein schöner Traum… ich fürchte nur, dass es das Erwachen umso grausamer macht.“ „Nur wenn wir verlieren“, er besaß die Dreistigkeit, dabei zu lächeln, „und auch dann nicht viel grausamer, als es deine Tage heute sind.“ „Wenn ich nicht wüsste, dass du alles andere als harmlos und weltfremd bist, würde ich annehmen, diese Gedanken stammen von einem kleinen, naiven Jungen.“ Saburōs Lächeln wurde wärmer und als Kōhei sich fragte, woher diese plötzliche Entspannung rührte, begriff er, dass der Silberfuchs den neuerlichen Wandel im Gesprächsverlauf viel schneller gedeutet hatte, als Kōhei die eigene Annäherung bewusst geworden war. Schweigen und Konter wäre Ablehnung gewesen, doch darüber zu diskutieren, ob er sich seinen Idealismus leisten konnte? Kōhei hätte die Grenzen klarer und früher ziehen müssen, um ihn abzuweisen. Nein. Er hätte sie vorher und klarer ziehen können und es nicht getan. Gelegenheiten hatte es ausreichend gegeben. „Soll ich mich um Minoru kümmern?“, fragte Saburō. Es war nicht einmal eindringlich. Bloß eine Frage. Ganz, als sei es nie um etwas anderes gegangen, und als hänge an der Antwort nichts mehr als die nackte Frage selbst. Aus Saburōs Mund klang Verrat so belanglos wie ein Morgengruß. „Nein. Das mache ich selbst.“ „Dann sollten wir aufbrechen. Shunran wird nicht ewig auf die Rückkehr ihrer Kundschafter warten.“ Kapitel 64: und Naivität ------------------------ 狐 Daiyōkai existierten wahrlich in einer anderen Sphäre. Kōhei galt als einer der besten Illusionisten des südlichen Heeres und hätte dennoch Mühe gehabt, die Barriere der Panther zu finden, während überall Auren aufflackerten. Saburō hingegen flog wie von einem unsichtbaren Band geleitet. Kōhei gab sich Mühe, die Konsequenzen ihrer letzten Unterhaltung möglichst tief in seinem Verstand zu begraben. Er fand neben einer viel zu lauten Leere jedoch wenig Gedanken, die dazu fähig waren. Ein Teil von ihm rang unverändert mit Saburōs Angebot, sich Minorus anzunehmen. Der Junge war für seine Pläne zu wichtig, als dass Saburō eine unmittelbare Gefahr für ihn war. Doch auch wenn er wusste, dass er als General nicht eine Sekunde an die Sicherheit eines feindlichen Erben hätte verschwenden dürfen, ohne dass es dem Hochverrat gefährlich nah kam, wollte er als Person verflucht sein, wenn er abermals die Hände in den Schoß legte. Aber das war ein sehr einfaches Bild, in dem man Person und Stellung sauber voneinander trennen konnte. In Wahrheit stellte er sein Belange über die des Reiches und würde damit nicht nur die Panther gegen den Süden richten, sondern auch die Drachen. Das Schlimmste daran war, dass es einem Teil von ihm gleichgültig war, ob sich die Hunde damit im Gegenzug besänftigen ließen - es war derselbe irrationale Anteil, der Sesshōmaru nur zu gern eine saftige Ohrfeige verpasst hätte. Immerhin war der Verstand lauter; schalt ihn Heuchler und Verräter. Es war Hochverrat. Daran änderten auch Saburōs schlüssige Argumente nichts. Aber genug davon. Wenn er zurück sah, war er verloren. Dann würde er begreifen, was für eine bodenlose Dummheit er beging, und sich wieder in die Reihen fügen. Endgültig. Nahe der Barriere pulsierte Yōki im Rauch und kondensierte die Schwaden zu feinem Nebel, der sich auf den schwarzen Federn des Raben niederschlug. Saburō flog eine enge Kurve und touchierte mit der Flügelspitze die Illusionswand. Die Luft an der Stelle brach für einen Augenblick flackernd das Licht. Sie segelten die Barriere entlang, bis das Yōki kräftiger wurde und unter ihnen Stimmen zu hören waren. Panther fixierten alle paar dutzend Meter die Illusion mit frisch abgezogenen Blättern am Stamm des jeweiligen Baumes. Eine wandernde Barriere. Das warf mehr Fragen auf, als Kōhei lieb war. Shunrans Lager befand sich in entgegengesetzter Richtung, jenseits von Schlachten und Waldbränden. Unmöglich, dass sie versuchen würden, ihre Gefangenen bis dorthin zu eskortieren. Hätten sie Minoru nur festsetzen wollen, wäre dieser Aufwand nicht nötig gewesen. Wozu das also? Gab es einen Treffpunkt? Saburō ließ sich zu ihm zurückfallen. Er blickte erst zu Kōhei, dann hoch in die Bäume und wurde schließlich zu einem winzigen Zaunkönig, der im Geäst verschwand. Arbeitsteilung also. Während Saburō auf Erkundung ging, schwang sich Kōhei in die Krone einer großen Eiche und blickte in den Kessel des Sichtwalls hinab. Er umfasste ein weitläufiges Areal und umgab gleich drei Inu. Zwei Herzschläge lang vergaß Kōhei zu atmen. Zwanzig Jahre. Wie konnte ein Alter, das ihm eben noch zu jung erschienen war, so erwachsen sein? Hatte er wirklich erwartet, denselben Jungen vorzufinden, der ihm vor einigen Jahren begegnet war? Wild, abgemagert und so feindselig, dass es schmerzte? Nein. Schlimmer. Die letzte Begegnung war so kurz gewesen, dass seine Erinnerungen stets das Bild eines elfjährigen Kindes wach gerufen hatten. Schmal, blass, mit gesenktem Kopf und wahlweise gehetztem oder abwesenden Blick. Das war das Gefährliche an Erinnerungen: Sie verklärten Tatsachen bis zur Unkenntlichkeit und verweigerten sich der unausweichlichen Veränderung. Insgesamt nichts, das einem Realitätsabgleich unbeschadet überstand - nicht einmal auf hundert Meter. Hätte Masuko ihn nun so sehen können: Gradlinig, die Spinnenseide blutdurchtränkt und den langen Zopf wirr geflochten - ihr Fächer hätte ein halbes Dutzend Mal höchst elegant Luft in ihr versteinertes Gesicht gewedelt, während sie verbissen zu verbergen suchte, wie viel Angst sie vor ihm hatte. In Kōheis Augen hatte er nie besser ausgehen. Fließende Seide, Rüstung und gleich zwei Klingen. Das allein hätte nichts bedeutet. Seine Familie hatte genug Einfluss, um jeden räudigen Straßenköter in derlei Prunk zu stecken. Sein Auftreten aber verlieh dem Zierrat Substanz. Er war nicht übermäßig groß oder breitschultrig, wie das Halbblut an seiner Seite, aber die Leichtigkeit, mit der er sich durch dichtes Unterholz bewegte, zeugte von Erfahrung und einer Selbstsicherheit, die Kōhei von ihm nicht kannte. Das hätte ihn nicht überraschen sollen. Minoru war beinahe so lang auf sich allein gestellt gewesen, wie er unter Masukos Fuchtel gelebt hatte. Natürlich änderte sich in dieser Zeit eine Menge. Sich damit jedoch konfrontiert zu sehen, in dem Wissen, dass beinahe ein Jahrzehnt verstrichen war… . Es schmerzte. Zu sehr, als dass Kōhei sich dem nun ergeben konnte. Eine herannahende Aura löste seine Aufmerksamkeit zumindest so weit von Minorus Anblick, dass Saburō ihm nicht gleich bei der Landung ein wissendes Lächeln ins Gesicht schleuderte, sondern erst ein paar Sekunden später, nachdem er den Erben des Westens selbst in Augenschein genommen hatte: „Schade. Sein gutes Aussehen hat er schon mal nicht von dir. Bleibt die Hoffnung auf den Charakter.“ Kōhei gönnte ihm die Genugtuung einer Reaktion nicht. „Hast du etwas herausgefunden?“ „Diese adrette Eskorte hält auf den Waldrand zu. Danach folgt eine weitläufige Fläche aus Wiesen und Seen. Bislang kämpft dort niemand. Ich vermute, Shunran hätte lieber etwas Publikum, wenn sie ihm ein Messer in die Kehle rammt.“ Gut einsehbar und wenig aufwendig für jede Illusion. Ein ungestörter Platz für etwaige Racheakte, die im besten Fall das eigene Ansehen wiederherstellten. Wobei man darüber streiten konnte, ob der Mord an einem Halbwüchsigen unter Zuhilfenahme einer solchen Konstruktion wirklich ruhmreich war. „Wie viele Panther?“ „Viergruppen an drei Barrierenseiten.“ „Wundervoll.“ Damit war dann auch die Hoffnung dahin, die Panther unbemerkt aus dem Weg zu räumen. Saburō schenkte ihm ein wissendes Lächeln, wandte seine Aufmerksamkeit dann jedoch den Panthern zu, die unter ihnen leise fluchen begonnen hatten. Kōheis Blick flog zu Minoru, der soeben keinen Zweifel daran ließ, dass die nahende Gegnergruppe, die sie mit Leichtigkeit hätten umgehen können, fallen sollte. Eine Gegnergruppe, die aus Luft gesponnen war, denn wie man den Gesprächen der Panther entnehmen konnte, handelte es sich nur um einen von vielen fingierten Angriffen, die die Laufrichtung der Inu lenken sollte. Nur, dass die dieses Mal nicht mitspielten. „Muss er auf den letzten Metern den Feldherrn raushängen lassen?“, fauchte eine Katze. Sie hielt ihre Stimme gedämpft, doch allein, dass sie etwas zu sagen wagte… die Barriere war nicht so simpel, wie er angenommen hatte. Wäre sie gänzlich schalldicht gewesen, wäre der Schwindel den Hunden sofort aufgefallen. Eine zu durchlässige Wand jedoch hätte den Geruch, die Aura oder auch das leiseste Geräusch in den Innenraum getragen. Sie rechneten mit den empfindlichen Sinnen der Inu und es wäre leichtsinnig gewesen, nach Shunrans Verwundung nicht auch Vorsicht hinsichtlich ihrer Illusionserkennung walten zu lassen, zumal - „Schwarze Rüstung und weiße Rauten“, begann Saburō, der offenbar genau denselben Gedanken gehabt hatte. „Ist das östlicher Westen?“ Auch Kōhei betrachtete nun den vorausgehenden Inu, der sich Minorus Anweisung nur zögerlich fügte. Er hätte die Symbole des ehemaligen Generalleutnants auch dann erkannt, wenn der Westen aus tausenden Clans bestanden hätte. Yûseis Familienspross war der älteste der Gruppe und sicher nicht begeistert, dass er zwei Halbwüchsige geleiten musste, von denen der eine besser nicht während seiner Wacht starb und der andere so weit unter seinem Stand rangierte, dass er auch hätte kriechen können. „Ja. Das Oberhaupt des Clans hat einen Ratssitz inne und seine Männer sind an Grenzkonflikte mit Panthern gewöhnt.“ Nachdenklich betrachtete er die Barriere. „Das werden die Panther einkalkuliert haben.“ „Wenn du damit meinst, dass es mehr als ein einfacher Sicht- und Geräuschwall ist - ja. Aber es ist zu verwoben und Illusionen sind nicht unbedingt mein Steckenpferd. Wenn du die Komponenten nicht entwirren kannst, kann ich es auch nicht.“ Mit großen Augen wandte sich Kōhei zu ihm um. Saburō zuckte mit den Achseln. „Ich denke, ich brilliere auf anderen Gebieten ausreichend, um das nicht entschuldigen zu müssen.“ „Du bist ein Silberfuchs“, sagte Kōhei, als sei die Aufteilung in die Verwandlungskunst der Rotfüchse und die Illusionsaffinität der Inseln Garant für jedermanns Vorlieben. „Zur Hälfte“, erwiderte Saburō, dann huschte sein Blick zu Kōheis Hand. Der fuhr zusammen und ließ sie im Aufschlag seines Ärmels verschwinden, als könne das über die verdammten, schwarzen Klauen hinweg täuschen. „Wie auch immer“, fuhr Saburō fort und Kōhei fragte sich, wie er es sich verdient hatte, dass der Erbe ihn neuerdings aus dem Spießrutenlauf entließ, statt sich nach aller Kunst in seinem Elend zu suhlen. „Wir sollten nicht vergessen, dass Shunran dir nur Späher nachgesandt hat. Du bräuchtest nur Minuten, um dieses Konstrukt niederzureißen und ihre Soldaten auszuschalten. Sie sind sich ihrer Sache zu-“ Er hielt inne. Das bisschen Farbe, das die letzten Tage in sein Züge gebracht hatten, schwand. Kōhei rechnete mit jedem erdenklichen Unheil, als er seinem Blick folgte und war für einen Sekundenbruchteil irritiert, nur den ohnehin erwarteten Kampf zwischen den Inu und der Dämonengruppe entbrannt zu sehen. Dann aber bemerkte er den weißen Hund. Es war Jahre her, dass er einmal einen Streuner in der Schafherde eines Menschen hatte wüten sehen. Das Blöken der Schafe ebenso ohrenbetäubend wie das wilde Bellen des Hundes, der ein Schaf nach dem anderen angesprungen war; mal dieses, mal jenes Bein gepackt und daran gerissen hatte, nur um sich dem nächsten Opfer zuzuwenden, während das andere noch atmete. Vollkommenes Chaos. Hier gellten nur die Schreie der Schafe. Minoru tauchte unter Schwertstößen und Axthieben hinweg und stob durch die Gegner wie ein weißer Schatten. Die Wucht, mit der er auf einen Dämon traf und sich in seinem Arm verbiss, riss den Mann von den Beinen. Die Zähne lösten sich blitzschnell aus dem Fleisch, fanden die Kehle und zerrissen ruckartig Muskeln und Adern in einer Tiefe, die jede Rettung unmöglich machte. Eine niederfahrende Naginata ließ ihn ausweichen. Der Hund rollte von dem sterbenden Körper, kam prompt auf alle Viere und nahm sich dieses Mal die Hauptader am Oberschenkel des Gegners vor, dessen Waffe zu lang für eine Parade war. Es gab kein aufgebrachtes Bellen, kein Schwanzwedeln, nichts überflüssiges. Jede Bewegung war kalkuliert, perfektioniert, tödlich. Unter ihnen fluchten die Panther, die schwer damit beschäftigt waren, die Illusionen glaubhaft kämpfen, bluten und sterben zu lassen. Das Schauspiel dauerte nur wenige Minuten, dann reinigten die anderen beiden mehr oder weniger achtsam ihre Waffen, während Minoru durch die Leichen schritt und zum Grauen aller Dachsblut aus der hohlen Hand trank. Dass Kōhei unvermittelt übel wurde, war nichts im Vergleich zu der Reaktion der Panther, die zuerst vollkommen perplex und dann offenkundig damit überfordert waren, ihrer Illusion die nötige Glaubwürdigkeit zu verpassen. Wer hätte das auch aus dem Hut zaubern können? Kōhei bezweifelte sogar, dass er angemessen darauf hätte reagieren können. Er spürte, wie Saburōs Blick auf ihm brannte. „’Unverfängliche Ausbildung’, ja?“ „Das habe ich ihm so nicht beigebracht.“ „Er hat sie ausgespielt wie Narren.“ „Nicht wie Narren“, sagte Kōhei. Die Panther hatten alle Register gezogen und eine mehr als glaubwürdige Illusion geboten, die Kampf und Sterben bis ins Detail simuliert hatte. Was sie zu Fall gebracht hatte, waren Konventionen und Anstand - oder eher ein Mangel davon. Als er neben sich ein leises Schnauben vernahm, sah Kōhei zu Saburō und stellte fest, dass er trotz des Vorangegangenen schief lächelte. „Wenn du mir je wieder Neid unterstellen willst, dann bitte ihm gegenüber.“ „Warum das?“ „Weil er Blut von seiner Handfläche trinken kann wie Sake und du so stolz bist, als hätte er gerade laufen gelernt.“ Ehre, wem Ehre gebührt, dachte Kōhei, auch wenn er wusste, dass es nicht das war, was Saburō gemeint hatte. Er wollte gerade widersprechen, da hörte er Minoru deutlich aus der Unterhaltung der Inu heraus: „Es ist ein Sichtwall. Geräuschdurchlässig. Ich weiß nur nicht, wo er beginnt.“ ☾ Minoru spuckte aus, um den schalen Geschmack falschen Blutes von der Zunge zu bekommen. Kaito hatte recht behalten: Manchmal ging es um ihn. Er war so von all den Feinden geblendet gewesen, die sein Vater und sein Status ihm eingebracht hatten, dass er eine offene Rechnung ganz aus den Augen verloren hatte. Shunran. Die Ähnlichkeit zu Takerus Gefangenschaft war zu augenfällig. Ein nach oben geöffneter, halbdurchlässiger Sichtwall - die Panther mussten sie unbemerkt eingekesselt haben. Die Nachlässigkeit war ein herber Schlag ins Gesicht. Hisoka ging an ihm vorüber und trieb sein Schwert in die Brust des Dachses. Die Illusion zerplatzte zu heißer Luft und Farbschlieren. Nun, das war unerwartet. Für einen Moment wurde es still. Sie sahen einander an. Es sprach für Hisoka, dass er den Anstand besaß, nun zu schweigen. Die Eigenschaft ging Kaito wie üblich ab. „Und? Bereust du schon, den Scheiß gesoffen zu haben?“ Als Minoru nichts erwiderte, verschränkte er die Arme vor der Brust: „Könnten wir jetzt reden, bevor dir noch so etwas einfällt? Ich würde mein ohnehin mageres Frühstück gern drin behalten.“ „Stell dich nicht so an“, erwiderte Minoru, auch wenn er sehr genau wusste, dass es in Wahrheit nicht sein dramatischer Einfall mit dem Blut gewesen war, der Kaito störte. „Ich dachte, ich hätte mich letzte Nacht klar ausgedrückt. Jeder Alleingang ist mir lieber als eine mies organisierte Gruppe. Solange wir also zusammen unterwegs sind, erwarte ich, dass so etwas“, er deutete auf die Stelle, wo der Dachs gelegen hatte, „keine verdammte Überraschung ist! Warum haben sich die übrigen Illusionen nicht unter dem Schwert aufgelöst? Und wenn die uns beobachten, haben wir jetzt wohl erst recht ein Problem.“ „Niemand zwingt dich, hier zu sein, Halbblut“, erwiderte Hisoka kalt. „Ach ja? Und wer hat dich eingeladen?“ Hisokas quetschte den Griff seines Schwertes, bis das Leder knarrte. „Das reicht.“ Minoru packte Kaito am Arm und zog ihn dichter an Hisoka heran; Widerstand und Knurren ignorierte er. „Kaito hat recht. Heute ist kein Platz für Stolz und Verschwiegenheit. Also, kann Eure Waffe die Barriere zerschlagen?“ Hisoka sah sie nacheinander an. Es war unschwer zu erkennen, dass er aus verschiedenen Gründen mit keinem von ihnen sprechen wollte. Kaito hätte er vielleicht ignorieren können, aber die Kombination ließ ihm nur wenig Wahl, wenn er sich gleich am ersten Tag mit dem Erben seines Fürsten anlegen wollte. „Es ist nicht die Klinge. Sie ist aurageschmiedet, damit sie dämonische Energien leitet, aber die Zerstörung basiert auf der Interferenz zwischen den Amplituden der Auren in Schwert und Illusion.“ Kaito wandte sich an Minoru. „Nochmal für den Praxisgebrauch.“ „Er muss die Illusion berühren, um das Yōki bewusst überlagern zu können.“ „Definiere ‘bewusst’.“ „Es braucht Einfühlungsvermögen. Den Schwingungen nachspüren, die Wellenlänge annehmen und einen genauen Gegenwert erzeugen, der die Illusion auslöscht. Wir müssen also die Wand selbst finden und ihm Zeit verschaffen, falls die Panther eingreifen. Viel Zeit. Die Barriere wird sicher nicht so einfach gestrickt sein wie die Yōkai. Und mit Pech ziehen sie einfach neue dahinter hoch.“ Mit Kōhei hatte er am See nicht einmal Steine über das Wasser werfen können, ohne dass er sich in derartiger Thematik verloren hatte. Eine Aura war nichts anderes als Wellen dämonischer Energien. Trafen sich die Wellen im richtigen Rhythmus, löschten sie sich gegenseitig aus oder verstärkten einander. Er hatte aus beinahe allem eine Lehrstunde zimmern können, um die Stille zu füllen. Rückblickend war es wohl dumm gewesen, niemals auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass mehr hinter diesem Mann stecken mochte, als ein einfacher Soldat. Hisoka starrte ihn an. Als Minoru seinen Blick auffing, wechselte Blässe zu milder Schamesröte. „Ihr… ich hätte nicht gedacht… nun…“ „Dass ich fern vom westlichen Hof mehr gelernt hätte, als Kaninchen abzuschlachten?“, half Minoru ihm aus. „Überlasst die Gerüchte besser der Dienerschaft, Hisoka. Das ist unter Eurer Würde. Zumindest hatte ich Euer Haus bislang ehrenhafter eingeschätzt.“ Der Ältere sog die Luft scharf ein und sah schließlich zur Seite. Na bitte. Ein wenig Bescheidenheit hatte noch niemandem geschadet. „Prächtig.“ Kaito schulterte Shiokiri und wandte sich dem Wald zu. „Dann suchen wir mal eine unsichtbare, papierdünne Wand - oder zehn hintereinander. Ich liebe diesen Tag jetzt schon.“ Kaito wirkte wie ein unzufriedenes Kind, dem man die Aussicht auf einen angenehmen Sommertag am See vor der Nase weggeschnappt und durch stundenlanges Pauken ersetzt hatte. Er hakte die Klaue hinter eine Perle und drehte murrend die Kette an seinem Hals umher. Natürlich! Minoru griff den Aufschlag seines Kimono und tastete nach dem Lederband, auf das Yumiko in weiser Voraussicht die Perlen des zerrissenen Armbands gefädelt hatte. Sobald die Fuchskoralle in seine Hände fiel, verzerrte sie seine Aura zu einem Grad, der ihm so fremd vorkam, dass er nicht daran denken mochte, wie er jahrelang mit diesem Gefühl gelebt hatte. Kaito machte einen Schritt zurück und Hisokas schwarze Augen wurden weit. „Ihr tragt Fuchskoralle?“ „Nicht mehr.“ Er zog eine der Perlen von dem Band herunter, wandte sich in die Richtung aus der eben die Dämonen gekommen waren und warf. Die Perle flog durch die Luft, dann fiel sie zu Boden. Nichts. Minoru lief ihr nach, nahm dieselbe Perle wieder auf und schleuderte sie in dieselbe Richtung. Erneut flog sie einige Dutzend Meter, dann war sie plötzlich nicht mehr zu sehen. An der Stelle, wo sie verschwunden war, schimmerte die Luft wie die durchsichtigen Flügel eines Insekts. „Du bist ein schrecklicher Streber“, bemerkte Kaito, als er an ihm vorüber schritt. „Aber solange das nicht nur Grünzeug betrifft, könnte es nützlich sein.“ „Wie großzügig.“ „Immer gern.“ Als Hisoka eintraf und die Klinge in die freie Luft hielt, kniete Minoru nieder, um einige Perlen mit dem Knauf seines Schwertes zu Pulver zu zerstoßen. Jetzt bereute er, bei seiner neuen Kleidung auf eng anliegende Ärmel bestanden zu haben, die er nicht schützend über die Handflächen ziehen konnte. Kaito versteifte sich neben ihm und trat dennoch näher heran, die Klinge bereit, ihm etwaige Angreifer vom Hals zu halten. „Danke“, sagte Minoru laut, dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. „Verwandeln kann ich mich trotzdem.“ Wenn das früher trotz des gesamten Armbandes möglich gewesen war, würde ihn ein wenig Staub nun nicht davon abhalten. Das musste aber wahrlich nicht jeder wissen, der gerade auf der anderen Seite der Barriere lauschte. „Konzentriert Euch“, befahl er Hisoka, dann blies er das Pulver am Schwert entlang. Die Barriere flackerte flächig auf, wurde löchrig und barst. Der erwartete Geruch von Panthern schlug Minoru ins Gesicht, gemischt mit dem beißenden Gestank von Rauch, der hier viel deutlicher war als noch hinter der Barriere. Darüber hinaus aber dieselbe Geräuschkulisse und - nichts. Kein Gegenangriff. „Eins von zehn“, brummte Kaito. „Vermutlich.“ Aber immerhin schlossen die neuen Gerüche aus, dass sie die zweite Barriere unmittelbar hinter der ersten hochgezogen hatten. „Weiter.“ 狐 Die Panther huschten durcheinander wie aufgescheuchte Hasen, befestigten neue Blätter an den Bäumen und erweiterten die Illusion primär in Laufrichtung der Inu. Die Abstände zwischen den einzelnen Schichten wurde mit Vorrücken der Inu immer kleiner. Kōhei betrachtete das Schauspiel. Die ausbrechende Unruhe beleidigte seine Ansprüche an Soldaten. War es wirklich so viel verlangt, dass sie im Angesicht einer unerwarteten Stresssituation ruhig blieben und ihre Arbeit koordinierten? Einer der Panther blieb jedoch gefasst. Er bekräftigte die Illusion gewissenhaft, ließ das Geschehen nicht aus den Augen und hatte damit Kōheis Misstrauen sicher. Während die Inu eine weitere hastig errichtete Barriere zum Einsturz brachten, tippte Saburō mit der Klaue auf dem Eichenstamm. „Ich nehme an, du hast ihn davor gewarnt, solche Illusionen einfach zu durchlaufen?“ „Eingehend“, bestätigte Kōhei, der selbst nicht nur einmal Gegner von einer Barriere in die nächste, noch kompliziertere Illusion hatte rennen lassen. Auch reale Flüsse, Klippen oder wartende Armeen hatten sich als amüsant erwiesen. Wieder fiel eine Wand. Mit der Perlen fanden sie nicht nur die Barrieren schneller, der Staub senkte auch das Yōki punktuell so weit herab, dass Akios Brut den Zauber einfacher brechen konnte. Das bemerkten auch die Panther. Als sich die Jungen an der nächsten Illusion zu schaffen machten und die Panther eine weitere aufbauen wollten, hob ihr Anführer die Hand. „Fürstin Toran war sehr deutlich. Den Wünschen der Herrin Shunran ist nur bis zu einem gewissen Punkt zu entsprechen.“ Augenblicklich brach der Aufruhr ab. Sie stellten die Illusionen ein, ihr Anführer griff in seinen Ärmel. Kōhei reagierte ohne jeden weiteren Gedanken. „Mino! Hört sofort auf!" Der Panther warf ein violett glimmendes Blatt auf die letzte Wand, die die Inu von ihnen trennte. Die Katastrophe war eine Frage von Sekunden. Das Blatt berührte die Illusion. Kōheis Wurfmesser traf den Hals des Panthers nur einen Augenblick, bevor die Klinge seines Mitstreiters denselben durchtrennte. Doch die Jungen hatte die Barriere bereits durchbrochen. Sie zerbarst in unzählige, flickernde Teile, die gen Himmel schossen und einen strahlend violetten Ring ins Blau zeichneten. Der von Saburō übernommene Panther hatte derweil einen weiteren seiner Freunde getötet, doch der übrige, sowie alle umliegenden Gruppen entließen nacheinander Leuchtsignale. Sofort spürte Kōhei eine Veränderung in der Luft; ein Aufflammen von Yōki in der Ferne, das den Luftdruck rasch senkte. Weit draußen auf den nun umkämpften Wiesen erhaschte er einen letzten Blick auf den zusammenfallenden Sichtwall. Die Schuppen der Drachen glänzten im Sonnenlicht - und im Widerschein der Energiebälle, die sie vor sich zusammenzogen. Kōhei fuhr herum und stellte entsetzt fest, dass Minoru dastand und in seine Richtung sah. „Drachen!“, brüllte er ihn an. „Lauf! Verdammt, lauf!“ ☾ „Drachen!“ Minoru erstarrte beim Klang dieser Stimme. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er den Vater gefürchtet, der ihn zurück in den Süden schleifen würde. Und heute? Heute wusste er weder. wer dieser Mann war, noch warum sich die vertraute Stimme wie ein Dolch in seinen Rücken grub. Warum musste es ausgerechnet jetzt noch dieses Messer sein? Nun, wo er es am allerwenigsten brauchen konnte. Für einen Moment schlug Minoru die Verbindung zu den Illusionen, doch er kannte Kōheis Aura und Magie. Das war nicht seine Handschrift. Nichts davon. Erst im nächsten Moment dämmerte ihm, was Kōhei eigentlich gerufen hatte. Einen Herzschlag lang stand Minoru wie angewurzelt da. Drachen… Fluchend stieß er die anderen beiden voran, die stolpernd ins Laufen gerieten und seine Befehle zum Glück nicht hinterfragten. Sie preschten durch den Wald. Seitlich zu der Laufrichtung, die die Panther für sie vorgesehen hatten, möglichst weit weg von diesem sonderbaren Leuchten. Dieser verfluchten Zielscheibe, die die Barriere ihnen über die Köpfe gezeichnet hatte. Nur wenige hundert Meter jenseits der Illusion tobte der Kampf. Das reinste Chaos inmitten von Rauchsäulen und Bränden. Kaito fluchte hinter ihm, als sie blindlings durch Oni, Dachse und Wildschweine rannten, die mit Sado-Inu kämpften. „Lauft südwärts!“, rief Minoru den Inu zu. „Sofort!“ Sein Befehl ging in einem Schwall aus Vogelstimmen aller Art unter, die plötzlich durch den Wald schallten. Ein Tengu warf sich ihnen in den Weg. Minoru wollte ausweichen, als ein gleißender Energieblitz die Menge teilte und Wald wie Dämon mit sich riss. Steine, Fleisch und Knochen flogen durch die Luft und Stämme vom Ausmaß eines Oni barsten wie Glas in abertausende Splitter, die sich Geschossen gleich durch Kleidung und Muskel fraßen. Minoru konnte sich nicht erinnern, wie er auf den Boden gekommen war. Sein Rücken schickte flammenden Schmerz bis in die Beine und seine Wahrnehmung war schwammig. Eine Last wich von seiner Brust, als Kaito sich von ihm herunter wuchtete. Sein sonst schwarzes Haar flimmerte von Lichtflecken und Minoru konnte über dem anhaltenden Pfeifen in seinen Ohren nur erahnen, dass sein Vetter weitere Flüche ausstieß. Zu hastig versuchte er aufzustehen und stolperte unbeholfen zwei Schritte über einen Boden, der sich anfühlte, als sei er von einer meterdicken Moosschicht bedeckt. Ehe er stürzen konnte, hatte Kaito die Klauen in einen abgerissenen Baumstamm geschlagen und ihn am Arm gepackt. Keuchend rangen sie noch um Atem, als unweit von ihnen ein weiterer Lichtstrahl folgte. Dann noch einer und plötzlich war es, als schlügen Peitschen durch den Wald. Das Bersten der Bäume und die Schreie sterbender Männer gingen in dem Pfeifen unter, das sich nur tiefer in ihre Köpfe fraß. Minorus Kopf wurde herumgerissen. Kaito hielt ihn mit beiden Händen gepackt und brüllte ihm etwas entgegen, das sich vollends im Schlachtenlärm verlor. Minoru starrte ihn an, als fokussiere sich seine Welt nur auf ihn. Auf die Platzwunde an seiner Stirn, die dickes Blut über sein Gesicht schickte und die Lippen, die stumme Worte schrien. Er versuchte sie zu entziffern, dann aber schwankte sein Blick auf die Schneise der Verwüstung, die der erste Einschlag in den Boden gegraben hatte. Auf einem geborstenen Stamm lag Hisokas Leiche. Das Holz hatte sich durch seinen Rücken gebohrt und war an der Brust wieder ausgetreten. Seine schwarzen Augen blickten leer in den Sommerhimmel. Neben seiner Leiche kämpfte sich ein Oni auf die Beine und taumelte einige Schritte, bevor er zu Boden fiel und zwischen den Überresten der anderen voran kroch. Es war absurd. Das alles hier war absurd und unwirklich. Die Einschläge, die immer noch im gesamten Wald niedergingen, sickerten in Zeitlupe in seinen Verstand und wirkten doch so entrückt von der Wirklichkeit, dass Minoru sie sah, aber doch nicht begriff. Erst als Kaito ihn zur Seite schob und er zurück stolperte, kehrte er ein Stück weit in die Realität zurück. Eine Realität, die einen Augenblick später Grauen wich, als Kaito die Leiche eines Mädchens unter einem Oni hervorzog. Die Glieder seltsam verdreht und schlaff, der Kopf in groteskem Winkel abgestellt, wirkte sie wie eine lieblos fortgeworfene Puppe. Als Minoru ihr blasses Gesicht erkannte, fuhr es ihm eiskalt in die Knochen. Honoka. Kaito kniete neben seiner Schwester. Er betastete mit zitternden Händen ihre Arme, ihr Gesicht und legte seine Stirn an ihre. Schreiend, weinend und mit einer Wut, die lodernd heiß ins Unterholz fegte, zog er die Leiche seiner Schwester an sich. Für einen Augenblick glaubte Minoru, Kaitos Aura schlage an ihm empor. Doch die Welle war vorüber. Dennoch durchfuhr es ihn wie ein zweiter Herzschlag, der in seiner Brust dröhnte und ihm den Atem nahm. Keuchend wich er zurück, stieß gegen eine gewaltige Baumwurzel, die eben noch tief im Erdreich gesteckt hatte. Trockene Erde rieselte auf ihn nieder; kleine Brocken, die ihn in all der Benommenheit und Taubheit wie Ziegelsteine trafen. Dann ein weiterer Schlag. Er presste die Zähne zusammen und erduldete das Gefühl. Nicht Kaito. Die Aura war im Kern ähnlich, aber dennoch lag etwas viel Vertrauteres darin, das ihm genau deswegen entgangen war. Er spürte sich ebenso wenig selbst wie er die eigene Witterung hätte verfolgen können. Doch es war sein eigenes Yōki, das ihm entgegenschlug. Die Waffe an seiner Seite zitterte so heftig wie seine Hände. Fahrig tastete er sich am schmucklosen Holz entlang. Der Griff der Klinge war heiß, als er sie aus der Scheide zog. Dunkle Gestalten, groß wie Kinderhände, krabbelten über Honokas toten Körper, zerrten an ihrer Kleidung, schnüffelten an ihren Haaren und stießen zischende Laute aus. „Leg sie hin.“ Es war seine eigene Stimme, aber er konnte sich nicht daran erinnern, die Worte formuliert zu haben. Geschweige denn, dass er dazu fähig gewesen wäre, dabei diesen ruhigen Ton anzuschlagen. Kaito starrte ihn an. Tränen hatten das Blut verdünnt, das immer noch aus der Wunde an seiner Stirn rann. Er hielt den leblosen Körper an sich gepresst, in seinen Augen das stumme Versprechen, jeden in der Luft zu zerfetzen, der sich unerlaubt näherte. „Leg sie hin, Kaito. Dann hol Hisoka.“ Kaitos Blick flog von Tenseiga zu Minoru. Er knurrte, zitterte. Dann aber schluckte er und bettete sie so sanft vor sich auf den Boden, als fürchte er, sie aus einem leichten Schlaf wecken zu können. Hisoka hingegen wirbelte Aschewolken auf, als Kaito den Inu von seinen Schultern auf den Boden wuchtete. Minoru ließ den Daumen über die Griffbindungen wandern und spürte der Aura der Waffe nach, die nun im Gleichklang mit seinem Herzschlag pulsierte. Eine warme, einnehmende Präsenz, die eine sonderbare Ruhe einkehren ließ. Sie radierte die Fragen aus, die sich in Anbetracht dieser krabbelnden Wesen hätten stellen müssen. Aber Wie und Warum verliefen in Bedeutungslosigkeit. Und mehr noch: Er ahnte instinktiv, was zu tun was. Instinkt?… Nein. Es war Tenseiga. Das Schwert umgarnte ihn und verwob sich mit seiner Aura. Die Klinge glühte in einem samtigen Blau und ließ die Gestalten aufschrecken. Fauchend wandten sie sich ihm zu und fletschten die Zähne. Tenseiga raffte sie mit einem Streich dahin. Sie vergingen in Kreischen und Rauch. Rauch, der über die toten Leiber zog und in Honokas verrenkte Glieder drang. Hisokas Verletzungen lagen tiefer. Gefäße wuchsen zusammen und Gewebe bildete sich neu. Wo zuvor eine Wunde geklafft hatte, lag intakte Haut unter zerrissener Kleidung und einige Holzsplitter, die das heilende Fleisch hinaus gedrängt hatte. Beide schlugen die Augen auf. Während Hisoka sich aufrichtete, war Kaito sofort bei Honoka und presste sie an sich, als wolle er erneut das Leben aus ihr herausquetschen. Er redete auf sie ein, küsste ihre Stirn, ihre Wangen. Doch was er sagte, verlor sich. Zumindest für Minoru. Sein Blick wanderte über die Schneise, die der Energieblitz gerissen hatte. Sie verlief schnurgerade durch den Wald. Wurzeln stachen aus der zerwühlten Erde hervor und reckten sich nutzlos gen Himmel. In der Verwüstung wimmelte es von Todesdienern. Sie hafteten an jedem einsamen Stück Fleisch, das die Druckwelle mitgerissen hatte. Wie geschäftige Ameisen krabbelten sie über die Leichen, zerrten an Armen und stritten um die besten Teile. Die Dunkelheit, die sie wie Rauch umgab, zog den sommerlichen Waldmittag in eine frühe Dämmerung und verwandelte die Szene in das trostlose Schlachtfeld, das es war. Minoru trat in die Schneise und blickte gen Osten. Wo der Wald endete und sich eine freie Fläche andeutete, erhob sich eine graue Wand vor dem Horizont. Rauchgrau. Wabernd und sich regend wirkte sie mehr wie ein lebendiges, atmendes Wesen auch wenn sie ganz genau das Gegenteil war. Drachen. Umgeben von unzähligen Todesdienern reflektierte die Sonne dumpf auf den Schuppen der Bestien. Schwache Schimmer von Rot, Grün und Blau drangen durch die Rauchschwaden, in denen sich die Drachen wie gewaltige Würmer regten. Das war die eigentliche Armee. Nicht die Drachen, die ihre Aufmerksamkeit vom Wald abgewandt und den Kampf auf freiem Feld eröffnet hatten. Nicht die Panther oder die Yōkai, die sich den angreifenden Gruppen der Inu entgegenstellten. Nein. Abertausende von Todesdienern, die ihre Meister wieder und wieder aufs Neue erhoben. Minoru verstärkte den Griff um die Waffe und Tenseiga nahm seine Anspannung bereitwillig auf. Der blaue Schimmer im Mantelstahl wurde eisig. Er wusste, dass er zu weit ging und doch nicht weit genug. Dass er nicht ausreichte und das Feld aus Leichen eines unter vielen war. Tropfen auf den heißen Stein, solange die Drachen das Feuer schürten; solange all das hier als glorreich galt. Aber es war alles, was er tun konnte. Der Schwertstreich zerschnitt die Luft. Ein bläulicher Schimmer, der über das Feld hinweg fuhr und die Todesdiener wie Herbstlaub von den Leichen fegte. Minoru spürte den Wind, den Widerstand von Luft und Tod; die Druckwelle der Aura, die den Staub zu Boden und die Luft aus seinen Lungen presste, während sie über das Feld flog. Nicht weit genug. Er biss die Zähne zusammen und umklammerte das Schwert, das sofort reagierte. Rhythmische Einheit wich Peitschenhieben, die wütend durch seinen Körper schlugen. Jeder Puls nun ein Dolchstoß ins Herz, Säure in seinen Adern. Der bläuliche Schimmer wuchs, breitete seine Schwingen aus und ließ ein schauriges Kreischen erklingen, ehe der glühende Phönix mit einem Flügelschlag den Tod vom Schlachtfeld trieb und seine Klauen in die Brust eines Drachen schlug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)