Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 40: auferlegter Pflichten und Feindseligkeit ---------------------------------------------------- Der Großteil der Laternen war bereits vor Stunden gelöscht worden und längst erkaltet. Die übrigen Flammen warfen spärliches Licht an die Wände der Kasernen, das im lauen Nachtwind gelegentlich flackerte. Erschöpft von diesem unsagbaren Abend wandelte Kōhei abwesend über den Innenhof der Festung. Jegliches Empfinden war ihm in den vergangenen Stunden abhanden gekommen und seither schien alles fernab vom Greifbaren; fühlte er sich gefangen zwischen Benommenheit und Abneigung, während sich der Weg zu seinem Quartier in unerträgliche Längen zog. Dieser Tag würde ihm noch lange zusetzen. Er hatte über die Jahre gelernt, viel hinzunehmen und zu ertragen aber das - . Akemi hatte nie den Unmut ihres Vaters erweckt, nichts getan, mit dem sich diese Behandlung rechtfertigen ließe und Saburō... nun, keine Maske, keine Spielerei. Dieses Mal war Kōhei sicher, dass er die Situation selbst verabscheut hatte. Sein Mitleid mit Akemi war überdeutlich gewesen und dennoch hatte er gehorcht. Bei dem bloßen Gedanken daran liefen Kōhei kalte Schauer über den Rücken. Als er vor der Tür zu seinem Quartier angelangt war, wusste er gar nicht mehr recht, welchen Weg er nun genommen haben mochte. Seine Füße fanden ihre Richtung nach all den Jahrhunderten von ganz allein und vielleicht war das nur gut so, wenn man den Schein von Funktionstüchtigkeit aufrecht erhalten wollte. Es wäre sicherlich schwierig zu erklären gewesen, wenn man ihm tags darauf im Heu der Stallungen gefunden hätte wie einen betrunkenen Frischling. Fröstelnd betrat er sein Zimmer und schob die schwere Holztür leise hinter sich zu, bevor er eine kleine Laterne mit Fuchsfeuer entzündete. Übermut und Machtgefühl, das die Jugend veranlasste, alltägliche Situationen mit Magie zu lösen, waren bei ihm längst erloschen, aber seine Nerven lagen eindeutig zu blank, um nun noch nach dem Feuerzeug zu tasten und ihm Funken entlocken zu wollen. Die smaragdgrüne Flamme schlang sich um den Docht und ging in ein gewöhnliches Rot über, das den Raum in ein warmes Licht hüllte – und über den ungebetenen Gast in der Zimmerecke strich. Wütend über seine eigene Unaufmerksamkeit fuhr Kōhei herum: „Willst du mir mal erzählen, was du hier zu suchen hast?“ Seine Stimme hätte scharf und mahnend klingen sollen, wirkte jedoch eher gereizt und ein wenig unerfreut. Shippō zuckte dennoch augenblicklich zusammen und zog die Knie noch ein wenig enger an den Oberkörper. Lange Linien trockener Tränen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, während er schweigend zu seinem Lehrer aufsah. Kōhei hätte ihm gern für die nächtliche Störung und das unerlaubte Eindringen das Fell über die Ohren gezogen, aber es war nicht seine Art, Launen an kleinen Kindern auszuleben. „Shippō, was treibst du hier?“, fragte er nun deutlich sanfter und ließ sich vor ihm auf die Knie gleiten, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Die Lippen des jungen Kitsune waren aufgeplatzt und ein tiefer Riss an seinem spitzen Ohr hatte die Haare großflächig mit Blut verklebt. „Ich... verzeiht mir, ich wusste nicht, wohin. Ich darf nicht mehr... ich meine, sie haben gesagt, dass ich nicht mehr zu ihnen darf.“ „Die anderen Kadetten?“ Er nickte. Kōhei strich sich sichtlich entnervt durch die Haare und betrachtete den Jungen. Das Letzte, was er nun brauchte, waren derartige Probleme unter den Kadetten, auch wenn er sie sicher bis zu einem gewissen Grad verschuldet hatte. Es war immer derselbe Ärger und er hatte es kommen sehen. Aber warum ausgerechnet, wenn er keinerlei klaren Gedanken fassen konnte? Für nichts und insbesondere nicht für die Reibereien unter Akademieabsolventen. Was war das schon im Vergleich zu den Spielen und Zwisten, die die Herrschaft trieb? Andererseits... die Abgründe dieser Welt waren kaum die Schuld der Jüngsten. Andere, härtere Männer mochten ihn auch belächeln, wenn sie wüssten, dass er Eindrücke wie die der vergangenen Stunden nicht einfach so herunterschlucken konnte. Und so sehr er die Kadetten auch um ihre nichtigen Probleme beneidete, wäre es kaum gerecht, ihre Sorgen als belanglos abzutun. Kōhei atmete tief durch und erhob sich wieder. „Steh auf, Junge. Du solltest etwas essen. Dabei lässt sich leichter reden.“ „Schickt Ihr... schickt Ihr mich fort?“ Kōhei warf ihm einen fragenden Blick zu und peitschte amüsiert mit den Schwänzen. „Damit sie dich nochmal verprügeln, weil du heulst wie ein kleines Mädchen? Ich kann mir Förderlicheres vorstellen. Es ist sicher auch nicht klug, wenn du hierbleibst, aber für ein Desaster wirst du dich entscheiden müssen.“ „Dann erlaubt Ihr mir - ?“ „Meinetwegen kannst du erst einmal bleiben. Es ist schließlich meine Schuld, dass du so aussiehst. Mein Schüler zu sein ist nicht einfach. Das haben andere auch schon bemerkt.“ Kōhei ließ beiläufig die Feuerstelle in seinem Quartier aufflammen und machte sich daran, eine einfache Nudelsuppe zu kochen, während Shippō ausnahmsweise kein Wort hervorbrachte. Der Junge war eigentlich nicht auf den Mund gefallen und es lag Kōhei zusätzlich schwer im Magen, dass der Kleine nun dafür zahlen musste, dass er ihn als Schüler gefordert hatte. Das weckte natürlich Missgunst und dass er ihn so bald mit auf Reisen genommen hatte, war nur zusätzlicher Nährboden für Neid gewesen. „Nun roll dich endlich auseinander. Du bist schließlich kein Igel.“ Er öffnete einen kleinen Beutel mit einer Kräutermischung, schüttete sie zu den Nudeln und füllte die fertige Suppe ab. Shippō war kaum auf den Beinen, als Kōhei ihm die dampfende Schale in die Hände drückte. „Kochen kann ich allerdings nicht. Also beschwer' dich gleich nicht.“ „Vielen Dank... .“ „Schon gut.“ Der General ließ sich am Feuer auf den Boden sinken und Shippō folgte seinem Beispiel. Mit Essen versorgt und von einem flackernden Feuer umgeben, entspannte er sich wie erwartet sichtlich, pustete sorgsam und schlürfte die heiße Suppe. Als sie seine Lippe berührte, zuckte er zusammen und verzog schmerzlich das Gesicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis er seine erste Schale geleert und Kōhei ihm ohne Rückfrage nachgefüllt hatte. „Esst Ihr nichts?“ „Ich habe keinen Appetit.“ Auch seine Arme waren von blauen Flecken und Schnitten überzogen. Allem Anschein nach hatte er einer ganzen Gruppe gegenübergestanden. „Es wird besser“, versprach Kōhei mit gesenkter Stimme. „Aber du musst selbst dafür sorgen, dass sie dich respektieren. Natürlich sehen dich die Kadetten, die mit dir von der Akademie gekommen sind, als Konkurrenz. Gib ihrem Neid keine unnötige Nahrung. Steh' für dich und deine Fähigkeiten ein. Ich kann dich vor ihnen nicht offen in Schutz nehmen, auch wenn ich gerne würde. Es würde nur deine Position schwächen. Verstehst du das?“ „Ja... natürlich. Ich sollte wohl auch nicht hier sein.“ „Man könnte behaupten, dass es geschicktere Wege gegeben hätte. Aber nun bist du eben hier – was mich zu der Frage bringt, wie du auf dieses schmale Brett gekommen bist.“ Shippō bemühte sich, die Nudeln schnell herunterzuschlucken, blieb dann jedoch einen Moment still, bevor er antwortete: „Jirō ist 'reingeplatzt. Hat wohl den Lärm gehört, den das alles veranstaltet hat. Hat sich aufgebaut und geknurrt und sie haben sich verzogen.“ „Jirō hat dich hergebracht?“, hakte Kōhei ruhig nach. Der Hüne war mit den anderen aus dem Palast geschickt worden und somit lange vor ihm in die Quartiere zurückgekehrt. Shippō nickte. „Jirō war Euer Schüler, nicht wahr? Er hat es mir erzählt. Dass niemand ihn leiden konnte und keiner ihn ernst genommen hat. Außer Euch.“ „Jirō war schon immer riesig und hatte Bärenkräfte. Physische.“ „Aber er taugt nicht zu Illusionszaubern und Gestaltwandlung. Hat er erwähnt. Sie wollten ihn entlassen. Bis Ihr ihn aufgenommen habt. Warum?“ „Er wollte hierbleiben. Und er hatte Potential“, ein Lächeln huschte über Kōheis Gesicht, als er an den schüchternen Riesen dachte, der Jirō einst gewesen war. Zwei Köpfe größer als seine Altersgenossen und doch stets nur ängstlich, etwas falsch zu machen. „Jirō kommt aus einer sehr großen Familie, so wie ich auch. Manchmal ist da für den ein oder anderen Sohn einfach kein Platz mehr. Sie haben ihn für stumpf und unbegabt gehalten und hierher geschickt, damit sie sich nicht weiter mit ihm herumplagen müssten. Hätte die Armee ihn abgewiesen, hätte er niemanden mehr gehabt. Er war zu jung und verunsichert, um allein zurechtzukommen. Es war nicht richtig, ihn aufzugeben.“ Jirō war in der Tat magisch unbegabt. Bereits als Kind hatte er kaum eine Form klar herstellen oder lange halten können und während sein damaliger Ausbilder ihn wegen Unwillens und Lustlosigkeit verurteilt hatte, hatte Kōhei beim Fürsten vorgesprochen und ein Umdenken gefordert. In seinen Augen musste nicht jeder Fuchs denselben Weg gehen, bekam jeder andere Vorzüge in die Wiege gelegt. Er war Kōheis erster Schüler geworden, lange bevor dieser zum General befördert und die gesamte Ausbildung ihm unterstellt worden war. Jirō war für einen Kitsune überaus loyal und kräftig, im Einzelkampf ein wahrer Berserker und hatte schon manch meisterhaften Hengeyōkai den Hals gerettet, wenn dessen Illusion im ungünstigsten Moment wie Rauch im Nichts verpuffte. Shunran wäre sicherlich besser beraten gewesen, jemanden wie ihn als Rückendeckung zu haben. „Andere hätten das nicht so gesehen“, warf Shippō vorsichtig ein. „Na, gut für Jirō, dass nicht alle wie andere sind, was?“, meinte Kōhei mild und erhob sich, um wenigstens die schweren Teile seiner Rüstung abzulegen. Dann zog er zwei Decken aus einem seiner Schränke hervor und breitete sie im sicheren Abstand zum Feuer auf dem Boden aus. „Ich habe keinen zweiten Futon, aber eine weitere Decke sollte es auch tun. Du kannst bis morgen früh bleiben. Danach musst du dir allerdings etwas anderes suchen – in deinem eigenen Interesse.“ Nachdenklich wandte er sich zu dem Jungen um. „Brauchst du noch Verbandsmaterial?“ Shippō leerte schlürfend seine Suppe und schüttelte den Kopf. „Jirō meinte, das heile alles so. Mit der Zeit. Eine Stelle hat er genäht, weil er meinte, dass Ihr da sicherlich keine Lust zu habt, wenn Ihr spät zurückkehrt.“ Kōhei hob vielsagend eine Braue. „Ist dem so? Wie nachsichtig von ihm.“ „Ich störe Euch... .“ „Es ist in Ordnung, Shippō. Leg dich schlafen – und versuch dir keine Gedanken zu machen. Es wird sich klären.“ Der Junge huschte umgehend zu seinem Nachtlager, während Kōhei die Lampe ausblies und sich auf seinem Bett niederließ. Vermutlich hätte ihn in dieser Nacht jedes kleinste Geräusch gestört, das von draußen hereindrang und unangemeldeter Besuch in seinen privaten Räumen, war nichts, das er für gewöhnlich guthieß. Aber so wenig er es auch gerade brauchen konnte, war es doch erschreckend herzerwärmend, dass Jirō die jungen Problemkinder zu ihm schleppte... vielleicht hatte er doch nicht auf allen Ebenen versagt. Auf eine Art musste er zugeben, dass Shippōs unerwartete Anwesenheit ihn zumindest in einem gewissen Maß in die Realität zurückgeholt und seinen Verstand auf andere Wege gelenkt hatte. Mit den eigenen Gedanken allein zu sein, war in den vergangenen Monaten schwer erträglich gewesen und würde auch nach heute Abend sicherlich nicht angenehmer. Vielleicht hatte er unbewusst auch deswegen einen Schüler gewählt, obwohl er kaum Zeit mit den Kadetten verbracht hatte. Nicht nur, weil Shippō vielversprechend war, sondern aus ganz banalen, selbstsüchtigen Gründen. ☾ Das Licht lockte die Insekten an. Aufgebracht liefen Käfer und Getier auf den Schiebetüren des Westflügels umher und drängten gegen die hellen Papierbezüge. So kurz vor Neumond, während der Mond eine schmale, dumpfe Silhouette am Nachthimmel war, dienten die Öllampen des Palastes als Lichtquelle. Das trockene Gras gab unter den Schritten schnell nach und selbst viele Stunden nach Sonnenuntergang waren die hellen Steine entlang des Westflügels noch warm. Minoru hatte kaum einen Fuß auf den Engawa gesetzt und den Blick gehoben, als er gerade noch den Kopf vor dem sirrenden Metall zurückreißen konnte. Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, unentschlossen, ob er angreifen oder rennen sollte, während sich Stahl bereits grausam endgültig an seine Kehle legte. „Du bist tot.“ In der Verkündung des Fürsten lag nicht einmal der Anflug einer wohl gemeinten Lektion. Kalt und schneidend hingen die Worte der Klinge gleich in der Abendluft und für einen Moment schien es, als hätten selbst die Zikaden das Singen verlernt. Minoru hatte Mühe, den Schreck zu überspielen, der ihm wie ein Messer in die Knochen gefahren war. „Ihr offensichtlich nicht“, presste er schließlich hervor, während er die Klinge entlang zu seinem Vater sah, der nicht den Hauch eines Willens zeigte, die Waffe zu senken, die unverändert auf der Kehle seines Sohnes ruhte. „Ich meine gehört zu haben, dass es nicht schneidet“, fügte dieser so stumpf wie möglich hinzu und führte probeweise einen Finger über Tenseigas Klinge, die im faden Licht der Lampen matter wirkte als gewöhnlich. Es war ein sonderbares Gefühl. Das Katana war tödlich scharf, doch als Minoru einen Blick auf seine Hand warf, war da nicht einmal die Andeutung einer Verletzung zu sehen. Ein warnendes Prickeln, mehr aber auch nicht. „Aufmerksam, aber langsam. Ehe du dich entschlossen hast, zu agieren, tanzt jeder Tölpel längst auf deinem Leichnam“, Sesshōmaru ließ Tenseiga zurück in die Scheide gleiten und musterte seinen Sohn, der sich den Nacken rieb um das unangenehme Gefühl zu vertreiben. „Es ist spät.“ Allmählich erinnerte sich Minoru daran, warum das letzte Gespräch mit dem Fürsten so lange zurücklag. Er hatte ihn im Falle seiner seltenen Anwesenheit nicht aufgesucht, weil er weder gewusst hätte, wie er sein Erscheinen hätte rechtfertigen sollen noch worüber er eigentlich sprechen wollte – und darauf hatte er auch weiterhin keine Antwort. Stattdessen gab er sich gehorsam: „Ist es Euch nicht recht, wenn ich mich zu dieser Zeit hier aufhalte?“ „Es kommt mir ausnahmsweise gelegen.“ Sesshōmaru wandte sich zurück in seine beleuchteten Gemächer, wo die Insekten mittlerweile begierig die Lampe umschwirrten und sich die Flügel verbrannten, sobald sie der Flamme zu nahe kamen. Auf dem dunklen Lacktisch häuften sich die Leichen. „Gelegen, Herr?“, Minoru folgte ihm mit einigem Abstand. „Seid Ihr meinetwegen verärgert?“ Es kam selten vor, dass der Fürst seine Anwesenheit in irgendeiner Form als nützlich empfand und Minoru hatte einige Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm dieser Umstand wurde, sobald er näher darüber nachdachte. Doch das gestaltete sich schwierig. Er konnte die Anspannung nicht einfach abstreifen wie eine zweite Haut und es war nicht davon auszugehen, dass dies dem Taishō auch nur einen Augenblick lang entging. „Sollte ich?“, erwiderte der trocken und ließ sich im Schneidersitz auf dem Tatami nieder, wo Reispapier und Öle zur Schwertpflege bereitstanden. Minoru schloss die Tür, die einen Nachtfalter mit ihrem Rahmen das Leben aushauchte. „Ich glaube nicht. Nein. Meine Anwesenheit kam mir bisher nur nicht nützlich vor.“ „Es gibt Angelegenheiten, die meine Aufmerksamkeit dringlicher erfordern“, kam es scharf zurück. „Entschuldigt bitte. So war es nicht gemeint.“ Der Taishō sagte eine Weile nichts, dann wies er Minoru an, sich ihm gegenüber niederzulassen. Als er erneut das Wort ergriff, hatte er das alte Thema fallen gelassen: „Du hast beim Zusammentreffen mit deiner Großmutter einen deutlichen Standpunkt vertreten, deine Ansprüche geltend zu machen.“ Verdutzt sah Minoru ihn an. Dieses Gespräch mit Chizuru lag Monate zurück, sodass er niemals damit gerechnet hätte, dass es nochmal zur Sprache käme. Er zog die Luft in die Lungen, erwiderte jedoch nichts. „Das war keine Übersprunghandlung“, stellte der Fürst fest. „Du wusstest, was du sagst.“ „Natürlich wusste ich, was ich sage“, gab Minoru leise zurück und setzte sich ein wenig beklemmt in den Schneidersitz. Es kam selten vor, dass dies nicht der Fall war. Gewiss, einige seiner Aussagen hätten unschöne Konsequenzen nach sich ziehen können, aber unüberlegt und voreilig waren auch diese nicht gewesen. Dennoch zupfte er unruhig an einer Falte in seinem Ärmel. Myōga hatte bereits versucht, dieses Gespräch mit ihm zu beginnen, es jedoch alsbald wieder aufgegeben. Die Sache war Minoru unangenehm. Er hatte nie Probleme damit gehabt, erlegte Beute vehement gegen dahergelaufene Wölfe zu verteidigen – doch dieses Reh hatte er sich damals hart erarbeitet und es gehörte dem Recht nach ihm. Auf das Erbe seines Vaters zu bestehen war eine ganz andere Sache mit viel weitreichenderem Ausmaß. Mit welchem Recht wagte er es, das Vermächtnis einer Reihe von Dämonen einzufordern, die ihm ohne jegliche Scheu jede Faser von den Knochen geschält hätten? Es war schwer abzuschätzen, was es wirklich bedeutete, Inu no Taishō zu sein. Allein daran zu denken, dass dieser Titel am Ende des Weges warten würde, mit allem, was daran hing, drehte ihm den Magen um – und sobald er sich dann bewusst machte, dass er allen Ernstes vor seinem Vater und dessen Mutter gesagt hatte, dass er diesen Anspruch auch nur in Betracht ziehe... dabei war er mit seiner Erklärung auch darüber weit hinausgeschossen. „Junge.“ Er seufzte abermals, wagte jedoch nicht, den Fürsten anzusehen, sondern betrachtete Insekten, die immer noch sehnsüchtig um die Flamme tanzten nur um Sekunden später versengt auf dem polierten Lack zu verenden. „Es lag nicht in meiner Absicht anmaßend zu sein, aber ich weiß, was von mir erwartet wird.“ Sesshōmaru musterte ihn streng: „Was erwarte ich von dir?“ „Es war offensichtlich, wie die Karten liegen, als ihr behauptetet, ich sei Euer Sohn.“ „Du bist mein Sohn, Minoru.“ „Ich weiß.“ Er schauderte unwillkürlich als der Flügel einer Motte in Flammen aufging und sie hörbar niederstürzte, um allmählich zu verkohlen. „Ihr habt mir damals freigestellt mit Euch zu gehen – zumindest habt Ihr das gesagt. Ihr könnt nach außen tragen, was Euch beliebt, aber es ist nicht schwierig zu erkennen, dass Ihr darum bemüht gewesen seid, mich nur zu einem unvermeidbaren Maß zu verschrecken. Ich kann nicht sagen, ob ich anders reagiert hätte, wenn ihr stattdessen die Wahrheit ausgesprochen hättet.“ „Ich habe dich niemals belogen.“ „Nein, Ihr wusstet, dass Euch das nicht mein Vertrauen eingebracht hätte. Aber die Wahrheit blieb dennoch unausgesprochen. Es stand mit frei, mit euch zu gehen, sofern es mich danach verlangte. Ich bin hier. Aber was gewesen wäre, wenn ich das Angebot ausgeschlagen hätte...“ Die Stimme seines Vaters nahm einen sonderbaren Unterton an: „Das werden wir wohl nie erfahren.“ Minoru rang sich ein Lächeln ab, das mehr sagte, als tausend Worte je vermochten: „Nein, das werden wir wohl nicht.“ Eine ganze Weile schwiegen sie sich an. Der Fürst ließ das Nuguigami in gleichmäßigen Bahnen über Tenseigas Klinge gleiten und reinigte sie vom groben Schmutz, während Minoru den Blick von der Lampe abwandte und ihm abwesend bei der Arbeit zusah. „Fürchtest du mich deshalb?“ Es brauchte einen Moment, die beiläufig fallen gelassene Frage zu verarbeiten und Minoru wurde erst bewusst, dass er tatsächlich eine Antwort erwartete, als der Fürst ein neues Stück Reispapier zu kneten begann und ihn aufmerksam ansah. „Nein“, entgegnete er ruhig. „Es wäre eine logische Entscheidung. Träte ich vor jeglichem Anspruch zurück, wäre der Schatten meiner Existenz ausreichend, um jemandem zu suggerieren, dass mein fiktiver Bruder jederzeit rechtmäßig ersetzbar wäre. Ihr könntet mich unmöglich leben lassen.“ Sein Vater klang wenig überzeugt: „Es wäre mir lieber, du hingst mehr an deinem Leben, als dessen Ende aufgrund einer logischen Entscheidung hinzunehmen.“ „Und welchen Sinn hätte das? An welches Ende der Welt sollte ich laufen, wo Ihr mich nicht finden würdet? Allein der Versuch wäre lächerlich.“ „Dein Selbstvertrauen lässt mal wieder zu wünschen übrig“, er reichte dem Jungen etwas Reispapier. „Mach dich nützlich.“ Dankbar wenigstens irgendetwas in den Händen zu haben, auf das er seine Aufmerksamkeit richten konnte, machte sich Minoru daran, das Material knetend von groben Partikeln zu befreien, die den Stahl lediglich zerkratzen würden. „Jede andere Annahme wäre anmaßend Euch gegenüber – und idiotisch. Ich ziehe es vor, realistisch zu bleiben.“ „Du solltest deinen Blick auf die Feinde außerhalb lenken – und nicht dort suchen, wo keine sind.“ „Ihr missversteht mich. Die letzte Person, die ich als Feind ansehen würde, wäret Ihr. Ich dachte, diese Fronten seien mittlerweile geklärt. Andererseits habt Ihr auch davon abgesehen, dieses Gespräch zu führen, bevor Eure hohe Mutter versuchen konnte, mich in der Luft zu zerreißen“, gab Minoru bitter zurück. „Ich hätte Euch auch damals keine anderen Antworten gegeben.“ Erschrocken sah er auf, als die Aura des Fürsten mahnend über ihn hinwegstrich und den Flohgeist an seinem Kragen japsend erwachen ließ. „Vorsicht, Minoru. Es würde dir nicht gut bekommen, mir mangelndes Vertrauen zu unterstellen.“ Könntet Ihr es denn bestreiten? Minoru war nicht so dumm, die Geduld seines Vaters unnötig zu strapazieren. Er wäre närrisch gewesen, anzunehmen, dass der Fürst ihn mehr wissen ließ als unbedingt nötig und er hatte kein Recht, sich deshalb zu beschweren. Es wäre ihm lediglich lieber gewesen, wenn offene Fragen unmittelbar an ihn gerichtet werden würden, bevor etwaige Dritte ihre Nasen in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen – und dazu zählte eben auch Chizuru. Er hatte sich während der vergangenen Monate mit der Fürstinmutter so weit wie möglich abgefunden, aber ganz wohl fühlte er sich in ihrer Nähe längst noch nicht. Was sie betraf hatte Myōga recht behalten: Sie erinnerte an eine lauernde Viper, die sich auf jede vorhandene Schwäche stürzen würde, sobald die Deckung fiel. „Du bist dir all dieser Zusammenhänge bewusst“, meinte der Taishō schließlich, während er mit einem kleinen Seidenbällchen das Kalksteinpuder auf dem Stahl verteilte, nur um dann abermals mit dem Reispapier über die Klinge zu putzen. „Dennoch scheint es, als fürchtetest du, mit dieser klaren Positionierung einen Fehler zu machen.“ „Einen Fehler würde ich es nicht unbedingt nennen. Es kommt mir allerdings sehr anmaßend vor.“ „Anmaßend“, wiederholte sein Vater, als müsse er den Sinn des Wortes in der Tiefe ergründen. „Wie muss ich das verstehen?“ „Ich empfinde es als anmaßend, etwas zu beanspruchen, das sich nicht in meinem Besitz befindet.“ „Du kannst nur beanspruchen, was dir nicht gehört, Junge. Das ist der Sinn von Beanspruchungen: Etwas einfordern, dass dir zusteht.“ „Ich habe nicht das Gefühl, dass es mir zusteht.“ Dieses Mal ließ Sesshōmaru das Schwert auf seine Knie sinken und musterte seinen Sohn mit einem Anflug von Unglauben: „Wie war das?“ „Ich finde es unrecht, einen Anspruch zu äußern, den ich mir nicht verdient habe. Ich habe nichts getan, dass mich zu diesem Anspruch berechtigt.“ Als sein Vater ihn lediglich ausdruckslos anstarrte, senkte er langsam den Blick. „Ich war besorgt, dass diese Anmaßung Unmut erwecken könnte.“ Es war nur der tiefen Selbstbeherrschung seines Vaters zu verdanken, dass Minoru nicht von einer versengenden Welle an Yōki überrollt wurde und wie eines der Insekten auf dem Tatami verkohlte. „Genug von diesem Unsinn“, entschied der Fürst hart. „Du wirst dir diese Zweifel aus dem Kopf schlagen und endlich wieder das Selbstbewusstsein an den Tag legen, das du vor einigen Monden hattest.“ „Das hier ist nicht dasselbe“, gab Minoru bestimmt zurück. „Ich bin ein fremdes Kind aus dem Süden, das unmittelbar Euch nachstehen soll und -“ Das leise Knurren seines Vaters ließ ihn verstummen. „Das hilflose Kind, das jahrelang in fremden Wäldern gejagt und überlebt hat, stört sich auf einmal daran, für etwas nicht geeignet zu sein – ist es das? Hast du dir damals auch den Kopf darüber zerbrochen, ob es angemessen ist, trotz deiner Unerfahrenheit und Jugend deinen Magen zu füllen, während erwachsene Daiyōkai in der Nähe leer ausgegangen sind? Dachtest du auch daran, zu sterben, weil jemand anderes deinen Tod als logische Konsequenz sah?“ Minoru biss die Zähnen zusammen und schluckte jede Erwiderung herunter – was Antwort genug war. „Nein, natürlich nicht. Du hast genommen, was du nehmen konntest. Würde mich wundern, wenn dir dabei auch nur die Bedeutung von „anmaßend“ in den Sinn gekommen wäre.“ Er wandte sich wieder Tenseiga zu. „Diese menschlichen Züge an dir gefallen mir nicht.“ Damit war das Thema für ihn beendet. Minoru saß ihm verspannt gegenüber und quetschte das Nuguigami fest in seiner Faust. Dann schnaubte er leise, fast gekränkt und sah zur Seite weg. Der Mann konnte sich auch nicht entscheiden, was er wollte. Einerseits forderte er Gehorsam ein, nur um an anderer Stelle herrschaftliches Verhalten zu verlangen. Menschlich – so ein Unsinn! Für eine Weile herrschte eiserne Stille. Sesshōmaru setzte seine Arbeit fort, benetzte Tenseiga nach der Reinigung mit einer hauchdünnen Schicht aus Nelkenöl und ließ es zurück in die Magnolienholzscheide gleiten. Etwas auf dem Metall blitzte sonderbar deutlich auf, als das Licht der Lampe sich im Öl spiegelte, und ließ die Oberfläche spröde wirken. Eine tiefe Kerbe zog sich durch die einst makellose Klinge und breitete sich mit feinen Rissen aus; wie eine brechende Eisschicht auf einem winterlichen See. Sesshōmaru legte die Waffe neben sich auf dem Boden ab und auch wenn Minoru die Frage unter den Nägeln brannte, so stellte er sie dennoch nicht. Nach dem Gespräch wollte er keine erneute Unterhaltung beginnen und wenn sein Vater nicht selbst davon begann, dann sollte es wohl ohnehin unerwähnt bleiben. Myōga hatte sich währenddessen nahe an Minorus Hals im Kragen niedergelassen und den Schock allmählich verarbeitet, der wohl jeden überkommen wäre, der unverhofft in den Gemächern des Fürsten von dessen Yōki geweckt worden war. Das hatte sich aber längst wieder zur Gänze gelegt. Erst eine ganze Weile später durchbrach der Taishō das Schweigen. „Wie gehen deine Lektionen voran?“ Minoru musterte seinen Vater und wandte dann erneut den Blick ab. Hätte es nicht so wenig zur Situation gepasst, wäre es amüsant gewesen, wie er die Taktik nutzte, derer sich auch Chizuru ständig bediente, wenn sie einen Grund suchte, ihren Enkel anzusprechen – und Minoru antwortete auf die mittlerweile gewohnte Weise: „Die Grundrechenarten waren mir bereits geläufig, aber Geometrie erschließt sich mir nicht recht.“ Er prüfte das Nuguigami, befand es für ausreichend geknetet und reichte es dem Fürsten. „Geschichte ist mit einem Zeitstrahl gut zu begreifen. Ich komme mir immerhin nicht mehr ganz so unwissend vor wie zu Anfang. Auch... auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass mir grundlegendes Wissen fehlt.“ „Dein Lehrer ist dafür da, diese Lücken zu schließen“, gab der Fürst schlicht zurück, während er das präparierte Material kritisch betrachtete und schließlich zu Bakusaiga griff. Minoru starrte ihn ungläubig an, als er ihm das wohl zerstörerischste Schwert reichte, das Japan derzeit zu bieten hatte. „Herr-“ „Nimm.“ Es war unangenehm, feststellen zu müssen, dass das beklemmende Gefühl in der Kehle sich nicht etwa herunterschlucken ließ, sondern noch zunahm, sobald er die Hände so vorsichtig um die Schwertscheide legte, als könne sie unter dem kleinsten Druck bersten. Die helle Rochenhaut, die in einem auffälligen Muster um Griff und Scheide gewickelt lag, fühlte sich unerwartet weich an. Minoru musste die Klinge nicht ziehen, um zu wissen, dass sich diese runenähnlichen Zeichen auch auf dem Stahl wiederfinden würden – und im Grunde war er auch gar nicht so scharf darauf, das Schwert aus seiner Umhüllung zu lösen, wie er es vielleicht hätte sein sollen. „Es ist nicht wie Sō'unga, nicht wahr?“, fragte er schließlich zögerlich. „Es wird nicht versuchen, mich zu unterwerfen.“ Der Fürst musterte zuerst das Schwert, dann seinen Sohn. „Ein interessanter Gedanke.“ „Wird es?“ „Ich weiß es nicht.“ Minoru hob eine Braue und sah ihn an, als hätte er einen fürchterlich schlechten Scherz gemacht: „Das ist hoffentlich nicht Euer Ernst.“ „Außer mir hat nie jemand Hand an Bakusaiga gelegt. Hätte ich mir allerdings einen amüsanten Abend mit viel Arbeit machen wollen, hätte ich dir Tōkijin gegeben.“ Er beobachtete Minoru nun so aufmerksam, dass der sich allmählich in die Enge gedrängt fühlte. „Du wirst doch wohl keine Angst haben?“ „Nur ein Narr hätte keine“, murrte Minoru leise, legte jedoch die Linke um den Griff und zog die Klinge ein Stück aus ihrer Halterung. Die kurze Berührung von Metall und Hüllmaterial klang melodisch, doch jede befürchtete Veränderung blieb aus. Da war kein leises, manipulatives Flüstern oder auch nur eine Andeutung von Gefahr. Das Schwert lag totenstill und angenehm schwer in seiner Hand. Ein wenig beruhigter löste Minoru es gänzlich aus der Scheide und legte diese sorgsam zur Seite. Der Karbonstahl war an einigen Stellen vom Blut dunkel gefärbt. Die Witterung von Fäulnis, die das Drachenblut mit sich brachte, war jedoch längst nicht so deutlich wie man befürchten mochte. „Hat der Alte wieder seine üblichen Schauergeschichten erzählt?“, erkundigte sich sein Vater spöttisch, den Blick immer noch auf Bakusaiga gerichtet. „Es ist ein Zeichen von Schwäche, sich von etwas kontrollieren zu lassen, das dazu gemacht ist, benutzt zu werden.“ „Für mich klang die Gefahr, die von dieser Waffe ausging, sehr real“, erwiderte Minoru leise, während er das Reispapier sorgsam auf die Klinge legte, die umgehend in einem hellen Türkisgrün zu glühen begann, als er den Stahl berührte. Einen Augenblick lang herrschte noch Stille, dann brach eine Macht explosionsartig ins Freie, erhitzte Luft und Metall gleichermaßen und breitete sich mit einer zerstörerischen Wut aus, die alles zu verschlingen drohte. Minoru zog scharf die Luft ein, als die Aura auf ihn niederstieß. In dem Moment als er damit rechnete, dass sie ihn zerreißen würde, verharrte sie nur wenige Zentimeter vor seinem geistigen Auge – wie ein gewaltiges Raubtier, dessen Kiefer unmittelbar vor seinem bloßen Gesicht aufeinanderschlugen, während der heiße Atem über seine Haut hinwegfuhr. Dann kehrte mit einem Schlag Ruhe ein. Minoru starrte auf Bakusaiga hinab, das vollkommen scheinheilig in seiner Hand lag und keinerlei Anstalten machte, irgendetwas von seinem Innenleben preiszugeben. Er hob den Blick zu seinem Vater, der ihn neugieriger musterte, als er es für möglich gehalten hätte. „Minoru-sama! Bitte! Geht es Euch gut?!“, Myōga hüpfte besorgt auf seiner Schulter herum und rief ihn nun schon zum wiederholten Male an. Dann sprang er aufgebracht vor den Fürsten auf den Tatami. „Wie könnt Ihr nur ein solches Risiko eingehen?! Bakusaiga ist alles andere als wohlwollend! Tenseiga oder Tessaiga, ja, aber das?! Es hätte ihn umbringen können! Ihr -!“ „Nein“, unterbrach Minoru ihn, bevor sein Vater noch auf die Idee kommen konnte, diese Unverschämtheit angemessen zu vergelten. „Ich glaube, es wird nicht unbedingt versuchen, mich zu töten – aber es macht auch kein Geheimnis daraus, dass es jederzeit die Möglichkeit dazu hätte.“ Sesshōmaru schob Myōga ungerührt zur Seite und betrachtete seinen Sohn mit einem beängstigend schmalen Lächeln, das den Flohgeist umgehend in die Flucht schlug. „Ihr habt vermutet, dass es mir nicht schaden würde.“ „Ich war mir sicher.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)