Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 33: Das was bleibt -------------------------- Die undurchschaubar finstere Vergangenheit war gewichen. Seichter Nebel, fein, aber undurchdringlich wie tiefste Gewässer, hatte alles in seiner Nähe umhüllt und die wenigen Silhouetten der hohen Bäume und massiven Gegenstände in schwer ergründliche Schemen verwandelt. Der Boden, von gräulichem Gras bedeckt, lag verzerrt in einiger Entfernung zu allem, was für gewöhnlich auf ihm hätte wachsen müssen. Sämtliche Vegetation schwebte grau in weiß in sonderbar logischer Anordnung mehrere Meter über Mutter Erde und erst langsam, ganz langsam fügte sich die Umwelt wabernd und fließend in gewohnte Formen. Die mächtigen wie jungen Bäume berührten mit ihren Wurzeln das Erdreich, verzerrte Zäune fügten sich in eine ordentliche, geplante Reihe. Der Nebel wurde dichter und als der Wind die Blätter in den hellen Kronen erfasste, die jeden Grüns entbehrten, wirbelte die Luft in sanften Schwaden sichtbar aufgewühlt umher. „Was gibst du mir dafür?“ Eine tiefe, knorrige Stimme klang grob aber auch dumpf durch die Nebelwand, doch außer den Umrissen einer großen, schmalen Person war in diesem lichten Wald niemand zu erkennen. „Was ich dir dafür gebe? Was denkst du, was ich habe?“ Die Gegenfrage wurde von den sich verdichtenden Schwaden umso mehr gedämpft. Der spöttische Unterton darin war jedoch deutlich vernehmbar. „Was gibst du mir-“, tönte die erste Stimme, diesmal eindringlicher, „wenn ich den Enkel des großen Daiyōkai des Westens zurück an seinen Wirkungsort bringe?“ „Was kann ein Wesen wie du von meiner Person schon wünschen?“ „Nur eines“, grollte die dunkle Stimme im Verblassen. „Wenn ich dir helfe, wirst du das hier ändern. Das alles.“ Der Wald war von kehligem Knurren und knackenden Ästen erfüllt. Inmitten silbrig-weißer Wogen rollten zwei schimmernde Gestalten, knurrend ineinander verknäult, über den Boden, krachten gegen einen Baum, der ächzend zu schwanken begann. Silbriges Laub wurde in alle Himmelsrichtungen geschleudert, während eine der Gestalten elegant einige Meter entfernt aufkam und seinen Gegner abwartend beobachtete, der regungslos am Boden zurückblieb. Doch nur wenige Augenblicke später ging der vermeintlich Geschlagene wieder auf sein Gegenüber los, das ihn unversehens aus der Luft riss und ihn am Boden festzusetzen suchte, was deutlich fehlschlug. Der Angreifer bekam eine Hand frei, schlug sie mit allen Klauen tief in den Rücken seines Gegenübers und riss sein Opfer mit Gewalt herum. Wie tödlich spielende Kinder rollten sie über den weiß schimmernden Waldboden, rutschten einen Abhang hinab und wer auch immer unten lag, halb verschüttet von Erde und Zweigen, trat den anderen von sich herunter, der sofort wieder zum Angriff ansetzte. Was am Anfang noch ein Übungskampf hätte sein können, hatte den harmlosen Charakter gänzlich verloren. Der Lärm, den die beiden veranstalteten, hallte an entfernten Berghängen wider; ging durch Mark und Bein. Es war tödlicher Ernst. Mitten im Kampf, während der Angreifer seine Klauen im Hals seines Gegners versenkt hatte, zerfloss die ohnehin schon schemenhafte Form des Verteidigers zu der eines sonderbar geformten Hundes, der ohne zu zögern und ungeachtet seiner schweren Verletzungen alles daran setzte, dem Griff zu entkommen und sofort die gegnerische Kehle attackierte. Die Bilder überschlugen sich – und als sich alles erhellte, waren die beiden vorher noch so schimmernden Gestalten nicht mehr von ihrer Umwelt abzugrenzen. Erneut mischte sich Grau in die grelle Vision, formte längliche Rechtecke. Dutzende, hunderte von ihnen, die vorn säuberliche Reihen bildeten und weiter entfernt jeder Ordnung entbehrten. Jemand kniete am Boden, einen Hund an seiner Seite, der sich im gebührenden Abstand abgelegt hatte, und zog geistesabwesend mit langen Klauen die in den Stein geschlagenen Schriftzeichen des Grabes nach. Der Nebel floss flüssig schwebenden Träumen gleich durch den Raum, lag auf Wänden, Tischen und Lebenden gleichermaßen. Hüllte sie ein und gab dünn die Gesellschaft preis. Viele Personen, helle Gestalten aus Weiß und Silber, saßen aufgeregt tuschelnd an ihren Plätzen, die in der Mitte eine weite, helle Fläche freigaben. Elegant und erhaben wie der hereinbrechende Abend neigte eine junge Frau inmitten des freien Platzes das Haupt vor einem hochgewachsenen Mann, dessen offenes Haar wie ein weißer Schleier über seinen Rücken fiel. Er nahm ihre Hand und wenige Augenblicke nachdem sie einen Tanz begonnen hatten, der wenig traditionell schien, legte die Frau mit dem deutlich dunkleren Haar den Kopf an seine Schulter. Der Mann führte sie im Kreis, immer wieder, doch es schien sie nicht zu stören. Die Anwesenden stellten allmählich ihre Gespräche ein und sahen dem auffälligen Paar zu, das sich wie eine Einheit elegant und selbstbewusst durch den Saal bewegte als gehöre er allein ihnen. Nach einer sanften Drehung glitt sie sicher zurück in seine Arme, lehnte sich mit einer gewissen Kühnheit weit zurück, vertraute darauf, dass seine Hand auf ihrem Rücken sie sicher hielt. Sanft wie ein samtiger Pfirsich ließ die junge Frau ihren Kopf bald zurück an seine Schulter sinken und seufzte ergeben, während sie sich blind von ihm führen ließ. „All die Monate“, flüsterte sie kaum hörbar. „Es wäre beruhigender, dich nicht so lange entbehren zu müssen. Diese Burg ist so viel leerer ohne dich.“ „Mein Herr, dieses Vorhaben, das Ihr ersinnt, ist, wenn ich meine bescheidene Meinung äußern darf, gewagt.“ „Das dürft Ihr nicht.“ „Aber mein Herr, bedenkt doch-“ Untermalt von einem lauten Knurren fuhr die Faust auf den Tisch nieder. Strategische Figuren, die zuvor noch in überdachter Anordnung auf einer Karte platziert worden waren, flogen umher; verteilten sich auf der gesamten Länge des Tisches. Der schlanke, hochgewachsene Mann am Kopfende erhob sich zeitgleich mit dem aufstrebenden Yōki, das selbst die umherwandernden, milchigen Nebelschwaden der Vision in scheue Aufregung versetzte. Entgegen der spürbaren Wut war seine Stimme jedoch gefasst. „Eine letzte, gutmütige Warnung: Ihr seid alles andere als unersetzlich. Geht an Eure Arbeit.“ In einem Tempo, das gerade noch den Erhalt eines Mindestmaßes an Würde erlaubte, verließen mehrere, graue Gestalten hastig den Raum und schoben die Tür behutsam hinter sich zu, als fürchteten sie auch nur ein weiteres, überflüssiges Geräusch zu verursachen. Die bedrohliche Aura ebbte ab und mit ihr beruhigte sich auch der Nebel, der erneut die gesamte Szene in ein milchiges, dichtes Weiß tauchte. Die Atmosphäre wurde augenblicklich leichter, vertrauter. „Du bist wirklich ein Herzchen“, tönte einer der drei im Raum verbliebenen Männer und stieß sich non chalant von der Wand ab, an der er während der Versammlung gelehnt hatte. In der Statur dem Ersten gleich, fanden die Gemeinsamkeiten im Verhalten ein jähes Ende. Nachdem er auch den Rest der Holzfiguren mit einer verwerflichen Handbewegung zu Boden befördert hatte, ließ der Zweite sich im Schneidersitz äußerst unschicklich auf den niedrigen Tisch sinken. „Ich bin kein Experte in solchen Belangen, aber allmählich solltest du dir diese behäbigen, alten Männer vom Hals schaffen. Sie sind lästig – und eindeutig zu frech.“ „Gerade du solltest nicht darauf plädieren, Frechheit als Kriterium für eine Reise in den Nether anzuwenden. Das könnte übel für dich enden“, entgegnete der Erste gelassen und schnippte seinem Vertrauten eine der Holzfiguren an den Kopf. „Davon ab: Die Aufgabe dieser 'behäbigen, alten Männer' ist es, mir zu widersprechen, wenn sie es für nötig halten. Würde ich jeden einzelnen von ihnen dafür hinrichten lassen, säße ich bald allein auf den Ratsversammlungen.“ „Diese Einrichtung hat natürlich immensen Nutzen, wenn du ihnen ständig das Wort verbietest und ohnehin nicht auf sie hörst“, konterte der andere ungerührt, erntete dafür aber nur ein hämisches Lachen. „Vermutlich hast du Recht. Das macht diese Institution ein wenig überflüssig.“ „Ausgehend von ihrem Wissensstand sind ihre Einwände begründet und legitim.“ Die dritte Person, ein junger Mann mit kurzem Zopf, der sich bisher schweigend im Hintergrund gehalten hatte, sprach in ruhiger Überzeugung. Er war nicht minder ein Krieger als die anderen beiden, doch verrieten seine schmalen Schultern und etwas an seinem Auftreten, dass er der Jüngste von ihnen war. Vielleicht ein paar hundert Jahre alt. „Natürlich sind sie das.“ Der Mann auf dem Tisch streckte ein Bein aus und legte den Unterarm über sein angewinkeltes Knie. Dann wurde er mit einem Mal ernst. „Es wäre dennoch unsinnig ihren Wissensstand um empfindliche Informationen zu erweitern. Sie fürchten sich ohnehin zu viel.“ „Sie haben viel zu verlieren“, gab der Jüngste ohne eine deutliche Färbung in der Stimme zurück. Es war eine Aussage, ein Fakt – mehr nicht. Abweisend wandte sich der Erste der Außentür zu und fixierte einen fernen Punkt im Garten, während der Krieger auf dem Tisch nur verächtlich schnaubte. „Wer hat das nicht? Dennoch führt dieses Volk seit seiner Entstehung vernichtende Kriege und ich werde nicht zu der Generation gehören, in der wir Beleidigungen zugunsten eines dünnen Friedens buckelnd hinnehmen, weil einige den sicheren, warmen Herd einer Konfrontation vorziehen.“ Der Jüngere verschränkte die Arme vor der Brust: „Niemand von ihnen scheut Blutvergießen oder Verluste. Ihnen das vorzuwerfen ist nicht gerechtfertigt. Sie fürchten das Ausmaß dieses Krieges, dessen Folgen selbst im positiven Ausgang noch unklar sind. Es sind keine Drachen oder Panther von denen wir hier sprechen.“ „Sollten wir ihnen sagen, was wirklich auf dem Spiel steht?“, erwiderte der andere bitter. „Glaubst du, das würde sie beruhigen?“ Sein Gegenüber veränderte seine Position, wollte gerade offensichtlich eine Antwort auf die provokante Frage geben – und hielt augenblicklich inne, als der Erste die Aufmerksamkeit vom Garten löste und die Diskussion jäh unterbrach. „Krieg ist niemals ein Spiel. Keine Komposition von Blut oder ein Tanz. Egal wie viele Gedichte noch darüber geschrieben werden, gleichgültig der Lieder: Krieg ist Krieg. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn ich spielen wollen würde, zöge ich andere Brettspiele vor.“ Missbilligend betrachtete er die Überreste der strategischen Aufstellung und für einen kurzen Moment war selbst der Nebel nicht dicht genug, um Minorus goldene Augen zu verbergen, die mahnend und nachdenklich zugleich in einem inneren Feuer loderten, das weniger selbstsichere Personen verschlungen hätte. Dann obsiegte abermals der Nebel. „Einige von ihnen glauben, dass ich diesen feinen Unterschied nicht beherrsche.“ Der Mann auf dem Tisch knurrte kehlig, dann wandte er sich an den Dritten. „Makoto, würdest du den Fürsten und mich für einen Augenblick allein lassen?“ Der Jüngere zögerte einen Moment, dann verbeugte er sich tief und verließ in einem harten und kraftvollen Gang, der seine ernste Stimmung vollkommen widerzuspiegeln schien, das Zimmer. Stille beherrschte den Raum. Keiner der beiden Verbliebenen rührte sich, bis die Schritte am Ende des Ganges verklungen waren. Dann schlug die Stimmung um. „Du weißt genau, wie ich es meine“, zischte der andere Minoru aufgebracht an, als wäre dessen Position nichts weiter als ein Titel. „Sag mir, wenn ich mich irre, aber mit jedem Tag den wir verstreichen lassen, läuft uns Zeit davon. Wie schlimm ist es wirklich?“ Minoru wandte sich von ihm ab. Das bauschende Schulterfell schimmerte in einem verzerrten, fast schmutzigen Weiß durch den silbergrauen Nebel. „Manchmal machst du mich wahnsinnig“, knurrte der andere in seinem Rücken und knirschte ob der Ignoranz verbissen mit den Zähnen. „Du könntest wenigstens mir gegenüber ehrlich sein. Glaubst du, ich sei blind? Denkst du ich sehe nicht, dass du mir seit Wochen lieber die linke Seite zuwendest, auch wenn es absolut keinen Sinn ergibt? Wir haben keine Wahl. Du hast keine Wahl. Wenn ein Kampf dich bereits zu viel kosten würde -“ „Vorsicht“, mahnte Minoru gefährlich leise. „Vergiss nicht, mit wem du sprichst.“ „Du bist es, der nicht vergessen sollte, wer du bist – was dein Tod für uns alle bedeuten würde.“ „Wenn wir versagen, werden sie jeden einzelnen Inu für mein Handeln zur Rechenschaft ziehen.“ „Scheiß drauf!“, fuhr sein Gegenüber abermals auf. „Du hast keinen Erben. Niemanden, der in deinem Sinne herrschen würde. Wenn du fällst, sind wir verloren – unabhängig davon, ob du mit einer Klinge zwischen den Rippen oder unter Qualen auf deinem Futon verreckst.“ Er schnaubte bei dem Gedanken. „Ich weiß, was ich vorziehen würde.“ Dann seufzte er, als habe er diese Dikussion bereits unzählige Male geführt. „Wir können dem Rat nicht die Wahrheit sagen. Sie würden Chancen wittern, sich gegen dich zu wenden. Genauso wenig können wir darauf warten, dass sie dir einstimmig folgen wie die Lämmer – oder haben wir so viel Zeit?“ Schweigen. Unabänderlich und tief. „Zeit“, Minoru spuckte das Wort aus wie Gift. „Wenn ich eines nie auf meiner Seite hatte, dann dies.“ Knurrend sprang sein Gegenüber vom Tisch herab, packte den Fürsten am Kragen und zerrte den Stoff mit einem reißenden Geräusch von seiner linken Schulter. Keine Widerworte, nicht einmal der Versuch, sich diesen aufdringlichen, anmaßenden Yōkai vom Hals zu halten. Der machte beinahe benommen einen Schritt zurück und musste sich mühen, die Fassung wiederzuerlangen. „Zufrieden?“, fragte Minoru müde. Die Vision verblasste mit einem Mal. Doch so sehr der Nebel sich auch mühte, die hell glimmenden Zeichnungen auf der Brust seines Sohnes im dichten Grau zu ersticken, leuchteten sie doch noch lange nachdem jede andere Kontur verschwunden war in stiller Warnung. Verworrene, glühende Markierungen, die klauenartig nach seinem schlagenden Herzen trachteten. Aufgebracht flackerte das Bild und verlor in einem Sturm aus Dunkelheit den letzten Lichtschein. Wie unter den Bodendielen der alten Berghütte schien es. Schwarz, kühl und einsam. Mit einem Mal entbrannte ein so ohrenbetäubender Lärm, dass die Finsternis sich unter ihm zu verformen schien. Schreie gelten durch das Nichts, Bogensehnen surrten und irgendwo schlug etwas mit einer solchen Wucht ein, dass selbst der nicht vorhandene Erdboden erzitterte. Flammen, farblos grau wie Schemen, loderten an ebenso schlecht erkennbaren Bäumen empor und zwischen ihren Stämmen huschten Schatten durch die verschneite Nacht, schnell und schwer, mit finsterem Knurren und schnappenden Kiefern. Schreie der Panik gellten auf und allmählich erschienen auch die Flammen in einem deutlichen orangerot, das leckend nach jeglichem Leben trachtete. Scheppernd schlug etwas Metallisches auf einen Stein auf und klapperte eine Weile, während ein starker Wind den abgestandenen Geruch von Blut, Leichen und Eingeweiden mit sich trug. Der Mond, der bisher nur Schwärze zur Erde gesandt hatte, leuchtete im nächsten Augenblick in klarstem Weiß und benetzte mit seinem hellen Schein die leeren Augen hunderter Yōkai. Zeitdämonen. Alabasterfarbene Haut überzogenen von geronnenem, dunkelroten Blut, dessen schwerer Geruch auch in finsterster Nacht die dreiäugigen Krähendämonen herbeiführte. Mit scharfen Zähnen besetzte Schnäbel fraßen sich durch die nun fahle Leichenhaut und nicht wenige dieser Vögel trieben ihren Schabernack mit den Toten, nisteten sich in ihrer Brust ein und ließen ihre leeren Körper unter krähendem Gelächter wie steife Marionetten durch das verwüstete Waldstück wandeln. Ein Schrei, hell und klar, gellte durch die Nacht; wurde lauter, eindringlicher und beinahe unerträglich. Doch weder die Toten noch die Vögel schienen sich daran zu stören. Ihr ohrenbetäubendes Krächzen, Fressen und Geflatter verschmolz mit den Schreien zu einer einzigen Welle des Lärms, deren Crescendo mit einem Mal verstummte, als nur der leiseste Hauch drohenden Yōkis die Luft zwischen den Bäumen zum Schwelen brachte. Wie zwei unheilbringende Pforten zur Unterwelt hefteten sich tiefrote Augen auf die Vögel und als der Hund eine gewaltige Pfote auf die Lichtung setzte, flogen sie in einer schwarzen Wolke vom Boden auf, verließen die toten Körper, die ungelenk und stumpf zu Boden fielen und suchten Schutz in den höchsten, kahlen Baumkronen, wo sie schweigend verharrten. Der Inu schenkte ihnen nicht einmal einen Hauch von Beachtung und lockerte mit einer kurzen Bewegung der Schultern die Muskeln unter seinem durchnässten Fell, bevor er auf die Lichtung trat. Ein gutes dutzend Pfeile bewegten sich in stoischer Beharrlichkeit bei jedem seiner Schritte, doch nur die wenigsten von ihnen waren tief genug eingedrungen, um nennenswerten Schaden anzurichten. Ein Großteil von ihnen hatte es vermutlich kaum durch das dichte Fell geschafft. Dennoch lag selbst der deutlich längere Pelzbesatz, der sich vom rechten Vorderlauf über seine Rücken zog und schließlich beinahe nahtlos in die sichelförmig aufgestellte Rute überging, von Regen und Blut schwer geworden eng an seinem Körper an. Die schlaffe, blasse Person, die zwischen den gewaltigen Kiefern des Daiyōkais wie eine seltsam verrenkte Puppe wirkte, schwankte mit den Schritten ebenso verloren wie die vergeudeten Pfeile. Ihr Blut rann über die spiralförmig gewundenen Hörner, fiel zu Boden und hinterließ feine rote Spuren im Schnee, den schon hunderte andere in ein rotes Meer verwandelt hatten. Als habe jemand einen Stein auf die spiegelglatte Oberfläche dieses toten Meeres geworfen, verschwamm die Szene unter einem erneuten Aufschrei in Wellen der Unkenntlichkeit – und allmählich begriff auch der Taishō, dass dies nicht mit der Vision zu tun hatte, sondern der klaren, kalten Realität entsprang. Es kostete den Fürsten einige Augenblicke, um den Übergang von winterlich tödlicher Vision und erbarmungsloser Gegenwart gänzlich zu begreifen. Er hatte ausreichend Kriege geführt, um zu wissen, wie sich gnadenlose Vernichtung niederschlug. Es war fast greifbar gewesen: Der durchdringende Geruch von toten Körpern in der kalten Nachtluft, das hämische Lachen der schwarzen Krähen, die jedes Schlachtfeld aufsuchten, um ihre Schnäbel wie gefiederte Parasiten in die Leichen zu graben. Zu deutlich für eine gewöhnliche Zukunftsvision. Zu real. Während sich die letzten Bilder aus seinem Geist lösten, musterte er sein Gegenüber. Jikan jedoch schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen, wirkte noch blasser als zuvor und hatte den Blick seiner drei schwarzen Augen unentwegt auf einen Punkt am Boden gerichtet, auf dem der Welpe in zusammengekrampfter Haltung verschwitzt und keuchend um Atem rang. Stille legte sich wie eine erstickende Wolke über das provisorische Lager – dann schlug das Yōki des Taishōs unvermittelt mit einer Vehemenz durch den Wald, die junge Bäume in ihrem frühlingshaften Bestreben bis auf den letzten Ast entlaubte. Jikan zog sich eher höflich als verschreckt von dem Jungen zurück und suchte in erhabener Ruhe den Blick des Daiyōkais, der ihm schlicht die Aufmerksamkeit verweigerte und stattdessen seinen Sohn prüfend betrachtete. Haar und Kleidung des Jungen waren mit Tannennadeln und altem Laub bedeckt, als habe er sich ununterbrochen auf dem Waldboden gewälzt, während verschieden tiefe Kratzer den lädierten, weißen Kimono an scheinbar beliebigen Stellen zusätzlich in helles Rot tünchten. Ein knapper Blick auf die blutverschmierten Klauen des Welpen genügte, um zu verstehen, dass er sich diese Wunden selbst beigebracht haben musste. Es grenzte beinahe an ein Wunder, dass all dieser Tumult keine ungebetenen Gäste auf den Plan gerufen hatte, doch weder Witterung noch andere Wahrnehmungen deuteten darauf hin, dass sich noch jemand in der Nähe aufhielt. In verborgener Anspannung wandte sich der Fürst dem jung wirkenden, uralten Yōkai zu und fixierte sein ungerührtes Gegenüber ohne jeglichen Ausdruck. Abermals hatte ihn seine Einschätzung nicht trügen können: Insbesondere die letzte Vision war von derart besorgniserregender Deutlichkeit gewesen, dass es schwer möglich war, Jikan nicht den entscheidenden Einfluss auf diese Klarheit zuzusprechen, die er mit einem empfindlichen Angriff auf Minorus Wohlbefinden erkauft haben musste. Das dritte Auge des Zeitdämons hatte sich mittlerweile müde geschlossen und er gab sich alle Mühe gefasst und durchdacht zu wirken, so wie es sich in seiner Position schickte, aber Sesshōmaru war selbst zu beherrscht, um zu übersehen, dass die klauenbewährten Hände Jikans unwillkürlich zitterten. Über alle Maßen interessant. Es gab also Einsichten, die selbst diese Dämonen verunsichern oder gar beunruhigen konnten – ein Umstand, der den Herrn der westlichen Länder in einen alarmierten Zustand versetzte. Das beharrliche Schweigen und die immer noch vernichtend schwelende Aura des Inus bewog Jikan unwillentlich dazu, selbst den Faden wiederaufzunehmen. Im Innersten sichtlich nervös, benetzte er die spröden, weißen Lippen mit seiner schwarzen Zunge, bevor er eine Stimme erhob, die längst nicht mehr so abwesend klang wie zuvor. „Wir empfinden keine Freude daran, einem unschuldigen Kind Leid zuzufügen“, erklärte er ohne jegliche Spur von Bedauern. „Doch es war eine Notwendigkeit, die Zukunft des Jungen aus der Verschleierung zu lösen. Ein Kind wird nicht für immer ein Welpe bleiben. Aus unschuldigen Kindern erwachsen ernstzunehmende Dämonen, deren Leben keine Fehlinterpretationen duldet.“ Als der Fürst weder eine fragende Miene aufsetzte noch sonst etwas an seinem wenig entgegenkommenden Ausdruck änderte, fuhr der alabasterfarbene Dämon ungerührt fort: „Wir verehren Wissen. Das ist einer der Gründe, aus denen wir unsere Dienste anbieten. Es ist die Neugier, die Yōkai dazu treibt, über den Rand des Jetzt hinaus in die Zukunft blicken zu wollen – und wir teilen gern, denn wir brauchen eure Kooperation. In tausenden von Fällen ist es das, was wir tun.“ Es war nichts Neues, dass Zeitdämonen nicht uneigennützig waren. Dennoch galten sie als über alle Maßen diskret. Nie würden sie ihr Wissen mit jemand anderem teilen als den Angehörigen ihres eigenen Volkes und demjenigen, der mit der Zustimmung des Betroffenen Einsicht in dessen Lebensspanne verlangte. Aber etwas an der Aussage dieses Exemplares ließ den Fürsten sehr hellhörig werden. „In tausenden von Fällen“, wiederholte er. Seine frostige Stimmung brachte eine unsichtbare Kälte mit sich, die sich lauernd selbst über das knisternde Feuer ausbreitete und es ein wenig zaghafter flackern ließ. „Wissen verpflichtet“, antwortete Jikan tonlos. „Fähigkeiten haben ihren Preis. Wir bewahren ein wertvolles und empfindliches Gleichgewicht, das Schicksal und Bestimmung in einer anfälligen Waage hält. Es sind mächtige Paradigmen, größer als irdische Bestrebungen, Belange und Möglichkeiten, denen sich niemand von uns verwehren kann – selbst ein mächtiger Daiyōkai wie Ihr kann dem nicht immer entgehen.“ „Maßt Euch nicht an, meine Zeit mit der Bürde Eurer Sippe zu verschwenden“, entgegnete der Herr des Westens scharf. Die leise mitschwingende Bedrohung in den Worten Jikans war ihm nicht entgangen, dennoch war er nicht gewillt, dieses Versteckspiel weiter als bis zu diesem Punkt zu folgen. Schleichend umgarnte Tatsachen hatten ihm noch nie zugesagt und gerade in diesem Zusammenhang reizte die pirschende Umrundung des eigentlichen Themas seine Stimmung gefährlich. Jikan hingegen schien diese Unterbrechung seiner vorsichtigen Erläuterung nicht zu behagen. Er straffte die Schultern, nur um sie dann erneut sinken zu lassen, warf einen weniger als flüchtigen Seitenblick auf den immer noch angestrengt atmenden Welpen zu seinen Füßen und betrachtete schließlich abermals abwägend den mit mehreren Schwertern bewaffneten Vater, der sich nicht dazu herabließ auch nur eine einzige deutbare Regung in seine Miene zu bringen. „Unsere Worte werden Euch nicht gefallen, aber Ihr solltet sie hören. Es ist schmerzhaft, auch solche Nachrichten überbringen zu müssen, aber die Vorsehung hat letztlich nicht allen eine versöhnliche Zukunft auf den Weg gegeben.“ Er hielt einen Moment inne und schien sich seine bewusst als unangenehm bezeichneten Worte zurechtzulegen. „Euer Sohn mag heute noch ein verlorenes Kind sein, dessen Werdegang Ihr in Euren Händen wähnt, aber lasst mich Euch versichern, dass diesem Umstand nichts ferner liegt. Der Weg, auf dem er wandelt, ist unabänderlich. Ihr könnt dem nichts entgegensetzen oder gar verhindern, was er einst werden wird.“ Abermals befeuchtete der Zeitdämon seine Lippen mit der Zungenspitze, dann griff er in einen Beutel an seiner Seite und reichte dem Fürsten sehr höflich einen in Leinen gewickelten Gegenstand mit beiden Händen. Seine zerschlissene Kleidung fiel kompromisslos wieder in ihre alte Position zurück und legte sich lose über den mageren Körper. Sesshōmaru schenkte dem groben Stoff in seinen Händen kaum Beachtung, schlug ihn zur Seite und bemerkte schmerzhaft, wie ihm trotz aller Vermutung einen Moment der Herzschlag aussetzte, als er die milchgraue Klinge des Dolches an einem aufwendig verzierten Griff hervorzog. „Es wird nicht Euer letzter Sohn sein, Fürst. Sorgt Euch nicht darum. Es sind kaum nennenswerte Opfer nötig, einem weiteren vollblütigen Erben den Weg zu bereiten, aber es wird ohne Zweifel gelingen. Ein Daiyōkai, der Euch ähnlicher ist als dieses Kind und die ehrwürdigen Gepflogenheiten Eurer Familie, Euren Zielen und Ansichten mehr entspricht.“ Jikan musterte den Dolch in den Händen des Taishōs. „Ich versichere Euch, er wird nicht leiden, wenn Ihr nur beherzt handelt.“ Dieser hörte ihn und hörte ihn doch nicht. Es ist ihr Alter, das sie von so weltlichen Begebenheiten wie Besitz und Rang entfernt. Ihre Interessen sind allumfassend, zum Wohle eines höheren Prinzips, das ich mir nicht anmaße, begreifen zu wollen. Ihnen fehlt der Grund zur Lüge, zur Manipulation. Das ist alles, was ich weiß, Sesshōmaru, aber es sollte ausreichen, um ihnen respektvoll und ohne Vorbehalte entgegenzutreten. Keine unnötigen Feindseligkeiten, hast du verstanden? Auch nach all den Jahren klangen die Worte seines Vaters streng und verständnisvoll zugleich – doch erhielt seine sonst so versöhnliche Milde einen denkbar bitteren Beigeschmack. Sesshōmaru betrachtete den Dolch eine Weile. Er war meisterhaft gefertigt und bereits mit bloßem Auge erkennbar scharf. Den Blick so emotionslos wie stets, eine Klaue bedächtig über die milchige Klinge streichend, sah er auf Minoru hinab, der wenige Zentimeter vor ihm verkrampft auf dem Rücken lag. Ahnungslos; trotz all der Qual nicht im Mindesten erwacht. Achtsam legte der Fürst den Dolch neben sich zu Boden und erhob sich in einer fließenden Bewegung. Ein kurzer, untypischer Moment des Zögerns, dann zog er Bakusaiga lautlos aus der mit weißer, schmaler Rochenhaut umwickelten Schwertscheide. Jikan hatte sich bereits erschrocken erhoben und wollte gerade abwehrend die Hände heben, als der Taishō die Waffe auf die Brust seines Sohnes richtete. Behutsam schob er mit dem Schwertrücken den losen Kimono am Kragen zur Seite, legte die Klingenspitze auf die freigegebene, blasse Haut darunter. Bakusaiga beantwortete den unregelmäßigen, gehetzten Herzschlag des Jungen mit einem smaragdfarbenen Glimmen, das sich über die ganze Länge der Waffe ausbreitete und bald dem überhasteten Takt folgte. Der Inu no Taishō ließ für einen Moment besinnend die Lider über seine goldenen Augen fallen, bevor er tief durchatmete und seinen Blick erneut auf das Kind richtete. Nur eine kurze Bewegung, dann fand die scharfe Klinge ihr Ziel mit üblicher Präzision, fuhr zwischen die dünne Haut, die die Rippen wie ein Segel umspannte, perforierte die Brusthöhle und ließ die linke Lunge in einem erstickenden Ton kollabieren. Der Zeitdämon starrte den Fürsten über die Klinge hinweg an. Ein erstauntes Röcheln entfuhr seiner Kehle, als er in die Knie sackte und unter dem Schmerz mit einem mal so viel älter wirkte. Sesshōmaru stieg über Minoru hinweg und zog sein Schwert mit einem Ruck aus der Brust des Mannes heraus, nur um es mit dessen eigenen Leinentuch mit nebensächlicher Genauigkeit zu säubern. „Jämmerlich, dass du das nicht hast kommen sehen.“ „Das werdet Ihr bereuen... Ihr habt keinerlei Vorstellung, was ... “, der Atem des Yōkais ging angestrengt und stoßweise. Offensichtlich hatte er Probleme damit, den ausgefallenen Lungenflügel schnell zu kompensieren, aber seine hervorgestoßenen Worte waren auch trotz des ächzenden Krächzens, das seinen Körper nur mühsam verließ, gut zu verstehen. Sesshōmaru setzte Bakusaiga erneut auf die Brust des Yōkais und funkelte ihn mit einem überlegenen Ingrimm an. „Noch irgendwelche Prophezeiungen, alter Mann?“ „Die Blutrote Nacht.. er wird Anspruch erheben!“, in Anbetracht des Todes wirkte der Dämon beinahe panisch. Sein drittes Auge schlug nun glasig erneut die Lider auf und ließ die Stimme ein weiteres Mal in weite Ferne abdriften. „Wehret euch dem weißen Biest, das lachend auf den Toten steht, während Nippon untergeht.“ „Herzallerliebst.“ Abermals fand die Klinge ihren Weg, durchfuhr die zweite Lunge und ließ den alten Yōkai so schnell im Stich, dass es fast eine Schande war, wie flüchtig auch der letzte Glanz aus seinen schwarzen Augen verschwand und der Kopf mit seinen großen, perlmuttfarbenen Hörnern nach vorn sackte. Das Schwert glühte für einen Moment in stiller Boshaftigkeit hell auf, gab den Körper einer ausbreitenden Zerstörung preis, die jede Faser in Sekundenbruchteilen auseinander riss und nicht einmal Knochen für die Krähen ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)