Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 37: der nichts als Kummer birgt. ---------------------------------------- Auch wenn er innerlich vor Wut kochte, war Myōga vom Angstschweiß immer noch ganz kalt, als er auf der schmalen Ostmauer saß und schnauben auf Minoru hinabsah. Noch vor einigen Stunden war er im nächtlichen Palast erwacht und hatte erleichtert aufgeatmet, als er den Jungen tief schlafend neben sich vorgefunden hatte. Es grenzte an Hexenwerk, dass er seinem dürftigen Anstand zum Trotze wohlauf war, aber derartige Geschenke hinterfragte man nicht. Nur wenige Stunden später war Myōga erneut aufgewacht, hatte seine schmerzenden Glieder gestreckt, die Augen aufgeschlagen und – verschwunden! Der Bengel war wie vom Erdboden verschluckt gewesen! Eine Lappalie, wie er zunächst angenommen hatte. Doch diese leise flackernde Hoffnung war mit einem Sturzbach gelöscht worden, als eine Schar Damen der Fürstinmutter sich leise tuschelnd auf den Gängen darüber ausgetauscht hatte, was genau Minoru ihrer Herrin am Vorabend an den Kopf geworfen hatte. Taishō! Nichts geringeres als einen öffentlichen Anspruch auf den Titel hatte er proklamiert! Was hatte er sich nur dabei gedacht?! In dem Moment war für Myōga das Grauen perfekt geworden: Wenn der Junge erst begriff, in welche Lage er sich damit manövriert hatte, wäre er schneller fort als Myōga eine passende Möglichkeit einfiel, diesen Umstand dem Fürsten in einer Weise zu erklären, die ihm den winzigen Kopf erhielt. Also hatte er begonnen nach Minoru zu suchen. Weder in der Küche noch den weitläufigen Gärten oder auch auf den geharkten Sandplätzen der Trainingsflächen im Honmaru war eine Spur von ihm auszumachen gewesen. Schließlich, als Myōga am Rande der Verzweiflung gewankt war, hatte er ihn gefunden: Einen Arm unter den Kopf gelegt, den anderen schwindelerregende vier dutzend Meter über der Oberfläche des Sotobori in der Luft baumelnd, lag Minoru ausgestreckt auf der Ostmauer hoch über den Siedlungen des ersten Wehrkreises, der unter ihm allmählich erwachte. Oh, kein Zweifel, dass er längst nicht so tief schlief wie es den Anschein machte. Myōga verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte wütend auf den dunklen Stein unmittelbar neben Minorus Ohr, um seinem Ärger Luft zu machen. Allzu große Hoffnung, damit etwas zu bewirken, durfte er sich nicht machen, aber der Junge musste ihn gehört haben. Dafür war sein Gehör zu fein. Zu – bitte was? Minoru gähnte lang und ohne auch nur die leiseste Mühe, die Hand vor den Mund zu nehmen. Dann streckte er sich ausgiebig, bevor er die Lider erneut zufallen ließ und tat als ginge ihn die Welt nichts an. Erbost blähte der selbsternannte Berater die Wangen froschgleich auf. „Euer Großvater wäre stolz auf Euch!“ Minoru entglitt ein entnervtes Stöhnen, das in ein Knurren abrutschte. „Was willst du?“ „Wie könnt Ihr es dem schwachen Herzen eines alten Mannes antun, ohne ein Wort einfach so zu verschwinden?! Insbesondere nach gestern Abend! Wenn auch nur das Gerücht laut wird, dass Ihr fortgelaufen sein könntet – ich will mir das gar nicht näher vorstellen!“ Fortgelaufen? Minoru schlug erneut die Augen auf, blickte in den klaren Morgenhimmel und genoss die ersten Sonnenstrahlen des Tages einen letzten, ruhigen Moment lang. „Hilf mir, Myōga“, meinte er schließlich ohne den Floh anzusehen, der sich in Erwartung einer abweisenden Diskussion sämtliche Argumente bereitgelegt hatte und in Anbetracht der vor Sarkasmus triefenden Stimme seines Schützlings mit einem Mal nicht mehr ganz so vorbereitet schien. „Wann habe ich Anlass zu einer solchen Vermutung gegeben? Ich erinnere mich nicht.“ „Nun, das habt Ihr natürlich nicht...“ „Glaubst du, ich habe Interesse daran, meinen Vater vor seiner Mutter bloßzustellen? Ich denke nicht, dass ich das Echo überleben würde.“ Er setzte sich auf und sah auf Myōga herab, der ein wenig betreten mit den Händen rang und versuchte, die rechten Worte zu finden. Seine Wut war wie verflogen. „Das Gerücht würde ausreichen. Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt unauffindbar herumzuschleichen. Die Dinge stünden anders, wäret Ihr vom Volk respektiert... wäret Ihr hier geboren worden und ein wenig mehr... wie soll ich sagen..“ „Ein wenig weniger ich“, endete Minoru für ihn und sein Blick verfinsterte sich. Damit war der angenehme Morgen dahin. „Ich bin weder blind noch taub, Myōga. Sie lieben mich nicht eben.“ „Das sollen sie auch nicht“, hielt der Floh ernst entgegen. „Sie dürfen nicht an Euch zweifeln. An der Treue zu ihnen, zu Eurem Vater und an der Konsequenz mit der Ihr Feinde zu vernichten pflegt. Sie folgen der Stärke, nicht dem Blut. Ihr seid als Fremder gekommen und niemand von ihnen weiß Euch einzuschätzen. Das macht es nicht leicht.“ Minoru seufzte, ließ sich von der Ostmauer auf den breiten Wehrgang gleiten und strich halbherzig eine Falte in seinem Kimono glatt. „Wenn meine Mutter es mir schwer machen wollte, dann hat sie es unweigerlich geschafft. Ich sollte ihr gratulieren, bevor ich diesem lauernden Volk eine Darbietung meiner Art von Konsequenz gebe.“ Myōga setzte mit einem langen Sprung auf seine Schulter und musterte ihn besorgt, während er zwischen der glatten Seide nach Halt suchte. Er hatte mehrfach bewiesen, dass er hinsichtlich eines Angriffes nicht zimperlich war, wenn es darauf ankam – und diese Mönche hatten nicht einmal wirklich seinen Unmut erregt. Was er mit seiner Mutter tun würde, wenn er eines Tages dazu im Stande wäre, sie aufzuspüren und herauszufordern, wollte sich der Berater nicht vorstellen. Hass war eine Pflanze, die insbesondere bei Inuyōkai gefährliche Formen annehmen konnte – und sie wurde unweigerlich mit Blut gegossen. Es blieb jedoch die leise Hoffnung, dass er diese innere Szene auf seine alten Tage nicht mehr mitansehen müsste. Der Vater war immerhin ebenso wenig entzückt wie der Sohn und ehe Minoru alt genug war, dass man ihn ohne Aufsicht in der Weltgeschichte herumstreunen ließ, hätte Sesshōmaru mehr als genügend Gelegenheit, den unschönen Fleck in seinem Ansehen hinreichend zu vergelten. Derart törichte Einfälle konnten auch nur dem Geiste einer Frau entspringen! „Warum habt Ihr es so überstürzt öffentlich gemacht?“, erkundigte sich Myōga bewusst sachter als geplant. „Der Fürst kann sich nicht erlauben, einen Erstgeborenen ohne Herrschaftsabsichten aufzuziehen“, entgegnete Minoru trocken. „Ich habe Besseres mit meiner Zeit anzufangen, als den Westen mit dummen Gemütssprüngen von innen zu destabilisieren.“ Unsicher mit dem Saugrüssel wippend betrachtete der Flohgeist ihn und verengte allmählich die Augen. Irgendetwas war anders als sonst. Seit wann war er so sicher in seinen Entscheidungen? Natürlich, bevor sie nach Musashi aufgebrochen waren, hatte er durch die vielen Trainingsstunden mit dem Chūyō kaum Zeit gehabt, an anderes zu denken oder sich wie zuvor in die einsame Sicherheit seiner Räumlichkeiten zu verkriechen, aber darüber hinaus zu dieser Haltung fähig zu sein, war eine andere Größenordnung. Myōga hatte damit gerechnet, ihn schlecht gelaunt, ja vielleicht sogar panisch vorzufinden, wie er es am Vortag im Angesicht der Fremden noch gewesen war, doch stattdessen schien er auf eine beunruhigend resignierte Art ruhig. „Minoru-sama... ist sicher alles in Ordnung?“ „Es geht mir gut. Es ginge mir noch besser, wenn ich auch nur ein paar Stunden für mich haben könnte.“ „Nun, Ihr könntet später in die Gärten gehen. Dort ist es um die Mittagszeit sehr schön und verhältnismäßig ruhig. Außerdem wäret Ihr nahe am Palast -“ „Und nahe bei dieser Schwadron von Hofdamen, die sie mitgebracht hat. Danke, aber nein danke.“ Das feine weiße Haar in seinem Nacken stellte sich allein bei dem Gedanken ab. „Es reicht vollkommen, dass ich mit ihr zu Mittag essen werde.“ „Mit... mit Eurer... .“ Er nickte. „Unmöglich“, erwiderte Myōga scharf. „Das glaube ich nicht! Nicht nachdem Ihr Eure Unverschämtheiten entgegen all meiner Ratschläge erneut vollkommen ausgelebt habt! Ich bin froh, Euch am Stück vorgefunden zu haben und verbitte mit dir Annahme, ich könnte glauben, dass Eure verehrte Großmutter Euch zum Essen sehen will.“ Minoru ließ ihn wettern und zuckte lediglich mit den Schultern. „Sie hat den Fürsten um Erlaubnis gebeten und er hat zugestimmt. Was bleibt mir also anderes, als zu ihr zu gehen?“ Dann knirschte er leise mit den Zähnen. „Sie wusste, ich könnte und würde nicht ablehnen, wenn sie ihn um Zustimmung bittet.“ Myōga kam nicht umhin, dem Jungen einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen. Er fühlte mit ihm, voll und ganz. Die Gefährtin seines einstigen Herrn war furchteinflößend und gebieterisch, wenn auch auf eine gänzlich andere Art als ihr Sohn. Bei beiden reichte jedoch ein kaum merklicher Wechsel der Aura oder ein härter werdender Ausdruck in den Augen, um einen ganzen Saal voller Bediensteter in blanke Panik zu versetzen. Chizuru zog es vor, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel mit kalter Berechnung auszuspielen, um ihr Ziel zu erreichen – und sie war eindeutig zu spitzfindig, um nicht zu bemerken, dass sie ihren Enkel am besten manövrieren konnte, wenn sie es durch dessen Vater tat. „Die Zustimmung des Taishōs ist gleichbedeutend seinem Befehl “, murmelte er Minoru bestätigend zu, als rezitiere er eine vergangene Lektion. Minoru vergalt es mit einem leisen Knurren, wenngleich es nicht an den Flohgeist gerichtet war. „Und über den kann ich mich kaum hinwegsetzen. Warum tut er mir das an?“ „Nun...“, Myōga friemelte verhalten an dem Stoff seiner Kleidung herum. „Ich möchte das neu aufkeimende Vertrauen zwischen Euch und Eurem Vater nicht untergraben... aber ich kann mir vorstellen, dass es ihm lieber ist, Ihr esst mit ihr zu Mittag als... er.“ Minoru hielt einen Moment inne, dann schüttelte er nur besinnend den Kopf. „Würdet Ihr... ich meine, wäre es möglich, dass wir nun zum Palast zurückkehren? Ihr werdet sicher einsehen, dass das das Beste ist.“ „Später.“ Bevor Myōga auch nur ein Wort der Vernunft anbringen konnte, war der Welpe unversehens vom Wehrgang in die Tiefe gesprungen. Wind klatschte dem Floh um den Stechrüssel, der sich im Luftstrom so schmerzhaft verbog, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Mit verschwommenen Blick und einem heiseren Schrei auf den Lippen trieb Myōga die Finger aller verfügbaren Hände in den eng gewebten Seidenstoff, um nicht davongeweht zu werden und ehe er sich versah presste ihn die Schwerkraft unbarmherzig auf die Schulterknochen des Jungen, dass er atemlos fluchte. Mühevoll rappelte sich Myōga mit schmerzenden Knochen auf, warf einen Blick auf den Wehrgang der mindestens zwei dutzend Meter über ihnen prangte und stellte fest, dass er eindeutig zu alt für die sprunghaften Abenteuer eines jungen Hundes geworden war. Er war kein niedlicher Welpe. Yayoi war niedlich. Niedlich und hübsch und gut und mit viel zu kurzen Zähnchen ausgestattet, um irgendjemandem ein Haar zu krümmen. Minoru hingegen war weit über diesen Punkt hinaus und würde mit den Jahren sicherlich nicht zahmer werden. Er zuckte zusammen, als ein deutliches Knurren vor Minoru ertönte. Einige streunende Hunde, die sich zwischen den Häusern herumtrieben, hatten bei ihrer Landung auf dem Pflaster einen erschrockenen Satz zur Seite gemacht und zogen nun die Lefzen zurück, bis das blasse Fleisch ihrer Zähne deutlich sichtbar war. Minoru verspannte sich, als er einem großen, dunklen Ungetüm direkt in die braunen Augen starrte. Der Hund knurrte kehlig und stellte das Fell drohend ab, als er den Oberkörper sprungbereit senkte und die spitzen Ohren anlegte. Der Flohgeist nahm entsetzt wahr, dass Minoru keinerlei Anstalten machte, dem Treiben Einhalt zu gebieten oder wenigstens dem Angriff aus dem Weg zu gehen. Stattdessen blieb er still stehen, stellte abermals die feinen Härchen in seinem Nacken auf und gab sich auch dann noch unbeeindruckt, als der Rüde nach vorn sprang und einige Armlängen von ihm entfernt in die Luft schnappte. Immer noch knurrend drückte sich das Tier näher an den Boden und leckte sich über die Schnauze. „Geh“, befahl Minoru trocken und zu Myōgas Erstaunen glättete sich der struppige Pelz des Hundes, der, dicht gefolgt von seinen Artgenossen, in der nächsten Gasse verschwand. Was um alles in der Welt tat er da? „Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen?“, keifte er seinen Schützling an. „Ihr hättet nur dagestanden, währenddessen diese Töle Euch angefallen wäre?! Wenn das jemand sieht!“ Minoru blickte ihn einen Moment lang an, dann bog er zielstrebig auf eine breitere Straße ab, die immer noch im Schatten der hohen Mauer lag. „Wie viele Jahre lebst du nun unter Hunden?“ „Das ist eine sehr unverschämte Frage!“, fauchte der Floh zurück. „Demnach lange. Findest du es da nicht ein wenig unangebracht, nach all der Zeit noch blind zu sein?“ „Wie bitte?! Bei allem Respekt! Dieses Tier hat geknurrt und gefletscht und – “ „Gefletscht, dass ich fast in seinen Rachen sehen konnte. Er dachte, ich bedrohe ihn und wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Er war verunsichert. Nichts weiter. Es ist mir schleierhaft, wie du überlebt hast, wenn du eine so defensive Drohung für einen geplanten Angriff hältst.“ „Ich bezweifle, dass Euer Vater oder sonst jemand in diesen Mauern den Gedanken unterstützen würde.“ „Ich werde keinem streunenden Hund das Fell über die Ohren ziehen, weil ich ihn erschreckt habe.“ Als Myōga abermals den Mund aufmachen wollte, legte Minoru einfach die Hand über ihn und erstickte seine Stimme wie unter einer Kuppel. „Ende der Diskussion.“ Myōga blinzelte verdutzt und schwieg auch dann, als Minoru ihn längst aus seinem Griff befreit hatte. Oh Oyakata-sama, was hat mich nur geritten, als ich mir diesen Bengel aufgehalst habe?, dachte der kleine Berater bitter und beinahe meinte er in der Ferne ein warmes, amüsiertes Lachen zu vernehmen, das ihm die Kehle zuschnürte. 狐 Der braune Wallach spürte die Anspannung seines Reiters und schlug zum mindestens zehnten Mal abwehrend mit dem Kopf. Kōhei ließ die Zügel zwischen seinen Fingern locker am Gebiss des Tieres spielen und nahm sie wieder stramm auf, als es sich endlich beruhigt hatte. Shippō beobachtete ihn mit beklemmter Miene und wandte den Blick schließlich wieder nach vorn. Der südliche Hof lag nur einen knappen Ritt, aber einige Höhenmeter voraus und ehe die Sonne im Zenit stand, würden sie durch das schwere, hölzerne Tor reiten, hinauf zum Palast – und dem unvermeidbaren Zorn Hayatos entgegen. Kōhei wünschte, die vergangenen Tage hätten Gnade erwiesen und ihm das Wissen, um die Begleitung in der Karosse erspart, die der Ochsenyōkai mit unermüdlichem Rhythmus hinter sich dreinzog. Es hätte im Grunde nicht viel geändert, ihn jedoch davor bewahrt, sämtliche Horrorszenarien vor dem inneren Auge in allen erdenklichen Farben auszuschmücken. Saburōs schwarzer Hengst stampfte unbeirrt durch die ihm fremde, ansteigende Landschaft aus dichten Wäldern, mit Bäumen, deren gewaltige Äste den Weg wie ein Dach überspannten, ineinander griffen und trotz des vorangeschrittenen Tages nur fahles Licht durch die Blätter fallen ließen. Sowohl Pony als auch Ochse waren vermutlich kaum einen echten Berg gewohnt, dennoch ließen sie sich von dieser Unannehmlichkeit ebenso wenig beeindrucken wie ihr Herr, der indes mit den Damen im Innern des roten Gefährtes plauderte. Als eine von ihnen amüsiert über seine Worte lachte, gefror Kōhei beinahe das Blut in den Adern. Wieder reagierte sein Pferd, wieder spielte er an den Zügeln, um es abzulenken. Der Fürst wäre sicherlich nicht von Wiedersehensfreude erfüllt, wenn er seine Frau, die das freiwillige Exil seiner Gesellschaft seit fast sieben Jahrhunderten vorzog, nun ungebeten zurückbekam. Doch war es das Mädchen, das Kōhei wirkliche Sorgen bereitete: Dieses schüchterne, hübsche Ding mit den grauen Augen und mitternachtsschwarzem Haar, die an Saburōs Seite wirkte, als könne die Welt keinen anderen Platz für sie vorgesehen haben. Eine Geliebte war das eine, doch den Bauch, der sich unter den Lagen dicker Seide vorwölbte, verhieß einen weiteren Gast, der dem Fürsten noch weitaus ungeliebter sein dürfte als sein ohnehin schon wenig favorisierter Sohn. Das Haupttor stand bereits offen, als die Festung in Sicht kam. Saburō hatte schweigend zum Kopf der Gruppe aufgeschlossen, als sie die ersten Verteidigungsanlagen innerhalb der Wälder passiert hatten. Seine scharfen Züge waren eine ausdruckslose Maske, während sie ruhigen Schrittes unter dem Torbogen hindurchritten. Dicht hinter ihnen folgte die Kutsche und nun war auch dem Ochsenyōkai die Erleichterung fast anzusehen. Er brummte zufrieden, während er das Gefährt über die gepflasterten Straßen zum Palast zog und fast mochte man glauben, dieser niedere Yōkai danke im Stillen dem Erbauer, zumindest ein Plateau gewählt zu haben, wenn er die Festung schon in den Bergen hatte verschanzen müssen. Am Palastplatz mit seinem hellen Steinboden wurden sie von einem Teil der Armee erwartet. Die neuen Rekruten, junge Füchse aus dem Akademiejahrgang, stierten Shippō an, als habe er Beneidenswertes tun dürfen und Kōhei hoffte im Stillen, dass sein neuer Schüler klug genug wäre, ihren Unmut abzuwenden statt ihn mit Angeberei zu füttern. Aber das sollte nun wirklich nicht seine Sorge sein. Vor den Stufen, die hinauf in die herrschaftlichen Gebäude führten, schwang er sich von seinem Braunen und peitschte einen Moment mit den feuerroten Schwänzen, um der Wirbelsäule ein wenig Entspannung von dem beschwerlichen Ritt zu gönnen. Jirō trat zu ihm, überragte ihn wie stets um mehr als einen Kopf und griff nach dem Zügeln seines Pferdes, während ein Palastdiener herbeigeeilt war, um auch Saburō diese Ehre zu erweisen. Der neue Erbe des südlichen Reiches überließ ihm seinen Hengst, der missmutig die Ohren anlegte und augenblicklich nach dem Helfer schnappte. Saburō machte sich nicht die Mühe, das Tier zurechtzuweisen und warf einem weiteren Diener einen scharfen Blick zu, als niemand sich um den Ochsen bemühte. „Sorg' dafür, dass man die Kutsche abspannt und den Ochsen mit den Pferden im Stall versorgt“, sagte Kōhei an Shippō gewandt und so laut, dass auch Saburō es hören konnte. „Sie sollen ihm eine Box neben dem Rappen geben.“ Zumindest mit dem Ochsen hatte es während der Reise keinen Streit gegeben, also blieb zu hoffen, dass der Hengst so wenigstens einen Grund weniger hatte, den Stall zu zerlegen. Saburō bedachte Kōhei mit einem langen Blick, dann schließlich nickte er ihm so knapp zu, dass Kōhei meinte, er habe es sich nur eingebildet, und öffnete eigenhändig die Tür der Kutsche. Takara machte sich nicht die Mühe, die dargebotene Hand ihres Sohnes zu greifen und stieg selbstständig aus der Kutsche aus – und Kōhei wurde noch schlechter, als ihm ohnehin schon war. Takara hatte nie versucht, ihrem Mann gefällig zu sein und doch hatte Kōhei zu hoffen gewagt, dass sie ihr Verhalten nun um ihres Sohnes Willen abmildern würde. Doch statt ihr Haar wie für eine verheiratete Frau hohen Ranges angemessen in einer hochgesteckten Frisur oder zumindest zu einem Zopf zu ordnen, wallte es wie flüssiges Silber über ihren Rücken. Die Seide an ihrem Körper war schlicht, schmiegte sich jedoch eng an ihre Kurven und war weit genug ausgeschnitten, dass man nicht nur einen Anteil ihres schlanken Halses, sondern gleichsam den saphirnen Anhänger ihrer Kette auf ihrem Dekolleté betrachten konnte. Kōhei wandte den Blick von ihr ab und sah die Stufen zum Palast hinauf, während Saburō seiner Auserwählten aus der Kutsche half und damit zumindest auf Seiten der Palastdiener eine kurzfristige Schockstarre hervorrief. Die Soldaten besaßen den Anstand, starr nach vorn zu sehen und Kōhei dankte ihnen stumm, dass ihm zumindest diese Standpauke erspart blieb. Auf den Weg zum Empfangssaal hielt sich Kōhei im Hintergrund, während Saburō, gefolgt von beiden Damen, mit einer Präsenz voranschritt, die anmuten ließ, dass diese Stätte längst ihm gehörte und beinahe verspürte Kōhei so etwas wie Mitleid. Es war närrisch anzunehmen, dass der Fürst aus dem letzten Zusammentreffen nichts gelernt hatte. Kōhei kannte seinen Herrn gut genug, um zu ahnen, was in wenigen Augenblicken passieren würde. Es versprach, ein wenig angenehmer Tag zu werden und wenn er sich nicht irrte, würde die kommenden Jahre im Allgemeinen wenig erfreulich. Haru hätte seinem Vater nie widersprochen, nur deswegen hatte er überhaupt so lange als Erbe überdauert. Saburō hingegen... nun, die Zeit würde zeigen, ob er sich fügen konnte. Anderenfalls würde es wohl ein kurzer Besuch. Als die Diener die opulenten Fusuma zum Saal aufgeschoben hatten, senkte Kōhei reflektorisch den Blick – jedoch nicht ohne vorher die Lage binnen Sekundenbruchteilen erfasst zu haben. Der gesamte Raum war gefüllt mit Scharen von Dienern, die sich eng an den Wänden hielten, während sich augenscheinlich jedes Mitglied der Familie eingefunden hatte. Die Nachkommenschaft des Fürsten, rund vier Dutzend Kinder, das kleinste noch eng an seine Mutter geschmiegt, hatte sich zu beiden Seiten des Vaters niedergekniet, der unbeeindruckt wie stets im Schneidersitz auf seinen Matten saß und die Ankömmlinge betrachtete. Erst als diese sich verneigt und auch seine übrigen Kindern ihnen Respekt gezollt hatten, erhob sich Hayato. Im Vergleich zu Jirō war auch er klein wie jeder andere, aber er besaß breite Schultern, deren Eindruck von einem dichten, roten Pelz hervorgehoben wurde und die Ausstrahlung eines Raubtieres, die sich bei einem Kitsune nicht selbstverständlich niederschlug. Seine Bernsteinaugen funkelten kurz auf, als er Takara genauer musterte und Kōhei fiel auf, dass sich Vater und Sohn in dieser Hinsicht nicht unähnlich waren – beide konnten sie mit einem Blick den Eindruck erwecken, einem Stoff und Fleisch gleichermaßen von den Knochen zu schälen. „Takara“, wandte er sich zuerst an sie und seine tiefe Stimme klang gefährlich versöhnlich. „Hayato.“ Sie verzog keine Miene, ebenso wenig wie er, doch die Hitze, die über den Boden zu kriechen begann, ließ zumindest die jüngeren Kinder verstörte Blicke wechseln. Die wenigsten von ihnen hatten in ihrem kurzen Leben ihren Vater mehr als ein paar Stunden zu Gesicht bekommen. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, wenn sein Zorn allmählich Form annahm und wann man sich besser anschickte, seiner Drohung nachzugeben. Kōhei hingegen schon. Er hatte einmal den falschen Moment abgepasst, vor vielen Jahren, als er die überdeutlichen Zeichen seines Herrn noch nicht zu dechiffrieren verstanden hatte. Sein damaliger Vorgesetzter hatte ihn gesandt, um eine Nachricht zu überbringen und Kōhei hatte den Fürsten mit schlechter Laune angetroffen, die Zweideutigkeit seiner Fragen nicht gleich verstanden und ehe er auch nur die Möglichkeit hatte, zu begreifen, was geschah, war der Fürst über ihm gewesen. Hatte ihm mit dem Schaft des Yari den Unterkiefer zertrümmert, Platzwunden geschlagen, mehrere Rippen gebrochen und die Milz angerissen. Kōheis Hände waren schlimm verbrannt, als er versucht hatte, die Kohlenpfanne, in die der Fürst ihn hinabdrücken wollte, von seinem Gesicht fernzuhalten und schließlich war er grob auf den Rücken geworfen worden. Hayato hatte mit diesem tödlichen Blick in den Augen über ihm gestanden und die verängstigten Diener angewiesen, endlich einen seiner Heiler herbeizuschaffen, wenn sie nicht mit dem Jungen tauschen wollten. Von dem Tag an hatte Kōhei gelernt, die Launen seines Herrn zu lesen. Er bezweifelte, dass Takara mit ihrer Art bisher von dieser Seite ihres Mannes verschont geblieben war, doch wie auch immer er ihr ihre Aufsässigkeit vergolten hatte, es hatte sie nicht gebrochen. „Was verschafft mir die Ehre Eurer Anwesenheit?“, fragte er immer noch gefährlich sanft. Doch sie erwiderte seine stille Drohung mit einem Lächeln. „Eure Überraschung wundert mich. Es war Euch doch sicher bewusst, dass ich mit meinem Sohn zurückkehren würde, wenn ich mich bereits weigerte, ohne ihn fortzugehen.“ Kōhei konnte sehen, dass seinem Herrn eine scharfe Entgegnung auf der Zunge lag, doch er unterband sie, sicherlich auch, weil so viele Augen auf ihn gerichtet waren. Augen, wie die seiner übrigen Frauen, die die Rückkehr ihrer Konkurrentin alles andere als begrüßten. Natürlich war Takara nicht beliebt: Ihre widerspenstige Art rief entweder Eifersucht ob ihrer Kühnheit oder Abscheu gegenüber ihrer Haltung hervor. Des Weiteren hatte sie nur ein Kind, welches zu allem Überfluss nun auch noch einen höheren Anspruch vertrat als ihre zahlreichen Sprösslinge. Dass die Damen darüber alles andere als versöhnlich gestimmt waren, lag auf der Hand. Lediglich in Emikos Blick war mehr zu lesen als reine Verachtung. Harus Mutter betrachtete sowohl Takara als auch Saburō mit einem sonderbar anmutenden Mitgefühl. Die zurückhaltende Kitsune mit dem herbstroten Haar war bereits mit Hayato verheiratet gewesen, bevor dieser den Großteil seiner männlichen Verwandtschaft ins Grab gebracht und seine Cousine Jun geheiratet hatte, um sich selbst zum Fürsten des Südens zu erheben. Im Gegensatz zu den anderen Damen, allesamt Töchter gehobener Familien, zu bittersüßer Höflichkeit erzogen, vermochte sie ihre Gefühle nicht hinter einer Maske zu verstecken. Sie war eine ansehnliche, wenngleich nicht auffallend hübsche Frau, die einen warmen Umgang mit ihren Kindern pflegte und wenig mit Personen außerhalb der Familie sprach. Dennoch war sie stets freundlich, nickte Wachen und Dienern dankend zu, wenn diese lediglich ihre selbstverständlichen Aufgaben verrichteten und wandelte viele Stunden durch die weitläufigen Gärten. Nun sah sie mager und mitgenommen aus. Ihre Haut war fahl geworden, die Züge ausgezehrt. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie unter dem Verlust ihres Erstgeborenen litt. Indes sie still und mit vor sich ineinander verschränkten Händen dastand, durchmaß ihr Ehemann festen Schrittes den Raum, was seine Kinder dazu bewog, abermals die Stirn an den Boden zu legen. Auch Kōhei und die übrigen verneigten sich vor ihm. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen kam er vor Takara zum Stehen. „Hätte ich geahnt, wie zahm du zu mir zurückkehren würdest, wenn es um seinetwillen geschieht, hätte ich ihn eher kommen lassen“, hauchte er ihr ins Gesicht und ehe sie antworten konnte, hatte er sie an ihrer Halskette an sich herangerissen und eine Hand in ihren Nacken geschoben. Seine Klauen spielten an ihrer Kehle, ritzten sie, bis ein dünnes Rinnsal von Blut in ihren Ausschnitt hinabrann. „Viel eher. Dann hätte dich jemand den Anstand lehren können, den es Bedarf, um sich nicht wie eine billige Hure zu kleiden.“ Er bleckte die Zähne. „Du gehörst mir. Jedes Haar und jedes Bisschen deiner Haut, dein Schoß und selbst dieser Bengel, den du mir damit gegeben hast, gehören mir. Dein Vater hat mit dir seinen Frieden erkauft und ich gedenke nicht, meinen Besitz mit irgendjemandem zu teilen. Wenn ich dich noch einmal so sehe, sorge ich dafür, dass niemand dich je wieder freiwillig ansehen wird. Hast du mich verstanden?“ Sie antwortete nicht. Ihre blauen Augen funkelten ihn mit der größtmöglichen Abneigung an, doch er begann zu knurren, drückte ihr allmählich die Luft ab. „Mach mich nicht unnötig wütend, Takara. Du weißt, es ist jetzt schon schlimm genug. Also nochmal: Hast du mich verstanden?“ „Ja.“ Seine Klaue hinterließ eine blutige Spur, wo er über ihre Unterlippe strich. Dann ließ er sie los, musterte sie einen Moment und wandte sich an zwei nahestehende Wachen. „Meine Frau hat sich verletzt. Lasst ihr ein Bad ein, damit sie sich von der Reise erholen kann und besorgt ihr angemessene Kleidung. Verbrennt diese. Anschließend bringt sie in meine Gemächer.“ Er sah sie an und seine Augen funkelten belustigt. „Ihr überraschender Besucht hat uns leider nicht die Zeit gelassen, die ihren entsprechend herzurichten, aber nach all den Jahren haben wir ohnehin einiges nachzuholen.“ Takara verzog lediglich das Gesicht zu einem schiefen Lächeln und nahm ihm damit jeden möglichen Triumph. Doch er war fertig mit ihr; hielt einen Moment inne und betrachtete das junge Mädchen, das an der Seite seiner Frau stand und mit großen, grauen Augen furchtsam zu ihm aufsah. „Dein Name, Kind?“ Sie verneigte sich tief vor ihm. Ein wenig zu hastig für Kōheis Geschmack. „H-Hiromi, mein Fürst“, antwortete sie etwas zittrig. Er ließ sie nicht aus den Augen, musterte sie eingehend, als sie den Blick wieder hob und sprach doch nur mit den Wachen: „Geleitet auch unseren werten Gast. Das große Zimmer im nördlichen Trakt wäre angemessen.“ Kōhei verspannte sich bin in den letzten Muskel, indes Takara nicht im Mindesten verängstigt das Mädchen bei der Hand nahm und vor dem Fürsten auf dem Absatz Kehrt machte. Ihr letzter Blick galt ihrem Sohn, dann stolzierte sie erhobenen Hauptes vor den Wachen davon, die ihr im knappen Abstand folgten. Der nördliche Trakt... Kōheis Magen verkrampfte schmerzhaft und ein unangenehmes Rauschen in seinen Ohren kündete davon, dass sein Blutdruck empfindlich gestiegen war. Das war nicht etwa ein Teil des Palastes, in dem Hayato willkommene Gäste unterzubringen pflegte. Es war ein eher kühler Ort, in dem die Sommerhitze selbst den Ziervögeln erträglich schien, aber in erster Linie war er ein gut zu bewachender Massivbau. Das große Zimmer versprach einigen Komfort mit eleganten Möbeln, feinen Stoffen und einem eigenen Bad, es blieb aber dennoch das Gemach einer besseren Gefangenen, verriegelbar und fensterlos, dem zu entkommen kaum möglich war. Er hatte oft genug daran Wache stehen müssen. Tags wie nachts. Jahrelang. Außer Stande ihr zu geben, was sie wirklich wollte – und selbst im Rahmen seiner Möglichkeiten hatte er bitterlich versagt. Wann waren sie dazu übergegangen, dass sie es gewesen war, die ihn aufmunternd anlächelte und ihm gut zusprach, als sei er es, der des Rückhaltes bedurfte? Er hatte ihr stets nur die Hälfte dessen zu sagen gewagt, was wirklich geschah, aus Angst, sie könne an der Wahrheit endgültig zerbrechen, doch sie hatte es geahnt. Musste es geahnt haben. An dem Tag, als er ihr hatte mitteilen müssen, dass der Junge verschwunden war, hatte sie gelächelt. Nach all den Jahren zwischen Resignation und unrealistischen Hoffnungen hatte sie lediglich gelächelt. Ganz als sei es von Beginn an nur eine Frage der Zeit gewesen. Es wird ihm doch nichts geschehen, nicht wahr? Du achtest auf meinen Jungen. Versagt. All die Jahre unendlich versagt. Die tiefe Stimme des Fürsten holte ihn unsanft zurück in die Wirklichkeit. „Saburō.“ Eine kalte, erkennende Begrüßung. Wenn die Behandlung, die sein Vater seiner Begleitung hatte zuteil werden lassen, Saburōs Unmut erregt hatte, ließ er es sich nicht anmerken – und Kōhei war sich recht sicher, dass ihm diese beiden Frauen nicht vollkommen gleichgültig waren. Etwas Unangenehmes nagte an ihm, wenn er näher darüber nachdachte, doch Kōhei wollte nicht aufgehen, was es war, das ihn an alledem beunruhigte. „Vater.“ Saburō kopierte den Tonfall des Fürsten zur Perfektion und erwiderten seinen Blick stumpf. „Ihr habt nach mir verlangt.“ Saburō war kleiner und schmaler als sein Vater. Von seiner Mutter hatte er die anmutige Statur der Silberfüchse Awajis geerbt und wirkte filigran und ansehnlich, wo sein Vater eindrucksvoll und scharf wie eine Klinge erschien. Doch so anders Saburō auch im Vergleich zum Fürsten und all seinen Halbgeschwistern anmutete, war er doch der Sohn seines Vaters: Es waren nicht nur die flammenden Augen leuchtenden Bernsteins, sondern viel mehr die Art, wie sie sich umkreisten, ohne sich wirklich zu bewegen. Sie taxierten einander wie lauernde Raubtiere, jederzeit bereit, dem anderen im nächsten Augenblick die Kehle herauszureißen. Entschlossen, präzise, tödlich. Und doch schien Kōhei als sei ihnen dieser Umstand nicht allzu bewusst. „Ihr seid spät“, entschied der Fürst harsch. „Das wird nicht wieder vorkommen.“ „Wie Ihr sagt, Vater“, erwiderte Saburō mit Grabesstimme, dann unterband er das gegenseitige Lauern auf so unorthodoxe Weise, dass es für den Fürsten einer Ohrfeige gleichen musste. „Ich war von Eurem persönlichen Ersuchen überrascht. Ich hatte das Gefühl, dass Ihr mich nach meinem letzten Besuch nur ungern wiedersehen würdet und auch sonst kein weiteres Interesse an mir hegt.“ Für einen Moment hatte der Saal das Atmen eingestellt. Es war ein Vorwurf, so überdeutlich und hart, dass er an Anklage grenzte. Statt Reue zu heucheln, hatte er eine Wahrheit ausgesprochen, die Hayato ohne offensichtliche Doppelzüngigkeit nicht abstreiten konnte und vielmehr noch: Er hatte ihm öffentlich Desinteresse unterstellt – über die vergangenen Vorkommnisse hinaus. Saburō hätte den dankbaren Sohn spielen und sich für die Unruhen entschuldigen können, die er vor einigen Jahrhunderten entfacht hatte, und vielleicht hätte der Fürst im Angesicht der Situation sogar Gnade gezeigt und diese Angelegenheit für erledigt erklärt; seinem Sohn im Zeichen der Versöhnung vergeben. Doch schien es nicht in Saburōs Absicht zu liegen, Frieden mit seinem Vater zu schließen und ein einziger, kurzer Blick hinter den Fürsten und in die Augen seiner übrigen Kinder bestätigte Kōhei darin, dass es ein Fehler gewesen sein mochte, Saburō mit der Übermacht der Familie einschüchtern zu wollen: Waren die Nachkommen des Fürsten bis gerade noch bestrebt gewesen, dieses unangenehme Zusammentreffen möglichst respektvoll und doch teilnahmslos hinter sich zu bringen, so wie sie es bei derlei Angelegenheiten stets zu tun pflegten, spiegelten ihre Mienen nun eine rege Aufmerksamkeit, wie Kōhei sie selten bei ihnen gesehen hatte – und sie galt ihrem Vater. Der lächelte matt. „Takara hat entschieden, den Hof zu verlassen und ich habe es ihr gewährt. Es ist kein Geheimnis, dass wir nie miteinander ausgekommen sind und es für alle Beteiligten die angenehmste Übereinkunft war. Aber ihr seid mir willkommen und ihr wäret es immer gewesen.“ Es fiel schwer, die Worte des Fürsten anzuzweifeln. Er liebte Takara nicht und sie verabscheute ihn. Das war tatsächlich kein Geheimnis und doch stand ebenfalls außer Frage, dass er sie und den Jungen bei einer unangekündigten Rückkehr ohne Umschweife wieder aufgenommen hätte. Aber es war nicht diese Art von Antwort, die Saburō provoziert hatte – und auch nicht die, die seine Halbgeschwister hatten hören wollen. Sie senkten erneut die Blicke. „So wie Ihr uns“, erwiderte Saburō in einem versöhnlichen Ton, der jedoch im Nachhinein sehr trocken klang. „Wünscht Ihr, Euch mit mir zu unterhalten?“ „Zu gegebener Zeit. Man wird dir deine Räumlichkeiten zeigen.“ Damit wandte sich der Fürst an Kōhei. „Ich erwarte Euch in meinem Arbeitszimmer. Es gibt dringende Angelegenheiten zu besprechen. Unschöne Angelegenheiten, so viel kann ich Euch versichern.“ Der General nickte gehorsam. Unschön, ja, aber etwas in der Stimme seines Herrn verriet ihm, dass es weder um sein Betragen noch um irgendeinen Fehler ging. Es war etwas geschehen. Etwas, das mit Saburōs Ankunft nichts zu tun hatte. Kōhei fluchte stumm in sich hinein. Wer oder was konnte sich denn noch gegen sie verschwören? ☾ „Ihr wollt... zu Yūsei?“ Minoru überhörte den Unglauben in der Stimme des Flohs und nickte knapp. Natürlich hatte Myōga recht, wenn er sagte, dass üble Gerüchte ungelegen kämen. Er hatte genug vom Palastpersonal aufgeschnappt, um zu wissen, dass sie ihm allein aufgrund des Verhaltens seiner Mutter misstrauten – und wenn er ehrlich war, wollte er es ihnen nicht einmal übel nehmen. Vorsicht war gut und wer von ihnen konnte sich schon sicher sein, dass Minoru nicht doch in die Vorstellungen und Pläne dieser Frau verwickelt war? Die Fürstinmutter hatte ihre Worte nicht umsonst gewählt, auch wenn sie sie zuletzt zurückgezogen hatte. Es waren Ansichten, die existierten. Ansichten, mit denen er umzugehen lernen müsste. Sie wussten nicht, wie sehr er seine Mutter verabscheute und er wäre der Letzte, der auf die Idee käme, die Gründe seines Hasses für jeden offenzulegen. All das war Tatsache. Doch würde ihm niemand vorwerfen, wenn er den Schneider aufsuchte und davon abgesehen würde er seine Handlungen auch nicht anhand der Reaktion jener ausrichten, die ihm eines Tages eventuell folgen sollten. Prüfend betrachtete Minoru die aufwendig geschnitzten Rahmen der schweren Eingangstür. Ineinandergreifende Ranken, in tiefem Waldgrün lackiert, und aus Liebe zum Detail mit den Schnitzarbeiten winziger Käfer verziert, die an ihnen emporkrabbelten. Aus dem Innern roch es so überwältigend nach Pflanzenextrakten und allerlei Unbekannten, dass es Minoru unwillkürlich schüttelte. Mit höflicher Milde klopfte er an die Tür, die noch unter seinen Fingerknöcheln mit einem derartigen Schub aufgestoßen wurde, dass das lackierte Holz an seiner Haut entlangschrappte. Deutlich zu aufmüpfig rammte der Kappa den zweiköpfigen Stab auf den Boden – Tock! – und erhob seine krächzende Stimme in mahnender Abfälligkeit: „Der erhabene Herr und Meister ist zugegen! Niederes Fußvolk -!“ Ein durchdringendes Knurren ließ ihn verstummen und während er aus Gewohnheit einen Blick hinter sich warf, bemerkte er zu spät, dass die Bedrohung unmittelbar vor ihm stand. Kreischend und mit einem sofortigen Schweißausbruch erkannte Jaken Minoru erst, als der ihn bereits am Kragen seines dunkelbraunen Suikan in die Luft hob und mit Mord in den goldenen Augen anfunkelte, dass er am liebsten in den nächstbesten Teich gekrochen wäre. „J-j-junger Herr! Ich wollte nicht – ich hätte nie - !“ Eine Klaue strich warnend über seinen zitternden Kehlkopf. Jaken quietschte panisch und wurde steif wie ein Brett. „Ich hatte dich gewarnt“, hob Minoru gefährlich leise an. „Du bist offensichtlich sehr vergesslich.“ Abwehrend hob der Kappa die grünen Hände und spreizte die drei Finger an jeder so weit, das man meinen könnte, er hoffe damit tatsächlich etwas zu bezwecken. Im nächsten Moment rettete ihn die tiefe Stimme des Fürsten vor länger anhaltenden Verletzungen – jedoch nicht vor einer sehr unsanften Landung auf den groben Pflastersteinen der Straße. Mit der Nase voran gestaltete sich das Bremsen äußerst schmerzhaft und er wagte es erst wieder zu atmen, als sich die Holztür zum Haus des Schneiders hinter diesem übellaunigen Welpen geschlossen hatte. Minoru donnerte die Tür ein wenig gröber gegen den Rahmen als er beabsichtigt hatte und durchmaß den Vorraum mit langen Schritten. Er wusste, warum er derartige Ansammlungen von Gerüchen nicht leiden konnte: Sie ließen ihn am helllichten Tag für die offensichtlichsten Dinge erblinden – selbst für die mittlerweile vertraute Witterung seines Vaters. Der Fürst stand in Yūseis weitläufigen Arbeitszimmer. In hohen Regalen waren Unmengen von Stoffen in den leuchtendsten Farben auf schmalen Rollen gelagert. An den Wänden hingen fertige Exemplare: Ansehnliche Yukata, verschiedenste Kimono, Hosen aus feinen Stoffen oder harten, anschmiegsamen Leder. Leinengewänder, Obi, Tücher. Ein großer Webstuhl nahm beinahe die gesamte Linke ein, zwei weitere kleine säumten die Wand vor Kopf und waren von Stoffbahnen überhängt worden. Yūsei saß an einem gewaltigen Tisch am Boden, hatte eine Nadel auf den Lippen und musterte den Fürsten vor sich nachdenklich, während seine Hände mit den krummen Klauen an einer Lederhose herumnestelten. Minoru verneigte sich vor seinem Vater, als er eintrat. „Guten Morgen, Herr. Yūsei-sama. Ich hoffe, ich störe Euch nicht.“ Er nickte auch dem Alten zu, indes Sesshōmaru seinem Sohn einen ebenso langen Blick zuwarf, wie Yūsei ihm zuteil werden ließ. „Was möchtest du?“ „Ich bin nicht Euretwegen hier“, antwortete Minoru vorsichtig. „Ich hatte nicht erwartet, Euch zu treffen.“ Sein Vater musterte ihn einen Augenblick stumm, dann wandte er sich wieder an den Veteranen: „Kann ich mit Euch rechnen?“ „Es ist viel verlangt, Sesshōmaru-sama.“ Die Nadel wippte bei jedem Wort auf seinen schmalen Lippen auf und ab. „In einer sehr kurzen Zeit. Ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. Aber wenn dieser Berserker noch einmal kopflos meine Arbeit in den Dreck tritt, werde ich ihn mit den blutigen Fetzen eigenhändig ersticken.“ Der Fürst nickte still. Dann machte er sich auf den Weg hinaus. „Sei pünktlich“, erinnerte er den Jungen im Vorbeigehen, dann war er verschwunden. Minoru unterdrückte ein verdrießliches Schnauben. Musste er ihn daran erinnern? War es nicht schlimm genug, dass es unausweichlich war, mit dieser Frau zu essen? Nun, sicherlich, für eine Frau war sie im Beisein eines Mannes erstaunlich herrisch. Das allein war interessant genug, dennoch sehnte er sich nichts lieber herbei, als eine versinkende Sonne, die davon kündete, dass das Mittagessen längst vorbei war. Yūsei betrachtete ihn in der Zwischenzeit aufmerksam: „Wie kann ich Euch helfen?“ „Das habt Ihr bereits“, versicherte Minoru, während er herantrat. Bei näherem Hinsehen, bemerkte er, dass er vergessen hatte wie unglaublich alt der Mann war. „Ich wollte Euch für Eure Mühen gestern danken.“ „Eine Selbstverständlichkeit. Ich hatte Euch gebeten, bei Bedarf zu mir zu kommen, junger Herr. Es ist mir eine Ehre.“ Er fischte sich die Nadel so geschickt von den Lippen, dass Minoru sich reumütig eingestehen musste, dass er es ihm bei diesen krummen Glieder gar nicht zugetraut hätte – dabei trug er die Arbeit dieser sicheren Hände am eigenen Leib. Der Alte steckte das spitze Werkzeug tief in das dunkelbraune Leder und legte die Hose zur Seite. „Ihr seht müde aus, wenn ich mir dieses Urteil erlauben darf. Eure Reise muss anstrengend gewesen sein. Erlaubt mir, Euch einen Tee zu reichen.“ „Macht Euch meinetwegen keine Umstände“, beschwor ihn Minoru, doch er lächelte nur, zeigte seine abgenutzten, vergilbten Zähne und angelte nach seinem Stock, um sich zu erheben. „Drachen. Eine unangenehme Sache“, murmelte er vor sich hin und Minoru war sich nicht sicher, ob er mit ihm sprach oder nur mit sich selbst. „Scheint, als sei der Frieden endgültig vorüber – wenn es je einen gegeben hat. Sie waren tot, müsst Ihr wissen. Euer Großvater hat den letzten Drachen vor über zweihundert Jahren an eine Felswand gebannt, nachdem wir ihre Truppen vernichtet hatten. Es hat auch ihm alles abverlangt und Euer Großvater war ein Daiyōkai, der mehr vorzuweisen hatte als rohe Gewalt. Dennoch ist er seinen Wunden erlegen. Ah, närrische Gerüchte. Er habe bei der Verteidigung dieser Menschenfrau die Reise ins Grab angetreten. Unfug. Ich kannte den Mann. Eine Festung voller tumber, kleiner Menschen hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Ob nun brennend oder schlafend. Gleich.“ Myōga rutsche unangenehm berührt auf Minorus Schulter herum und nickte stumm für sich selbst. „Soweit ich weiß ist Ryūkotsusei vor einigen Jahren freigekommen und wenige Augenblicke später durch Tessaiga gefallen. Der Bastardbengel war es. Der Vater dieser hundeohrigen Kinder von neulich, möchte ich wetten. Es war Balsam, das zu hören.“ Er hatte Minoru den Rücken zugewandt. Der Zopf aus schütteren, altersgrauen Haar schien in den vergangenen Monaten noch lichter geworden zu sein und jeder hätte auf den ersten Blick sehen können, dass es Yūsei allmählich überforderte mit seinem Alter und dem fehlenden Bein dieses große Haus und seine aufwendige Arbeit unter einen Hut zu bringen. Minoru fühlte sich schwerer, als er verstand, dass auch andere Leute ihn so betrachten mochten. Personen, die ihn noch zu seinen Zeiten als Krieger gekannt hatten und nun nicht mehr sahen als einen alten, gebrechlichen Einbeinigen. In seinem Fall würde man vielleicht noch den begnadeten Schneider bemerken, den Mann, auf dessen Arbeit man angewiesen war, wenn man Kleidung wünschte, die einen Kampf überstand – aber wie viele andere konnten mit derartigen Berufungen ihr Gesicht wahren? Vielleicht wurden kriegerische Yōkai auch deswegen selten so alt. Eine Hand auf den Stock gestützt bereitete er mit der anderen den Tee und brummte weiter vor sich hin. „In Eurem Alter in diese Angelegenheiten hineingezogen zu werden... . Es liegt keine Ehre darin, Siege durch diese Spielchen erringen zu wollen. Aber es ist einfach, das zu sagen, wenn man auf Seiten der größten Schlagkraft weilt. Wisst Ihr, wie viele Männer Euer Vater unter Waffen hat?“ „Nein“, antwortete Minoru wahrheitsgemäß. Beim Sortieren der Unterlagen nach seiner Ankunft, hatte er neben den unnötigen Informationen über Nahrungsmittelzulieferungen auch den ein oder anderen Bericht über Truppenstärken in den Händen gehalten, aber die waren sicherlich wenig aktuell, wenn sie noch aus der Zeit seines Großvaters stammten. Der Alte knurrte leise, doch es war keineswegs missbilligend. „Er tut wohl daran, Euch heraushalten zu wollen. Dennoch... es sind rund vierhundert. Vierhundert bewaffnete, ausgebildete Inuyōkai. Zu Zeiten der großen Schlachten, als sich die Verbündeten der freien Völker den Inu anschlossen, haben wir eine ganze Ebene mit Streitern zu füllen vermocht; die Invasoren vom Festland ebenso zurückgeschlagen wie die Panther oder Drachen.“ Er wandte sich um und betrachtete Minoru einen Moment still, der ihn aufmerksam ansah, dann lachte der Alte leise. „Es stimmt wohl: Alte Leute erzählen gern von längst vergangenen Zeiten. Ich will Euch nicht langweilen.“ Minoru schüttelte den Kopf: „Das tut Ihr keineswegs.“ In Wahrheit war es beschämend, dass er mit den Namen der offensichtlich wichtigsten Feinde nichts anzufangen wusste und vom vergangenen Krieg mit den Panthern nur durch Rin erfahren hatte. Es musste Aufzeichnungen zu diesen Ereignissen geben, wenn sie selbst Reislieferungen auf mehr als dreihundert Jahre zurückdatieren konnten – und er sollte sie dringend lesen. „Diese vierhundert Männer in Waffen... im Training mit Ryouichi habe ich kaum mehr als einen Bruchteil von ihnen gesehen.“ Yūsei brachte erst die Teekanne zum Tisch und schließlich die Porzellanschalen. Minoru unterband den Drang, ihm seine Hilfe anzubieten. Er hätte ihn lediglich in seinem Stolz gekränkt. Stattdessen ließ er sich ihm gegenüber an den Tisch sinken und nahm die Schale grünen Tees in die Hände, während Yūsei sich selbst einschenkte. „Ryouichi hat eine gute Hundertschaft unter seinem direkten Befehl. Damit ist die Festung hier in Shinano die am besten besetzte im ganzen Westen. Alle übrigen Männer verteilen sich auf den jeweiligen Sitz der Ratsmitglieder. Euer Onkel scheint mir die nächstgrößere Armee zu befehligen. Vielleicht auch Akio.“ Er tippte mit einer Klaue nachdenklich auf den Tisch und zog die Stirn kraus. „Vier oder fünf Dutzend, meine ich in Erinnerung zu haben.“ Minoru musste sich anstrengen nicht verdutzter zu schauen als unbedingt notwendig. Der Alte konnte unmöglich Inuyasha meinen. „Osamu. Der Bruder Eurer Mutter“, ließ Yūsei beiläufig fallen, wohl auch, um ihm seine eigene Unwissenheit nicht noch schwerer zu machen. „Aber auch ohne hundert Soldaten würde niemand ernstlich in Erwägung ziehen, uns offen anzugreifen. Niemand möchte Ryouichi und Eurem Vater auf demselben Schlachtfeld gegenüberstehen. Stattdessen spielen sie lieber an der Grenze Katz' und Maus, lassen siechende Drachen über das Land herfallen und stehlen unsere Kinder.“ Ein verbitterter Ausdruck legte sich über sein markantes Gesicht. Vor einigen Jahrtausenden war er sicher ein gutaussehender Mann gewesen. Groß, mit scharfen Zügen und wettergegerbter Haut, auf der die dezenten, schwarzen Dämonenmale entlang seiner hohen Wangenknochen nicht in fahlen Falten verschwanden. Nur seine Augen waren jung geblieben; glänzten wie schwärzester Onyx und je nach Lichteinfall wirkte es, als seien seine Pupillen in Wahrheit heller als die finstere Iris. „Kämpften sie ehrenhaft, stürben sie. Das lässt sie niederträchtig werden. Niederträchtige, heuchelnde Meuchelmörder, nicht besser als diese Menschen, die sich überall ausbreiten wie ein Sommer voller Heuschrecken. Man kann kaum Spucken ohne einen von ihnen zu treffen.“ „Sie siedeln nicht so tief im Gebirge“, merkte Minoru vorsichtig an. „Als ich in Eurem Alter war, siedelten sie freiwillig nicht einmal auf etwas, das man nur mit viel Zuspruch einen Hügel hätte nennen können. Sie blieben in den Ebenen nahe der Küste. Heute sind dort zwar ihre größten Städte, ihre Siedlungen haben sich jedoch einen Weg in die Wälder und Gebirge gebahnt und auch wenn ich es vielleicht nicht mehr erleben werde, werden sie irgendwann auch hierher kommen.“ Minoru wollte der Gedanke nicht wirklich behagen. „Der Fürst wird ihrer Ankunft sicher das entsprechende Maß an Aufmerksamkeit widmen.“ „Mit Sicherheit“, stimmte der Alte in beruhigenden Ton, der klang, als versuche er ein Kleinkind die Angst vor etwas nehmen, das unweigerlich dennoch geschehen würde. Er setzte die Schale an die Lippen und trank den Rest seines Tees als schütte er Sake seine Kehle hinab. Dann füllte er zunächst Minoru nach und anschließend sich selbst, bevor er das Thema fallen ließ. „Euer Kimono und die übrigen Sachen werden in Kürze sicherlich zu eng werden. Wenn es Euch recht ist, würde ich dieses Mal gern Maß nehmen und Euch Muster, Farbe und Schnitt wählen lassen. Denkt Ihr, das wäre möglich?“ „Sehr gern.“ Minoru legte erneut die Hände um das heiße Porzellan. „Wenn Ihr nicht zu viel zu tun habt.“ „Ah, für Euch habe ich immer Zeit. Wenn gewisse Personen ein wenig mehr auf sich achten würden, könnte ich mir auch überflüssige Arbeiten ersparen und mich um wichtigere Dinge kümmern.“ Den Blick von der Schale in seine Augen hebend starrte Minoru ihn an. Er hatte den Schneider für einen weisen, treuen Veteranen gehalten. Dass er jedoch so über den neuerlichen Auftrag seines Vaters sprach... Als Yūsei begriff, wie seine Worte aufzufassen waren, erblasste er um einige Nuancen und hustete fast seinen Tee zurück in die Schale. „Verzeiht! Ich habe natürlich nicht über Euren hohen Vater gesprochen! Er kam nicht seinetwegen hierher.“ Nun wollte die Erkenntnis erst recht nicht mehr in Minorus Geist eindringen. Für wen sonst sollte der Fürst einen Gefallen erbitten, wenn nicht für sich selbst? „Ryouichi“, murmelte Myōga leise. Doch das Alter hatte dem Schneider offensichtlich nicht das Gehör genommen. „Ja, in der Tat. Der Fürst kam, um mich zu bitten, neue Stücke für den Chūyō anzufertigen. Meine letzte Arbeit hat er an der Ostfront den Drachen zum Fraß vorgeworfen. Das scheint eine seiner ausgeprägteren Künste zu sein.“ Er verzog das Gesicht und murmelte etwas Unverständliches, das nur für ihn bestimmt schien. „Ich bitte abermals um Verzeihung. Es gehört sich nicht, vor Euch schlecht über Euren Lehrmeister zu sprechen. Der Generalleutnant ist ein ausgesprochen fähiger Mann, dessen Loyalität über allem steht. Es ist der Zorn, der aus mir spricht. Wenn man so alt ist, wie ich es bin, scheinen auch erwachsene Männer noch Jungen zu sein, die man bevormunden möchte. Dabei sind sie für meinen Rat längst noch tauber als sie es vor einigen hundert Jahren ohnehin schon waren.“ „Ihr habt ihn unterrichtet“, stellte Minoru fest. Ryouichi war neben seinem Vater der einzige, der ihn wie ein Kind behandelte und er würde es sich auch in zehntausend Jahren nicht nehmen lassen, ihm mit dem Holzschwert eins über den Kopf zu geben, wenn er es als passend empfand. Oh, nicht öffentlich natürlich, niemals öffentlich. Aber gepfeffert und gesalzen, wenn sonst niemand hinsah. Es lag nahe, dass die Dinge mit diesem Mann nicht anders standen. „Beide. Ihn und Euren Vater“, erwiderte Yūsei in einem Ton, der verlauten ließ, dass einer allein schon Nerven genug gekostet hätte. Dass er der Lehrer des Fürsten gewesen war, hatte Ryouichi erwähnt, jedoch nicht, dass auch er unter dem Veteranen trainiert hatte. „Mir war nicht klar, dass sie zusammen aufgewachsen sind.“ „Sie sind im gleichen Alter. Vielleicht durch unbedeutende ein- oder zweihundert Jahre getrennt. Euer Vater hätte ihn nicht zum Generalleutnant erwählt, wenn dem nicht so gewesen wäre.“ Minoru betrachtete die feinen Stücke von Blättern, die sich als Bodensatz in seiner Schale abgelegt hatten. Er war so blind gewesen. Bis vor ihrer Rückkehr am vergangenen Tag hatte der Fürst viel Wert darauf gelegt, jede Seele von ihm fernzuhalten – bis auf seinen einstigen Lehrmeister und seine rechte Hand. Personen, denen er unweigerlich bis zu einem gewissen Grad vertrauen musste, wenn er zuließ, dass Minoru sie ohne seine Aufsicht traf. Er verengte die Augen. Dieser gerissene Hund! Deswegen hatte er sich die neuen Kleider selbst bei Yūsei abholen sollen und auch nur aus diesem Grund durfte Ryouichi ihn so grob behandeln wie es ihm beliebte. Und man behauptete von ihm, er sei misstrauisch! „Junger Herr, habe ich etwas Falsches gesagt?“ „Nein.“ Ryouichi hatte es ihm schon vor Wochen vor die Füße geworfen. Du solltest beginnen, Fragen zu stellen. Der Fürst lässt zurzeit niemanden in deine Nähe, den er nicht als bedingungslos vertrauenswürdig einstuft. Myōga, Yūsei, sogar Jaken. Minoru knirschte leise mit den Zähnen. Wieder hatte Ryouichi sich ausgenommen. Es war ihm schon damals aufgefallen, doch hatte er mit seiner ersten Nachfrage unmittelbar auf Granit gebissen. In lauernder Ruhe musterte er den gebrechlichen Mann, sein schütteres Haar, die pechschwarzen Augen. „Warum vertraut er dem Chūyō?“ Bei der Wandlung, die das Gesicht des Alten durchmachte, war Minoru sich nun endgültig sicher, einen Nerv getroffen zu haben. Nicht nur Ryouichi wollte nicht darüber sprechen, sondern auch Yūsei schien sich mit einem Mal gar nicht mehr so wohl in seiner Haut zu fühlen. „Nun, wie bereits erwähnt sind sie gemeinsam aufgewachsen“, erklärte er in einem Ton, für dessen Beiläufigkeit man hätte applaudieren mögen. „Er weiß um sein Können und kennt ihn besser als alle anderen Angehörigen der Armee. Es lag nahe.“ Ja, das wohl, dachte Minoru bitter. Aber das ist nicht alles. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)