Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 32: oder Vergangenes ungeschehen machen. ------------------------------------------------ Ein kaum vernehmliches Summen durchzog die neu erstandene Dunkelheit. Wie ein gleichmäßiger Fluss flutete es bis in den tiefsten Winkel des schwarzen Raumes, in dem der Fürst unangenehm körperlos in der Leere verharrte. Der Ton wurde lauter und nahm allmählich eine Melodie an, die in den ersten Momenten schwer zu erkennen war. Doch dann schien es beinahe zu eindeutig: Fast jede Inu sang dieses Lied ihren Kindern vor und selbst seine verehrte Mutter, Fürstin der westlichen Länder, hatte sich dazu verleiten lassen, dies auch dann noch zu tun, als er gerade noch bereit gewesen war, sich von ihr tragen zu lassen. Es handelte von Verlust, Krieg und Tod und wandelte sich mit jedem Wort, das ausgesprochen wurde, mehr zu einem Kriegslied. Die Melodie allein war jedoch für jeden einzig und allein tröstlich. In diesem Ton lag kein Kampfeswille. Es klang beruhigend, hoffnungsvoll und doch auf verstörende Weise klagend. Dann verstummte die Stimme abrupt. Was blieb war Leere, die sich gähnend ausbreitete und die nachklingenden Töne erstickte. In der Zeitspanne eines Wimpernschlages verschwand all das Schwarz und machte einem gleichtönigen Wohnraum mit weit geöffneten Türen platz. Die sommerliche Luft, die Holzplanken des kleinen Hauses, die deutlich blühenden Blumen der Bergwiese - nichts davon besaß Witterung oder herausragende Farbe. Für den Sonnenstand, der eindeutig Mittag ankündigte, war das Licht im Allgemeinen zu gedimmt, die Konturen einzelner Gegenstände verliefen, als habe man sie verwischt. Mal schien die Vase auf dem Tisch mit grauen Figuren verziert, im nächsten Augenblick jedoch rein weiß. Inmitten des Wohnbereiches schien Sesshōmaru nicht mehr als ein unbeteiligter Gast. Weder das Kind noch die Frau schienen Notiz von ihm zu nehmen und auch als er einen Schritt näher an seinen Sohn herantrat, hob niemand den Blick. Im Vergleich zur Vision seiner eigenen Vergangenheit, in der er sich unmittelbar in seinem Körper wiedergefunden hatte, schien er in Minorus Kindheit keinen Platz zu haben. Der Junge, der am Tisch kniete und konzentriert mit schwarzer Tinte und einfachem Pinsel einige Schriftzeichen auf das Washi brachte, hätte Minoru kaum unähnlicher sein können. Er war kräftiger als seine ältere Erscheinung, das weiße Haar war streng gekürzt worden und reichte ihm nicht einmal bis in den Nacken. Kaum älter als drei konnte er sein und entbehrte jedem Anschein von kalkulierter und misstrauischer Natur, der Minoru sonst auszeichnete. Ihm gegenüber saß eine zierliche, schattenhafte Gestalt, die sich mit einem schwarzen, verschwommenen Fächer eifrig Luft zuarbeitete, der immer dann auf die Hand des Kindes niederfuhr, wenn er einen Pinselstrich falsch anzusetzen drohte. „Du könntest deine Mutter so stolz machen, Minoru – wenn du nur ein wenig mehr Arbeit in deine Tätigkeiten investieren könntest. So ungeschickt und verträumt machst du mir keine Freude.“ „Es... es tut mir leid, Mutter. Ich wollte Euch nicht verärgern.“ „Aber natürlich wolltest du das nicht, Schätzchen, aber du solltest langsam lernen, hübscher zu schreiben. Wenn du eines Tages bei Hofe bist, wird man das von dir erwarten.“ „Wo?“, der Junge legte verwundert den Kopf schief. „Bei Hofe. Wenn du ein guter, fleißiger Junge bist, werden die Füchse dich sicher trotz allem am Hof dulden. Dann solltest du nützlich sein. Niemand mag unnütze Bengel. Und da du bedauerlicherweise zu wenig anderem taugst, wirst du dich wohl oder übel im Schreiben und Gefallen üben müssen.“ Sie schlug harsch mit dem Fächer auf das rauhe Holz des Tisches. „Nun weiter.“ „Was ist falsch mit mir?“ Unruhig ließ er einen scheuen Blick und die zerbrechlichen Finger über die Steine seines Armbandes geleiten, um sie nicht direkt ansehen zu müssen. „Mein armes Kind“, sie ließ den Fächer in ihrer Hand wieder breit vor ihrem konturlosen Gesicht aufklappen und lehnte sich noch weiter in den Schatten zurück. „Wir dürfen nicht zu viel erwarten von dieser Welt. Das Volk deines Vaters ist leider deine einzige Chance. Meine Familie wird uns niemals erlauben, auf westlichen Boden zurückzukehren. Die Entscheidung für deinen Vater war in vieler Hinsicht endgültig – also sei ein lieber Junge und arbeite hart. Sobald wir an den Hof zu deinem Vater können, wird alles einfacher. Solange müssen wir uns mit seinen Besuchen zufrieden geben.“ Das leise Rauschen der Blätter eines Waldes wogte wellengleich und stetig. „Er ist gleich hier vorn! Ihr müsst ihn Euch unbedingt ansehen!“ „'Ihn'?“ Eine dunkle Gestalt mit langem Haar schritt grau in grau hinter dem Jungen her. Einzig seine Augen leuchteten in einem auffälligen Smaragdgrün. Er klang eher besorgt als verstimmt, als er dem Jungen zu einem Wald folgte, der sich auf einer Anhöhe erstreckte. Unbedarft rannte das Kind auf das Unterholz zu, doch als die Brombeerzweige verdächtig zu zittern begannen, riss der Kitsune den Jungen zurück und hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest. Die freie Rechte fuhr zur Waffe an seiner Seite, dann hielt er abrupt inne. Ein dunkler Hund schob sich zwischen den Pflanzen hervor auf offenes Feld. Die struppige Rute begann beim Anblick des Jungen aufgeregt zu wedeln und trotz der verwaschenen Form des Tieres war deutlich zu erkennen, dass sein Fell von Kletten verklebt und zu großen Teilen verfilzt war. Das abgemagerte Wesen ließ sich augenblicklich auf den Boden sinken, als es Minoru sah. „Er ist ganz allein. Die Menschen aus dem Dorf haben ihn vertrieben und jetzt hat er keinen Ort, an den er gehen kann. Habt Ihr etwas dagegen, wenn wir ihn mitnehmen? Ich bin sicher, Mutter wird es erlauben. Sie ist immerhin auch einer.“ „Ein was, Minoru?“, erkundigte sich Kōhei tonlos und starrte wie geschlagen auf das Tier. Seine Stimme klang wenig nach ihm selbst. „Ein Hund natürlich“, erwiderte Minoru. „Wir können ihn nicht hier lassen. Er würde umkommen. Bitte sagt ja.“ Ohne eine Antwort abzuwarten löste sich das Kind unmittelbar vor den Augen des Fuchses zu einer weißen Kugel auf, die mit leuchtend goldfarbenen Augen und abstehenden Welpenfell auf den heruntergekommenen Hund zulief. Der wandte ihm den Kopf zu und begrüßte den Kleinen, indem er die Schnauze gutmütig auf seine Vorderpfoten sinken ließ. Kōheis kaum erkennbare Gestalt geriet beinahe ins Schwanken, versuchte sichtlich Fassung zu erringen und gleichzeitig Ruhe zu bewahren, aber das fiel ihm in Anbetracht des verwandelten Kindes alles andere als leicht. „Hör sofort auf damit“, zischte er schließlich. „Wie kommst du zu diesem Unsinn? Du verwandelst dich sofort zurück! Wenn deine Mutter das jemals sieht -!“ Er hielt inne, als habe er mitten im Satz jede Intention verloren und wurde steif. Sein Blick kalt und unergründlich. Da hallte auch schon eine Frauenstimme über den Hügel, während das so schon unklare Bild noch deutlicher verblasste. Der Welpe erstarrte, während der alte Hund noch einmal den Kopf hob, der Sekunden darauf losgelöst vom Rest des erbarmungswürdigen Körpers zurück an den Waldrand rollte. Die altbekannte Dunkelheit hielt Einzug und hüllte die Szene in ein dichtes Netz aus Finsternis. Das einzige, das schemenhaft über all dem schwebte, war der abgeschlagene Kopf des verwahrlosten Hundes. Eine Kinderstimme, hell und klar, klang in stockfinsterster Nacht. Nur eine heruntergebrannte Kerze stand auf dem niedrigen Holztisch und spendete fahles Licht. An der rauhen Oberfläche des Tisches zurückgeworfen, hüllte es den Jungen mit den kurzen, weißen Haaren in der Mitte des Raumes in sonderbaren Schein. Minorus Blick war leer und von Müdigkeit dunkel untermalt. Kaum älter als sechs und doch klang seine kindliche Stimme so leblos wie die einer Leiche. Nur mit Mühe war zu erkennen, dass sich auf der anderen Seite der Lichtquelle etwas bewegte und noch während das Kind sang, fuhr die Gestalt im Schatten hoch und etwas glänzendes flog aus der Dunkelheit in den Lichtschein, traf den Jungen, der sehenden Auges nicht einmal versuchte, dem Geschoss auszuweichen. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der scharfkantige Fächer gegen seinen Kopf und fiel zu Boden. Blut rann heiß und schwer an der Stirn des Kindes herab. Dennoch blieb er ungerührt stehen. „Willst du deine Mutter zum Weinen bringen?“, fragte die Gestalt scharf, aber obgleich es eindeutig die Stimme einer Frau war, klang sie so abstrakt und verzerrt wie auch der Raum absonderlich finster erschien. Die Dunkelheit war unnatürlich; viel zu dicht und undurchdringlich, um real zu sein und gleichgültig in welche Richtung Sesshōmaru sich wandte, vermochte er seinen eigenen Blickwinkel nicht zu ändern noch war es ihm möglich, in das Geschehen einzugreifen. Wenig angetan über seine Handlungsbeschränkung, verfinsterte sich seine Miene zusehends. Die Frau gab sich noch affektierter als die westliche Fürstin es in den provozierendsten Momenten vermochte. Der Junge hingegen klang stumpf und hohl. „Nein, Mutter“, antwortete er steif und ohne jede Regung. „Dieselben Fehler, immer wieder. Was habe ich getan, dass man mich mit einem derart talentlosen Sohn strafen musste? Du willst, dass wir hier vermodern, nicht wahr? Wenn du nur den Hauch einer Vorstellung hättest, was ich für dich durchmachen musste, würdest du etwas mehr Achtung und Respekt veräußern! Wegen dir sitzen wir in dieser verlassenen Einöde, wegen niemandem sonst! Und hier werden wir sterben, wenn du nicht endlich lernst, dich zu benehmen und deine Stunden ernst zu nehmen!“ „Es tut mir aufrichtig leid, Mutter.“ Was folgte war ein seltsam abfälliges Geräusch und das harte Klopfen eines Gegenstandes auf die grob bearbeitete Oberfläche des schweren Holztisches. Der Takt klang brachial und beinahe verstörend laut in dem Raum wider. „Von vorn.“ „Haha-ue!“ Die Stimme des Jungen klang verzweifelt und ängstlich. Wieder war es unnatürliche Dunkelheit, die den Raum erfüllte, aber dieses Mal war nicht einmal eine winzige Lichtquelle auszumachen. Kleine Hände mit scharfen Klauen kratzten über groben, steinbedeckten Boden und die schier endlose hölzerne Decke, aus der feine Erde und Dreck rieselte, wann immer das Kind dagegen stieß. „Haha-ue!“, rief Minoru abermals. „Darf ich bitte hinaus? Ich wollte das nicht! Wirklich nicht! Bitte... ich mag nicht mehr hier sein. Es ist so dunkel... ich .. bitte, ich tue das auch nie wieder. Versprochen! Mutter? Seid Ihr da?“ Warm und durchdringend schien die Sonne auf die beiden Kinder, die ausgestreckt im Gras lagen und zwischen den hohen Halmen fast gänzlich verschwanden. „Ich weiß, was wir spielen!“, der Junge mit den deutlichen Hornansätzen und den für Wasserdrachen typischen, punktförmigen Stirnzeichnungen, setzte sich mit einem Mal auf und blickte munter auf Minoru herab, während der Grashalm, auf dem er kaute, aufgeregt auf seinen bläulichen Lippen wippte. Der Fürst musterte das fremde Kind eingehend. Auch wenn die Mizuchi streng genommen wenig mit den Machenschaften ihrer nahestehenden Verwandten zu tun hatten, waren und blieben sie dennoch Drachen und damit alles andere als Verbündete der Inuyōkai. Doch Minoru verhielt sich vollkommen unbefangen und musterte seinen Freund lediglich nachdenklich. „Hm?“ „Eroberung!“ „Ist das wieder eines deiner blöden Kriegsspiele, Satoshi?“, erkundigte sich Minoru wenig überzeugt. Sein Gegenüber rollte ein wenig mit den wasserblauen Augen. „Zuhause spielen wir das dauernd“, verteidigte er sich dann vehement. „Du baust dir eine Basis und versuchst sie zu verteidigen und meine zu erobern oder zu zerstören. Wie ist ziemlich egal.“ Dann sprang er auf, dass sein grau-grünliches Haar nur so flog. „Ich gehe an den Hang! Mein Papa sagt, das ist taktisch klug!“ Damit stürmte er davon. Minoru sah ihm einige Minuten lang unentschlossen nach, dann jedoch raffte er sich ebenfalls auf und sammelte einige Äste zusammen. Beide Kinder brauchten eine ganze Weile, um mit ihrem Material etwas zu bauen, das nur im Entferntesten an einen Unterschlupf erinnerte und bereits beim ersten schärferen Windstoß bedrohlich zu wanken begann. „Bist du endlich soweit?“ Der junge Wasserdrache hatte zwar gerade erst den letzten Ast an die rechte Stelle gerückt, ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Anschein zu erwecken, als sei er deutlich länger fertig und warte nur auf seinen Freund. Der warf noch einmal einen prüfend, skeptischen Blick auf sein Gebilde. Dann nickte er zustimmend und griff mit der Linken nach einem Stock. Als er zurück zu Satoshi sah, hatte der seine fiktive Waffe jedoch schon wieder sinken lassen und starrte wie vom Blitz getroffen an Minoru vorbei, dem allmählich zu dämmern schien, was sein Freund da sehen musste. Mit einem Mal verschwand die warme Sommersonne mitsamt dem eindringlichen Geruch des hohen Grases. Es wurde schlagartig kühler, dunkel und trostlos. Satoshi war verschwunden, fortgelaufen zwischen die Hügel, als eine nachtschwarze, verwaschene Frauenhand Minoru den Stock entriss und ihm damit mitten ins Gesicht schlug. Der Junge ging zu Boden, wurde jedoch sofort wieder auf die Beine gerissen und davongeschleift. „Wir spielen nicht Krieg!“, fauchte ihn eine wütende, verzerrte Stimme an. „Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht! Niemals! Wir werden nie wieder so schreckliche Dinge tun oder uns schmutzig machen! Sieh dich nur an, voller Gras und Erde! Du bist beschämend!“ Ein plötzlicher Szenenwechsel nahm auch den letzten Rest von orientierungsbehelfender Helligkeit. Der steinige Boden, die hölzerne Decke. Abermals unter dem Fußboden des Hauses, wo man nicht einmal die Hand vor Augen zu sehen vermochte. Nur das aufgebrachte Gespräch zweier abstrus keifender Stimmen schallte gedämpft bis in den letzten Winkel. „Ich verlange von Euch, diese verabscheuungswürdige Schlachtkleidung in Zukunft nicht mehr in diesen Räumen zu tragen. Dabei dulde ich keinerlei Widerrede. Ihr verderbt das Gemüt des Jungen, wenn Ihr ihm andauernd dieses Leben in Waffe und Rüstung vorlebt. Er wird Euch irgendwann einmal nacheifern wollen und wir wissen beide, dass er niemals ein Schwert tragen wird, also macht die Lage für uns nicht noch schwerer als sie ohnehin schon ist.“ Jemand schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, dass es in der Dunkelheit von der Decke rieselte. „Ihr seid nicht befugt, derart herablassende Unternehmungen von mir zu verlangen! Ich bin Taishō, seit mehreren hundert Jahren. Das legt man nicht einfach mit der Kleidung ab.“ „Ich verlange auch nicht, dass Ihr Eure Stellung quittiert, sondern lediglich, dass Ihr Eure Garderobe im Angesicht des Kindes überdenkt.“ „Ich bin Soldat, kein verfluchter Viehhirte!“ „Die Wahl liegt bei Euch: Kriegsassoziierte Gegenstände werden diese Schwelle ab heute nicht mehr überschreiten – auf welcher Seite der Tür Ihr also bleibt ist Eure Entscheidung. Wollt Ihr den Jungen weiterhin sehen, würde ich anraten, Vernunft walten zu lassen. Immerhin wollt Ihr doch nicht -“ Es schepperte. Noch eine ganze Weile tönte Geschrei von fern heran, aber es waren keine Worte mehr zu entziffern. Schließlich fiel eine Tür mit lautem Knallen in den Rahmen, sodass abermals Staub von der Decke bröselte. Kurz darauf erhellte Licht die Dunkelheit und mit schwarzen Klauen bewehrte Hände hoben Minoru in einen stärker beleuchteten Wohnraum. Die Schläfe des Jungen war aufgeplatzt und leuchtete in verschiedensten Farbtönen. Auch seine Handgelenke waren von bläulichen Flecken übersät, seine Augen rot vom Weinen - und ganz allmählich strapazierte dieser Umgang auch das Gemüt seines im Rückblick zum Zusehen verurteilten Vaters. Kōhei, zum ersten Mal klarer erkennbar, war vor ihm in die Hocke gegangen und strich sacht einige Tränen aus dem Gesicht des Kindes. „Nicht weinen“, murmelte er leise. „Alles wird gut.“ „W...wo ist Mutter?“ „Draußen“, entgegnete der Kitsune mit gereizter Stimme. „Sie muss sich abregen und wird sicher bald zurück sein. Keine Sorge.“ „Ihr habt gestritten!“, fuhr das Kind auf, aber der Fuchs gab lediglich ein bestätigendes Geräusch zurück. „Wegen mir!“, setzte der Kleine nach. „Ich will nicht, dass Ihr nicht mehr kommt!“ Kōhei stockte für einen Moment, dann schüttelte er sacht den Kopf. Der rote Zopf glitt von seiner Schulter zurück auf seinen Rücken. „Rede keinen Unsinn. Natürlich komme ich wieder. Ich bin doch bisher immer zurückgekommen.“ „Dann bleibt!“, bettelte das Kind herzzerreißend. „Bitte!“ „Du weißt, das geht nicht. Ich muss zurück zum Hof und meine Pflichten erfüllen. Auch Erwachsene können nicht einfach tun, was sie wollen.“ „Haben sie nicht jemand anderen da, der das machen kann? Bitte, Vater, geht nicht wieder. Ich will nicht allein sein.“ Abermals schüttelte Kōhei den Kopf, aber ließ zeitgleich seine Hand über das verhältnismäßig kurze Haar des Jungen gleiten: „Ich kann nicht einfach wegbleiben. Man braucht mich dort.“ „Ich brauche Euch hier!“, beteuerte Minoru und zog den Kopf zurück. „Mutter ist viel freundlicher zu mir, solange Ihr hier seid. Wenn ihr weggeht, wird sie grausam. Lasst mich nicht mit ihr allein.“ „Du solltest so nicht über deine Mutter sprechen.“ Der Einwand des Fuchses sollte ernst klingen, enthielt aber einen deutlich wütenden Unterton, den der Junge sofort auf sich bezog und zurücktrat. „Es ist aber wahr!“, erwiderte er dennoch trotzig. „Sie hasst mich, weil ich nicht bin wie Ihr. Weil sie wegen mir nicht mehr bei ihrer Familie ist und auch nicht zu Euch an diesen dämlichen Hof kann. Wenn ich mehr nach Euch käme oder anders wäre als ich bin, würde sie mich vielleicht leiden können, aber ich weiß nicht wie! Ihr müsst bleiben, bis sie mich nicht mehr so sehr hasst!“ Blitzschnell hatte Kōhei die Wangen des Jungen zwischen seinen gefährlich schimmernden, schwarzen Krallen eingefangen, die keinesfalls zu einem Rotfuchs passen wollten. „Beruhige dich, Minoru.“ „Sie sagt, ich sei ein Biest und dumm und unnütz und wenn ich nicht gewesen wäre, wäre alles besser für sie. Und auch für Euch. Für alle. Aber nun wo ich da bin, müssten wir das Beste daraus machen. Das hat sie gestern erst gesagt. Ich will das nicht mehr hören! Wenn Ihr fort seid, sperrt sie mich tagelang unter diesem Boden ein. Bitte, Vater, bleibt hier!“ Der Kitsune schien sich zu irgendetwas durchringen zu müssen, holte mindestens zwei Mal tief Luft und schloss doch nur wieder die Augen. Dann sah er Minoru ernst und gefasst an. „Deine Mutter hat sehr viel durchgemacht, um dich sicher zur Welt zu bringen und fernab von Gefahren und entgegen aller Widerstände hier aufzuziehen. Sie hatte eine schwere Zeit und manchmal fällt sie deswegen in diese aufbrausende Art zurück und sagt Dinge, die sie nicht so meint. Aus Verzweiflung. Aus Angst. Du bist kein Biest, Minoru. Kein Tier und sicherlich nicht dumm und unnütz. Du bist noch jung und manchmal unterlaufen einem dabei nun einmal Fehler Die passieren mir heute noch und manche Dinge kann ich gar nicht.“ Er lächelte. „Ich bin zum Beispiel ein ganz miserabler Sänger. Da bist du viel begabter, als ich es je sein werde.“ „Aber warum muss ich das können, wenn Ihr es auch nicht könnt?!“ Der Kitsune seufzte schwer. „Mein Weg ist nicht deiner. Manchmal haben wir keinen Einfluss darauf, was wir werden. Ich wollte früher nie in den Krieg. Das haben andere für mich entschieden – und nun komme ich davon nicht mehr los. Aber ich erfülle meine Aufgabe bis heute und darf mich von ihr auch nicht so einfach abwenden. Auch nicht für dich. Bei dir wird das eines Tages ähnlich sein. Gib nicht auf, Minoru. Es wird immer ein Morgen geben.“ „Aber Mutter verachtet mich, ganz gleich wie sehr ich es versuche!“ Der Fuchs zog den Jungen bestimmt in seine Arme und legte den Kopf behutsam in das weiße Haar des Kindes. „Sag so etwas nicht, Minoru. Das darfst du nicht denken. Für deine Eltern bist du das höchste Gut. Wenn sie könnten, würden sie jederzeit die Welt um deinetwillen aus den Angeln heben – gleichgültig, was du tust, erreichst oder sein willst. Doch manchmal sind auch den Erwachsenen die Hände gebunden. Deine Eltern lieben dich, mein Kleiner. Das ist gewiss.“ „Taishō.“ Der Fürst schlug die Augen auf. Sein Blick streifte den Zeitdämon lediglich, bevor er sich umgehend auf seinen Sohn richtete. Minoru schlief weiterhin fest und rührte sich nicht im Mindesten. „Euer Knurren war für uns besorgniserregend“, kommentierte Jikan den Grund der Unterbrechung und musterte den Fürsten aufmerksam. Er vermied es jedoch, die Beweggründe dieser Reaktion zu erforschen und wechselte das Thema. „Die Klarheit dieser Einblicke war im Vergleich zu der Euren wohl ernüchternd. Wir haben uns dennoch gestattet, darauf zu verzichten, ein deutlicheres Bild zu erzwingen. Wir denken das wird in Eurem Sinne gewesen sein. Vergangenheit liegt unveränderbar hinter uns und ist damit nichts weiter als eine emotional ansprechende Rückblende. Ihr seid so pragmatisch, diesen Gedanken zu teilen.“ „In der Tat“, gab der Fürst kühl zurück. Doch eine Kleinigkeit stimmte an dieser Darstellung nicht zur Gänze. Vergangenheit war vergangen und damit unabänderlich – aber das hieß nicht, dass er sie unbeachtet von sich weisen würde. Es ergab nur Sinn, dass er in einer Zeit, in der er nicht zugegen gewesen war, nichts weiter sein konnte als ein stiller Beobachter, wenn er bereits in seiner eigenen Vergangenheit dazu verurteilt gewesen war, unbeteiligt in seinem eigenen Körper zu verharren. Dennoch hatten ihn diese Einblicke nicht gerade versöhnlich gestimmt. Angespannt ließ er die Hände auf seinen Knien ruhen. Zwar waren die Visionen schnell aufeinander gefolgt, doch er brauchte nicht mehr, um zu begreifen, warum der Junge auf einige Umstände sonderbar reagierte. Viel eindringlicher, viel abwegiger war jedoch der Gedanke, dass er Minoru Unrecht getan hatte, als er ihm vor einigen Monaten in Sachen Respekt vor den Eltern hatte belehren wollen. Der Fürst selbst war keine Person, die tiefschürfende Gefühle erlaubte oder gar auf längere Zeit empfand, aber der Hass, den Minoru gegenüber seiner Mutter verspürte, erschien ihm in Anbetracht dieser Gegebenheiten auf beunruhigende Weise gerechtfertigt. Wie konnte er seinem Sohn verdenken, diese Frau zu verachten, wenn er selbst nun die Wut herunterkämpfen musste, die sich wie ein ungebetener Gast durch seinen Geist fraß und die sonst so weiße Sklera seiner Augen in einen leuchtenden Schleier aus Rot hüllte? Er ließ die Schultern einen Moment kaum merklich kreisen und zügelte sein Temperament mit der Leichtigkeit einer Handbewegung. Wenn das hier vorbei war, hatte er entgegen seiner Gewohnheit einiges mit dem Jungen zu bereden. Ganz zu schweigen davon, dass er sich nun überlegen musste, wie er im Ernstfall eines Zusammentreffens auf diesen verfluchten Kitsune reagieren sollte. Er schien anders in die Angelegenheiten verstrickt als gedacht und zumindest in den entscheidenden Momenten war er offensichtlich gewillt gewesen, Minoru zur Seite zu stehen. Wenn man es aus der Perspektive betrachtete, war der Fuchs die einzige, wenn auch temporär begrenzte Stütze des Kindes in dieser feindseligen Atmosphäre. Im Grunde hatten die verschwommenen Einsichten jedoch damit mehr Fragen aufgeworfen als sie beantworten konnten: Reikas Beweggründe, ihren Sohn derart ungebührlich zu behandeln, waren in Anbetracht der Schärfe ihres Vorgehens nur noch unergründlicher geworden. Hinzu kam die sonderbare Rolle dieses Fuchses. Er hatte klar erkennbar versucht, Minoru das Leben einfacher zu machen, aber dabei einen gewissen Punkt niemals überschritten: Er hatte sich nicht offen in die Erziehung eingemischt und auch die Wahrheit konsequent für sich behalten. Das war absonderlich. Yōkai waren nicht zwiespältig wie die Menschen, die zwischen Moral und persönlichen Präferenzen, Pflichten und Gelüsten wankten und darüber oftmals den Verstand verloren. Sie folgten ihren Zielen bis zum bitteren Ende und das tat auch dieser vermaledeite Fuchs seit mehreren Jahrhunderten mit Bravur, indem er die Befehle seines Fürsten ausführte. Welchen Nutzen hatte der Kitsune daraus gezogen, den Jungen vor Schaden bewahren zu wollen? Mitgefühl etwa? Nein, Mitgefühl allein stand auch Kōhei nicht sonderlich zu Gesicht. Sesshōmaru kannte neben seinen persönlichen Erfahrungen mit diesem Mann ausreichend Geschichten über den General der südlichen Armee und Mitgefühl nahm in diesen Erzählungen ebenso viel Platz ein, wie in denen, die man vermutlich über ihn erzählen mochte – mit der feinen Ausnahme, dass bei Kōhei niemand behaupten konnte, er rette Menschenkinder vor dem Tod. Seine Vorliebe für gelegentlich ausufernde Hetzjagten auf Menschen schlugen eher im Gegenteil zu Buche. Selbst wenn er entgegen aller Natur und wider besseren Wissens väterliche Gefühle für Minoru entwickelt haben sollte, war es immer noch mehr als Mitleid und es fehlte der persönliche Profit. Was also würde einen eingefleischten Krieger von seinem eigentlichen Weg abbringen, bis zu dem Punkt, an dem er die Grenzen seiner Pflicht überschritt oder ihr sogar zuwider handelte? Welcher Beweggrund führte einen Dämon auf den Drahtseilakt zwischen Pflicht und persönlicher Präferenz; machte ihn verletzlich, schwach und ließ ihn auf riskanten Pfaden wandern? Sesshōmarus Kiefermuskulatur verspannte. Er kannte die Antwort – besser als viele andere. Der einzige Mann, von dem er eine solche Schwäche nie erwartet hatte, war an ihr zugrunde gegangen. Diese verfluchte Menschenfrau vor ihrer eigenen Sippe zu retten, war keine Verpflichtung gewesen. Das Ansehen seines Vaters hätte nicht einmal den empfindlichsten Kratzer erlitten. Jeder anständige Yōkai hätte kein Wort mehr über die Frau verloren, die dem Fürsten des Westens ein Bastardkind geschenkt und dabei ihr Leben ausgehaucht hatte. Sie wäre als vergangene Freizeitbeschäftigung verbucht worden. Stattdessen war er dieser Izayoi auch dann noch zur Hilfe geeilt, als sein Leben ohnehin schon am seidenen Faden gehangen hatte; war bereit gewesen, all das sehenden Auges für ihre Sicherheit zu opfern, das ihn über Jahrtausende angetrieben hatte, und damit seinen ältesten Sohn durch seinen Tod unversehens und viel zu verfrüht zum nächsten Taishō erhoben. Liebe war ein miserables Übel. Eines, das Kōhei durchaus hätte verleiten können, diese sonderbaren Schritte zu gehen. Aber sie ergab in dieser Konstellation dennoch keinen Sinn. Er musste Reika lieben, wenn er Minoru half, doch stattdessen schien er sie zu hintergehen – wenn auch nur in kleinsten Schritten. 'Deine Eltern lieben dich.' Dem Fürst wurde mit einem Mal heiß und kalt. „Wollen wir fortfahren?“, erkundigte sich Jikan störenderweise und betrachtete sein Gegenüber eindringlich. „Es sei denn, Ihr benötigt noch einige Zeit, um die verstörenden Ereignisse zu verarbeiten.“ Auf die Provokation konnte Sesshōmaru sich unmöglich einlassen. „Fahrt fort“, entgegnete er stattdessen knapp, auch wenn ihn der letzte Gedanke noch lange verfolgen würde. Jahre flogen vor dem inneren Auge des Fürsten wie in überhetztem Zeitraffer dahin. Der Wald war nicht mehr als ein Gewirr aus grauen Ästen, schwarzen Stämmen, blutigen Klauen. Das einst weiße Fell des jungen Hundes verlor an Glanz, wurde stumpf und bald darauf schimmerten die Rippen unter dem Haarkleid hervor wie dünne, zerbrechliche Stäbe. Yōkai, riesig wie alte Eichen oder winzig wie ein Blatt griffen schier wahllos an, rauften am Fell oder drohten gar ganze Stücke aus ihm herauszureißen. Reh und Kaninchen ergriffen überhastet die Flucht. Schneller als das Jagen lernte er Gefahren auszuweichen und schließlich lief auch die Beute gut. Gerade rechtzeitig. Eine wenig solide, aber funktionierende Lebensweise. Die mageren Rippen wurden allmählich undeutlicher; gänzlich verschwinden wollten sie allerdings nicht. In rascher Folge fiel Schnee, blühten Kirschen und sanken Myriaden rötlicher und gelber Blätter auf den dunklen Waldboden. Immer wieder. Dann verlangsamte sich die Vision schlagartig. Eng an die Erde gepresst, die scharfen Zähne tief in den weichen Bauch eines ausgewachsenen Rehs geschlagen, riss Minoru ganze Stücke von Fell und Fleisch heraus, bis er die Ohren wandte und die blutgetränkten Lefzen warnend zurückzog. Der junge, rotbraune Wolf mit den ungewöhnlich laubgrünen Augen hatte die Rute dreist in die Höhe gestreckt und näherte sich anmaßend leichtfüßig, blieb aber in einigem Abstand stehen. Auch er wirkte ausgehungert, jedoch um einiges gepflegter als der Hund. „Ich gratuliere zum Fang“, verkündete der Wolf und legte den Kopf ein wenig zur Seite, als Minoru sich lediglich wieder seiner Mahlzeit zuwandte und ihn nicht weiter zu beachten schien. „Ein großartiges Reh. Gut genährt. Ich bin sicher, es hat eine Weile gedauert und viel Mühe gekostet, um es zu Boden zu ringen.“ Der Wolf schwieg, wartete offensichtlich auf eine Antwort. Doch als die ausblieb, setzte er neu an. „Mein Name ist Takeru. Mein Vater ist Anführer der nördlichen Ookami. Es wäre doch eine Schande um das Reh, wenn jemand uns entdeckt, während noch Fleisch an ihm ist.“ Nur der warme Wind des Spätsommers zog in den Bäumen umher und erzeugte den einzigen vernehmbaren Laut, der neben der groben Arbeit eines scharfen Gebisses zu hören war – rauschendes Blattwerk und das Zerreißen von Gewebe. Lange blieb es still, dann stellten sich dem Wolf mit einem Mal die Haare am Nacken deutlich auf. „Sag mal, hörst du schlecht? Da wo ich herkomme, erweist man höher gestellten Personen Respekt! Die Höflichkeit allein sollte dir gebieten, die Beute freizugeben oder wenigstens auf ein Gespräch einzugehen, wenn man danach verlangt! Wie will ein mickriger, kleiner Wicht wie du einen Anspruch verteidigen?“ Minorus Ohren zuckten kurz, dann wandte er den Kopf und musterte den Wolf abschätzig. „Na sieh an, deine Ohren scheinen ja doch zu funktionieren, Inu.“ Minoru machte sich nicht die Mühe, einen geordneten Ablauf von Drohungen an den Tag zu legen, mit denen seine animalischen Äquivalente versuchten einen Kampf zu vermeiden, sondern griff unmittelbar an. Er riss den unvorbereiteten Wolf von den Beinen, schnappte nach seiner Kehle, aber Takeru schien kampferprobter und bald schon rollten die beiden Jungen in einem tosenden Gewirr aus weißem und braunem Fell über den Waldboden, bis sie erst nach einer ganzen Weile wieder auseinandersprangen und Minoru sich abermals vor dem Reh aufbaute. Er sah mitgenommen aus. Das Fell von Dreck und Blut übertüncht, wobei schwer ersichtlich war, wie viel des Blutes nun von ihm, dem Wolf oder dem Reh stammte. Er schüttelte sich ausgiebig und ließ sich gebieterisch vor dem toten Tier auf die Hinterläufe nieder, während Takeru immer noch in Lauerstellung abwartete, ob noch ein weitere Angriff folgen würde. „So wie ich das sehe, hast du keinerlei Grundlage auch nur einen Knochen zu fordern. Die Stellung deiner Familie ist mir vollkommen gleichgültig. Spar dir dieses Gehabe. Wenn du Hunger hast, bitte gefälligst um Hilfe und ich überlege mir das vielleicht nochmal“, kommentierte Minoru kalt. Takeru gab seine angespannte Haltung auf und hob den Kopf als verstehe er nicht, was gerade genau geschah. „Ich setze keine Pfote da rein.“ „Stell dich nicht so an. Da drin ist es trocken – und so sehr stinkt es nun auch wieder nicht.“ „Ich ersaufe lieber hier draußen im Regen, bevor ich mich in diesem Fuchsbau eingrabe, Takeru“, brummte eine nur allzu bekannte Stimme. „Wir suchen weiter.“ „Ich will aber hierbleiben! Ich bin klatschnass!“ „Hat unser Prinz nasse Füße bekommen?“, höhnte Minoru unbarmherzig. „Es ist erst Nachmittag. Schlaf hier, wenn du willst. Ist mir gleich.“ „Hast du etwa Angst im Dunkeln?“ Der Wolf streckte gehässig die durchnässte, braune Rute empor und zog den Kopf ein, als der weiße Hund vor ihm die spitzen Ohren anlegte und bösartig fletschte. „Tu was du willst, Takeru, aber geh' mir nicht auf die Nerven. Ich schlafe in keinem Fuchsbau. Ende der Diskussion.“ Damit trabte er davon und der Wolf sah ihm nachdenklich nach. „Du bist so ein herrischer Köter! Warum sind Diskussionen immer aus, wenn du es willst?“ Dann holte er mit einigen langen Sätzen auf. „He, du hast wirklich Angst im Dunkeln oder?“ „Takeru...“ „Ja?“ „Ich frage mich gerade, wie lange du wohl brauchen würdest, jemand anderen zu finden, der für dich Fressen ranschafft. Ob du wohl vorher verhungern würdest?“ Der Wolf seufzte, senkte die Rute wieder und schubste den Weißen versöhnlich mit der Schulter an. „Erpressung.“ „Nein. Leider einfach nur die bloße Wahrheit.“ Sein damaliges Erscheinungsbild hatte kaum noch Ähnlichkeit mit ihm. Verklebtes, schlammiges, weißes Haar; ungepflegt und spröde. Hohle Wangen in einem jungen und besorgniserregend blassen Gesicht, in dem die burgunderfarbenen Zeichnungen den Eindruck von geronnenem Blut auf frisch gefallenen Schnee vermittelten. Die durchnässte und zerschlissene Kleidung ihres ersten Zusammentreffens war längst den Flammen überreicht worden und auch die unzähligen Schürfwunden, tiefen Kratzer und Lanzenstiche der Kappa waren mittlerweile verheilt. Und dennoch hatte Minoru zu der Zeit etwas besessen, das ihm auf dem Weg abhandengekommen war: Das widerstrebende Aufflammen, das seine ganze Erscheinung durchzog, sobald ihm jemand in den Weg trat – ungeachtet, um wen es sich dabei handelte. „Warum bist du hier, Junge?“ „Wenn ich gehen kann, bin ich sofort weg.“ Er hielt sich die Seite, die von einem der Kappa mit der Lanze durchbohrt worden war. Störrisches Kind. „Das habe ich nicht gefragt.“ „Ich will nach Norden.“ „Im Norden gibt es nichts zu holen für jemanden wie dich. Ruh dich aus und geh nach Hause.“ „Nein.“ Eine breite, schwere Pranke fuhr auf Minorus Schulter nieder, sodass er unter ihrer Wucht nachgab. Er wirbelte umher, der großen, breitschultrigen Gestalt entgegen, die sich hinter ihm genähert hatte und mit einem Mal erhellten sich die harten, dunklen Konturen des Dosanko. „Ich verabscheue lauernde Abschiede“, meinte Nobu rauh und musterte Minoru mit seinem gesunden Auge schwermütig. „Sieh es mir nach, dass ich dich morgen früh nicht verabschieden werde.“ „Aber natürlich.“ Minoru wirkte sichtlich verwirrt. „Wir werden hier nicht mehr gebraucht. Ich werde also bald zurück nach Hokkaidō gehen. Du kannst jedoch jederzeit zu mir kommen, wenn dir der Sinn danach steht.“ Der Junge nickte vorsichtig, doch ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte der Riese von einem Wolf ihn an sich gezogen. Verkrampft hielt Minoru inne, als sich die Hand des Dosanko auf sein Haar legte, während der andere Arm seine Schulter – für Nobus Verhältnisse sanft – umfing und ihn an die breite Brust drückte. Der lachte jedoch nur, als er die gefrorene Reaktion des Jungen auf eine so unbehagliche Geste bemerkte. „Hund!“, meinte er wissend, dann wurde er ernst und strich Minoru mit seiner Pranke über den Kopf, bevor er ihn freigab. „Sei wachsam, Minoru. Ich kann nur wiederholen, was ich deinem Traumtänzer von einem Freund schon angetragen habe: Wir suchen uns unsere Bürde nicht aus, aber wir können versuchen, das Beste daraus zu machen – für alle, die wir mit unserem Leben erreichen.“ Hohe Wände, dunkel und bedrohlich als wollten sie sich in Anbetracht eines Passanten tödlich verengen, wölbten sich über allen Fluren und Gängen; schienen jeden zu ersticken. Doch allmählich und zögerlich wurden sie lichter, ähnlich einem Wald, der nach einer langen Nacht in der aufgehenden Morgensonne längst nicht so bedrohlich wirkte wie in der vorangegangenen Finsternis. Nur allzu bekannte Szenen spiegelte die Erinnerung wider. Das Zusammentreffen im Onsen, Schränke voller unsortierter Unterlagen – ein nie enden wollender Fluss Schriften, die in Anbetracht des Todes ihres Besitzers für Jahrhunderte an Bedeutung verloren hatten. Ryouichi, der in den Trainingsstunden seine Qualitäten als Ausbilder mit milder Schikane und versöhnlichem Sarkasmus mischte, sowie Inuyashas Kinder, die im Angesicht der Mönche den Ernst der Lage offensichtlich unterschätzten. Der Streit, der sich aufgrund von Minorus unerlaubtem Entfernen von der Gruppe entwickelt hatte, schwebte wie eine erdrückende Gewitterwolke im Nichts; frei von Blitz und Donner. Doch dann schlugen bereits die Drachen ein, als habe sich die Wolke dennoch entladen; drängten die Kinder an den Rand eines Sees und gingen zum Angriff über, bis Tessaiga sie dahinraffte. Das Menschendorf, das ebenso beengend wirkte wie einst die Wände der Palastgänge und dennoch auf subtile Art um einiges bedrohlicher. Erst als Rin, in zerrissener Kleidung und übersät mit Kratzern an Armen und Wangen, vor dem Eingang eines Hauses auftauchte, schien die erdrückende Stimmung zu weichen. „Du bist wohlauf!“, sagte sie erleichtert und ging auf ihn zu. „Inuyasha hat von den Drachen berichtet, die euch verfolgt haben. Das muss grausam gewesen sein. Ein Glück, dass sie euch rechtzeitig zur Hilfe geeilt sind. Diese Biester -“ „Wo ist mein Vater?“ Er hatte sie hart unterbrochen, aber der Unglauben in seiner Stimme schwang deutlich mit. Rin hielt perplex inne und wich seinem Blick aus. Erst als er sie abermals dazu aufforderte, konnte sie sich sichtlich unbehaglich zu einer Antwort durchringen. „Es gab... Schwierigkeiten. Es tut mir leid, Minoru. Die Drachen sind ein größeres Problem als erwartet. Sesshōmaru-sama musste zurück, um den Chūyō zu unterstützen. Er wird uns holen, sobald es ihm möglich ist. Nur keine Sorge. Es geht ihm gut.“ Für einen kurzen Augenblick sog er die Luft tiefer in seine Lungen, dann legte sich ein unergründlicher Ausdruck über Minorus Züge, während er gedankenverloren zu Inuyasha und seiner Familie sah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)