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Einem fernen Tage

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was bisher geschah...
Myōga berichtet aus dem Leben Ryouichis während die Zeichen immer noch auf Krieg stehen und die Fürstinmutter sich im Palast eingerichtet hat.
Kōhei führt seinen Auftrag erfolgreich aus und bringt Saburō mitsamt seiner Begleitung sicher in den südlichen Palast, in dem eine frostige Familienzusammenführung anstehenden Ärger erwarten lässt... (s. Kapitel 38). Komplett anzeigen

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das im Angesicht der Wirklichkeit

„-Euer ehrenwerter Großvater vermochte es, Hyōga zu töten und seinen Sohn am Baum der Zeitalter zu versiegeln. Über zwei Jahrhunderte hatte dieser Bann bestand – bis sein Halbblutsohn das Siegel brach und Menōmaru Zugriff auf jedwede Macht seiner Vorgänger ermöglichte. Eine solitäre Eigenheit der Mottendämonen, in der Tat. Sie gibt ihnen die Sicherheit, dass ihre Nachkommen unter allen erdenklichen Umständen über die Macht ihrer Vorväter verfügen können – etwas, das bei keinem anderen Volk garantiert und schon gar nicht ohne Eigenleistung erreichbar ist. Menōmaru fiel trotz alledem durch die Hand des Han'yō.“

Der alte Lehrmeister machte eine seiner seltenen Pausen und erwiderte Minorus scharfen Blick, als erwarte er eine Frage. Der Junge tauchte jedoch lediglich seinen Pinsel in die Tinte und vermerkte das Ereignis knapp in einer Zeitleiste, die er sich aufgrund der sprunghaften Erzählweise des Alten hatte zulegen müssen.

Dennoch wurde er daraus nicht schlau. Menōmaru, Ryūkotsusei... sein Großvater bannte seine Widersacher, Inuyasha brach die Siegel mehr oder weniger aus Versehen und war anschließend gezwungen, sich der lästigen Gegner zu entledigen. War der Mann, den alle so hoch schätzten, nicht in der Lage gewesen, seine Gegner endgültig zu vernichten? Es war keine herausragende Denkleistung, vorauszusagen, dass diese Siegel nicht ewig halten würden und die alte Bedrohung eines Tages somit ebenso wüten würde, wie zuvor – ein wenig schlechter gelaunt vielleicht. Wenn alle ihn so sehr achteten, war er wahrscheinlich ein vorausschauender Mann gewesen und hatte gewusst, dass jemand gezwungen sein würde, hinter ihm aufzuräumen.

So sehr Minoru dies im Hinblick auf den Kampf mit Ryūkotsusei auch nachvollziehen konnte, bei welchem bereits die Versiegelung den einstigen Inu no Taishō letztlich ins Grab gebracht hatte, so wenig Sinn ergab dies doch in Bezug auf Menōmaru. Warum eine Motte zweihundert Jahre lang versiegeln ohne ihr zwischendurch die Flügel auszureißen? Insbesondere dann, wenn ersichtlich war, dass sie sich im Falle einer Befreiung der Macht ihrer Vorfahren bedienen konnte.

Ebenso hätte der verschiedene Taishō Sō'unga jederzeit selbst vernichten können, wenn es dessen nur Tenseiga und Tessaiga bedurfte, die sich für lange Zeit beide in seinem Besitz befunden hatten. Warum damit warten bis die eigenen, zerstrittenen Söhne jeweils eine der Waffen trugen? Warum all diese vielen und offenkundigen Risiken eingehen, wenn es doch ein Leichtes für ihn gewesen wäre, sie auszumerzen?

„Die Inu bedienten sich eines diametralen Mechanismus, um die nächste Generation zu stabilisieren. Im Gegensatz zu Hyōgas Sippe wurden die Fähigkeiten der Vorväter nicht direkt übertragen, sondern primär auf ihre Existenz geprüft. Das Höllenschwert Sō'unga zu führen bedurfte eines willensstarken Anführers, der der Heimtücke und Niedertracht dieser Waffe nicht erlag. Unwürdige Dämonen wären ihr verfallen. Dies hat sich in all der Zeit jedoch nur einmal zugetragen, als der erste Sohn eines Eurer entfernten Vorfahren Sō'unga erhielt und seiner Manipulation nicht zu widerstehen vermochte. Er wurde von seinem jüngeren Bruder erschlagen, welcher der zerstörerischen Wut Einhalt gebot und Inu no Taishō wurde. Natürlich ist diese Tradition durch neuerliche Geschehnisse hinfällig geworden.“

Ebenfalls ein riskantes Spiel, wenn stimmte, was man über Sō'unga sagte: Eine wahrlich höllische Waffe, die dem Boden Armeen von willenlosen Untoten entreißen konnte und ihren Besitzer manipulierte. Es war für Minoru jedoch nach wie vor unverständlich, wie eine Waffe einen eigenen Willen besitzen konnte, der derart mächtig war, dass er Dämonen unterwarf. Es war schließlich nur geschärfter Karbonstahl – nicht mehr und nicht weniger.

Aber das war keine Frage, die er diesem greisen Yōkai stellen wollte. Er wusste, an wen er sie ohne Weiteres hätte richten können, doch Tōtōsai wie auch sein Vater waren mehrere Tagesreisen entfernt. Der Fürst führte jenseits der westlichen Grenzen weiterhin Krieg gegen die Drachen und kam so selten nach Hause, dass Minoru sich nur schwerlich daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal im Palast gewesen war und ob sie dabei mehr als zwei Sätze ausgetauscht hatten.

Er musste sich wohl oder übel mit der Anwesenheit seiner Großmutter begnügen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Abwesenheit des Fürsten zu nutzen, um die Ausbildung ihres Enkels persönlich zu arrangieren – und Minoru kam nicht umhin, dabei immer wieder über den Gedanken zu stolpern, dass sie diese Pläne bereits lange Jahre in der Hinterhand hielt:

Seit geraumer Zeit verbrachte er den gesamten Vormittag mit einem Inu, der unmittelbar aus ihrem Gefolge stammte. Während der ersten drei Termine hatte er ohne Punkt und Komma über die „eminente Bedeutung der mathematischen Kunst für einen angehenden Feldherrn“ gesprochen, wobei er in jedem sechsten Satz mindestens ein Wort verschluckte. Er war ein recht kleiner Mann von einigen hundert Jahren, der nervöser wirkte als eine verängstigte Ratte. Vermutlich hätte er auch optische Ähnlichkeiten mit einer solchen aufgewiesen, doch jedes Mal, wenn Minoru auch nur den Blick zu ihm gehoben hatte, war er in eine Schockstarre verfallen, die sich nur sehr langsam wieder löste. Da dies die Zusammentreffen in eine noch unnötigere Länge zog, hatte Minoru bald davon abgesehen, seine Augen auf etwas anderes zu richten als das penibel polierte Holz vor ihm.

Die ersten praktischen Aufgaben, die auf die endlose Existenzberechtigung der Mathematik gefolgt waren, hatte er jedoch relativ schnell gelöst, sodass sein Lehrer vollkommen verdutzt zurückgeblieben, ja wieder in einer Starre eingefroren war, die Minoru dazu veranlasst hatte, eine Wache auszuschicken, um jemanden zu holen, der sich um den Mann kümmern konnte – was ihm wiederum eine Rüge seiner Großmutter eingebracht hatte.

Seither bekam er zu Beginn des Treffens einen ganzen Stapel Aufgaben und durfte gehen, sobald diese korrigiert worden waren. Mit der Zeit waren sie schwieriger geworden, doch sobald ihm ein Fehler unterlief, gab sich sein Gegenüber alle Mühe, den Grund dafür zu bereinigen. Es war fast angenehm mit ihm zu arbeiten und allmählich wagte Minoru zu behaupten, dass der Mann schnell von seinen Vorurteilen abgekommen war und ihn längst nicht mehr für so ungebildet und hinterhältig hielt wie zuvor.

Das Mittagessen nahm er regelmäßig mit Chizuru ein, die auf eine gemeinsame Mahlzeit am Tag bestand. Selbstredend um sicherzugehen, dass ihr Enkel ausreichend versorgt war, um wenigstens noch ein wenig an Höhe zu gewinnen, bevor er in einigen Jahren langsamer altern würde und sie sich mit einem mickrigen Erben begnügen musste.

Die Stunden mit ihr verstrichen meist sehr still. Sie sprach ihn selten an und erwartete auch nicht, dass er von sich aus eine Unterhaltung begann. Meist erkundigte sie sich lediglich wie die vergangenen Stunden verlaufen waren und berichtete dann knapp, was in den kommenden folgen würde, damit er sich mental darauf einstellen konnte. Es war eine beklemmende Stimmung, aber weniger unangenehm als befürchtet – obwohl Myōga dennoch jedes Mal wie vom Erdboden verschluckt schien.

Vom frühen Nachmittag bis in die späten Abendstunden hinein, erwartete ihn eine Lektion in Geschichte – und so wie es aussah würden sie auch heute deutlich in die Nacht hinein zusammensitzen.

Der Greis war kein Inu, dessen war sich Minoru sicher, aber er hatte auch keinen blassen Schimmer, zu welchem Volk er sonst gehören mochte. Sehr wahrscheinlich hatte Chizuru ihn irgendwoher anreisen lassen.

„Vom Zeitpunkt seiner Herstellung durch einen unbekannten Waffenschmied bis zur Vernichtung durch Euren Vater und seinen Halbbruder vor weniger als einem halben Jahrhundert, war der Wille Sō'ungas zweimalig in der Lage, offen ans Licht zu treten – mit verheerenden Folgen: Schlachtfelder voller willenloser Leichen, offene Pforten zur Unterwelt und nutzloses, verbrauchtes Land. Und selbst wenn es den Geist seines Besitzers nicht völlig zu zerstören vermochte, war es unermüdlich auf der Suche nach Schwachpunkten, um seinen eigenen Willen durchzusetzen. Nährte den Unmut seines Meisters, um ihn zu korrumpieren, jedes noch so kleine Ärgernis vom Angesicht der Welt zu tilgen. Hass in seiner Reinform, der sich immer dann ein neues Ziel suchte, wenn das alte in Trümmern lag – und damit die Waffe, die den Inuyōkai am ehesten entspricht“, der Alte klang, als spräche er nur für sich. Er fuhr mit den brüchigen Nägeln durch seinen Bart. Weißes, drahtiges Haar, das so lang war, dass es beim Gehen vor seinen Füßen schleifte.

„Hass in seiner Reinform entspricht den Inuyōkai am ehesten?“, wiederholte Minoru leise und veranlasste den Alten damit für einen Moment innezuhalten. Er musterte den Jungen ob der seltenen Unterbrechung und einige Züge um seine ebenso drahtigen Augenbrauen verhärteten sich. „Was ist es, das Euch daran aufhorchen lässt?“

„Der Zusammenhang ist mir nicht klar. Das Volk gilt als kriegerisch, dessen bin ich mir bewusst. Aber Hass?“

Der Alte nickte mehrfach langsam vor sich hin, bevor er wieder zu sprechen begann: „Die Quelle dämonischer Energien ist bei dem überwiegenden Teil der Dämonen deutlich naturgebunden. Sie entspringt den Seen, in denen sie leben, und den Wäldern, die sie durchstreifen. Damit sind sie vielen Kami nicht gänzlich unähnlich. Der Tod wäre für Götter wie auch für Dämonen unausweichlich, sobald diese Quelle versiegte. Doch auch wenn im ganzen Land die Seen und Meere austrocknen und Wälder wie Berge zu Asche werden, würden die Kinder Akayas unberührt bleiben. Inugami sind Rachegeister und seitdem sie die schmale Linie zum Dämon überschritten haben, gilt dasselbe auch für Inuyōkai. Ihr Quell ist intrinsischer Natur, ihr Yōki lebt von Zorn und dem Willen, den Gegner zu vernichten. Sō'unga war stets nur der Spiegel Akayas – und gleichsam die Inu selbst.“ Er strich abermals nachdenklich durch seinen Bart. „Hass und Leid sind schwerer zu zerstören als bloße Wälder.“

Minoru hielt einen Moment inne und ließ den Pinsel sinken. Es entsprach der Wahrheit, dass seine Aura immer dann gefährlich heiß aufbrannte, sobald ihn etwas über ein erträgliches Maß hinweg verärgerte. Es war sonderbar die eigene Natur aus diesem Blickwinkel zu betrachten; hatte er bisher doch immer geglaubt, diese Zusammenhänge seien gemeinhin nicht außergewöhnlich.

Das allein warf ausreichend Fragen für eine ganze Stunde auf, doch Minoru hielt sich zurück diese an einen Yōkai zu richten, der offensichtlich nicht aus eigener Erfahrung sprechen konnte. Wenn sein Äußeres ihn nicht bereits ausreichend von jedem Hundedämon distanziert hätte, so wäre seine Wortwahl allein Bekenntnis genug gewesen. Was die übrigen Ungereimtheiten betraf, so enthielten seine Notizen weder etwas über Inugami noch Akaya, auch wenn Minoru sicher war, den Namen nicht zum ersten Mal zu hören.

Doch die vergangenen Lehrstunden mahnten ihn, Erkundigungen zu gänzlich unbekannten Gebieten lieber an Myōga zu wenden: Während der letzten Monde war der Greis stundenlang mit seinen stumpfen, gelben Nägeln durch das weiße Gestrüpp seines Bartes gefahren und hatte in schier beliebiger Reihenfolge von vergangenen Schlachten, Verbindungen und allerlei Ereignissen gesprochen. Die ersten Wochen waren besonders frustrierend gewesen. Namen über Namen, Taten, Heiraten, daraus hervorgegangene Erben, wieder Namen und Daten bis Minoru glaubte, tatsächlich sehen zu können, wie sich alles vor seinen Augen zu einer dumpfen, grauen Masse formte. Die Treffen dauerten meist bis spät in die Nacht und auch heute war die Sonne schon längst hinter der Westmauer versunken. Sollte der Alte in diesem wirren Durcheinander, in das er stets mehr Kleinigkeiten einfließen ließ als nötig waren, eine Thematik gänzlich auslassen, dann war diese entweder nicht für das öffentliche Gespräch bestimmt oder als absolutes Grundwissen zu verstehen – und in beiden Fällen würde er mit Myōga gewisse Peinlichkeiten auf beiden Seiten umgehen.

Allmählich hegte er Mitleid für den Flohgeist, der sich immer häufiger mit Gesprächen konfrontiert sah, die er lieber nicht hätte führen wollen. Aber letztlich war es Myōgas eigene Entscheidung gewesen, ihn zu begleiten – so wie es allein in seinen vielen Händen lag, ob er blieb.

Der Alte wechselte das Thema, sprach über die Heian-Periode zwischen 794 und 1192, in welcher das Verlangen nach einer Miko einen jungen Mann für die Schliche niedriger Yōkai anfällig machte, die ihn schließlich in einem derart umfangreichen Maße befielen, dass sie mit ihm zu einem einzelnen Dämon verschmolzen, dessen einziger Wille es war, die einst Angebetete nach Herzenslust auszuweiden. Minoru hatte zwar bisher weder Gelegenheit noch Ambitionen gehabt, Interesse an irgendeinem Mädchen zu empfinden und als einziges Beispiel einer funktionierenden Partnerschaft Takerus Eltern vorzuweisen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass das nicht unbedingt den Weg harmonischer Zweisamkeit darstellte – zumal das Ergebnis des entstehenden Kampfes das Shikon no Tama war, ein Juwel, das für seine relativ kurze Existenz deutlich zu viel Ärger provoziert hatte.

Dennoch war es offensichtlich ein beliebtes Muster der Partnerwahl, denn schon vor einer Weile hatten sie besprochen, dass über ein halbes Jahrtausend später ein anderer Sterblicher ebenfalls Verstand und Seele über Bord geworfen hatte, um der Priesterin näher zu kommen, die selbiges Juwel in Verwahrung hielt.

Danach sprang er erneut von einem Thema zum anderen, berichtete wieder Bruchstücke bezüglich der Invasion der Mottendämonen vom Festland und der Grenzentstehungen im Nordwesten nach den Feldzügen gegen die Panther in Echigo und Uzen vor wenigen Jahren.

Als er schließlich damit geendet und Minoru entlassen hatte, machte sich dieser auf den Weg zu seinem Zimmer und bog lautlos in den Ostflügel ab. Die Dienerschaft ließ die Regentüren bei Nacht weit geöffnet und auch die mit dünnem Papier bespannten Schiebetüren waren zur Seite geschoben worden. Der letzte Vogel in den Gärten war verstummt. Die hohen Laute der Fledermäuse und das beständige Zirpen der Zikaden erfüllten den Palast, ebenso wie die restliche Wärme des vergangenen Tages. Seit geraumer Zeit waren die Temperaturen auch in der Nacht kaum gesunken und die wenigen, heftigen Sommergewitter waren an der trockenen Oberfläche der Böden abgeprallt ohne an die Wurzeln der Pflanzen zu reichen. Das Gras war gelb geworden, der große Teich beträchtlich geschrumpft. Doch die Inu kümmerte die Hitze kaum.

Während sich Hunde und Nager, die sich sonst ständig im Innern der Burgmauern herumtrieben, am Tage zurückzogen, spielten die Kinder ungehaltener denn je in der Mittagssonne und selbst Yūsei hatte seinen Webrahmen hinaus in den Garten bringen lassen. Yōkai und Feuer bildeten bis zu einem gewissen Grad eine Einheit, sodass die andauernde Wärme nicht nur die Gemüter erhellte, sondern auch das ein oder andere Leiden kurierte. Sogar Ryouichi war unter der Hitze wieder genesen und befand sich seit einiger Zeit erneut auf dem Schlachtfeld – wobei Rin an diesem Heilungsprozess nicht unbeteiligt gewesen war.

Als Minoru das Gefühl hatte, dass niemand sonst in der Nähe war, reckte er sich ausgiebig auf dem Gang und gähnte. Rin war ebenso in der Festung zurückgelassen worden wie er. Sie besaß jedoch die Freiheit ihren gesamten Tagesablauf selbst zu bestimmen, während es für Minoru bereits eine organisatorische Herausforderung war, eine Weile auf den Wehrgängen zu sitzen und über die Mauern zu blicken. Bei Tageslicht hatte er den Ort schon wochenlang nicht betreten. Entweder er zwang sich am Morgen noch vor der Unterweisung in Mathematik vom Futon oder nahm sich die Zeit nach der Geschichtslektion, wobei ihm dabei meist die Augen zufielen, sobald er erst einmal auf der Mauer saß. Myōga schickte ihn dann zeternd auf sein Zimmer – immer darauf bedacht, zu betonen, dass auch das Wasser des Sotobori steinhart sein würde, wenn er darauf aufschlug.

Der Ostflügel war zu dieser Stunde still und neben den Lauten der Tiere draußen, war Myōgas leiser Atem das einzige Geräusch. Der Flohgeist schlief schon seit geraumer Zeit in einer Falte seines Kragens und würde sich am Morgen sicher wieder dafür entschuldigen, dass er das Ende der Geschichtsstunde verpasst hatte. Nun, er war alt und das Alter forderte seinen Tribut. Je durchstrukturierter die Tage wurden, desto mehr kam Myōga zur Ruhe und allmählich wurde dadurch erst erkennbar, wie müde und erschöpft der alte Floh tatsächlich war. Es wäre kaum ergiebig ihn nun aus dem Schlaf zu reißen und Antworten zu verlangen. Auf ein oder zwei Nächte der Unwissenheit kam es nun auch nicht mehr an.

Minoru atmete tief durch und hielt mit einem Mal inne. Eine mittlerweile allzu bekannte Witterung wurde durch den Garten hereingetragen, gefolgt von einer zurückgehaltenen, aber dennoch unverwechselbaren Aura. Mit zwei Schritten war Minoru über den Engawa und landete barfuß im kraftlosen Gras. Schon bevor er freie Sicht auf den Westflügel hatte, war die Lichtspiegelung aus den Räumlichkeiten des Fürsten deutlich auf dem glatten Wasser des Sees zu sehen.

Er war zurückgekehrt.
 


 

Am südlichen Hof war die Geburt eines Nachkommens des Herrschaftshauses bereits seit einigen Jahrhunderten zu einer gewissen Gewöhnlichkeit verkommen. Andere Völker mochten ihre lieben Sorgen mit der Sicherung ihrer Linie haben, warteten mit beinahe menschlicher Naivität auf friedlichere Zeiten oder verloren ihre Kinder an die Wirklichkeit. Wenn man den Meldungen Glauben schenken konnte, war sogar Hokkaidō seit einigen Jahren ohne Erben. Nobu war längst nicht mehr der Eroberer von einst und sein Sohn schon lange erwachsen gewesen. Es war surreal, dass er gefallen sein sollte. Aber worüber machte Kōhei sich Gedanken? Haru war ebenfalls kein kleiner Junge gewesen. Gleich wie gut ausgebildet und erfahren sie waren, der Tod lief stets an ihrer Seite.

Dasselbe galt für Hayatos jüngste Tochter, die Jun in der vergangenen Nacht zur Welt gebracht hatte. Das dreiundvierzigste Kind des Fürsten und noch dazu ein Mädchen – es gab ausreichend Köpfe, die sich auf einem Tablett besser präsentieren ließen als der ihre. Somit war ihr lediglich das Desinteresses ihrer Feinde sicher – und letztlich auch das ihres Vaters.

Nun wusste auch der Fürst des Südens, dass Mädchen nicht gänzlich unnütz waren und hatte einige seiner Töchter gewinnbringend an Ratsmitglieder verheiratet. Blut vermochte manche Männer deutlicher an ihre Treue zu erinnern als Worte. Manchmal war dafür nur jenes Blut vonnöten, das naturgemäß in den Adern der Kinder von ihrer Herkunft sang. An anderen Tagen jedoch, den schlechten Tagen, empfand der Fürst es als angemessener, einige dieser Adern zu öffnen, um einen gewissen Nachdruck zu verleihen – was ihm zweifelsohne dazu verhalf, sich Gehorsam und Treue seines Beraterstabes zu sichern.

Kōhei saß wie gewohnt in der Nähe des Fürsten. Die Zeiten, in denen er zu feierlichen Anlässen stundenlang ungerührt an den langen Wänden des großen Saales Wache stehen musste, gehörten seit seiner Ernennung zum General der Vergangenheit an. Er hatte seine Männer für diesen Abend wohl überlegt gewählt und am Vortag ausruhen lassen. Die Zeichen standen allerorts auf Sturm und er wollte nicht den Kopf dafür hinhalten müssen, wenn etwas ausgerechnet bei einem derartigen Anlass schieflief. So viel Nichtigkeit der Fürst dieser Feier an sich auch beimaß, waren doch zu viele wichtige Personen eingeladen worden, um ein Risiko einzugehen.

Oni und allerlei niederes Gewürm hatte sich vor Wochen in Richtung Nordosten in Bewegung gesetzt. Immer wieder durchquerten einzelne Dämonen oder kleinere Gruppen die Ländereien der Kitsune und auch wenn sie bisher kein Interesse an einem Kampf gezeigt hatten, was es doch ein sonderbares Phänomen, das Wachsamkeit verlangte.

Wäre es ihm möglich gewesen, Kōhei hätte liebend gern eine Wache übernommen und den Saal oder noch besser die Tore des Hofes beaufsichtigt. Doch von diesem Tisch aus konnte er höchstens über die Manieren seiner Tischkameraden wachen – und die ließen mit zunehmenden Alkoholkonsum immer mehr zu wünschen übrig. Er selbst nippte nur der Höflichkeit halber an seinem Wein und versuchte zumindest Saburō im Auge zu behalten, auch wenn er ohnehin nicht das Geringste gegen ihn hätte unternehmen können.

Der nun älteste Fürstensohn saß nah bei seinem Vater, auch wenn er offenkundig dazu in der Lage schien, allein durch seine Körperhaltung eine so eisige Barriere zu seinem Erzeuger aufzubauen, dass Kōhei annahm, sie müsse in der schwülen Sommerluft zu dampfen beginnen, sobald Saburō sie mit Worten festigte. Die Ratsmitglieder, die das Wort an ihn richteten, hatten deutlich mit seiner ihm eigenen Selbstverständlichkeit zu kämpfen und begingen einen gefährlichen Drahtseilakt, als sie sich darin übten, den teilweise sehr deutlichen Provokationen des Sohnes höflich zu begegnen, ohne den Zorn des Vaters zu wecken.

Es war offensichtlich, dass Saburō um die Umstände wusste, mit der seine Familie geführt wurde. Trotzdem er fernab des Hofes aufgewachsen war, bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten, die Ratsmitglieder nach dem Befinden seiner jeweiligen Schwester zu fragen, wenn ihm der Sinn nach einer harmlosen Unterhaltung stand – nun, harmlos gemessen an seinem üblichen Verständnis einer Unterhaltung.

Die Männer hingegen versuchten mit Mühe zu überspielen, wie pikiert sie waren, am Tisch ihres Herrn ausgerechnet um Auskunft bezüglich ihrer Frauen gebeten zu werden. Fürstentöchter hin oder her, sie hatten sie nicht im Rücken des Fürsten abseits des Tisches Platz nehmen lassen, um nun über sprechen zu müssen. Wölfe und gelegentlich auch Hunde mochten ihren Töchtern gar Waffen in die Hände legen, doch diese Umgangsformen galten im Süden als barbarisch und waren bereits vor vielen Jahrtausenden verschwunden. So war es für viele bereits eine Zumutung, dass sämtliche Töchter, einschließlich der unverheirateten, im selben Raum geduldet waren, während ein solches Ereignis begangen wurde. Wobei einige zu vergessen schienen, dass Frauen gemeinhin dafür vonnöten waren, Kinder zur Welt zu bringen, aufgrund deren Geburt man ein solches Fest feiern konnte. Aber wer wollte sich hier schon mit Kleinigkeiten aufhalten?

Solche Zusammenhänge konnten der Wahrnehmung auch einmal entfliehen. Zumal selbstredend weder Mutter noch Säugling anwesend waren. Auch Hiromi war nirgendwo zu sehen und das wiederum schlug sich sehr unangenehm auf Kōheis Gemüt nieder, wenn er daran dachte, dass es ihr offensichtlich nicht erlaubt war, den Nordtrakt zu verlassen. Es war ausgeschlossen, dass ihr Gefährte ihr Fehlen nicht bemerkt hatte, doch er benahm sich nicht auffälliger als sonst auch; fragte nicht nach ihr und unterließ auch etwaige Seitenhiebe, die er seinem Vater bezüglich dieses Themas hätte versetzen können. Hätte Kōhei es nicht besser gewusst, hätte er angenommen, die schüchterne Silberfüchsin existiere nicht einmal.

So ignorant Saburōs Verhalten ihr gegenüber damit auch erscheinen mochte, war die Konsequenz, mit der weder Vater noch Sohn die Sprache auf die junge Frau brachten, in gewisser Weise beruhigend. Kaum auszudenken, was passieren würde, wenn sie in dieser Situation einen öffentlichen Streit begannen.

„Euer Interesse an den glücklichen Ehen der Gefolgsleute Eures Vaters ehrt uns alle zutiefst, Kōtaishi. Bedauerlich, dass uns die Anwesenheit Eurer Dame heute Abend verwehrt bleibt. Eine schüchterne Schönheit Awajis, ganz gewiss. Sie ist indisponiert, nehme ich an?“

Kōheis Schlund verkrampfte augenblicklich. Es gelang ihm gerade noch den Schluck Wein unauffällig herunterzuwürgen, bevor sein Schock für jedermann ersichtlich wurde. Der arme Kerl neben ihm hatte weniger Glück und verschluckte sich heftig.

„Indisponiert, ja“, erwiderte Saburō trocken und entgegen aller Erwartungen ebenso wenig glücklich wie Kōhei, dass jemand dem Gespräch diese Wendung gegeben hatte – vermutlich jedoch mit der Ausnahme, dass es nicht Saburō war, der zwanghaft versuchte, die Mordgelüste zu unterdrücken, welche lauthals danach verlangten, dem erst kürzlich berufenen Ratsmitglied der Provinz Izumi für seine zum Himmel schreiende Dämlichkeit den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand einzuschlagen. Doch wenn Kōhei es recht bedachte, hätte dieser Narr Saburōs Auserwählte ebenso gut eine missgebildete Hure nennen können. Blieb nur die Hoffnung, dass der Kōtaishi dennoch nicht -

„Offenkundig ebenso indisponiert wie Euer Taktgefühl, Taichi-dono. Es freut mich für Euch, dass es ausreicht, in regelmäßigen Abständen Luft in Eure Lungen zu befördern – zu schade für meinen Vater, dass es Euch damit gleichermaßen des Sprechens bemächtigt. Wenn er von Personen wie Euch beraten wird, wundert mich kaum, dass der Süden sprichwörtlich vor die Hunde geht.“

Die Situation jetzt noch herumzureißen, bedurfte entweder eines sehr skurrilen Scherzes oder dem Erbarmen der Zimmerdecke, die den versammelten Hof unter sich begrub. Selbst ein Großangriff irgendwelcher Yōkai wäre Kōhei nun äußerst gelegen gekommen.

Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Einen kurzen, stillen Moment, in dem Kōhei mehr denn je hoffte, irgendwo inmitten eines grausamen Albtraums gefangen zu sein. Er ging vorüber. Weder Diplomaten, Decken noch Oni rührten einen Finger und der letzte Funken Hoffnung starb mit dem vor Zorn rot anschwellenden Gesicht Taichis. „Du dreckiges Stück schwarzen Abschaums.“

„Ihr vergesst Euch“, mahnte Saburō warnend. „Wenn Ihr mich beleidigen wollt, dann solltet Ihr es subtiler versuchen oder lernen, mit der Antwort zu leben.“

„Man hätte dich gleich nach der Geburt-“

Siedendes Yōkis brandete über den Tisch hinweg, riss Speisen und Geschirr wie Papierdrachen durch den Raum und versengte die florale Dekoration bis zur Unkenntlichkeit. Kōhei war auf den Beinen gewesen, noch ehe die Energiewelle seinen Becher erfassen konnte und hielt den Blick in Erwartung von Anweisungen unverwandt auf seinen Herrn gerichtet. Die Wachen taten es ihm gleich.

„Taishō.“ Das tiefe Grollen des Fürsten ließ auch das letzte Geräusch im Raum verstummen.

„Jawohl, Herr.“

„Seid so freundlich und geleitet unseren Gast in seine Gemächer. Ich würde Euch bitten, den Nordtrakt einzurichten, aber wir wollen die Ruhe der Dame nicht unnötig stören. Findet etwas Entsprechendes für ihn bis ich Zeit und Lust habe, mich seiner anzunehmen.“

„Ja.“ Er wandte sich um und betrachtete Taichi, der offensichtlich erwartet hatte, man würde den verhassten Sohn für sein Benehmen maßregeln – was Saburōs Ansichten über dessen gesellschaftliches Geschick zu allem Überfluss bestätigte. Dann nickte er zwei seiner Wachen zu, darunter Jirō, der den schockierten Fuchs von seinem Platz hob als handle es sich um einen kleinen Jungen und nicht um einen Lord Izumis, dessen Rüstung allmählich etwas zu eng zu werden drohte.

Sie hätten seine Anwesenheit bei dieser Eskorte nicht benötigt, doch Kōhei war nicht gerade traurig, diesem Fest für einige Minuten zu entkommen. Ein wenig langsamer als gewöhnlich führte er den Tross in die Gewölbe unterhalb des Palastes. Das panische Geschrei und die hochtreibenden Beteuerungen des Ratsmitglieds waren dabei eindeutig das kleinere Übel und eines, das Kōhei mit den Jahren auszublenden gelernt hatte.

Auf dem Rückweg wandte sich Jirō vorsichtig an ihn. „Darf ich Euch fragen, was vorgefallen ist?“

„Er nahm offensichtlich an, Saburō-sama keinen Respekt schuldig zu sein“, antwortete Kōhei mit gesenkter Stimme. Dann sah er die beiden an. „Was auch immer ihr über ihn gehört haben mögt, ist vollkommen gleichgültig. Er ist Kōtaishi. Er ist Euer zukünftiger Herr. Alles andere ist nicht erwähnenswert. Vergesst das niemals. Habt ihr verstanden?“

Jirō betrachtete seine Füße beim Gehen, so wie er es immer tat, wenn er nachdachte. „Ja", er nickte schließlich und auch sein Kamerad stimmte mit ein. „Ganz wie Ihr es sagt.“

Noch bevor die Diener die Saaltüren für sie aufstießen, hatte Kōhei sich auf das Schlimmste eingestellt. Es war so totenstill im Raum, dass eine auf dem Tatami aufsetzende Feder unsäglichen Lärm verursacht hätte. Hayato stand seinem Sohn mitten im Saal gegenüber. Das dunkle Fell Saburōs war im Begriff sich wieder zu legen, als er es mit einem Handstreich selbst bändigte. „Wenn das Euer Wunsch ist. Ich würde allerdings eine privatere Atmosphäre vorziehen. Wenn-“

Die übrigen Anwesenden rührten sich augenblicklich als Hayato mit dem glatten Fell des Fuchsschwanzes harsch über den Tatami strich. Eine gute halbe Hundertschaft von jungen Kitsune erhob sich mit den Dienern und verließ gesenkten Kopfes den Saal.

Kōhei suchte den Blick seines Herrn und fand darin wie erwartet den stummen Befehl, nicht zu weichen. Natürlich. Er fürchtete seinen Sohn nicht, aber er war nicht Narr genug, diesem Vorschlag mit gutmütigem Vertrauen zu begegnen. Wenn Saburō freiwillig die Bühne aufgab, die er durchaus hätte nutzen können, lag etwas im Argen.

Andererseits hatte er seine Karten bereits jetzt gewinnbringend ausgespielt: Kōhei sah viele, die auf dem Weg zur Tür möglichst weit außen gingen, um weder Bruder noch Vater näher zu kommen als nötig. Aber da waren auch jene, die Saburō verstohlenen Blicke zukommen ließen. Aufmerksamkeit, Neugierde. Selbst wenn es sich dabei um die absolute Minderheit der Wenigen handelte, die Anteil am Geschehen nahmen, war es doch ein Grund zur Sorge. Saburō war letzten Endes ein Fremder und dennoch hatte er sich binnen kürzester Zeit den anderen angenähert.

Doch Kōhei sah auch Sōsuke, das jüngere Abbild seines Vaters, der mit der leisen Drohung gebleckter Fänge an seinem Halbbruder vorüberschritt. Er würde die Ereignisse während seines Genpuku vor hunderten Jahren sicher nicht so schnell vergessen und Saburō auch die Schuld an diesem Abend geben. Doch der beachtete ihn nicht, auch wenn Kōhei sicher war, dass man diese offene Feindseligkeit nicht einmal übersehen konnte, wenn man mit Blindheit und Taubheit gleichermaßen geschlagen war.

Hayato machte ebenfalls keine Anstalten, seinen Sohn zurechtzuweisen und kümmerte sich nicht um die Übrigen – bis eine seiner Töchter an ihm vorüberging, die er aus keinem ersichtlichen Grund am Arm packte und zu sich zog.

Das Mädchen starrte erschrocken zu ihm auf, bevor sie sich eines Besseren besann und wieder die harten Matten zu ihren Füßen betrachtete, um weder den Fürsten noch ihren Bruder ansehen zu müssen.

Akemi war Emikos Mädchen, etwa dreihundert Jahre alt, vielleicht ein wenig mehr. Ihre Mutter verharrte im Rahmen der Tür und sah sich sorgenvoll nach ihrer Tochter um. Erst als ihr Mann mahnend den Blick hob, wandte sie sich widerstrebend ab und schloss sich den anderen an.

„Reden wir offen“, sagte Hayato ernst, als die Tür sich hinter der letzten Wache schloss. „Du hast recht. Dein erster Besuch hat überflüssigen Ärger provoziert. Im Gegensatz zu meinen Beratern will ich gar nicht wissen, wie du es fertiggebracht hast, kampferfahrene, vertraute Männer dazu zu bringen, sich gegenseitige abzuschlachten. Es reicht, dass du dazu in der Lage bist.“ Seine bernsteinfarbenen Augen musterten abermals seinen Sohn, als wolle er ein letztes Mal prüfen, mit wem er es zu tun hatte. „Das Erbe steht dir zu. Deswegen habe ich dich rufen lassen. Deswegen, und weil ich weiß, dass keiner der anderen sicher sein wird, wenn ich es dir trotzdem abspreche.“

Saburō lächelte in seiner gefährlichen, milden Art: „Das ist mir bewusst. Allerdings erschließt sich mir nicht, warum Ihr Euch meiner nicht entledigt und einen bequemeren Erben erwählt. Es sind gemäß Eurer Demonstration genügend vorhanden. Welchen Nutzen habe ich für Euch?“

„Ist es deine Art, vermeintliche Absichten anderer offen auszusprechen?“ Der Fürst klang wenig beeindruckt. Doch erneut lächelte Saburō lediglich dünn: „Ihr verlangtet nach einem offenen Gespräch. Das ist meine Art von Offenheit.“ Und was ist Eure?, schien er zu fragen, doch tat er es nicht.

„Jeder deiner Brüder wäre dankbarer. Gehorsamer. Aber nicht sehr hilfreich, bei den Dingen, die kommen.“

„Fürchtet Ihr die Rache des Westens dermaßen, dass Ihr sogar bereit seid, mit mir zu verkehren?“

Nun hielt der Fürst zum ersten Mal tatsächlich erstaunt inne. Seine Hand schloss sich so fest, um das Gelenk seiner Tochter, dass das Mädchen vor Schmerz zusammenzuckte und auch Kōhei war, als habe man ihm gerade einen empfindlichen Dolchstoß versetzt. Wie sollte er seinem Fürsten erklären, dass sein Sohn bereits im Besitz dieses Wissens gewesen war, und nicht etwa er diese sensiblen Informationen hatte durchsickern lassen?

„Beruhigt Euch. Es liegt nicht in meinem Interesse, dass die Inu den Süden dem Erdboden gleichmachen – und nichts anderes werden sie anstreben, nicht wahr? Mit Tōga-sama hätte man unter Umständen noch verhandeln können, aber sein Sohn... sagen wir, er verschwendet seinen Atem ungern an Worte.“ Nun war auch dem schwarzen Fuchs das Lächeln vergangen. „Ich bin nicht so blind wie einige Eurer Berater es zu sein scheinen – und noch viel weniger bin ich naiv genug, anzunehmen, mein Status sei auch dann noch sicher, wenn ich all die Aufgaben erledigt habe, wegen derer Ihr meine Anwesenheit ertragt.“

Etwas in der Miene des Fürsten änderte sich abrupt. Seine eben noch schockiert geweiteten Pupillen entspannten sich allmählich und der stumpfe Ausdruck seiner Bernsteinaugen wurde zu einem glimmenden Lodern, das Kōhei nur allzu gut kannte. Es war die Glut vor dem Windstoß, bevor die Flammen hochschlugen.

Mit theatralischer Vorsicht brachte er Akemi zwischen sich und seinen Sohn, strich eine Falte ihres Obis glatt und legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. Saburō sah seiner Halbschwester in das mit dunklen Sommersprossen übersäte Gesicht und blickte anschließend wieder zu seinem Vater auf.

„Nein“, sagte er ernst.

„'Nein'?“, Hayato klang belustigt. „Du willst eine Versicherung. Hier hast du sie. Sie gehört dir.“

„Was soll ich mit ihr anfangen?“

Der Fürst lächelte matt. „Du bist zu schlau und zu alt, als dass ich dir diesen Sachverhalt erläutern müsste.“

Der Anblick der jungen Frau war schwer zu ertragen. Die Art, wie ihr Blick verzweifelt über Saburō huschte, wie sie ihn stumm um irgendeine Form von Hilfe anflehte ohne dass ihr Vater es bemerkte.

„Ich habe eine Gefährtin.“

Hayato bleckte die Zähne. „Denkst du, ich ließe zu, dass ausgerechnet du noch eines dieser Schwarzen Luder ins Bett zerrst? Du kannst sie behalten. Das ist mir gleichgültig. Aber deinen Erben wirst du gefälligst mit ihr haben.“

„Hiromi ist schwanger“, erinnerte Saburō ihn trocken, doch sein Vater tippte mit der Klaue nur ungeduldig auf der Schulter seiner Tochter herum, die darunter allmählich in sich zusammenschrumpfte und nicht wagte, auch nur einen Ton von sich zu geben, auch wenn ihre haselbraunen Augen sich allmählich mit Tränen füllten.

„Dann wollen wir hoffen, dass es ein Mädchen wird, nicht wahr?“ Hayato lächelte hämisch, dann stieß er Akemi grob zu seinem Sohn, der sie erstaunlicherweise abfing und ihr beruhigend eine Hand auf den Hinterkopf legte.

Ihre Tränen rannen in seinen Kimono, färbten die dunkle Seide noch schwärzer und spätestens als sie weinend zusammenzubrechen drohte, traute Kōhei seinen Augen nicht, als dieser schwarze Bastard sie tröstend in die Arme nahm. Er wollte etwas sagen, doch Hayato unterbrach ihn augenblicklich: „Mach jetzt keinen Fehler, Junge. Eine angemessenere Zusicherung kannst du von mir nicht erwarten. Nimm sie, trage Sorge, dass ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden muss, die gesamte Erbfolge an kleine, schwarzhaarige Dämonen zu verschwenden und ich bin bereit, deine Leistungen entsprechend zu honorieren. Kōhei.“

„Ja, Herr?“ Der General straffte erneut die Schultern und gab sich alle Mühe, keinerlei Regung zu dieser neuerlichen Wendung aufkeimen zu lassen. Die Abneigung des Fürsten, die er gegenüber den schwarzen Vertretern seiner Art hegte, war so unbeschönigt wie unergründlich, aber sie hatte stets existiert. Dass er nun jedoch bereit war, Emikos Tochter an seinen ungeliebten Sohn zu vergeben, um seinen Einfluss auf diesem Weg zu bestärken, war sogar für ihn eine erschreckend vehemente Reaktion.

„Während ich unserem ehemaligen Ratsmitglied seine Stellung verdeutliche, werdet Ihr dafür sorgen, dass mein Sohn tut, was von ihm erwartet wird. Da sein bedauernswertes Mauerblümchen von einer Gefährtin bereits guter Hoffnung ist, dürften für Euch keinerlei Probleme entstehen.“

Für einen kurzen Moment nahm Kōhei nichts anderes wahr, als den stolpernden Aussetzer seines Herzens und die absolute Stille, die sich in seinem Innern gähnen auftat. Unmöglich. Das konnte er nicht so gemeint haben, wie er es aufgefasst hatte. Niemals. Ein kurzer Blick zu Saburō schalt jedoch jeglichen Zweifel Lüge. Die Abscheu des Silberfuchses spiegelte sich erstmalig so ungeschönt in jeder Faser seines Körpers wider, dass es beinahe unbegreiflich schien, als er seinen Vater nicht augenblicklich in Stücke riss, sobald dieser sich dem General zuwandte. „Ach, und Kōhei: Es wäre äußerst bedauerlich, wenn Ihr mich in dieser Hinsicht enttäuschen würdet. Ich habe Euch bisher immer als recht angenehm empfunden – erspart mir also die Mühe, mich nach Ersatz umsehen zu müssen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kerstin-san
2017-09-20T16:10:04+00:00 20.09.2017 18:10
Hallo,
 
mir gefällt sehr, wie Minoru so ziemlich alles kritisch hinterfragt (inklusive seines Großvaters) und sich lieber seine eigene Meinung bildet, als alles ungeprüft zu übernehmen. Der Einblick in seine Unterrichtsstunden war ziemlich interessant, auch wenn das wirklich nach sehr, sehr viel pauken klingt. Aber er hat ja auch ne ganze Menge nachzuholen.
 
Kurzer Einwand zur Entstehungsgeschichte des Shikon no Tama: So weit ich weiß, ist das Juwel der vier Seelen nicht entstanden, weil irgendein Sterblicher hinter Midoriko her war und sich dann von Dämonen was einflüstern lassen hat. War es nicht vielmehr so, dass Midoriko so mächtig war, dass sich die ganzen Dämonen freiwillig zu einem sehr mächtigen Dämon zusammengeschlossen haben und Midoriko dann in einen sehr lange dauernden Kampf verwickelt haben, an dessen Ende dann die Seele Midorikos mit der des Dämons verschmolzen ist?
 
Die Machtverhältnisse im Kitsuneclan stehen auf Messers Schneide. Subaru ist zu klug und gerissen, um während des Gesprächs völlig mit offenen Karten gespielt zu haben und trotzdem denke ich, dass diese "Aussprache" es dem amtierenden Fürsten leichter macht Subaru zu händeln. Die Fronten sind erstmal geklärt und das er Subaru Akemi (Apropos: Sind Ehen und Kinder unter Halbgeschwistern bei Dämonen üblich?) zuschustert, um die Erbfolge zu sichern, dürfte Subarus Position erstmal absichern. Akemi tut mir unglaublich leid. Sie ist nur ein Spielball und hat überhaupt nichts zu melden...
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  Silberfrost
24.09.2017 22:00
Hallo Kerstin-san!
Es beruhigt mich, dass die Geschichtsstunde nicht zu langweilig war. Ich hatte ein wenig Sorge, dass es dröge wird, aber die Informationen erschienen mir teils zu wichtig für später, als dass ich sie anders sinnvoll hätte aufbauen können. Wirklich massiv beruhigend, dass sie nicht so trocken ankamen wie befürchtet.. für Minoru ist das sicherlich trotz all der Arbeit eine Wohltat. Nichts zu wissen kann gefährlich sein und man versteht sicher auch, warum er langsam die Nase voll davon hat, von allem kaum etwas zu verstehen..

Was das Juwel betrifft, hast du recht, dass sich die Dämonen zusammengeschlossen haben, da sie Midoriko einzeln nicht vernichten konnten. Dabei haben sie allerdings einen Menschen benutzt, der heimlich in sie verliebt war. Sein "schwache" Herz diente dabei all den Dämonen sozusagen als Anker, weil das offensichtlich ein einfacher Fusionspunkt ist (Chapter 94 Manga). Onigumo ist damals ähnliches passiert, nur dass dabei Naraku als Halbdämon herauskam, während es bei Midoriko dieser eine mächtige Dämon war, der später Magatsuhi hervorgebracht hat. Musste ich für das Kapitel nochmal nachschlagen, nachdem ich mich in die Lage manövriert hatte, die Entstehung zu beschreiben (so viel zum Thema man sei Herr seiner eigenen Geschichte..).

Was den Süden angeht... puh ja, das war eine heiße Kiste. Ich denke nicht, dass Ehen zwischen Verwandten geläufig sind, aber Hayato hat bereits seine Cousine geheiratet und er denkt sich etwas dabei, ihm Akemi zu geben - und wenn es nur darum geht, die Linie nach seinen Vorstellungen zu sichern. Üblich würde ich das beim besten Willen jedoch nicht nennen. In meinem Kopf zumindest nicht - auch wenn ich davon ausgehe, dass gewisse Erbschäden bei den Kindern nicht so ausgeprägt sein werden, wie man es bei sterblicheren Lebensformen erwarten könnte.
Es wird sich zeigen, wie sich das Ganze im Süden entwickelt, solange sich Hayato und Saburô weiterhin umkreisen. Akemi kann einem bei dem Ganzen sicherlich nur leid tun =/

Vielen, vielen Dank für deinen Kommentar! Es macht immer wieder Spaß, sie zu lesen und ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn du daraufhin halbe Romane zurückbekommst =D.
Herzliche Grüße,
Silberfrost
Antwort von:  Kerstin-san
25.09.2017 16:30
Ist überhaupt kein Problem, im Gegenteil: Ich finds ja eher total klasse, dass du dir so viel Mühe machst ausführlich zu antworten und auf alles einzugehen. Dann bin ich jetzt auch was die Entstehung des Shikon no Tama angeht wieder bestens informiert. Es ist definitiv zu lange her, dass ich die Mangas gelesen habe ;)
Von:  Saynaya
2017-09-20T07:48:56+00:00 20.09.2017 09:48
Sehr spannendes und lebendiges Kapitel! Beonders der erste Teil ist, wie ich finde enorm gut gelungen. Zu 100% stilsicher! Ich finde es klasse, wie die Geschichtsstunde die Erzählungen von ihm einrahmt.
Im letzen Teil muss ich allerdings gestehen, dass ich da einfach nicht mehr mit den ganzen Namen etc. durchblicke (habe allerdings diese Parts auch immer nur überflogen, was ich jetzt bereue^^; gibts da vielleicht eine Zusammenfassung für?)
Vielen Dank für die gute Unterhaltung!!
Saynaya

Antwort von:  Silberfrost
24.09.2017 21:26
Liebe Saynaya,
am Anfang eines Kapitels findest du immer eine (extrem kurze) Zusammenfassung der letzten Ereignisse.
Für den Fall, dass du sie nachlesen möchtest: Die Kapitel, in denen Ereignisse rund um die Füchse des Südens vorkommen sind Kapitel 9/10, 15, 23, 26, 28, 31, 36, 39, 41. Dann musst du nicht suchen ;).
Ansonsten findest du jeweils eine knappe Charakterbeschreibung im Reiter "Charaktere" (nach Erscheinen sortiert) oben. Eventuell ist es damit leichter.
Vielen herzlichen Dank für das Lob! Insbesondere freut mich, dass du dich unterhalten gefühlt hast. Darauf kommt es letztlich schließlich an!
Beste Wünsche,
Silberfrost


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