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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Sesshōmaru gibt sich die Ehre und stattet dem Palast auch während der Schlachten einen Kurzbesuch ab - sehr zur Verwunderung seines Sohnes.
Shippō verkriecht sich vor seinen eifersüchtigen Kameraden bei Kōhei. Eskalierte Feiern und Kinderstreitigkeiten sind jedoch das geringste Problem des Südens... Komplett anzeigen

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in Finsternis versinkt.

Regungslos lehnte Minoru an der Balustrade des überdachten Brückenkorridors aus dunklem Holz, der den Ostflügel mit einem Seitengebäude verband. Die Schiebetüren waren weit aufgestoßen worden und obwohl das Mittagessen schon lange abgetragen worden war, hing der Geruch von Fleisch immer noch in der gedrückten Luft.

Eingebettet in einen natürlich gehaltenen Garten voller Schwarzkiefern sowie grünem und rotem Fächer-Ahorn, war dieser abseits vom Haupttrakt errichtete Komplex einst alleiniger Rückzugsort der Fürstin gewesen. In Ermangelung einer adäquaten Besetzung dieser Position, hatte die Fürstinmutter bereits kurz nach ihrer Ankunft diese Räumlichkeiten abermals bezogen.

Selbstredend war bisher niemand auf die absurde Idee gekommen, Chizuru die Spitzfindigkeit dieses Schachzuges madig zu reden – am allerwenigsten ihr Sohn, der Machtspiele dieser Art in den meisten Fälle lediglich als ermüdend empfand.

Es war der bislang heißeste Tag des Sommers. Selbst auf dem Palastplateau regte sich kein Windhauch, während sich die Hitze innerhalb der Festungsmauern der unteren Wehrkreise wie in einem Kessel staute. Temperaturen, die die streunenden Hunde japsend unter die Häuserböden trieben.

Minoru schloss für einen Moment die Augen und zog die schwere, heiße Luft in seine Lungen, ehe er unschicklich die Ellen breiter auf der Balustrade auflagerte und ein Bein entlastete.

„Junger Herr. Ihr solltet Eure Großmutter nicht in Sichtweite herausfordern“, mahnte Myōga ihn leise, während er sich auf seinem Unterarm niederließ.

Minoru schlug matt lächelnd ein Auge auf und betrachtete den Floh: „Sie könnte auch dich sehen.“

Der alte Berater duckte sich tiefer in eine der Falten, die die ausladenden Ärmel seines Schützlings unvermeidbar schlugen, und stieß einen erstickenden Fluch aus.

Warum musste der Junge auch hier seine Pause verbringen? Es sah ihm nicht ähnlich mehr Zeit als nötig in der Nähe seiner Großmutter zu verbringen – jedoch sah es ihm auch nicht ähnlich, so abwesend dreinzuschauen. Die Weigerung seines Vaters, ihn mit sich zu nehmen, war offen und hart gewesen und damit konnte nicht jeder gut umgehen.

Myōga räusperte sich leise: „Es wäre das Einfachste, Euch dem Willen Eures Vaters zu beugen.“

Minoru stieß ein leises Knurren aus, das Myōga zunächst den Kopf einziehen ließ, dann seufzte er:

„Habe ich das nicht längst? Ich bin hier und tue was man mir aufträgt, beklage mich nicht und werde in diesen elenden Mauern warten, wenn er das will. Ich habe versprochen, keine Last mehr für ihn zu sein und daran halte ich mich.“

„Das tut Ihr in der Tat. Ich muss zugeben, dass ich mich in dem Punkt in Euch getäuscht habe.“

„Du hast mehr Widerwillen erwartet?“, erkundigte sich Minoru halbherzig.

„Sagen wir, ich bin anderes gewohnt.“

„Mein Großvater muss wohl eine wahre Plage gewesen sein. Insbesondere für dich.“

„Ihr habt ja keine Ahnung...“, brummte Myōga zunächst miesepetrig, doch dann wurde er still und starrte auf seine Hände herab. „Entschuldigt. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, seiner überdrüssig gewesen zu sein.“

„Warum sollte das jemand annehmen? Nicht zuletzt erträgst du mich nur seinetwegen.“

Der kleine Flohgeist zuckte sichtlich zusammen und starrte zu Minoru hinauf. „Das ist nicht wahr!“

„Doch, das ist es. Warum sonst solltest du dich auf deiner alten Tage mit meinen Launen herumschlagen, wenn nicht aus Loyalität ihm gegenüber?“

Es war keine Anklage und doch hätte Minoru ihn kaum schwerer treffen können. Der alte Floh warf einen Blick über die Balustrade in den Teich unter ihnen, der vom Frischwasserzulauf aus dem See in den zentralen Gärten gespeist wurde. Die Seerosen standen in voller Blüte und boten zumindest den wenigen, winzigen Fischen Schutz, die träge im klaren Wasser schwammen. Er kannte jeden Ort dieses Palastes seit so vielen Jahren...

„Zu Anfang“, gab der Alte schließlich leise zu. „Ich bin seinetwegen zu Euch gekommen. Davon kann ich mich nicht freisprechen. Doch ich bleibe um Euretwillen.“

Seine winzigen Hände rangen eine Weile miteinander, als befürchte er eine Rüge oder bissige Bemerkung, doch Minoru schwieg, bis der Floh sich erneut gesammelt hatte und den Blick senkte. „Es ist bedauerlich, dass er Euch nicht kannte.“

„Ich weiß nicht, ob mich das nicht maßlos überfordert hätte. Ich bin mit dem Versuch bedient, meinen eigenen Vater zu verstehen.“

„Was er gestern zu Euch sagte...“, Myōga räusperte sich unangenehm berührt. „Er versteht Euch ebenso wenig. Sesshōmaru-sama hat sich nie gefragt, ob ihm etwas zusteht. Er wollte Tessaiga um jeden Preis. Viele Jahre lang hat er versucht, Inuyasha zu töten, obwohl der Wunsch meines Meisters deutlich war. Für ihn wäre nur natürlich, wenn Ihr ebenso handeln würdet – auch wenn es hieße, sich gegen seinen Willen zu stellen.“

„Er kann unmöglich wollen, dass ich ihm zuwider handle.“

„Natürlich nicht! Aber er ist ebenso wenig daran gewöhnt, Vater zu sein, wie Ihr es gewohnt seid, in dieser hohen Erwartungsposition zu stehen. Als Vater wird er niemals wollen, dass Ihr ihm die Stirn bietet, aber aus seiner Sicht wäre das eine logische Handlung, solange sie zielführend ist. Er hat erlebt, wohin Bescheidenheit und Nachsicht führen können und will sicher nicht, dass Ihr eines Tages daran zugrunde geht.“

Minoru blickte ungläubig auf den kleinen Dämon herab. „Als ob ich je auf die bescheuerte Idee kommen könnte -“

„Verleugnet Euch nicht selbst“, erwiderte dieser mahnend. „Ich könnte Euch ohne lange Überlegung einige Situationen nennen, in denen Ihr die Veranlagung für derartige Handlungen bereits mit Bravur dargelegt habt – und noch einige mehr, die Sesshōmaru-sama selbst betreffen. Aber darum geht es nicht. Ihr müsst Euch dem Fürsten beugen und gleichsam aufrecht stehen. Niemand mit nur einem Funken Verstand wird Euch darum beneiden, diesen schmalen Grat in seinem Schatten bestreiten zu müssen. Aber wie Ihr bereits erkannt habt, ist dies der einzige Weg für Euch.“

„Wie beruhigend“, seufzte Minoru und stieß sich schwermütig von der Balustrade ab, während Myōga geübt auf seiner Schulter landete.

Der Flohgeist machte es sich in der weichen Seide bequem, während Minoru den Weg zurück zu seinen Unterrichtsräumen antrat. Nach einigen Augenblicken der Stille, wandte sich der kleine Berater schließlich erneut an seinen Schützling:

„Lasst mich Euch noch einen guten Rat an die Hand geben, junger Herr. Dass Ihr keine Belohnung ohne eigene Leistung anstrebt, ist löblich. Zweifel und unangebrachte Bescheidenheit jedoch schlicht dumm. Er ist zu den Wölfen zurückgekehrt, um Euch nach Hause zu holen. Euch persönlich. Sesshōmaru-sama ist nicht sonderlich sentimental – sein Sohn zu sein, dürfte kaum ausreichen, um in seiner Nähe atmen zu dürfen.“ Er betrachtete Minoru mit Nachdruck. „Es sollte Euch schnellstens etwas Klügeres einfallen als die Entscheidungen des Fürsten durch Eure eigene Unsicherheit in Frage zu stellen. Bis Ihr das verstanden habt, wird er Euch sicherlich nicht erlauben, diesen Ort zu verlassen. Was will er dort draußen mit einem Jungen voller Zweifel und Misstrauen?“

„Ich misstraue ihm nicht“, widersprach Minoru bissig.

„Nein, das nicht. Aber niemand wird Euch folgen, solange Ihr Euch selbst kein Vertrauen schenkt.“

Minoru brummte etwas, das sich schwer in Zustimmung oder Ablehnung einordnen ließ, sah jedoch davon ab, die Unterhaltung weiterzuführen. Im Innern des Palastes hatten Wände Ohren und mit Chizurus Hofdamen waren einige sehr hellhörige Exemplare hinzugekommen. Minoru konnte dankend darauf verzichten, in den nächsten Tagen eine Anstandspredigt der Fürstinmutter zu erhalten.

Und dennoch blieb die Frage, was seinen Vater für eine einzelne Nacht zurück in den Palast getrieben hatte, während an den Ostgrenzen die Kämpfe tobten; ja, selbst Ryouichi wieder ausgerückt war. Die tiefen Risse in Tenseigas Klinge wollten Minoru dabei nicht aus dem Kopf. Stünde es schlecht um die Waffe, waren sie alle dem Abgrund ein ganzes Stück näher gerückt.
 


 

Drachen. Kōhei war allein bei dem Gedanken an sie so schlecht geworden, dass ihm beinahe der Becher mit heißem Tee aus den Händen gefallen wäre, als der Fürst es ihm eröffnet hatte.

Die ersten Berichte waren von Wasserdrachen ausgegangen, die aus ungeklärten Gründen ihr einzelgängerisches Leben an den Nagel gehängt hatten, um marodierend durch die Lande zu ziehen. Aber spätestens eine unmittelbare Nachricht aus dem Osten hatte jede Hoffnung zu Asche verbrannt.

Es handelte sich eindeutig um jene Drachen, die vor über zweihundert Jahren im Krieg gegen die Inu ihr Leben gelassen hatten. Auferstanden aus dem Reich der Toten und wiedergekehrt, um Rache zu nehmen – und wie man sie kannte, würde diese auch im Tod des letzten Inus keine Erfüllung finden. Ryūkotsusei würde seiner üblichen Philosophie folgen und jeden trockenen Fleck Erde in Japan beanspruchen und unterwerfen. Er hatte nichts zu verlieren. Immerhin war er bereits tot. Bisher waren zwar noch keine Berichte eingegangen, die von dem Aufleben dieser herrischen Echse kündeten, doch Shisuna war gesichtet worden – und das war mindestens genauso schlimm.

Unter dem Befehl dieses sandfarbenen Ungetüms suchten die Drachen bereits die Länder im Osten heim, fielen über große Teile der Ebenen her und setzten den Inu an den Grenzen der Panther zu. Die Menschen der dortigen Gebiete waren in Scharen geflohen und all jene, die es nicht schnell genug in sichere Ferne geschafft hatten, waren als Opfergaben für die wiederkehrenden Yōkai verbraucht worden.

Niemand wusste genau, wie die Panther die Grenze zwischen Leben und Tod verwischten, zumal Kontakt zur Unterwelt für gewöhnlich eine Spezialität der Inu war. Doch es war bekannt, dass ihr Volk über diese Fähigkeit verfügte. Wer auch immer bei der Verteilung von neunfachem Leben Katzen den Zuschlag gegeben hatte, hätte dabei besser absichern sollen, dass diese übellaunigen Biester keine Chance hatten, diese Leben mit anderen zu teilen.

Es war schlicht unmöglich so verzweifelt und dumm zu sein, ausgerechnet Drachen aus dem Tod zu erheben. Als sei die bisherige Lage nicht verzwickt genug gewesen!

Der Fürst hatte versucht, den Westen in seinem unstillbaren Expansionsbestreben einzudämmen, hatte viel riskiert und viel verloren ohne eine sichtliche Besserung der Lage zu erreichen. Wenn die Zeit für sie gekommen war, würden die Inu erneut vorrücken und eines Tages würde kein neutraler Boden mehr zwischen ihnen und den südlichen Landen existieren – wenn sie darauf nun überhaupt noch Rücksicht nahmen. Der Osten verhielt sich wie ein nervöses Nest in die Ecke gedrängter Katzen und erlebte bereits wie es war, unmittelbarer Nachbar der Hunde zu sein.

Die Wölfe konnten die Inu nicht ausstehen und im Gegenzug verhielt es sich sicherlich nicht anders, doch da war immer noch Rumoi no Nobu – und nur die Jikan allein wussten, wie sich dieses Monstrum von einem Ōkami im Ernstfall verhalten würde. Kōhei wollte lieber nicht wetten, dass es je einen Krieg geben würde, an dem der nicht teilhaben wollte – ob mit einem Auge oder nur einem Bein war dabei gänzlich irrelevant.

Und nun fielen über dieses hinreichende Chaos auch noch Drachen her! Wenn die Inu während ihres Daseins eines richtig gemacht hatten, dann war es eindeutig die Vernichtung dieser Brut gewesen.

Zu demselben Schluss kam auch Saburō. Jegliches Lächeln erstarb augenblicklich auf seinen Lippen, während sein Vater dem Rat und der Heerführung von den Neuigkeiten berichtete, die das Schreiben der Panther gen Süden getragen hatte.

Er nahm sich ausnahmsweise zurück und lauschte lediglich den hitzigen Diskussionen des Rates, ebenso wie er jedem Wort Kōheis bezüglich des Heereszustandes aufmerksam folgte. Seine Miene ließ zu keinem Zeitpunkt feststellen, was er von dem Entschluss halten mochte, der vorsah, das Militär zu stärken und sich darüber hinaus nicht in fremde Kriege einzumischen. Aber es bedurfte nicht allzu viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass er Untätigkeit nicht für die klügste Lösung hielt. Generell schien er die meisten Entscheidungen seines Vaters zu missbilligen – und im Hinblick auf diese konnte er damit durchaus richtig liegen.

Nun schienen auch die Scharen niederer Dämonen, die in den vergangenen Wochen das Land auf dem Weg nach Nordosten durchquert hatten, Sinn zu ergeben. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie sich den auferstandenen Kriegstreibern anschließen würden, wenn es bedeutete, dass sie damit der Vergeltung entgehen konnten, die Untätigkeit mit sich brachte. Opportunisten hatte es in jeder Schlacht gegeben und viele von ihnen wussten, dass sie auch im Dienst der Drachen für oder durch sie sterben konnten, doch das war einigen lieber als sich später auf der Seite der Verlierer wiederzufinden und ein Leben auf der Flucht zu führen.

„Die Kitsune haben sich nie in die Fehden anderer eingemischt“, mahnte eines der Ratsmitglieder zu Kōheis Linken. „Weder als die Invasoren vom Festland kamen noch als Tadahisa seine Pantherdämonen aus dem Osten führte – und gleichsam waren wir uns vor zweihundert Jahren an diesem Tisch einig, dass der Krieg gegen die Drachen keine Ausnahme darstellt. Es gibt keinen Anlass von diesem Kurs abzuweichen.“

Kōhei warf einen knappen Blick auf den Mann, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem ganzen Raum zuteil werden ließ, um möglichst neutral zu wirken. Yasuo-dono hatte bereits sein halbes Leben lang den äußersten Westen Shikokus vertreten – die Region Iyo. Ein schlanker, auch im Alter noch recht ansehnlicher Mann, der sich jedoch stets als ambitionslos und zurückhaltend erwiesen hatte.

Wie erwartet stimmten die drei übrigen Vertreter der Insel diesem in jeder Hinsicht zu und Kōhei nahm durchaus wahr, dass auch Saburō davon nicht sonderlich überrascht war. Shikoku war letzten Endes eine Insel und würde zuletzt fallen, während Izumi und Settsu im Osten des Reiches jeglichem Feind zuerst gegenüberstünden – vermutlich die einfachste Erklärung dafür, dass die beiden Verantwortlichen dieser Regionen die Nachricht deutlich schlechter aufgenommen hatten als die Übrigen: Der eine war unnatürlich blass, während sein junger Kollege beinahe verbissen ernst erschien. Geäußert hatte sich bisher keiner der beiden.

Auch Fürst Hayato hatte, nachdem er die Nachricht aus dem Osten verkündet hatte, kein Wort mehr gesagt. Er saß im Schneidersitz, die Hände gelassen auf den Oberschenkeln ruhend, und lauschte wie üblich schweigend der Diskussion, die man schwerlich als solche bezeichnen konnte. Diese Sitzung würde nichts Neues hervorbringen. Shikoku hatte kein Interesse an einem Krieg und der Rest der Provinzen würde sich der vermeintlich sicheren Neutralität verschreiben, die die Kitsune bisher alle Krisen hatte überdauern lassen.

„Ich verstehe, dass es für uns alle im ersten Moment eine Beunruhigung darstellen mag, dass die Drachen erwacht sind“, meinte ein anderer an, „doch sollten wir nicht aus den Augen verlieren, wer ihr wahres Ziel ist: Die Panther haben die Drachen des Westens wegen erweckt. Für Echigo, Uzen und die neuerliche Niederlage im Norden. Und es waren auch die Inu, die die Drachen ausgerottet haben. Ihre Aufmerksamkeit wird nicht uns gelten, ehe sie den Westen übernommen und jeden Hund niedergestreckt haben.“

„Sollte das aber in einigen Jahrhunderten eintreffen-“, hob jemand vorsichtig an, wurde aber prompt von seinem Vorredner unterbrochen.

„Sesshōmaru hat, soweit wir wissen, Tenseiga von seinem Vater erhalten. Diese Waffe mag zwar damals ein schlechter Scherz des Taishōs gewesen sein, wird aber nun seinen Dienst tun. Es wäre unklug, sich nun für eine Partei zu bekennen. Beide sind expansiv und würden uns auf kurz oder lang zur Gefahr – sollen sie sich gegenseitig abschlachten und wir kümmern und zu gegebener Zeit um den Rest.“

„So betrachtet ist es für uns eher ein Glücksfall, dass der Westen nun wieder ein Gegengewicht erhalten hat“, pflichtete Yasuo dem Mann bei und nickte zufrieden. „Unsere Aufgabe ist es, nicht in diese Angelegenheit hineingezogen zu werden. Wir müssen uns aufbauen, solange sie miteinander beschäftigt sind, ohne dass eine der Fraktionen unsere wachsende Stärke als Bedrohung oder Hoffnung wahrnimmt.“

„Beziehungsweise dafür Sorgen, dass sie nicht bemerken, was wir wirklich vorhaben, nicht wahr?“, tönte es scharf von der Seite. Saburō hatte seinen leeren Becher abgestellt und betrachtete die Männer in der Runde nun offen. Die Atmosphäre schlug augenblicklich von zarter Einigkeit in Anspannung um, während er sprach und wurde annähernd panisch, als Hayato sich seinem Sohn zuwandte. Doch der Fürst sagte abermals nichts und Saburō fuhr ebenso schneidend fort: „Die Annahme, sie seien naiv genug, diesen Zug nicht vorherzusehen, ist lächerlich. Das Heer ist den Ausführungen des Generals zufolge ausreichend groß, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die wiederholten Anfragen des Ostens dürften auch dem Letzten beweisen, dass es längst wahrgenommen worden ist. Wenn der Süden sich verschanzt, um aufzurüsten, ohne dem Osten die angeforderte Hilfe zukommen zu lassen, werden wir die Konsequenzen tragen.“

„Uns abzustrafen würde verlangen, dass sie an zwei Fronten kämpfen. Nur ein Narr würde das in Erwägung ziehen!“, kam es harsch vom anderen Ende des Tisches.

„Ihr habt natürlich recht, Yasuo-dono. Nur ein Narr würde das provozieren. Ebenso wie nur Narren akribisch darauf achten, in einem Krieg gegen den Norden Sesshōmarus Intervention offen zu provozieren – oder Drachen zurückzuwünschen. Das würden in der Tat nur Narren versuchen. Im Übrigen: Habt ihr ein Himmelsschwert oder jemanden, bei dem wir es uns vielleicht ausborgen könnten, wenn die Toten vor den Toren stehen? Wenn dem so wäre, wäre ich beinahe bereit, diesen Unsinn weiter zu verfolgen.“

Er warf Yasuo einen vielsagenden Blick zu, der den Alten verstummen ließ, und schenkte sich ungeniert Tee nach, ohne auf den Diener zu achten, der panisch nach vorn stolperte, nur um sich sofort wieder zurückzuziehen, als der Becher bereits ohne sein Zutun halb gefüllt war.

„Wir haben keine Möglichkeit auch nur einen dieser Drachen zurück in die Unterwelt zu schicken – unabhängig von der Stärke unserer Armee. Wenn sie die Inu schlagen, steht Japan erneut unter der Herrschaft der Drachen. Ich bin zu jung, um zu wissen, was dies wirklich bedeutet – so wie sich auch sonst niemand mehr an eine Zeit erinnern kann, in der die Drachen die alleinige Macht innehielten. Dennoch kam vor zweihundert Jahren allgemeine Erleichterung auf, als die Inu sie vernichteten. Und ich meine mich zu erinnern, dass jemand einmal sagte, es sei der Verdienst der Hunde, dass diese Wesen endlich fort seien. Ich weiß bedauerlicherweise nicht mehr, wer das gewesen sein mag.“ Er sah zu seinem Vater hinüber, der ihm ein schmales und künstliches Lächeln schenkte.

Kōhei senkte den Blick auf die feinen Muster im polierten Holz des Tisches und wägte ab: Es war in der Tat unwahrscheinlich, dass eine Aufrüstung unbemerkt vonstatten gehen würde. Die Inu hatten vermutlich keine Kapazitäten, um die sich aufbauende Bedrohung im Keim zu ersticken, solange sie mit den Drachen beschäftigt waren – wohingegen einige untote Drachen ausreichen würden, um den Süden zu vernichten. Es würde dauern, das ja, aber es würde sie nicht daran hindern, ihren eigentlichen Krieg weiterhin zu führen. Andererseits hinderte die Echsen auch nichts daran, den Süden hinten an zu stellen: Wenn die Inu erst einmal aus der Welt geschafft waren, konnten sie sich in aller Ruhe Fürst Hayatos „neutraler Aufrüstung“ zuwenden.

„Ich gebe dem Kōtaishi recht“, bemerkte Ren ernst. Das neue, junge Gesicht der Provinz Izumi hatte erst kürzlich den bedauerlichen Taichi beerbt, der nach seiner unglücklichen Auseinandersetzung mit Saburō als für alle deutlich sichtbare Mahnung an den Palastmauern verrottete. „Sobald die Drachen sich gegen uns wenden, unabhängig davon wann sie es tun, sind wir verloren. Derzeit scheinen sie mir jedoch nicht feindlich gesinnt. Die Panther haben uns um Hilfe ersucht und die Chancen des Westens stehen ohnehin schlecht. Tenseiga ist eine einzelne Waffe gegen eine Schar untoter Dämonen. Er wird verlieren.“

„Eine einzelne Waffe, der nachgesagt wird, dass sie mit einem einzelnen Streich einhundert Untote vernichten und hundert Seelen ins Leben zurückrufen kann“, erwiderte Saburō ungerührt. „Ich nenne das einen Masseneffekt.“

„In der Tat. Aber wenn er dazu in der Lage wäre, hätte der Inu no Taishō sich dessen längst bedient“, kam es stumpf zurück. „Sesshōmaru kann nicht überall sein.“

Etwas an der Art, in die sich dieses Gespräch bewegte, bereitete Kōhei Unbehagen. Das war nicht der zu erwartende, übliche Verlauf einer Ratssitzung, die stets demselben Muster folgte.

„Was schlagt Ihr also vor?“, Hayatos Klauen tippten mittlerweile ungeduldig auf den Lack vor ihm. Er liebte es nicht gerade, wenn jemand seine Schlussfolgerung zu lange in der Hinterhand behielt.

„Es sind alles Mutmaßungen, die wir hier anstellen, aber liegt auf der Hand, dass die Drachen mit großer Wahrscheinlichkeit siegen werden. Wir sollten das bisher bestehende Wohlwollen pflegen und zurückmelden, dass wir uns rüsten, um ihnen zur Seite zu stehen. Das verschafft uns etwas Zeit. Es sollte unser Ziel sein, lebend aus diesem Krieg hervorzugehen. Das ist der sicherste Weg, den ich dafür sehe.“

„Es ist der sicherste Weg, sich versklaven zu lassen“, warf Saburō harsch ein. „Von einem Herrn, der niemals sterben wird.“

„Wir wissen nicht, was geschieht, wenn die Drachen gewinnen – nur, dass wir tot sein werden, wenn wir an diesem Sieg nicht beteiligt waren“, entgegnete Ren bestimmt. „Die Inu haben keinerlei Verbündete. Die Drachen wären mit uns deutlich in der Überzahl.“

„Das wäre alles für heute“, entschied Hayato ohne jegliche Vorwarnung und betrachtete die Ratsmitglieder der Reihe nach – Kōhei und seinen Sohn ließ er dabei aus. „Ihr dürft Euch entfernen.“

Während der Rat sich erhob und vor seinem Fürsten verneigte, um sich zu verabschieden, flog Kōheis Blick über Saburō, dessen Bernsteinaugen unmittelbar auf ihn gerichtet waren und ihn zu versengen drohten. Sie hatten seit der eskalierten Feier vor einigen Wochen nicht mehr miteinander gesprochen und es war Kōhei nach den Ereignissen überaus unangenehm, dem Erben des Südens in die Augen zu sehen. Er wusste nicht, was der Silberfuchs zu bezwecken suchte, aber die Art, wie das fordernde Funkeln mit einem Wimpernschlag erlosch, als der Fürst sich ihnen zuwandte, war hinreichend, um zu wissen, dass es ihm nicht gefallen würde.

Saburōs Aufmerksamkeit wandte sich augenblicklich seinem Vater zu: „Es wäre Wahnsinn, auch nur in Erwägung zu ziehen -“

„Genug davon“, unterbrach dieser ihn streng. „Ich habe dich nicht hergeholt, um mich an deiner infantilen Weisheit zu laben. Du hast andere Qualitäten und es wird höchste Zeit, dass du tust, wozu du taugst.“

Langsam fuhr Saburō mit den dunklen Klauen durch das dichte Fell an seiner Schulter und striegelte die feinen, schwarzen Härchen glatt, während er seinen Vater lauernd musterte: „Interessant. Kommen wir also nun zu den Aufgaben, für deren Erfüllung Ihr mich ertragt?“

„Ich ertrage deine Arroganz aus diversen Gründen.“

„Ich bin gerührt, Eurer Geduld wert zu sein, Vater“, säuselte er höhnisch. „Worum geht es hier also?“

„Um den Westen.“

Saburō lächelte matt: „Um den Westen oder Euer misslungenes Intrigenspiel?“

Die Augen des Fürsten wurden gefährlich klein und der Blick, der Kōhei streifte, ließ ihn beinahe zusammenzucken.

„Euren General trifft keine Schuld“, merkte Saburō beiläufig an, während er den Tee auf dem Tisch drehte, bis ein feiner Strudel die Kräuterpartikel abwärts riss. „Es sind ausreichend Lücken vorhanden, und gerade in einer solchen Angelegenheit – ein riskantes Unterfangen. So ein kleiner Hund wirft große Fragen auf und wer möchte schon gebissen werden, wo der Vater ein so unleidliches Gemüt hat? Ich nehme an, Ihr habt ihn daher aus dem Palast bringen lassen – von wo aus er Euch folglich dummerweise entwischt ist. Warum hat ihn niemand zurückgeholt? Es wäre doch wohl keine Herausforderung gewesen, ein ausgerissenes Kind aufzusammeln.“

„Kōhei.“ Der Fürst machte eine abfällige Handbewegung, um seinem General das Wort zu erteilen.

„Die Entscheidung fiel gegen den Versuch, ihn zurück nach Hause zu zwingen. Die Berater waren sich einig, dass er ohnehin nicht lange in den Wäldern überleben könne, wenn er nicht zeitnah von allein zurückkehrte und dass eine Suche zu viel Aufmerksamkeit erregen würde.“

Der junge Silberfuchs musste nichts sagen, um auszudrücken, wie viel er von dieser Beratung hielt und meinte stumpf: „Tot ist er jedenfalls nicht.“

„Nein. Als ich Minoru zufällig fand, stand er bereits unter dem Schutz des Taishōs.“

„Er kennt Euch demnach?“, fragte Saburō ruhig.

„Er hielt mich lange Zeit für seinen Vater.“

Nun sah auch Saburō absonderlich überrascht aus: „Euch?“

„Kinder glauben oft, was man ihnen erzählt“, erwiderte Kōhei ausweichend, doch die Härte, die daraufhin in Saburōs Augen trat war beinahe noch sonderbarer als die Überraschung, die sie zuvor ausgedrückt hatten.

„Das tun sie“, bestätigte er gefährlich glatt. „Demnach weiß aber auch der Inu no Taishō davon.“

Kōhei war nach Seufzen zumute, aber er kämpfte das Verlangen herunter, sich derart gehen zu lassen: „Davon ist auszugehen.“

Saburō lachte herb auf. „Welches Kind versuchen wir hier aus dem Brunnen zu ziehen? Sesshōmaru ist kein Narr. Er weiß längst, wem er diese öffentliche Demütigung zu verdanken hat.“ Sein Blick glitt zum Fürsten, dessen Züge nichts preisgaben.

„Auch das ist anzunehmen“, bestätigte Kōhei abermals. „Dennoch war er bisher nicht hier und nun hat er andere Prioritäten.“

„Ein Vorbild, dem zu folgen wäre“, sagte Hayato ernst und wandte sich an seinen Sohn. „Priorität haben die nächsten Jahrhunderte. Unabhängig vom Für und Wider der Koalition mit den Panthern muss dieser Hof gesichert werden.“

Saburō lächelte schmal: „Da bin ich ausnahmsweise Eurer Meinung.“

Der Fürst überging den eigentümlich süffisanten Unterton in diesem Zugeständnis, den er nur schwer überhört haben konnte, und ließ ein ebenso dünnes Lächeln über seine Miene huschen: „Hin und wieder ist der kleinste gemeinsame Nenner, der einzige, dem es bedarf.“

„Was wünscht Ihr also?“

„Du wirst besagte Lücken schließen“, antwortete der Fürst. „Es dürfte dir nicht schwer fallen, Personen verschwinden zu lassen, ohne dass es auf dich zurückfällt.“

Dieses Mal unterblieb jeder noch so spitzfindige Kommentar. Das einzige, dass sich auf Saburōs Miene abzeichnete, war kühle Kalkulation – und das war deutlich unheimlicher als sein übliches Gemüt.

„Kōhei weiß um jeden Beteiligten und genießt mein vollstes Vertrauen“, fuhr Hayato schließlich fort. „Er wird dir helfen.“

Kōheis Blick fand den des dunklen Erben: Kalt, voller Genugtuung und ein wenig belustigt. Dem General lief es schaudernd den Rücken hinab.
 


 

„Die Entscheidung eures Urgroßvaters, hier sesshaft zu werden, wurde wahrlich nicht von allen Stämmen mit getragen, aber sie haben sich schlussendlich dem Willen des Taishōs gebeugt. Dem Hörensagen nach, war er kein Mann, dem man gern widersprach – wobei sie das alle nicht waren“, Myōga räusperte sich. „Natürlich gab es auch solche, die dem Vorhaben zustimmten. Die Inu der Insel Sado, zu denen auch Ryouichi gehört, sind stets ortsständig gewesen. Auf dem kleinen Fleckchen Erde gibt es kaum genug Platz, um sich allzu weit von der Siedlung zu entfernen, bevor man mit beiden Beinen im Wasser steht. Und auch für die Familie Eurer Mutter erwies es sich durch die Totenwache als sinnvoller, niedergelassen zu sein.“

Minoru hätte an dieser Stelle gern nachgehakt, doch verlangsamte er stattdessen seine Schritte und ließ die Hand wieder sinken, mit der er gerade die Tür zum Unterrichtsraum hatte aufschieben wollen. Etwas stimmte nicht. Eine schwer greifbare Anspannung lag in der Luft, so als habe sich unbemerkt ein Sommergewitter zusammengebraut, das allmählich über den Tatami kroch.

Myōga fuhr mit gleichbleibender Tonlage unbeirrt fort: „Natürlich brachte der Herrschaftssitz der Familie Eures Vaters nicht die Ruhe, die andere damit erhielten. Immerhin galt es weiterhin den gesamten Westen zu beanspruchen und nicht nur diese Mauern zu verteidigen.“

Woran wir hiermit wohl vollkommen gescheitert wären, dachte Minoru bitter, als die stehende Sommerhitze aus dem Raum vor ihm eine süßliche Note vernehmen ließ, die er nur allzu gut kannte. Verwesung neigte dazu, just in dem Moment einzusetzen, in dem die Körperfunktionen zum Erliegen gekommen waren – insbesondere bei diesen Temperaturen. Das Ergebnis war ein unverwechselbarer Geruch, der sich irgendwo zwischen penetranter Blumenwiese und abstoßendem Körpergestank ansiedelte. Nicht unangenehm, aber eindeutig zu stark.

In der Hoffnung, Chizuru noch in ihren Räumlichkeiten anzutreffen, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte den Weg zurück. Doch er kam nicht weit. Zeitgleich mit dem tosenden Bellen streunender Hunde, das zum Palast hinauf schallte, wurden hinter ihm Türen aufgerissen. Fauchen mischte sich mit Gebell und Soldaten riefen allerorts den Alarm aus, bis sie von einem lauten, metallischen Brüllen übertönt wurden. Minoru rutschte aus vollem Lauf um eine Flurecke, den panischen Flohgeist auf der Schulter. Er nahm noch wahr, wie auch der Palast zum Leben erwachte, Geschrei auf den Gängen laut wurde und weitere Türen aufgerissen wurden – dann splitterte das Holz. Tatami wurden vom Boden gerissen, Balken entzwei gebrochen und Papierschirme zerfetzt. Der Widerhall des Knalles erreichte den Honmaru erst, als Großteile des Palastes in sich zusammengestürzt waren.

Geistesgegenwärtig den Körper möglichst nah an den Boden gepresst, war Minoru den meisten Geschossen entkommen und nur unter leichtem Schutt begraben. Er rollte auf den Rücken, trat einen abgebrochenen Türrahmen über sich zur Seite und kroch hustend einige Meter voran. Die brennende Mischung aus Rauch und Holzmehl aus den Augen reibend, sah er zum Dach empor, an dessen Stelle ein klaffendes Loch den Blick auf einen trüben Mittagshimmel freigab. Das Dachgestell und die Schindeln, die nicht mit der Druckwelle fortgefegt worden waren, hatten sich auf die geschundenen Reisstrohmatten ergossen und nun erst dämmerte Minoru allmählich, dass er inmitten der scharfen Tonscherben kniete und sich die Handflächen aufschnitt.

Er fühlte sich benommen und durch die Mangel gedreht. Seine Sinne vollends auf den Kopf gestellt. Die Sicht war eingeschränkt, alles roch nach Staub, Rauch und einem sich ausbreitenden Schwelbrand und das lästige Fiepen in seinen Ohren legte sich nur langsam. Ansonsten war es eigentümlich still. Mühevoll rappelte Minoru sich auf und sah sich nach Myōga um, doch von dem Flohgeist fehlte jede Spur.

„Myōga?“ Mehr als ein Flüstern wagte er nicht hervorzubringen, doch als sich zu seiner Rechten tatsächlich etwas bewegte, fuhr er instinktiv zusammen. Halb unter einem Haufen scharfer Schindeln begraben, rührte sich stöhnend ein nur leicht gerüsteter Pantherkrieger. Die pelzigen Beine waren mehrfach gebrochen. Knochen stachen in abnormalen Winkeln aus der Haut hervor und die Atmung des Dämons ging flach. Minoru stieß ein tiefes Knurren aus, als der Geruch von Katzenblut ihm so unverfroren ins Gesicht spuckte und seine übrigen Sinne sich allmählich erholten.

Die Stille im Palast war nichts als Schein gewesen. Keifende Männer, klirrender Stahl und verzweifelte Rufe klangen aus scheinbar allen Richtungen heran. Ein hohes Kreischen erstarb abrupt; abgehakt. Schnelle Schritte in der Nähe erinnerten den jungen Erben daran, dass es vermutlich keine glanzvolle Idee war, auf dem Gang zu stehen und einem Mondkalb gleich den verletzten Feind anzustarren.

Den angeschlagenen Kreislauf verfluchend, schlüpfte er durch eine zerstörte Wand, in der Hoffnung, im Nebenraum mehr Sicherheit zu finden. Stattdessen fühlte er sich, als sei er gerade aus einem Walddickicht auf eine offene Lichtung gefallen: Der einstige Flur, der entlang des Festsaales verlief, welcher nach Belieben durch Aufziehen von Schiebetüren erweitert werden konnte, war nun ein Teil der großen Fläche. Die Türrahmen und Holzverkleidungen lagen überall am Boden verteilt und was von den Papierbezügen noch übrig war, pappte in groteskem Hohn an dem, was sich einst gegenüberliegende Wand hätte schimpfen können. Das Dach schien hier immerhin weniger in Mitleidenschaft gezogen als noch einen Raum weiter, doch war es äußerst unbehaglich auf einer derart freien Fläche zu stehen.

Erneut orientierte sich Minoru in Richtung Fürstinnenkomplex, rannte barfuß über den nun rauen Tatami und bog etwas übereifrig weiter ins Palastinnere ab. Natürlich hätte er in den Garten laufen und versuchen können, über die Mauern einen Weg aus den Kämpfen zu nehmen. Aber der Weg dorthin war ein langer Sprint auf freiem Gelände und die Steinwände steil und hoch. Dahinter eine weite, offene Fläche. Mauern schienen eine gute Idee, solange die Bedrohung tatsächlich vor ihnen verblieb. So allerdings...

In der Nähe der Küche verlangsamte er seine Schritte. Ein Schaben von Holz und Stein drang von nicht allzu fern heran, verstummte für ein paar Sekunden und begann dann unter einem wütenden Knurren erneut. Minoru spannte die Schultern an und bereitete sich auf ein unangenehmes Zusammentreffen mit den Panthern vor, als eine Kinderstimme erklang: „Gleich, Eiji! Ich glaube, er hat sich bewegt. Versuchs nochmal!“

Minoru verdrehte die Augen .So unbedarft dämlich konnten in solchen Momenten vermutlich tatsächlich nur Kinder sein. Er trat um die Ecke und blickte in die geschockten Gesichter der beiden Jungen, die erst vor wenigen Monaten die halbe Küche zerlegt hatten. Das Dach über ihnen hing gefährlich locker in seinen Verankerungen und dort, wo der eine von ihnen am Boden lag, war es bereits anteilig heruntergekommen. Der Kleine lag auf dem Rücken und versuchte verzweifelt, sich von einem schweren Balken zu befreien, der ihn von der Hüfte abwärts unter sich begraben hatte. Verbissen wand er sich von einer Seite zur nächsten und knurrte vor Schmerz und Frustration, während sein Freund, das schwarze Haar von all dem Staub fast grau, verzweifelt den Balken umklammert hielt, ohne ihn auch nur im Geringsten zu stützen, und Minoru anstarrte, als habe er einen Geist gesehen.

Dann erwachte er wieder zum Leben: „Kōtaishi!“

Der gab ihm mit einem Zischen zu verstehen, dass er den Mund halten solle, was den Jungen in seiner Aufregung nicht wirklich erreichte. „Bitte, Eiji steckt fest! Ich kann nicht-“

„Wenn du nicht gleich still bist, steck' ich dich auch unter den verfluchten Balken“, fauchte Minoru leise und betrachtete das massive Dachstück einen Moment lang skeptisch, bevor er selbst versuchte, es hochzudrücken. Kaum verwunderlich, dass die Kinder es nicht hatten bewegen können. Sie waren kaum halb so groß wie er und auch für ihn war dieses Stück Holz, verkeilt und schwer wie es war, nur mühsam zu bändigen.

Er hatte den Balken ausreichend weit angehoben, dass man den Jungen darunter hätte befreien können, als eine vorbeiziehende Aura ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Die Jungen hatten es auch bemerkt und starrten beide wie vom Donner gerührt zur Decke empor. Ein heftiger Windzug rüttelte erneut am Dach, ließ das Gebälk gequält ächzen und zog den deutlichen Geruch von Feuer mit sich.

„Was war das?“, verlangte der Schwarzhaarige neben ihm zu wissen, dessen Namen er immer noch nicht kannte.

„Ich weiß es nicht“, gab Minoru leise zurück. Und ich will es vielleicht auch gar nicht. Für einen Moment hatte er es für einen Drachen gehalten, aber der abstoßende Geruch, den diese Biester neulich verbreitet hatten, fehlte gänzlich. Eines war jedoch sicher: Irgendwo im Palast brannte es – und das machte es nicht unbedingt einfacher. Wenn Menschen Kaninchen jagten, dann räucherten sie gern ihre Bauten aus und ein dumpfes Gefühl verriet Minoru, dass es sich hier ähnlich verhielt. Er unterdrückte ein weiteres Schaudern und stieß den Kleinen mit dem Fuß an. „Aufwachen, Junge. Hilf deinem Freund 'raus.“

Als Eiji allen Widrigkeiten zum Trotze befreit war, lag er japsend vor Anstrengung auf dem Rücken und sah die Umstehenden mit großen, goldenen Augen an. Sein Bein schien in einem recht guten Zustand zu sein. Was Minoru jedoch Sorgen bereitete, war die Hüfte. Rins geübter Blick hätte sicherlich gleich eine genauere Art der Verletzung diagnostizieren können, aber dass die rechte Hüfte in Trümmern lag, konnte auch jedes Kind sehen – wohl auch der Grund, warum Eijis schwarzhaariger Freund mit jedem Moment blasser wurde.

„Wird er wieder laufen können?“

Minoru seufzte leise und hätte ihm gern gesagt, dass er keine Ahnung hatte, wie es um ihn bestellt war oder war genau überhaupt passierte, aber wenn er es genauer bedachte, war es wohl nicht gerade das, was die Kinder in dem Moment ausgerechnet von ihm hören wollten. Stattdessen meinte er knapp: „Jedenfalls nicht in den nächsten paar Minuten“, und hob Eiji vom Boden auf.

So viel zu seinem Plan, sich selbst an der Seite seiner Großmutter zu verkriechen. Nun hatte er zwei Kindern an den Hacken, von denen eines nicht laufen konnte und das andere versuchte, seine Angst mit dauerndem Geplapper zu überspielen. Wo steckte Myōga, wenn er ein wenig Rückendeckung brauchte? Der Panther war vermutlich nicht allein in den Palast gekommen und Minoru war nicht allzu scharf darauf, dessen Kumpanen über den Weg zu laufen.

„Komm hierher, Kleiner“, pfiff er den Jungen zurück, während er durch die Gänge irrte, um einen Platz zu finden, der gut einsehbar, nicht einsturzgefährdet und zudem so gelegen war, dass sie bei Gefahr doch nach draußen hätten fliehen können – alles in allem ein paar zu viele Ansprüche an dieses Trümmerfeld. Das aufgebrachte Kind kehrte mit nervösem Blick zu ihm zurück, nachdem er beinahe um eine Ecke vorgestürmt war und sah kurz zu seinem Freund auf, der sich in Minorus Armen möglichst nicht zu bewegen versuchte.

„Warum habt Ihr keine Angst?“, verlangte er schließlich mit einem missmutigen Schnauben zu wissen – und Minoru beschloss, dass dieses unangebrachte Benehmen durchaus hätte von ihm kommen können. Es stimmte nicht ganz, dass er keine Angst hatte, aber er war es auch gewohnt, der Gejagte zu sein. Zwar war dies kein natürliches Terrain, aber die Situation unterschied sich nicht sonderlich von einer Reihe an Ereignissen, die er oft genug miterlebt hatte. Die zwei hingegen waren innerhalb dieser Mauern aufgewachsen und die einzige Angst, erwischt zu werden, die sie kannten, rührte von verbotenen Streichen oder dem Versteckspiel mit Freunden.

„Ich mache mir Sorgen“, konstatierte Minoru leise und eine Spur zu kühl.

„Worum?“

Darum, dass ein kleiner Junge uns alle ins Verderben reitet. „Genug jetzt. Sei still und bleib neben mir, wo ich dich sehen kann.“

Es kostete einige Anstrengung, jedwedem Geräusch möglichst weiträumig auszuweichen. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass es sich bei den Personen um verbündete Soldaten handelte und die Leichen, über die sie teilweise steigen mussten – mal im Kampf und mal durch Mobiliar verstorben – bestätigten das. Doch Minoru wollte kein Risiko eingehen. Die Katzen waren erschreckend leise vorgegangen und hatten seinen Lehrer sicher nicht nur zur allgemeinen Belustigung getötet. Entweder sie hatten Minoru allein in den Unterrichtsräumen erwischen wollen, wozu sie seine Aufmerksamkeit eindeutig unterschätzt hatten oder das hier diente einem anderen Zweck. Als sie schließlich an einer Außenecke des Palastes ankamen, wurde Minoru beim Anblick des sommerlichen Gartens beinahe schlecht. All das Grün sah im warmen Sonnenlicht verlockend friedfertig aus. Der Rauch hatte sich allmählich gelegt und von den Kämpfen in den vorderen Wehrkreisen war hier, am hintersten Ende des Honmaru, wenig zu hören. Es wirkte alles ein wenig zu schön und sicher, um wahr zu sein. Hinter ihnen kraxelte erneut jemand deutlich hörbar über einen Haufen Schutt. Minoru blieb wie angewurzelt stehen und konnte spüren, wie sich seine Nackenhaare vor Entsetzen aufstellten. Unmöglich, dass er auf diesen billigen Trick hereingefallen war. Er wollte gerade nach der Schulter des Jungen neben sich greifen, als der bereits los sprintete, um sich in den Garten zu flüchten.

„Nein! Warte!“

Das Kind drehte sich noch auf dem Engawa um, um ihn mit fragenden Blick anzusehen, als der Drache auf ihn niederstieß. Lackierte Holzbretter wie Kindsknochen gaben dem Kiefer unter einem entsetzlichen Knacken gleichermaßen nach. Der hoch gesetzte Boden des Palastes knarzte und bebte, während sich der Drache mit dem Kopf voran in den Gang schob und dabei auch die letzten Blutspuren unter sich begrub. Eiji, eben noch dem Schock verfallen, begann mit einem Mal panisch zu schreien und rammte Minoru die Klauen in den Oberarm, der fluchend ein paar Schritte zurück ging, um Abstand zwischen sich und den onyxfarbenen Drachen zu bringen. Dessen Schuppen rissen auch die letzten intakten Papierbezüge von den Seitenwänden.

Die grauen Lippen der Maske verzogen sich zu einem triumphalen Lächeln: „Der neue Westen scheint mir noch im Babyfell zu stecken.“ Die Augen des eigentlichen Drachenkopfes hielten ihn unaufhörlich fixiert, während die der sprechenden Maske amüsiert gen Decke sahen. „Bedauerlich. Ich hatte mir mehr Unterhaltung erhofft. Andererseits war die alte Hexe auch nicht mehr das, was sie mal war.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  MissVegeta
2018-10-30T16:19:54+00:00 30.10.2018 17:19
Ich war so schön im Lesefluss.
Wie bei einem Buch...nun... nun gehts nicht mehr weiter!?

Bis jetzt einfach nur wow! Ich bin total begeistert!

Kommt da noch was oder lässt du dieses Meisterwerk unvollendet!?
Antwort von:  Silberfrost
31.10.2018 20:32
Huhu MissVegeta!
Es freut mich wahnsinnig, dass dir die Fanfiction gefällt! Ich kann dir versichern, dass ich nicht vorhabe, sie irgendwo abzubrechen und seit einiger Zeit arbeite ich auch wieder an Kapitel 44. Für ein veröffentlichtes Kapitel geht bei mir aber meistens die dreifache Länge an Text wieder baden, weil ich ihn umschreibe, umstrukturiere, eine andere Perspektive nehme. Wenn ich auf das letzte Veröffentlichungsdatum schaue, sträubt sich mir auch jegliches Haar =/... Das letzte Jahr war vom restlichen Leben neben dem Schreiben extrem eingenommen und bis in den März werden mich jetzt meine Abschlussprüfungen im 1,5Wochen-Takt plagen. Aber in den Lernpausen werde ich schreiben und hoffe so, dass ich dich und andere Leser nicht weiterhin zu lange warten lassen muss. Es tut mir wirklich leid... Es ist schwer dabei Termine zu sagen, ich kann nur versprechen, dass es definitiv weitergehen wird! =)
Hoffentlich kann ich dir das Leseerlebnis so bewahren, wie du es bisher erlebt hast!
Herzliche Grüße und vielen Dank für deinen Kommentar! Das motiviert zusätzlich, sich wieder ranzusetzen! =)
Silberfrost
Antwort von:  MissVegeta
03.11.2018 08:13
Dass du weiter arbeitest...das reicht mir.
Werde die Story auf alle Fälle im Auge behalten und freue mich auf jedes neue Kapitel bzw. Update.
Ich wünsche dir ganz ganz viel Erfolg bei deinen Prüfungen!! Sieh zu, dass du alles regelst und bestehst. Das ist das aller wichtigste! Schaffst du schon :)
Grüße
Von:  Kerstin-san
2018-04-07T09:11:59+00:00 07.04.2018 11:11
Hallo,
 
ich stell es mir ganz schön ermüdend vor, dass das einzige Lebewesen, mit dem Minoru halbwegs offen un ehrlich reden kann, Myouga ist. Nichts gegen den Flohgeist, aber dass muss auf die Dauer ganz schön an einem nagen. Trotzdem finde ich, dass Myouga es gut hinbekommt Minoru beizustehen und ihm das so widersprüchlich erscheinende Verhalten Sesshoumarus verständlich zu machen.
 
Mir gefiel der Einblick in diesen Kriegsrat der Kitsune. Mein Gefühl geht allerdings auch in Richtung Zurückhaltung, weil ich zu de Zeitpunkt noch keinen großen Sinn darin sehen würde, mich in einen Konflikt einzumischen, der mich (noch) nicht betrifft.
 
Hm, Saburōu wird jetzt also zum Auftragsmörder degradiert, damit die Sache mit Minoru und der Rolle des Kitsunefürsten in der ganzen Scharade vorerst geheim bleibt? Ich versuche da gerade einen Sinn drin zu sehen, weil der Süden doch davon ausgeht, dass Seshoumaru eh darüber Bescheid weiß. Ist das dann der Versuch die Macht von Hayato im Süden zu fundamentieren, damit ihm ein möglicher Mitwisser keinen Strick daraus drehen kann? Gott, die Dämonenpolitik sprengt manchmal einfach mein Verständnis xD
 
Uhh, ein Pantherangriff am hellichten Tag. Das ist dochmal eine faustdicke Überraschung. Toll, wie Minoru intuitiv erkennt, dass etwas faul ist, bevor die eigentliche Attacke losgeht und wie er sich dann der beiden Kinder erbahmt und für die erstmal einen sicheren Ort finden will. Ich zweifle mal an, dass Sesshoumaru in Minorus Situation genauso gehandelt hätte. Und dann taucht auch noch ein Drache auf, der es auf Minoru abgesehen hat. Ob er wohl wirklich Chizuru getötet hat? Da bin ich doch sehr auf das nächste Kapitel gespannt.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  Silberfrost
08.04.2018 16:14
Hallo Kerstin-san!
Ermüdend ist das sicherlich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Myouga selbst für einen Dämonen steinalt ist und das restliche Palastarsenal an Leuten auch nicht gerade gleichaltrige Anreize bietet..

Es freut mich, dass du den Kriegsrat mochtest. Ein wirkliches Falsch oder Richtig ist da vermutlich auch schwer auszumachen. Bei beidem könnte man den Kopf verlieren.
Was den Sinn oder Unsinn von Saburous neuem Assassinen-Nebenberuf angeht.. behalt das ruhig mal im Hinterkopf. Sess kann sicher eins und eins zusammenzählen, wenn er weiß, dass Kouhei mit drin steckt. Das ist schließlich, als würde Ryouichi handeln und das tut der in der Regel auch nur in seinem Auftrag. Aber da ist genug faul im Süden, da darf man Kopfweh bekommen =p.

Ich bin sehr gespannt, wie die kommenden Kapitel dir gefallen werden! In jedem Fall herzlichen Dank für deinen Kommentar! Ich habe mich sehr gefreut! =)
Liebe Grüße!


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